Anna Seghers-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung [1. Aufl.] 9783476056641, 9783476056658

Das Anna Seghers-Handbuch gibt einen umfassenden Überblick über das Gesamtwerk der Autorin von den frühen Texten und Erz

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German Pages IX, 416 [415] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 1-1
Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten (Ilse Nagelschmidt, Sina Meißgeier)....Pages 3-36
Front Matter ....Pages 37-37
Grubetsch (1927) (Corinna Schlicht)....Pages 39-41
Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) (Jyoti Sabharwal)....Pages 42-46
Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930) (Corinna Schlicht)....Pages 47-49
Die Gefährten (1932) (Withold Bonner)....Pages 50-54
Der Kopflohn (1933) (Withold Bonner)....Pages 55-59
Der Weg durch den Februar (1935) (Monika Wolting)....Pages 60-62
Die Rettung (1937) (Vesna Kondrič Horvat)....Pages 63-66
Sagen und Legenden (1938–1940) : Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Die drei Bäume (Jadwiga Kita-Huber)....Pages 67-72
Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942) (Bettina Bannasch)....Pages 73-79
Das Obdach (1941) (Monika Wolting)....Pages 80-82
Transit (engl. 1944; dt. 1948) (Jörg Schuster)....Pages 83-88
Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946) : Der Ausflug der toten Mädchen, Post ins gelobte Land, Das Ende (Leonhard Herrmann)....Pages 89-95
Das Argonautenschiff (1949) (Katrin Dautel)....Pages 96-99
Die Toten bleiben jung (1949) (Loreto Vilar)....Pages 100-104
Crisanta. Mexikanische Novelle (1951) (Martina Wernli)....Pages 105-107
Kleine Erzählsammlungen der 1950er Jahre : Friedensgeschichten (1950/53), Die Kinder (1951) (Markus Wiegandt)....Pages 108-112
Der Mann und sein Name (1952) (Inga Probst)....Pages 113-115
Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden (1953) (Nadine J. Schmidt)....Pages 116-120
Die Entscheidung (1959) (Loreto Vilar)....Pages 121-126
Karibische Geschichten (1962): Die Hochzeit von Haiti (1948), Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), Das Licht auf dem Galgen (1960) (Herbert Uerlings)....Pages 127-132
Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965) (Caroline Köhler)....Pages 133-138
Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967) (Martina Wernli)....Pages 139-142
Das Vertrauen (1968) (Loreto Vilar)....Pages 143-148
Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971) (Lehel Sata)....Pages 149-152
Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Unirdischen, Der Treffpunkt, Eine Reisebegegnung (Katrin Löffler)....Pages 153-159
Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977) (Katrin Löffler)....Pages 160-165
Drei Frauen aus Haiti (1980): Das Versteck, Der Schlüssel, Die Trennung (Kathrin Schödel)....Pages 166-170
Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990) (Carola Hilmes, Gabriele Rohowski)....Pages 171-175
Front Matter ....Pages 177-177
Vorträge und Reden (Katharina Meiser)....Pages 179-185
Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937 (Hannelore Scholz-Lübbering)....Pages 186-191
Essays und Zeitschriftenprojekte (Yvonne Delhey)....Pages 192-198
Briefe und Korrespondenzen (Christiane Zehl Romero)....Pages 199-213
Front Matter ....Pages 215-215
Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924) (Stephanie Bremerich)....Pages 217-220
Über Kunstwerk und Wirklichkeit (Katrin Max)....Pages 221-227
Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39) (Konstantin Baehrens)....Pages 228-234
Sozialistischer Realismus (Carsten Jakobi)....Pages 235-242
Klassische russische Literatur (Christian-Daniel Strauch)....Pages 243-249
Franz Kafka (Viera Glosíková)....Pages 250-253
Märchen und Mythen, Sagen und Legenden (Monika Melchert)....Pages 254-258
China und Chinaerfahrungen (Barbara Dengel)....Pages 259-265
Schriftlichkeit und Visualität (Helen Fehervary)....Pages 266-272
Front Matter ....Pages 273-273
Heimat und Patriotismus (Carsten Jakobi)....Pages 275-283
Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben (Marike Janzen)....Pages 284-290
Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen (Ursula Elsner)....Pages 291-298
Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren (Jennifer Marston William)....Pages 299-306
Topographien von Flucht und Exil (Helen Fehervary)....Pages 307-310
Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand (Peter Beicken)....Pages 311-321
Verhältnis zum Judentum (Ulrike Schneider)....Pages 322-331
Front Matter ....Pages 333-333
Ostdeutsche Rezeption – DDR (Anja Jungfer)....Pages 335-344
Westdeutsche Rezeption – BRD (Elżbieta Tomasi-Kapral)....Pages 345-352
Rezeption in den USA (Stephen Brockmann)....Pages 353-358
Rezeption in Frankreich (Hélène Roussel)....Pages 359-366
Rezeption in der Sowjetunion (Alfrun Kliems)....Pages 367-370
Verfilmungen (Hans-Willi Ohl)....Pages 371-380
Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a. (Carola Hilmes)....Pages 381-383
Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze (Bernd Zegowitz)....Pages 384-385
Übersetzungen (Hans-Willi Ohl)....Pages 386-389
Anna-Seghers-Gesellschaft (Hans-Willi Ohl)....Pages 390-396
Back Matter ....Pages 397-416
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Anna Seghers-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung [1. Aufl.]
 9783476056641, 9783476056658

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Carola Hilmes / Ilse Nagelschmidt (Hg.)

Anna Seghers Handbuch Leben – Werk – Wirkung

Carola Hilmes / Ilse Nagelschmidt (Hg.)

Anna Seghers-Handbuch Leben – Werk – Wirkung

J. B. Metzler Verlag

Die Herausgeberinnen

Carola Hilmes ist apl. Professorin für neuere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ilse Nagelschmidt ist Professorin für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Universität Leipzig.

ISBN 978-3-476-05664-1 ISBN 978-3-476-05665-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © bpk / Manfred Uhlenhut J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhalt Vorwort  VII

I Leben 1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten  Ilse Nagelschmidt / Sina Meißgeier  3 II Werk 2 Grubetsch (1927)  Corinna Schlicht  39 3 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928)  Jyoti Sabharwal  42 4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930)  Corinna Schlicht  47 5 Die Gefährten (1932)  Withold Bonner  50 6 Der Kopflohn (1933)  Withold Bonner  55 7 Der Weg durch den Februar (1935)  Monika Wolting  60 8 Die Rettung (1937)  Vesna Kondrič Horvat  63 9 Sagen und Legenden (1938–1940): Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Die drei Bäume  Jadwiga Kita-Huber  67 10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942)  Bettina Bannasch  73 11 Das Obdach (1941)  Monika Wolting  80 12 Transit (engl. 1944; dt. 1948)  Jörg Schuster  83 13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere ­ Erzählungen (1946): Der Ausflug der toten Mädchen, Post ins gelobte Land, Das Ende  Leonhard Herrmann  89 14 Das Argonautenschiff (1949)  Katrin Dautel  96 15 Die Toten bleiben jung (1949)  Loreto Vilar  100 16 Crisanta. Mexikanische Novelle (1951)  Martina Wernli  105 17 Kleine Erzählsammlungen der 1950er Jahre: Friedensgeschichten (1950/53), Die Kinder (1951)  Markus Wiegandt  108

