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German Pages IX, 416 [415] Year 2020
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Carola Hilmes / Ilse Nagelschmidt (Hg.)
Anna Seghers Handbuch Leben – Werk – Wirkung
Carola Hilmes / Ilse Nagelschmidt (Hg.)
Anna Seghers-Handbuch Leben – Werk – Wirkung
J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeberinnen
Carola Hilmes ist apl. Professorin für neuere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ilse Nagelschmidt ist Professorin für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Universität Leipzig.
ISBN 978-3-476-05664-1 ISBN 978-3-476-05665-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © bpk / Manfred Uhlenhut J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhalt Vorwort VII
I Leben 1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten Ilse Nagelschmidt / Sina Meißgeier 3 II Werk 2 Grubetsch (1927) Corinna Schlicht 39 3 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) Jyoti Sabharwal 42 4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930) Corinna Schlicht 47 5 Die Gefährten (1932) Withold Bonner 50 6 Der Kopflohn (1933) Withold Bonner 55 7 Der Weg durch den Februar (1935) Monika Wolting 60 8 Die Rettung (1937) Vesna Kondrič Horvat 63 9 Sagen und Legenden (1938–1940): Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Die drei Bäume Jadwiga Kita-Huber 67 10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942) Bettina Bannasch 73 11 Das Obdach (1941) Monika Wolting 80 12 Transit (engl. 1944; dt. 1948) Jörg Schuster 83 13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946): Der Ausflug der toten Mädchen, Post ins gelobte Land, Das Ende Leonhard Herrmann 89 14 Das Argonautenschiff (1949) Katrin Dautel 96 15 Die Toten bleiben jung (1949) Loreto Vilar 100 16 Crisanta. Mexikanische Novelle (1951) Martina Wernli 105 17 Kleine Erzählsammlungen der 1950er Jahre: Friedensgeschichten (1950/53), Die Kinder (1951) Markus Wiegandt 108
18 Der Mann und sein Name (1952) Inga Probst 113 19 Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden (1953) Nadine J. Schmidt 116 20 Die Entscheidung (1959) Loreto Vilar 121 21 Karibische Geschichten (1962): Die Hochzeit von Haiti (1948), Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), Das Licht auf dem Galgen (1960) Herbert Uerlings 127 22 Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965) Caroline Köhler 133 23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967) Martina Wernli 139 24 Das Vertrauen (1968) Loreto Vilar 143 25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971) Lehel Sata 149 26 Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Un irdischen, Der Treffpunkt, Eine Reisebegegnung Katrin Löffler 153 27 Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977) Katrin Löffler 160 28 Drei Frauen aus Haiti (1980): Das Versteck, Der Schlüssel, Die Trennung Kathrin Schödel 166 29 Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990) Carola Hilmes / Gabriele Rohowski 171 III Reden, Publizistik, Briefe 30 Vorträge und Reden Katharina Meiser 179 31 Reden auf den Internationalen Schriftsteller kongressen 1935 und 1937 Hannelore Scholz-Lübbering 186 32 Essays und Zeitschriftenprojekte Yvonne Delhey 192 33 Briefe und Korrespondenzen Christiane Zehl Romero 199
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Inhalt
IV Poetologische Fragestellungen
VI Rezeption und Wirkung
34 Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924) Stephanie Bremerich 217 35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit Katrin Max 221 36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39) Konstantin Baehrens 228 37 Sozialistischer Realismus Carsten Jakobi 235 38 Klassische russische Literatur Christian-Daniel Strauch 243 39 Franz Kafka Viera Glosíková 250 40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden Monika Melchert 254 41 China und Chinaerfahrungen Barbara Dengel 259 42 Schriftlichkeit und Visualität Helen Fehervary 266
50 Ostdeutsche Rezeption – DDR Anja Jungfer 335 51 Westdeutsche Rezeption – BRD Elżbieta Tomasi-Kapral 345 52 Rezeption in den USA Stephen Brockmann 353 53 Rezeption in Frankreich Hélène Roussel 359 54 Rezeption in der Sowjetunion Alfrun Kliems 367 55 Verfilmungen Hans-Willi Ohl 371 56 Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a. Carola Hilmes 381 57 Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze Bernd Zegowitz 384 58 Übersetzungen Hans-Willi Ohl 386 59 Anna-Seghers-Gesellschaft Hans-Willi Ohl 390
V Themen und Kontexte 43 Heimat und Patriotismus Carsten Jakobi 275 44 Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben Marike Janzen 284 45 Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen Ursula Elsner 291 46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren Jennifer Marston William 299 47 Topographien von Flucht und Exil Helen Fehervary 307 48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand Peter Beicken 311 49 Verhältnis zum Judentum Ulrike Schneider 322
Anhang Zeittafel Stephanie Bremerich 399 Siglenverzeichnis: Ausgaben und Werke 403 Auswahlbibliographie Saskia Fuckert /
Kilian Thomas 405 Autorinnen und Autoren 409 Personenregister 411
Vorwort Anna Seghers, die sich im Exil und später in der DDR auch kulturpolitisch engagierte, gehört zu den renommierten deutschsprachigen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Als Tochter wohlhabender und kulturoffener Eltern wird sie 1900 in Mainz geboren. Zu dieser Zeit gehörten antisemitische Ausschreitungen noch zu den Ausnahmen, so dass die jüdisch-orthodoxe Familie hohes Ansehen auch in der christlichen Bevölkerung genoss. Der Vater, der mit seinem Bruder einen Antiquitäten- und Kunsthandel führte, und die Mutter, die aus einer angesehenen Frankfurter Familie stammte, unternahmen alles, um der Tochter eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Netty Reiling, so der Geburtsname, gehört der ersten Generation junger Frauen in Deutschland an, die das Abitur ablegen und studieren können. Die Kinder- und Jugendjahre sind für die künftige Autorin von entscheidender Bedeutung. Zum einen ist es die Bibliothek der Eltern, in der das junge Mädchen all das vorfindet, was es ein Leben lang begleiten wird. Von den Märchen, Sagen und Mythen des Altertums über die Klassiker der deutschen Literatur bis zu Dostojewskij und Balzac kommt sie bereits sehr zeitig mit der Weltliteratur in Kontakt. Zum anderen ist es der durch Mainz fließende Fluss, die Farbigkeit der Landschaft und die hessische Mundart, die sie viele Jahre später nach Exil und Rückkehr zu ihrem »Originaleindruck« im Sinne Goethes verdichtet. Mit dem Weggang aus Mainz beginnt sich das abzuzeichnen, was ihr Leben bestimmen wird: ständige Ortswechsel, Umbrüche, prägende neue Erfahrungen, die Suche nach Freude sowie der Wille, dabei zu sein, Verantwortung zu übernehmen und gestaltend einzugreifen. An der Universität in Heidelberg, wo sie Kunstgeschichte, Geschichte und Soziologie studiert, kommt sie über ihre Kommilitonen Philipp Schaeffer und Laszlo Radvanyi, ihren späteren Mann, in Verbindung zu marxistischen Ideen. Diese faszinieren die junge Frau mit ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Es folgen der Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands Ende der 1920er Jahre und die Begeisterung für den jungen Sowjetstaat.
Frühzeitig dokumentiert sie im Tagebuch ihren Entschluss zu schreiben, gleichzeitig schwingt der stete Zweifel mit, sich selbst und den anderen nicht genügen zu können. Schreiben wird zu ihrer Lebensaufgabe, die akademische Bildung zur Voraussetzung vieler Reden und Essays. Eine universitäre Laufbahn strebt die promovierte Kunsthistorikerin jedoch nicht an. Ihre ersten literarischen Arbeiten veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Seghers, später wird der Vorname Anna hinzugefügt. Mit der Verleihung des Kleist-Preises für Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara zählt sie am Ende der 1920er Jahre zu den talentiertesten Nachwuchsschriftsteller/innen der Weimarer Republik. Ihr Interesse gilt vor allem einem ›neuen Stoff‹, den Arbeitern, den kleinen Leuten und den Entrechteten. 1965 schreibt sie an ihren Freund und Vertrauten Wladimir Iwanowitsch Steshenski über ihre literarischen Anfänge: »Ich wurde dabei sicher, dass ich nur schreiben sollte. Es gab dabei zwei Linien: Erzählen was mich heute erregt u die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u wusste nicht, wie« (Br2, 42). Daraus entwickelt sie ihr poetologisches Programm: einen ganz individuellen ›sozial-kritischen‹ Realismus (s. Kap. 37). Die Zeit der Positionierung, des beruflichen Erfolgs sowie der öffentlichen Auftritte und Reisen endet mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Im Alter von 33 Jahren muss sie mit ihrer Familie Berlin verlassen, erst 14 Jahre später wird sie allein wieder deutschen Boden betreten. Dazwischen liegen die Jahre des Exils in Frankreich und Mexiko, in denen sie ihre bis in das 21. Jahrhundert bekannten Romane Das siebte Kreuz und Transit sowie die novellistische Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen geschrieben hat. Das Exilwerk ist bestimmt durch die literarische Transformation historischer Ereignisse sowie die Verarbeitung biographischer Erlebnisse. Das führt zu einer spezifischen Authentizität ihrer Texte. Mit der Rückkehr zu dem »Volk der kalten Herzen« (vgl. Br1, 229) ist über lange Zeit keine wirkliche Heimkehr verbunden. Zu tief sind die erlittenen De-
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Vorwort
mütigungen und die Enttäuschung über die ›inneren Trümmer‹, die sie in den Menschen vorfindet. Die Jahre nach 1947, die sie bis zu ihrem Tod 1980 in OstBerlin verbringt, sind durch Spannungen bestimmt. Seghers übernimmt die an sie herangetragenen Verpflichtungen und Ämter; bis 1978 wird sie die Funktion der Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR bekleiden. Gleichzeitig ringt sie um die Verwirklichung eigener literarischer Vorhaben. Der kulturpolitischen Forderung, einen ›neuen Stoff‹ und den ›neuen Menschen‹ zu gestalten, widersetzt sie sich nicht, aber die Ende der 1950er und 1960er Jahre erscheinenden Romane Die Entscheidung und Das Ver trauen finden nicht das gewünschte Echo. Mit der neu akzentuierten Kulturpolitik seit Ende der 1960er Jahre setzt ihr Alterswerk ein, das durch Reflexionen auf Orte und das Leben im Exil, den Rückgriff auf Sagen und Märchen sowie das Phantastische bestimmt ist. In der Zeit des politischen Umbruchs 1989/90 und danach in der vereinten Bundesrepublik beginnt eine umfassende Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Kultur der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg. Anna Seghers, einst gefeierte Autorin und ›Vorzeigefrau‹ einer anderen realistisch-sozialistischen Literatur, wird nun wegen ihrer positiven Haltung zur Sowjetunion und wegen ihrer Loyalität zur DDR zu einem Beispiel öffentlicher Demontage. Das Handbuch präsentiert das Gesamtwerk unter vielfältigen Gesichtspunkten, wobei auch Widersprüche aufgedeckt werden. Das eröffnet unter veränderten Fragestellungen neue Perspektiven; derzeit beschäftigt sich v. a. die US-amerikanische Germanistik mit Seghers. Nach einem einführenden Kapitel zum Leben dieser in die politischen, sozialen und kulturellen Zeitumstände des 20. Jahrhunderts eingebundenen Autorin werden in Kapitel II alle Romane, repräsentative Erzählungen und einflussreiche Erzählsammlungen vorgestellt. Ihre literarischen Werke werden unter vergleichenden Kriterien erschlossen: Den Voraussetzungen für die Publikation und den poetologischen Rahmenbedingungen folgt eine kurze Inhaltsangabe mit Verweis auf intertextuelle Bezüge. Aussagen zur Rezeptionsgeschichte direkt nach dem Erscheinen sowie ein kurzer Forschungsbericht runden die Beiträge ab. Auch die zwischen 1990 und 2003 aus dem Nachlass herausgegebenen Texte werden berücksichtigt. Kapitel III steht im Zeichen der Zeitzeugnisse und der Publizistik. Der Fokus liegt auf den Vorträgen und Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937. Seghers hat ihr Werk mit einer Vielzahl von Essays begleitet, in denen sie sowohl auf
konkrete Zeitumstände als auch auf eigene Lektüreerfahrungen eingegangen ist. Außerdem pflegte sie viele Freundschaften, so u. a. zu Gisela und Egon Erwin Kisch, Lenka Reinerovà und Jeanne Stern. Ihre umfangreiche Korrespondenz sowohl mit den Freund/innen und Kolleg/innen als auch mit den Leser/innen zeugt von Sensibilität, Fürsorge und Menschlichkeit. Kapitel IV erläutert die poetologischen Konzepte von Anna Seghers. Nach einer Analyse ihrer erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Dissertation zu Rembrandt werden die in Kunstwerk und Wirklichkeit zusammengefassten Grundgedanken vorgestellt und in weiteren Beiträgen differenziert; so der im Exil mit Georg Lukács geführte ›Briefwechsel‹ und ihr Realismusverständnis, das sich nicht auf die Methode des sozialistischen Realismus reduzieren lässt. Den Märchen und Mythen, der klassischen und realistischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie den Texten Kafkas kommen besondere Bedeutung zu. Außerdem erfährt Seghers Anregungen durch die chinesische Literatur und Kultur. Das Verhältnis von Schriftlichkeit und Visualität gehört zu den Charakteristika ihres Erzählens. Kapitel V stellt zentrale Themen der Werke vor, die neuerlich Aktualität beanspruchen dürfen: Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität und Widerstand markieren deren Leitlinien. Oft stehen Figuren im Mittelpunkt, die ein unheroisches Leben führen oder gar scheitern. Es ist vor allem die Kraft der Schwachen, an die Seghers erinnert und für die sie literarisch wirbt. In der Zeit des Exils gewinnen die Themen Heimat und Vaterlandsliebe sowie ihr Verhältnis zum Judentum an Relevanz. Durchgängig wichtig sind ›Wahlverwandtschaften‹, die zu einer ausgeprägten Intertextualität führen. Obwohl sich Seghers nicht explizit zu Geschlechterstereotypen und der Rolle von Frauen geäußert hat, ist eine Beschäftigung mit den Geschlechterverhältnissen in ihrem Werk aufschlussreich. Kapitel VI versammelt Beiträge zur deutsch-deutschen sowie zur internationalen Rezeption. Seghers’ Werk erfuhr in der Weimarer Republik, später in der DDR und der Bundesrepublik eine breite, zuweilen widersprüchliche Resonanz. Ihr Lebenswerk wurde nicht nur von der Literaturkritik und der wissenschaftlichen Forschung reflektiert, sondern auch durch eine Vielzahl von Übersetzungen anerkannt. Mediale Adaptionen vor allem in Verfilmungen verstärken ihre Bekanntheit. Die Aktivitäten der Anna Seghers-Gesellschaft, die seit den 1990er Jahren stattfindenden Tagungen und Publikationen, tragen nachhaltig zur Präsenz der Autorin bei und regen eine weitere Be-
Vorwort
schäftigung mit ihrem literarischen und publizistischen Werk an. Eine rasche Orientierung bietet der Anhang des Handbuchs mit Zeittafel, einer Auswahlbibliographie und einem Personenregister. Unser Dank gilt dem J. B. Metzler Verlag, v. a. unserem Lektor Oliver Schütze, für seine Ermutigung und Unterstützung. Danken wollen wir auch unseren studentischen Hilfskräften Saskia Fuckert und Judith Bentzin
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in Frankfurt sowie Alexandra Mehnert und Kilian Thomas in Leipzig für ihre Einsatzbereitschaft und die sorgfältige Arbeit. Aber nicht zuletzt sind es die Autorinnen und Autoren, die das Gelingen des Handbuches ermöglicht haben. Frankfurt am Main und Leipzig, im Frühjahr 2020 Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt
I Leben
1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten Kindheit, Jugend und Studium Frühe Eindrücke Im 2003 aus dem Nachlass herausgegebenen Tagebuch heißt es am 18.1.1925: »Und immer gleich d. Gefühl, daß mit d. Freude Gott entfernt u ich brauch doch so schrecklich Freude, nicht nur so ein bißchen« (Seghers 2003, 21). Diese Sehnsucht nach Freude wird sowohl ihr Leben als auch ihr Werk bestimmen. Gemeint ist nicht eine Freude über ein oberflächliches, leicht wieder abklingendes Erlebnis, sondern die innere Freude am Lesen und am eigenen Schreiben, das schon im Tagebuch als Arbeit und Notwendigkeit beschrieben wird, sowie die Freude am Heimkommen und daran, für andere da zu sein. Geboren wird sie am 19.11.1900 als Netty Reiling in einer großbürgerlichen Familie in Mainz am Rhein. Die Familiengenealogie des Vaters Isidor Reiling (1868–1940) kann über die Bensheimer und die Mainzer Reilings bis zu den Auerbacher Reilings in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt werden (vgl. Ohl 2007, 174). Die Mutter, Hedwig Reiling geb. Fuld (1880–1942), stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Frankfurt am Main. In der autobiographisch determinierten Erzählung Ausflug der toten Mädchen wird Seghers im Exil, nachdem sie von der Deportation der Mutter in das KZ Piaski bei Lublin erfahren hat, in der Verschmelzung von erinnerter Kindheit und tiefer Trauer über deren Schicksal über diese schreiben: »Meine Mutter stand schon auf der kleinen, mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße [...]. Wie jung sie doch aussah, die Mutter [...]. Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war.« (AtM, 149)
Im Wissen um all das, was passieren wird, lesen sich die Sätze der Tochter über die Mutter als die düstere
Vorahnung des Kommenden: »Mich brennt der Schmerz mein. Mutter, daß ich von ihr gehe« (Seghers 2003, 20). In der Heimatstadt Mainz betrieb der Vater gemeinsam mit seinem Bruder die großväterlich gegründete Antiquitäts- und Kunsthandlung am Flachsmarkt 2, am Rande der Altstadt gelegen. Außerdem war er Kustos des Mainzer Doms, ein Ort, der in die Texte der Tochter immer wieder einfließen wird. Mainz, die ursprünglich von den Römern gegründete Siedlung, war an der Wende zum 20. Jahrhundert Hauptstadt der Provinz Rheinhessen und zählte rund 84.000 Einwohner, die zum größten Teil katholischer Konfession waren. Neben den Protestanten und weiteren Mitgliedern christlicher Gemeinden gab es die Israelitische Religionsgemeinde, die sich sowohl aus russischen und polnischen Einwander/innen als auch aus orthodoxen deutschen Juden zusammensetzte und über 3000 Mitglieder zählte (vgl. Hilzinger 2000, 14 f.). Die Eltern gehörten der Gruppe der Orthodoxen an und waren Mitglieder verschiedener jüdischer Wohlfahrtsorganisationen, in deren Arbeit die Tochter bereits früh vor allem von der Mutter eingeführt wurde. Netty Reiling hat somit eine traditionell jüdisch geprägte Erziehung genossen, was das Erlernen des Hebräischen sowie die Vertrautheit mit der biblischen Geschichte und den rituellen Festen umschloss. Gegenüber christlichen Feiertagen – wie Weihnachten – hat sich die Familie nicht verschlossen. Obwohl Seghers zwischen 1925 und 1927 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten ist (vgl. Haller-Nevermann 1997), finden sich in vielen ihrer Texte Reflexionen auf die jüdische Geschichte, auf Ausgrenzungen und Pogrome. Sowohl in der Zeit des Exils als auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wird sie sich ihrer Herkunft verstärkt erinnernd stellen. Nach ihren Aussagen war sie, bevor sie in die Schule kam, oft krank »und dabei lernte ich verhältnismäßig früh lesen und dadurch auch schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich, weil ich allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte« (KuW2, 36). Im Elternhaus gab es eine große an humanistischer Bildung orientierte Bibliothek, in der das Mädchen bereits viel durcheinander gelesen hat, »bevor man es mir erlaub-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_1
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I Leben
te« (Roscher 1971, 1264). In der nach dem Exil heimgekehrten Bibliothek aus Paris finden sich viele Hinweise auf die Sammlungen der Eltern. Neben den Schwerpunkten Klassik, Romantik und Realismus – von Schiller, Goethe, über Hölderlin, Lenau, Heine bis Fontane – war die europäische Literatur – u. a. mit Cervantes, Dickens, Dostojewskij, Gorkij, Lagerlöf, Rousseau, Stendhal und Wilde – sowie eine Sammlung expressionistischer Literatur vertreten. Die Texte der französischen Autoren hat sie bereits in jungen Jahren in der Originalsprache gelesen. Frankreich war das Land, das sie schon früh begeisterte und in dem sie sich wohl fühlte. Weiterhin gehörten Märchen und Mythen, die später in ihren Erzählungen eine wichtige Rolle spielen werden (s. Kap. 40), zum Bestand der Bibliothek (vgl. Hilzinger 2000, 16 f.). Neben dem Lesen entdeckt Reiling früh die Freude am eigenen Schreiben: »Seit ich Buchstaben schreiben kann, schreibe ich« (Roscher 1971, 1264). Im Gegensatz zu den Erfahrungen anderer Autorinnen vergangener Generationen erhält sie Unterstützung von ihrer Mutter, die das Talent der Tochter erkennt. Seit früher Kindheit und Jugend – bedingt durch die sie faszinierende Märchen- und Sagenwelt – entwickelt sie ihre Art zu schreiben. Aus der zunächst mündlichen Erzählhaltung, dem immer wieder und wieder laut Hergesagten, entsteht der poetische Text, in dem das Erzählen dominiert. Aus den Leseerfahrungen und ersten Schreibversuchen kristallisieren sich prägende Eindrücke heraus. Der durch Mainz fließende Fluss, die Farbigkeit der Rheinlandschaft, das Schlagen der Kirchenglocken ihrer Vaterstadt und die hessische Mundart sind Voraussetzungen für das, was sie als ›Originaleindruck‹ beschreibt. Im Grußtelegramm, das Seghers als Dank für die Glückwünsche zu ihrem 75. Geburtstag an die Mainzer Freunde richtet, bekennt sie, dass sie in ihrer Heimatstadt das empfangen hat, »was Goethe den Originaleindruck nennt, den ersten Eindruck, den ein Mensch von einem Teil der Wirklichkeit in sich aufnimmt, ob es der Fluss ist, oder der Wald, die Sterne, die Menschen. Ich habe versucht, in vielen meiner Bücher festzuhalten, was ich erfuhr und erlebte« (Wagner/Emmerich 2000, 15). Mit sieben Jahren kommt sie in eine angesehene Privatschule, es folgen die Jahre der ›Höheren Mädchenschule‹ bis zum Eintritt ins Gymnasium, das sie 1920 mit dem Abitur abschließt. Diese Schulzeit wurde nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt zu Schicksalsjahren, die die Gymnasiastin mit Interesse verfolgte. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde
Mainz zunächst von den Franzosen besetzt, Menschen ihres Umfeldes verließen aus politischen Gründen die Stadt und soziale Verwerfungen sowie Unruhen dominierten den Alltag. Ob sie von der wohl größten Errungenschaft des Jahres 1918, der Einführung des aktiven und passiven Wahlrechtes für Frauen, Kenntnis hatte, ist nicht bekannt. Auf die Frage, welchen Eindruck die Oktoberrevolution auf sie ausübte und wann ihre Politisierung begonnen habe, antwortet sie Jahrzehnte später im Gespräch mit Wilhelm Girnus, dass dieses Ereignis sehr schnell mit einem neuen Begriff für sie verbunden war, »ja, sagen wir es doch ganz einfach, mit einem neuen, starken, unerhörten Begriff von Gerechtigkeit. Ich glaube, so sonderbar es klingt, das war damals das erste vorherrschende Gefühl, als ich noch gar nichts von Politik verstand« (KuW3, 29 f.). Dieser ›Begriff von Gerechtigkeit‹ wird zur Voraussetzung ihrer politischen und sozialen Haltung. Bereits seit frühester Jugend beschäftigt sich Seghers mit der dominierenden Religion ihres Kulturraumes, dem Christentum. Mit zunehmenden Studien – so die Dostojewskij-Studie (s. Kap. 38) – verbindet sie im Sinn ihres Engagements Werte der jüdischen Erziehung mit denen des Christentums, die sie schließlich um die sozialistischen erweitert. Damit entkleidet sie die Religion ihrer Spiritualität und erhebt die sozialistische Idee zu einem Religionsersatz. Aus dem Bekenntnis zur Solidarität mit den Entrechteten und der Empathie mit dem Leiden anderer erwächst in ihrem Leben und Werk das Gefühl für Gerechtigkeit sowie das Bewusstsein für den sozialen Kampf, das sie erstmals in dieser Dimension in der Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) umsetzt. »Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.« (AdF, 5)
Sonja Hilzinger folgend, haben sich in den 1920er Jahren die Grundlegung der Schreibmotivation und die zentralen Koordinaten der Schreibintentionen von Seghers herausgebildet, die in den Jahren des Exils Modifikationen ausgesetzt sind, »die jedoch als lebens- und zeitgeschichtlich bedingte Erweiterungen oder Neuakzentuierungen einer bereits gelegten Grundintention zu verstehen sind« (Hilzinger 2000, 32 f.). Diese Grundkonzeption, die auf den beschriebenen Voraussetzungen basiert, lässt sich mit dem
1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten
Begriffspaar »Passion und Erlösung« beschreiben. Dieses Paar »ist im kulturgeschichtlichen Diskurs des Abendlandes eindeutig auf die Leidensgeschichte Christi bezogen und das Evangelium von der Erlösung gehört zu den zentralen Inhalten des christlichen Glaubens« (ebd., 34). Vor dem Hintergrund der jeweiligen zeit- und ideengeschichtlichen Kontexte erörtert Hilzinger die Übertragung des Begriffspaares als Grundmuster im Werk der Seghers (vgl. ebd., 32–43). Studienjahre in Heidelberg und Köln Unmittelbar nach dem Abitur vollzieht Reiling den entscheidenden Schritt, sie geht zum Studium nach Heidelberg. Ort und Studienrichtungen waren gut überlegt. Die Universität gehört zu den ältesten in Europa mit einer traditionellen Ausbildung für Juden und hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Frauen die Gasthörerinnenschaft ermöglicht. Ein Frauenstudium war seit 1900 möglich. Reiling zählte somit zur ersten Generation junger Frauen, denen eine Hochschulausbildung gestattet war und die nicht wie z. B. Ricarda Huch (1864–1947) zum Studium in die Schweiz (1886–1891) ausweichen mussten. Nach dem Ende des Wilhelminischen Kaiserreiches und der Gründung der Weimarer Republik (1919) bildete sich eine Frauengeneration heraus – der u. a. Hannah Arendt, Käte Hamburger oder Helene Weigel angehörten –, für die Bildung und Berufstätigkeit selbstverständlich wurde. Was diese meist aus wohlhabenden jüdischen Familien stammenden jungen Frauen einte, war – wie bereits bei vergangenen Generationen seit dem 18. Jahrhundert – die Orientierung an der Identität der Väter. So lag es für Reiling nahe, sich für Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie einzuschreiben. Das Studium in Heidelberg wird durch kunstgeschichtliche Studien im Jahr 1921 an der Universität Köln ergänzt werden. Froh, der zunehmenden Enge des Elternhauses entkommen zu sein, fand sie einen engen Kreis von Freunden, die nicht dem bürgerlichen Milieu entstammten. Dazu gehörten der Sinologe Philipp Schaeffer (1894–1943) und László Radványi. Schaeffer hatte großen Einfluss auf die junge Frau, er eröffnete ihr neue Bezugsfelder, so die intensive Beschäftigung mit China (s. Kap. 41). Er war es, der über seine dem Alltag enthobenen wunderbaren Geschichten ihre Affinität zu Märchen und Sagen noch bestärkte und sie mit jungen Emigranten in Kontakt brachte, zu denen auch Radványi gehörte. Schaeffers politisches Schick-
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sal ähnelte dem vieler aufrechter Kommunisten seiner Zeit. 1935 wurde er erstmalig verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung schloss er sich der Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹ an und wurde 1943 in Plötzensee enthauptet. Radványi, hat seine spätere Frau bereits am Beginn des Studiums kennengelernt (vgl. Hilzinger 2000, 24). Als einer der Jüngsten des ›Sonntagskreises‹ um Georg Lukács musste er nach der Niederschlagung der Räterepublik in Ungarn seine Heimat verlassen. In Heidelberg studierte er seit dem Wintersemester 1919/20 Philosophie, Psychologie und Volkswirtschaft; 1923 wurde er mit einer Arbeit zum Chiliasmus promoviert. Sein in den 1920er Jahren angenommener Parteiname Johann Schmidt sollte ihm die notwendige Deckung geben. Nach der Rückkehr aus dem Exil wurde dieser zu Johann-Lorenz Schmidt erweitert. Die Jahre ihres gemeinsamen Studiums waren durch politische, soziale und wirtschaftliche Ereignisse geprägt. Dazu gehörten der Kapp-Putsch des Jahres 1920 sowie der Putschversuch der Nationalsozialisten (1923) und schließlich erreichte die Inflation in diesem Jahr ihren Höhepunkt. Das hatte Folgen für die Polarisierung der Studentenschaft. Neben einer völkischen Gruppe gab es den an den Germanisten Friedrich Gundolf gebundenen George-Kreis sowie die an Marx und der russischen Revolution orientierten Studenten, zu denen sich Reiling hingezogen fühlte. Die Forderung nach einer Revolution stand im Raum, Schlagwörter folgten auf Schlagwörter, dazu gehörten auch die von Dostojewskij nach dem Ersten Weltkrieg vermittelnden Worte Sehnsucht, Aufbruch und Erneuerung. Das führte bei Reiling zu einer ersten intensiven und sie über Jahrzehnte begleitenden Beschäftigung mit Dostojewskij und Tolstoj (s. Kap. 38) sowie zu einem Bild vom russischen Menschen, das zur Grundlage ihrer lebenslangen Bewunderung der Sowjetunion wurde. Weiterhin hinterließen sowohl die sowjetrussische Literatur als auch Filme wie Panzerkreuzer Potemkin einen nachhaltigen Eindruck auf die Studentin. Namensfindung und Autorinnenschaft Neben dieser politischen Orientierung bot die Universität der jungen Frau vielfältige Möglichkeiten der akademischen Auseinandersetzung. Zu ihrer Studienzeit lehrten u. a. der Soziologe Max Weber, die Philosophen Heinrich Riekert und Karl Jaspers, die Germanisten Friedrich Panzer und Friedrich Gundolf, der Ägyptologe Hermann Ranke sowie die Kunsthistori-
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ker Carl Neumann und Wilhelm Fränger. Nicht vorrangig ihr Doktorvater Carl Neumann war es, der Reiling den Zugang zu dem Namen ›Seghers‹ ebnete, sondern vielmehr Fränger, der sie in das Werk von Hercules Seghers (1589/90 bis ca. 1630, Zeitgenosse Rembrandts) einführte (s. Kap. 34). Für ihren akademischen Lehrer war dieser Maler ein Rebell, der von seinen Zeitgenossen nicht erkannt und von den Späteren vergessen wurde. Hier wird Reiling in der Identifikation mit den Vergessenen ihre »Mission« (vgl. Hilzinger 2000, 32) gesehen haben, einen überindividuellen Auftrag anzunehmen. Bereits in ihrem Debüt, der Erzählung Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Hölländischen – Nacherzählt von Seghers, 1924 in der Weihnachtsbeilage der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt erschienen, verwendet sie ihr Pseudonym Seghers, das nur noch eine leichte Veränderung im Vornamen erfahren sollte. Im Kapitel »Identität und Name« geht Hilzinger auf die Frage der Namensgebung, des Namensgebrauchs sowie des Zusammenhangs von Name und Identität von Figuren im Werk der Seghers ein (vgl. Hilzinger 2000, 28–32). In diesem Zusammenhang bietet sich der Vergleich mit einer anderen jüdischen Autorin – Else Lasker-Schüler – an, die mit ihren phantasievollen Neuschöpfungen wie Prinz Jussuf von Ägypten in ihren ersten Prosatexten beginnt, ihre bürgerliche Existenz hinter sich zu lassen und über die Annahme von Kunstnamen eine neue Identität zu schaffen, die sie in der Welt der Bohème verortet. Soweit ist Seghers nicht gegangen. Mit der Annahme des Namens bekennt sie sich zu ihrer Berufung als Autorin und bereitet sich auf ein Ankommen in einer anderen als der von den Eltern vermittelten bürgerlichen Sphäre vor, ohne jedoch deren Prägungen und ihren Lebensstil aufgeben zu müssen. Reiling beendet ihr Studium mit der kunsthistorischen Dissertationsschrift Jude und Judentum im Werke Rembrandts (Seghers 1990; s. Kap. 34), die sie am 4.11.1924 verteidigt. Rückblickend zieht sie das Fazit, dass »trotz der bedrohlichen Zeit« und »trotz aller Bedrängungen« diese Jahre schön und in vielfacher Sicht anregend waren: »Sorglos, offenherzig waren wir damals. Wie waren wir bereit, uns zu freuen! Wir fanden immer etwas zum Freuen« (AE2, 388). Zu solchem Freuen gehörte, dass sie in dieser bedrohlichen Zeit »Gefährten« (vgl. Hilzinger 2000, 20–28) fand, an denen sie sich orientieren konnte, die ihr Ratgeber und Unterstützer sowie Lehrer und Anreger waren. Dieser Topos wird sich in ihrem Werk immer wieder finden.
Tagebuch und erste Texte Unmittelbar nach Abschluss des Promotionsverfahrens, kurz vor ihrem 24. Geburtstag, kehrt sie ohne Radványi – der zunächst noch in Heidelberg und danach in Berlin wohnen wird und auf Stellensuche geht – in ihr Elternhaus zurück. Am 15.11.1924 ist der erste Eintrag in ihrem Tagebuch zu finden. Die ersten 14 Tage sind durch Eindrücke einer Paris-Reise bestimmt, die sie gemeinsam mit den Eltern unternommen hat. Bis zum Ende ihrer Notizen am 26.5.1925 leidet sie unter der Trennung von Radványi. Bei seinen Besuchen gibt er ihr Mut und vermittelt ihr die Gewissheit der bevorstehenden Hochzeit (vgl. Seghers 2003, 7, 16 f., 28, 31). Mit der Rückkehr nach Mainz befindet sie sich in einer Grenzsituation zwischen ihrer Liebe zu Radványi und der Sorge um ihn sowie der Abwehr des Vaters gegen diese Verbindung, zwischen der Welt-Erfahrung des Studiums und der Enge des Elternhauses, zwischen dem unbändigen Willen zu schreiben und der Angst, »daß mich mein. Begabung verlassen könnte« (ebd., 7) sowie der »Furcht vor dem Gelingen« (ebd., 12). Diese Selbstzweifel, das ständige Hinterfragen von Gott, die intensive Beschäftigung mit Schuld und Sühne in einer Mischung von jüdischen Gottesvorstellungen und denen von Kierkegaard – die zunehmende Entfremdung von Gott und den Eltern wird als Sünde begriffen –, bekämpft Reiling mit Arbeit. Sie beginnt die russische Sprache zu erlernen und bringt sich freiwillig als Vorlesende und Erzählerin in das christlich-soziale Projekt der »Kinderlesehalle« ein (vgl. ebd., 10). Über allem steht die Arbeit am Text Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (vgl.ebd., 35–67), in den sowohl ihr kunsthistorisches Wissen als auch die Beschäftigung mit Kierkegaard und Dostojewskij sowie Legenden und Märchen eingeflossen sind. Kurz vor der Verlobung am 4.5.1925 formuliert sie eine Einsicht, die sie als Autorin zeitlebens leiten wird: »Darf man um der Wahrh. willen andere zu Grunde richten, vor allem aber ›um selbst das Wahre‹ auszudrücken. Jedenfalls gibt es vor der Sünde nur eine Beschwichtigung: die Not ernster Arbeit« (Seghers 2003, 31). Im Tagebuch reflektiert sie viel von dem, was später ihr Leben bestimmen wird: ihr Pflichtbewusstsein und die Strenge gegen sich selbst, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Neugier und ihr Verlangen nach Liebe und Freude. In der Erzählung Wiederbegegnung stellt sich Alfonso existentielle Fragen: »Die Liebe, die ihm mehr als das Leben war. [...] Mehr als das Leben? Und was war sein Leben wert? Wozu wird
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es noch wert sein? Was war das, was einem Menschen, was ihm selbst wert war?« (WA II/6, 320 f.)
Von Mainz nach Berlin Die Metropole Berlin der 1920er Jahre Unmittelbar nach der Hochzeit am 10.8.1925 erfolgte die Übersiedlung des Paares nach Berlin. Die deutsche Hauptstadt wurde in den 1920er Jahren mit bis zu 4,3 Millionen Einwohnern zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Metropole Deutschlands und zu einer der impulsgebenden Städte Europas. Im schillernden Wechselspiel von Moderne, Innovation und Libertinage, von politischem Aufbegehren – Berlin war die Hochburg des Kommunismus außerhalb der Sowjetunion mit 25 Zeitungen und viertausend aktiven politischen Zellen – und dem aufkommenden Nationalsozialismus prallten unvereinbare Gegensätze aufeinander. Während die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Entspannungstendenzen zeigte und Deutschland sich mit der Konstituierung der Weimarer Republik eine demokratisch legitimierte Verfassung gab, waren die ökonomischen Zerrüttungserscheinungen, die sich bereits mit Kriegsbeginn 1914 abzeichneten, nicht mehr aufzuhalten und erreichten 1923 mit der Inflation ihren Höhepunkt. Die danach einsetzende Situation, forciert durch den Dawes-Plan vom 16.8.1924, der die Reparationszahlungen Deutschlands an die Supermächte regelte, führte bis zur Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 zum Mythos der ›Goldenen Zwanziger Jahre‹. Zu dessen Begründung gehörten vor allem der unaufhaltsame Aufstieg von Kunst und Kultur, die Innovationen im Film und Hörfunk sowie in der Theaterlandschaft, die schließlich zur Entstehung einer ersten Medien- und Freizeitindustrie führten. Das andere Gesicht dieser sich rasant ausbreitenden Metropole sind die lichtlosen Hinterhöfe, das karge Leben der Proletarier sowie die immer größer werdenden politischen Spannungen. Berlin in den 1920er Jahren ist auch die Stadt der Immigranten, über 200.000 Menschen aus Russland und der Sowjetunion sind entweder vor den Verhältnissen in ihrer Heimat geflohen oder sie bieten ihre gesellschaftsverändernden Visionen an, um so zur Veränderung der Verhältnisse in Deutschland beizutragen. Große Widersprüche durchziehen die jüdische Bevölkerung der Stadt. Während das deutsch-jüdische Bürgertum – mit Vertretern wie den Familien Tietz und Wertheim oder dem Rechtsanwalt Ludwig Chodziesner, dem Vater
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der Autorin Gertrud Kolmar – im Westen der Stadt unter sich blieb und mit Scheu und Verachtung auf die osteuropäischen Juden blickte, fanden diese, die vor Krieg und Pogromen hatten fliehen müssen, zwischen Rosenthaler Straße und Alexanderplatz im Osten der Stadt ihre Quartiere. Mit dem Umzug nach Berlin erlebte das Ehepaar Radványi, das in dieser Zeit die ungarische Schreibweise des Namens ablegte (vgl. Zehl Romero 2000, 191), die Stadt im Aufbruch. Die finanzielle Situation erlaubte einen wahren Bau-Boom, Straßen, Kanäle und Wohnanlagen konnten dank des neu fließenden Geldes gebaut werden, die Kulturmetropole mit ihren Kinos, Cafés, Kabaretts und Theatern zog immer mehr Menschen an, die sozialen und politischen Differenzen blieben jedoch bestehen. Für beide begann in Berlin die entscheidende Orientierungsphase ihres Lebens. Während für Seghers das Ankommen in Berlin den Abschied aus der Provinz und somit gänzlich neue Erfahrungen bedeutete, konnte ihr Mann schnell an seine Vorhaben und Ziele anschließen, indem ihm unter dem Parteinamen Johann Schmidt im Jahr 1927 die Leitung der neu gegründeten Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) übertragen wurde. Außerhalb der traditionellen Universitäten und Hochschulen hatte diese der KPD nahestehende Einrichtung das Ziel, ökonomische und kulturelle Bildung zu vermitteln. Ihre Finanzierung erfolgte vor allem über die niedrig gehaltenen Gebühren und über private Spenden. Adressaten dieser ›Hochschule der Werktätigen‹ waren sowohl Kommunisten als auch Nicht-Kommunisten, die die Mehrzahl der Hörer/innen stellten (vgl. ebd., 205 f.). Zu den unentgeltlich arbeitenden Dozierenden gehörten u. a. Hanns Eisler, Albert Einstein, Walter Gropius, Erwin Piscator und Ludwig Renn. Die MASCH arbeitete eng mit dem 1928 gegründeten ›Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller‹ (BPRS) zusammen. Zu den wohl prominentesten Schülern gehörte Bertolt Brecht, der 1929/30 Veranstaltungen über materialistische Dialektik besuchte. Radvanyi erwies sich bereits in den ersten Jahren als ein herausragender Dozent und Organisator. 1929, nach dem 12. Parteitag der KPD, der die Erfolge der MASCH positiv bewertete, wurde das Konzept auf ganz Deutschland übertragen und Schmidt/Radvanyi mit der Gesamtleitung betraut. Diese sowohl inhaltliche als auch organisatorisch höchst anspruchsvolle Arbeit führte ihn häufig von zu Hause weg und stellte seine Frau vor bis dahin nicht gekannte Anforderungen. Das Paar bezog innerhalb der Berliner Jahre (1925–
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1933) insgesamt drei Wohnungen. Von August 1925 bis zum 14.8.1926 wohnte es in der Sybelstraße 69 in Charlottenburg, hier wurde am 29.4.1926 Sohn Peter geboren. Nach einem Sommer bei den Eltern in Mainz erfolgte am 19.10.1926 der Einzug in die Helmstedter Straße 24 im Stadtbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Hier brachte Seghers am 21.5.1928 Tochter Ruth zur Welt. An diesem Haus befindet sich seit dem 1.7.1988 eine ›Berliner Gedenktafel‹ (Porzellantafel der KPM), die an den Lebensweg der Autorin erinnert. Ab dem 2.3.1932 lebten Seghers und ihre Familie in der vor dem Exil zunächst letzten Wohnung in Berlin in der modernen Anlage Am Fischtal in Zehlendorf, die ihnen neben den Vorzügen der grünen Vorstadt auch die notwendige Sicherheit in einer Zeit zunehmender Überfälle der SA auf die Kommunisten bot (vgl. Zehl Romero 2000, 194 f.). Die Entdeckung des ›neuen Stoffes‹ Diese Jahre brachten für das Ehepaar zahlreiche Verpflichtungen mit sich. Unterstützung erhielten sie vor allem durch die aus dem Dorf Lindelbach bei Wertheim am Main stammende Kinderfrau und Haushaltshilfe Katharina Schulz, die in der Familie Gaya genannt wurde. Sie, die auf Vermittlung von Seghers’ Mutter engagiert wurde, blieb bis 1937/38 bei der Familie und war für die Autorin eine wichtige Informationsquelle, da sie nach Aufenthalten in der Heimat über das Leben in den Dörfern ihrer Region zu berichten wusste. Über allen Anstrengungen, die der Alltag mit sich brachte, stand die Entscheidung von Seghers als Schriftstellerin arbeiten zu müssen. Sowohl die wissenschaftliche Laufbahn als auch der Beruf der Kunsthistorikerin waren für sie nie eine Option, denn die innere Notwendigkeit zu schreiben und so Verantwortung zu übernehmen motivierte sie. Wie wichtig sowohl ihr Studium in Heidelberg und Köln als auch ihre Promotion für sie lebenslang waren, zeigt sich in ihrem ästhetischen Werk, so u. a. in der Lichtmetaphorik, in der Hell-Dunkel-Kontrastierung und der TextBild-Relation sowie in den Figuren- und Erzählperspektiven (s. Kap. 42). Die an Seghers gestellten Anforderungen in dieser Zeit sind nicht bis ins Detail nachvollziehbar. Es war für sie, die – wie im Tagebuch angedeutet – Manuskripte mit nach Berlin brachte, wichtig zu schreiben. In der Erinnerung an die letzte Zeit der Weimarer Republik hält sie 1974 fest, dass sie »bis über die Ohren im Schreiben von Geschichten« steckte (AE2, 370).