18 Der Mann und sein Name (1952)  Inga Probst  113 19 Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden (1953)  Nadine J. Schmidt  116 20 Die Entscheidung (1959)  Loreto Vilar  121 21 Karibische Geschichten (1962): Die Hochzeit von Haiti (1948), Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), Das Licht auf dem Galgen (1960)  Herbert Uerlings  127 22 Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965)  Caroline Köhler  133 23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967)  Martina Wernli  139 24 Das Vertrauen (1968)  Loreto Vilar  143 25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971)  Lehel Sata  149 26 Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Un­ irdischen, Der Treffpunkt, Eine Reisebegegnung  Katrin Löffler  153 27 Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977)  Katrin Löffler  160 28 Drei Frauen aus Haiti (1980): Das Versteck, Der Schlüssel, Die Trennung  Kathrin Schödel  166 29 Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990)  Carola Hilmes / Gabriele Rohowski  171 III Reden, Publizistik, Briefe 30 Vorträge und Reden  Katharina Meiser  179 31 Reden auf den Internationalen Schriftsteller­ kongressen 1935 und 1937  Hannelore Scholz-Lübbering  186 32 Essays und Zeitschriftenprojekte  Yvonne Delhey  192 33 Briefe und Korrespondenzen  Christiane Zehl Romero  199

VI

Inhalt

IV Poetologische ­Fragestellungen

VI Rezeption und Wirkung

34 Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924)  Stephanie Bremerich  217 35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit  Katrin Max  221 36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39)  Konstantin Baehrens  228 37 Sozialistischer Realismus  Carsten Jakobi  235 38 Klassische russische Literatur  Christian-Daniel Strauch  243 39 Franz Kafka  Viera Glosíková  250 40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden  Monika Melchert  254 41 China und Chinaerfahrungen  Barbara Dengel  259 42 Schriftlichkeit und Visualität  Helen Fehervary  266

50 Ostdeutsche Rezeption – DDR  Anja Jungfer  335 51 Westdeutsche Rezeption – BRD  Elżbieta Tomasi-Kapral  345 52 Rezeption in den USA  Stephen Brockmann  353 53 Rezeption in Frankreich  Hélène Roussel  359 54 Rezeption in der Sowjetunion  Alfrun Kliems  367 55 Verfilmungen  Hans-Willi Ohl  371 56 Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a.  Carola Hilmes  381 57 Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze  Bernd Zegowitz  384 58 Übersetzungen  Hans-Willi Ohl  386 59 Anna-Seghers-Gesellschaft  Hans-Willi Ohl  390

V Themen und Kontexte 43  Heimat und Patriotismus  Carsten Jakobi  275 44 Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben  Marike Janzen  284 45 Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen  Ursula Elsner  291 46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren  Jennifer Marston William  299 47 Topographien von Flucht und Exil  Helen Fehervary  307 48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand  Peter Beicken  311 49 Verhältnis zum Judentum  Ulrike Schneider  322

Anhang Zeittafel  Stephanie Bremerich  399 Siglenverzeichnis: Ausgaben und Werke  403 Auswahlbibliographie  Saskia Fuckert / 

Kilian Thomas  405 Autorinnen und Autoren  409 Personenregister  411

Vorwort Anna Seghers, die sich im Exil und später in der DDR auch kulturpolitisch engagierte, gehört zu den renommierten deutschsprachigen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Als Tochter wohlhabender und kulturoffener Eltern wird sie 1900 in Mainz geboren. Zu dieser Zeit gehörten antisemitische Ausschreitungen noch zu den Ausnahmen, so dass die jüdisch-orthodoxe Familie hohes Ansehen auch in der christlichen Bevölkerung genoss. Der Vater, der mit seinem Bruder einen Antiquitäten- und Kunsthandel führte, und die Mutter, die aus einer angesehenen Frankfurter Familie stammte, unternahmen alles, um der Tochter eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Netty Reiling, so der Geburtsname, gehört der ersten Generation junger Frauen in Deutschland an, die das Abitur ablegen und studieren können. Die Kinder- und Jugendjahre sind für die künftige Autorin von entscheidender Bedeutung. Zum einen ist es die Bibliothek der Eltern, in der das junge Mädchen all das vorfindet, was es ein Leben lang begleiten wird. Von den Märchen, Sagen und Mythen des Altertums über die Klassiker der deutschen Literatur bis zu Dostojewskij und Balzac kommt sie bereits sehr zeitig mit der Weltliteratur in Kontakt. Zum anderen ist es der durch Mainz fließende Fluss, die Farbigkeit der Landschaft und die hessische Mundart, die sie viele Jahre später nach Exil und Rückkehr zu ihrem »Originaleindruck« im Sinne Goethes verdichtet. Mit dem Weggang aus Mainz beginnt sich das abzuzeichnen, was ihr Leben bestimmen wird: ständige Ortswechsel, Umbrüche, prägende neue Erfahrungen, die Suche nach Freude sowie der Wille, dabei zu sein, Verantwortung zu übernehmen und gestaltend einzugreifen. An der Universität in Heidelberg, wo sie Kunstgeschichte, Geschichte und Soziologie studiert, kommt sie über ihre Kommilitonen Philipp Schaeffer und Laszlo Radvanyi, ihren späteren Mann, in Verbindung zu marxistischen Ideen. Diese faszinieren die junge Frau mit ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Es folgen der Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands Ende der 1920er Jahre und die Begeisterung für den jungen Sowjetstaat.