Zeit und Stadt boten ideale Voraussetzungen zur Positionsbestimmung. Mit der Weimarer Republik wandelte sich das Frauenbild in Deutschland entscheidend; die Berufstätigkeit von Frauen gehörte nicht mehr zu den Ausnahmeerscheinungen und ließ veränderte Lebensmodelle zu. Mit der Entscheidung zur Autorschaft ging die Organisation der Familie einher. Seghers gelang es, die damaligen Rollenerwartungen mit ihrer persönlichen Situation – dem Willen zu arbeiten und zu reisen – zu verbinden, ohne die traditionellen Werte der Ehefrau und Mutter aufzugeben. Seit Beginn ihres Schreibens sieht sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass eine neue ›Kunstepoche‹ die Entdeckung eines ›neuen Stoffes‹ erfordert. Dieser Aufgabe ging sie in zahlreichen Aufsätzen, Essays und Gesprächen nach, etwa mit Bezug auf das Schreiben und den Realismus bei Tolstoj (vgl. KuW2, 144–164, bes. 158–160) sowie im Gespräch mit Wilhelm Girnus (vgl. KuW3, 29–36). Der neue Stoff, das sind Mitte der 1920er Jahre die Entrechteten, die Proletarier, die ohne Chance auf ein besseres Leben ihre Arbeitskraft auf dem Markt unter Wert verkaufen müssen. In ihren frühen Texten steht noch die Erlösungsvision des Expressionismus Pate. Seghers ist es wichtig, den neuen Stoff mit den literarischen Grundmustern ihrer Kindheit – den Märchen und Sagen – zu verbinden. Im Brief an Wladimir Iwanowitsch Steshenski schreibt sie 1965 über diese Zeit der poetischen Positionsfindung: »Ich wurde dabei sicher, dass ich nur schreiben sollte. Es gab dabei zwei Linien: Erzählen was mich heute erregt u die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u wusste nicht, wie« (Br2, 42). In diesem Harmonisierungswunsch auf ihre eigene Art realistisch zu erzählen, die auch zu Ausschlüssen und Anfeindungen führen wird, zeigen sich weitere lebenslang wirkende Linien. Seghers war sich ihrer Außenseiterstellung als Bürgerliche, Frau, Jüdin und Autorin bewusst. Das zeigt sich in ihrem Willen, einen eigenen Weg zu beschreiten, gewohnte Bahnen zu verlassen und zwischen Verweigerung und Anpassung vermitteln zu können. Widersprüche offenbaren sich, die sich sowohl aus ihrer Herkunft als auch der Neuorientierung erklären lassen. Das Ehepaar wählt in Berlin Quartiere in gut situierten Wohnlagen, es erfolgt räumlich keinerlei Annäherung an die, denen sie sich schreibend zuwendet. Obgleich beide zu den Eliten der Stadt gehörten, waren sie nicht in den Cafes und Restaurants der Künstlertreffs wie dem Romanischen Cafe, in dem neben Else LaskerSchüler auch ihr späterer Freund und Vertrauter Egon Erwin Kisch ein- und ausgingen, zu finden. Gleicher-
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maßen fühlte sich Seghers nicht der Szene der ›Frauenliteraturschriftstellerinnen‹ zugehörig. Sie lehnte es ab, sich auf die üblichen Themen und Genres zu beschränken und hauptsächlich für Leserinnen zu schreiben. Ihr Interesse galt vielmehr den ›großen‹ Themen und diese wurden von den Autoren aufgegriffen und bearbeitet (vgl. Zehl Romero 2000, 216). Daraus resultiert auch ihr Misstrauen, ihre prämierten Texte der 1920er Jahre mit Vor- und Zunamen zu veröffentlichen. Sowohl Grubetsch als auch Aufstand der Fischer von St. Barbara erschienen unter dem Namen Seghers. Dabei inszeniert sie am 8.12.1926 ein Spiel mit Hans Henny Jahnn, dem sie eine Arbeit von Seghers unter dem Namen Radványi zuschickt und auf den ›Autor‹ A. Seghers verweist, der 1900 am Rhein geboren wurde, längere Aufenthalte am Meer hatte sowie eine Vorliebe für Hafenstädte entwickelte. »Lebt in verschiednen Städten mit vielerlei Menschen zusammen. Seit 1925 in Berlin« (Br1, 12). Erst im Mai 1928 klärt sie als Netty Radványi (Anna Seghers) diese Autorschaft gegenüber dem späteren Juror auf (vgl. Br1, 13). Die Erzählung Grubetsch, die zwischen dem 10. und 27.3.1927 wiederum in der Frankfurter Zeitung und im Handelsblatt erscheint, wird in der »Selbstanzeige« von 1931 als ein Text charakterisiert, in der ihre Konzeption im Ansatz realisiert werden konnte, indem sie dem tiefen Gefühl des Ungenügens am Leben nachgegangen sei. »Grubetsch: Ein böser Hof, und in dem Hof ein Mann, der es versteht, die geheimen Wünsche der Menschen nach Zugrundegehen zu erraten und jedem in seiner Weise zu erfüllen« (KuW2, 11). Hier zeigt sich bereits in der Gestaltung der Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit der Menschen in Zeiten zunehmender äußerer und innerer Entfremdung die Verbindung zur Erzählerhaltung in den Texten von Kafka (s. Kap. 39). Aus diesen »sozialen Randzonen« scheint kein Entkommen möglich, da sie für die meisten der Ort unausweichlicher Selbstzerstörung sind (vgl. Beicken WA II/1, 301). In diesem Sinn endet die Erzählung mit dem Satz: »Aber das waren gewöhnliche Liebschaften, gewöhnliche Tode« (Gr, 71). Obwohl Seghers bereits im Frühwerk berührende Frauenschicksale – Marie und Ann in Grubetsch, Anna und Marie in Die Ziegler – im Wechselspiel zwischen Niedergang und Hoffnungsschöpfung entwirft (s. Kap. 46), faszinieren sie vor allem die »ohne Heim- und Herd«- Lebenden (Gr, 21), die von-Außen-Kommenden, so der »Junge, groß und fremd und mager«, der an »fremde Städte, an seine Gefährten, an seine Arbeit, an Aufmärsche, Versammlungen, Fahnen, Knüppel, Hunger und Plätze schwarz von Menschen dachte« (Die Ziegler; WA II/1, 136 f.). Es
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sind die geheimnisvollen Einzelgänger, denen ihr Interesse gilt. Kleist-Preisträgerin In Aufstand der Fischer von St. Barbara, ihrem wohl bekanntesten Frühwerk, identifiziert sie sich mit diesen Außenseitern. Der Aufstand als die Möglichkeit, der Misere zu entrinnen, steht im Mittelpunkt und wird damit zum eigentlichen Helden. Zwar wird er misslingen, aber zurück bleibt die an ihn erinnernde Hoffnung. Seghers strukturiert hier eine Parabel, die den Sieg verspricht (vgl. Zehl Romero 1993, 31). Diese Erzählung beginnt, wie auch viele andere Texte der Zeit – etwa Gertrud Kolmars Eine jüdische Mutter (posthum 1965 veröffentlicht) –, mit der Verbindung von neusachlichem Bericht und expressionistischem Bild. »Der Aufstand der Fischer von St. Barbara endete mit der verspäteten Ausfahrt zu den Bedingungen der vergangenen vier Jahre. Man kann sagen, daß der Aufstand eigentlich schon zu Ende war, bevor Hull nach Port Sebastian eingeliefert wurde und Andreas auf der Flucht durch die Klippen umkam. Der Präfekt reiste ab, nachdem er in die Hauptstadt berichtet hatte, daß die Ruhe an der Bucht wiederhergestellt sei. St. Barbara sah jetzt wirklich aus, wie es jeden Sommer aussah.« (AdF, 5)
Auch hier steht mit der Gestalt des Hull der Charismatische – der Erweckende und zugleich Entsagende – im Mittelpunkt. Im Hinblick auf die Differenz zwischen den bürgerlichen Intellektuellen und den Avantgardisten werden über eine Literarisierung der re volutionären Bewegung zeitgeschichtliche Aspekte aufgegriffen. Mit dieser Erzählung betrat Seghers endgültig die literarische Bühne der Weimarer Republik, indem Hans Henny Jahnn, der bereits Grubetsch kannte, sie aus über 800 Einsendungen für den Kleist-Preis auswählte. Dieser war vor allem für Nachwuchsautor/ innen bestimmt und bereits mit Namen wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler oder Arnold Zweig verbunden (vgl. Zehl Romero 2000, 213). In der in der Zeitschrift Der Schriftsteller von 1928 veröffentlichten Begründung hieß es: »Die Gestalten sind nicht so sehr Träger einer Handlung als Äußerung in ihnen wirksamer Kräfte. Darum verbrennt alles, was als Tendenz erscheinen könnte, in einer leuchtenden Flamme der Menschlichkeit« (Jahnn 1928). In der »Rechenschaft Kleistpreis 1928« bezieht sich Jahnn direkt auf den Aufstand der Fischer von St. Barbara und
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begründet seine Entscheidung für die Autorin: »Das nenne ich Kunst. Darüber hinaus: Die Darstellungsart wirbt sogar bei fast Herzlosen für die Tendenz« (Jahnn 1974, 250). Die Berliner Jahre führten bei Seghers zu vielfältigen Unruhen, die einer Lösung bedurften. Christa Wolf hat im Essay »Gesichter der Anna Seghers. Zu einem Bildband« rückblickend auf das Leben der Autorin darauf verwiesen: »Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter. Jedem dieser Worte denke man nach« (Wolf 2001, 418). Diese Spannungen lassen sich zwischen ihrer Erziehung und den Ideen, von denen sie mehr und mehr überzeugt ist, zwischen ihrer Herkunft und der erlebten Realität Berlins sowie zwischen den Erlösungsvisionen expressionistischer Kunst und den sozialistischen Utopien ableiten. All das führte am Ende der 1920er Jahre sowohl in der Ausrichtung des politischen als auch des künstlerischen Lebensweges zu Konsequenzen. Die politische Autorin Im Jahr 1928 trat Seghers der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. Mit diesem Schritt fand sie eine neue Gemeinschaft – aus der jüdischen Gemeinde war sie zwischen 1925 und 1927 ausgetreten (vgl. Albrecht 2005, 262) – und sie bekannte sich nun eindeutig zur politischen Haltung ihres Mannes. Diese Entscheidung, beteiligt zu sein, politisch Stellung zu beziehen und sich auch in nichtfiktionalen Texten zu Wort zu melden, brachte eine weitere Orientierung mit sich. Im gleichen Jahr wurde der »Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« (BPRS) auf Weisung der KPD gegründet, die im kulturellen Bereich eine Abgrenzung gegenüber Linksbürgerlichen und Sozialdemokraten erreichen wollte. Dieser klaren Aufgabenstellung konnte die literarische Praxis jedoch nicht standhalten. Die aus dem Bürgertum kommenden Autor/innen, die sich eindeutig zur Partei positionierten und sich offen zu literarischen Experimenten bekannten, standen Arbeiterschriftstellern – wie Willi Bredel und Hans Marchwitza – gegenüber, die über die Arbeiterkorrespondenzbewegung der KPD zum Schreiben gekommen waren. Diese Differenzen bestimmten die Arbeit des Bundes, der in seinem Aktionsprogramm unmissverständlich Kunst zur »Waffe der Agitation und Propaganda im Kampf« erhoben hatte. Mit der konsequenten Ablehnung der Formexperimente bürgerlicher Autor/innen griff Georg Lukács 1931 entschieden in diese Debatte ein und zeigte gravierende Mängel in den Texten der Arbeiterschrift-
steller/innen auf. Seghers, die zu den Gründungsmitgliedern gehörte, trat dem Bund bei, um mit Gleichgesinnten zu diskutieren und um nicht allein sein zu müssen. 1978 begründete sie ihre damalige Motivation: »Es war die revolutionäre Gemeinschaft, die ganze Atmosphäre, die mich im Bund heimisch werden ließen. Es zeigte sich, daß das, was ich schrieb, eine Waffe war, die im Klassenkampf mitkämpfte« (Seghers 1978, 49). Durch diesen Schritt fand sie Vertraute und Freunde, so Egon Erwin Kisch und Ludwig Renn, mit denen sie weit über das mexikanische Exil hinaus verbunden blieb. Mit ihrer Vorstellung, dass das Politische und Künstlerische eng zusammengehören und nicht voneinander zu trennen sind, vermied Seghers eine eindeutige »Entweder-Oder-Entscheidung« (Zehl Romero 2000, 221). Im Bund war sie unter 51 Mitgliedern eine von acht Frauen, 1932 wurde sie in die Leitung gewählt und am 7.2.1933 bestimmte sie der Schutzverband deutscher Schriftsteller zur Delegierten für seine Generalversammlung. Bald galt sie als ›Vorzeigefrau‹ und ›Repräsentantin‹ von Partei und Bund – eine Strategie, die in der männerdominierten kommunistischen Bewegung und auch später von der DDR weiter verfolgt wurde. Zu ihren wesentlichen Aktivitäten Ende der 1920er Jahre gehörten eine Reise auf Einladung des P. E. N. nach London und die Teilnahme am II. Internationalen Kongreß für politische und revolutionäre Literatur 1930 in Charkow, an dem sie als Delegierte des Bundes gemeinsam mit J. R. Becher, E. E. Kisch, H. Marchwitza u. a. teilnahm. Die direkte Begegnung mit dem Land der Oktoberrevolution führten zum »Original-Eindruck« der Sowjetunion (KuW3, 24). Diese erste Reise von Seghers war die Grundlage für ihr lebenslanges Bekenntnis zu den ›Errungenschaften‹ des Landes, zur Industrialisierung und zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die auf Geheiß Stalins umgesetzt wurden. Mit der rhetorischen Frage »Zwangsarbeiter?« (ebd., 11) erteilt sie den Ignoranten eine entschiedene Abfuhr: »Sie begreifen nicht: Das Bewußtsein, am Aufbau einer neuen Welt mitzuarbeiten, hat in Russland die Schwerkraft des einzelnen überwunden, hat Hunderttausende in Stoßbrigaden zusammengeschlossen, die die Turksib, die Dnjeprostroi, die Magnitostroi Wirklichkeit werden lassen« (ebd., 14). Sie ist damit angekommen in der Gemeinschaft derer, die für eine andere und in ihren Augen gerechte Gesellschaft kämpfen unter dem Schutz der Partei, für die Ordnung und Disziplin unabdingbare Voraussetzungen sind. Opferbereitschaft, Solidarität und Disziplin
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zählen zu ihren Grundwerten, denen sie sich verpflichtet weiß. Ergiebige künstlerische Jahre Zu den frühen Aufsätzen gehören »Revolutionärer Alltag« (1927) – eine Beschäftigung mit Gladkows Roman Zement – und »Selbstanzeige« (1931). In beiden Texten geht es um das eigene Schreiben und darum, den selbst gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Bei Gladkow wird das »von gestern auf seinem Schreibtisch« liegengebliebene Schreibzeug kritisiert, weil dieser Sprache der prägnante Rhythmus fehlt, »mit der sich die Zukunft der Gegenwart erinnern wird« (KuW2, 50). In »Selbstanzeige«, dem Einleitungstext für ihren ersten Erzählband Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft (1930), in den sie die frühen Erzählungen Grubetsch und Die Ziegler aufnehmen wird, erläutert Seghers ihr poetologisches Programm. Auf diese beiden Texte geht sie 1961 in »Briefe an Leser« ein und fragt nach der Motivation ihres Schreibens. Bezogen auf ihre Studien zu den drei Stufen im Schaffen eines Autors bei Tolstoj (s. Kap. 38) formuliert sie ihren Leitgedanken: »Aber ich bin ja als Autor nicht da, um sie [die Figur der Marie in Die Ziegler; I. N.] in Grund und Boden zu verurteilen. Ich bin da, um sie darzustellen« (KuW4, 163). 1931 geht sie mit sich selbst in Bezug auf die Titelgeschichte hart ins Gericht, weil sie nur den »Stoff zu einer Erzählung« bietet (KuW2, 11), das Darstellungsproblem aber nicht löst. Deshalb experimentiert sie mit der Erzähltechnik des inneren Monologs. Gleichermaßen kündigt sie ihr neues Vorhaben an: »Wenn man schreibt, muß man so schreiben, daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausweg spürt. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, in dem Roman, an dem ich jetzt arbeite, diesen Ausweg klar aufzuzeigen« (ebd.). Der hier erwähnte Roman Die Gefährten wird 1932 erscheinen. Hier nimmt sie den Stoff auf, der sie seit ihrer Heidelberger Studienzeit beschäftigt: die Zerschlagung der ungarischen Räterepublik und die Schicksale der Revolutionäre im Exil und der Illegalität. Dabei ist es ihr wichtig, nicht nur die Kämpfe, sondern die Warte- und Übergangszeiten von 1919 bis 1930 darzustellen. Hilzingers Interpretation von »Passion und Erlösung« realisiert sich hier im Solidaritätsund Stafettenmotiv sowie über die Geste des Segnens. Der polnische Führer Janek, so die Schlusspassage des Romans, »legte seine Hand auf Labiaks Kopf, glatter, fester Kegelkopf. Labiak wußte noch nicht, ahnte aber,
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daß die gleiche Kraft schon in ihm selbst drin war, während Janeks Hand noch auf seinem Kopf lag« (Gf, 326). In der Internationalisierung der Handlungsorte – Ungarn, Polen, Italien, Bulgarien und China – zeigt sich eine weitere Spur ihrer Studienjahre, in denen sie mit verschiedenen Nationalitäten und Kulturen vertraut wurde. Dazu gehört ihr großes Interesse für China und chinesische Stoffe und Motive (s. Kap. 41). Über die Gestaltung der psychischen und sozialen Dimensionen offenbart sich sowohl die tiefe Achtung der Autorin vor der Notwendigkeit der Rebellion als auch ihr Respekt vor der Menschlichkeit der Aufständischen. In diesen Roman fließen viele Anregungen ein, die sie aus den Schriften von Tolstoj, Dostojewskij und Kierkegaard gewonnen hat (s. Kap. 35 und 38), und gleichermaßen zeigen sich ihre Bemühungen um das literarische Experiment. In »Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt« (1932) entwickelt Seghers im imaginierten Zwiegespräch mit der chinesischen Vertrauten Schü Yin ihre Technik, die Gesehenes und Gehörtes zusammen bringen soll, um so eine Veränderung zu initiieren: »Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern« (KuW2, 15). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, stellt sie die Zeit von 1925 bis 1932 unter das Zeichen des literarischen Experiments. Bereits früh entwickelt sie ihre eigene Auffassung von realistischer Literatur; sie verarbeitet Einflüsse des Expressionismus und der Neusachlichkeit, der dokumentarischen Literatur, der Reportage (Wallisch. Der letzte Weg des Koloman) und der Montagetechnik des Films. Erinnernd verweist sie auf die Zusammenarbeit mit Lukács zu Beginn der 1930er Jahre und darauf, dass vieles, was er sagte, vielleicht für sie nicht ganz richtig, aber »nachdenkenswert« war (Seghers 1978, 50). Mit diesem Roman, dem die große Diskussion versagt blieb, fand die Berliner Zeit ein jähes Ende. Längst waren die neuen Machthaber auf Seghers und ihren Mann aufmerksam geworden, die als Kommunisten und Juden eindeutige Positionen bezogen hatten. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 flieht sie – zunächst ohne die Kinder (vgl. Albrecht 2005, 263 f.) – über die Schweiz nach Frankreich. Hier trifft die Familie wieder zusammen. Das Ehepaar musste alles in der Berliner Wohnung zurücklassen; die Eltern von Seghers sorgten dafür, dass die Bücher verpackt und ihnen zusammen mit Möbeln und Hausrat nach Paris geschickt wurden. Die Flucht war unumgänglich, da Seghers in diesen Tagen nach der Machtergreifung verhaftet und von der Polizei nach ihren politi-
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schen Aktivitäten befragt worden war. Ihr ungarischer Pass erwies sich als Rettung. Sie wurde kurzfristig mit der Drohung freigelassen, nichts mehr gegen die Nationalsozialisten zu veröffentlichen.
Jahre des Exils (1933–1947) Veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen in Frankreich Dass Seghers und ihr Mann Frankreich und die Hauptstadt Paris als Exilort wählten, war kein Zufall. Wie viele Exilant/innen, die nach 1933 Deutschland verlassen mussten, suchten sie zunächst die Nähe zu ihrem Heimatland und ihren Leser/innen sowie zur politischen Arbeit in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Dass die Wahl auf Frankreich fiel, bedeutete für Seghers vor allem die Nähe zu ihrer Heimatstadt, in der die Eltern, die sie weiterhin nach Kräften unterstützten, lebten, sowie die Vertrautheit mit der Sprache, der Kultur und der Literatur. »Auf unser Gastland Frankreich war ich gerüstet durch Stendhal und Balzac und Flaubert und auch durch Barbusse« (KuW1, 150), erinnert sich die Autorin 1965. Die deutschen Autor/innen waren hier noch unmittelbar mit den Ereignissen in Deutschland verbunden und konnten ihnen übermittelte Berichte literarisieren. Margarete Steffin und Bertolt Brecht begannen 1935 Materialien zu sammeln und verarbeiten diese zum szenischen – über die Jahre erweiterten – Theaterstück Furcht und Elend des Dritten Reiches (1935–1943). Diese Szenenfolge – bis Juni 1938 lagen 27 Szenen vor, in denen der nationalsozialistische Alltag erfasst wurde – erschien 1938 erstmals im Malik-Verlag in Prag. Am 21.5. des Jahres wurden acht Szenen unter dem Titel 99 %. Bilder aus dem Dritten Reich in der Regie von Slátan Dudow in Paris aufgeführt. Die Wohnung in Bellevue Meudon, einem südwestlich von Paris gelegenen Vorort, in der Avenue du 11 Novembre 1918 (einst Avenue Mélanie) Nr. 26 in der ersten Etage eines Zweifamilienhauses, ähnelt von der Anlage her dem letzten Quartier in Deutschland. Die gepflegte Umgebung, die Nähe zum Wald in Meudon sowie der Blick von der Terrasse des Observatoriums auf Paris haben bereits andere angezogen: Marina Zwetajewa, die hier nach ihrem Umzug aus Prag von 1925 bis 1939 lebte, und Rainer Maria Rilke, der 1905/06 acht Monate Privatsekretär von Auguste Rodin war (vgl. Melchert 2018, 12). Von den äußeren Bedingungen schien zunächst alles zu stimmen, die innere Lebenssituation war jedoch eine gänzlich andere.
Obwohl Frankreich den aus Deutschland und später auch aus vielen anderen Ländern Fliehenden zunächst einen sicheren Zufluchtsort bot, erinnert sich Seghers auf dem Internationalen Schriftstellerkongreß 1965 in Weimar an die Zuspitzung der Situation. »Bisher hatten wir in einem vagen Zustand gelebt, den wir für ein Zwischenstadium hielten, auf baldige Heimkehr hoffend. Daß unsere Bücher daheim verbrannt worden waren, daß nicht nur Thälmann, sondern auch Ossietzky im KZ steckte, der dem Kommunismus eher abhold gewesen war – hatten wir all diese Warnungszeichen noch nicht verstanden?« (KuW1, 151). Seghers und ihre Familie gehörten zu den über 500.000 Menschen, die von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben worden waren. Mit der systematischen Zerstörung einer freiheitlichen Kultur, die mit den Bücherverbrennungen des Jahres 1933 begann, mussten ab diesem Jahr 30.000 politisch Verfolgte und ca. 2500 Schriftsteller/innen und Publizist/ innen Deutschland verlassen. Zum größten Teil mittel- und arbeitslos, da sie sich den Gesetzen ihrer Exilländer beugen mussten, und mit geringen Sprachkenntnissen lebten viele von ihnen am Rand des Existenzminimums. Hinzu kam, dass die zunächst als sicher empfundenen Länder wie Frankreich, Österreich, die Niederlande, Dänemark und die Tschechoslowakei nach 1938 und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dem Machtbereich der Nationalsozialisten unterworfen wurden, was zu Verhaftungen, Inhaftierungen und Deportationen führte. Für die Autor/ innen kam erschwerend hinzu, dass nach ihrer Vertreibung die Kontakte zu ihren Verlegern und den Leser/innen allmählich zerstört wurden. Die zunächst in den europäischen Ländern rings um Deutschland Ausgewiesenen waren politisch keineswegs eine homogene Gruppe. Was sie verband war der Wille, gegen den Faschismus anzutreten und der Welt das Gesicht eines ›anderen‹ Deutschlands zu zeigen. Die antifaschistischen und sozialistischen Autor/ innen organisierten sich vorrangig in Prag und Paris und schufen mit den Internationalen Kongressen zur Verteidigung der Kultur (s. Kap. 31) Foren für die Unterstützung der Volksfront in Frankreich sowie der Internationalen Brigaden in Spanien, wo auch Deutsche wie Ludwig Renn, Kommandant des Thälmann-Bataillons, kämpften. Zu den wenigen Möglichkeiten für die Autor/innen, Texte zu veröffentlichen und damit sporadisch Kontakt zu ihrem Publikum zu halten, gehörten Zeitschriften wie Die Sammlung (Amsterdam), Das Wort (Moskau) und Neue deutsche Blätter (Prag). Deren Redaktionskollegium gehörten neben Anna Se-
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ghers (Paris), Oskar Maria Graf (Wien), Wieland Herzfelde (Prag) und Jan Petersen (Berlin) von 1933– 1935 an. Zeitungen wie das Pariser Tageblatt und Der Aufbau boten weitere Veröffentlichungsmöglichkeiten. Verlage wie Querido und Allert de Lange (Amsterdam), Oprecht (Zürich), Berman-Fischer (Stockholm) und El libro libre (Mexiko) – hier erschien 1942 in deutscher Sprache der Weltbestseller Das siebte Kreuz – verlegten zahlreiche Bücher der Exilant/innen. László Radvanyi, dem die veränderte Situation nicht neu war, kannte er doch das Leben als Emigrant, gründete 1934 in Paris die an die Berliner MASCH anknüpfende Deutsche Volkshochschule. Im Jahr 1935 übernahm er die Leitung der neu eröffneten Freien Deutschen Hochschule und 1938 die Redaktion der Zeitschrift für Freie deutsche Forschung (vgl. Zehl Romero 1993, 47). Alle diese Einrichtungen standen im Zeichen der Volksfront; Seghers beteiligte sich immer wieder mit Vorträgen über Literaturgeschichte an diesen Initiativen. Während ihr Mann fast lückenlos seine Arbeit fortführen konnte, veränderte sich ihr Leben, indem sie weitgehend allein verantwortlich war für die Organisation des Familienalltags und außerdem wollte sie sich in die politischen und kulturell-ästhetischen Debatten einbringen und weiter schreiben. Weibliches Exil In der kleinen – erst 1985 im Anhang des Briefwechsels von Anna Seghers und Wieland Herzfelde veröffentlichten – Reportage »Frauen und Kinder in der Emigration« (Seghers/Herzfelde 1985, 112–126) greift Seghers ein Thema auf, das sowohl in ihren eigenen Texten als auch in der Exilliteratur bis auf wenige Ausnahmen, wie Irmgard Keuns Kind aller Länder (1938), nur marginal behandelt wird: das Leben von Frauen und Kindern unter den gänzlich veränderten Bedingungen des Exils. Emigration wird bei Seghers als ein »Elementarereignis«, ein »Wirbelsturm« verstanden, auf dessen Stationen sich Wege schneiden und verknoten, »die sich in der Heimat nicht einmal gestreift hätten« (ebd., 112). Gründe dafür, dass der Text erst so spät veröffentlicht wurde und lediglich als Typoskript im Nachlass zu finden war, liegen sicher darin, dass der Autorin keine Zeit blieb, ihn weiter zu bearbeiten und ihm eine einheitliche Form zu geben. Da weder zum Entstehungskontext noch den Adressat/innen etwas überliefert ist, geht Sylvia Schlenstedt auf der Basis der Zeitereignisse – der spanische Bürgerkrieg wird als ein noch stattfindendes Zeitereignis apostrophiert – davon aus, dass Seghers den Text
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1938 geschrieben hat (vgl. Schlenstedt 1993). In den Erläuterungen zum Briefwechsel Seghers mit Herzfelde vermuten die Herausgeber – mit Bezug auf einen Brief von Seghers vom 1.9.1939 –, dass die Autorin ein kleines Buch über »Gewöhnliches und Gefährliches Leben« schreiben wollte und dass »Frauen und Kinder in der Emigration« ebenfalls zu dieser Zeit entstanden sein könnte und »möglicherweise mit dieser publizistischen Arbeit identisch oder eine Vorarbeit dazu ist« (Seghers/Herzfelde 1985, 166). Notizen von Beobachtungen, die zu einem dokumentarischen Stil verdichtet werden, wechseln sich mit Passagen ab, in denen sich die Bericht- und Erzählinstanz in einem mündlich geprägten Stil einer imaginierten größeren Gruppe zuwendet und dieser von Einzelschicksalen der Frauen und Kinder berichtet. Dabei ist von »unserem Emigrationsbüro« (ebd., 117), in denen Fragebögen ausgewertet werden, die Rede. Somit wird sowohl die Gemeinschaft der Vertriebenen als auch ein kollektives Wissen um sie über die Schilderung konkreter Einzelschicksale strukturiert. Mit Schwerpunkt auf dem alltäglichen Leben, das mit ständigen Geldsorgen und Nöten um das Wohlergehen der Familie verbunden ist, gewinnt der Text eine literarische Dimension, die später zu einem Hauptmotiv des Werkes ausgebaut wird: die Kraft der Schwachen. Exil bedeutet in diesem täglichen Kampf weit mehr als lediglich die tägliche Auseinandersetzung mit dem Neuen und Fremden. Das Lösen aus der zur Fessel gewordenen heimatlichen Alltäglichkeit führt zu einem veränderten Bewusstsein, das den Standpunkt der Autorin spiegelt. »Eingefügt in eine Gemeinschaft höherer Ordnung wird die Kraft und Geborgenheit einer solchen deutschen Emigrantenfamilie ein Teil der allgemeinen Solidarität« (ebd., 119). Das Engagement für die kommunistische Idee wird hier zu einer Vision, für die auch Kinder Opfer bringen müssen. In der bereits 1934 veröffentlichten Erzählung Das Viereck werden aus der Perspektive eines Kindes Ohnmacht und Versagen der Erwachsenen thematisiert. Nach der Ermordung des Vaters starrt das Kind auf das Viereck an der Wand, wo einst das Bild Thälmanns hing und empfindet dieses als »Loch in der Mauer« (WA II/2, 26), während Mutter und Großmutter sich im Schweigen üben und versuchen, sich der neuen Situation anzupassen. Den Kindern verleiht Seghers 1938 über den »Kinderfragebogen« (Seghers/Herzfelde 1985, 120) eine eigene Stimme. In der äußeren Wahrnehmung der Erwachsenen, die diese Bögen auswerten, zeigen sich Anpassungsschwierigkeiten und Ängste der unter
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schwierigen Bedingungen Heranwachsenden. Ihnen wird die so notwendige ›Freude‹ zunächst verwehrt. In dem komplizierten Integrationsprozess glänzt jedoch unverkennbar »das Licht der Solidarität« (ebd., 126). »An dem finsteren Himmel der Welt, in die ihn seine Mutter hineingeboren hat, erkennt unser Sohn zum erstenmal diese Sterne« (ebd.). Dieses ›uns‹ ist doppelt interpretierbar, da es viele recherchierte Einzelschicksale von Kindern umfasst wie auch das Schicksal der Kinder von Seghers. Pierre Radvanyi beschreibt die komplizierte Zeit der Eingewöhnung in Frankreich, die Schulwechsel, die innere Abwesenheit des Vaters bei Erziehungsfragen und die Anwesenheit der Mutter, deren helfende Unterstützung, ihr ständiges Erzählen über Texte deutscher und internationaler Literatur sowie die vielen Spaziergänge mit der Mutter. Hier hat sie ganze Passagen der sie gerade beschäftigenden eigenen Texte wieder und wieder vor sich hingesprochen (vgl. Radvanyi 2005, 19–31). Politische und ästhetische Innovationen Den Zwängen vieler Künstlerinnen im Exil, auf eigene Schreib- und Lebenspläne verzichten zu müssen, ist Seghers nicht ausgesetzt. Durch die Mitarbeit der Kinderfrau bis 1938 und danach weiterer Helferinnen ist es ihr möglich, politisch zu agieren, zu reisen, an Kongressen teilzunehmen und zu schreiben. Mit dem Exil beginnt für sie eine außerordentlich produktive und erfolgreiche Zeit, die bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1947 anhalten wird. Zunächst ist es für sie wichtig, Kontakte zu den exilierten Kolleg/innen des BPRS aufzunehmen. 1933 gehört sie zu den Neubegründer/ innen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, an dessen Veranstaltungen sie sich mit Rudolf Leonhard, Ludwig Marcuse, Lion Feuchtwanger und Egon Erwin Kisch aktiv beteiligt. Als politisch aktive Autorin und bekennende Kommunistin unterhält sie nicht nur zu den deutschen Kommunisten rege Kontakte, sondern ist auch aufgrund ihrer ausgezeichneten Sprachkenntnisse im Auftrag ihrer Partei eine »wichtige Brücke zu den nichtkommunistischen und zu den französischen Autoren, die für den antifaschistischen Kampf im Zeichen der Volksfront mobilisiert werden sollten« (Zehl Romero 1993, 48). Wie bereits in Berlin nimmt sie sich für gesellschaftliche Verpflichtungen und für Geselligkeit wenig Zeit. Wichtig sind ihr Freundschaften, die über Jahrzehnte Bestand haben, so zu Gisela und Egon Erwin Kisch, zu Bruno Frei, zu der Französin Jeanne Stern, die ihr und den Kindern maßgeblich helfen wird, nach der deutschen Okkupation in den Süden Frank-
reichs zu fliehen, sowie zu Lore Wolf und Friedel Kantorowicz, die ihre Manuskripte abtippen und enge Vertraute der Familie sind. Politische Arbeit im Exil, das bedeutet für Seghers vor allem das öffentliche Auftreten und die Beteiligung an Debatten. Zu einem ersten Höhepunkt wird ihre Rede »Vaterlandsliebe« auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur vom 21.–25.6.1935 in Paris, in der sie eindeutig für ihr Vaterland Position bezieht (s. Kap. 31). »Fragt erst bei dem gewichtigen Wort ›Vaterlandsliebe‹, was an eurem Land geliebt wird. Trösten die heiligen Güter der Nation die Besitzlosen? [...] Tröstet die ›heilige Heimaterde‹ die Landlosen? Doch wer in unseren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen demonstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte.« (KuW1, 64 f.)