Frühzeitig dokumentiert sie im Tagebuch ihren Entschluss zu schreiben, gleichzeitig schwingt der stete Zweifel mit, sich selbst und den anderen nicht genügen zu können. Schreiben wird zu ihrer Lebensaufgabe, die akademische Bildung zur Voraussetzung vieler Reden und Essays. Eine universitäre Laufbahn strebt die promovierte Kunsthistorikerin jedoch nicht an. Ihre ersten literarischen Arbeiten veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Seghers, später wird der Vorname Anna hinzugefügt. Mit der Verleihung des Kleist-Preises für Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara zählt sie am Ende der 1920er Jahre zu den talentiertesten Nachwuchsschriftsteller/innen der Weimarer Republik. Ihr Interesse gilt vor allem einem ›neuen Stoff‹, den Arbeitern, den kleinen Leuten und den Entrechteten. 1965 schreibt sie an ihren Freund und Vertrauten Wladimir Iwanowitsch Steshenski über ihre literarischen Anfänge: »Ich wurde dabei sicher, dass ich nur schreiben sollte. Es gab dabei zwei Linien: Erzählen was mich heute erregt u die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u wusste nicht, wie« (Br2, 42). Daraus entwickelt sie ihr poetologisches Programm: einen ganz individuellen ›sozial-kritischen‹ Realismus (s. Kap. 37). Die Zeit der Positionierung, des beruflichen Erfolgs sowie der öffentlichen Auftritte und Reisen endet mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Im Alter von 33 Jahren muss sie mit ihrer Familie Berlin verlassen, erst 14 Jahre später wird sie allein wieder deutschen Boden betreten. Dazwischen liegen die Jahre des Exils in Frankreich und Mexiko, in denen sie ihre bis in das 21. Jahrhundert bekannten Romane Das siebte Kreuz und Transit sowie die novellistische Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen geschrieben hat. Das Exilwerk ist bestimmt durch die literarische Transformation historischer Ereignisse sowie die Verarbeitung biographischer Erlebnisse. Das führt zu einer spezifischen Authentizität ihrer Texte. Mit der Rückkehr zu dem »Volk der kalten Herzen« (vgl. Br1, 229) ist über lange Zeit keine wirkliche Heimkehr verbunden. Zu tief sind die erlittenen De-

VIII

Vorwort

mütigungen und die Enttäuschung über die ›inneren Trümmer‹, die sie in den Menschen vorfindet. Die Jahre nach 1947, die sie bis zu ihrem Tod 1980 in OstBerlin verbringt, sind durch Spannungen bestimmt. Seghers übernimmt die an sie herangetragenen Verpflichtungen und Ämter; bis 1978 wird sie die Funktion der Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR bekleiden. Gleichzeitig ringt sie um die Verwirklichung eigener literarischer Vorhaben. Der kulturpolitischen Forderung, einen ›neuen Stoff‹ und den ›neuen Menschen‹ zu gestalten, widersetzt sie sich nicht, aber die Ende der 1950er und 1960er Jahre erscheinenden Romane Die Entscheidung und Das Ver­ trauen finden nicht das gewünschte Echo. Mit der neu akzentuierten Kulturpolitik seit Ende der 1960er Jahre setzt ihr Alterswerk ein, das durch Reflexionen auf Orte und das Leben im Exil, den Rückgriff auf Sagen und Märchen sowie das Phantastische bestimmt ist. In der Zeit des politischen Umbruchs 1989/90 und danach in der vereinten Bundesrepublik beginnt eine umfassende Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Kultur der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg. Anna Seghers, einst gefeierte Autorin und ›Vorzeigefrau‹ einer anderen realistisch-sozialistischen Literatur, wird nun wegen ihrer positiven Haltung zur Sowjetunion und wegen ihrer Loyalität zur DDR zu einem Beispiel öffentlicher Demontage. Das Handbuch präsentiert das Gesamtwerk unter vielfältigen Gesichtspunkten, wobei auch Widersprüche aufgedeckt werden. Das eröffnet unter veränderten Fragestellungen neue Perspektiven; derzeit beschäftigt sich v. a. die US-amerikanische Germanistik mit Seghers. Nach einem einführenden Kapitel zum Leben dieser in die politischen, sozialen und kulturellen Zeitumstände des 20. Jahrhunderts eingebundenen Autorin werden in Kapitel II alle Romane, repräsentative Erzählungen und einflussreiche Erzählsammlungen vorgestellt. Ihre literarischen Werke werden unter vergleichenden Kriterien erschlossen: Den Voraussetzungen für die Publikation und den poetologischen Rahmenbedingungen folgt eine kurze Inhaltsangabe mit Verweis auf intertextuelle Bezüge. Aussagen zur Rezeptionsgeschichte direkt nach dem Erscheinen sowie ein kurzer Forschungsbericht runden die Beiträge ab. Auch die zwischen 1990 und 2003 aus dem Nachlass herausgegebenen Texte werden berücksichtigt. Kapitel III steht im Zeichen der Zeitzeugnisse und der Publizistik. Der Fokus liegt auf den Vorträgen und Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937. Seghers hat ihr Werk mit einer Vielzahl von Essays begleitet, in denen sie sowohl auf

konkrete Zeitumstände als auch auf eigene Lektüreerfahrungen eingegangen ist. Außerdem pflegte sie viele Freundschaften, so u. a. zu Gisela und Egon Erwin Kisch, Lenka Reinerovà und Jeanne Stern. Ihre umfangreiche Korrespondenz sowohl mit den Freund/innen und Kolleg/innen als auch mit den Leser/innen zeugt von Sensibilität, Fürsorge und Menschlichkeit. Kapitel IV erläutert die poetologischen Konzepte von Anna Seghers. Nach einer Analyse ihrer erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Dissertation zu Rembrandt werden die in Kunstwerk und Wirklichkeit zusammengefassten Grundgedanken vorgestellt und in weiteren Beiträgen differenziert; so der im Exil mit Georg Lukács geführte ›Briefwechsel‹ und ihr Realismusverständnis, das sich nicht auf die Methode des sozialistischen Realismus reduzieren lässt. Den Märchen und Mythen, der klassischen und realistischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie den Texten Kafkas kommen besondere Bedeutung zu. Außerdem erfährt Seghers Anregungen durch die chinesische Literatur und Kultur. Das Verhältnis von Schriftlichkeit und Visualität gehört zu den Charakteristika ihres Erzählens. Kapitel V stellt zentrale Themen der Werke vor, die neuerlich Aktualität beanspruchen dürfen: Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität und Widerstand markieren deren Leitlinien. Oft stehen Figuren im Mittelpunkt, die ein unheroisches Leben führen oder gar scheitern. Es ist vor allem die Kraft der Schwachen, an die Seghers erinnert und für die sie literarisch wirbt. In der Zeit des Exils gewinnen die Themen Heimat und Vaterlandsliebe sowie ihr Verhältnis zum Judentum an Relevanz. Durchgängig wichtig sind ›Wahlverwandtschaften‹, die zu einer ausgeprägten Intertextualität führen. Obwohl sich Seghers nicht explizit zu Geschlechterstereotypen und der Rolle von Frauen geäußert hat, ist eine Beschäftigung mit den Geschlechterverhältnissen in ihrem Werk aufschlussreich. Kapitel VI versammelt Beiträge zur deutsch-deutschen sowie zur internationalen Rezeption. Seghers’ Werk erfuhr in der Weimarer Republik, später in der DDR und der Bundesrepublik eine breite, zuweilen widersprüchliche Resonanz. Ihr Lebenswerk wurde nicht nur von der Literaturkritik und der wissenschaftlichen Forschung reflektiert, sondern auch durch eine Vielzahl von Übersetzungen anerkannt. Mediale Adaptionen vor allem in Verfilmungen verstärken ihre Bekanntheit. Die Aktivitäten der Anna Seghers-Gesellschaft, die seit den 1990er Jahren stattfindenden Tagungen und Publikationen, tragen nachhaltig zur Präsenz der Autorin bei und regen eine weitere Be-