In diesen Jahren, in denen die Zeichen der Gefahr eines erneuten Weltkrieges dichter werden, gehörte es zu den dringenden Aufgaben, die Bedeutung von Kunst und Kultur im Kampf gegen die faschistische Barbarei herauszustellen und das literarische Erbe vor dem Missbrauch der Nationalsozialisten zu bewahren. Dabei zeigte sich, dass es unter den kommunistischen Theoretikern keineswegs immer Einheitlichkeit gab. Dabei kommt der sogenannten Expressionismusdebatte, in die neben Georg Lukács und Ernst Bloch auch Anna Seghers involviert war, besondere Bedeutung zu (s. Kap. 36). Während Lukács den Begriff des Erbes auf die humanistisch-klassische und bürgerlich-realistische Literaturtradition beschränkte, bezog sich Bloch in seiner Schrift Erbschaft dieser Zeit (1935) auf eine offene, dialektische Haltung im Hinblick auf die Literatur der klassischen Moderne – insbesondere auf den Expressionismus. Bereits 1935 erweitert Anna Seghers die von Lukács vorgegebene Richtung um ihre Sicht auf Autoren, die »Hymnen auf ihr Land« schrieben, »an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben« (KuW1, 66). Dabei betont sie, dass »Hölderlin, gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderode, gestorben durch Selbstmord, Kleist durch Selbstmord, Lenz und Bürger im Wahnsinn« (ebd., 65 f.), keine »schwächlichen Klügler« seien, sondern in die Reihe der Besten gehörten (ebd., 65). In diesem Sinn sind ihre Briefe der Jahre 1938/39 an Georg Lukács zu verstehen, in denen sie für eine differenzierte Haltung zum kulturellen Erbe und vor allem für ein Verständnis sowohl der Vor-
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moderne als auch der klassischen Moderne eintritt. Seghers erweitert die um den Realismusbegriff entbrannte Debatte im Brief an Lukács vom 28.6.1938: »Diese Realität der Krisenzeit, der Kriege usw. muß also erstens ertragen, es muß ihr ins Auge gesehen und zweitens muß sie gestaltet werden« (ebd., 176). In diese Zeit fallen weitere Reisen, die Anna Seghers zur Recherche für künftige Texte benötigt. Nach dem Aufstand gegen das Dollfuß-Regime reist sie im Sommer 1934 nach Österreich, um für die reportagehafte Erzählung Der letzte Weg des Koloman Wallisch sowie für den Roman Der Weg durch den Februar, der ein Jahr später bei Carrefour herauskommen wird, Erkundigungen einzuholen. Informationen für den Bergarbeiterroman Die Rettung bekommt sie 1935 im belgischen Bergbaugebiet Borinage. Sowohl in Koloman Wallisch als auch im Roman Der Weg durch den Februar nimmt sie ihr Thema vom gescheiterten Aufstand, das sie seit Aufstand der Fischer von St. Barbara beschäftigt, erneut auf und akzentuiert dieses unter den veränderten politischen Bedingungen neu. Die Grundkonstellation von »Passion und Erlösung« (vgl. Hilzinger 2000, 106 f.) ist unverändert. Die Erzählerin folgt dem Weg der Aufständischen, den sie jedoch in der Differenz zum christlichen Kreuzzug versteht. In Koloman Wallisch wird von einer besonderen Form der Pilgerfahrt auf den Stationen des letzten Weges berichtet. Die für Seghers typische Umformung des Kreuzigungs- und Auferstehungsmythos (vgl. Zehl Romero 1993, 56) erfolgt mit den Worten: »daß der Mann Fleisch war vom Fleisch der Arbeiterklasse, das man gequält hat; daß es unser Hals war, den man gewürgt hat« (WA II/2, 24). Im Roman Die Rettung, der 1937 im Querido-Verlag erscheint, setzt sich Seghers kritisch mit Argumentationsstrategien ihrer Partei auseinander, die die Menschen in ihrer Sehnsucht, dem Bedürfnis nach Sicherheit und einer umfassenden Sinngebung nicht zufrieden gestellt, sondern für die Parolen der Nationalsozialisten anfällig gemacht hätten. Getreu ihrem Vorhaben des Schreibens in zwei Linien, was ihrem Realismusbegriff entspricht (s. Kap. 35–36 und 37), stellt sie der 1936 geschriebenen Erzählung Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok ein Motto voran: »Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? Und wißt ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen, ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes, gar mühelos in die Herzen eindringt, an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen? Ja, mühelos rührt der Pfiff eines Vogels an den
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Grund des Herzens und dadurch auch an die Wurzeln der Handlungen.« (SRW, 27)
Diese kleine Erzählung steht in einer Reihe mit weiteren Texten, in denen Realität, Märchenhaftes, Phantastisches und Wunderbares wie in den Erzählungen Sagen von Artemis (1938), Reise ins Elfte Reich (1939), Die drei Bäume (1940) sowie im Hörspiel Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen (1941) miteinander verwoben werden. Neben dieser Vielfalt poetischer Werke schreibt Seghers eine Fülle publizistischer und essayistischer Texte, in denen sie wieder und wieder auf die Herausforderungen des Schreibens im Exil sowie auf ihr Kunst- und Realismusverständnis eingeht. Weiterhin ungebrochen ist ihr Verhältnis zur Sowjetunion. Trotz der bereits 1936 von Stalin initiierten Schauprozesse, trotz der einsetzenden Bedrohung deutscher Exilant/innen, die im Verlauf des Jahrzehnts zu Verhaftungen, Inhaftierungen und Ermordungen führen werden, gibt sie im Grußwort anlässlich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution ein »klare[s], vorbehaltlose[s] Ja« (KuW3, 17) für dieses Land und dessen Politik ab, das sich im Spanischen Bürgerkrieg konsequent auf die Seite der Antifaschisten gestellt hat. Dieser Text versteht sich als Rechtfertigung ihrer eigenen Loyalität und außerdem als Verteidigungsrede gegenüber all denen, die aus welchen Gründen auch immer, Vorbehalte gegenüber diesem Land äußern. Literarisierung der faschistischen Gewalt und Vaterlandsliebe in Das siebte Kreuz In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, die durch die zunehmende Kriegsgefahr sowie die weitere Trennung von der Heimat bestimmt war, kommen Rolle und Funktion der Exilautor/innen in ihrem Eintreten für ein anderes Deutschland mehr und mehr Bedeutung zu. Der Kampf um die Werte dieses nun verlorenen Vaterlandes erforderten ein erneutes Engagement, Verantwortung im Kampf gegen die faschistische Diktatur und die Bemühungen um antifaschistisch-demokratische Erneuerung. In der Zeitschrift Freies Deutschland 1941/1942 greift Seghers von Mexiko aus Grundlinien ihrer Rede von 1935 auf, indem sie sich erneut mit dem Begriff der Vaterlandsliebe und der Entwicklung des deutschen Nationalstaats im Vergleich zu anderen Staaten, insbesondere zu Frankreich, beschäftigt. Deutschland, das ist für sie die deutsche Sprache, die deutsche Musik und die deutsche Landschaft. »All das zusammen ist Deutschland, an-
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dre Einheit von Volk und Land, von Volk und Geschichte, als der Faschismus sie darstellt, doch eine unzertrennbare Einheit, aus der man nichts herausnehmen kann, um es allein zu lieben, Musik oder Sprache oder Landschaft, weil eins durch das andre bedingt und geworden ist« (KuW1, 190). Dieses Deutschland, das ihr vor Augen steht, ist ein Deutschland der Solidarität und des Füreinander-Einstehens. Am 23.9.1938 schreibt sie an Iwan Anissimow, den Leiter des Staatsverlages für ausländische Literatur in der Sowjetunion, bei dem sie Veröffentlichungs- und damit verbunden Verdienstmöglichkeiten bis zum Abschluss des Hitler-Stalin-Nichtangriffpaktes vom 23.8.1939 fand: »Ich werde einen kleinen Roman beenden, etwa 200 bis 300 Seiten, nach einer Begebenheit, die sich vor kurzem in Deutschland zutrug. Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines einzelnen Mannes sehr viele Schichten des faschistischen Deutschlands kennenzulernen« (KuW2, 16). Dieser ›kleine Roman‹ wird ihr erfolgreichstes und meist übersetztes Werk werden (s. Kap. 52 und 58). Das siebte Kreuz ist in der RheinMain-Heimat der Seghers angesiedelt. In sieben Kapiteln, die auf sieben Tage verteilt sind, wird die erfolgreiche Flucht des Häftlings Georg Heisler aus dem Konzentrationslager Westhofen erzählt. Während die sechs anderen Geflüchteten, den Tod an den auf Schulterhöhe gekappten Platanen finden sollten, die »von weitem sieben Kreuzen glichen« (SK, 9), bleibt das siebte Kreuz als Symbol des Widerstandes leer. In der Aufnahme der Zahl ›sieben‹, die sowohl in der jüdischen als auch der christlichen Tradition von Bedeutung ist, erfolgt die Umkehrung des Schöpfungsmythos. Nicht Gott ist der Schöpfer, sondern es sind die Menschen, die sich als moralische Individuen der Totalität des Systems widersetzen. Kennzeichnend für den Roman ist die multiperspektivische Erzählweise. Im Wechsel der Erzählebenen zwischen der Innen- und Außenperspektive, zwischen der wissenden Erzählinstanz und inneren Monologen thematisiert Seghers den Widerspruch zwischen dem totalitären Verfügungsanspruch des NS-Regimes und dem Widerstandspotential des deutschen Volkes. Es sind die einfachen Menschen, die in Zeiten existentieller Bedrohung den Überlebenskampf von Georg Heisler praktisch und moralisch unterstützen. Das Wissen um diese Solidarität trägt die Häftlinge im Konzentrationslager. In der Rahmenhandlung, die in einem ›Wir‹ der Erzählinstanz – eines der wiederkehrenden Hauptmotive der Autorin – die Kraft der Schwachen zum Symbol der Hoffnung er-
hebt, wird mit den sieben gefällten Bäume die Baracke geheizt (vgl. SK, 421) und der Glaube keimt auf, dass das Kleinholz von den sieben Bäumen kommt. »Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äusseren Mächte in den Menschen hineingreifen können bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar« (ebd.). Die Arbeit am Roman kann Seghers bereits im Spätsommer 1939 beenden. Genau in diese Wochen fiel der Abschluss des Nichtangriffpaktes zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion. Das hatte für die Exilant/innen und insbesondere für Anna Seghers gravierende sowohl materielle als auch moralische Folgen. Nachdem in der in Moskau herausgegebenen Zeitschrift Internationale Literatur die ersten Kapitel abgedruckt worden waren, wurde die weitere Veröffentlichung eingestellt. Damit verloren Seghers und viele der KPD angehörenden Exilautoren ihren Rückhalt in Moskau. Am 1.9.1939 begann mit dem Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg; Frankreich und England erklärten daraufhin Deutschland den Krieg. Damit endete für die aus Deutschland Geflüchteten die relativ sichere Zeit in Frankreich. Verunsichert und alleingelassen kämpft Anna Seghers zum einen um die Veröffentlichung ihres Romans, zum anderen liegt mit Kriegsbeginn die gesamte Verantwortung für die Familie auf ihren Schultern. Bernhard Spies geht im Kommentar zum Roman der Uneinheitlichkeit der Exemplare nach und verweist darauf, dass es kein von der Autorin autorisiertes Manuskript gibt. Zu zahlreich sind die Unterschiede des einen vollständigen Typoskriptes zu allen gedruckten Fassungen (vgl. Spies WA I/4, 448). Flucht nach Südfrankreich Mit Kriegsausbruch wird Laszlo Radvanyi gemeinsam mit anderen deutschen und weiteren als ›verdächtig eingestuften Ausländern‹ in das Konzentrationslager Le Vernet im Ariége interniert. Seghers versucht am 10.6.1940 mit ihren Kindern vor der deutschen Wehrmacht zu fliehen. Dabei war es entscheidend, über die Loire zu gelangen, da der Fluss die Demarkationslinie zwischen dem von den Deutschen besetzten Norden Frankreichs und dem noch von der Vichy-Regierung verwalteten Landesteil im Süden war. Orientierungslosigkeit und der nicht abreißende Flüchtlingsstrom führten dazu, dass sie von der Wehrmacht überrollt wurden und zurückkehren mussten (vgl. Radvanyi 2005, 40 f.). Die Stadt, in der sie sich über Jahre gebor-
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gen gefühlt hatten, verwehrte ihnen nun jegliche Sicherheit. In die Wohnung, die »durch die Gestapo und die Vichy-Polizei« (KuW4, 96) bereits durchsucht worden war, konnte Seghers nicht zurückkehren, ihre Kinder wurden getrennt untergebracht und jegliche Korrespondenz erfolgte in französischer Sprache. Pierre Radvanyi gelang es gemeinsam mit der polnischen Freundin Else Justynya für Stunden nach Bellevue zu reisen, um einige persönliche Dinge mitzunehmen. Hier entdeckte Else die letzte Kopie vom Siebten Kreuz, die sie vorsorglich verbrannte, »damit es nicht den Nazis in die Hände fällt« (Radvanyi 2005, 50). Als er der Mutter davon erzählte, hat der Sohn sie zum ersten Mal in seinem Leben weinen sehen (vgl. ebd., 51 f.). Erst Wochen später – am 20.9.1940 – verließen Seghers und ihre Kinder endgültig Paris. Die Überquerung der Demarkationslinie erwies sich als lebensgefährlich. Zur Retterin wurde Jeanne Stern, die beide Kinder über die Grenzlinie brachte (vgl. ebd., 54 f.). Nach dem Grenzort Vichy kamen sie über Toulouse, wo Seghers Kontakt mit den deutschen Kommunisten um Alexander Abusch aufnahm, im Verlauf des Herbstes in der kleinen Stadt Paniers in den Pyrenäen, unweit des Lagers Le Vernet, an. Diese für sie so schlimme Zeit, so gesteht sie es Wieland Herzfelde am 1.9.1940 – »es geht mir furchtbar schlecht« (KuW4, 142) –, ist trotz der widrigen Umstände bestimmt durch die Sorge um eine Normalität für die Kinder, die sie umgehend in der Schule anmeldet, und das ständige Vorsprechen auf der Präfektur, um einen Passagierschein für den Besuch ihres Mannes zu erhalten (vgl. Melchert 2018, 77). Marseille wurde schließlich zur letzten Station in Frankreich, hier befanden sich die Konsulate der Überseeländer, die nun als einzige Chance auf Rettung galten; der europäische Kontinent blieb den Exilierten verwehrt. Für Seghers beginnt eine Odyssee durch die Behörden, überlagert von der Sorge um ihren Mann, ohne den sie nicht ausreisen will und kann. In Briefen an Herzfelde und F. C. Weiskopf von September und November 1940 schildert sie nachdrücklich ihre Lage und bittet um Unterstützung. In der Nachricht an Herzfelde bekennt sie, dass es sicherlich ein Fehler war, nicht rechtzeitig um Hilfe aus Amerika gebeten zu haben: »Wenn Du auf Menschen stößt, die da helfen können, dann mach was« (KuW4, 142). Im November 1940 wird sie im Brief an F. C. Weiskopf noch deutlicher: »Dante, Dostojewskij, Kafka – oh, das waren Bagatellen!« – und sie bittet den Freund: »tu alles für meinen Mann, es ist von höchster Dringlichkeit. Diese Ver-
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zögerung wird die schlimmsten Folgen für ihn, die Kinder und für mich haben« (Br1, 459). Die ersehnte Hilfe kam. Bereits in Paris hatte Seghers die Nachricht, dass Visa für sie und ihre Familie nach Mexiko, das unter dem linken Präsidenten Lázaro Cárdenas vielen Kommunisten und SpanienKämpfern Asyl gewährte, bereit gestellt werden sollten. Die Visa erhält sie nach langen Bemühungen vom Generalkonsul Mexikos in Frankreich, Gilberto Bosques. Bei der Bezahlung der Schifftickets bekommt die Familie Unterstützung durch die League of American Writers. Nachdem Radvanyi von Le Vernet in das Internierungslager Les Milles verlegt worden war, konnte Seghers ihren Mann am 22.3.1941 von dort abholen. Zwei Tage später verlassen sie an Bord des Frachtschiffes ›Capitaine Paul-Lemerle‹ Marseille mit Richtung auf die Antilleninsel Martinique. Als sie am 30.6.1941 Veracruz erreichen, liegen die Stationen Santo Domingo, New York und Kuba hinter ihnen. Die USA, wo sie am 16.6.1941 ankommen, wird für sie ein Transitland bleiben. Die amerikanische Gesundheitsbehörde verweigerte Ruth die Einreise, so dass die Familie Ellis Island nicht verlassen durfte (vgl. Br1, 109). Alexander Stephan hat auf der Basis der FBI-Akten diese Begründung als einen Vorwand entlarvt. Die Familie Radvanyi wurde als verdächtig eingestuft und zur Weiterreise gezwungen: »citizens of Hungary, and of the Hebrew race [...] and [...] traveling on passport visas 200– 203, issued at Marseilles, France in July, 1941« (Stephan 1993, 16). Als einzige Lichtblicke erwiesen sich die Unterzeichnung des Vertrages mit dem Bostoner Verlag Little Brown für die Herausgabe des Siebten Kreuzes in englischer Sprache und die Nachricht vom 22.6.41, dass Deutschland die Sowjetunion überfallen hat, die Seghers als Wendepunkt wertete in der Hoffnung, dass die Sowjetunion Hitler-Deutschland besiegen würde (vgl. Zehl Romero 1993, 75). Bei aller Ungewissheit für die eigene Zukunft hält sie am 1.6.1941 im Brief an Bodo Uhse aus Ciadad Trujillo fest: »Ich hab das Gefühl, ich wär ein Jahr lang tot gewesen« (Br1, 106).
Exil in Mexiko (1941 bis 1947) Identitätssuche über die Annäherung an die jüdischen Wurzeln Bereits in Marseille während des Wartens auf den Konsulaten, den Bittgängen und den Bemühungen um die rettenden Papiere entstehen die ersten Notizen zum Roman Transit (vgl. Schlenstedt WA I/5, 315). In späte-
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ren Briefen an ihre Leser/innen erinnert sich Seghers: »Das Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafés, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten mußte, in Wartezimmern von Konsulaten, dann auf Schiffen, auch interniert auf Inseln, in Ellis Island in USA, der Schluß in Mexiko« (KuW4, 160). Monika Melchert zufolge soll Seghers auf der Überfahrt nach Amerika ihren Sohn in erste Ideen eingeweiht und ihn gefragt haben: »Wie würdest du entscheiden? Soll der Ich-Erzähler, ein junger deutscher Emigrant, am Ende in Frankreich bleiben und kämpfen, oder soll er gehen und sich retten?« (Melchert 2018, 83). Zwei Monate nach ihrer Ankunft in Mexiko berichtet sie F. C. Weiskopf am 20.8.1941 vom Entstehen eines neuen Buches, das sie schnell beenden will: »Es spielt in Marseille in dem ganzen Hexenkessel und hat eine schoene Liebes- und Abenteurergeschichte« (Br1, 117). Ort und Zeitraum der Handlung orientieren sich von Herbst 1940 bis zum Frühjahr 1941 an der Biographie der Autorin. In der autobiographisch determinierten und zeithistorischen Darstellung wird der Zusammenhang zwischen der historischen und der literarischen Wirklichkeit, zwischen Faktizität und Fiktionalität, erschlossen. Eigene Fluchterfahrungen spiegeln sich im Roman wider. »Wir mußten ohne Erlaubnis der Deutschen über die Demarkationslinie. Wir trieben uns ein paar Tage lang unschlüssig in den Landstädtchen vor der Grenze herum, sie wimmelten alle von deutschen Soldaten. Wir fanden schließlich in einem Wirtshaus einen Bauern, der jenseits der Grenze ein Stück Land hatte.« (Tr, 34 f.)
Eine besondere Funktion sowohl im Leben als auch im Roman haben die Cafés. Seghers betont in Briefen und Essays zum einen immer wieder, dass ihre Texte in Cafés entstanden sind und dass Exilierte ständig diese Orte als Informationsquelle nutzten, zum anderen ermöglicht sie über das Nennen der authentischen Cafés in Marseille eine literarische Annäherung an die Topographie der Stadt. Von 78 Anfängen der Unterkapitel beginnen 18 mit einem Verweis auf ein Café; dem Café Saint-Ferrèol kommt mit fünf Anfängen eine besondere Bedeutung zu und das Café Mont Vertoux rahmt die Handlung. Seghers schafft mit dem Erzähler Weidel eine Erzählinstanz, die einerseits um Dokumentation bemüht ist, während andererseits sein Bestreben, das Gedächtnis abzurufen – »Ich möchte trotzdem einmal alles von Anfang an erzählen« (Tr, 7) – als unzuverlässiges Erzählen wirkt. Die Leser/innen müssen den
Ariadnefaden in den erzählten Bruchstücken selbst finden. Ähnlich der oft verzweifelten Suche der Protagonisten nach ihrer Identität im Exil sind die Lesenden durch das Erzählverhalten aufgefordert, sich in den verwirrenden Handlungsverläufen und -ebenen zurechtzufinden. Jürgen Barkhoff beschreibt dieses Erzählen als »labyrinthisch« (Barkhoff 1991, 218). Es umschließt sowohl die mündliche Tradition – so erzählt Seghers bei der ersten Lesung am 4.2.1943 im Heinrich-Heine-Klub in Mexiko Passagen des Romans (vgl. Schlenstedt WA I/5, 319) – und knüpft außerdem an mythische Traditionen an (s. Kap. 40). Dazu gehören der initiierte Erzählort der Pizzeria, der zwischen den Elementen Wasser (am Hafen) und dem Feuer (der Backofen) angesiedelt ist, sowie die Analogie der Exilant/innen zur Odyssee. Hans-Albert Walter hat in seiner Arbeit zu Seghers’ Metamorphosen diese expliziten und impliziten Anspielungen nachgewiesen (vgl. Walter 1985, 11–28). Gleichermaßen lassen sich in der Ohnmacht der Ausgewiesenen in einer Lebenssituation, die durch Willkür und Bürokratie beherrscht wird, Ähnlichkeiten zum Werk Kafkas finden (s. Kap. 39). Umstrittenen ist immer noch die jüdische Identität in Seghers’ Leben und Werk. Marie Haller-Nevermann, die die umfassendste Arbeit zu dieser Thematik geschrieben hat, bestätigt, dass »Seghers’ Bruch mit ihrer jüdischen Herkunft und Tradition gekennzeichnet ist durch Negation, Tabuisierung und Verdrängung der jüdischen Lebenswelt, in die sie hineinwuchs und in der sie sozialisiert wurde« (Haller-Nevermann 1997, 253). Eine Relektüre vor allem des Exilwerkes ermöglicht im Hinblick auf diese Grundaussage Differenzierungen (s. Kap. 49). Obwohl die Autorin im Roman Transit Verfolgung und Bedrohung der Juden nicht vordergründig thematisiert, erfordert die ›labyrinthische‹ Erzählstruktur eine Interpretation der offenen Stellen und der Andeutungen sowie eine Konzentration auf das Zwischenmenschliche. Dabei erweist sich das Motiv des Im-Stich-Lassens als tragend für weitere Untersuchungen. Seghers, die bereits im frühen Tagebuch mit der Lebenssituation zwischen Weggehen aus dem Elternhaus und bevorstehender Heirat mit Radvanyi dieses Motiv anklingen lässt, greift es im Roman im Schicksal der Nebenfiguren – der kleine alte Kapellmeister aus Prag und die große jüdische Familie – wieder auf. In der Überhöhung und der Prüfung des jüdischen Fremdenlegionärs schafft Seghers einen Rahmen für die Diskussion des Leidens der Juden, welche symbolisch ihren Höhepunkt im schweren Gang durch die Wüste erfährt.
1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten Jetzt aber – in der Wüste – ich schwöre Ihnen, ich merkte gar nicht, daß ich auf einmal anfing, tapfer zu sein. Ich fing nur an, meinen Mittransitären ein wenig Mut zuzusprechen. Besonders den Jüngeren. [...] Und manchmal glaubten sie mir ein paar Minuten lang. Sie rafften sich aus dem Sand heraus, und trotteten noch eine Stunde weiter. Und ich sei dabei, erzählte ich ihnen, und müßte ja alles auch ertragen. Als ob sie das hätte trösten können, daß zufällig ich es mit ertrug!« (Tr, 217)
Sowohl der Legionär als auch die Autorin fühlen sich der Disziplin und bestimmten Organisationen verpflichtet: der Fremdenlegion und der Partei. Im Gegensatz zu den anderen Figuren und der angedeuteten Haltung des Erzählers ist der jüdische Fremdenlegionär kein ›Im-Stich-Lasser‹. Das Ringen um Identität, das aus äußeren Anforderungen und einer inneren Berufung geschieht, erfolgt über die Narration. Es ist schließlich der Erzähler, der sein eigenes Anliegen doppelt kommentiert: »Ich fühlte, wie es ihm nottat, alles von Anfang an zu erzählen« (Tr, 214). Im reglosen Zuhören wird ihm bewusst: »Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird. Erst dann hat er diese Wüste für immer durchquert, wenn er seine Fahrt erzählt« (Tr, 215). In diesem Sinn ist die in einem Brief an ihre Leser/innen gegebene »Anweisung« zu verstehen, die dem Roman zugrunde liegt, »die Leiden dieser Erde wirksam zu bekämpfen« (KuW4, 160).
Ankunft in Mexiko und Gründung des HeinrichHeine-Klubs In den ersten Briefen an die Freunde aus Mexiko schildert Seghers ihre Lage nachdrücklich. Zum einen überwiegt die Freude, angekommen zu sein – »Das Leben hier gefällt mir sehr. Das Klima, die Farben, die Landschaft, all das gibt mir die Gewissheit, dass ich hier leben und arbeiten kann« (Br1, 476) –, zum anderen sind die Verluste überdeutlich – »Es ist sehr hart, von dem getrennt zu sein, was man am meisten auf der Welt liebt« (Br1, 483). Das Leben in den ersten Monaten wird durch die ständige finanzielle Unsicherheit überlagert. Davon zeugen die Briefe, die vornehmlich an F. C. Weiskopf gerichtet sind, in denen von der eingestellten Unterstützung durch die League, der Notwendigkeit der Beschaffung des Schulgeldes sowie den gegen ihren Mann vorgebrachten Anschuldigungen, doppelte Hilfe in Anspruch genommen zu haben, die Rede ist. Immer wieder entwirft sie Arbeitspläne, be-
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richtet von entstehenden Texten, um so die materielle Not zu lindern (vgl. Br1, 477 f.). Das finanzielle Problem beginnt sich mit dem Erscheinen des Siebten Kreuzes, das als »Book of the Month« ab Oktober 1942 mehrere Auflagen erzielte und für fast 70.000 US-Dollar an Metro-Goldwyn-Mayer als Film-Story verkauft wurde, zu lösen. Das hatte zur Folge, dass die Familie aus der kleinen bescheidenen Wohnung in der Calle Rio de la Plata ausziehen und ein modernes Haus im Tacubaya-Viertel, Avendia Industria 215 mieten konnte (vgl. Radvanyi 2005, 82, 97). Mit der Öffnung Mexikos gegenüber den Verfolgten Europas, der Verfügung, nach der Niederlage des republikanischen Spaniens 1939 ca. 1500 Interbrigadisten aufzunehmen, sowie der ablehnenden Haltung gegenüber dem ›Anschluss‹ Österreichs an HitlerDeutschland, bot das demokratisch sozialistisch ausgerichtete Land den heterogen aufgestellten antifaschistischen und kommunistischen Richtungen die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer politischen und künstlerischen Arbeit. Dabei gehörten von den rund 3000 deutschen Exilant/innen ca. einhundert der Kommunistischen Partei an (vgl. Sternburg 2012, 131). Unter ihnen waren sowohl Angehörige der nicht-stalinistisch-orientierten Richtung als auch die an Stalin und dessen Politik orientierten Mitglieder, die unter Führung des Politbüromitgliedes Paul Merker bestrebt waren, ihr Asylland zu einem Zentrum für die breite Anti-Hitler-Koalition auszubauen. Bereits hier deuteten sich erste Spannungen zwischen dem Ost-Exil – den ›Moskauern‹ – und dem West-Exil – den ›Mexikanern‹ an, die jeweils ihren Führungsanspruch im Kampf gegen Hitler beanspruchten und über eine gewisse Autonomie und eigene Publikationsmöglichkeiten verfügten. In der DDR der 1950er Jahre hatte diese Konstellation schwerwiegende Folgen für einige Personen – Paul Merker wurde 1955 als ›zionistischer Agent‹ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt – sowie für die Kultur- und Literaturentwicklung, die in der Formalismusdebatte, im Vorwurf, dass die Form unzulässig den Inhalt dominiere, einen Höhepunkt fand. Seghers engagiert sich seit Beginn ihres Aufenthaltes für die Volksfront-Ideen. Zu ihren wichtigen Aktivitäten gehört die Gründung des Heinrich-HeineKlubs gemeinsam mit Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse und dem österreichischen Musiker Ernst Römer im Herbst 1941 mit dem Ziel der Verteidigung der deutschen Kultur gegen den faschistischen Alleinanspruch. Anna Seghers wird Präsidentin und eröffnet die erste Veranstaltung am 21.11.1941 mit einer Lesung aus den
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Sagen vom Räuber Woynok und Passagen aus dem Siebten Kreuz. 1944 verfasst sie eine Kritik über eine Wozzek-Aufführung (vgl. KuW2, 57–60) und ist selbst an Theateraufführungen beteiligt. Mit der Zeitschrift Das freie Deutschland, deren erster Chefredakteur Bruno Frei wird, war ein wichtiges publizistisches Organ der Kriegszeit geschaffen, das als Plattform für alle deutschen Emigranten gedacht war. Hier nimmt Seghers Stellung zu unmittelbaren Zeit- und Literaturfragen und veröffentlicht eigene Texte wie Das Obdach und Die drei Bäume. Mit der Gründung des von Walter Janka geleiteten Exil-Verlages El libro libre am 9.5.1942 anlässlich des 9. Jahrestages der Bücherverbrennung bot sich eine weitere Möglichkeit, die Literatur des anderen Deutschlands zu präsentieren. In vier Jahren wurden 20 Titel verlegt – darunter Egon Erwin Kischs Marktplatz der Sensationen (1942), Anna Seghers’ Das siebte Kreuz (1943) und Bodo Uhses Leutnant Bertram (1944). Alle diese Aktivitäten konnten jedoch nicht über die Inselsituation der deutschen Emigranten und deren Isolation hinwegtäuschen; gegenüber Frankreich hatte sich ihre Situation verschärft. Deutsche Emigrant/innen blieben in Mexiko nicht unbeobachtet, die Aktivitäten der Geheimdienste, vornehmlich die der USA, wurden durch die Haltung der mexikanischen Regierung ausgelöst, Kommunisten aufzunehmen. Für die amerikanischen Behörden galten alle Deutschen, die 1940/41 nach Mexiko kamen, als Nazi-Spione und potentielle Saboteure. Alexander Stephan hat nachgewiesen, wie Seghers und ihre Familie bereits während der Überfahrt nach Ellis Island und von dort weiter bis nach Mexiko vom FBI, den Geheimdiensten der amerikanischen Marine und Armee sowie den Kulturbehörden des U. S. Department of State überwacht wurden. Dieser Bespitzelung, an der auch der mexikanische Geheimdienst beteiligt war, unterlagen die gesamte Korrespondenz, die Kontakte sowie die Telefonate der Emigrant/innen (vgl. Stephan 1993, 9). Im Visier der Ermittler standen Seghers’ verzweifelte Versuche, die Mutter vor der Deportation in ein Konzentrationslager zu retten, ihre Arbeitspläne für Filme und Kurzgeschichtensammlungen sowie ihre psychische Befindlichkeit nach dem Autounfall (vgl. ebd., 2). Insgesamt gibt es zur Autorin ein nahezu 1000 Blätter umfassendes Dossier, das Stephan angefragt hatte; viele der Akten waren jedoch durch ›Ausschwärzungen‹ mehr oder weniger verstümmelt, 20 bis 30 Prozent des Materials wurden so unleserlich gemacht. In seiner Auswertung erschloss Stephan zwei Themenkomplexe, die in den Akten eine
besondere Stellung einnehmen: die Geschäftspost mit Angaben zu Publikationsprojekten, Verträgen und Tantiemen sowie »private Mitteilungen über Gesundheit, Familie und Heimweh, die uns die Schaffensund Lebensbedingungen im Exil besser verstehen lassen« (ebd., 23). 1943 – Wende im Zweiten Weltkrieg und Verkehrsunfall Das Jahr 1943 erwies sich mit dem Ende der Schlacht um Stalingrad und mit der Vernichtung der 6. deutschen Armee als psychologischer Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, was Konsequenzen für die Diskussionen der weltweit verstreuten Emigrant/innen um Rückkehr, Verantwortung und die Schuldfrage hatte. Am 24. Juni des Jahres erleidet Anna Seghers auf dem Weg zu einer Parteiversammlung im HeinrichHeine-Klub auf der Avenue Paseo de la Reforma einen Verkehrsunfall, dessen Hergang sowie die konkrete Uhrzeit nicht rekonstruierbar sind; der Fahrer war flüchtig. Die Ärzte diagnostizierten einen Schädelbruch und innere Hämatome, verzichteten auf eine Operation und setzten auf die Heilkraft des Körpers. Seghers liegt tagelang im Koma, als schwerwiegend erweisen sich Sprach- und Gedächtnisverluste (vgl. Radvanyi 2005, 98 f.). Mit Hilfe ihrer Familie und ihrer Freunde findet sie nach Monaten allmählich in ihr gewohntes Leben zurück (vgl. Spira 1991, 233); Schwindel und Kopfschmerzen werden jedoch als Folge erscheinungen bleiben. Zu ihren ersten Vorhaben nach der Genesung gehörte die novellistische Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, über die sie bereits vor dem Unfall nachgedacht (vgl. Br1, 145) und Teile geschrieben hatte. In dem autobiographisch grundierten Text findet eine Anverwandlung der Autorin an die Erzählinstanz statt. Das für Christa Wolf charakteristische Verfahren der ›subjektiven Authentizität‹ (Wolf 1999, 407), das sie in Nachdenken über Christa T. erprobt, hat der Lektüre von Seghers viel zu verdanken. Hinter der Ich-Erzählerin in Ausflug der toten Mädchen, die es aus »Europa nach Mexiko verschlagen« hat, liegen »Monate Krankheit« (AtM, l21). Die novellistische Rahmung setzt im heißen Mexiko ein. Die Erzählerin, angekommen am westlichsten Punkt, »an den ich jemals auf Erden geraten war« (AtM, 122), ist auf der Suche nach dem einzelnen »vom Nachthimmel gefallenen Licht« (ebd.), das ihr am Vorabend erschienen ist. Angetrieben vom »Restbestand meiner alten Reiselust« (ebd.) kommt sie in ein Rancho und tritt wie im Märchen durch das »lee-
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re Tor« (AtM, 123). Plötzlich findet sie sich in der Umgebung der Kind-Heimat wieder und hört zum ersten Mal den ihr so vertrauten Namen: »Netty« – »Mit diesem Namen hatte mich seit der Schulzeit niemand mehr gerufen« (ebd.). Als Reflex darauf versucht sie, sich ihres Körpers zu vergewissern, indem sie sich, einer alten Gewohnheit folgend, an den Zöpfen packt. »Ich wunderte mich, daß ich die zwei dicken Zöpfe anpacken konnte: man hatte sie also doch nicht im Krankenhaus abgeschnitten« (AtM, 124). Getrieben von Heimweh – »Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt« (AtM, 122) – kehrt die Erzählerin auf dieser kafkaesken Traumreise nach Mainz zurück und vollzieht über die scheinbare Idylle eines Schulausfluges kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Apokalypse ihres Vaterlandes nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sowie das Schicksal der Mutter, der Lehrerinnen und der Freundinnen nach. Denn nur sie selbst hat Verfolgung, Exil und das Bombardement von Mainz überlebt. Somit wird die Erzählung aus der privaten Dimension der Erzähl-Gegenwart mit dem Wissen um die Vergangenheit in die historische Dimension des Erinnerns gehoben. Die Erzählerin orientiert sich daran, dass persönliche Krisen in der Exilzeit auch durch verpasste Erinnerungen ausgelöst werden konnten: »Nie hat uns jemand, als noch Zeit dazu war, an diese gemeinsame Fahrt erinnert« (AtM, 143 f.). Im mexikanischen Exil ist Seghers um die schriftstellerische Aufklärungsarbeit als »Beitrag zur Neubesinnung des deutschen Volkes« (Schrade 1993, 74 f.) bemüht, für die sie die Methode der Gegenüberstellung verwendet. Durch diese Erinnerungen, die als Element des literarischen Wirklichkeitsverständnisses der Autorin zu verstehen sind, offenbart sich die Zielgerichtetheit der Erzählung. Über die Einbeziehung des Authentischen gilt sie als künstlerischer Ausdruck, der auch im Exil dem Wirklichkeitsverständnis ihres Gesamtwerkes in der Einheit von gelebtem und geschriebenem Leben entspricht (vgl. Mehnert 1986, 12). Im Wissen um die Lebensgeschichten der Protagonistinnen, ihren ehemals besten Freundinnen – Marianne wird den Tod Lenis herbeiführen –, verfasst sie eine psychologische Täter-Opfer-Studie. Während Seghers ihre jüdische Herkunft vor dem Exil in ihrem Werk weitgehend ausgeblendet hat, ist diese in der Erzählung der bestimmende Hintergrund für die Identitätssuche des erzählenden Ich. Pierre Radvanyi hält in seinen Erinnerungen fest, dass die Mutter im Verlauf des Jahres 1944 von der Deportation ihrer Mutter
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im März 1942 erfahren hat, die mit einem Transport von über 1000 deutschen Bürger/innen jüdischer Abstammung in das KZ Piaski bei Lublin gebracht worden war (Radvanyi 2005, 99). Daraufhin, so der Sohn, fügt sie in den Text die erinnernden Sätze an die Mutter ein: »Wie jung sie doch aussah, die Mutter, viel jünger als ich. Wie dunkel ihr glattes Haar war, mit meinem verglichen. Meins würde ja schon bald grau, während durch ihres noch keine sichtbaren, grauen Strähnen liefen« (AtM, 149). Heimat Heimatverlust und Liebe zur Heimat sind wesentliche Motive vieler Erzählungen aus dem Exil (s. Kap. 43). Birgit Ohlsen entwickelt sechs Thesen zu einer Annäherung an den Begriff ›Heimat‹ und zeigt Wandlungen auf (vgl. Ohlsen 2017, 157–182). In Der Ausflug der toten Mädchen wird Heimat zum Bekenntnis zu einer Gemeinschaft, die von der NS-Diktatur zerstört wurde und nun vor großen Herausforderungen steht. Ihre im Freien Deutschland publizierten Aufsätzen wie »Köln«, »Volk und Schriftsteller« und »Freies Deutschland 1792« thematisieren Fragen nach der Schuld des deutschen Volkes, der Entnazifizierung sowie der kulturellen und politischen Neugestaltung Deutschlands (vgl. Zehl Romero 1993, 88 f.). Seghers lehnt die These von der Kollektivschuld aller Deutschen und der Pauschalverurteilung konsequent ab und plädiert im Aufsatz »Aufgaben der Kunst« (1944) für die Erweckung von Werten durch die Beschäftigung mit den Begriffen Individuen, Volk und Menschheit als Bekenntnis zur humanistischen deutschen Sprache. »Die Künstler helfen in Büchern und Dramen und Bildern bei der Bekämpfung der unsinnigen, zu Verderbnis und zu Verbrechen führenden Vorstellungen, die sich in der faschistisch verseuchten Jugend eingenistet haben« (KuW1, 200 f.). In der im Herbst 1945 geschriebenen Erzählung Post ins Gelobte Land greift sie Motive des Exilwerkes wie Im-Stich-Lassen und Solidarität auf und fordert aus der Sicht der aufgeklärten Jüdin eine Gesellschaftsordnung ein, in der niemand unter Verfolgung und Zwang leiden muss. Es ist wiederum die Schriftlichkeit, die den Kern der Erzählung determiniert. Der orthodoxe Vater, der nach Palästina auswandert, um im ›gelobten Land der Väter‹ sterben zu können, erhält von seinem todkranken Sohn Briefe, die endlich einen Vater-Sohn-Dialog erlauben. Der der jüdischen Religion längst entfremdete Sohn bekennt sich zu seinen Wurzeln.
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I Leben »Mein lieber Vater, ich habe in der Nacht geträumt, ich ginge durch die Höfe und Gänge von St. Paul, ich war ein kleiner Junge, ich ging gar nicht an deiner Hand, sondern an Großvaters Hand. Wir gingen die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock der Synagoge. Die Großmutter zeigte mir von oben herunter die Jahrzeitkerze, die für die Mutter angesteckt wurde. Ich sah auf das Flämmchen begierig hinunter.« (PgL, 242)
Dieser vom Sohn initiierte Austausch zwischen den Generationen ist als Plädoyer der Autorin für Menschlichkeit, Würde und Solidarität zu sehen. Dass es an ihre jüdischen Wurzeln gebunden wird, zeigt die Notwendigkeit für die Exilierten, sich mit Verfolgung und Machtstrategien zu beschäftigen, denen ihr Volk ausgesetzt war und weiterhin ist. Seghers war es lebenslang wichtig, Privatleben und Beruf voneinander zu trennen. Fragen nach ihrer Biographie, nach ihren persönlichen Erfahrungen und Empfindungen lehnt sie ab, da sie davon überzeugt ist, dass die Erlebnisse und die Anschauungen eines Schriftstellers »am allerklarsten aus seinem Werk, auch ohne spezielle Biographie« (AE2, 411) sichtbar werden. Das Lesen ihrer Texte erfordert die intensive Erkundung dieser Zeichen. Die unter den Bedingungen des Exils von 1933 bis 1947 geschriebenen Texte vermitteln über konkrete Raum- und Zeitangaben sowie über Freundschafts- und Mentalitätsbeziehungen Signale, wie tief diese Veränderungen in ihr Leben eingegriffen haben und wie notwendig für die Identitätssuche die Beschäftigung mit der eigenen Herkunft und ihren Wurzeln war. Seghers letzte Aufsätze in Mexiko sind vom Willen geprägt, am Wiederaufbau in Deutschland teilzunehmen und dafür die besondere Form der Kunst zu nutzen. »Die geistigen Brücken zu einem anderen Volk schlagen, das heißt nicht nur, sich Bildung und Kenntnis verschaffen über seine Kunst und Literatur, das heißt, sich anzustrengen, genau zu begreifen, wie das geworden ist, was jetzt ist« (KuW1, 210). Im Aufsatz »Abschied vom Heinrich-Heine-Klub« (1946) sieht sie sich in der Tradition des Namensgebers als Eingreifende und Wissende, die ein besseres Deutschland vor Augen hat, das künftig kein »Wintermärchen« mehr sein darf, sondern »helle, harte Wirklichkeit« (KuW1, 207). Deshalb, so der letzte Satz, »steckt in jedem Abschied der Aufbruch zu dem neuen Ziel« (ebd., 208). In diesem Jahr bemüht sich Seghers, Informationen über das Schicksal der Mutter einzuholen. Der Brief der Jüdischen Gemeinde in Mainz vom 5.12.1946 brachte die traurige Gewissheit: »Frau Hedwig Reiling
kam im März 1942 nach Piaski bei Lublin und ist daselbst verstorben.« Dem Brief ist die Deportationsliste vom 20.3.1942 beigefügt, aus der hervorgeht, dass diesem Transport auch die Lehrerin Johanna Sichel angehört hat, die die letzten Tage mit der Mutter im ›Judenhaus‹, Taunusstraße 31, verbringen musste (vgl. Jüdische Gemeinde Mainz 1946, 28). Die Heimkehr gestaltete sich schwerer als erwartet. Zunächst verließen die Kinder Mexiko; Ende 1945 ging Pierre, im Sommer 1946 folgte ihm Ruth zum Studium nach Paris (vgl. Hilzinger 2000, 62). Im Januar 1947 trat Seghers zunächst ohne ihren Mann, der an der Universidad Obrera de Mèxico und seit 1944 an der Nationaluniversität lehrte, die Heimreise über New York und Stockholm an, wo sie auf die für die Übersiedlung nach Berlin notwendigen Papiere warten musste. Sie traf am 22.4.1947 in Berlin ein, das unter der militärischen Kontrolle der vier Besatzungsmächte stand. Ihr Mann, den sie vermisste und auf dessen Rückkehr sie intensiv hoffte, folgte ihr erst 1952.