Vorwort

schäftigung mit ihrem literarischen und publizistischen Werk an. Eine rasche Orientierung bietet der Anhang des Handbuchs mit Zeittafel, einer Auswahlbibliographie und einem Personenregister. Unser Dank gilt dem J. B. Metzler Verlag, v. a. unserem Lektor Oliver Schütze, für seine Ermutigung und Unterstützung. Danken wollen wir auch unseren studentischen Hilfskräften Saskia Fuckert und Judith Bentzin

IX

in Frankfurt sowie Alexandra Mehnert und Kilian Thomas in Leipzig für ihre Einsatzbereitschaft und die sorgfältige Arbeit. Aber nicht zuletzt sind es die Autorinnen und Autoren, die das Gelingen des Handbuches ermöglicht haben. Frankfurt am Main und Leipzig, im Frühjahr 2020 Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt

I Leben

1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten Kindheit, Jugend und Studium Frühe Eindrücke Im 2003 aus dem Nachlass herausgegebenen Tage­buch heißt es am 18.1.1925: »Und immer gleich d. Gefühl, daß mit d. Freude Gott entfernt u ich brauch doch so schrecklich Freude, nicht nur so ein bißchen« (Seghers 2003, 21). Diese Sehnsucht nach Freude wird sowohl ihr Leben als auch ihr Werk bestimmen. Gemeint ist nicht eine Freude über ein oberflächliches, leicht wieder abklingendes Erlebnis, sondern die innere Freude am Lesen und am eigenen Schreiben, das schon im Tagebuch als Arbeit und Notwendigkeit beschrieben wird, sowie die Freude am Heimkommen und daran, für andere da zu sein. Geboren wird sie am 19.11.1900 als Netty Reiling in einer großbürgerlichen Familie in Mainz am Rhein. Die Familiengenealogie des Vaters Isidor Reiling (1868–1940) kann über die Bensheimer und die Mainzer Reilings bis zu den Auerbacher Reilings in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden (vgl. Ohl 2007, 174). Die Mutter, Hedwig Reiling geb. Fuld (1880–1942), stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Frankfurt am Main. In der autobiographisch determinierten Erzählung Ausflug der toten Mädchen wird Seghers im Exil, nachdem sie von der Deportation der Mutter in das KZ Piaski bei Lublin erfahren hat, in der Verschmelzung von erinnerter Kindheit und tiefer Trauer über deren Schicksal über diese schreiben: »Meine Mutter stand schon auf der kleinen, mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße [...]. Wie jung sie doch aussah, die Mutter [...]. Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war.« (AtM, 149)

Im Wissen um all das, was passieren wird, lesen sich die Sätze der Tochter über die Mutter als die düstere

Vorahnung des Kommenden: »Mich brennt der Schmerz mein. Mutter, daß ich von ihr gehe« (Seghers 2003, 20). In der Heimatstadt Mainz betrieb der Vater gemeinsam mit seinem Bruder die großväterlich gegründete Antiquitäts- und Kunsthandlung am Flachsmarkt 2, am Rande der Altstadt gelegen. Außerdem war er Kustos des Mainzer Doms, ein Ort, der in die Texte der Tochter immer wieder einfließen wird. Mainz, die ursprünglich von den Römern gegründete Siedlung, war an der Wende zum 20. Jahrhundert Hauptstadt der Provinz Rheinhessen und zählte rund 84.000 Einwohner, die zum größten Teil katholischer Konfession waren. Neben den Protestanten und weiteren Mitgliedern christlicher Gemeinden gab es die Israelitische Religionsgemeinde, die sich sowohl aus russischen und polnischen Einwander/innen als auch aus orthodoxen deutschen Juden zusammensetzte und über 3000 Mitglieder zählte (vgl. Hilzinger 2000, 14 f.). Die Eltern gehörten der Gruppe der Orthodoxen an und waren Mitglieder verschiedener jüdischer Wohlfahrtsorganisationen, in deren Arbeit die Tochter bereits früh vor allem von der Mutter eingeführt wurde. Netty Reiling hat somit eine traditionell jüdisch geprägte Erziehung genossen, was das Erlernen des Hebräischen sowie die Vertrautheit mit der biblischen Geschichte und den rituellen Festen umschloss. Gegenüber christlichen Feiertagen – wie Weihnachten – hat sich die Familie nicht verschlossen. Obwohl Seghers zwischen 1925 und 1927 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten ist (vgl. Haller-Nevermann 1997), finden sich in vielen ihrer Texte Reflexionen auf die jüdische Geschichte, auf Ausgrenzungen und Pogrome. Sowohl in der Zeit des Exils als auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wird sie sich ihrer Herkunft verstärkt erinnernd stellen. Nach ihren Aussagen war sie, bevor sie in die Schule kam, oft krank »und dabei lernte ich verhältnismäßig früh lesen und dadurch auch schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich, weil ich allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte« (KuW2, 36). Im Elternhaus gab es eine große an humanistischer Bildung orientierte Bibliothek, in der das Mädchen bereits viel durcheinander gelesen hat, »bevor man es mir erlaub-

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_1

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I Leben

te« (Roscher 1971, 1264). In der nach dem Exil heimgekehrten Bibliothek aus Paris finden sich viele Hinweise auf die Sammlungen der Eltern. Neben den Schwerpunkten Klassik, Romantik und Realismus – von Schiller, Goethe, über Hölderlin, Lenau, Heine bis Fontane – war die europäische Literatur – u. a. mit Cervantes, Dickens, Dostojewskij, Gorkij, Lagerlöf, Rousseau, Stendhal und Wilde – sowie eine Sammlung expressionistischer Literatur vertreten. Die Texte der französischen Autoren hat sie bereits in jungen Jahren in der Originalsprache gelesen. Frankreich war das Land, das sie schon früh begeisterte und in dem sie sich wohl fühlte. Weiterhin gehörten Märchen und Mythen, die später in ihren Erzählungen eine wichtige Rolle spielen werden (s. Kap. 40), zum Bestand der Bibliothek (vgl. Hilzinger 2000, 16 f.). Neben dem Lesen entdeckt Reiling früh die Freude am eigenen Schreiben: »Seit ich Buchstaben schreiben kann, schreibe ich« (Roscher 1971, 1264). Im Gegensatz zu den Erfahrungen anderer Autorinnen vergangener Generationen erhält sie Unterstützung von ihrer Mutter, die das Talent der Tochter erkennt. Seit früher Kindheit und Jugend – bedingt durch die sie faszinierende Märchen- und Sagenwelt – entwickelt sie ihre Art zu schreiben. Aus der zunächst mündlichen Erzählhaltung, dem immer wieder und wieder laut Hergesagten, entsteht der poetische Text, in dem das Erzählen dominiert. Aus den Leseerfahrungen und ersten Schreibversuchen kristallisieren sich prägende Eindrücke heraus. Der durch Mainz fließende Fluss, die Farbigkeit der Rheinlandschaft, das Schlagen der Kirchenglocken ihrer Vaterstadt und die hessische Mundart sind Voraussetzungen für das, was sie als ›Originaleindruck‹ beschreibt. Im Grußtelegramm, das Seghers als Dank für die Glückwünsche zu ihrem 75. Geburtstag an die Mainzer Freunde richtet, bekennt sie, dass sie in ihrer Heimatstadt das empfangen hat, »was Goethe den Originaleindruck nennt, den ersten Eindruck, den ein Mensch von einem Teil der Wirklichkeit in sich aufnimmt, ob es der Fluss ist, oder der Wald, die Sterne, die Menschen. Ich habe versucht, in vielen meiner Bücher festzuhalten, was ich erfuhr und erlebte« (Wagner/Emmerich 2000, 15). Mit sieben Jahren kommt sie in eine angesehene Privatschule, es folgen die Jahre der ›Höheren Mädchenschule‹ bis zum Eintritt ins Gymnasium, das sie 1920 mit dem Abitur abschließt. Diese Schulzeit wurde nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt zu Schicksalsjahren, die die Gymnasiastin mit Interesse verfolgte. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde

Mainz zunächst von den Franzosen besetzt, Menschen ihres Umfeldes verließen aus politischen Gründen die Stadt und soziale Verwerfungen sowie Unruhen dominierten den Alltag. Ob sie von der wohl größten Errungenschaft des Jahres 1918, der Einführung des aktiven und passiven Wahlrechtes für Frauen, Kenntnis hatte, ist nicht bekannt. Auf die Frage, welchen Eindruck die Oktoberrevolution auf sie ausübte und wann ihre Politisierung begonnen habe, antwortet sie Jahrzehnte später im Gespräch mit Wilhelm Girnus, dass dieses Ereignis sehr schnell mit einem neuen Begriff für sie verbunden war, »ja, sagen wir es doch ganz einfach, mit einem neuen, starken, unerhörten Begriff von Gerechtigkeit. Ich glaube, so sonderbar es klingt, das war damals das erste vorherrschende Gefühl, als ich noch gar nichts von Politik verstand« (KuW3, 29 f.). Dieser ›Begriff von Gerechtigkeit‹ wird zur Voraussetzung ihrer politischen und sozialen Haltung. Bereits seit frühester Jugend beschäftigt sich Seghers mit der dominierenden Religion ihres Kulturraumes, dem Christentum. Mit zunehmenden Studien – so die Dostojewskij-Studie (s. Kap. 38) – verbindet sie im Sinn ihres Engagements Werte der jüdischen Erziehung mit denen des Christentums, die sie schließlich um die sozialistischen erweitert. Damit entkleidet sie die Religion ihrer Spiritualität und erhebt die sozialistische Idee zu einem Religionsersatz. Aus dem Bekenntnis zur Solidarität mit den Entrechteten und der Empathie mit dem Leiden anderer erwächst in ihrem Leben und Werk das Gefühl für Gerechtigkeit sowie das Bewusstsein für den sozialen Kampf, das sie erstmals in dieser Dimension in der Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) umsetzt. »Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.« (AdF, 5)

Sonja Hilzinger folgend, haben sich in den 1920er Jahren die Grundlegung der Schreibmotivation und die zentralen Koordinaten der Schreibintentionen von Seghers herausgebildet, die in den Jahren des Exils Modifikationen ausgesetzt sind, »die jedoch als lebens- und zeitgeschichtlich bedingte Erweiterungen oder Neuakzentuierungen einer bereits gelegten Grundintention zu verstehen sind« (Hilzinger 2000, 32 f.). Diese Grundkonzeption, die auf den beschriebenen Voraussetzungen basiert, lässt sich mit dem

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Begriffspaar »Passion und Erlösung« beschreiben. Dieses Paar »ist im kulturgeschichtlichen Diskurs des Abendlandes eindeutig auf die Leidensgeschichte Christi bezogen und das Evangelium von der Erlösung gehört zu den zentralen Inhalten des christlichen Glaubens« (ebd., 34). Vor dem Hintergrund der jeweiligen zeit- und ideengeschichtlichen Kontexte erörtert Hilzinger die Übertragung des Begriffspaares als Grundmuster im Werk der Seghers (vgl. ebd., 32–43). Studienjahre in Heidelberg und Köln Unmittelbar nach dem Abitur vollzieht Reiling den entscheidenden Schritt, sie geht zum Studium nach Heidelberg. Ort und Studienrichtungen waren gut überlegt. Die Universität gehört zu den ältesten in Europa mit einer traditionellen Ausbildung für Juden und hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Frauen die Gasthörerinnenschaft ermöglicht. Ein Frauenstudium war seit 1900 möglich. Reiling zählte somit zur ersten Generation junger Frauen, denen eine Hochschulausbildung gestattet war und die nicht wie z. B. Ricarda Huch (1864–1947) zum Studium in die Schweiz (1886–1891) ausweichen mussten. Nach dem Ende des Wilhelminischen Kaiserreiches und der Gründung der Weimarer Republik (1919) bildete sich eine Frauengeneration heraus – der u. a. Hannah Arendt, Käte Hamburger oder Helene Weigel angehörten –, für die Bildung und Berufstätigkeit selbstverständlich wurde. Was diese meist aus wohlhabenden jüdischen Familien stammenden jungen Frauen einte, war – wie bereits bei vergangenen Generationen seit dem 18. Jahrhundert – die Orientierung an der Identität der Väter. So lag es für Reiling nahe, sich für Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie einzuschreiben. Das Studium in Heidelberg wird durch kunstgeschichtliche Studien im Jahr 1921 an der Universität Köln ergänzt werden. Froh, der zunehmenden Enge des Elternhauses entkommen zu sein, fand sie einen engen Kreis von Freunden, die nicht dem bürgerlichen Milieu entstammten. Dazu gehörten der Sinologe Philipp Schaeffer (1894–1943) und László Radványi. Schaeffer hatte großen Einfluss auf die junge Frau, er eröffnete ihr neue Bezugsfelder, so die intensive Beschäftigung mit China (s. Kap. 41). Er war es, der über seine dem Alltag enthobenen wunderbaren Geschichten ihre Affinität zu Märchen und Sagen noch bestärkte und sie mit jungen Emigranten in Kontakt brachte, zu denen auch Radványi gehörte. Schaeffers politisches Schick-