Heimkehr mit Schwierigkeiten – 1947 Desillusionierungen Diese Rückkehr in das zerstörte Land ist mit vielen Hoffnungen verbunden: dazu gehören Kontaktaufnahmen mit den alten Freunden, der Wille am Neuanfang teilzunehmen und das andere Deutschland zu gestalten. Doch dieser Euphorie steht die Realität entgegen, die zunächst mit Ortswechseln innerhalb der geteilten Stadt verbunden ist. Nach der Ankunft wird Seghers ein Zimmer im stehengebliebenen Flügel des Hotel Adlon zugewiesen; im Mai 1947 erfolgt der Wechsel in den Westteil Berlins in das Casino-Hotel am Wannsee, dem heutigen Sitz des Literarischen Colloquiums. Von hier aus zieht sie in eine Pension nach Zehlendorf, nicht weit von der Wohnung entfernt, in der sie mit ihrer Familie bis 1933 gewohnt hat. Nachdem die SED, der sie im Jahr der Rückkehr beigetreten ist, ihr dringend nahegelegt hat, in den sowjetischen Sektor überzusiedeln, wohnt sie ab Mai 1949 zunächst bei Brecht/Weigel, die 1948 aus dem Exil nach Berlin zurückgekehrt sind, in deren Haus in Weißensee, Berliner Allee 190. Im Sommer 1950 kann sie ihre eigene Wohnung im Stadtbezirk Treptow in der Altheider Straße 21, ganz in der Nähe der Freundin Berta Waterstradt, beziehen. Nach der Rückkehr ihres Mannes nimmt das Ehepaar gemeinsames Quartier in Adlershof, Volkswohlstraße 81 – die heu-
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tige Anna-Seghers-Straße –, die heute das Anna-Seghers-Museum beherbergt. Die ersten Jahre sind durch tiefe Widersprüche bestimmt. Noch in Mexiko erhebt Seghers im Aufsatz »Inneres und äußeres Reich« prophetisch ihre Stimme: »Die Zwiespältigkeit, die jedes Leben gefährdet, das auf zwei Geleisen geführt wird, anstatt in einer unmißverständlichen Einheit, wird bei den Künstlern am klarsten. Ihr Leben ist ohnedies gespalten in ein gelebtes und gestaltetes, in ein inneres und ein äußeres Reich« (KuW1, 204). Dass dieses Wort für ihr Leben und Schreiben in der DDR existentiell werden wird, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zunehmend wird sie sich von ihren großen Themen Revolte und Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit verabschieden. Die äußeren und inneren Umstände der Rückkehr sind schwierig. Seghers, die jede Gelegenheit nutzt, zu den Kindern und Freunden nach Paris zu reisen, wird ab November 1950 jeglicher Besuch in Frankreich verwehrt, und zwar aufgrund einer Maßnahme, die mitten im Kalten Krieg alle Mitglieder des Weltfriedensrates betraf – sie ist diesem Gremium gerade beigetreten (vgl. Radvanyi 2005, 117). Zudem gibt sie auf Drängen der Partei ihren mexikanischen Pass ab. Weitere Irritationen bestimmen in dieser Zeit ihr Leben. Es sind nicht nur die Ruinen, das zerstörte Berlin und die Hungersnot, sondern es ist der innere Zustand der Menschen, der sie fast verzweifeln lässt. In Briefen an Clara Porset schreibt sie von ihrer tiefen Sehnsucht »nach Eurer Wärme, Eurer Leidenschaft, Eurer Liebe und Eurer Menschlichkeit hier im Volk der ›kalten Herzen‹« (vgl. Br1, 229; übersetzt aus dem Spanischen). Ebenfalls 1947 offenbart sie der ehemaligen Kinderfrau Gaya: »Das Zurueckkommen nach Deutschland (ich weiss nicht, wie lange ich bleibe) ist auch fuer mich nicht ganz einfach. [...] Durch viele Dinge werde ich nicht so leicht durchkommen« (Br1, 265). Später heißt es in einem Brief an Egon Erwin und Gisela Kisch: »Es ist unglaublich, was der Faschismus aus diesem Land gemacht hat. Nicht bloss moralisch. Das war zu erwarten. Auch dieser merkwuerdige intellektuelle Bruch. Dazwischen gibt es einige grossartige Lichtblicke, die um so heller sind, je duesterer es rund herum aussieht« (Br1, 272). Zu diesen Lichtblicken gehörte die Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 20.7.1947. Neben den schriftstellerischen Leistungen lobte die Jury das hohe persönliche Verantwortungsbewusstsein der Autorin. Mit der Akzentuierung der politischen Berufung wurde sowohl ihr Engagement als Kommunistin als auch
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ihre Zeit im Exil anerkannt. Das ist umso aussagekräftiger, wurde doch zu dieser Zeit in Westdeutschland vielen Exilierten und Rückkehrern eine Anerkennung verwehrt oder mit allen Mitteln erschwert. Für Seghers ist diese Ehrung auch Bestätigung ihrer langjährigen Überzeugungen, gehört doch Büchner zu den Autoren, die sie in ihrer Rede »Vaterlandsliebe« auf dem Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris als die bedeutendsten deutschen Dichter hervorgehoben hat (s. Kap. 31). Die Auszeichnung wird sie nicht persönlich in Empfang nehmen; erst 1949 nach der Aufhebung der Berlin-Blockade kann ihr der Preis mit der Post zugestellt werden. Diese Ehrung ist Höhepunkt und zugleich vorläufiger Endpunkt ihrer Anerkennung im Westen Deutschlands. Als Kommunistin und ›Staatsautorin der DDR‹ verliert sie ihre Präsenz (vgl. Hilzinger 2000, 64). Die Trennung von einem Großteil ihrer Leser/innen, die einst das NS-System erzwungen hatte, fand durch den Kalten Krieg eine Fortführung. Das ist ein signifikantes Beispiel für die widerspruchsvolle deutsch-deutsche Literaturgeschichte nach 1945. Seghers wird ihre Heimatstadt nur noch einmal 1954 in Begleitung ihres Verlegers Curt Weller besuchen. 1977 wird ihr die Ehrenbürgerschaft der Universität Mainz verliehen und 1981 bekommt sie die Ehrenbürgerwürde ihrer Vaterstadt. Zu einem zweiten Lichtblick wurde der I. Deutsche Schriftstellerkongreß, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in Berlin stattfand. 280 Schriftsteller/innen, Kritiker, Verleger und Publizisten kamen an wechselnden Orten zusammen: im Club der Kulturschaffenden in der Jägerstraße, im Hebbel-Theater und in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, dessen Intendant der aus dem Schweizer Exil zurückgekehrte Wolfgang Langhoff war. Drei Frauen dominierten die Rednerliste: die zur Ehrenpräsidentin gewählte Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer als ›innere Emigrantin‹ und die Exilautorin Anna Seghers, die in ihrer Rede »Der Schriftsteller und die geistige Freiheit« hervorhebt: Die geistige Freiheit ist für den »Schriftsteller deshalb so wichtig, weil er durch seinen Beruf, durch sein Handwerk imstande ist, auf eine ganz besondere Weise einen bestimmten Teil der Wirklichkeit bewußt zu machen« (KuW1, 72 f.; s. Kap. 30). Die Verunsicherungen blieben jedoch und wurden größer. Zum einen waren die Folgen des Kalten Krieges spürbar und zum anderen nahmen die Spannungen unter den heimgekehrten Kommunisten zu. Die aus dem sowjetischen Exil Zurückgekehrten aus dem
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Kreis um Walter Ulbricht und Johannes R. Becher formierten sich endgültig zur politischen und kulturellen Elite und stellten eine Volksfrontpolitik zur Allianz von Politik und Kultur mehr und mehr in Frage. Unter dem Motto der »antifaschistisch demokratischen Ordnung« hatten die sowjetische Besatzungsmacht und vor allem die Kulturoffiziere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg alle Schichten der Bevölkerung für einen Neuanfang gewinnen wollen. Mit dem Jahr 1948 verhärteten sich die Fronten, so dass Eingriffe in eine demokratisch legitimierte Politik und Kunst unvermeidlich wurden; dazu gehörten die beginnenden Auseinandersetzungen mit Formalismus, Modernismus und Dekadenz sowie der schwelende Antisemitismus (vgl. Zehl Romero 1993, 96 f.). Seghers Reaktionen auf diese Veränderungen folgen den aus der Zeit der Weimarer Republik bereits bekannten Mustern. Pragmatisch und diszipliniert erfüllt sie die an sie gestellten Aufgaben. Aus der Reihe der Exilautoren wird sie als ›Vorzeigefrau‹ herausgehoben und wird als international ausgewiesene Autorin zur Repräsentantin des antifaschistisch-demokratischen Neuanfangs. Sie stürzt sich in die Arbeit und unternimmt eine Vielzahl von Reisen, die sie nach Europa, Asien sowie nach China (1951) und Brasilien (1961, 1963) führen. Die China-Reise, die sie mit einer Delegation von Künstlern aus der DDR antritt, knüpft zum einen an ihr Studium in Heidelberg und Köln an, zum anderen kommt es hier zu vielfältigen Begegnungen u. a. mit Ilja Ehrenburg und Pablo Neruda, die anlässlich des Zweiten Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China das Land besuchten. Es kommt zu Treffen mit Mao Tse-tung und zu einer Wiederbegegnung mit ihrer Freundin Hu Lunqui, die zu Beginn der 1930er Jahre eine enge Vertraute der Familie Radvanyi war. Eine weitere Zusammenkunft fand mit dem Prager deutschen Autor F. C. Weiskopf statt, der zu dieser Zeit Botschafter der ČSR in China war. Er, der im Exil in New York war, gehörte mit zu den Wegbereitern der Veröffentlichung des Romans Das siebte Kreuz (vgl. Melchert 2011, 140–144). Immer stärker sieht sich Anna Seghers einem Dilemma ausgesetzt. Ihre eingeübte Parteidisziplin und ihr Pflichtgefühl führen dazu, dass sie sich mehr und mehr vereinnahmen lässt in einer Zeit, in der die Weichen längst gestellt sind (vgl. Zehl Romero 1993, 100). Am 24.3.1950 wird sie vom Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, als Ordentliches Mitglied in die deutsche Akademie der Künste berufen. In den folgenden Jahren wird sie vielfältige Reden halten und an Diskussionen teilnehmen, in denen sie ihren Realismus-
begriff erläutert, der sich einer platten Wirklichkeitsabbildung widersetzt (s. Kap. 37), und ihre Vorstellungen zu Kunst und deren Wirkungsmöglichkeiten weiter entwickeln (s. Kap. 30 und 35). 1952 zeigte die Formalismusdebatte bereits verheerende Wirkungen. Zu diesem Zeitpunkt wird Seghers zur Vorsitzenden des Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt, der im November 1973 zum Schriftstellerverband der DDR umgewidmet wurde. Diese Funktion erfüllt sie bis 1978. Getreu ihrer selbstgestellten Aufgabe, Toleranz anzumahnen und den Gegensatz zwischen politischer Macht und künstlerischem Anspruch zu überwinden, versucht sie zu vermitteln. Die Gründe für diese Haltung sind vielfältig. Das Risiko wieder ausgewiesen zu werden, erneut heimatlos zu sein, ist groß. Bessere Alternativen besaß sie nicht. Die DDR bot Seghers umfassende Möglichkeiten und integrierte sie in das System, für das sie Opfer brachte. Ihr Leben wird zwischen Instrumentalisierung und ausgewogener Selbstbestimmung in den nächsten Jahren dazu führen, dass sie eine Vielzahl von Spannungen aushalten muss. Als Poetin weiß sie um die Problematik einer ›verordneten Literatur‹, ihre Art der Abwehr findet sich in vielen Reden und Essays (s. Kap. 30). Ihre Haltung zur Sowjetunion blieb ungebrochen, obwohl sie längst über die schockierenden Informationen stalinistischer Willkür verfügte, z. B. über die Remigranten wie J. R. Becher; außerdem wusste sie von den Verbrechen des Diktators, die Chruschtschow 1965 auf dem 20. Parteitag der KPdSU offengelegt hatte. Spätestens durch das Schicksal von Trude Richter (1899–1989), die die Funktion des Sekretärs des BPRS übernommen hatte, 1934 emigrierte und 1936 in Moskau gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Nationalökonom Hans Günther, verhaftet und ohne Prozess zu fünf Jahren Haft in einem Arbeitslager des Gulag in Magadan verurteilt wurde, besaß sie Gewissheit über die autoritären Maßnahmen dieses Systems. Auf Seghers’ aktives Betreiben konnte Richter, die 1946 erneut verhaftet wurde, nach ihrer Freilassung in die DDR einreisen, wo sie als Dozentin am Literaturinstitut J. R. Becher von 1957 bis 1966 lehrte (vgl. Richter 1990, 448–451). Richter und Seghers schworen weder der Ideologie noch dem System der Sowjetunion ab, obwohl dieses sie mehrfach im Stich gelassen hatte. Eine Haltung, die sich aus den Lebensumständen erklären lässt, und die das Ziel verfolgte, alles zu tun, damit nie wieder Krieg und Faschismus von Deutschland ausginge. Als sich im Sommer 1953 die Arbeiter gegen die aufgezwungenen Normen zur Wehr setzten, schweigt
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Seghers, wie bereits zu den Prozessen der frühen 1950er Jahre, in denen die DDR gegen alt gediente Kommunisten vorging – wie z. B. gegen Paul Merker, den Vertrauten des Exils, der zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. 1956 auf dem Höhepunkt der Unruhen der Ostblockstaaten gegen die sowjetische Bevormundung will Seghers ihren Freund Georg Lukács retten. Dazu bittet sie J. R. Becher, gemeinsam mit Walter Janka nach Ungarn zu fahren, um den »›bedeutendsten Autor des Verlages zu suchen, ihm wenn möglich zu helfen, damit der siebzigjährige Freund nicht ein Opfer der Aufständischen in Ungarn würde‹« (zit. nach Janka 1989, 91). Der Plan geht nicht auf, die von Becher organisierte Reise wird von Ulbricht verboten und bietet den Anlass für den Beginn einer Reihe von Schauprozessen, denen nach Janka u. a. der Philosoph Wolfgang Harich (1957) und der Schriftsteller Erich Loest (1957) zum Opfer fielen. Nach Jankas Verhaftung bat Seghers die Parteileitung des Schriftstellerverbandes um Unterstützung, weiterhin sprach sie zweimal bei Ulbricht vor, um etwas für den zu Unrecht Beschuldigten zu erreichen. Janka wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, vorzeitig entlassen und arbeitete dann als Dramaturg bei der DEFA, wo er u. a. an der Verfilmung des Romans Die Toten bleiben jung beteiligt war. Am 28.10.1989 las der Schauspieler Ulrich Mühe im Deutschen Theater aus Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Jankas autobiographischem Bericht, in dem er Seghers des Verrates beschuldigt. »Die anwesenden Schriftsteller, von Anna Seghers, Willi Bredel bis Bodo Uhse, hatten sich an der Schreierei nicht beteiligt. Sie blieben stumm. [...] Ein wenig Mut hätte ihrem Ruf nicht geschadet und ihre Position nicht gefährdet. Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder auch nur belästigen zu lassen. All das wusste sie. Trotzdem blieb sie stumm.« (Janka 1989, 90 f.)
Die unter großem Beifall in Anwesenheit des Autors stattgefundene Lesung markierte den Beginn der Aufarbeitung von DDR-Vergangenheit und veranschaulicht außerdem die Herabsetzung von Leben und Werk der Autorin durch subjektive Anschuldigungen, ohne auf Seghers Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen. Ruth Radvanyi hob in ihren Erinnerungen hervor, dass es nie Sache der Mutter war, mit spektakulären Auftritten auf sich aufmerksam zu machen, vielmehr nutzte sie ihre Position, um über Gespräche etwas zu erreichen (vgl. Berger 1992, 153–155). Die 1950er Jahre, die von Of-
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fenbarungen und Niederlagen bestimmt waren, stellen Seghers auf harte Proben. Als Versuch, sich all diesen politischen Verwerfungen schreibend anzunähern, gilt die Erzählung Der gerechte Richter, die aber nicht als unmittelbare Reaktion auf den Janka-Prozess zu verstehen ist. Seghers hatte dazu zwar erste Gedanken im Herbst 1956 geäußert (vgl. Wagner 2004, 59), aber Zehl Romero geht davon aus, dass die Erzählung frühestens 1961 entstanden sein muss (vgl. ebd., 62), da Seghers zu dieser Zeit den Essay »Woher sie kommen, wohin sie gehen« schrieb, der eng mit dieser Thematik verbunden ist. Hintergründe, warum die Erzählung Fragment blieb und nicht veröffentlicht wurde, Kontexte sowie mögliche Interpretationen werden 2004 im Argonautenschiff, dem Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, erschlossen. Bei aller Erschütterung des Weltbildes, trotz Ernüchterungen und Enttäuschungen ist Seghers nach wie vor der Überzeugung, dass die Idee des Sozialismus der einzig richtige Weg ist. Sie schweigt, weil sie eine Chance für das politische Experiment des Sozialismus in der DDR sieht und diese nicht durch eine Radikalkritik gefährden will (vgl. Wende 1996, 158). Dieser Glaube an den Sozialismus realisiert sich in der Erzählung in der Figur des Viktor Gasko: »Unsere Idee ist die beste, die Menschen sich jemals ausgedacht haben« (Seghers 2000, 43). Nach Monaten der Eingewöhnung erscheint 1949 der Roman Die Toten bleiben jung, den Seghers bereits im Exil fertig gestellt und nach ihrer Rückkehr »durchgearbeitet« hat (KuW4, 153). Dieser Roman, der »im Spannungsfeld von Noch-Exil und Schon Daheim« steht (Bock 1979, 394), knüpft »thematisch, motivisch und kompositorisch an frühere Werke an und leistete einen großangelegten Epochenrückblick, auf den sie als Erzählerin hingearbeitet hatte« (Zehl Romero 1993, 106). Es handelt sich um einen Gesellschaftsroman in der Tradition von Tolstojs Krieg und Frieden oder Fontanes Vor dem Sturm. Im Unterschied zu ihren vorherigen Romanen umfasst dieser ein Vierteljahrhundert (vgl. Hilzinger 2000, 186). Seghers verzichtet wie in Die Gefährten auf eine lineare Fabel und eine zentrale Figur, vielmehr erzählt sie von 28 Figuren aus allen sozialen Klassen. Sie erzählt simultan und verbindet über die Montagetechnik die verschiedenen Erzählstränge. Der Roman wird von der Idee einer antifaschistischdemokratischen Ordnung getragen, die durch einen Zusammenschluss der (politischen) Avantgarde mit der Masse der Werktätigen entsteht und zu einer revolutionären Erneuerung führen soll. Die erzieherische Funktion ist unverkennbar. Die im Exil entwickelte Idee der Umerziehung des deut-
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schen Volkes und vornehmlich der im Faschismus Aufgewachsenen, die ihre eigene Befreiung durch die veränderte Situation erfahren und erkennen können, ist in den Roman eingeschrieben. Solidarität und Durchhaltevermögen (das Motiv der Stafette) sowie Licht und Freude gehören zu den Hauptmotiven, die vor allem an weibliche Figuren gebunden sind (s. Kap. 46). So heißt es über Marie, die sich von einer Wartenden in eine tröstende, Hoffnung spendende Frau verwandelt: »Auf einmal war sie von neuem da, von neuem lebendig, als sei sie mit einem besonders festen Band an das Leben geknüpft, so daß man sich sicherer fühlte, wenn man sich an sie hielt, wie man sich bei einem Schiffbruch an eine Planke hält, um nicht unterzugehen.« (Tbj, 567)
Dass der Roman in der Kritik nicht auf das gewünschte Echo stieß, sondern eher negativ aufgenommen wurde, hatte mehrere Ursachen (s. Kap. 50). Zum einen forderten Partei und Regierung Texte, die sich unmittelbar mit der Gegenwartsthematik beschäftigen, zum anderen hielten die Kritiker den Widerstand und die Widerstandsmöglichkeiten der Deutschen, vor allem den der Arbeiter, für zu schwach, denn im Roman fiel er weit illusionsloser aus als von der Propaganda erwartet. Erinnerungs- und Erfahrungswege Rückkehr ist im Leben und Werk von Seghers in der ersten Hälfte der 1950er Jahre das bestimmende Thema. Nach der Rückkehr ihres Mannes und dem Bezug der gemeinsamen Wohnung in Adlershof gelingt es Pierre Radvanyi durch Verhandlungen mit der Vermieterin der Pariser Wohnung, die die Familie 1940 fluchtartig verlassen musste, persönliche Dinge zurück zu erhalten. Dazu gehört die Bibliothek, die ein »Exilschicksal von zweiundzwanzig Jahren« (Melchert 2011, 115) hinter sich hatte. Mit den Erzählungen Der Rückkehrer (1949) und Der Mann und sein Name (1952) steht Seghers in der Reihe der Heimkehrerund Aufbaugeschichten, in denen sie das Schicksal der Enttäuschten und Desillusionierten sowie der ehemaligen Gegner der Veränderungs- und Wandlungsprozesse beschreibt; dadurch ist sie bestrebt, die bessere Gesellschaftsordnung abzubilden, die für sie im Osten Deutschlands zu sehen ist. In der Erzählung Die Umsiedlerin (1950), die zu den Friedensgeschichten gehört und Heiner Müller als Vorlage für dessen Schauspiel
Die Umsiedlerin dienen wird, greift Seghers ein nach 1945 aus der Sicht Ostdeutschlands brisantes Thema auf: Flucht und Vertreibung. Anna Nieth gelingt es nach anfänglichen großen Schwierigkeiten in einer neuen Heimat anzukommen, was vor allem mit der dort herrschenden Gerechtigkeit zu tun hat. Auf die Frage, warum sie sich so anstrenge, kommt ihre kurze Antwort: »Weil man gerecht war« (WA II/4, 344). In der Erzählung Das Argonautenschiff (1949) greift Seghers auf einen mythologischen Stoff zurück und legt den Fokus auf den gealterten Jason; seine Beziehung zu Medea liegt in der Vergangenheit. Der Mythos wird um die Dimension der Erinnerungen an die eigene Jugend sowie um intertextuelle Bezüge auf das eigene Werk erweitert. In der Entmythologisierung – Jason ergibt sich nicht seinem vorherbestimmten Schicksal – reflektiert die Erzählerin die Befindlichkeit der Autorin nach der Rückkehr und ihren Abschied von den Träumen und Illusionen (vgl. Diersen 1992, 112–124). Seghers stellt sich auch weiterhin der Aufgabe, »die fremden Völker als den Beitrag der Erde zur Menschheit [literarisch] darzustellen« (KuW1, 200). Das bringt nun antikolonialistische Aspekte ins Spiel. Auf der Fahrt nach Mexiko haben die Antillen ihr Interesse an den dort lebenden Menschen und deren Freiheitsideen geweckt. Deren Schicksale werden sie von den Karibischen Geschichten (1949–1960) bis zu ihrer letzten Erzählsammlung Drei Frauen aus Haiti (1981) begleiten. Weil die Impulse für die Aufständischen stets von Europa – von den Ideen der Französischen Revolution – kommen, betont Gertraud Gutzmann den eurozentristischen Blick der Autorin. Sie kritisiert Seghers dafür, dass sie ›Menschheit‹ im europäischen Kulturverständnis begreift. Im unkritischen Umgang mit konventionellen literarischen Formen sieht sie »die Gefahr der wertenden Vereinnahmung des Fremden« (Gutzmann 1988, 202). Aber so muss man diese Geschichten nicht lesen (s. Kap. 21 und 28). Mit der Novelle Crisanta (1951) blickt Seghers erstmalig auf ihre Exil-Heimat Mexiko zurück, indem sie die dort gewonnenen Eindrücke, Selbsterlebtes und Fremdheitserfahrungen sowie Kunsteindrücke zu einem Gebilde verwebt (vgl. Zehl Romero 1993, 112). Mit Crisanta, einer der schönsten von Seghers geschaffenen Frauenfiguren (vgl. Batt 1980, 151), wird der Fokus auf eine junge Frau aus ärmlichen Verhältnissen gelegt. Die Novelle gehört zu den wenigen Texten der Autorin, in denen Emanzipationsaspekte und die Unterdrückung von Frauen im Mittelpunkt stehen. Die auktoriale Erzählinstanz formuliert es am Beginn deutlich: »Ich erzähle nichts von Juarez und nichts von
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Hidalgo und nichts von Morelos. Ich erzähle euch von Crisanta« (Cr, 43). Die Analphabetin und Waise »war hungrig auf viel Leben« (Cr, 48). Mit dem Ende der Geschichte, in der sie auf vielfältige Proben gestellt wird, findet sie zu einer Geborgenheit zurück und »gewinnt, selbst als soziale Randexistenz, eine stumme Größe, die viele Beobachter Lateinamerikas an den Indiovölkern bewundern« (Batt 1980, 151). In der Novelle finden sich viele bekannte und das Werk von Seghers strukturierende Motive: Erinnerung, Solidarität und Heimat (s. Kap. 43). Die Farbe Blau bildet den Rahmen des Textes. Crisanta erinnert sich an einen frühen Ort ihrer Kindheit, an dem es ihr so wohl war wie nie mehr später: »Wenn sie sich fragte, was es gewesen war, dann fiel ihr immer nur ein: blau. Ein sanftes und starkes Blau, das es später nirgendwo gab. Die ganze Welt war vorbeigerauscht, doch nicht durch das Blau gedrungen« (Cr, 45). Am Ende des Textes fällt ihr der Ort der Kindheit wieder ein: »Das unvergleichliche, unbegreifliche tiefe und dunkle Blau. Das war der Rebozo, das Umschlagtuch der Frau González gewesen, und was dahinter strömte, ihr Volk« (Cr, 69). Die Farbe Blau impliziert zum einen das Bekenntnis der Autorin zur romantischen Dichtung, zugleich wird sie zum »Symbol für echte Heimat und tiefe, fraglose Zugehörigkeit« (Zehl Romero 1993, 112). Das dichte Netz der Freundschaften bewährt sich erneut in der Zeit der Rückkehr und gibt Seghers den notwendigen Halt. In Berlin sind es vor allem Helene Weigel, Berta Waterstradt, Jeanne und Kurt Stern, Steffie Spira und Jürgen Kuczynski. Mit Egon und Gisela Kisch sowie Lenka Reinerovà, die aus dem Prager Exil zurückgekehrt sind, bleiben die Freundschaftsbande erhalten. Dass es meist Menschen mit jüdischen Wurzeln sind, offenbart, wie wichtig ihr das Bewusstsein ihrer Herkunft, verbunden mit den Werten Weltoffenheit und Toleranz, ist (vgl. Melchert 2011, 135). In den Freundschaften und im Familienzusammenhalt (s. u.) findet sie das, was sie einst im Tagebuch heraufbeschworen hat: Freude, Wärme und Liebe sind die tragenden Säulen ihrer Existenz und ermöglichen ihr die Heimkehr. Die »neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären« (Heine; KuW1, 205) In der Rede auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongress 1961 (vgl. KuW1, 115–142) greift Seghers viele Fragen und Aspekte auf, die sie seit der Exilzeit beschäftigen. Auf der Grundlage ihrer politischen Über-
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zeugung, dass die sozialistische Gesellschaft die bessere Ordnung repräsentiert, und ihres Willens, aufkommenden faschistischen Tendenzen die Kraft all derer entgegenzusetzen, die sich für den Staat im Osten Deutschlands engagieren, entwirft sie im Mai 1961, drei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer, die Vision einer ›Literatur der Tiefe und Breite‹ (vgl. ebd., 117), das heißt sie denkt über das Verhältnis der Qualität eines Werkes zu seiner potentiell verändernden Wirkung auf Leser/innen nach. »Tiefe verändernde Wirkung geht nur von einer wirklichen Kunst aus. Nur die echten, menschenverändernden Kunstwerke, die eben dadurch für unsere Zeit Zeugnis ablegen, reihen sich an die großen echten, menschenverändernden Kunstwerke vergangener Zeiten an, die jeweils für ihre Epoche Zeugnis ablegten.« (KuW1, 119)
Wie bereits in ihrer Rede auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress »Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung des Volkes« (s. Kap. 30 und 35) befragt sie fünf Jahre später erneut das Verhältnis der Leser/innen zu den Texten unter den mittlerweile veränderten Bedingungen: »Und erstaunt stellt der Leser fest, daß sein Autor etwas entdeckt hat, was ihn, den Leser, zutiefst angeht« (KuW1, 120). Alle diese Erkundungen führen sie zu der Kernfrage um das kulturelle Erbe und den Realismus zurück. Da wir »meines Erachtens auch nie genug darauf eingegangen [sind], an welche Literatur die unsere anknüpft« (ebd., 132), nutzen einem jungen Autor heute sicher Büchner, Heine, Herwegh mehr als das Lied von der Glocke oder Uhland. Seghers verweigert sich dogmatischer Festlegungen, die ihren Prämissen und ästhetischen Maßstäben nicht entsprechen (vgl. KuW4, 156), denn »ein Schriftsteller heftet seine Meinung niemals, wie Gorki sich ausgedrückt hat, den Gestalten als Zettel an, und er gibt ihnen keine Flügel und Teufelsschwänze wie in den Mysterienspielen des Mittelalters« (KuW1, 137). Erzählerisches Gestalten ist Seghers also wichtiger als eindeutige politische Positionierung. Ihr Werk der 1950er und 1960er Jahre auf die Methode des sozialistischen Realismus zu reduzieren, wie es vor allem in der Kritik der Bundesrepublik geschehen ist (s. Kap. 51), greift daher zu kurz, denn sie verfährt nicht poetologisch analysierend, sondern ideologisch wertend. Seghers’ Kunstauffassung mündet in einen ›sozial kritischen Realismus‹ (s. Kap. 37), denn ein wirklicher Künstler wird aus der Wirklichkeit herausschneiden, »was zu ihr gehört« (KuW1, 139), um es so
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zu montieren, dass es für die Leser/innen eine bewusstseinsverändernde Wahrnehmung eröffnet. In der DDR schreibt Seghers zwei große Romane, die das Bemühen um die ›neue Kunst‹ nach der Rückkehr spiegeln. Diese zeitgeschichtlichen Romane sind getragen von ihren Erfahrungen und Recherchen im geteilten Deutschland unter den Bedingungen des Kalten Krieges und greifen die Themen des Aufbaus der DDR – Die Entscheidung (1959) – und der Verteidigung der Errungenschaften – Das Vertrauen (1968) – auf. Im multiperspektivischen Roman Die Entscheidung sind über die kompositorische Klammer – das Zusammentreffen der Spanienkämpfer Robert Lohse, Richard Hagen und Herbert Melzer – die drei Hauptstränge verknüpft: das Stahlwerk Kossin in der DDR, das Bentheim-Werk und die Großindustriellen mit den faschistoiden Tendenzen in West-Berlin und Westdeutschland sowie die internationale Entwicklung in den USA, Frankreich und Mexiko. Der Roman beginnt mit einem für Seghers’ Prosa sinnfälligen Bild. Während Hagen und Lohse schwerverwundet in einer Höhle liegen, ist das Gesicht der Krankenschwester Celia, in deren Augen »das Licht der Welt gesammelt war« (E, 35), der einzige Moment der Hoffnung auf ein besseres Leben. Noch vor Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel (1963) greift Die Entscheidung als Thema und Hauptmotiv die Lebenssituation vieler Deutscher auf, für ein Land und dessen Ideologie einstehen zu müssen. Im Brief vom 23.2.1965 antwortet Seghers einem Leser, dass in dem Roman keine eigenen Konflikte vorkommen, sie aber ähnliche Schwierigkeiten wie die ihrer Protagonisten miterlebt habe (vgl. KuW4, 168 f.). Im Gespräch mit Christa Wolf entwickelt sie 1959 die Grundidee des Romans: »Mir war die Hauptsache, zu zeigen, wie in unserer Zeit der Bruch, der die Welt in zwei Lager spaltet, auf alle, selbst die privatesten, selbst die intimsten Teile unseres Lebens einwirkt: Liebe, Ehe, Beruf sind sowenig von der großen Entscheidung ausgenommen wie Politik oder Wirtschaft. Keiner kann sich entziehen, jeder wird vor die Frage gestellt: Für wen, gegen wen bist du? – Das wollte ich an verschiedenen Menschenschicksalen zeigen.« (AE2, 400)
Obwohl der Roman bestrebt ist, das Entscheidende und Neue im alltäglichen Leben der DDR im Unterschied zu den erstarkenden faschistischen Tendenzen in der Bundesrepublik zu zeigen, verlischt die Vision, die einst die Spanienkämpfer getragen hat, wie eine
Flamme. In den vielfältigen Bestrebungen der einzelnen Figuren, die richtige Entscheidung zu treffen, geht die Hoffnung mehr und mehr verloren, denn deren Haltungen und Handlungen können den veränderten Anforderungen nicht standhalten. Der als »Fortsetzung« (KuW4, 169) geplante Roman Das Vertrauen steht im Kontext von Texten der DDR-Literatur, die sich mit dem 17. Juni 1953 auseinandersetzen. An diesem Tag demonstrierten von Ost-Berlin ausgehend Zehntausende Arbeiter gegen Normerhöhungen und politische Reformen. Noch am selben Tag wurden die Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Willkürliche Strafen und Drohungen sorgten schnell für Schweigen oder andere Unterwerfungsgesten. Diese Unruhen, die von Staat und Partei als westliche Provokationen abgetan wurden, erschütterten das sozialistische Gesellschaftsmodell. Nachdenkliche Stimmen und widerstreitende Meinungen sind vor allem in der Literatur zu finden. Dabei reichten die Positionen von der Unterstützung der PutschDeutung bis zum Nachdenken über die politischen Hintergründe und die Aufarbeitung deutscher Geschichte. Der 17. Juni als historisches Ereignis wurde zum Gegenstand der Reflexion sowohl in autobiographischen und anderen Erinnerungstexten, die in der DDR nicht erscheinen konnten – Erich Loest Durch die Erde ein Riß (1980 als Manuskript fertig gestellt, 1990 veröffentlicht) und Stefan Heym 5 Tage im Juni (1974 in der Bundesrepublik, 1989 in der DDR publiziert) – als auch in der Lyrik (Bertolt Brecht Buckower Elegien, 1953 als Teilveröffentlichung, 1969 in der DDR als Gesamtwerk herausgegeben). Uwe Johnson, der die DDR 1959 verlassen musste, sieht in Das dritte Buch über Achim (1961) den 17. Juni 1953 als Ausdruck proletarischer Spontaneität, selbstverständlicher Einigkeit und kollektiver Einmütigkeit. Der 1977 von Werner Heiduczek veröffentlichte Roman Tod am Meer wurde 1978 wegen angeblich antisowjetischer Passagen auf Geheiß des sowjetischen Botschafters in der DDR, Abrassimow, verboten. In der Novelle Der fremde Freund (1982) von Christoph Hein wird der Tag, als die Panzer kamen, als »Sommer der Entscheidung« (Hein 1982, 148) im historischen Bewusstsein der Leser/innen in Ost- und Westdeutschland als bekannt vorausgesetzt. In Seghers’ Roman ist der Ort des Hauptgeschehens wiederum das fiktive Stahlwerk in Kossin, das Problem der Normerfüllung zentrales Thema. Die differenzierte Zeichnung der DDR in den 1950er Jahren – die zunehmende soziale Kluft im Land, die Stalinverehrung und die stalinistischen Prozesse, die Mei-
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nungsdifferenzen innerhalb der SED – erfolgt im Zusammenhang der internationalen Entwicklung unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Der 17. Juni als Ereignis wird über das Verhalten der Figuren reflektiert. Der allwissende Erzähler positioniert sich eindeutig: die Unruhestifter werden den ›Richtigen‹ und ›Gescheiten‹ gegenübergestellt (V, 362). Reine, wie der ›gläubige‹ Thomas, vertrauen auf die Grundidee der solidarischen neuen Gesellschaftsordnung: »›In der ganzen Welt, in allen Großstädten, in Paris und London, in Tokio und in New York demonstrieren die Massen für die Freiheit der Rosenbergs‹« (V, 347). Die schwangere Ella Schanz stirbt den Märtyrertod. Dieser ist die Erlösung für alle Schwankenden und Strauchelnden. Im Sterben sehnt sie Robert Lohse herbei, damit »er endlich herbeikäme und Glück und Freude brächte« (V, 343). Als Absage an jegliche Hoffnung muss das nicht gelesen werden. Bernhard Spies mobilisiert ein emphatisches ›Trotzdem‹: In Seghers Poetik des Aufbruchs ist »durch eine radikale Desillusionierung Hoffnung zu gewinnen« (Spies 2013, 108).
Ein Kreis schließt sich Zur Zeit des Mauerbaus im Sommer 1961 fahren Seghers und ihr Mann auf Einladung des brasilianischen Freundes Jorge Amado, den die Autorin 1948 auf dem Kongreß zur Verteidigung der Kultur in Wroclaw kennengelernt hatte, nach Brasilien. Mit ihm arbeitet sie eng in der Weltfriedensbewegung zusammen, einem Bündnis, das sich Ende der 1940er Jahre angesichts der aufkommenden Gefahr eines Atomkrieges formierte. Seghers wird Mitglied des obersten Gremiums, des Weltfriedensrates. Diese Arbeit führt zur Erweiterung ihres Blicks auf weltpolitische Zusammenhänge. Neue Freundschaften entstehen auf der Basis der gemeinsamen Überzeugungen, etwa mit dem chilenischen Lyriker Pablo Neruda und dem sowjetischen Romancier Ilja Ehrenburg. Eindrücke der Brasilienreise, die sie bis in den Bundesstaat Minas Gerais und dessen Hauptstadt Ouro Preto geführt haben, teilt sie Jorge und Zélia Amado auf der Rückreise nach Europa mit: »Sonderbar, daß wir ohne Dich in Ilheus und in Bahia waren. Deine Bücher hatten uns ja darauf vorbereitet, uns hingelockt. Freilich, dort sah ich vieles, worauf ich nicht vorbereitet war. Vielleicht hast Du als Schriftsteller Deines Volkes, der, wie man sagt, in die Herzen sieht, längst ein Buch begonnen, in dem die gewaltige, wilde, manchmal schwer begreifliche Welt klar und erbar-
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mungsvoll, wie in einer neuen Schöpfung, zutage tritt.« (KuW2, 179)
Neben der Notwendigkeit, weiter zu schreiben, steht über allen Erinnerungen an Erlebtes und Gesehenes die Frage: »Wo fängt die gelebte Wirklichkeit an, wo hört die gedichtete auf?« (ebd., 180). Seghers hat ein neues Thema gefunden – das Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität –, das zwar wenig mit der DDR zu tun hat, das ihr aber als Grundfrage für Leben und Schreiben wichtig ist. Die Reise ist willkommener Anlass einer erneuten Beschäftigung mit Dostojewskij, vor allem unter dem Aspekt des Ursprungs und der Weiterentwicklung einiger Romangestalten des Dichters und deren Beziehungen zu Gestalten von Schiller (vgl. ebd., 181–217; s. Kap. 38). Die Sehnsucht nach der Ferne, die in der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen hervorgehoben wird, hat Seghers nie verlassen. Neben Brasilien, das sie 1963 nochmals besuchen wird, hat sie noch weitere Reisen unternommen und somit das eingelöst, was sie in den Abschiedsreden in Mexiko versprochen hat, nämlich den einzelnen Völkern in ihren Texten eine eigene Stimme zu verleihen. Die Reisen nach Südamerika führen auch zur Überprüfung eigener Lebenslinien und Entscheidungen. Während der Passagen von Brasilien nach Europa entstehen erste Überlegungen zur Erzählung Die Überfahrt, die an Texte der Exilzeit anknüpft. War die Erzählinstanz in Der Ausflug der toten Mädchen von einem unbedingten Willen zur Abfahrt und Heimkehr erfüllt, lesen sich die ersten Sätze dieser Erzählung anders: »Mit einer Abfahrt ist nichts zu vergleichen. Keine Ankunft, kein Wiedersehen. Man läßt den Erdteil endgültig hinter sich zurück. Und was man dort auch alles erlebt hat an Leiden und Freuden, wenn die Schiffsbrücke hochgezogen wird, dann liegen vor einem drei reine Wochen Meer.« (Üf, 279)
Wie in Transit berichtet ein Mann, der Ingenieur Hammer, auf der Überfahrt von einer Begegnung mit dem männlichen Protagonisten, Ernst Triebel – Tropenarzt, Exilant, deutscher Jude –, der kurz vor der Abfahrt seine große Liebe, die tot geglaubte Maria Luise, am Arm eines anderen sah. Sie hat entschieden, ihm nicht in die SBZ/DDR zu folgen. Triebel, erfüllt von den Erlebnissen seines Lebens, muss sein Leid einem anderen Menschen mitteilen. Hier liegt wiederum ein zentrales Motiv im Schaffen der Seghers. Von einem ihrer ersten Texte, in dem der Bischof Jehan
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d’Aigremont seinen Mitgefangenen unbedingt mitteilen will, wie alles gekommen ist, über Transit bis zu dieser Erzählung: Von Anfang an alles erzählen, um es abzuschließen und überwinden zu können. Mit jeder Meile entfernt sich Triebel von dem ihn einst rettenden Exilland und fährt der Heimat entgegen. Am Ende des Erzählten reflektiert Hammer das Vernommene und sagt gleichsam zu sich selbst: »In dieser sich ständig verändernden, weiterstrebenden Welt, in der wir jetzt leben, ist es gut, wenn etwas Festes in einem für immer erhalten bleibt, auch wenn das Feste ein unvergeßliches Leid ist« (Üf, 410). Obwohl die Früchte des Landes verlockend sind, Triebel »ganz benommen von dem Geruch seiner Früchte, aller Früchte des Landes« (Üf, 392) ist, wird im letzten Satz im Moment des Wiederkehrenden das Bild der Heimat evoziert. »Hier und dort im Geäst sah man schon einzelne Äpfel schimmern, goldene und rotgoldene, wie kleine Sonnen« (Üf, 411). Das Leuchten, das Triebel nach dem Verlust Luisas geblieben ist, kann als Erscheinen der Idee des Sozialismus interpretiert werden (vgl. Hilzinger 2000, 74). Diese Erzählung ist vor allem eine Trennungsgeschichte, die Geschichte einer unerfüllten Liebe, die in »sinnlosen Quälereien« (Üf, 404) endet. Die Erzählung gehört zu den intensivsten Geschichten der Seghers, weil sie tief in menschliche Gefühlslagen eindringt. Bewusstes Schweigen und versuchte Antworten Nach der endgültigen Schließung der deutsch-deutschen Grenze zeigen sich große Schwierigkeiten, eine neue Nationalliteratur der DDR zu begründen. Anlässlich des 80. Geburtstages von Franz Kafka fand 1963 unter der Leitung von Eduard Goldstücker (1913– 2000) in Liblice eine Konferenz statt, die wichtige Signale für politische Widersprüche, Zuspitzungen und andere Denkmuster vermittelte. Die internationale Tagung zur Kafka-Rezeption wurde zu einem Feld politischer Auseinandersetzungen. Sie signalisierte nicht nur den Übergang von der Realismus- zur Demokratiedebatte, sondern gilt als eine der zentralen Säulen und Impulsgeber für den Prager Frühling 1968. Seghers gehört zum Kreis der Teilnehmenden, schweigt jedoch (s. Kap. 36 und 39). Erst in der Rede auf dem Internationalen Schriftstellertreffen 1965 in Weimar, das an die Tradition des I. Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur in Paris (1935) anknüpfen wollte, bekennt sich Seghers erneut zu ihren literarischen Vorbildern Lenz und Kafka – »Beide stellten eine düstere
Zeit in bewundernswertem, schnörkellosem Deutsch dar« (KuW1, 150) –, von denen sie, wie von Heine, Büchner und Kleist, viel gelernt hat. Mit Bezug auf die Wirklichkeit in der DDR, die »neu und dauernd verändert ist« (ebd., 153), wiederholt sie ihre Position, dass jede Kunstperiode mit der Entdeckung einer äußeren und inneren Wirklichkeit beginnt, und verteidigt die Haltung der Autoren ihres Landes, die den sozialistischen Realismus »für die beste Methode halten, um die Wirklichkeit darzustellen«; er werde nur »oft mißverständlich erklärt [...], so daß allerlei Unsinn darüber gesagt wird« (ebd.). Hinter diesen Worten verbergen sich zum einen die bewusste Haltung der Autorin zur Kulturpolitik der DDR, zum anderen die Kritik an einer Instrumentalisierung von Literatur, die sich staatlich verordneten Normen beugen soll. 1965 nach dem 11. Plenum des ZK der SED, das einen gewaltsamen Einbruch in die Bereiche von Kultur und Kunst durch die parteistaatliche Obrigkeit bedeutete (vgl. Nagelschmidt 2016, 18–21), fand 1966 die I. Jahreskonferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes statt. Honeckers Kritik, dass es in den Kunstwerken fremde und schädliche Tendenzen gäbe, beantwortet Seghers mit ihrer Rede »Die Aufgaben des Schriftstellers heute. Offene Fragen« (KuW1, 155–167). In der Interpretation eines Gedichts von Johannes Bobrowski verteidigt sie ihr Realismuskonzept: »Die Phantasie verkümmert, wenn man sie unterschätzt und ihr jede Folgerung abnimmt« (ebd., 162). Obwohl es nicht direkt ausgesprochen wird, ist die Warnung vor Zensur und Einmischungen in die Kunst unüberhörbar: »Um das vollkommen gelungene Kunstwerk, das viele subjektive und objektive Voraussetzungen hat, gab und gibt es vorher und gleichzeitig viele Versuche, nur ein Vorgefühl von der neuen, der sozialistischen Welt. Sie dürfen nicht schon im Entstehen eingeschüchtert werden« (ebd., 164). Auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongress, der sich vor allem in der Rede von Max Walter Schulz mit der Subjektivierung der Literatur am Beispiel von Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. beschäftigte, zieht Seghers es vor, an die Delegierten Begrüßungsworte zu richten, in denen sie ihre Skepsis gegenüber der Arbeit der aktuellen Literaturkritik unmissverständlich äußert (vgl. KuW1, 169 f.). Sowohl durch ihr Schweigen als auch durch die Positionierung über ihr Werk sowie durch geschickt eingesetzte Reden ist es ihr in den 1960er Jahren gelungen, Weichen für Veränderungen zu stellen. Ihr Plädoyer für die Integrität des Autors und der Literatur, für die
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Neubestimmung der Romantik, für Phantasie und Phantastik sowie für offene Formen und ihre Stellungnahme gegen Bevormundung und literaturferne Kritik ist unübersehbar. Seghers Eintreten für einen Dialog zwischen den Künstler/innen und den staatlichen Instanzen führte jedoch nicht zur Ablehnung der Zensur. Seghers beteiligte sich nicht an der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit, für die sich die Generation von Christa Wolf, Heiner Müller, Günter de Bruyn oder auch Volker Braun und Christoph Hein ab Ende der 1960er Jahre engagierten (vgl. Zehl Romero 1993, 122). Zwischen Instrumentalisierung und Entdeckung Seit den 1960er Jahren setzte eine wahre Flut von Ehrungen ein. Partei und Staat zeichneten Seghers mit den höchsten zu vergebenen Orden aus – mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold (1960), dem Karl-Marx-Orden (1965, 1969, 1974), dem Orden des Roten Banners der Arbeit (1970), dem Stern der Völkerfreundschaft (1970), dem Großen Stern der Völkerfreundschaft (1975), der Ehrenbürgerwürde von Berlin, Hauptstadt der DDR (1975) und dem Orden Held der Arbeit (1980). Damit wird sie zur Ikone erhoben und stark von ihrem Leben als Schriftstellerin entfremdet. Als Exilautorin galt sie als Instanz im Kampf für ein antifaschistisches Deutschland, das die DDR für sich reklamierte. Ihre bürgerliche Herkunft, ihre jüdischen Wurzeln und die sich daraus speisenden Ideen und literarischen Entwürfe dagegen waren in diesen Diskursen unterrepräsentiert (s. Kap. 50). Christa Wolf, Jahrgang 1929, gehörte zu denjenigen Autor/innen, die in der Zeit der NS-Diktatur sozialisiert wurden und die sich voll Ehrfurcht und Bewunderung der Exilgeneration annäherten. Ihnen gemeinsam war die Artikulation von Schuld- und Schamgefühlen, die vor allem im Wissen um den millionenfachen Mord an den deutschen und europäischen Juden begründet war. Für die Entwicklung ihres Generationsbewusstseins waren die Gründer/innen, die Widerstandskämpfer/innen und die jüdischen Remi grant/innen, die sich bewusst nach 1945 für die SBZ/ DDR entschieden, von großer Bedeutung (vgl. Nagelschmidt 2016, 5). Anna Seghers wurde für Christa Wolf zu einer wichtigen Orientierungsgröße. Der Briefwechsel zwischen beiden begann 1960, als Christa Wolf, den Intentionen des ›Bitterfelder Weges‹ folgend, in Halle an der Saale lebte, und endete kurz vor dem Tod der Seghers (s. Kap. 33). Mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf
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Biermann im November 1976 ging das Vertrauen der Jüngeren in die Älteren mehr und mehr verloren. Wiederholt wurde die Frage gestellt, warum diese Generation, die Verfolgung und Exil am eigenen Leib erfahren hatte, nicht laut ihre Stimme gegen diese Willkür erhob. Ruth Radvanyi erinnerte im Gespräch mit Christel Berger daran, dass ihre Mutter, gerade aus dem Krankenhaus entlassen, darunter gelitten hat, auf der Unterschriftenliste des von Stephan Hermlin initiierten Briefes gegen die Ausbürgerung zu fehlen; zu dessen Erstunterzeichnern gehörten u. a. Jurek Becker, Franz Fühmann, Sarah Kirsch sowie Christa und Gerhard Wolf. »Ich glaube mich zu erinnern, daß sie aus Rücksicht nicht gefragt wurde, einem Protest über eine ausländische Agentur hätte sie sowieso nicht zugestimmt« (zit. nach Berger 1992, 152). Unmittelbar nach den Ausschlüssen von Autor/innen aus dem Schriftstellerverband Berlin, die als Reaktion auf die Kritik an der Ausbürgerung Biermanns erfolgten, wendet sich Seghers am 14.12.1976 an Konrad Naumann, 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED, mit der Bitte, die Bestätigung des Ausschlusses zu verschieben, »denn ich habe den Eindruck, daß die Beschlüsse auf einige der Betroffenen viel tiefer wirkten, d. h. sie nachträglich mehr bestürzten, als ihnen auf der Versammlung anzumerken war« (Br2, 281). Zu ihrer Strategie gehörte es, hinter den Kulissen zu agieren, vermittelnd einzugreifen, ohne öffentlich Position beziehen zu müssen. Das Bewahren des ›Festen‹ In Erzählungen und Novellen ab Mitte der 1960er Jahre nimmt die Erzählerin Seghers bekannte Motive erneut auf und fragt zunehmend nach dem, was Bestand hat im Leben der Menschen. Was in der Lebensbeichte Triebels in Die Überfahrt (1971) im Bewahren des ›Festen‹ betont wird, durchzieht ihr Alterswerk. 1965 veröffentlicht sie den Erzählband Die Kraft der Schwachen, in dem sie zum einen den individuellen antifaschistischen Widerstand und zum anderen die Zeit nach 1945 in der SBZ/DDR literarisiert. Während in der Erzählung Agathe Schweigert die Mutter nach dem Tod des Sohnes im Spanischen Bürgerkrieg die internationale Solidarität seiner Freunde erfährt und damit das ›Gute‹ siegt, erweist sich die Konstellation ›Gut-Böse‹ in der Erzählung Das Duell weit komplizierter. In der Umkehrung des scheinbar Erwarteten – dem Lehrer mit NS-Vergangenheit ist eine glänzende Karriere beschieden, während der andere Lehrer sich für die neue Ordnung aufopfert und stirbt – wird
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die Duellsituation deutlich, in der sich Seghers befindet. Während sie sich über Jahre konsequent der neuen Gesellschaftsordnung verpflichtet fühlte, muss sie nun erkennen, dass das Alte weder in den Strukturen noch in den Einstellungen der Menschen überwunden ist. In einer erneuten Beschäftigung und Weiterführung einer Geschichte der Seghers hat sich Heiner Müller in dem Stück Wolokolamsker Chaussee mit den Diktaturen Faschismus und Stalinismus sowie mit deren Übergängen beschäftigt und dabei in Zweifel gezogen, ob es das ›Gute‹ und das ›Neue‹ überhaupt gibt, es also auch nicht verwirklicht werden kann. Das ›Feste‹ begründet für Seghers die Nachhaltigkeit der in den nächsten Jahren folgenden Kunst- und Künstlergeschichten. In diesen reisen die Erzähler durch Räume und Zeiten, d. h. die Autorin lässt ihre Leser/innen an ihren Überlegungen zum Stellenwert von Kunst und Gerechtigkeit teilhaben, indem sie auf Mythen und Sagen zurückgreift und so dem Phantastischen eine wichtige Rolle zuschreibt. In diesem Zusammenhang gewinnt für sie auch die Bildende Kunst neuerlich Bedeutung; eine Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft widmete sich 2008 dem Thema (vgl. Argonautenschiff 2009). In ihrem poetischen Werk und in der politisch-kulturellen Arbeit – 1978 wird Seghers Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR – ist es ihr Bestreben, durch Kommunikation Gemeinschaften zu stiften, in denen der Einzelne sich selbst erkennen kann. Das Alterswerk der Seghers ist »von einem tiefen Konflikt zwischen ihrer im bisherigen Leben angelegten Sehnsucht, Botschaft zu bringen, und der von der Wirklichkeit geforderten Notwendigkeit, Kritik zu leisten« gekennzeichnet (Zehl Romero 1993, 120). Über Kunst und Künstler In der Künstlergeschichte Das wirkliche Blau (1967), in der Seghers wiederum auf die Vielfalt Mexikos zurückgreift, ist der Töpfer Benito auf der Suche nach ›seinem‹ Blau. Seine Erzeugnisse, die fern der Massenproduktion entstehen und seine Käufer faszinieren, sind individuell gefertigte Einzelstücke. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kann die deutsche Firma, die den Farbstoff lieferte, den Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, so dass Benito zunächst andere Farben ausprobiert. Schnell wird ihm bewusst, dass er so sich selbst und seine Kunden verleugnet. »Ich habe mir etwas aufdrängen lassen von dem verdammten Don Victor. Warum? Aus Angst vor Not. Anstatt immer weiter zu suchen, zu suchen nach dem Blau, an dem mein
Herz hängt, das Blau, das mir allein und wahrhaftig zusteht. Weil ich mich nicht daran hielt, ist mir so was Schlechtes geschehn« (DwB, 17). Nach dieser Erkenntnis begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise mit der Eisenbahn, dem Autobus und schließlich zu Fuß durch Schluchten, Täler, Wälder und das Gebirge bis er zu den Geröllhalden eines Bergwerkes vordringt. Getragen von der Solidarität der Gemeinschaft erreicht er sein Ziel und kommt wieder in den Besitz seiner Farbe. Nach seiner Rückkehr Monate später lässt er mit seinem Geschirr den Menschen das Herz aufgehen (vgl. DwB, 88). Das Angebot des Händlers, wieder liefern zu wollen, kann er, der sein Volk und dessen Hilfe kennengelernt hat, nun ausschlagen. Die Geschichte endet in ungebrochenem Optimismus: »Ich hab mein Blau gefunden. Und hol mir’s selbst, wenn ich’s brauche. Einmal für allemal« (DwB, 90). Die Erzählung verwebt Bilder, die Seghers aus Mexiko kennt: das Bunte und Lebendige der Bauernmärkte, die Farbigkeit des Geschirrs, die Fresken von Diego Rivera, die bunten Umschlagtücher, den Rebezo der Frauen, in dem sich auch Frida Kahlo porträtierte. Das wiederkehrende Motiv Blau ist die Farbe der Kunst und somit auch als Botschaft zu verstehen, sich zu Sehnsüchten und Träumen zu bekennen. Träume sind ein Teil der Wirklichkeit, der Mensch muss es wieder lernen, sie zuzulassen und ihnen zu vertrauen. Benito lässt seinen Traum im Wissen um die Einmaligkeit seines Handwerks Realität werden. In diesem Sinn versteht sich die Erzählung als Parabel. Es ist Seghers’ Überzeugung, nur das als Stoff zu verarbeiten, was sie selbst bewegt; das Individuelle, Einzigartige, das durch nichts anderes zu ersetzen ist. In der phantastischen Erzählung Die Reisebegegnung lässt die Autorin in einem Prager Café drei Autoren zusammenkommen, die in der Realität nie zueinander gefunden hätten: der deutsche Dichter der Romantik E. T.A Hoffmann (1776–1822), der russische Dichter N. W. Gogol (1809–1852) und der Prager deutsche Autor Franz Kafka (1883–1924). In dieser Künstlergeschichte des Jahres 1972, die zu den dichtesten Reflexionen über Kunst und Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört, nimmt Seghers die sie seit Jahrzehnten beschäftigende Frage nach dem Realismus in Kunst und Literatur erneut auf und überprüft diese an der Poetologie der Autoren. Alle drei lesen sich Teile ihres Werkes gegenseitig vor und stellen sich den an sie gerichteten Fragen. Hoffmann erzählt von seinem Ritter Gluck, Gogol liest einen Auszug des Romans Die toten Seelen und Kafka trägt die Geschichte Der Kübelreiter vor. Auf dieser Grund-
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lage basiert das Gespräch über die Möglichkeit von Literatur. Es ist eine Diskussion über das Sonderbare – die Geschichte ist Teil des Erzählbandes Sonderbare Begegnungen –, das Spiel von Realität und Phantastik sowie den freien Umgang mit Raum und Zeit. Das Licht gehört zu den Grunderfahrungen und tragenden Motiven im Gesamtwerk der Autorin. Die Licht-Dunkel-Relationen hat sie bereits im Werke Rembrandts untersucht (s. Kap. 34) und so lässt sie nun Hoffmann über die Darstellung der Wirklichkeit als Ganze sagen: »Ein Lichtpünktchen muß man aufglänzen sehen. Gewisse dunkle Bilder, zum Beispiel von Rembrandt, bekommen erst ihren Sinn durch solche kleinen, richtig eingesetzten Lichter« (SB, 198). Stets sind sie Zeichen der Hoffnung. Seghers’ Geschichte ist ein wichtiger Beitrag zu der in den beginnenden 1970er Jahren erneut aufgenommenen Erbe- und Realismusdiskussion. Im Wechselspiel der Auffassungen der drei Autoren, die unterschiedliche Sprachen sprechen, sich jedoch in einer Sprache, der der Kunst, verständigen, werden Aspekte zum Verhältnis von ›wahr‹ und ›wirklich‹ verhandelt: »Die meisten verstehen darunter nur das Derb-Wirkliche. Das Sichtbare und das Greifbare. Sobald die Wirklichkeit in Geträumtes übergeht, und Träume gehören zweifellos zur Wirklichkeit – wozu sollten sie denn gehören«, aber davon verstehen die Leser nicht viel, sagt Kafka (SB, 180). Dieser Positionierung der Dichtung stimmt Gogol zu: »Auch im Phantastischen, meine ich, herrscht das Gesetz der Zeit« (SB, 182). Unmissverständlich ist Seghers’ Plädoyer für ein Spiel mit den Imaginationen, wenn Hoffmann bekennt: »ein Dichter darf sich Erfindungen erlauben« (SB, 196). Abschiede Mit ihrem letzten Erzählband Drei Frauen aus Haiti (1981) knüpft Seghers an die Karibischen Geschichten (1962) an. Wiederum ist es ihr eurozentrischer Blick auf die Welt der Kolonisierten und Aufbegehrenden, den sie nicht abgelegt hat. In der Erzählung Die Trennung ist Luisa in der Aufnahme des biblischen Motivs die Entsagende, diejenige, die zunächst vergeblich auf den Geliebten wartet, der aus politischen Gründen eine andere Frau heiratete, und endgültig auf den Geliebten verzichtet und ihn mit einer jungen Frau zusammenbringt, nachdem sie misshandelt und verstümmelt worden war. Der Satz, kurz vor ihrem Tod gesprochen, trägt all das in sich, was Seghers einst in ihrem Tagebuch festgehalten hat und was als Maxime ihres Lebens zu verstehen ist.
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»Hast du mir nicht selbst immer gesagt, man kann ohne Freude nicht leben? Es gibt eine Freude, die aus dem Menschen nach außen dringt, dadurch kann sie ihn auch erregen und froh machen.« (DFH, 362 f.)
In diesem Schlüsselsatz liegt in der Unauflösbarkeit der Geschichte, im Verzicht auf realitätsnahe Deutungen, das Besondere des Alterswerkes: das Erkennen der Farbigkeit und der Hintergründe den Leser/innen zu überlassen. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr das große Ganze und der politische Aufbruch, sondern das Scheitern und das Opfervermögen einzelner Menschen. Dass Seghers diese Haltungen an eine weibliche Hauptfigur bindet, lässt Nähen zu ihrem eigenen Leben zu. Im Jahr 1978 stirbt ihr Mann und Anna Seghers tritt als Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR zurück. Im Brief an das Präsidium vom 28.2.1978 formuliert sie ihr Vermächtnis an den Nachfolger, der ein höchstmögliches »Maß von Geduld und Gerechtigkeit« brauchen wird und für Entschlüsse »Menschlichkeit und Bescheidenheit, tiefes Nachdenken« besitzen muss (Br2, 286). Die letzten Jahre der Seghers sind durch monatelange Krankenhausaufenthalte sowie von zunehmender Gebrechlichkeit überschattet. Das führt dazu, dass sie ihre Wohnung verlassen und in das Pflegeheim des Regierungskrankenhauses in Berlin-Friedrichsha gen, Werlseestraße 37–39, umziehen muss. Dort stirbt sie am 1.6.1993. Anna Seghers wird mit einem Staatsakt in der Akademie der Künste geehrt und findet neben ihrem Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin ihre letzte Ruhestätte. In seiner Gedenkrede »Woher sie kam, wohin sie ging« hebt Hans Mayer das Bleibende ihres Werkes hervor: »Wer sich auf Anna Seghers einlässt und sie nach ihrem Tod ehrt, fragt gleich ihr nach den Ursprüngen und Aussichten der Menschen in aller Welt. Der meint es ernst mit der Geschichte und unserer Zukunft. Er fragt mit Anna Seghers in jedem Augenblick: woher sie kommen und wohin sie gehen. Der hat sie verstanden, die Schriftstellerin Anna Seghers aus Mainz. Dem entzieht sie sich nicht. Ehre ihrem Andenken.« (Mayer 1992, 82)
Erinnerungen der Familienmitglieder Pierre Radvanyi ist seit Jahrzehnten aktiv, die Erinnerung an seine Mutter zu erhalten. Er ist sich sicher, wer das 20. Jahrhundert verstehen will, der müsse ihre Bücher lesen, vor allem Transit und Das siebte Kreuz (vgl.
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Krause 2011). Geboren 1926 in Berlin als Peter Radvanyi, erlebte er das Exilschicksal der Familie als Kind und Jugendlicher mit. In dem 2005 veröffentlichten Selbstzeugnis Jenseits des Stroms berichtet er davon. Seine Mutter habe stets Wert auf Bildung gelegt und sichergestellt, dass er und seine Schwester zur Schule gingen. Selbst im besetzten Paris und auf der Flucht durch Frankreich suchte Seghers umgehend eine Schule für die Kinder (vgl. Radvanyi 2005, 49 f., 57, 63). Im mexikanischen Exil ging Pierre auf ein französisches Gymnasium und erlangte das Abitur, was ihm – trotz einiger widriger Umstände – 1945 ermöglichte, mit einem Stipendium zurück nach Paris zu gehen und dort Physik zu studieren (ebd., 85 f., 101 f.). Monika Melchert beschreibt, dass Pierre der Mutter sehr nahestand (vgl. Melchert 2006, 56). Das MutterSohn-Vertrauen ist bereits während der Flucht aus Paris entstanden, in der er der Mutter »wie ein Mann« zur Seite stand (ebd., 59). Als er nach der Rückkehr nach Europa begann, sich ein Leben in Frankreich aufzubauen, half ihm die Mutter aus der Ferne, Kontakte in Paris und anderen Städten wiederherzustellen (vgl. ebd., 61). In Jenseits des Stroms und in zahlreichen Interviews zwischen 1990 und 2015 gibt Pierre Radvanyi Einblick in die Arbeitsweise der Mutter. Wenn sie schreiben wollte, ging sie entweder in ein Café oder mit einer Schreibkraft eine Woche in ein Hotel; oder sie wies die Familie darauf hin, einige Stunden ungestört arbeiten zu wollen, und setzte sich mit Tisch und Stuhl nach draußen (vgl. Radvanyi 1990, 520). In der Erinnerung sind ihm weiterhin gemeinsame Waldspaziergänge geblieben (vgl. Radvanyi 2005, 26). Seghers konnte sich einfühlen und verwendete für ihre Geschichten neben selbst erlebten Begebenheiten auch das, was ihr erzählt worden war (vgl. Radvanyi 1990, 515 f.). Ihr Mitgefühl und ihren Sinn für Gerechtigkeit, Verantwortung und Loyalität vertrat sie bis an ihr Lebensende (vgl. ebd., 516; vgl. Radvanyi 2005, 138). In den Berichten des Sohnes wird Seghers als disziplinierte und widerständige Frau lebendig, die intuitiv und empathisch war. Nur einmal habe Pierre sie weinen sehen: Das war im Sommer 1940, als er ihr erzählen musste, dass er und die polnische Freundin Else in der verlassenen Wohnung in Bellevue ein Manuskript von Das siebte Kreuz fanden und Else es verbrannte, damit es der Gestapo nicht in die Hände fällt (vgl. Radvanyi 2005, 51 f.; vgl. Radvanyi 1994, 186). Die Eltern pflegten ein großes Geflecht an Freundschaften. Pierre Radvanyi berichtet auf der Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft im Jahr 2013 über Freundinnen und Freunde seiner Mutter, darunter
Egon Erwin und Gisela Kisch, Helene Weigel und Bertolt Brecht, Theo Balk und Philipp Schaeffer (Radvanyi 2015, 82 f.). Besondere Erwähnung findet Fernand Delmas, der ein Manuskript von Das Siebte Kreuz aufbewahrte und während des Krieges ins Französische übersetzte. Neben diesem Roman hat Transit eine besondere Bedeutung für den Sohn: Er lese es immer wieder gern, weil seine eigene Geschichte darin stecke. Außerdem hatte die Mutter ihn gefragt, welches Ende sie für Transit wählen sollte (vgl. Radvanyi 1994, 187). Zu Lebzeiten der Mutter war Pierre Radvanyi ihr Vertrauter und – neben Ehemann Laszlo – Ratgeber für ihr Werk, dazu ein begieriger Zuhörer und Leser. Er stellte zudem Dokumente aus dem Nachlass zur Verfügung, damit sie veröffentlicht werden konnten. Im Jahr 2000 brachte er gemeinsam mit Christiane Zehl Romero die Geschichte Jans muß sterben heraus, die zum Frühwerk Seghers’ gehört. Das Typoskript fand er in alten Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Flucht. Mittlerweile über neunzigjährig kam Pierre Radvanyi 2018 aus Paris, um bei einem Lesefest in Frankfurt am Main aus Das Siebte Kreuz zu lesen und erneut von den Erinnerungen an die Flucht vor der Wehrmacht und von der Arbeitsweise der Seghers zu erzählen (vgl. Glatthor 2018). Dabei scheint er stets geleitet von guten Gedanken an eine Schriftstellerin und Mutter, die »so wunderbar erzählen« konnte (Radvanyi 2005, 142). Seghers’ Tochter Ruth Radvanyi, geboren 1928 in Berlin und 2010 verstorben, verschloss sich dagegen zuerst dem schriftstellerischen Werk ihrer Mutter – »aus jugendlicher Opposition« (Berger 1992, 150). Später begann sie die kürzeren Prosatexte zu mögen, z. B. Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok. Im Gegensatz zu Pierre war Ruth der Mutter in der DDR näher. Dadurch blickt sie möglicherweise kritischer auf manchen Charakterzug: »Die Mutter hat uns nicht immer alles erzählt, sie hat sich hinter dem Schreiben versteckt, vieles runtergeschluckt«, berichtet Ruth Radvanyi in einer Ausgabe des Argonautenschiff (Díaz 2003, 210). Auch von ihrem Ärger im Schriftstellerverband der DDR erzählte Seghers nichts, um die Tochter nicht zu behelligen, wie diese vermutet (vgl. Radvanyi 2005, 290). Ruth Radvanyis Erinnerungen an die Mutter finden sich in Interviews, die sie zwischen 1990 und 2005 gab. Motiviert durch die Kritik Anfang der 1990er Jahre an Seghers’ Schweigen im Walter-Janka-Prozess (s. o.), begann sie Erkundigungen anzustellen. So fand sie heraus, dass ihre Mutter zweimal bei Walter Ulb-
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richt vorsprach, ohne jedoch etwas für Janka erreichen zu können (vgl. Radvanyi 1990, 7). Im Gespräch mit Michael Hinze 1990 machte sie klar, dass sich ihre Mutter in der DDR für viele Menschen eingesetzt, gleichzeitig jedoch nie Kritik am Staat über westdeutsche Medien geübt hat. Sie betonte weiter, ihre Mutter sei keine ›Heilige‹ gewesen: »Es hat ihr, und [...] ihrer Familie, nie gefallen, sie auf Podeste gestellt zu sehen« (ebd.). Das Engagement der Tochter in den 1990er Jahren umfasst die Beteiligung an der Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft, was sie als eine Pflicht gegenüber der Mutter empfand (vgl. Berger 1992, 150). Ruth Radvanyi gab außerdem 1994 mit Frank Wagner und Ursula Emmerich die Seghers-Biographie in Bildern heraus, für die sie einige kurze Erinnerungsbeiträge schrieb. In einem Beitrag blickt sie auf die gemeinsamen Exiljahre zurück und beschreibt, dass die Eltern, ihr Bruder und sie eine Einheit bildeten. Selbst als Erwachsene gab ihr die Mutter noch das Gefühl der Geborgenheit (vgl. Wagner/Emmerich/Radvanyi 1994, 105). Sie beschreibt das Mutter-Tochter-Verhältnis als tief und positiv (vgl. Berger 1992, 153). Pierre und Ruth Radvanyi geben in Gesprächen und Selbstzeugnissen Aufschluss über Seghers. Während die Jahre der Flucht und des Exils sehr ausführlich in den Erinnerungen beschrieben werden, sind die Jahrzehnte in der DDR eher spärlich vertreten. Ruth Radvanyi beschreibt die politischen Konfliktlinien etwas offener. Pierre Radvanyi verhält sich eher zögerlich, wenn er nach den politischen Überzeugungen seiner Mutter gefragt wird (vgl. Glatthor 2018). In Jenseits des Stroms schreibt er, es sei ihr wichtig gewesen, sowohl im Osten als auch im Westen gelesen zu werden: »Sie wollte ihr Talent in den Dienst ihres Engagements stellen, wollte, daß ihre Bücher die Menschen menschlicher machten und zu ihrer Veränderung beitrugen. Andererseits wollte sie sie auch zum Träumen bringen« (vgl. Radvanyi 2005, 124 f.). Literatur
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Ilse Nagelschmidt (Kap. 1.1–1.6) / Sina Meißgeier (Kap. 1.7)
II Werk
2 Grubetsch (1927) Die Erzählung ist unter dem Pseudonym Seghers (ohne Vornamen) vom 10. bis zum 23.3.1927 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung und im Handelsblatt erstmalig veröffentlicht worden. Es handelt sich um die zweite literarische Veröffentlichung, doch weil die erste Erzählung, Die Toten auf der Insel Djal, die unter dem Pseudonym Antje Seghers 1924 erschien, erst 1979 wiederentdeckt wurde, galt Grubetsch lange als erste Veröffentlichung Seghers’ (vgl. Beicken-WA II/1, 297). 1930 folgt zusammen mit drei weiteren Erzählungen die Buchpublikation in dem Sammelband Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft im Gustav Kiepenheuer Verlag. Entstehung und Veröffentlichung fallen in die ersten Berliner Jahre Seghers’, in denen sie sich zusammen mit ihrem Ehemann Lászlo Radványi sowohl familiär einrichtet – 1926 bringt sie ihr erstes Kind zur Welt –, als auch parteipolitisch engagiert: 1928 tritt sie in die KPD ein; 1929 wird sie Mitglied im Bund proletarisch revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS). Grubetsch entsteht im Kontext neusachlicher und engagierter Literatur, ist aber auch aus Seghers’ Beschäftigung mit der Existenzphilosophie (Jaspers, Kierkegaard) erwachsen; dies nicht zuletzt bedingt durch das Dissertationsprojekt ihres Ehemanns (vgl. Trapp1997; Suhl 2002).
Inhalt Interne Fokalisierung, jähe Perspektivwechsel und dramatischer Modus geben wenige Orientierungspunkte in der sich in 44 Abschnitte gliedernden Erzählung. Handlungsort ist der Hof einer Mietskaserne, der eingangs minutiös beschrieben wird und dessen Enge und Düsternis für die soziale Misere der Bewohner/innen steht. An der Licht- und Farbmetaphorik zeigt sich Seghers’ kunsthistorisch geschulter Realismus (vgl. Hilzinger 2000, 44). Übertragen liest sich der Hof als großstädtischer Lebensraum des Proletariats der 1920er Jahre; allerdings handelt es sich um ein Proletariat noch ohne Klassenbewusstsein. Dem gegenüber steht die Titelfigur, die regelmäßig im Winter von außen wie eine Heimsuchung im doppelten Sinne zu den Menschen in den Hof kommt. Doppelt deshalb, weil
der Flößer Grubetsch tatsächlich eine Heimstätte sucht und er zugleich für die Menschen »ein Unglück« (Gr, 12) ist, das sie bereitwillig über sich ergehen lassen. Zentrale Figuren sind der Dreher Martin, ein Zugereister, der mit seiner jüngeren Schwester Ann (zur Schreibweise ›Ann‹ und nicht ›Anna‹ wie in anderen Textausgaben s. WA II/1, 266) und seiner aus der Stadt stammenden Ehefrau Marie in einer der Hofwohnungen lebt. Von den Nachbarn sind ferner das Ehepaar Sebald mit ihrem kleinen Sohn zu nennen sowie Paul, der der spätere Liebhaber von Sebalds Frau wird. Überdies ist der Hausbesitzer Schlenker zu beachten, dessen Besuche im Hof zum Eintreiben der Miete handlungstragende Bedeutung haben. Die anderen Figuren wie etwa der Gastwirt Munk oder Figuren, die nicht mit Eigennamen, sondern nur über Äußerliches wie ›der Rote‹ oder ›der Dicke‹ gekennzeichnet werden, dienen als Statisten des Elendstheaters, das die Erzählung aufzeigt. Die Gegenwartshandlung, der die Erzählung folgt, ist dadurch bestimmt, dass Martin sich auf eigentümliche, bei genauer Lektüre als auf homoerotisch konnotierte Weise zu Grubetsch hingezogen fühlt und ihn zu sich nach Hause einlädt, wo er den beiden Frauen begegnet, die beide ihrerseits von Grubetsch angezogen sind. Hier zeigt sich die Spiegelfunktion. Grubetsch repräsentiert die Sehnsucht seines jeweiligen Gegenübers. Dies wird in Form zweier Analepsen belegt: Sebald und Katharina, eine ehemalige Geliebte, suchten beide Grubetschs Nähe, beide zerbrachen daran, wobei die Titelfigur den jeweiligen Untergang zulässt; Sebald ist mit einer tödlichen Geschlechtskrankheit von einer gemeinsamen Schiffsreise zurückgekehrt und zieht mit seinem physischen Verfall seine Familie in den ökonomischen Untergang und Katharina verzehrt sich als unglücklich Liebende buchstäblich nach Grubetsch. In der Gegenwartshandlung wiederholt sich dies; Grubetschs erotischer Einfluss lässt Ann nach einer Affäre mit ihm zur Prostituierten werden. Marie bietet sich ihm sexuell an und verlässt gelangweilt von Martin ihren Mann, der schließlich dem Alkohol verfällt und seine Arbeit verliert. Grubetsch wird am Ende in einem Moment der Schwäche von Paul unter den wohlwollenden Augen der anderen Hofbewohner ermordet. Doch liest sich das Ende nicht als Befreiung von ei-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_2
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nem Übel, sondern die Elendsspirale geht weiter, das Leben bleibt »gewöhnlich[]« (Gr, 71).
Zeitgenössische Rezeption Für Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara erhält Seghers 1928 von Hans Henny Jahnn als erste Frau den Kleist-Preis, der vor allem ihre Formkraft und den »mitschwingende[n] Unterton sinnlicher Vieldeutigkeit« betont (Jahnn, zit. nach Zehl Romero 2000, 213). Jahnn erkennt in beiden Texten Seghers’ »starke Begabung im Formalen« und lobt den analytischen Blick der Autorin, die das »Menschliche« selbst, ohne es zu verklären, darzustellen versteht (ebd.). Der Preis machte die junge Autorin schlagartig bekannt. Da Seghers die Erzählung nur mit dem Nachnamen signierte, kam den zeitgenössischen Kritikern nicht in den Sinn, dass es sich um einen Text einer Frau handeln könnte (vgl. Schrade 1993, 22; Zehl Romero 2000, 214). Mit der Preisverleihung trat Seghers als Kommunistin sowie als Frau in die Öffentlichkeit; beides schlägt sich in den Kritiken nieder (vgl. Zehl Romero 2000, 215 f.).
Forschung Die Rezeption wurde durch Seghers’ Selbstanzeige aus dem Jahr 1931 geleitet, in der sie eine Leserichtung von der Titelfigur als dämonischem Verführer (vgl. Sauer 1978, 54; Zehl Romero 2000, 201; BeickenWA II/1, 297 f.) stark macht: »›Grubetsch‹: Ein böser Hof, und in dem Hof ein Mann, der es versteht, die geheimen Wünsche der Menschen nach Zugrundegehen zu erraten und jedem in seiner Weise zu erfüllen« (KuW2, 11). Zudem unterstreicht die Typoskriptfassung bzw. handschriftliche Version, die »[v]ier wichtige kapitellange, aber gestrichene Teile« (Beiken WA II/1, 298) enthält, diese Interpretation. Setzt man nun bei Seghers’ Entscheidung an, bestimmte Passagen zu streichen, so liest sich die Titelfigur weniger als Charakter (sein Vorname wird nicht genannt), dessen Beweggründe zu hinterfragen wären (vgl. Schrade 1993, 8), sondern vielmehr als Reflektor, der die Sehnsüchte der Notleidenden und Unzufriedenen sichtbar macht. Da ihm aus seiner zerstörerischen Kraft kein Vorteil erwächst und Grubetsch sich zudem empathisch z. B. mit Martin oder Sebalds Sohn zeigt, können die durch ihn ausgelösten Untergänge kaum als intentional gewertet werden. Klaus Sauer erkennt
die Mehrdeutig der Figur: Grubetsch muss »nicht nur als Vollstrecker der Lust am Untergang, sondern zugleich als Träger einer freilich irrationalen utopischen Erwartung gelten« (Sauer 1978, 55). So steht Grubetsch für das Prinzip des Individualismus; seine Obdach- und Familienlosigkeit wird ebenso wiederholend festgestellt wie seine sommerliche Freiheit von allen sozialen Verantwortungen, wenn er »auf den Floßen zur Grenze« (Gr, 14) unterwegs ist. »Grubetsch [ist] nicht jemand, der die Welt verändern oder verbessern will« (Schrade 1993, 8). Er ist der »Katalysator« (Trapp 1997, 40), der die Sehnsüchte der anderen zwar nicht erzeugt, aber anstößt. Eben dieses individualistische Handeln erscheint als Gegenwartsdiagnose (vgl. Haller-Nevermann 1997, 41), denn für die Proletarier in der Hofgemeinschaft erweist sich der Grubetsch-Weg gerade nicht als konstruktiver Ausweg aus den sozialen Problemen. Die Schluss-Szene wirkt verstörend wegen ihrer »ungeheure[n] Härte und unerwartete[n] Grausamkeit (der Ermordung Grubetschs)« (Schrade 1993, 10), so dass die Gegenwehr der Hofbewohner in der Erzählung nicht positiv als Analogie zu einer politischen Selbstermächtigung der Unterdrückten gestaltet wird, sondern als Meuchelmord. Mit den Themenfeldern Armut, Hunger, Krankheit, Alkoholismus, Erwerbslosigkeit und Gewalt ist die Nähe sowohl zu Dostojewskijs Schuld und Sühne (vgl. Batt 1973, 32, 36) als auch zu Büchners Woyzeck gesehen worden; Peter Beicken liest Seghers’ Erzählung als »freie[] Anverwandlung« von »Woyzeck-Motive[n]«, indem etwa der Hof als »soziales Gefängnis« angelegt ist, wodurch die Figuren wie in Büchners Dramenfragment zum Mord getrieben werden (Beiken 2015, 236; vgl. Ohl 2014). Ohne dass Seghers in dieser frühen Erzählung schon die parteipolitische Organisation und damit den politischen Kampf als Lösungsweg narrativiert, deutet sich dieser in der Negativdarstellung des unsolidarischen Wegs an. In der Forschung ist vielfach festgestellt worden, dass die literarischen Texte vor Seghers’ Exilerfahrung die »Entwicklung von der bürgerlichen Künstlerin Anna Seghers zur sozialistischen Autorin« (Suhl 2002, 43) illustrierten (vgl. Kaleyias 1981; Haller-Nevermann 1997). Gerade weil die Figuren noch keine selbstbewusste Identität als Proletarier/ innen gewonnen und weil sie den Blick noch nicht auf den gemeinschaftlichen Kampf gegen die sozialen Missstände, in denen sie leben, gerichtet haben, bleiben sie in ihrem Elend stecken. Die egoistischen Ausbrüche führen nicht ins Glück, sondern »das ungestal-
2 Grubetsch (1927)
te Hervorbrechen einer rauschhaften Leidenschaft« (Schrade 1993, 9) wird mit Krankheit, Tod oder sonstiger Zerstörung bestraft. Schrade (1993, 8 f.) wertet die negative Wirkung Grubetschs auf Marie als besonders brisant, dies ist jedoch nicht ganz plausibel. Zwar fungiert sie als vitale weibliche Gegenfigur zu den anderen Frauen, doch ist sie keine positive Figur, deren spätere Hinwendung zu Grubetsch »[a]m tragischsten« (ebd., 9) sei, wie Schrade ausführt. Sie ist im Gegenteil böse und kalt; so sieht man sie zu Beginn der Erzählung mit Ann am Fenster, doch statt das liebebedürftige Kind zu umarmen, wiegt sie lieber ihre Brüste »wie zwei schöne Kinder« (Gr, 12). Sie ist die Verführerin des eigentlich braven und pflichtbewussten Martin; ihretwegen vernachlässigt er seine Schwester: Seine Hand wechselt von seiner Schwester zu Marie »wie ein Hund, den sein Herr vergessen hatte« (Gr, 12). In Grubetsch findet sich das Muster antagonistischer Frauenfiguren, die eine sexuell attraktiv und vital, die andere physisch schwach und unscheinbar (vgl. Schuhmann 1994, 38). Ute Brandes (1992, 32) kommt zu dem Schluss, dass Seghers Sexualität als (vergeblichen) Ausbruchsversuch aus dem sozialen Elend darstellt. »Sex ist Frauen und Männer in bestem Fall eine kurzfristige Ablenkung, für Frauen im meist eintretenden schlimmsten ein Akt der Verzweiflung und Selbstzerstörung« (Zehl Romero 2000, 200 f.; vgl. Lorisika 1985). Schließlich ist verschiedentlich auf die märchenhaften, mythologischen und religiösen Elemente hingewiesen worden. Für Albrecht (1975, 36) ist gerade der sich in der märchenhaft-surrealen Erzählweise ausdrückende, psychologische Gehalt der Figurenzeichnung zentral. Sonja Hilzinger (2000, 89) macht auf die dem Hades nachempfundene Konzeption des Hofs aufmerksam und Małgorzata Dubrowska (2009, 305) weist verschiedene Bibelreferenzen nach, die den Hof als Gott fernen Ort und die gesamte Erzählung als »Passionsgeschichte ohne Erlösung« ausweisen, wobei Hilzinger betont, dass die Erzählung gerade »die Erlösungsbedürftigkeit von Menschen zu Be-
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ginn des 20. Jahrhunderts« (Hilzinger2000, 90) veranschauliche. Literatur
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Corinna Schlicht
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3 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) »Was der Panzerkreuzer Potemkin vor drei Jahren für den Film bedeutete, bedeutet der Aufstand der Fischer von St. Barbara für die moderne deutsche Literatur.« Mit dieser Anzeige warb der Kiepenheuer Verlag (Potsdam) für den 1928 mit dem Kleist-Preis ausgezeichneten Text von Seghers (vgl. Bark 2004, 105). Eine Genrebezeichnung und der Vorname der Autorin fehlen; der wird erst in der 2. Auflage genannt. Ort und Zeit sind unbestimmt in diesem ›kleinen Roman‹; mit seinen mythischen und religiösen Elementen steht er dem traditionellen Genre des Epos nahe. »Angeregt wurde der äußere Handlungsverlauf von Aufstand vermutlich von den sich über mehrere Jahre hinziehenden Unruhen in der Bretagne. In Seghers’ Nachlass befindet sich eine Seite aus der AIZ (Arbeiter-Illustrierte Zeitung) vom 3.8.1927 mit der Überschrift »Streik der bretonischen Fischer« (Fehervary WA I/1.1, 106). Über die Entstehungsgeschichte dieses literarischen Textes, der kurz nach der Geburt von Seghers’ Tochter Ruth erschien, ist wenig bekannt. Mit 27 hat Seghers diese Erzählung geschrieben, zwei Jahre nach der Eheschließung mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi, der Leiter der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) war und auch als der politische Mentor von Anna Seghers angesehen wurde. Als Anna Seghers im Jahr der Preisverleihung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und kurz darauf dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS) beitrat, hatte das weitgehende Konsequenzen für die Bedingungen und Zielsetzungen ihrer Tätigkeit als Autorin, denn ihrem literarischen Schaffen erschlossen sich so neue Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit (vgl. Bähtz 2000, 174 f.). Die Vorliebe zum Schreiben ist bereits in ihrer Kindheit verwurzelt. Ihre Isolation als Einzelkind betrachtet Seghers als einen Auslöser ihrer kreativen Imagination (vgl. Bangerter 1980, 2 f.). Die ersten schriftstellerischen Anfänge waren in dem von der Mutter erstellten Puppenhaus, wo sie Märchen schrieb und ihren Märchenband der Mutter widmete. In einem Interview mit Christa Wolf äußerte sie sich zu ihren ersten Schreibimpulsen als Kleinkind: »Als kleines Kind, als ganz kleines Kind, bevor ich in die Schule kam und im ersten Jahr, in dem ich in die Schule ging, war ich oft krank, und dabei lernte ich verhältnis-
mäßig früh lesen und dadurch auch schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich, weil ich allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte, und manchmal schrieb ich auch drei Sätze, sozusagen zu Abziehbildern.« (KuW2, 36)
Der Einfluss der literarischen Interessen der Mutter prägte Anna Seghers’ Vorliebe für Autoren der deutschen Klassik, besonders für Schiller. Genauso nachhaltig allerdings war die in der Studienzeit erworbene sozialhumanistische Weltanschauung, die ihre Ästhetik als Schriftstellerin lebenslang kennzeichnete (vgl. Bangerter 1980, 7 f.). 1947 publizierte Kiepenheuer (Weimar) die erste Nachkriegsausgabe; in der BRD erschien Aufstand erstmals 1954 in der Bibliothek Suhrkamp. Es folgten weitere, auch illustrierte Ausgaben in Ost und West. Heute firmiert Aufstand der Fischer von St. Barbara unter den ›Meisterwerken deutschsprachiger Autorinnen‹ (vgl. Solbach 2005).