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sal ähnelte dem vieler aufrechter Kommunisten seiner Zeit. 1935 wurde er erstmalig verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung schloss er sich der Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹ an und wurde 1943 in Plötzensee enthauptet. Radványi, hat seine spätere Frau bereits am Beginn des Studiums kennengelernt (vgl. Hilzinger 2000, 24). Als einer der Jüngsten des ›Sonntagskreises‹ um Georg Lukács musste er nach der Niederschlagung der Räterepublik in Ungarn seine Heimat verlassen. In Heidelberg studierte er seit dem Wintersemester 1919/20 Philosophie, Psychologie und Volkswirtschaft; 1923 wurde er mit einer Arbeit zum Chiliasmus promoviert. Sein in den 1920er Jahren angenommener Parteiname Johann Schmidt sollte ihm die notwendige Deckung geben. Nach der Rückkehr aus dem Exil wurde dieser zu Johann-Lorenz Schmidt erweitert. Die Jahre ihres gemeinsamen Studiums waren durch politische, soziale und wirtschaftliche Ereignisse geprägt. Dazu gehörten der Kapp-Putsch des Jahres 1920 sowie der Putschversuch der Nationalsozialisten (1923) und schließlich erreichte die Inflation in diesem Jahr ihren Höhepunkt. Das hatte Folgen für die Polarisierung der Studentenschaft. Neben einer völkischen Gruppe gab es den an den Germanisten Friedrich Gundolf gebundenen George-Kreis sowie die an Marx und der russischen Revolution orientierten Studenten, zu denen sich Reiling hingezogen fühlte. Die Forderung nach einer Revolution stand im Raum, Schlagwörter folgten auf Schlagwörter, dazu gehörten auch die von Dostojewskij nach dem Ersten Weltkrieg vermittelnden Worte Sehnsucht, Aufbruch und Erneuerung. Das führte bei Reiling zu einer ersten intensiven und sie über Jahrzehnte begleitenden Beschäftigung mit Dostojewskij und Tolstoj (s. Kap. 38) sowie zu einem Bild vom russischen Menschen, das zur Grundlage ihrer lebenslangen Bewunderung der Sowjetunion wurde. Weiterhin hinterließen sowohl die sowjetrussische Literatur als auch Filme wie Panzerkreuzer Potemkin einen nachhaltigen Eindruck auf die Studentin. Namensfindung und Autorinnenschaft Neben dieser politischen Orientierung bot die Universität der jungen Frau vielfältige Möglichkeiten der akademischen Auseinandersetzung. Zu ihrer Studienzeit lehrten u. a. der Soziologe Max Weber, die Philosophen Heinrich Riekert und Karl Jaspers, die Germanisten Friedrich Panzer und Friedrich Gundolf, der Ägyptologe Hermann Ranke sowie die Kunsthistori-

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ker Carl Neumann und Wilhelm Fränger. Nicht vorrangig ihr Doktorvater Carl Neumann war es, der Reiling den Zugang zu dem Namen ›Seghers‹ ebnete, sondern vielmehr Fränger, der sie in das Werk von Hercules Seghers (1589/90 bis ca. 1630, Zeitgenosse Rembrandts) einführte (s. Kap. 34). Für ihren akademischen Lehrer war dieser Maler ein Rebell, der von seinen Zeitgenossen nicht erkannt und von den Späteren vergessen wurde. Hier wird Reiling in der Identifikation mit den Vergessenen ihre »Mission« (vgl. Hilzinger 2000, 32) gesehen haben, einen überindividuellen Auftrag anzunehmen. Bereits in ihrem Debüt, der Erzählung Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Hölländischen – Nacherzählt von Seghers, 1924 in der Weihnachtsbeilage der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt erschienen, verwendet sie ihr Pseudonym Seghers, das nur noch eine leichte Veränderung im Vornamen erfahren sollte. Im Kapitel »Identität und Name« geht Hilzinger auf die Frage der Namensgebung, des Namensgebrauchs sowie des Zusammenhangs von Name und Identität von Figuren im Werk der Seghers ein (vgl. Hilzinger 2000, 28–32). In diesem Zusammenhang bietet sich der Vergleich mit einer anderen jüdischen Autorin – Else Lasker-Schüler – an, die mit ihren phantasievollen Neuschöpfungen wie Prinz Jussuf von Ägypten in ihren ersten Prosatexten beginnt, ihre bürgerliche Existenz hinter sich zu lassen und über die Annahme von Kunstnamen eine neue Identität zu schaffen, die sie in der Welt der Bohème verortet. Soweit ist Seghers nicht gegangen. Mit der Annahme des Namens bekennt sie sich zu ihrer Berufung als Autorin und bereitet sich auf ein Ankommen in einer anderen als der von den Eltern vermittelten bürgerlichen Sphäre vor, ohne jedoch deren Prägungen und ihren Lebensstil aufgeben zu müssen. Reiling beendet ihr Studium mit der kunsthistorischen Dissertationsschrift Jude und Judentum im Werke Rembrandts (Seghers 1990; s. Kap. 34), die sie am 4.11.1924 verteidigt. Rückblickend zieht sie das Fazit, dass »trotz der bedrohlichen Zeit« und »trotz aller Bedrängungen« diese Jahre schön und in vielfacher Sicht anregend waren: »Sorglos, offenherzig waren wir damals. Wie waren wir bereit, uns zu freuen! Wir fanden immer etwas zum Freuen« (AE2, 388). Zu solchem Freuen gehörte, dass sie in dieser bedrohlichen Zeit »Gefährten« (vgl. Hilzinger 2000, 20–28) fand, an denen sie sich orientieren konnte, die ihr Ratgeber und Unterstützer sowie Lehrer und Anreger waren. Dieser Topos wird sich in ihrem Werk immer wieder finden.