Inhalt, Konzeption und Schreibweise »Der Aufstand der Fischer von St. Barbara endete mit der verspäteten Ausfahrt zu den Bedingungen der vergangenen vier Jahre« (AdF, 5). Der Text der Erzählung umfasst knapp 100 Seiten und ist in fünf etwa gleichlange Abschnitte gegliedert, nur der letzte ist kürzer. Die Erzählung beginnt mit einer Exposition, die die Leser/innen mit den Schauplätzen der Handlung vertraut macht sowie die Charaktere und den miserablen Alltag der Fischer schildert. Der Rädelsführer Hull und sein Anhänger Andreas kommen einander näher. Die anderen Figuren – die junge Maria, Kedenneks Frau und ihre kleinen Kinder sowie Andreas Bruyn– werden vorgestellt. Die Forderung nach höheren Löhnen wird zum Auslöser des Konflikts mit der Reederei. Die Fischer stürmen und verwüsten deren Büro in St. Barbara, aber der Aufstand der Fischer scheitert und die Soldaten zwingen sie am Ende wieder zu den alten Bedingungen auf die Schiffe. Gleichwohl sind die Besiegten nicht ohne Hoffnung. Den verarmten, hungernden Fischern, bei denen jedes Jahr ein Kind wegen Unterernährung und Krankheit stirbt, stellt Seghers die Reederei, eine monopolistische Kapitalgesellschaft, gegenüber, und in Bezug auf den proletarischen Kampf repräsentiert Johann Hull, die Hauptfigur der Erzählung, einen linken Intellektuellen (vgl. Fehervary 2008). Als Muster eines
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_3
3 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928)
Revolutionärs will er die Fischer dazu provozieren, die Hungerlöhne zu verweigern und Forderungen nach höheren Löhnen zu stellen (vgl. AdF, 25 f.), wodurch die Basis des sozialen Kampfes angedeutet wird. Hull ist aber auch ein Außenseiter, der nicht zu den Einheimischen gehört. In der Erzählung wird seine Ankunft von der Margareteninsel und aus Port Sebastian angedeutet, wo er bereits einen Aufstand organisiert hat (vgl. AdF, 15–17). Er redet mit den Fischern, bringt sie aus den umliegenden Dörfern zusammen und erklärt ihnen die Zwangslage, die bisherigen Löhne nicht zu akzeptieren. Innerhalb dieses Erzählrahmens werden die von Not und Hunger geprägten Familien der Fischer eindringlich geschildert. Besonders die blassen Kinder von Kedennek sowie seine magere schwangere Frau rufen Sinnesbilder dieses Elends auf: »Da kam Kedenneks Frau, sie war schwanger, aber so hager, daß ihr Bauch wegstand, wie ein Knorz von einer dürren Wurzel. Auch Kedenneks Frau hatte mal in ihrer Haube etwas Besseres zusammengebunden, als ein spitzes Kinn und ein paar Backenknochen, es war gar nicht mal so lange her, da hatte auch sie einen Schoß und eine Brust gehabt.« (AdF, 19)
Ein Ausweg aus dieser Lage erscheint solange nicht, bis Hull eine Hoffnung auf Änderung dieser Misere in Aussicht stellt. Am Ende kommt die brutale Niederschlagung des Aufstands mit dem Tod von Hull, Andreas und Kedennek. Die Fischer müssen zurück an ihre Arbeit zu den Konditionen der vergangenen vier Jahre. Der Klassenkampf ist gescheitert. Jedoch die Organisation eines Aufstands durch den von außen kommenden Rädelsführer und Agitator Johann Hull sowie die Solidarität unter den Fischern deuten auf eine Chance, dass diese Niederlage neue Aufstände nach sich ziehen wird (vgl. Schrade 1993, 12 f.). Einer Zeitungsmeldung gleich informiert der erste Satz über den Ausgang des episodenhaft erzählten Geschehens, das sich vom Oktober des einen bis zum Sommer des nächsten Jahres hinzieht. Die eindringlich und bildhaft geschilderte Armut und Not der Fischer stehen im Zentrum. Hervorgehoben werden einzelne Personen/Figuren: Der äußerst wortkarge Fischer Kedennek, der sich dem Streik für eine bessere Entlohnung anschließt – »Mindestens drei Fünftel Anteil und sieben Pfennig das Kilo und neue Tarife« (AdF, 26) – wird zum ersten Opfer, nachdem die Reederei das Militär eingeschaltet hatte. Als er die Ausfahrt des Fangschiffs verhindern will, wird er von einem Soldaten erschossen. Dieser Moment des Todes
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wird als ein Akt der Freiheit bzw. Befreiung geschildert in dieser von Gott verlassenen Welt (vgl. AdF, 67). Der jugendliche Rebell Andreas Bruyn, Kedennecks Neffe, entschließt sich zur Sabotage der »Maria Farère«, als dieses Schiff mit einigen Streikbrechern doch ausgelaufen war. Schließlich wird auch er von den Soldaten auf der Flucht erschossen; sein sicheres Versteck in der Nähe des Dorfes hatte er aufgegeben, weil ihm ein Leben in Einsamkeit ganz sinnlos erschien. Als Rädelsführer unter den sich gegen die erdrückenden Lebensbedingungen auflehnenden Fischer wird Johann Hull hervorgehoben, ein wegen Meuterei Verurteilter, der bereits bei einer anderen, erfolgreichen Rebellion gegen die Reederei in Port Sebastian dabei war (vgl. AdF, 17). Gleichsam magisch zieht es ihn nach St. Barbara, selbst nach dem gescheiterten Aufstand kehrt er dorthin zurück und wird dann seiner ›gerechten Strafe‹ zugeführt. Der als Sozialrevolutionär und Anarchist gezeichnete Hull ist eine charismatische Außenseiterfigur wie Grubetsch in der gleichnamigen Erzählung von 1927. Hull verkörpert, Seghers’ eigenen Angaben zufolge, ihren »Revolutionsmythos« (WA I/1.1, 102), den sie aus den »mannigfaltigen linken [...] Bewegungen, die sich über die mittel- und osteuropäischen Gebiete erstreckten« (Fehervary WA I/1.1, 125), bezieht bzw. darauf projiziert (vgl. Bähtz 2000). Fehervary verweist in diesem Zusammenhang auf die im Aufstand verschlüsselten Bezüge zur »ungarische[n] Topografie und Geschichte« (WA I/1.1, 126). Die existentialistische Dimension dieser Figur unterstreicht Hilzinger (2000, 91; vgl. Suhl 2002). Hull kann auch gelesen werden als »Nachkomme der Apostel in der Diaspora« (Fehervary WA I/1.1, 129). Unter den Frauenfiguren werden ebenfalls drei hervorgehoben: Die junge Prostituierte Maria, ein dürres, hässliches Mädchen, dem Hull schon auf seiner Fahrt nach St. Barbara begegnet, die den versteckten Andreas mit Essen versorgt und die von den Soldaten schwer misshandelt wird. Eine andere Maria, die ausgezehrte, schwangere Ehefrau von Kedennek, die am Ende der Geschichte als Witwe mit ihren zwei Söhnen in die Stadt geht, um dort ihre Arbeitskraft zu verkaufen; die von Seghers durch den gleichen Vornamen evozierte Gleichheit von Prostituierter und Ehefrau ist auffällig. Katharina Nehr, die ebenfalls während des Aufstands ihren Mann verliert, bleibt in St. Barbara, wo ihr entbehrungsreiches Leben weitergeht. Gleichwohl wird auf ihr »junges, weißes, neugieriges Gesicht« (AdF, 88) hingewiesen, was als kleines Zeichen von Zukunftshoffnung gedeutet werden kann. Das steht allerdings quer zu den gewählten konventionel-
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len, handlungsarmen und aufopferungsvollen Frauenrollen der Geschichte (s. Kap. 46). Auffällig in Seghers’ kleinem Buch sind die biblischen Namen: »Tradieren die Vornamen die Signifikanz der bis in die Ursprünge der jüdisch-christlichen Chroniken zurückreichenden Beziehungen, so rufen die Nachnamen eine horizontale Breite phonetisch-topographischer Bezugsfelder hervor« (Fehervary WA I/1.1, 115), zum Niederländisch-Niederdeutschen wie zum Ungarischen. Während sich die Hure Maria, die auch Züge der Heiligen trägt, auf Maria Magdalena bezieht, erinnert Maria Kedennek in ihrer »verbitterte[n] Beriebsamkeit an Lazarus’ Schwester Martha« (ebd., 124). Ihr Gegenbild, Lazarus’ mutige Schwester Maria, wird in der Nachbarin Katharina Nehr verkörpert; die möglichen Entsprechungen sind also nicht schematisch arrangiert. Ebenfalls ins Legendäre gesteigert werden die männlichen Hauptfiguren: Kedennek und Andreas erscheinen als Anhänger des Messias, der Streikbrecher Bruyk wird als Judas-Figur gezeichnet und der ›Menschenfischer‹ Hull als die langersehnte Christusfigur (vgl. ebd., 122 f.). Entsprechende Gemälde und Zeichnungen von Rembrandt, mit denen Seghers seit ihrer Dissertation gut vertraut war, können die konkrete Ausgestaltung der Figuren und FischerSzenen angeleitet und geprägt haben. »Das zyklische Verfahren in Seghers’ Werk – das wiederholte Auftreten von Figurennamen und -typen, Gruppenkonstellationen und Topographien – läßt sich einigermaßen mit dem ›erzählende[n] Bild‹ und der ›erzählende[n] Historie‹ Rembrandts vergleichen, die sich mehrfach und aus verschiedener Perspektive mit ein und derselben Naturszene bzw. biblischen Episode beschäftigen.« (Fehervary WA I/1.1, 121)
Auffällig im Aufstand der Fischer sind außerdem die bildhafte Darstellung der einzelnen Szenen sowie deren an den Filmschnitt erinnernden Montage; der Regisseur und Filmtheoretiker Béla Balázs zählte zum Freundeskreis von Seghers und ihrem Mann (vgl. Zehl Romero 2000, 160 f.). Expressionistische Bilder verbinden sich mit nüchternen, in kurzen Sätzen geschilderten Szenen, die vom Einfluss der Neuen Sachlichkeit zeugen; hinzukommen ins Legendäre oder Mythische verweisende Figuren und Konstellationen. Diese Schreibweise ist für das Frühwerk von Seghers charakteristisch. Eine starke Metapher gleich im ersten Absatz der erzählten Geschichte ist die Personifikation des Aufstands als Zeichen des Gedenkens an die beteiligten und geopferten Fischer. Darin lässt sich ein lite-
rarischer Einspruch gegen ihr erfolgloses Aufbegehren sehen; er fungiert gleichsam als Erinnerung an Leidenschaft und Erlösungshoffnung – ein Grundmuster des Seghers’schen Erzählens (vgl. Hilzinger 2000, 91). Zwar wird Andreas’ »Lust nach Freude« (AdF, 13) nicht erfüllt, die Pläne des Sozialrevolutionärs Hull werden zerschlagen und das ärmliche Leben voller Not geht weiter, aber die Erinnerung bewahrt den Kampfgeist auf eine Veränderung der Verhältnisse. Die junge, noch unbekannte Autorin beginnt mit der realistisch erzählten, fiktiven Geschichte eines gescheiterten Aufstands, den sie als Mahnung ins kollektive Gedächtnis einschreibt und legt so eine Spur der Hoffnung, die in Zukunft immer stärker ohne den Wunsch auf Erlösung wird auskommen müssen.
Rezeption Auf die Verleihung des Kleist-Preises an Aufstand der Fischer von St. Barbara reagierten die Tagespresse und die Zeitschriften meist mit Zustimmung zur Begründung des Jurors Hans Henny Jahnn, der schrieb: »Die Gestalten sind nicht so sehr Träger einer Handlung als Äußerung in ihnen wirksamer Kräfte. Darum verbrennt alles, was als Tendenz erscheinen könnte, in einer leuchtenden Flamme der Menschlichkeit« (zit. nach WA I/1.1, 136 f.). Hatte die rechtskonservative Literaturkritik die sozialkritische Dimension und den politisch-revolutionären Inhalt von Aufstand der Fischer beklagt, wurden in einigen wenigen Fällen von den Linksintellektuellen das Undisziplinierte des Streiks und ein gewisser sozialromantischer Zug der Rebellion getadelt. Das nimmt spätere Kontroversen der Rezeption vorweg (s. Kap. 51). Kurios ist die – wohl auf das ›harte‹, sozialpolitische Thema sowie den chronikalisch-nüchternen Stil bezogene – Einschätzung der frühen Erzählung von Seghers als »Männli che Literatur«; so Kurt Pinthus in Das Tagebuch (1929, Heft 22, 1. Juni). In Die rote Fahne (9.12.1928) verkehrt Paul Friedländer dieses Argument ins Gegenteil und rügt eine »gewisse, man möchte fast sagen weibliche Verschwommenheit in der Darstellung des Kampfes und seiner Organisation« (zit. nach WA I/1.1, 139). Zur Verleihung des Büchner-Preises an Anna Seghers 1947 hebt der Laudator Kurt Heyd u. a. hervor, dass Aufstand der Fischer keine »sozialistische Tendenzliteratur« sei (Fehervary WA I/1.1, 145), was Jahnns Einschätzung bestätigt, in den Nachkriegsjahren aber umstritten blieb. Insgesamt gesehen, »hinkte die deutsche Rezeption der ausländischen nach«
3 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928)
(ebd.). Im Ausland stieß das in viele Sprachen übersetzte Erfolgsbuch auf eine durchgängig positive Wirkung, die in England und den USA jedoch zunächst ohne »großen Nachhall« (ebd., 142) blieb. Aufgrund seiner gesellschaftspolitischen Konstellation stieß der Text schon zu Seghers’ Lebenszeit auf große Resonanz und wurde von dem Theaterregisseur Erwin Piscator in der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre für die Meshrabpom-Film-Gesellschaft adaptiert. Der Produktionsverlauf des Films deutet bereits auf viele Kontroversen hin. Piscator war darum bemüht, den Stoff der Seghers’schen Erzählung in einen Lehrfilm zu verwandeln und dadurch einen Beitrag im Kampf gegen den drohenden Nationalsozialismus zu liefern. Dabei trug für ihn auch der Matrosenaufstand von 1918 zur Inspiration des Films bei (vgl. Diezel 2008, 68 f.). Als Drehbuchautoren arbeiteten mit ihm Béla Balázs, Joris Ivens, Carl Junghans, Hans Richter, Friedrich Wolf und Paul Vaillaud-Couturier zusammen. In Bezug auf die Handlung und Charakterisierung richtete sich das Drehbuch zwar nach Seghers’ Erzählung, aber der evokative Stil des Textes, den der Theaterregisseur in einen Lehrfilm verwandeln wollte, sperrte sich gegen diesen intermedialen Transfer. Piscator stützte sich für sein Vorhaben auf den sowjetischen Stummfilm, besonders auf Panzerkreuzer Potemkin. Während sich die Zuschauer bei diesem Film auf eine revolutionäre Geschichte beziehen konnten, die im Sieg von 1917 kulminierte, hatte der von Piscator inszenierte Sieg des deutschen Proletariats in der Geschichte vom Aufstand der Fischer keine solche assoziative Grundlage (vgl. Fehervary 2008, 84). Außerdem trugen Piscators theatraler Stil sowie die veränderte Erwartungshaltung der Zuschauer zum Misslingen des Films bei. Schon nach einigen Wochen wurde er aus dem Vertrieb genommen (vgl. ebd., 81). Eine zweite Verfilmung von Seghers’ Erzählung folgte 50 Jahre später, fünf Jahre nach dem Tod der Autorin. Thomas Langhoff, ebenfalls ein Theaterregisseur, drehte 1988 einen Film für das DDR-Fernsehen. Piscator und Langhoff sind zwar sehr verschieden, das ihrem Projekt Gemeinsame aber ist das Scheitern an den jeweiligen politischen Verhältnissen. Piscators Film scheiterte, neben den oben im Text erwähnten Gründen des ästhetischen Transfers, an den politischen Verhältnissen in der Sowjetunion und Langhoffs Film scheiterte an den politischen Verhältnissen in der DDR im Herbst 1989. Deshalb konnte er keinen großen Erfolg erwarten (vgl. Fehervary 2008, 86 f.). Ton und Tempo von Langhoffs Film waren im Vergleich zu Tempo und Aufruhr in Piscators Film eher
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leise und gemäßigt. Auch in Bezug auf die Handlung und Charaktere wirkt Langhoffs Verfilmung mehr assoziativ. Aber das allegorische Element der Erzählung von Seghers besonders im Hinblick auf das Scheitern des Aufstands konnten beide Filme nicht vermitteln. Vor dem Horizont der wiederhergestellten alten Weltordnung gelang es beiden Filmen nicht, ein Moment der Hoffnung zu adaptieren, das in Anna Seghers’ Erzählung durchaus enthalten ist. Hier wird der gescheiterte Aufstand mit einer Allegorie vergegenwärtigt, wobei die Erinnerung an eine konkrete Utopie Hoffnung vermittelt. Gerade dieses Element fehlt aus verschieden Gründen in beiden Verfilmungen (vgl. Fehervary 2008, 81, 85), während dieses Prinzip, das in der Erzählung als Metapher der Hoffnung vorkommt, im Text bereits im ersten Absatz genannt wird.
Forschung In der Kritik der DDR wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und damit die Rolle von Hull problematisiert. Das gilt für die wichtigen Studien von Friedrich Albrecht (1965) und von Inge Diersen (1965), während Heinz Neugebauer (1970) das Kollektivgeschehen in den Vordergrund rückt. Kurt Batt (1973) schließlich bringt eine umstrittene politische Person ins Spiel, »den nicht nur in der Seghers-Literatur der DDR verschwiegenen Namen von Leo Trotzki, der seinerzeit mit einer geradezu ›magischen‹ Ausstrahlungskraft auf die russischen Massen wirkte und daher besonders von Stalin gefürchtet wurde« (Fehervary WA I/1.1, 150). Trotzki könnte die historische Vorlage für den charismatischen Außenseiter Hull gewesen sein, eine Vermutung, die die Autorin nicht bestätigen will, da sie ihr Frühwerk im Hinblick auf die Kunstdoktrin der DDR als ›unreif‹ betrachtet. Die Rezeption von Anna Seghers in der BRD steht im Zeichen von Marcel Reich-Ranicki, der die DDRAutorin mit einer ideologischen Brille liest (s. Kap. 51). Mit dem literarischen Text des Aufstands in narratologischer oder auch poststrukturalistischer Sicht beschäftigen sich erst Volker Klotz (1981) und Bernhard Greiner (1983). Das sozialpolitische Problem des Hungers thematisiert Russel E. Brown (1988). Als Auslöser des Aufstands betrachtet er den Hunger der Fischer aber nicht. Er behauptet vielmehr, Anna Seghers habe die Hungerproblematik aus der Sicht einer wohlhabenden, städtischen Bürgerin aufgefasst. Brown argumentiert, dass die Topographie der Insel den Fischern einen Zugang zu den Nahrungsquellen
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des Meeres erlaube: die hätten sie konsumieren sollen anstatt in Lohnarbeit zu verhungern. Die Erzählung deutet darauf hin, dass die Reederei das Fischen mit großen Schiffen kontrollierte und so den größten Teil des Fangs den Fischern abnehmen konnte. Was den Fischern blieb, war nie genug, ihre Familien richtig zu ernähren (vgl. Brown 1988). Dieter Bähtz (2000) fragt nach dem Sinn der Revolte und Nicole Suhl (2002) bearbeitet das ›Spannungsfeld von Phänomenologie und Existenzphilosophie‹. Während die Verfilmung von Aufstand der Fischer durch Piscator, später auch durch Thomas Langhoff, wiederholt untersucht werden (vgl. Diezel 2008; Fehervary 2008), werden Genderfragen erst später gestellt (vgl. Schaub 2015); gerade im Hinblick auf die Dreieckskonstellationen der Figuren und die Relationalität der Geschlechter gibt es noch Klärungsbedarf. Fehervary, Mitherausgeberin der neuen Werkausgabe, plädiert für eine »erneute, intensive Lektüre und eine breite öffentliche Wiederaufnahme« (Fehervary WA I/1.1, 152) dieser ›Meistererzählung der deutschen Moderne‹. Literatur
Albrecht, Friedrich: Die Erzählerin Anna Seghers 1926– 1932. Zweite, durchges. Aufl. Berlin 1975. Bähtz, Dieter: ›Aufstand der Fischer‹. Vom Sinn der sozialen Revolte im frühen Werk der Seghers. In: Argonautenschiff 9 (2000), 174–187. Bangerter, Lowell A.: The Bourgeois Proletarian. A Study of Anna Seghers. Bonn 1980. Bark, Joachim: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Anna Seghers. Mit Materialien, ausgew. von Joachim Bark. Leipzig/Stuttgart/Düsseldorf 2004, 83–142. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Frankfurt a. M. 1973. Brown, E. Russel: The Problem of Hunger in Anna Seghers
›Aufstand der Fischer von St. Barbara‹. In: Neophilologus 72 (1988), 157–159. Diersen, Inge: Seghers-Studien. Interpretation von Werken aus den Jahren 1926–1935. Ein Beitrag zu Entwicklung der modernen deutschen Epik. Berlin 1965. Diezel, Peter: Erwin Piscators Film ›Aufstand der Fischer‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 68–79. Fehervary, Helen: Landschaften eines Aufstands – und wie sie sich bewegen! Erwin Piscators und Thomas Langhoffs Verfilmungen vom Anna Seghers’ ›Aufstand der Fischer von St. Barbara‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 80–88. Greiner, Bernhard: Der Bann der Zeichen. Anna Seghers’ Entwurf der Identitätsfindung. In: Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 3. Hg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1983, 131–155. Hilzinger, Sonia: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Klotz, Volker: Kollektiv als Hauptperson. Wie es sich erzählen und lesen läßt. Zu Anna Seghers’ ›Aufstand der Fischer von St. Barbara‹. In: Rolf Kloepfer/Gisela Janetzke-Dillner (Hg.): Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert. Stuttgart [u. a.] 1981, 237–340. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Ihr Leben und Werk. Berlin 1970. Schaub, Christoph: Aesthetics, masses, gender. Anna Seghers’s ›Revolt of the fishermen of St. Barbara‹. In: New German critique 42/124 (2015), 163–188. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Solbach, Andreas: Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928). In: Claudia Benthien/Inge Stephan (Hg.): Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln 2005, 357–374. Suhl, Nicole: Anna Seghers ›Grubetsch‹ und ›Aufstand der Fischer von St. Barbara‹ – Literarische Konstrukte im Spannungsfeld von Phänomenologie und Existenzphilosophie. Frankfurt a. M. [u. a.] 2002. Wagner, Frank: Anna Seghers. Leipzig 1980. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Jyoti Sabharwal
4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930)
4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930) Nach der Geburt ihrer Tochter schloss Seghers 1928 mit Fritz H. Landshoff, der Teilhaber und Geschäftsführer des Gustav Kiepenheuer Verlags war, den ersten Verlagsvertrag für Aufstand der Fischer von St. Barbara. Damit war eine Zusammenarbeit begründet, die 1930 zu einem Folgevertrag u. a. für die Novellensammlung führte, in die auch Grubetsch (s. Kap. 2) aufgenommen wurde. Inhaltlich führt Seghers ihre kritischen Milieustudien weiter, ohne dass ihre Texte sich einfach in das ästhetische Programm des sozialistischen Realismus einfügten. Vielmehr zeichnen sich die Erzählungen durch avantgardistische Elemente wie Stream of Consciousness, Surrealismen und Montage aus.
Inhalt Der Band enthält vier Erzählungen: Die Ziegler, Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft, Grubetsch und Die Bauern von Hruschowo. In Die Ziegler wird der soziale Abstieg der im Titel genannten kleinbürgerlichen, gewerbetreibenden Familie geschildert. Die Eltern leben mit zwei Töchtern, Maria und Anna, sowie zwei namenlos bleibenden Söhnen auf engstem Raum; anfangs betreiben sie ihr Geschäft noch von einem Werkraum aus, der im angrenzenden Hof liegt, doch wird dieser schließlich (wie auch Räume der Wohnung) weitervermietet, um die eigene Existenz zu sichern. Während Vater und Mutter physisch immer mehr verfallen und innerlich abstumpfen, lastet der Erhalt der Strickwarenmanufaktur ausschließlich auf der jüngeren Tochter Marie. Die Mutter wird als funktionierende, zunehmend apathische Versorgerin gezeichnet, die auch nach einer Fehlgeburt stumm das Elend wegzuputzen versucht. Marie ist als Oppositionsfigur zu ihrer älteren Schwester Anna konzipiert, welche hübsch und vital erscheint; im Gegensatz dazu wird Marie als unscheinbar und kränklich dargestellt. Die beiden Brüder sind ebenfalls als Gegensätze angelegt, der eine jung, zart, kindlich bleibend, der andere jugendlich-erwachsen, grob, laut und rebellisch. Der soziale Abstieg ist schon zu Beginn der Erzählung Realität, doch verschließt der Vater konsequent die Augen vor den Problemen. Stattdessen ist er damit beschäftigt, die äußere Fassade bürgerlicher Ordnung aufrecht zu erhalten und das um
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den Preis nicht zuletzt von Maries Gesundheit und Wohlergehen. In erster Linie will er als Familienvater und Geschäftsmann im bürgerlichen Sinne gut dastehen; dafür wahrt er den Schein, indem er sich draußen nur in seinem besten Anzug zeigt. Er empfindet Scham und Abscheu vor den Erwerbslosen auf dem Marktplatz, anstatt sich mit ihnen solidarisch zu fühlen. Scham ist es auch, die ihn im Umgang mit seinem rebellischen älteren Sohn antreibt, als dieser von der Polizei zu Hause abgeholt wird, um in einer Jugendstrafeinrichtung untergebracht zu werden – später deutet sich dessen Politisierung an. Für die attraktive Tochter erhoffen die Eltern sich den sozialen Aufstieg durch eine Heirat. Die interne Fokalisierung und der weitgehende Verzicht auf einen narrativen Erzählmodus lassen die Handlung und die Figuren in ihrem Inneren plastisch erscheinen, dafür müssen äußere Zusammenhänge jedoch weitgehend erschlossen werden. Im Zentrum der Erzählung steht vor allem Marie, die das Opfer der sozialen Verhältnisse wie auch der Entscheidungen ihrer Eltern ist. Das Schlussbild zeigt sie allein, verfroren und unbeachtet auf dem Straßenpflaster liegend. Auch die zweite Erzählung, Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft, ist intern fokalisiert mit wechselnder Perspektive auf vier namenlos bleibende Figuren: einen Fremden, eine einheimische Frau, einen mürrischen Mann und einen ›Kleinen‹. Die Geschichte gestaltet einen Nachmittag während eines Demonstrationszugs durch eine unbenannt bleibende Stadt. Einzig klar ist der ungefähre Handlungszeitpunkt, denn die Erzählung spielt auf eine reale Begebenheit an. Bei dem Marsch gegen die im Titel der Erzählung benannte amerikanische Botschaft handelt es sich um eine Kundgebung gegen die Hinrichtung Ferdinando ›Nicola‹ Saccos und Bartolomeo Vanzettis, welche als Mitglieder der anarchistischen Arbeiterbewegung 1921 in einem umstrittenen Prozess wegen Beteiligung an einem doppelten Raubmord schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt worden waren. Die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl fand schließlich in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 statt. Während der Fremde als Tourist zufällig in den Sog der Demonstration gerät, obwohl er eigentlich eine vergnügliche Auszeit aus seinem familiären Leben in der Stadt sucht, marschieren die Frau, der Kleine sowie der mürrische Mann willentlich mit. Neben der äußeren Handlung, dem konkreten Weg, den der Zug durch die Straßen der Stadt nimmt und dem Verhalten der teilnehmenden wie auch der zuschauenden Menschen, nehmen die inneren Entwicklungen des Frem-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_4
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den wie der Frau den größten Erzählraum ein. Auf diese Weise wird die Teilnahme an einem politischen Protestmarsch selbst zum Thema der Geschichte. Sowohl die Massendynamik als auch die konsequente Binnenperspektive machen es zum einen fühlbar, wie Enthusiasmus, Empörung und Angst einander abwechseln. Zum anderen reflektiert Seghers damit die Ambivalenz der Beteiligten, die zudem in der Geschlechterdifferenz sichtbar wird. Die Frau umkreist gedanklich die Frage, ob sie als Frau und Mutter überhaupt ein Recht hat, sich an der politischen Aktion zu beteiligen. Der Fremde hingegen flieht vor seinen Verpflichtungen und erscheint ängstlich-aggressiv, wobei er seine Frustration in einem spontanen sexuellen Überfall auf eine Frau, die er im Vorbeigehen sieht, entlädt. Auch die Gedanken der Frau sind von sexuellen Wünschen durchzogen, die allerdings unausgelebt bleiben. Der Demonstrationszug gerät schließlich unter Polizeibeschuss, bei dem der Fremde tödlich getroffen wird, während die Frau am Ende der Erzählung vollkommen mit der demonstrierenden Masse verschmilzt. Das letzte Bild gilt aber dem Protest selbst, der als Laut die Botschaft durchdringt: »Es war unmöglich, daß es im ganzen Haus auch nur einen Winkel gab, in dem man sie nicht rufen hörte« (WaB, 188). Die vierte Erzählung, Die Bauern von Hruschowo, unterscheidet sich aufgrund des legendenhaften Tons und der räumlich-zeitlichen Entrückung von den anderen Texten der Sammlung. Ein Erzähler berichtet von den Folgen der Oktoberrevolution sowie dem Widerstand kaparto-ukrainischer Bauern, der sich von Herbst 1918 bis Herbst 1920 unter der Führung des Kriegsheimkehrers Woytschuk gegen die ungarische Räterepublik formiert. Der Wald – so beginnt die Erzählung – war von jeher im Besitz der Bauern, die mit und durch ihn in einer Art natürlicher Koexistenz gut lebten, bis ihnen »die Krone« (WaB, 150) im 18. Jahrhundert den Wald nahm, so dass aus den Bauern Wilddiebe wurden. Bis ins 20. Jahrhundert und durch den Ersten Weltkrieg wächst das Elend der Bauern: »Der Hunger war schon ein Teil des Lebens, nichts mehr zum Klagen« (WaB, 151). Nach dem Krieg erscheinen die Ideen der sozialistischen Bewegung um Lenin für den Heimkehrer Woytschuk als Rettung: »In Rußland gibt es einen Lenin, die Erde wird den Herren weggenommen, Wald und Feld wird den Bauern gegeben« (WaB, 154). Die Erzählung illustriert den Widerstandskampf der Bauern als zermürbend angesichts der Gegenschläge, doch letztlich als siegreich und Russland wird im Schlussbild zum gelobten Land stilisiert: »Als der Herbst anbrach, verdingte er sich mit seiner Sense
als Knecht von Feld zu Feld. Hinter sich die nackte braue Erde, vor sich die Ernte, er mähte er seinen Weg nach Rußland, wo er hinkam« (WaB, 164).
Rezeption Den Rezipient/innen aus der proletarisch-revolutionären Bewegung sind Seghers’ Erzählungen zu ästhetisch, zu resignativ und zu wenig kraftvoll kämpferisch, ohne Klassenbewusstsein. So kritisieren die KPD-Zeitung Die Front sowie die Linkskurve den mangelnden revolutionären Optimismus der Erzählungen. Allein der aufständische Wille, der in Die Bauern von Hruschowo zum Ausdruck kommt, wird in den sozialistischen Magazinen, in denen die Autorin für die Verbundenheit mit ihrem bürgerlichen Herkunftsmilieu getadelt wird, positiv gewürdigt (R. 1931, 24). Vor allem der Übersichtsartikel von Otto Biha, dem Chefredakteur der Linkskurse und Sekretär des BPRS, attestiert Seghers, dass ihr Erzählband »keineswegs ein Bestandteil der proletarisch revolutionären Literatur in ihrem eigentlichsten Sinn ist« (Biha 1931, 119). Das heißt, die parteipolitische linke Presse wertet rein inhaltlich, so dass die auch hier festgestellte Formkraft der Autorin zum Nachteil gereicht. Die Rezensent/innen, die nicht so sehr politische Gehalte, als vielmehr ästhetische Qualitäten zum zentralen Bewertungskriterium anlegten, lobten Seghers’ Erzählband.
Forschung Seghers nimmt das soziale Elend, in dem die Figuren in den Höfen und Wohnungen leben, auch geschlechtsspezifisch in den Blick. Seghers’ Gesellschaftsanalyse macht deutlich, dass das Elend und die Not von Frauen einer Kombination aus class und gender entspringen; in einer bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft ist die proletarische Frau doppelt unterdrückt (vgl. Horn 2011; Zehl Romero 2000, 198). Dies zeigt sich an den Figuren Marie in Die Ziegler, an Ann in Grubetsch und an der Frau in Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft. Seghers’ »sozialpsychologischer Zugriff« (Hilzinger 2000, 94) veranschaulicht nicht zuletzt die soziale Kälte und den Abstieg von Frauen (vgl. ebd.). In Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft gestaltet Seghers die Wandlung einer Frau zu einem politischen Bewusstsein, das mit der Rollenerwartung als Mutter brechen muss (vgl. Barkowski 1988; Albrecht 2005, 79).
4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930)
Es sind Erzählungen, die aus der unmittelbaren Gegenwart ihrer Entstehungszeit entsprungen sind; Ute Brandes stellt für Die Ziegler fest, dass es sich um eine »Bestandsaufnahme der ökonomischen und psychischen Zwänge des Kleinbürgertums während der zeitgenössischen Inflation und fortschreitenden Industrialisierung« handelt (Brandes 1992, 33). Vor allem die »Dichte« und »psychologische Tiefe« dieser frühen Erzählungen wird betont (Schrade 1993, 15). Verschiedentlich wird der resignative Tenor mit Ausnahme von den Bauern von Hruschowo diskutiert; Albrecht zeigt an der Botschaftsgeschichte auf, dass hinter dem Pessimismus der Figuren »eine geheime Hoffnung« (Albrecht 2005, 76) durchscheint. Insgesamt bestehe Seghers’ Leistung darin, »die niederdrückende Macht des proletarischen Alltags« (ebd., 89) zu vergegenwärtigen. Die parteipolitische Forderung nach revolutionärer Literatur wird, wenn auch in märchenhafte Ferne entrückt, explizit in der Bauernerzählung umgesetzt. Dies zeigt Seghers’ »gefestigte marxistische Position« (Sauer 1978, 69; vgl. Brandes 1992, 37). In den anderen Erzählungen ist die politische Lösung nur angedeutet. In Die Ziegler deutet sich die Solidarisierung der sozial Schwachen in den Figuren des älteren Sohnes sowie des Mädchens mit der roten Mütze an, die Marie zu »uns«, den »viele[n]« (WaB, 125) einlädt (vgl. Sauer 1978, 58). Doch fehlt es Marie an »Kraft zum Widerstand« (Schrade 1993, 17). In der Titelerzählung illustriert Seghers durch den Perspektivwechsel zwischen den vier Figuren, wie unterschiedlich und durchaus individuell das politische Bewusstsein der Demonstrant/innen gewachsen ist (vgl. Hilzinger 2000, 95). Wie in Grubetsch sehnen sich die Figuren aller Erzählungen nach Freiheit (vgl. Brandes 1992, 34) und Erlösung aus dem Elend. Dass diese Sehnsucht ge-
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rechtfertigt ist, daran lassen Seghers’ Textwelten keinen Zweifel, allein der jeweilige Ausweg wird kritisch reflektiert. So heften sich die Wünsche an die falschen Heilsbringer wie Grubetsch oder den älteren Sohn in Die Ziegler. Ihre Lösungen sind nur die »Flucht« nicht die »Befreiung« im Sinne einer tatsächlichen Veränderung der Verhältnisse (Sauer 1978, 57). Zwar macht der Ziegler-Sohn eine Wandlung durch, bei der ein »Ausweg in der Solidarität mit dem Proletariat« (Buthge 1982, 56) angedeutet wird, doch macht die interne Fokalisierung deutlich, dass er seine Schwester, die sehnlich darauf wartet, dass er sie befreien möge, im Stich lassen wird. Literatur
Albrecht, Friedrich: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern 2005. Barkowski, Anette: Im Schnittpunkt von Geschichte und weiblicher Identität. Anna Seghers Erzählung ›Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft‹. In: Acta Germanica 19 (1988), 96–113. Biha, Otto: Die proletarische Literatur in Deutschland. In: Literatur der Weltrevolution 3 (1931), 104–122. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Buthge, Werner: Anna Seghers: Werk, Wirkungsabsicht, Wirkungsmöglichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1982. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Horn, Anette: Im Schnittpunkt von Geschichte und weiblicher Identität. Anna Seghers Erzählung ›Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft‹. In: Dies.: »Denken heißt nicht vertauben«. Aufsätze zur neueren deutschen Literatur. Oberhausen 2011, 113–128. R.: Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft. In: Die Linkskurve 3 (1931), 24–25. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Sauer, Klaus: Anna Seghers. Autorenbücher. München 1978. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Corinna Schlicht
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5 Die Gefährten (1932) Gleich zu Beginn ihres Studiums in Heidelberg macht Seghers die Bekanntschaft von sozialistischen bzw. kommunistischen Studierenden, die z. T. nach gescheiterten Revolutionen in verschiedenen europäischen Ländern als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, unter ihnen ihr späterer Ehemann László Radványi. Diese Bekanntschaften hinterlassen einen tiefen Eindruck, wie aus dem Nachwort zur Neuauflage der Gefährten von 1948 hervorgeht: »Wir horchten erregt ihren Berichten, die damals vielen in Deutschland wie Greuelmärchen erschienen oder wie Vorkommnisse, die unvorstellbar in Mitteleuropa waren. Der weiße Terror hatte die erste Welle der Emigration durch unseren Erdteil gespült. Und seine Zeugen, erschöpft von dem Erlebten, doch ungebrochen und kühn, uns überlegen an Erfahrungen, auch an Opferbereitschaft im großen und Hilfsbereitschaft im kleinen, waren für uns wirkliche, nicht beschriebene Helden.« (KuW2, 19)
Gleichzeitig entwickelt Seghers aufgrund ihres Sinolo giestudiums ein starkes Interesse für China. Insbesondere gilt dies Laotse, wohingegen Konfuzius und dessen feudalistische Staatsmoral auf Ablehnung stoßen. Ihr persönliches Interesse deckt sich dabei mit einem allgemeinen zeitgenössischen Interesse an chinesischen Stoffen, wie u. a. Werke von Smedley, Malraux, Friedrich Wolf, Kisch, Brecht und Hesse zeigen. Seghers’ Interesse wird gestützt durch die Bekanntschaft mit jungen Chinesen, denen sie nach ihrem Umzug nach Berlin im Jahre 1925 begegnet (s. Kap. 41). 1928 tritt Seghers in die KPD ein, ein Jahr darauf in den BPRS, den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1930 nimmt sie als Mitglied der deutschen Delegation an der II. Konferenz proletarischrevolutionärer Schriftsteller in Charkow teil. Diese Entscheidungen bleiben nicht ohne Einfluss auf das künstlerische Schaffen der Autorin, das von dem Bemühen geprägt ist, dem politischen Auftrag gerecht zu werden, der sich aus der Zugehörigkeit zu KPD und BPRS ergibt. Wie es im Tätigkeitsbericht des BPRS für das Jahr 1929 heißt, sollte das Schaffen seiner Schriftsteller »eine Waffe der Agitation und Propaganda im Klassenkampf sein« (zit. nach Batt 1980, 49). Angesichts der zugespitzten Verhältnisse in der krisenhaften Endphase der Weimarer Republik entstehen die Texte, die Seghers in dieser Zeit verfasst, unter dem Eindruck des Kampfes der KPD für ein Rätedeutsch-
land und gegen die Republik, insbesondere gegen die Sozialdemokratie als Vertreterin eines vorgeblichen Sozialfaschismus (vgl. ebd., 61). Entsprechend heißt es im Programmentwurf des BPRS von 1931: »Untergang in die Barbarei oder Befreiung der schaffenden Menschheit durch den Sozialismus. Diktatur des Proletariats oder Faschismus [...], das sind die Fragen, die heute die Geschichte tagtäglich an uns stellt« (zit. nach ebd.). Im Sinne dieser Vorgaben unterzieht Seghers in »Selbstanzeige« (1931) ihre bisher erschienenen Texte einer Selbstkritik und verpflichtet sich für Die Gefährten zu einer linientreueren Darstellung des proletarischen Kampfes: »In diesen Geschichten gibt es viele verzweifelte und untergehende Menschen. Wenn man schreibt, muß man so schreiben, daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausweg spürt. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, in dem Roman, an dem ich jetzt arbeite, diesen Ausweg klar aufzuzeigen« (KuW2, 11). Mit Vorarbeiten zu dem Roman hat Seghers wahrscheinlich bereits 1925 begonnen, wie Tagebucheintragungen vom 2.1. und 22.1.1925 nahelegen (vgl. Seghers 2003, 18; 22). Als im Oktober 1932 Die Gefährten gleichzeitig bei Kiepenheuer und in der Universum Bücherei für Alle, der Buchgemeinschaft der KPD, erscheint (vgl. Zehl Romero 2000, 257), sind es nur noch wenige Monate bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Für die Neuausgabe von 1948, auf der auch die in den gesammelten Werken veröffentlichte Fassung beruht, nimmt Seghers gewisse sprachliche Korrekturen vor, vor allem was die Satzzeichen betrifft. Gleichzeitig fügt sie die Genrebezeichnung ›Roman‹ hinzu (vgl. Schrade 1993, 36).
Inhalt und intertextuelle Bezüge Der Roman ist historisch und geografisch fest umrissen. Er spielt zwischen 1919 und 1931 in zehn verschiedenen Ländern in Europa und Asien. An diesen Schauplätzen werden anhand von mehr als zwanzig Figuren die Erfahrungen und das Leiden von Berufsrevolutionären, Arbeitern, Bauern und Intellektuellen geschildert, die sich nach dem Ersten Weltkrieg an revolutionären Erhebungen beteiligen und die nach deren Niederlage inhaftiert oder ermordet werden bzw. als politische Flüchtlinge überall in Europa anzutreffen sind. Es sind zum einen mit Ungarn, Italien, Polen, Bulgarien und China solche Länder, in denen die Revolution von Militärdiktaturen bzw. proto-faschisti-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_5
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schen Regimes zumindest vorübergehend niedergeschlagen wird, zum anderen mit Deutschland, Frankreich, England und Belgien von ihrer Verfassung her demokratische Staaten, in denen die Revolutionäre ein unsicheres, häufig nur vorübergehendes Asyl finden. Hinzu kommt die Sowjetunion als einziges sozialistisches Land und Sitz der Komintern, der Kommunistischen Internationale, die kommunistische Kader schult und ihnen als vorübergehendes Rückzugsgebiet dient. Die Gefährten besteht aus zwei Hauptteilen, einem kürzeren ersten, welcher die Jahre 1919 bis 1920 umfasst, und einem deutlich längeren zweiten für die Jahre1923 bis 1931. Der Roman verfolgt fünf Handlungsstränge, die in keiner direkten Verbindung zueinander stehen und die den jeweiligen Herkunftsländern der Revolutionäre entsprechen. Der China-Strang, der die Jahre 1923 bis 1931 umfasst, befindet sich daher ausschließlich im zweiten Teil. Obwohl beide Teile jeweils in traditionelle Kapitel untergliedert werden, bestehen die eigentlichen Erzähleinheiten aus kurzen nummerierten Elementen, die in noch kleinere Abschnitte unterteilt und lediglich rhythmisch, kontrapunktisch und thematisch miteinander verbunden sind (vgl. Zehl Romero 2000, 265). Gemeinsames Thema dieses Kollektivromans ist der Kampf der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung für die proletarische Revolution. Der Roman weist viele kleinere und größere Bezüge zu parallel mit seiner Entstehungszeit verfassten kürzeren Texten der Autorin auf. So findet sich auch hier das Bild politischer Transparente als Segel, Erwähnung finden Demonstrationen für die Anarchisten Sacco und Vanzetti, das Motiv der Stoppuhr, die Holzfäller um Hruschowo in der Karpato-Ukraine sowie die Vorgänge in China (s. Kap. 41). Mit seinem ersten Satz »Alles war zu Ende.« (Gf, 103) schließt der Roman direkt an den Aufstand der Fischer von St. Barbara an, der ebenfalls mit der Feststellung der Niederlage des Aufstands begonnen hatte (vgl. Zehl Romero 2000, 258). Neben den Verweisen auf andere Texte der Autorin lassen sich anhand der harten Schnitte von Szene zu Szene Bezüge zu den Filmen Eisensteins mit ihrer Schnitt- und Montagetechnik herstellen. Gleichzeitig verweist diese Technik auf die Autoren der westlichen Moderne in Deutschland und den USA, vor allem auf John Dos Passos, dessen Romane damals viel beachtet wurden und den Seghers später in ihrem Briefwechsel mit Georg Lukács zur Expressionismus-Debatte verteidigen sollte (vgl. ebd., 265).
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Zeitgenössische Rezeption Da nur knapp vier Monate vom Erscheinen des Romans bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten verbleiben, können in dieser Zeit nur wenige Rezensionen erscheinen. In seiner insgesamt positiven Besprechung vom 13.11.1932 in der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt charakterisiert Siegfried Kracauer das Buch als eine »Märtyrerchronik« über das Leben und Sterben von Revolutionären. Diese »verschmähen es, irgendwo einzuwurzeln, und sie befreien sich von sämtlichen Bindungen, wenn die revolutionäre Aufgabe sie ruft« (Kracauer 1932). Weit widersprüchlicher fällt demgegenüber die Rezeption in der kommunistischen Presse aus. Willi Bredel, Mitglied des BPRS, begrüßt den Roman in der Hamburger Volkszeitung vom 3./4.12.1932 zwar als »ein starkes, herrliches Buch«, das jeder Arbeiter lesen müsse, attestiert ihm aber ein »beinahe buntes Durcheinander« (Bredel 1976, 72). Die Reaktion der kommunistischen Kritik ist dabei von dem Widerspruch bestimmt, dass sie zwar die Qualität der Seghers’schen Prosa erkennt, ohne diese aufgrund ihrer inhaltlichen und formalen Vorstellungen von einem zur Norm werdenden sozialistischen Realismus anerkennen zu können. Ganz auf dieser Linie liegt Leschnitzer, der 1935 in einer im sowjetischen Exil erschienenen Sammel rezension zu den bisher veröffentlichten Texten von Seghers zu dem Verdikt gelangt, deren Methode sei zur »Bewältigung der sozialen und politischen Thematik des sozialistischen Realismus untauglich« (Leschnitzer 1935, 90). Ihre Prosa sei stattdessen von Formalismus und Psychologismus geprägt. Statt Realismus sei Surrealismus Trumpf. »Was auf diese Art entsteht, ist ein köstliches Genußmittel für geistreiche literarische Gourmands und Gourmets [...] und eine taube Nuß für die keineswegs ›geistlose‹, aber auch keineswegs überfeinerte Masse der proletarischen Leser« (ebd., 94). Dennoch, und im Widerspruch dazu, kommt Leschnitzer aus »tiefste[r] Überzeugung« zu dem Schluss, Seghers sei dabei, »eine Vorkämpferin in der ersten Vorhut-Reihe der revolutionären Weltliteratur« zu wer den (ebd., 97).
Forschung Für Zehl Romero weisen Die Gefährten eine von Seghers später nie mehr vollzogene Verbindung von politischer und künstlerischer Radikalität auf (vgl. Zehl Romero 1993, 42). Fehervary knüpft daran die folgen-
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II Werk
de Frage: »Warum kennen fast alle Studenten und Studentinnen der Germanistik Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz [...] und fast niemand, wohl auch nicht ihre Lehrer, Die Gefährten? Woran liegt dieses Missverständnis?« (Fehervary 2012, 80). Die Antworten der Forschung auf diese Fragen fallen widersprüchlich aus. Zweifelsohne liegt ein Grund in der fehlenden literarischen Öffentlichkeit, was für diesen Roman ebenso gilt wie für viele andere, die von bald zur Emigration gezwungenen Autoren verfasst wurden (vgl. Bock 1980, 30). Hinsichtlich der narrativen Mittel herrscht weitgehend Einigkeit, dass der Roman in Struktur und Komposition aufgrund seiner modernistischen Radikalität sich den eher konservativen Vorgaben des BPRS verweigert. Wie in den Filmen Eisensteins zielt das Organisationsprinzip einer Schneide- und Montagetechnik auf Diskontinuität. Es wird dabei vom Leser erwartet, dass dieser selbst die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erzähleinheiten, kurzen nummerierten Elementen, herstellt (vgl. Zehl Romero 2000, 265). Immer wieder wird auf die Experimentierfreude der Autorin verwiesen, die sie an den Romanen von Dos Passos, Joyce, Jahnn und Döblin geschult hatte (vgl. u. a. Brandes 1992, 37; Schrade 1993, 36). Einschränkend merkt allerdings Kane kritisch an, das gemeinsame Ideal kommunistischer Solidarität sei nicht in der Lage, ein überzeugendes Bindeglied für die fragmentarische, episodische Struktur des Romans bereitzustellen (vgl. Kane 1996, 22). Die von ihr gestellte Frage beantwortet Fehervary unter Bezug auf Walter Benjamin dahingehend, die Ohnmacht der Germanistik vor den Gefährten liege gerade an der offenen Erzählweise, daran, dass der Roman nicht schon mit Erklärungen durchsetzt sei (vgl. Fehervary 2012, 81). Demgegenüber sieht der überwiegende Teil der Rezeption die Ursachen für die fehlende Wahrnehmung des Romans in inhaltlichen Problemen, vor allem in dem Bemühen, entsprechend den Forderungen der Genossen des BPRS ein Werk zu schaffen, das als Waffe der Agitation und Propaganda im Klassenkampf dienen kann (s. o.). Dabei nimmt der Roman eine revisionistische Tendenz ein. Er reduziert die intellektuelle Vielfalt der emigrierten Revolutionäre, denen Seghers in Heidelberg begegnet war, auf revolutionäre Hoffnungen und Aktivitäten, die für sie erst später Bedeutung erlangen sollten (vgl. Zehl Romero 2000, 145). Durch die Zugrundelegung eines starren Freund-Feind-Verhältnisses (vgl. Batt 1980, 68 f.) werden die Personen des Romans auf ihre Aufgabe als diszipliniert-asketische Kämpfer reduziert (vgl. Hilzinger 2000, 165), die Arbeiterfiguren werden
als rigoros und parteilich tapfer gestaltet (vgl. Brandes 1992, 38). Wie diese konstatiert, findet sich »eine ähnlich rigoros-modellhafte Typisierung von politischvorbildlichen Figuren im späteren Werk Seghers’ nicht wieder« (ebd., 39).Entsprechend stellt Kane hinsichtlich zweier Figuren aus dem reichhaltigen Personal des Romans die folgende rhetorische Frage: »Who [...] will remember Pali or Liau Han-tschi, the ready made communists devoid of all doubts and uncertainties?« (Kane 1996, 21). Aber gelingt es der Autorin, wie versprochen den Ausweg hinter dem Untergang aufzuzeigen? Während Kane diese Qualität dem Roman grundsätzlich abspricht (vgl. Kane 1996, 21), verweist Zehl Romero auf die Geste des Segnens, die gegen Anfang und Ende des Romans steht und mit der jeweils ein älterer Revolutionär Glauben und Kraft an einen jüngeren weitergibt (vgl. Zehl Romero 2000, 41). Eine weitere Schwierigkeit für den heutigen Umgang mit den Gefährten besteht in der Darstellung der Geschlechterbeziehungen, obwohl in der Rezeption die Beschäftigung mit dieser Frage fast ausschließlich Zehl Romero vorbehalten bleibt. Bereits 1920 hatte die KPD beschlossen, die sogenannte Frauenfrage dem Klassenkampf unterzuordnen. Auch der BPRS maß Genderfragen wenig bis keine Bedeutung zu (vgl. Zehl Romero 2000, 216 f.). So verbindet sich im Roman die Hoffnung auf radikale Veränderung fast ausschließlich mit dessen männlichen Figuren, während Frauen und Kinder sich immer wieder als Hindernisse auf dem Weg der Revolutionäre erweisen. So denkt Bordoni, der nach der Niederlage des Aufstands mit Frau und Kindern aus Bologna nach Frankreich fliehen musste, wie folgt über seine Familie: »In diesen morschen Wänden, in diesem faulen Brei aus Frau, Haushalt und Kindern gab es nur eine feste Achse, an die man sich halten konnte, sein Armeegewehr unter dem Bett« (Gf, 147). Fraglich bleibt, ob sich die Autorin mit diesen Aussagen identifiziert. Erzählt wird schließlich mit interner Fokalisierung aus der Perspektive eben dieser männlichen Protagonisten. In der Tat ist der Roman hier nicht mit Erklärungen durchsetzt. Umgekehrt gibt es weibliche Figuren, die ihren Männern deren fehlende Zuwendung vorhalten, so Marie, die Frau des ungarischen Kommunisten Bató: »Ich weiß, daß du uns wenig liebst. Aber ich habe nicht gewußt, daß du deine Kinder gar nicht liebst.« (Gf, 217) Zehl Romero führt die geschlechtsspezifische Unterscheidung zwischen aktiven Männern und passiven Frauen in den Gefährten auf Seghers’ Erfahrung ihrer Zeit und der Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten von
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Frauen verschiedener Klassen zurück, aber auch auf das Bewusstsein der Grenzen, »an die sie selbst trotz ihrer wesentlich günstigeren Situation stieß« (Zehl Romero 2000, 240). Die äußerst beschränkten Möglichkeiten, die den weiblichen Figuren zugewiesen werden, können allerdings auch dahingehend verstanden werden, dass von der Autorin weitgehend die Grenzen akzeptiert wurden, die KPD und BPRS ihren weiblichen Mitgliedern gesetzt hatten (s. Kap. 46). Ein zentrales Problem für die Rezeption stellt die Position dar, die Die Gefährten und damit auch die Autorin zum heraufziehenden Faschismus einnehmen. Bedacht werden muss dabei die Sozialfaschismusthese der KPD, ursprünglich ausgegeben von der Komintern, derzufolge die Sozialdemokratie den gemäßigten Flügel des Faschismus bildete, weshalb die SPD noch weit über den Januar 1933 hinaus von der KPD als ihr Hauptgegner betrachtet wurde. Zwar kämpfen die Gefährten gegen ›faschistische‹ Regimes in Ungarn, Polen, Italien und Bulgarien, doch bedeutet die nahezu inflatorische Verwendung des Begriffs ›Faschismus‹ nicht unbedingt, dass die Autorin die Gefahr desselben erkannt hatte. Wie Hilzinger argumentiert, benennt Seghers gleichzeitig zentrale Züge des deutschen Nationalsozialismus, wenn sie wesentliche Herrschaftsinstrumente der Konterrevolution benennt, »die völlige Zerschlagung der Arbeiterbewegung, die physische Vernichtung der politischen Gegner durch brutalen Terror, die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie« (Hilzinger 2000, 165). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Bock (1980, 28– 32). Dagegen verweist Zehl Romero darauf, dass der Roman zwar zwischen faschistischen bzw. rechtsautoritären Ländern und demokratischen wie Deutschland oder Frankreich differenziert, doch diese Unterschiede nicht sonderlich ins Gewicht fallen (vgl. Zehl Romero 2000, 264). Zehl Romero kommt zu dem Schluss, dass Seghers damals die besondere Gefahr des Faschismus noch nicht klar erkannte. Zu demselben Ergebnis gelangt auch Batt: »Indes sollten Die Gefährten nicht, auch nicht indirekt, als eine Warnung vor der NS-Herrschaft in Deutschland [...] verstanden werden« (Batt 1980, 71). Abschließend soll ein gesonderter Blick auf den chinesischen Strang geworfen werden, den Seghers in einen Roman aufnimmt, der sich hauptsächlich mit den revolutionären Ereignissen in Europa befasst. Die Autorin hatte aufgrund ihres Sinologiestudiums und der späteren Bekanntschaft mit chinesischen Revolutionären ein besonderes Interesse an diesem Land. Eine weitere Ursache für die Aufnahme des chinesischen
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Strangs liegt darin, dass die revolutionären Kämpfe in China ab 1927 einen Aufschwung erlebten, während sie in Mittel- und Osteuropa zunehmend gefährdet waren (vgl. Fehervary 2012, 83). Die Hinwendung zu China zeigt, wie Seghers trotz aller Anpassungsbereitschaft die engen Grenzen überschreitet, die KPD und BPRS sich selbst und ihren Anhängern zu setzen suchten. Die Gefährten können deutlich in einen Zusammenhang mit den taoistischen Lehren des Laotse gestellt werden. Das Tao des Romans kann als der Weg verstanden werden, den alle Revolutionäre nehmen müssen. Es ist eine den unterschiedlichen Handlungen der einzelnen Romanfiguren übergeordnete Konstante, die auf den gesamten Kosmos des Romans wirkt (vgl. Joachim 2012, 144). Der vierte Leitsatz des Taoismus – »Man soll auf seine Zeit warten und der Erfüllung harren, und dann jedes Leiden und Unglück, selbst den Tod, mit Fassung tragen.« – lässt sich im Roman immer wieder am Handeln der Revolutionäre nachweisen, die stets gefasst dem eigenen Martyrium und Tod entgegengehen (vgl. ebd., 146). Doch wäre es verfehlt, die Lehre des Laotse als Folie über alle Handlungen der Romanfiguren zu legen. Während die chinesische Philosophie versucht, Toleranz zu üben und Zugeständnisse zu machen, statt den Gegner niederzuringen (vgl. ebd., 143), trifft das sicherlich nicht auf die Revolutionäre des Romans zu. Davon unberührt gilt, dass Seghers mit den Lebensumständen und der inneren geistigen Welt der chinesischen Studierenden vertraut war. So wird deren Auseinandersetzung mit der vom Konfuzianismus hochgeschätzten Pietät gegenüber den Eltern am Beispiel des Liau Han-tschi thematisiert: »Bis gestern waren meine Wünsche die Wünsche meines Vaters. Mein Ehrgeiz war der Ehrgeiz meines Vaters« (Gf, 190 f.; vgl. hierzu Li 2009, 84 f.). Es gilt festzuhalten, dass bis dahin kein anderer deutscher Schriftsteller China und die Chinesen so frei von den üblichen westlichen Stereotypen, von jeder Art von »Chinoiserie«, porträtiert hatte (vgl. Fehervary 2012, 90; Li 2009, 150 f.). Literatur
Albrecht, Friedrich: Anna Seghers in der Literaturkritik des Exils. In: Ders.: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern 2005, 295–319. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 21980. Bock, Sigrid: Historische Bilanz als Moment der Auseinandersetzung mit der faschistischen Gefahr. Anna Seghers’ Roman ›Die Gefährten‹. In: Weimarer Beiträge 26/11 (1980), 5–34.
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II Werk
Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Bredel, Willi: Die Gefährten. In: Ders.: Publizistik. Zur Literatur und Geschichte. Berlin/Weimar 1976, 72–74. Ursprünglich erschienen in: Hamburger Volkszeitung, 3./4.12.1932. Fehervary, Helen: Der China-Komplex in Seghers’ Roman ›Die Gefährten‹. In: Argonautenschiff 21 (2012), 80–93. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Joachim, Mandy: Elemente taoistischer Philosophie in Anna Seghers’ ›Die Gefährten‹. In: Argonautenschiff 21 (2012), 139–149. Kane, Martin: Existentialism or Ideology? The Early Works of Anna Seghers. In: Ian Wallace (Hg.): Anna Seghers in Perspective. Amsterdam/Atlanta GA 1996, 7–25. Kracauer, Siegfried: Eine Märtyrer-Chronik von heute. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt v. 13.11.1932, Literaturblatt 46. Leschnitzer, Franz: Anna Seghers. In: Der Kämpfer 3/8–9 (1935), 88–97.
Li, Weijia: Anna Seghers’ China-Begegnung in ihrem Leben und ihren Werken. The Ohio State University 2009. https://etd.ohiolink.edu/ap/10?0::NO:10:P10_ ACCESSION_NUM:osu1249824696 (30.11.2018). Li, Weijia: Von unmittelbarer Aktualität zu sinnbildlicher Gestaltung – Über die Seghers’sche China-Rezeption. In: Argonautenschiff 21 (2012), 67–79. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Seghers, Anna: Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Tagebuch 1924/1925. Berlin 2003. Seghers, Anna: Die Gefährten. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1. Berlin/Weimar 31983, 97–327. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Reinbek bei Hamburg 1993. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Withold Bonner
6 Der Kopflohn (1933)
6 Der Kopflohn (1933) Nachdem sie bald nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten kurzfristig inhaftiert war, fliehen Seghers und ihr Mann – beide als Juden und Kommunisten doppelt gefährdet –nach Zürich als erster Station ihres Exils, während die beiden Kinder zunächst bei den Großeltern in Mainz bleiben. Im April 1933 ist die Autorin bereits in Paris. Nach der Ankunft der Kinder zieht die Familie Radványi für den Sommer ans Meer, in das kleine Fischerdorf Equihan an der Küste zum Ärmelkanal, wo die Autorin die Arbeit am Kopflohn abschließt. Im Herbst 1933 zieht die Familie in eine Wohnung in Bellevue, Meudon, einem Vorort von Paris. Als Mutter zweier schulpflichtiger Kinder von unter zehn Jahren, die bei der Bewältigung des Alltags kaum Unterstützung von ihrem Mann erfährt, entfaltet Seghers rege kulturpolitische und schriftstellerische Aktivitäten. Von Anfang an verfolgt sie dabei ein breites und umfassendes Bündnismodell, lange bevor es 1935 als Volksfront zum offiziellen Programm der Kommunistischen Internationale wird. Ab Mai 1933 ist sie an der Neugründung des von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) im Exil beteiligt. Gleichzeitig gehört sie der Redaktion der in Prag erscheinenden Neuen Deutschen Blätter an. An Seghers’ Zeit im frühen Exil erinnert sich die Freundin Jeanne Stern wie folgt: »Und wenn der Haushalt mit seinen kleinlichen Sorgen sie belästigte, wenn die vier Wände sie zu erdrücken drohten, packte Anna Seghers ihr Manuskript in die Mappe, fuhr mit dem nächsten Vorortzug nach Paris, setzte sich in ein Kaffeehaus, immer dasselbe, an einen leeren Tisch, unbekümmert um das Gewirr, um das Gewoge, und schrieb.« (Stern 1975, 78)
Mit dem Leben im Exil kommt Seghers sichtlich besser zurecht als viele ihrer Kollegen; in keiner Phase dieses 14 Jahre dauernden Lebensabschnitts sollte sie ihre Produktivität verlieren. Weit weniger als andere sah sich Seghers von der sinkenden Zahl deutschsprachiger Leser/innen infrage gestellt. Dies mag daran liegen, dass sie sich zum Ziel gesetzt hatte, in ihren literarischen Texten einerseits zu einer Verständigung über die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit für sich und die anderen Deutschen zu gelangen, andererseits die Geschehnisse in Deutschland Nichtdeutschen erzählerisch zu erläutern (vgl. Zehl Romero 2000, 300). Im Herbst 1933 erscheint Der Kopflohn gemeinsam
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mit Büchern u. a. von Döblin, Feuchtwanger, Heinrich Mann, Regler, Joseph Roth, Toller und Arnold Zweig in der neugegründeten deutschen Abteilung des Amsterdamer Querido Verlags, deren Leitung Seghers’ bisheriger (Kiepenheuer-)Verleger Landshoff übernommen hatte. Ebenfalls im Herbst wird eine Lizenzausgabe in der kommunistischen Universum-Bücherei veröffentlicht, die in Basel Zuflucht gefunden hatte. Der Roman ist insofern Produkt einer Übergangsphase, als er zwar im Exil abgeschlossen wird, die Autorin jedoch zumindest bestimmte konzeptionelle Vorüberlegungen bereits vor der Flucht aus Deutschland angestellt haben dürfte. Möglicherweise war die Entscheidung für einen auf dem Lande spielenden Roman unter dem Eindruck von Diskussionen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) hinsichtlich einer Erweiterung literarischer Sujets auf bis dahin vernachlässigte Bereiche wie das Bauernmilieu gefallen (vgl. Zehl Romero 2000, 315; Batt 1980, 82). Kommunisten wie auch Sozialdemokraten hatten bis dahin weitgehend die Augen davor verschlossen, wie groß die Gewinne waren, die die Nationalsozialisten gerade in bäuerlichen Schichten erzielten. Während 1930 der Stimmenanteil der NSDAP auf dem Land um 23 % höher liegt als durchschnittlich im Reich, beträgt die Differenz zum Reichsdurchschnitt 1932 sogar 28 % (vgl. Franz 1987, 26). Dabei erweisen sich die Forderungen des BPRS nach einer Bauernliteratur eher als Ausdruck einer kurzatmigen Linienänderung. Sie zeitigen daher keine Ergebnisse in Gestalt einer wachsenden Zahl von Dorfromanen. Neben Adam Scharrers Bauernroman Maulwürfe (1933) bleibt Anna Seghers mit ihrem Projekt eines Romans, der auf dem Lande spielt, weitgehend allein (vgl. ebd., 28).
Inhalt und intertextuelle Bezüge Der Roman, den die Autorin selbst als einen »Roman oder eine größere Novelle über das Eindringen des Nazismus in die bäuerliche Bevölkerung« bezeichnet hat (Seghers 1970, 12), artikuliert Fehler und Niederlage der Bauernpolitik der deutschen Kommunisten, die einzugestehen die KPD weder 1933 noch später bereit war. Das Geschehen des Romans ist um eine Fabel von novellistischem Charakter angeordnet: Der junge Arbeiter Johann Schulz, ohne Beschäftigung wie so viele zu dieser Zeit, ist des Totschlags an einem Polizisten während einer Demonstration in Leipzig verdächtig, wobei auch für den Leser unklar bleibt, inwieweit der Verdacht zutrifft. Schulz flieht ins Dorf Oberwei-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_6
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lerbach zu entfernten Verwandten, bei denen er Unterschlupf findet. Doch schon bald hängt ein Steckbrief in der nahen Kreisstadt Billingen aus, wobei auf den Gesuchten ein Kopfgeld von 500 Mark ausgesetzt ist. Einzelne Bauern nehmen den Steckbrief zur Kenntnis, ohne jedoch Schulz anzuzeigen, obwohl sie das Geld dringend benötigten. Erst gegen Schluss wird er von dem jungen Nazi Kößlin verraten, Arbeiter wie Schulz und ihm verwandt in dem Verlangen nach einem erfüllten Leben. In einem Ausbruch extremer Gewalt wird Schulz von den Bauern angegriffen und beinahe erschlagen. Dies geschieht aber erst, als bekannt wird, dass sich die Polizei bereits im Anmarsch befindet, um ihn zu verhaften. Im Mittelpunkt des Romans steht dabei weniger das Schicksal von Schulz. Vielmehr verbindet die Autorin mit dieser nahezu kriminalistischen Fabel eine Darstellung des Alltagslebens und der sozialökonomischen Verhältnisse auf dem Lande, indem sie um diese Fabel herum eine Vielzahl von Episoden des Dorflebens und Geschichten aus dem Leben einzelner Bauernfamilien anordnet. Wie schon der Untertitel »Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932« anzeigt, umfasst die erzählte Zeit vorwiegend den Sommer des Jahres 1932, von Johanns Flucht im Frühjahr aus Leipzig bis zu seiner Verhaftung im August, unmittelbar nach den Reichstagswahlen am 31. Juli, als die NSDAP, bis dahin in Oberweilerbach fast unbekannt, plötzlich über die Hälfte der abgegebenen Stimmen für sich verzeichnen kann. Intertextuellen Bezügen, die beim Vorgängerroman Die Gefährten noch eine wichtige Rolle gespielt hatten, kommt in Kopflohn ein deutlich geringerer Stellenwert zu. Der Grund dafür dürfte in erster Linie darin liegen, dass Seghers in den Exiljahren möglichst allgemein zugänglich schreiben wollte. Daher verabschiedet sie sich weitgehend von der avantgardistisch experimentellen Richtung, die sie mit den Gefährten eingeschlagen hatte (vgl. Zehl Romero 2000, 314). Gerade der Anschluss an die literarische Moderne hatte dort intertextuelle Bezüge zu Autoren und Regisseuren wie Dos Passos und Eisenstein aufgezeigt. Dabei erinnert die Strukturierung der Kapitel, in denen mit Hilfe von Unterabschnitten oft die Schauplätze gewechselt werden, auch in Kopflohn an durch Schnitte gegliederte Filmsequenzen (vgl. Franz 1987, 28 f.). Der junge Nationalsozialist Kößlin wiederum steht in seiner psychisch vermittelten und gesellschaftlich ableitbaren Widersprüchlichkeit für den Typus des ›guten Nazis‹, der sich auch in Romanen Weiskopfs
und Schönstedts, Willi Bredels oder Klaus Manns findet. Mit diesem Typus verband sich zunächst die Hoffnung der Exilierten, der Widerstand könne auf ihn als Teil einer desillusionierten faschistischen Massenbasis zurückgreifen (vgl. Winckler 1982, 3; Franz 1987, 33). Allerdings unterscheidet sich die Seghers’sche Romanfigur darin von der ›klassischen‹ Konzeption des ›guten SA-Mannes‹ anderer Exilromane, dass Kößlin im Handlungsverlauf keine Entwicklung in dem Sinne durchläuft, dass er sich von den Nazis distanzieren würde (vgl. Franz 1987, 35 f.). Während Seghers die Figur des ›guten Nazi‹ in ihrem Werk nicht wieder aufnehmen sollte, kehrt der Schläger und Mörder Zillich, ein brutaler SA- bzw. SSMann, in ihrem Werk vielfach wieder, z. T. auch unter demselben Namen, so in Das siebte Kreuz und Das Ende (vgl. Zehl Romero 2000, 317; Zehl Romero 1993, 52; Hilzinger 2000, 168).
Zeitgenössische Rezeption Dass sich die unmittelbare Rezeption auf einige wenige Rezensionen beschränkt, kann bei einem im Exil erschienenen Roman kaum überraschen. Dabei stammen die positiven Reaktionen eher aus dem bürgerlichen Lager. So endet die Rezension von O. K. (wahrscheinlich Oskar Koplowitz) für Die Sammlung mit den folgenden Sätzen: »Man schlage das Buch vom Kopflohn auf, wo immer man will, man lese sich eine Seite laut vor: das leichte Würgen im Hals wird man wieder verspüren, das einen (früher, früher!) überfiel, als man über einem Gedicht noch weinen konnte. Gäbe es eine Anthologie, die klassische Stücke deutscher Prosa in sich vereinigt, die Episode vom Freitod der Bäuerin Schüchlin müßte in ihr Aufnahme finden. Dicht neben einer Stelle aus Kleists ›Michael Kohlhaas‹ neben seiner ›Anekdote‹ müßte sie ihren Platz haben.« (Zit. nach Albrecht 2005, 304)
Ein weiterer Grund für den geringen Umfang der unmittelbaren Rezeption findet sich darin, dass das Buch seinen kommunistischen Kritikern eher die Sprache verschlagen zu haben scheint, so Albrecht (ebd.). Die Ursachen dafür sind doppelter Natur. Zum einen wurde in der der KPD nahestehenden Literaturkritik vorausgesetzt, dass die politische Praxis der Partei, in diesem Fall das Bauernhilfsprogramm von 1931, als Ausgangspunkt der Literatur in diesem Bereich zugrunde gelegt würde (vgl. Schlenstedt 1986, 248). Ob-
6 Der Kopflohn (1933)
wohl von »Respekt vor der großen Kunst« der Dichterin erfüllt, macht der Schriftsteller und Publizist Bodo Uhse in einem nicht veröffentlichten Beitrag, den er im Anschluss an eine Diskussion im BPRS in Paris 1934 verfasste, einen »entscheidenden Einwand« gegen Kopflohngeltend: »Die ›realistische Darstellung‹ geht an der Realität vorüber. Allzuviel Psychologie läßt uns eine Flucht in den Idealismus vermuten aus Mangel an Kenntnis der Realität, der sich an entscheidender Stelle offenbart, nämlich bei der Schilderung des kommunistischen Ringens um die Gewinnung der werktätigen Bauernschaft.« (Zit. nach Schlenstedt 1986, 248 f.)
Ein weiterer Grund für die weitgehende Sprachlosigkeit der kommunistischen Kritik liegt darin, dass sich dort ein Verständnis von sozialistischem Realismus durchgesetzt hat, wie es Shdanow 1934 auf dem I. Unionskongress der Sowjetschriftsteller formuliert hatte. Ihm zufolge sollte die Darstellung der außertextuellen Realität diese »als die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung« zeigen (Shdanow 1969, 351). Entsprechend gelangt Kantorowicz zu folgendem Urteil über einen Roman, der den Einfluss der Kommunisten auf dem Lande äußerst pessimistisch einschätzt: »Diese fortgeschrittenen Kräfte der Revolution, die kommen muß, wünschten wir uns manchmal deutlicher; sie sind mit weniger Aufmerksamkeit gezeichnet als die blinden und dumpfen Werkzeuge der Gegenrevolution. Anna Seghers’ Buch endet in Resignation. Alles scheint verloren« (Kantorowicz 1934, 411; Hervorh. W. B.). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Leschnitzer in einer 1935 im sowjetischen Exil publizierten Sammelrezension zu den Texten von Anna Seghers. Zu Kopflohn kommt dieser zu dem Ergebnis, dass der Roman »neben allen Vorzügen ihres Schaffens leider auch dessen sämtliche Nachteile in bedenklich-gesteigertem Ausmaß präsentiert und [...], in bedauerlichem Kontrast zu dem Roman Die Gefährten, nun wirklich nur-defaitistische und nur-depressive politische Perspektiven eröffnet.« (Leschnitzer 1935, 94) Zusammenfassend gelangt er zu dem vernichtenden Urteil, dass Seghers’ Methode zur »Bewältigung der sozialen und politischen Thematik des sozialistischen Realismus untauglich« sei (ebd., 90). Diese negative Einschätzung setzt sich in der DDRLiteraturkritik fort, wie Sigrid Bock noch 1975 feststellt (vgl. KuW1, 55). So findet beispielsweise Der Kopflohn in Hans Baumgarts Dissertation von 1962 über den Kampf der sozialistischen deutschen Schrift-
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steller gegen den Faschismus (1933–1935) keinerlei Erwähnung. Für ihn sind erst Scharrers kurz nach Kopflohn erschienenen Maulwürfe der erste bedeutende Dorfroman aus proletarisch-revolutionärer Sicht (vgl. Franz 1987, 32).
Forschung Die Rezeption ist sich darin einig, dass es sich bei Kopflohn um ein kritisches Gegenstück zum völkischen Bauernroman handelt (vgl. Hilzinger 2000, 166). Gezeichnet wird ein schockierendes Bild vom Leben auf dem Lande, »fern aller Idyllisierung und Verklärung, wie es damals durch die Nazipropaganda und einige Nazischriftsteller (›Blut und Boden‹) gang und gäbe war« (Schrade 1993, 41). Für Brandes ähnelt der Roman der Heimat-Serie von Edgar Reitz in vielen Episoden, auch wenn diese von Seghers noch schärfer gezeichnet werden (vgl. Brandes 1992, 42 f.). Franz hebt insbesondere das Verhältnis von Stadt und Land hervor. Während in den völkischen und faschistischen Bauernromanen der 1920er und 1930er Jahre die bäuerliche Individualität gegen die gefürchtete anonyme ›Vermassung‹ in den Städten gesetzt wird, ist in Kopflohn die Stadt Wohnsitz des Industrieproletariats und Wirkungsfeld der Kommunisten, die – auf dem Lande kaum verankert – von der Stadt aus versuchen, die Bauern zu agitieren. Die städtischen klassenbewussten und solidarischen Proletarier werden als positiver Kontrast zum sozialen Leben auf dem Dorf gezeichnet (vgl. Franz 1987, 31). Der Autorin geht es in erster Linie um eine Bestandsaufnahme, mit der sie der Frage nachgeht, warum sich die Nationalsozialisten derart schnell im deutschen Alltag durchsetzen konnten (vgl. Zehl Romero 1993, 54). Die Niederlage der Arbeiterbewegung kristallisiert sich im Hinweis der Autorin auf die Ermordung des Kommunisten Rendel bald nach dem Machtantritt der NSDAP heraus (vgl. Winckler 1982, 4). Seghers’ Analyse, die nicht die Augen vor der hoffnungslosen Schwäche der Arbeiterbewegung verschließt, unterscheidet sich erheblich von der Position der KPD, die zum Erscheinungszeitpunkt des Romans noch nicht bereit ist, die Niederlage gegen den Faschismus einzugestehen und zunächst weiterhin die SPD als ihren Hauptfeind begreift (vgl. Schrade 1993, 41; Roggausch 1977, 64). Der Roman kann als Selbstkritik der Autorin hinsichtlich der eigenen Blindheit und der der Genossen gelesen werden, da sich das Kommende bereits 1932
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deutlich abzeichnete (vgl. Zehl Romero 2000, 317 f.). Insbesondere gelingt Seghers der Wiedergewinn der vor 1933 weitgehend verloren gegangenen Dimension des Alltags und des alltäglichen Menschen (vgl. Albrecht 2010, 175 f.). Franz, die Kopflohn kritischer sieht als ein Großteil der Rezeption, hält die Selbstkritik des Romans allerdings für begrenzt. Zwar sei sich Seghers der Bedeutung des Eigentumsdenkens der Bauern für deren Antikommunismus durchaus bewusst, wenn sie den SA-Mann Zillich durch den jungen Kößlin wie folgt charakterisieren lässt: »Kößlin dachte, Zillich haßte die Roten, weil sie ihm das Land zerschlagen wollten, nach dem sich Zillich sehnte. Er haßte sie, weil sie ihm das Vieh wegtreiben wollten, das er im Traum besaß.« (Kl, 72 f.) Doch werden die zentralen Inhalte der KPDPolitik gegenüber den Bauern, die in der Kollektivierung der Landwirtschaft den »einzigen revolutionären Ausweg aus dieser Massennot« sah (Rote Fahne v. 22.5.1931, zit. nach Franz 1987, 40), im Roman letztlich nicht kritisch hinterfragt (vgl. ebd., 48). Ein weiteres Moment der Blindheit mag zu diesem Zeitpunkt in der Unterschätzung der Wirkkraft des Antisemitismus liegen. Schulden, Steuern, Juden – darauf stellen die Nationalsozialisten ihren Wahlkampf in Oberweilerbach ab, wobei der Antisemitismus in der Welt des Romans keine große Anziehungskraft ausübt: Der mit den Nazis sympathisierende alte Merz wickelt seine Geschäfte weiterhin mit dem ihm vertrauten Juden Naphtel ab. Auch die Bauern auf dem Viehmarkt in der Kreisstadt lassen sich nur kurzfristig von der Hetzkampagne gegen die jüdischen Viehhändler irritieren (vgl. Franz 1987, 43). Das eher begrenzte Maß an Selbstkritik zeigt sich auch darin, dass als einzige antifaschistische Kraft nur die KPD präsent ist, die SPD findet demgegenüber kaum Erwähnung. Allerdings spielt auch die Sozialfaschismus-These der KPD, die von dieser noch Jahre nach dem Machtantritt der NSDAP vertreten wird, in Kopflohn keine Rolle. Mit dem Vertrauen auf christliche Nächstenliebe, wie sie sich im Verhalten der Bauern Algeier und Andreas Bastian zeigt, mit dem Glauben an eine dem Menschen innewohnende »Gerechtigkeit« (Kl, 39) werden von der Autorin Wertvorstellungen hervorgehoben, die statt auf den Marxismus auf den Humanismus zurückgehen und die für die KPD erst ab 1935 mit deren Volksfrontpolitik Bedeutung erlangen sollten (vgl. Franz 1987, 51; Hilzinger 2000, 168 f.). Im Gegensatz zu den Gefährten greift Der Kopflohn auf einen geschlossenen novellistischen Fabelkern zurück. Die Autorin stellt damit eine Entscheidungs-
situation ins Zentrum des Romans. Wichtig ist, was die Konfrontation mit dem Steckbrief und der darauf ausgelobten Belohnung bei den einzelnen Dorfbewohnern auslöst (vgl. Hilzinger 2000, 170). Um dieses Handlungsgerüst lagern sich einzelne Erzählstränge, die sukzessive das gesellschaftliche Leben auf dem Dorf in der Zeit des Vorfaschismus entfalten (vgl. Winckler 1982, 2). Anders als im traditionellen Dorfroman markieren Feste wie die Doppelhochzeit von Sohn und Tochter des Großbauern und Bürgermeisters Merz keinen Ausbruch aus dem harten bäuerlichen Arbeitsalltag, vielmehr kristallisieren sie das Groteske und die wachsende Brutalisierung der Bauern heraus (vgl. Brandes 1992, 41). Schrade zufolge gelingt es Seghers nicht, alle Handlungsstränge des Romans zu einem kompositorischen Ganzen zu verknüpfen. Insbesondere zwei Stränge – der der Bäuerin Susanne Schüchlin, die von ihrem Mann zu Tode geschunden wird, damit er an sein Erbe kommt, sowie der der jungen Sophie Bastian, die um materieller Vorteile willen an den gewalttätigen jungen Merz verheiratet wird – hätten mit dem zentralen Kopflohn-Motiv nichts zu tun (vgl. Schrade 1993, 43). Doch ist dieser Bruch zwangsläufig. Lediglich die Männer – mit Ausnahme der städtischen Proletarierin und Kommunistin Rendel – sind dem öffentlichen Raum zugeordnet und haben somit Zugang zur Stadt und damit auch dem dort aushängenden Steckbrief. Offenkundig ist aber, dass die Autorin Frauen und damit den Geschlechterbeziehungen im Roman einen großen Stellenwert einräumt. Frauen werden von ihren Vätern und Männern eher als Objekte der sexuellen und körperlichen Ausbeutung, als Besitz- und Tauschgegenstände denn als Menschen wahrgenommen. »Man denkt beim Kopflohn an eine Vorwegnahme der bekannten Sätze von Ingeborg Bachmann, der österreichischen Autorin, die sich aus der Sicht der nächsten Generation mit dem Faschismus auseinandersetzte und meinte, er fange nicht erst bei Bomben und dem Terror an [...], sondern in den Beziehungen zwischen einem Mann und einer Frau. Seghers, für die die Situation der Frau ein Gradmesser der gesellschaftlichen Verhältnisse war, sah und zeigte das bereits in ihrem kleinen Roman.« (Zehl Romero 2000, 318)
Angesichts des hohen Stellenwerts, die den Frauenfiguren in Kopflohn zukommt, ist es erstaunlich, dass der Roman in der ausgedehnten Diskussion über Seghers’ Frauenbild kaum vorkommt (vgl. Albrecht 2010, 172 f.).
6 Der Kopflohn (1933)
Weitgehende Einigkeit herrscht in der Forschung dahingehend, dass der Roman von der Umbruchsituation geprägt ist, in der er entstanden ist. Konzipiert und begonnen vor dem Machtantritt der NSDAP, wurde Kopflohn erst im französischen Exil abgeschlossen. Während es einerseits der Autorin aus dem Nachhinein um eine Bestandsaufnahme der Gründe geht, die zum Sieg des Nationalsozialismus führten, zielt andererseits das szenische Erzählen, das den Roman prägt, auf rhetorische Entlarvung des Nationalsozialismus wie in den Szenen zwischen Kößlin und Schulz. Die Dialogkonzeption des Romans sieht noch die Bauern als direkte Ansprechpartner, sie setzt beim Leser auf Lernprozesse und fordert dessen politische Entscheidungen ein, die unter den Bedingungen der Illegalität und des Exils 1933 nicht mehr realisierbar erscheinen (vgl. Winckler 1982, 4; Franz 1987, 35 f.). Literatur
Albrecht, Friedrich: Anna Seghers in der Literaturkritik des Exils. In: Ders.: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern 2005, 295–319. Albrecht, Friedrich: Anna Seghers und die Krisen der deutschen Geschichte. Zu ihrem Roman ›Der Kopflohn‹ von 1933. In: Argonautenschiff 19 (2010), 155–179. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 21980. Berkessel, Hans: Anna Seghers: ›Der Kopflohn‹ – Not, Gewalt und Flucht am Vorabend der NS-Diktatur. In: Argonautenschiff 25 (2017), 71–81.
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Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Franz, Marie: Die Darstellung von Faschismus und Antifaschismus in den Romanen von Anna Seghers 1933– 1949. Frankfurt a. M./Bern/New York 1987. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Kantorowicz, Alfred: Der Kopflohn. In: Die Neue Weltbühne 13 (1934), 410–411. Leschnitzer, Franz: Anna Seghers. In: Der Kämpfer 3/8–9 (1935), 88–97. Roggausch, Werner: 1933–1947: Literatur und antifaschistischer Kampf. Eine Einleitung. In: Peter Roos/Friderike J. Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 62–72. Schlenstedt, Silvia: Literaturkritik im Lernprozeß. In: Dies. (Hg.): Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933. Berlin/Weimar 1986, 244–278. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Seghers, Anna: Briefe an Leser. Berlin 1970. Seghers, Anna: Der Kopflohn. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 2. Berlin/Weimar 21984, 7–183. Stern, Jeanne: Das Floß der Anna Seghers. In: Kurt Batt (Hg.): Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Berlin/Weimar 1975, 77–91. Winckler, Lutz: »Diese Realität der Krisenzeit«. Anna Seghers’ Deutschlandromane 1933–1949. In: Text + Kritik 38 (1982), 1–26. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Reinbek bei Hamburg 1993. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Withold Bonner
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7 Der Weg durch den Februar (1935)
Inhalt
Der Weg durch den Februar ist der dritte Roman von Anna Seghers und wurde 1935 in Paris und Moskau (vgl. Ranicki 1957, 60) veröffentlicht. Im Februar 1934 brach der Aufstand der österreichischen Arbeiter gegen die – im März 1933 errichtete – austrofaschistische Dollfuß-Diktatur aus. Von deutschen Sozialisten wurden die bewaffneten Kämpfe als die Rehabilitation der Arbeiterbewegung beurteilt. Anna Seghers, die zu dieser Zeit im Pariser Exil lebte, ersuchte in einem Brief nach Moskau um eine Reise erlaubnis nach Österreich, wo sie sich näher mit der aufständischen Bewegung auseinandersetzen und eine Idee für eine schriftstellerische Arbeit verfolgen wollte. Zu dieser Zeit hielten sich auch Bertolt Brecht und Friedrich Wolf in Wien auf. Auch sie fiktionalisierten ihre Erfahrungen des Aufstandes: Friedrich Wolf: Floridsdorf (1935), Bertolt Brecht: Koloman Wallisch Kante und Über den schnellen Fall des guten Unwissenden, 1935 (vgl. Weinzierl 1984). Auch andere deutsche Emigranten widmeten ihre Texte dem Ereignis: Oskar Maria Graf: Die gezählten Jahre, 1936 (vgl. ebd.), Johannes R. Becher: Die Herren der Lage, 1934 (vgl. Tálos/Neugebauer 2012, 341). Als eine Vorstudie zu dem Roman Der Weg durch den Februar gilt die Reportage Der letzte Weg des Koloman Wallisch, die Seghers 1934 im Juli-Heft der Neuen Deutschen Blätter veröffentlicht hatte. Die Autorin fasste ihre Reiseeindrücke in einer originellen Form zusammen, die an die literarischen Reportagen von Egon Erwin Kirsch erinnert. Seghers besuchte mehrere Wochen lang die Zentren des Aufstandes, nahm an den einzigen noch erlaubten Versammlungen für Arbeiter teil, war Zuschauerin in Prozessen gegen Februarkämpfer und »reiste nach Graz oder Bruck, wanderte ins Gebirge hinein, den Spuren von Kolman Wallisch nach« (Diersen 1965, 237). In dem Text, der in der ersten Person verfasst ist, wird hauptsächlich die persönliche Wahrnehmung der besuchten Orte geschildert, außerdem werden Ausschnitte aus diversen Anklageschriften und Aussagen von Betroffenen zitiert. Der Reisebericht dient nach Diersen »der ideellen Durchdringung des Sujets, einer ersten Erschließung der gegebenen Konflikte und möglichen Motive« (ebd., 257).