Tagebuch und erste Texte Unmittelbar nach Abschluss des Promotionsverfahrens, kurz vor ihrem 24. Geburtstag, kehrt sie ohne Radványi – der zunächst noch in Heidelberg und danach in Berlin wohnen wird und auf Stellensuche geht – in ihr Elternhaus zurück. Am 15.11.1924 ist der erste Eintrag in ihrem Tagebuch zu finden. Die ersten 14 Tage sind durch Eindrücke einer Paris-Reise bestimmt, die sie gemeinsam mit den Eltern unternommen hat. Bis zum Ende ihrer Notizen am 26.5.1925 leidet sie unter der Trennung von Radványi. Bei seinen Besuchen gibt er ihr Mut und vermittelt ihr die Gewissheit der bevorstehenden Hochzeit (vgl. Seghers 2003, 7, 16 f., 28, 31). Mit der Rückkehr nach Mainz befindet sie sich in einer Grenzsituation zwischen ihrer Liebe zu Radványi und der Sorge um ihn sowie der Abwehr des Vaters gegen diese Verbindung, zwischen der Welt-Erfahrung des Studiums und der Enge des Elternhauses, zwischen dem unbändigen Willen zu schreiben und der Angst, »daß mich mein. Begabung verlassen könnte« (ebd., 7) sowie der »Furcht vor dem Gelingen« (ebd., 12). Diese Selbstzweifel, das ständige Hinterfragen von Gott, die intensive Beschäftigung mit Schuld und Sühne in einer Mischung von jüdischen Gottesvorstellungen und denen von Kierkegaard – die zunehmende Entfremdung von Gott und den Eltern wird als Sünde begriffen –, bekämpft Reiling mit Arbeit. Sie beginnt die russische Sprache zu erlernen und bringt sich freiwillig als Vorlesende und Erzählerin in das christlich-soziale Projekt der »Kinderlesehalle« ein (vgl. ebd., 10). Über allem steht die Arbeit am Text Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (vgl.ebd., 35–67), in den sowohl ihr kunsthistorisches Wissen als auch die Beschäftigung mit Kierkegaard und Dostojewskij sowie Legenden und Märchen eingeflossen sind. Kurz vor der Verlobung am 4.5.1925 formuliert sie eine Einsicht, die sie als Autorin zeitlebens leiten wird: »Darf man um der Wahrh. willen andere zu Grunde richten, vor allem aber ›um selbst das Wahre‹ auszudrücken. Jedenfalls gibt es vor der Sünde nur eine Beschwichtigung: die Not ernster Arbeit« (Seghers 2003, 31). Im Tagebuch reflektiert sie viel von dem, was später ihr Leben bestimmen wird: ihr Pflichtbewusstsein und die Strenge gegen sich selbst, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Neugier und ihr Verlangen nach Liebe und Freude. In der Erzählung Wiederbegegnung stellt sich Alfonso existentielle Fragen: »Die Liebe, die ihm mehr als das Leben war. [...] Mehr als das Leben? Und was war sein Leben wert? Wozu wird

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es noch wert sein? Was war das, was einem Menschen, was ihm selbst wert war?« (WA II/6, 320 f.)

Von Mainz nach Berlin Die Metropole Berlin der 1920er Jahre Unmittelbar nach der Hochzeit am 10.8.1925 erfolgte die Übersiedlung des Paares nach Berlin. Die deutsche Hauptstadt wurde in den 1920er Jahren mit bis zu 4,3 Millionen Einwohnern zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Metropole Deutschlands und zu einer der impulsgebenden Städte Europas. Im schillernden Wechselspiel von Moderne, Innovation und Libertinage, von politischem Aufbegehren – Berlin war die Hochburg des Kommunismus außerhalb der Sowjetunion mit 25 Zeitungen und viertausend aktiven politischen Zellen – und dem aufkommenden Nationalsozialismus prallten unvereinbare Gegensätze aufeinander. Während die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Entspannungstendenzen zeigte und Deutschland sich mit der Konstituierung der Weimarer Republik eine demokratisch legitimierte Verfassung gab, waren die ökonomischen Zerrüttungserscheinungen, die sich bereits mit Kriegsbeginn 1914 abzeichneten, nicht mehr aufzuhalten und erreichten 1923 mit der Inflation ihren Höhepunkt. Die danach einsetzende Situation, forciert durch den Dawes-Plan vom 16.8.1924, der die Reparationszahlungen Deutschlands an die Supermächte regelte, führte bis zur Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 zum Mythos der ›Goldenen Zwanziger Jahre‹. Zu dessen Begründung gehörten vor allem der unaufhaltsame Aufstieg von Kunst und Kultur, die Innovationen im Film und Hörfunk sowie in der Theaterlandschaft, die schließlich zur Entstehung einer ersten Medien- und Freizeitindustrie führten. Das andere Gesicht dieser sich rasant ausbreitenden Metropole sind die lichtlosen Hinterhöfe, das karge Leben der Proletarier sowie die immer größer werdenden politischen Spannungen. Berlin in den 1920er Jahren ist auch die Stadt der Immigranten, über 200.000 Menschen aus Russland und der Sowjetunion sind entweder vor den Verhältnissen in ihrer Heimat geflohen oder sie bieten ihre gesellschaftsverändernden Visionen an, um so zur Veränderung der Verhältnisse in Deutschland beizutragen. Große Widersprüche durchziehen die jüdische Bevölkerung der Stadt. Während das deutsch-jüdische Bürgertum – mit Vertretern wie den Familien Tietz und Wertheim oder dem Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner, dem Vater

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der Autorin Gertrud Kolmar – im Westen der Stadt unter sich blieb und mit Scheu und Verachtung auf die osteuropäischen Juden blickte, fanden diese, die vor Krieg und Pogromen hatten fliehen müssen, zwischen Rosenthaler Straße und Alexanderplatz im Osten der Stadt ihre Quartiere. Mit dem Umzug nach Berlin erlebte das Ehepaar Radványi, das in dieser Zeit die ungarische Schreibweise des Namens ablegte (vgl. Zehl Romero 2000, 191), die Stadt im Aufbruch. Die finanzielle Situation erlaubte einen wahren Bau-Boom, Straßen, Kanäle und Wohnanlagen konnten dank des neu fließenden Geldes gebaut werden, die Kulturmetropole mit ihren Kinos, Cafés, Kabaretts und Theatern zog immer mehr Menschen an, die sozialen und politischen Differenzen blieben jedoch bestehen. Für beide begann in Berlin die entscheidende Orientierungsphase ihres Lebens. Während für Seghers das Ankommen in Berlin den Abschied aus der Provinz und somit gänzlich neue Erfahrungen bedeutete, konnte ihr Mann schnell an seine Vorhaben und Ziele anschließen, indem ihm unter dem Parteinamen Johann Schmidt im Jahr 1927 die Leitung der neu gegründeten Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) übertragen wurde. Außerhalb der traditionellen Universitäten und Hochschulen hatte diese der KPD nahestehende Einrichtung das Ziel, ökonomische und kulturelle Bildung zu vermitteln. Ihre Finanzierung erfolgte vor allem über die niedrig gehaltenen Gebühren und über private Spenden. Adressaten dieser ›Hochschule der Werktätigen‹ waren sowohl Kommunisten als auch Nicht-Kommunisten, die die Mehrzahl der Hörer/innen stellten (vgl. ebd., 205 f.). Zu den unentgeltlich arbeitenden Dozierenden gehörten u. a. Hanns Eisler, Albert Einstein, Walter Gropius, Erwin Piscator und Ludwig Renn. Die MASCH arbeitete eng mit dem 1928 gegründeten ›Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller‹ (BPRS) zusammen. Zu den wohl prominentesten Schülern gehörte Bertolt Brecht, der 1929/30 Veranstaltungen über materialistische Dialektik besuchte. Radvanyi erwies sich bereits in den ersten Jahren als ein herausragender Dozent und Organisator. 1929, nach dem 12. Parteitag der KPD, der die Erfolge der MASCH positiv bewertete, wurde das Konzept auf ganz Deutschland übertragen und Schmidt/Radvanyi mit der Gesamtleitung betraut. Diese sowohl inhaltliche als auch organisatorisch höchst anspruchsvolle Arbeit führte ihn häufig von zu Hause weg und stellte seine Frau vor bis dahin nicht gekannte Anforderungen. Das Paar bezog innerhalb der Berliner Jahre (1925–

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1933) insgesamt drei Wohnungen. Von August 1925 bis zum 14.8.1926 wohnte es in der Sybelstraße 69 in Charlottenburg, hier wurde am 29.4.1926 Sohn Peter geboren. Nach einem Sommer bei den Eltern in Mainz erfolgte am 19.10.1926 der Einzug in die Helmstedter Straße 24 im Stadtbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Hier brachte Seghers am 21.5.1928 Tochter Ruth zur Welt. An diesem Haus befindet sich seit dem 1.7.1988 eine ›Berliner Gedenktafel‹ (Porzellantafel der KPM), die an den Lebensweg der Autorin erinnert. Ab dem 2.3.1932 lebten Seghers und ihre Familie in der vor dem Exil zunächst letzten Wohnung in Berlin in der modernen Anlage Am Fischtal in Zehlendorf, die ihnen neben den Vorzügen der grünen Vorstadt auch die notwendige Sicherheit in einer Zeit zunehmender Überfälle der SA auf die Kommunisten bot (vgl. Zehl Romero 2000, 194 f.). Die Entdeckung des ›neuen Stoffes‹ Diese Jahre brachten für das Ehepaar zahlreiche Verpflichtungen mit sich. Unterstützung erhielten sie vor allem durch die aus dem Dorf Lindelbach bei Wertheim am Main stammende Kinderfrau und Haushaltshilfe Katharina Schulz, die in der Familie Gaya genannt wurde. Sie, die auf Vermittlung von Seghers’ Mutter engagiert wurde, blieb bis 1937/38 bei der Familie und war für die Autorin eine wichtige Informationsquelle, da sie nach Aufenthalten in der Heimat über das Leben in den Dörfern ihrer Region zu berichten wusste. Über allen Anstrengungen, die der Alltag mit sich brachte, stand die Entscheidung von Seghers als Schriftstellerin arbeiten zu müssen. Sowohl die wissenschaftliche Laufbahn als auch der Beruf der Kunsthistorikerin waren für sie nie eine Option, denn die innere Notwendigkeit zu schreiben und so Verantwortung zu übernehmen motivierte sie. Wie wichtig sowohl ihr Studium in Heidelberg und Köln als auch ihre Promotion für sie lebenslang waren, zeigt sich in ihrem ästhetischen Werk, so u. a. in der Lichtmetaphorik, in der Hell-Dunkel-Kontrastierung und der TextBild-Relation sowie in den Figuren- und Erzählperspektiven (s. Kap. 42). Die an Seghers gestellten Anforderungen in dieser Zeit sind nicht bis ins Detail nachvollziehbar. Es war für sie, die – wie im Tagebuch angedeutet – Manuskripte mit nach Berlin brachte, wichtig zu schreiben. In der Erinnerung an die letzte Zeit der Weimarer Republik hält sie 1974 fest, dass sie »bis über die Ohren im Schreiben von Geschichten« steckte (AE2, 370).

Zeit und Stadt boten ideale Voraussetzungen zur Positionsbestimmung. Mit der Weimarer Republik wandelte sich das Frauenbild in Deutschland entscheidend; die Berufstätigkeit von Frauen gehörte nicht mehr zu den Ausnahmeerscheinungen und ließ veränderte Lebensmodelle zu. Mit der Entscheidung zur Autorschaft ging die Organisation der Familie einher. Seghers gelang es, die damaligen Rollenerwartungen mit ihrer persönlichen Situation – dem Willen zu arbeiten und zu reisen – zu verbinden, ohne die traditionellen Werte der Ehefrau und Mutter aufzugeben. Seit Beginn ihres Schreibens sieht sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass eine neue ›Kunstepoche‹ die Entdeckung eines ›neuen Stoffes‹ erfordert. Dieser Aufgabe ging sie in zahlreichen Aufsätzen, Essays und Gesprächen nach, etwa mit Bezug auf das Schreiben und den Realismus bei Tolstoj (vgl. KuW2, 144–164, bes. 158–160) sowie im Gespräch mit Wilhelm Girnus (vgl. KuW3, 29–36). Der neue Stoff, das sind Mitte der 1920er Jahre die Entrechteten, die Proletarier, die ohne Chance auf ein besseres Leben ihre Arbeitskraft auf dem Markt unter Wert verkaufen müssen. In ihren frühen Texten steht noch die Erlösungsvision des Expressionismus Pate. Seghers ist es wichtig, den neuen Stoff mit den literarischen Grundmustern ihrer Kindheit – den Märchen und Sagen – zu verbinden. Im Brief an Wladimir Iwanowitsch Steshenski schreibt sie 1965 über diese Zeit der poetischen Positionsfindung: »Ich wurde dabei sicher, dass ich nur schreiben sollte. Es gab dabei zwei Linien: Erzählen was mich heute erregt u die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u wusste nicht, wie« (Br2, 42). In diesem Harmonisierungswunsch auf ihre eigene Art realistisch zu erzählen, die auch zu Ausschlüssen und Anfeindungen führen wird, zeigen sich weitere lebenslang wirkende Linien. Seghers war sich ihrer Außenseiterstellung als Bürgerliche, Frau, Jüdin und Autorin bewusst. Das zeigt sich in ihrem Willen, einen eigenen Weg zu beschreiten, gewohnte Bahnen zu verlassen und zwischen Verweigerung und Anpassung vermitteln zu können. Widersprüche offenbaren sich, die sich sowohl aus ihrer Herkunft als auch der Neuorientierung erklären lassen. Das Ehepaar wählt in Berlin Quartiere in gut situierten Wohnlagen, es erfolgt räumlich keinerlei Annäherung an die, denen sie sich schreibend zuwendet. Obgleich beide zu den Eliten der Stadt gehörten, waren sie nicht in den Cafes und Restaurants der Künstlertreffs wie dem Romanischen Cafe, in dem neben Else LaskerSchüler auch ihr späterer Freund und Vertrauter Egon Erwin Kisch ein- und ausgingen, zu finden. Gleicher-

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maßen fühlte sich Seghers nicht der Szene der ›Frauenliteraturschriftstellerinnen‹ zugehörig. Sie lehnte es ab, sich auf die üblichen Themen und Genres zu beschränken und hauptsächlich für Leserinnen zu schreiben. Ihr Interesse galt vielmehr den ›großen‹ Themen und diese wurden von den Autoren aufgegriffen und bearbeitet (vgl. Zehl Romero 2000, 216). Daraus resultiert auch ihr Misstrauen, ihre prämierten Texte der 1920er Jahre mit Vor- und Zunamen zu veröffentlichen. Sowohl Grubetsch als auch Aufstand der Fischer von St. Barbara erschienen unter dem Namen Seghers. Dabei inszeniert sie am 8.12.1926 ein Spiel mit