Die Autorin gibt im Roman ein literarisiertes Bild des Aufstandes in Österreich, der Mitte Februar 1934 an vielen Orten des Landes ausgebrochen ist. Der Schutzbund, eine paramilitärische Truppe der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, unterliegt im erbitterten Kampf, der viele Todesopfer fordert, der Heimwehr sowie dem Bundesheer, der Polizei und Gendarmerie der Regierung Dollfuß. Der Roman umfasst sechs Kapitel mit insgesamt 45 Abschnitten, die teilweise formal abgeschlossene Episoden bilden. Es wird die Geschichte des gescheiterten Aufstandes gegen das klerikal-faschistische DollfußRegime erzählt. Der Aufbau deutet auf Mehrsträngigkeit der Handlungsführung und orientiert sich stark an den tatsächlichen Zentren des Aufstands innerhalb Wiens und in ganz Österreich. Seghers passte den Stoff an die realen Gegebenheiten an, denn der Aufstand war von Anfang an zersplittert, die einzelnen Handlungen spielen demnach in Linz, Steyr, Graz, dem Gebirge bei Bruck und in verschiedenen Arbeiterbezirken Wiens: im Karl-Marx-Hof, in Floridsdorf und Ottakring. In den einzelnen Episoden treten verschiedene Figuren auf, ohne dass sich eine zur Hauptfigur herauskristallisiert. Seghers sieht die entscheidende Ursache für die Niederlage des Aufstandes im Verrat der Führungskräfte, was sie im Text deutlich markiert. Die Schuldzuweisung ergeht an die sozialdemokratische Führung, weil sie nicht im Stande war, eine Volksfront zu bilden, denn das dafür erforderliche Bündnis mit den Kommunisten wurde nicht geschlossen.
Rezeption Im Herbst 1935 würdigt Karl Schmückle in Heroische Realität den neuen Roman von Anna Seghers über die Kämpfe der Wiener Schutzbrüder (vgl. Schmückle 1935). Steffie Spira-Ruschin behauptet allerdings in ihren Erinnerungen Trab der Schaukelpferde. Aufzeichnungen im Nachhinein, dass direkt nach der Veröffentlichung des Romans von Seiten der Kritiker der Autorin vorgeworfen wurde, sie bleibe im Privaten stecken und lasse es an Kritik gegenüber den sozialdemokratischen Führern fehlen (vgl. Grebly 1935, 4). Es wird an mehreren Stellen konstatiert, dass die Veröffentlichung des Romans zu harten Auseinandersetzungen im Kreis von Seghers’ Genossen führte (vgl. Spira- Ruschin 1984, 217; Schiller 2010, 139). Schiller unterstreicht die literaturpolitische Wirkung des Bandes zur
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_7
7 Der Weg durch den Februar (1935)
Zeit seiner Entstehung und nennt ihn einen Beitrag zur Weiterentwicklung der proletarisch-revolutionären Literatur (Schiller 2010, 134).
Forschung Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler äußerten sich oft in ihren Besprechungen und Analysen zur Poetologie des Romans. Marcel Reich-Ranicki betont Seghers’ Bereitschaft, neue Formen des literarischen Schreibens auszuprobieren, sie orientiere sich formal an solchen Autoren wie James Joyce oder John Dos Passos (Reich-Ranicki 1994). 1963 schreibt er in Die Zeit, der Roman sei »kühn in formaler Hinsicht (wenn auch völlig mißlungen)«, denn »die experimentierende Autorin« ließe »sich vom Film und von der Photomontage anregen und versuchte es bisweilen mit der Simultaneität. Teile dieses Romans erwecken den Eindruck, als handle es sich um ein Filmdrehbuch« (Reich-Ranicki 1963). Charakteristisch für Seghers’ Text ist, so behauptet der Literaturkritiker, dass sich im Weg durch den Februar zwar immer wieder Perspektiven auf einen gelungenen Gesellschaftsroman eröffnen, diese »aber von der Autorin nicht aufgenommen« werden (Ranicki 1957, 68). Bock, Neugebauer und Schrade betonen demgegenüber den dokumentarischen Charakter des Textes; diese Einschätzung setzten sie an der Art des Stoffes an, der für den Plot des Romans herangezogen wurde (vgl. Bock 1975, 21; Neugebauer 1980, 50; Schrade 1993, 44). Das historische Ereignis beeinflusst maßgeblich »den Aufbau und die künstlerische Eigenart des Werkes« (Bock 1975, 21). Die vielen Gestaltungswidersprüche – kurze, abgerissene Passagen, von denen Reich-Ranicki (1994; vgl. auch Batt 1973, 96) spricht und sie mit Szenen eines Theaterstücks vergleicht (Ranicki 1957, 65) – hängen »mit den noch wenig geklärten theoretischen Fragen der internationalen Arbeiterbewegung« (Diersen 1965, 299) zusammen. Diersen bemängelt zwar die fehlenden Urteile und Einschätzungen, die das Thema verlangen würde und die »als Gedanken und Äußerungen epischer Figuren« formuliert werden sollten (ebd.), sucht allerdings nach einer Rechtfertigung für diese formale Gestaltung des Textes und findet, dass Seghers eher den Weg der Gestaltungswidersprüche und Motivierungslücken gehe, »als dass sie ein Werk mit definitiv falschen oder halb richtigen Urteilen belastet. Dadurch erreicht sie eine höhere Stufe des Realismus« (ebd.). Diese Einschätzung teilt Hilzinger, denn durch die
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gewählte Form erreiche die Autorin eine umfassendere, menschlichere Gestaltung von Vorgängen und Figuren (Hilzinger 2000, 171). Hilzinger unterstreicht eine wichtige Entwicklung der literarischen Qualität von Seghers’ Werk: Das Verhalten von Seghers’ Figuren »wird nun nicht mehr aus vorgegebenen Charakteren oder ausschließlich aus sozialer Gebundenheit heraus erklärt, sondern der Spielraum ihrer Entscheidungen wird stärker betont und erzählerisch ausgelotet« (ebd.). Ranicki betont demgegenüber die Schwäche einzelner psychologischer Darstellungen der Figuren. Einerseits gelinge es der Autorin, die persönlichen Tragödien gewöhnlicher Mitglieder der Sozialdemokraten, die über Jahre von der Idee getragen wurden und einen für sie sinnvollen Freiheitskampf geführt hatten, eindringlich zu schildern (vgl. Ranicki 1957, 64 f.). Andererseits führe der Verzicht auf ein zentrales Ereignis dazu, dass auch Hauptprotagonisten, die die Handlung zu tragen hätten, vollkommen fehlen. Die übertrieben eingesetzte »vielsträngige Komposition«, so urteilt Batt (1973, 96), behindere die Übersicht (vgl. auch: Ranicki 1957, 65). Am häufigsten wurde der Roman im Hinblick auf seine politisch engagierte Seite interpretiert. Der Weg durch den Februar ist der einzige Roman, für den unmittelbar aktuelle Ereignisse die inhaltliche Grundlage bilden, schreibt Diersen (1965, 257) und betont den Umstand, dass zwischen der erzählten Zeit und der Zeit des Erzählens eine Zeitspanne von weniger als einem Jahr liegt, was zu einer direkten und distanzlosen Übernahme des Stoffes führt (ebd., 228). Im Mittelpunkt des Romans sieht Diersen die Kampfbereitschaft und den Heroismus des österreichischen Proletariats sowie die Probleme, die sich für jeden einzelnen ergeben, wenn »er mit der Niederlage fertig werden muss« (ebd., 283). Demgegenüber konstatiert Neugebauer, dass Seghers zur Gestaltung des Romans durch die Unterschiede zu den Vorgängen in Deutschland angeregt wurde: »das Zusammengehen von Kommunisten und Sozialdemokraten; Anzeichen einer Volksfront« (vgl. Neugebauer 1980, 48; Diersen 1965, 232). Der Autorin gehe es nicht unbedingt konkret um die Darstellung des österreichischen Aufstandes, sondern vielmehr um die Differenzen zwischen SPD und KPD (vgl. Schrade 1990, 46). Während für Neugebauer vor allem der Prozess der Wandlung wichtig ist, den der Aufstand in »unterschiedlichen, auch ganz unpolitischen Gestalten« bewirkt (Neugebauer 1980, 50), beurteilt Schrade diesen Aspekt des Romans anders: Obwohl dem Text ein politisches Ereignis zugrunde liegt, so sei er doch nicht vordergründig politisch »wie bei
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manch anderem kommunistischen Autor« (Schrade 1993, 45). Da Seghers auf die Darstellung historischer Zusammenhänge weitgehend verzichtet, ist eine solche verallgemeinernde Lesart durchaus möglich. Da die Erinnerungen an die gesellschaftspolitischen Ereignisse vom Februar 1934 lediglich einen andeutenden Charakter besitzen bzw. verschwiegen werden, ist es schwierig, der Handlungsmotivation einiger Figuren zu folgen (vgl. Ranicki 1957, 25). Anna Seghers vermittelt oft in ihren literarischen Texten, vor allem in deren Schlusspassagen, das Gefühl einer Hoffnung auf Besseres, die in eine ferne Zukunft weist. In diesem Sinne deutet Diersen den Inhalt des Romans als den Hoffnungsträger für spätere revolutionäre Aktionen, denn der Sinn der Niederlage bestehe darin, dass »sie zum Signal werden kann und über die Landesgrenzen hinaus zu wirken vermag« (vgl. Diersen 1965, 283). Auch Brandes sieht am Ende des Romans an mehreren Stellen Motive der Hoffnung auf einen Sieg der Proletarier (vgl. Brandes 1992, 43). Die utopische Funktion dieses zeitgeschichtlichen Ereignisses betont auch Friedrich Wolf (vgl. Diersen 1965, 283). Heutzutage findet dieser Roman nur noch in Spezialuntersuchungen Erwähnung. Literatur
Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Bock, Sigrid: Wirklichkeitsanalyse und Realismusgewinn. In: Weimarer Beiträge 11 (1975), 21–34. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Diersen, Inge: Seghers-Studien. Interpretation von Werken
aus den Jahren 1926–1935. Ein Beitrag zu Entwicklungsproblemen der modernen deutschen Epik. Berlin 1965. Grebly, Martin: Österreichs Helden 1934. Zu dem Roman von Anna Seghers Der Weg durch den Februar. In: Der Gegen-Angriff 3/22 (1935), 2–5. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Berlin 1980. Ranicki, Marceli: Epika Anny Seghers. Warszawa 1957. Reich-Ranicki, Marcel: Die kommunistische Erzählerin Anna Seghers. Die Zeit vom 4. Oktober 1963. In: https:// www.zeit.de/1963/40/die-kommunistische-erzaehlerinanna-seghers/komplettansicht (14.5.2019). Reich-Ranicki, Marcel: Lauter schwierige Patienten 10. Gespräch über Anna Seghers zwischen Marcel ReichRanicki und Peter Voß vom 24.2.1994, Südwestfernsehen. 10:51–11:30. In: https://www.youtube.com/ watch?v=wMgik0UzpBE (19.5.2019). Schiller, Dieter: Der Traum von Hitlers Sturz. Studien zur deutschen Exilliteratur 1933–1945. Frankfurt a. M. 2010. Schmückle, Karl: Heroische Realität: Zu Anna Seghers neuem Roman ›Der Weg durch den Februar‹. Internationale Literatur 5/10 (1935), 77–94. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart 1993. Seghers, Anna: Der letzte Weg des Koloman Wallisch. In: Neue Deutsche Blätter 1/10 (1933), 585–595. Seghers, Anna: Der Weg durch den Februar. Paris 1935. Spira-Ruschin, Steffie: Trab der Schaukelpferde. Aufzeichnungen im nachhinein. Berlin/Weimar 1984. Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang: Austrofaschismus. Politik, Ökonomie, Kultur, 1933–1938. Münster 62012. Weinzierl, Ulrich: Februar 1934: Schriftsteller erzählen. Wien 1984.
Monika Wolting
8 Die Rettung (1937)
8 Die Rettung (1937) Die Rettung, ein im französischen Exil entstandener und 1937 in Amsterdam im Querido Verlag erschienener Roman, der bis dahin umfangreichste von Anna Seghers, knüpft an den letzten Satz der Erzählung Grubetsch an: »Aber das waren gewöhnliche Liebschaften, gewöhnliche Tode« (Gr, 71). Diese preisgekrönte Erzählung aus dem Jahre 1927 ist in mancher Hinsicht als Vorarbeit für Die Rettung zu betrachten. Nicht so bekannt wie der Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) und ihre nachfolgenden Werke Das siebte Kreuz und Transit, bedeutet Die Rettung doch einen wichtigen Schritt im Schaffen der Autorin. Dieser Roman über die letzten Jahre der Weimarer Republik behandelt die deutsche Arbeiterklasse und die Arbeitslosigkeit als Folge der Krise. Die Zentralfigur, der Bergarbeiter Bentsch, besitzt »neben Eigenschaften einer proletarischen Führergestalt auch kleinbürgerliche Züge des Verzagens [und] Zweifelns«. So »wird er zu einer zeittypischen Volksgestalt« und stellt »eine Korrektur der heroischen Avantgardefiguren der Gefährten dar« (Batt 1980, 98). 1947 erschien der Roman im Aufbau Verlag in Berlin und 1965 im Luchterhand Verlag, Neuwied. Im Unterschied zu früheren Romanen (Die Gefährten, Der Kopflohn, Der Weg durch den Februar) hat Seghers in Die Rettung alle Personen auf eine Zentralfigur hin geordnet. Während die anderen Romane von der Absicht bestimmt waren, den individuellen Helden durch ein Ensemble von Akteuren zu ersetzen, folgt Die Rettung mit ihrer Kernhandlung dem Muster des bürgerlichen Entwicklungsromans, obwohl es ihn beträchtlich verfremdet (vgl. Sauer 1978, 91). Mit seiner »traditionellen« Komposition stellt Die Rettung eine Ausnahme in Seghers’ Gesamtwerk dar (vgl. Diersen 1965, 302). Gleichwohl gehört er in die Reihe der Zeitromane, in denen sich die Autorin, den Überlegungen von Lukács folgend (s. Kap. 36), um eine gesellschaftliche Totalität bemüht. Seghers sucht nach einer Gestaltungsweise, die »sowohl die Individualität wie das überindividuelle geschichtliche Wesen zum Ausdruck bringt« (Schrade 1993, 48). Dabei entwickelt sie ihre eigene ästhetische Form, indem sie sich der Reportage, des Berichts, aber auch des inneren Monologs und der erlebten Rede bedient, um so den gesellschaftlichen Gesamtprozess zu konkretisieren. Da für Seghers schriftstellerische Tätigkeit und politische Überzeugung eine Einheit bilden und es im Roman nicht nur um die Rettung aus einem Grubenunglück geht, sondern auch aus einem nationalen po-
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litischen Unglück, kann man von einem »politischen Roman« (Batt 1980, 99) sprechen. Als Die Rettung 1947 in Deutschland erschien, schrieb Seghers im Vorwort, der Roman sei nur eins unter einigen bis dahin verbotenen Büchern, die sie geschrieben habe, um »verschiedene Ausschnitte, verschiedene Phasen aus dem Leben in Deutschland durch sehr verschiedene Menschen darzustellen« (R, 5). Während sie im Siebten Kreuz den Widerstand gegen das Hitlerregime thematisiert, stellt Die Rettung »eine Epoche dar, die wir alle als ›Krise‹ in böser Erinnerung haben. Die Menschen sind Menschen der Krisenzeit, ihre Leiden sind Leiden der Krisenzeit, ihre Liebschaften sind Liebschaften der Krisenzeit« (ebd.). Ausgangspunkt für das erfundene Geschehen bildet eine verheerende Grubenkatastrophe, die sich 1932 in Beuthen im oberschlesischen Revier zutrug. Allerdings war »der aufsehenerregende Bericht jenes Bergarbeiters, der mehrere Kameraden vor dem Untergang bewahrte, für Anna Seghers nicht mehr als ein Anlaß für die äußere Rahmengestaltung des Romans, dessen Niederschrift – nach einigen historischen und sozialgeschichtlichen Milieustudien im belgischen Borinage – vermutlich 1935 begann« (Batt 1980, 98). Außerdem hat sie den ersten Teil von Hans Marchwitzas autobiografischer Romantrilogie Die Kumiaks (1934) zu Rate gezogen.
Inhalt Eingebettet in die Zeit der schweren Wirtschaftskrisen in Deutschland Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, deren Folge eine sehr hohe Arbeitslosigkeit war, spielt der Roman in Oberschlesien in und um Findlingen, einem Vorort des Bergarbeiterdorfes B., in der Zeit von November 1929 bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933. Der Roman beginnt auf engstem Raum mit der Darstellung der Situation 700 Meter unter der Erde, wo sieben Bergleute in einer vom Steinrutsch freigegebenen Spalte auf die Rettung warten. Nach einer Schlagwetterexplosion können von 53 Verschütteten am siebten Tag nach dem Unfall nur sieben Bergleute geborgen werden; der Tag der Rettung ist der 19.11.1929 (und markiert so den 29. Geburtstag der Autorin). Seghers schildert die Zeit des Wartens auf die Rettung sowie das Leben danach, als sich die wirtschaftliche und politische Krise ankündigt. Die Bergleute werden arbeitslos, der Naturkatastrophe folgt die soziale Katastrophe. »Werden sie die Solidarität, die sie in der Naturkatastrophe bewährt haben, in der Kata-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_8
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strophe der Gesellschaft bewähren können?« (Benjamin 1980, 533). Der Roman zeigt am Beispiel der Bergarbeiter und ihrer Familien, wie sie die »Krisenzeit erlebten, wie sie ihre Erfahrungen verarbeiteten und wie sich ihr Bewusstsein dadurch prägt und verändert« (Hilzinger 2000, 172), wie langjährige Arbeitslosigkeit den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichte, der die Arbeitslosen noch tiefer fallen lässt, nämlich in die Nazihölle (vgl. Benjamin 1980, 537). Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Geht es im ersten um die Rettung aus der Grube, im zweiten um die Stilllegung der Grube und die Darstellung der Arbeitslosigkeit, so handelt der dritte von der politischen Polarisierung der Arbeiter. Das Ende bleibt offen. Nach der Wiedereröffnung der Grube durch die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten taucht der Protagonist Andreas Bentsch in den Widerstand ab. Am Ende des ersten Teils schimmert Hoffnung auf: »Sie kommen« (R, 27). Dieser kürzeste, auch als »Rettungsnovelle« (vgl. Klein 2001, 223) bezeichnete Teil mutet wie ein Prolog an, in dem sich die spätere Handlung ankündigt. Als die sieben Verschütteten nämlich spüren, man bohrt zu ihnen durch und »das Schwerste ist vorbei« (R, 27 f.), sagt Bentsch, der bei der Organisation des Lebenskampfes eine zentrale Rolle spielte, prophetisch: »Vielleicht fängt’s erst an« (R, 28). Nach der Rettung, als die Geborgenen noch im Krankenhaus liegen, kommt der Verdacht auf, dass man ihre Grube stilllegen wird. Der zweite Teil des Romans, der elf ungleich lange Kapitel umfasst, erzählt von der Vorbereitung auf die Stilllegung, von der Vorbereitung auf die Krise und deren Folgen. Dieser Teil des Romans ist eigentlich die »Darstellung von Leere, von Langeweile, die Darstellung des stillstehenden, stockenden Lebens von Arbeitslosen am Ende der Weimarer Republik« (Schrade 1993, 49). Die meisten Nachrichten bekommt der ca. 40-jährige Bentsch von dem 26-jährigen Sadovski, der zu den sieben Geretteten zählt. Neben Bentsch stellt er im Roman eine der wichtigen Nebenfiguren dar. Er ist Bentschs Freund, und an diesem »talentierten und unsteten Spötter« (Klein 2001, 229) wird exemplifiziert, wie man langsam an der Langeweile zugrunde geht, wie er durch die Erfahrung »eigener Nutzlosigkeit und Ohnmacht zermürbt wird« (Roggausch 1977, 79). Darin liegt für die Autorin eine besondere ästhetische Herausforderung, »die Darstellung von Leere und Langeweile (Arbeitslosigkeit) zu einem interessanten, den Leser in den Bann ziehenden Gegenstand« zu machen (Schrade 1993, 50). Die Proletarier wählte Seghers als ihren neuen Stoff, denn nur die aus den untersten, ärmsten
Schichten Stammenden konnten mit dem selbstbewussten Kampf gegen die bestehenden Macht- und Gesellschaftsstrukturen die Leere überwinden, in der Seghers mehr noch als in der wirtschaftlichen Krise das Hauptproblem ihrer Zeit sah (vgl. Zehl Romero 1994, 28). Der Hauptschauplatz des zweiten Teils ist Bentschs Wohnküche, wo sich die Arbeitslosen Rat, Hilfe und Trost holen; dieser Ort verbindet das Private mit dem Politischen. Während die Männer langsam in die Passivität abdriften, wird Bentschs Frau Ursula mit vier Kindern, denen sich noch Katharina hinzugesellt, aktiv und hält die Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Hatte man Seghers bisher einen »männlichen Blick« vorgeworfen, so hat sie nun das gewöhnliche Leben aufgewertet und ein positiveres Bild der Frau gezeichnet, was mit Sehgers’ »schwierigen, persönlich wie historisch neuartigen Bedingungen des Exils« zusammenhängt (vgl. Zehl Romero 1994, 61). Der stillen Katharina, der Tochter von Bentschs Frau aus erster Ehe, kommt eine wichtige Funktion zu, wobei Seghers die soziale Bedingtheit des Charakters herausarbeitet. Mit Katharina hat sie, ähnlich wie bereits in Grubetsch und Die Ziegler, einen spezifischen Mädchentyp geschaffen. Diese jungen Frauen mit »ihrer ängstlichen Schwäche und Kränklichkeit, mit ihrer hoffnungslosen Sehnsucht« (Zehl Romero 1994, 30) zeigen Seghers’ Interesse für die Benachteiligten. »Die Mädchenfiguren des Frühwerks sind jedoch bei aller Sympathie, die ihnen die Autorin entgegenbringt, stets Opfer – jede Hoffnung auf Aufruhr und Veränderung knüpft sich an die Männer« (ebd., 30). Am Ende des zweiten Teils stirbt Katharina. Ihre vorübergehende Präsenz in der Familie steht »für vorübergehende Hoffnungen auf ein Ende von Vereinzelung und Alleinsein: ihr früher Tod verschärft den von den Eheleuten Bentsch auszutragenden Konflikt zwischen Gottesverlust und Gottvertrauen« (Klein 2001, 229). Benjamin vergleicht Katharina mit der Melusine und glaubt, mit ihr an den Kern des Romans zu gelangen (vgl. Benjamin 1980). Im dritten, zehn Kapitel umfassenden Teil taucht ein weiterer junger Mensch auf: der 26-jährige Bergarbeiter Lorenz Eibner, der sich der kommunistischen Bewegung anschließt. Dieser fremde Eindringling wird von allen geliebt wie früher Katharina, deren Funktion er übernimmt. »Mit Lorenz ist eine Figur gestaltet, der eine Synthese zwischen dem Privaten und dem Politischen, zwischen individuellem Lebensanspruch und gesellschaftlicher Veränderung zu schaffen vermag« (Hilzinger 2000, 174). Nach dem
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frühen Tod seiner Eltern entbehrte auch er – wie Katharina und Sadovski – die Obhut eines fürsorglichen Elternhauses – aber im Gegensatz zu ihnen, entscheidet er sich, »aktiv nach tieferen Gesellschaftseinsichten und besseren Lebenschancen zu suchen« (Klein 2001, 230); deshalb bildet er sich konsequent weiter. Lorenz Eibner führt mit seinem Vorbild Bentsch lange Gespräche. Hier gestaltet Seghers wieder ein Lehrer– Schüler-Verhältnis wie bereits im Aufstand der Fischer von St. Barbara, in den Gefährten und im Weg durch den Februar (vgl. Batt 1980, 101), das sich in Die Rettung jedoch umkehrt. Bentsch, der am Anfang während des Wartens auf die Rettung, als treibende Kraft wirkt, tritt im Laufe der Handlung immer mehr zurück, sieht im zweiten und im dritten Teil eher passiv seinem Schicksal zu und zwar »in dem Maße, wie seine menschliche Rührigkeit vor den sich fast unsichtbar vollziehenden Politisierungsprozessen versagt« (ebd.). Er wird vom Ratgebenden zum Ratsuchenden und greift erst gegen Ende des Romans wieder aktiv ein, um Lorenz zu retten. Nach der Machtübernahme der Nazis und dem Reichstagsbrand wurden viele im Viertel lebende Kommunisten inhaftiert. Zusammen mit seinem ältesten Sohn verteilt Bentsch Flugblätter und schöpft Hoffnung auf Veränderung (vgl. Sauer 1978, 94). Ihm wird bewusst, dass der aktuelle politische Zustand nur durch organisierten Widerstand überwunden werden kann (vgl. Schrade 1993, 50). So findet er zum Lebensmut zurück.
Rezeption Der Roman wurde sofort begeistert aufgenommen. In der Zeitschrift Das Wort wurde er von Justin Steinfeld und Klara Blum besprochen, in Internationale Literatur – Deutsche Blätter von Kurt Kersten. Eine der ersten umfassenden Rezensionen verfasste Walter Benjamin im Jahre 1938 und charakterisierte den Roman als »Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen«. Seghers schildere ausführlich und genau den Alltag und die Bewusstseinslage der Betroffenen: ihre Solidarität und das langsame Abstumpfen. An Benjamin knüpft die spätere Forschung sehr häufig an. Sonja Hilzinger vertritt die These, Seghers denunziere den Weg in den Nationalsozialismus nicht als Konsequenz eines falschen Bewusstseins, sondern zeige, »dass es tiefe und echte Bedürfnisse und Sehnsüchte sind, die diese Menschen der Verführung durch den Nazismus erliegen lassen: es sind Wünsche nach Aufbruch und Abenteuer, nach Gebrauchtwerden,
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nach einem Leben ohne Hunger und Elend, nach Freude und Glück, Geborgenheit und Zukunftsperspektive« (Hilzinger 2000, 174). Von der nachhaltigen Wirkung des Romans zeugen zwei Briefe von Italo Calvino und Natalia Ginzburg aus dem Jahre 1950, die die italienische Übersetzung der Rettung mit großem Interesse gelesen hatten (vgl. Goll 2013).
Forschung Seghers hat es gewagt, der Niederlage der Revolution in Deutschland ins Auge zu sehen – »eine männliche Fähigkeit, notwendiger, als sie verbreitet ist«, schreibt Benjamin (1980, 535). In der Rettung ist es ihr zum ersten Mal gelungen, die Geschichte der Arbeiterklasse exemplarisch für die Entwicklung des deutschen Staates zu zeigen. Die Figur des arbeitslosen Bergarbeiters Bentsch ist »Klassen- und Nationalrepräsentant« in einem, und zwar im positiven und im negativen Sinn: »Das Versagen des Helden in entscheidenden politischen und privaten Situationen steht stellvertretend für das Versagen breiter Schichten des Proletariats und der Volksmassen, durch das bewirkt wurde, daß die Errichtung der faschistischen Diktatur nicht verhindert werden konnte« (Diersen 1965, 304). Neben dieser gesellschaftskritischen Diagnose gelingt es Seghers, das sich nun einstellende materielle Elend und die psychische Verelendung der Arbeiter, die die Beschäftigungslosigkeit mit sich bringen, eindringlich zu schildern (vgl. Sauer 1978, 92). Skeptisch hingegen beurteilt Schrade die Rettung aus der lebensbedrohlichen Situation, die zu keinem neuen bewussteren, sondern »in das zerstörerische und selbstzerstörerische« Leben der Arbeitslosigkeit führt. Ähnlich wie bereits Benjamin, konstatiert er: »Das Beklemmende dieses Zustands, die allmähliche Zerstörung der menschlichen Würde durch Arbeitslosigkeit, die Leere und Langeweile hat Anna Seghers hier auf unnachahmliche Weise geschildert« (Schrade 1993, 50). Werner Roggausch, der die Politisierung des Alltags in den Romanen Der Weg durch den Februar und Die Rettung untersucht, kommt zu dem Schluss, dass Die Rettung in der Vielzahl von Episoden ein Bild des Krisenzustandes abgibt und nicht ein Bild des herausragenden Individuums, wobei Seghers versucht, das Verhalten der Passiven und Schwankenden zu erklären (vgl. Roggausch 1977, 80 f.). Der Roman rückt nicht »die Nutzung brachliegender Sehnsüchte und Kräfte der Menschen durch die Nazis« ins Zentrum,
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sondern »die Versäumnisse und Fehler der Kommunisten, die zur Spaltung der Arbeiterbewegung beigetragen haben« (Hilzinger 2000, 174). Darin sieht Hilzinger weniger eine ideologische Kritik als eine menschliche: Die Kommunisten haben als Menschen versagt (vgl. ebd.). Die Selbstkritik einer Kommunistin bewertet auch Schrade positiv, denn »die Partei, der Anna Seghers angehörte, [war] nicht in der Lage« dazu (Schrade 1993, 50). Welche Rolle der Glaubensverlust im Zusammenhang von Arbeit und Arbeitslosigkeit spielt, untersucht Klein. Der von Seghers vertretene »Glauben an Irdisches« führt über die »gefährliche Schwelle absoluter Glaubenslosigkeit zu neuen ethisch-moralischen Grundsätzen« (Klein 2001, 230). In der neueren Forschung wird vor allem der Arbeitsbegriff thematisiert (vgl. Püschel 2006). Die Narrative der Arbeitslosigkeit analysiert Unger und empfiehlt den Roman und den Titel im Hinblick auf die Situation im Exil allegorisch zu lesen, denn Seghers habe den Roman während ihres französischen Exils für die Deutschen im Exil geschrieben. Unger widerspricht der bisherigen Forschung, Bentsch sei am Ende gerettet, weil er im antifaschistischen Widerstand der Kommunisten ein neues Betätigungsfeld und damit eine neue, ihm gemäße Identität gefunden habe. Obwohl Unger zugesteht, dass Bentsch eine Sympathiefigur ist und seine Entscheidung für den Kommunismus als der richtige Weg aufgezeigt wird, gibt er zu bedenken: »Erwägt man indessen auf der Realitätsebene die lebensbedrohlichen Existenzbedingungen im Untergrund der faschistischen Diktatur, so erscheint es fast zynisch hier von Rettung zu sprechen« (Unger 2009, 164). Literatur
Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 21980. Bauer, Gerhard: Die sensible, kompetente und lahmgelegte
Arbeiterklasse. Zu Anna Seghers’ Roman ›Die Rettung‹. In: Diskussion Deutsch 17/88 (1986), 147–164. Benjamin, Walter: Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers’ Roman ›Die Rettung‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. III: Kritiken und Rezensionen. Frankfurt a. M. 1980, 530–538. Diersen, Inge: Seghers-Studien. Interpretationen von Werken aus den Jahren 1926–1935. Ein Beitrag zu Entwicklungsproblemen der modernen deutschen Epik. Berlin 1965. Goll, Francesca: »Danke, dass Sie ›Die Rettung‹ geschrieben haben« – Natalia Ginzburg und Italo Calvino an Anna Seghers. In: Argonautenschiff 22 (2013), 248–251. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Kersten, Kurt: ›Die Rettung‹. Zu Anna Seghers’ Roman. In: Internationale Literatur – Deutsche Blätter 8/9 (1938), 78–81. Klein, Alfred: Gottesverlust und Glaubensgewinn – Betrachtungen zu einem Grundmotiv im Roman ›Die Rettung‹. In: Argonautenschiff 10 (2001), 222–239. Püschel, Ursula: Anna Seghers – Parallelen. Arbeit in den Romanen ›Rettung‹ und ›Entscheidung‹. In: Argonautenschiff 15 (2006), 76–86. Roggausch, Werner: Politisierung des Alltags. Zu den Romanen ›Der Weg durch den Februar‹ und ›Die Rettung‹. In: Peter Roos/Friederike J. Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers. Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 72–81. Sauer, Klaus: Anna Seghers. Autorenbücher. München 1978. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Seghers, Anna: Die Rettung. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3. Berlin 1976. Steinfeld, Justin/Blum, Klara: Zwei Stimmen zu einem Werk. Anna Seghers: Die Rettung. In: Das Wort. Literarische Monatsschrift 3/3 (1938), 134–140. Unger, Thorsten: Narrative der Arbeitslosigkeit in Anna Seghers’ Exilroman ›Die Rettung‹. In: Narrative der Arbeit – Narratives of Work. Freiburg i. Br. 2009, 147–169. Wagner, Frank: Anna Seghers. Leipzig 1980. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 21994.
Vesna Kondrič Horvat
9 Sagen und Legenden (1938–1940)
9 Sagen und Legenden (1938–1940): Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Die drei Bäume Die Erzählungen Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis und Die drei Bäume bilden einen wichtigen Komplex innerhalb des im Exil entstandenen Erzählwerks von Seghers. Hier werden »zeitgenössische Erfahrungen und vor allem Bedrohungen auf ihren mythologischen Urtext, auf menschheitliche Grundmuster zurückgeführt und entfaltet« (Hilzinger 2000, 111). Die Entstehung der Texte fällt in die Zeit tiefgreifender Änderungen im Leben von Seghers, die zu einer künstlerischen Umorientierung und Umstellung der gesamten schriftstellerischen Existenz führen. Ende der 1930er Jahre gestaltet sie in ihren Texten ein breites Spektrum an stofflichen Ansätzen und erzählerischen Verfahren, die ihre Prosa mehrere Jahre bestimmen werden (vgl. Schlenstedt WA II/2, 368). Meist handelt es sich um unterhaltsame Erzählungen in poetologisch emanzipatorischer Absicht (s. Kap. 40 und 48).
Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok Die Erzählung wurde 1938 im Juni-Heft der von Feuchtwanger und Brecht in Moskau herausgegebenen Zeitschrift Das Wort veröffentlicht. Über die genaue Entstehungszeit herrscht Uneinigkeit. Aufgrund eigener Notizen Seghers’ im Zusammenhang mit der Publikation von Der Bienenstock wird gewöhnlich 1936 als Entstehungsdatum angeführt. Genauere Recherchen zur Tätigkeit der Schriftstellerin in dieser Zeit (die Erwähnung der Erzählung im Arbeitskalender unter 14.1.1938, ihre Nähe zum damals im Entstehen begriffenen Roman Die Rettung sowie Seghers’ Anfang 1938 formulierte Anfrage an den englischen Verleger John Lehmann nach Zeitschriften und Anthologien, die Interesse an unpolitischen Geschichten hätten) stellen allerdings Ende 1937 als wahrscheinlicher heraus (vgl. Schlenstedt WA II/2, 378). Demgegenüber besteht Helen Fehervary darauf, dass die »genaue Zeit der Niederschrift für die Veröffentlichung« (Fehervary 2007, 129) unbekannt ist, wobei sie die erste Niederschrift bereits um das Jahr 1928, den ersten Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen, verortet (vgl. ebd., 135). Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok markie-
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ren einen »Einschnitt« im Hinblick auf die Entwicklung stofflicher und erzählerischer Ansätze Seghers’ und gleichzeitig ihren Standpunkt im Hinblick auf die in den 1930er Jahren geführten Literaturdebatten (vgl. Schlenstedt WA II/2, 368). Sie positioniert sich damit gegen die in den sowjetischen Zeitschriften vertretene Literaturauffassung, insbesondere den eingeengten Realismusbegriff, dem sie die »Fülle und Farbigkeit in unsrer Literatur« (Seghers, Briefe an Georg Lukács, zit. nach WA II/2, 368) entgegensetzt. Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok und Sagen von Artemis können vor diesem Hintergrund Seghers’ »eigene literarische Antwort an die Gleichgesinnten auf die sich in den späten 30er Jahren im Exil heftig entwickelnde Expressionismus- bzw. Realismusdebatte« (Koh 2007, 102) gelesen werden (s. Kap. 36). Die poetologischen Rahmenbedingen werden bereits im Vorspruch markiert, den Seghers der Erzählung beim Erstdruck voranstellt. Er lässt sich auf alle drei in diesem Beitrag behandelten Texte beziehen: »Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? Und wißt ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen, ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes, gar mühelos in die Herzen eindringt, an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen? Ja, mühelos rührt der Pfiff eines Vogels an den Grund des Herzens und dadurch auch an die Wurzeln der Handlungen.« (WA II/2, 27)
Das Motto thematisiert die Wirkungskraft des Poetischen, für das Träume und Phantasie (Märchen, Lieder) als spezifische, unmittelbar das Herz erreichende »Kunstartikulationen« stehen. Verstanden als eine »Ge brauchsanweisung« (Kaufmann 1995, 118; Hilzinger 2000, 112) verweist das Motto auch auf die der Geschichte selbst eingeschriebene Kunstthematik, den märchenhaften und unpolitischen Charakter der Erzählung sowie generell auf das Phantastische als »wesentliche Domäne« der Seghers’schen Kunst (Schlenstedt WA II/2, 368). In Räuber Woynok wird die Geschichte des Räubers und Rebellen Woynok erzählt, eines auf sich gestellten Einzelgängers und Widerparts des älteren Räuberhauptmanns Gruschek, der eine Bande von vierzig Räubern anführt. Die Zahl vierzig verweist auf die Geschichte von Ali Baba aus der Sammlung Tausendundeine Nacht, mit der sich Seghers eine Zeit lang intensiver beschäftigte (vgl. Kaufmann 1995, 119). Die Erzählung ist zeitlich und örtlich unbestimmt, allerdings können solche für das Deutsche ungewöhnlich klin-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_9
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genden Namen wie Doboroth, Marjetze Upra, Paritzkatal, Prutka etc. mit »abgelegenen Regionen Südosteuropas [den Karpaten; J. K.-H.] assoziiert werden« (ebd., 118). Der Räuber Woynok raubt gewöhnlich alleine, bittet aber in einem besonders kalten Winter um Einlass in den Unterschlupf der Räuberbande. Die vierzig Räuber bewirten und bewundern ihn. Bald verlässt er – mit Geschenken beladen – die Höhle; auf dem Weg durch die Paritzkaschlucht wird ihm aber die ganze Habe durch Wölfe entrissen. Im nächsten Sommer rettet Woynok die von Soldaten eingekesselten Räuber Gruscheks und verbringt wieder einige Zeit mit ihnen. Gruschek hätte Woynok gerne zu seinem Nachfolger gemacht und stellt ihm die Lebensweise eines Räuberhauptmanns als verlockend dar. Woynok entscheidet sich jedoch, Gruscheks Bande »mit Stumpf und Stiel« zu vernichten (SRW, 40), sperrt sie in einen Felsspalt ein, legt Feuer und flieht. Dank der auf Gruscheks Befehl spontan aufgestellten ›Menschen-Feuerleiter‹ können sich die meisten Räuber retten. Woynok wird von Gruschek gefangen genommen und mit Waffen bedroht, letztendlich aber freigelassen: »Geh zum Teufel Woynok [...]! Laß dir nie mehr, auch nur im Traum einfallen, unseren Weg zu kreuzen« (SRW, 42). Im nächstfolgenden Winter fällt Woynok in eine Falle der Jäger aus Doboroth und wird von Bauern »mit Stöcken totgeschlagen« (SRW, 43). Als Toter kommt er noch einmal mitten in der Nacht zu den Räubern, sagt aber kein Wort. Am nächsten Morgen wird er dann außerhalb des Lagers im Schnee verscharrt. In Räuber Woynok setzt Seghers ihr Erzählkonzept des Sagenhaften künstlerisch um, was sich besonders im Ton, der strengen Komposition und den zahlreichen Wiederholungen und Querverweisen äußert. Innere Prozesse werden durch anschauliche, wiederholt eingesetzte Bilder zum Ausdruck gebracht. So werden die psychischen Veränderungen Woynoks im Doppelmotiv der klaren und der getrübten Augen sichtbar: »Woynoks Augen [erschienen] noch immer klar und durchsichtig. Fand er doch wieder nichts anderes darin als sein eigenes Gesicht« (SRW, 37) oder war »Woynoks Blick nicht mehr klar [...], sondern wie alle Blicke getrübt von unerfüllt gebliebenen oder sogar unerfüllbaren Wünschen« (SRW, 39). Dabei erhält das sagenhafte Erzählen hier gerade durch die »Verweigerung der schönsten Sagen« ein spezifisches Gepräge (Händler 2007, 220). Während der auktoriale Erzähler der Figurenzeichnung (und der Beziehung der Figuren zueinander) die meiste Aufmerksamkeit schenkt, werden die Taten der Räuber und Woynoks nicht ausführlich
erzählt. Vielmehr wird auktorial immer wieder auf das bereits Erzählte verwiesen (»Alles, was Woynok in diesem Sommer tat, ist so oft erzählt worden, daß man es nicht wiederholen muß«; SRW, 29. »Das ist alles lang und breit in vielen Geschichten und Liedern beschrieben worden«; SRW, 36 f.). Seghers selbst behauptet in einem Gespräch mit Christa Wolf, die Woynok-Geschichte als ›Sage‹ einmal gehört zu haben (vgl. Koh 2007, 97). Außer der direkten Bezugnahme auf Ali Baba lassen sich in Sagen des Räubers Woynok noch weitere intertextuelle Bezüge erkennen. Für Szenarien der Waldund Gebirgslandschaft, den Umgang mit dem Tierhaften im Menschen und Episoden wie die Anwendung der Menschen-Feuerleiter dient The Jungle Book von Rudyard Kipling (vgl. Fehervary 2007, 131) als Vorlage. Möglich ist auch ein Bezug zu Thomas Manns Der Zauberberg, insbesondere können die Umstände des Schnee-Todes von Woynok und Leo Naphtas parallelisiert werden (vgl. ebd., 133). Die erste Begegnung zwischen Gruschek und Woynok erinnert überdies an das von Leo Trotzki in seiner Autobiographie Mein Leben (1929) beschriebene Treffen von ihm und Lenin im Jahr 1910 (vgl. ebd., 134). Als historische Bezüge können außerdem die kritische Wende in Georg Lukács’ politischer Karriere in den 1920er Jahren sowie die Verbannung Leo Trotzkis nach Sibirien ausgemacht werden (vgl. ebd., 136 f.). Die Geschichte vom Räuber Woynok fand unmittelbar nach ihrer Publikation Beachtung bei Seghers’ Schriftstellerkollegen. Von Walter Benjamin stammt eine Tagebuchnotiz zur Reaktion Bertolt Brechts auf die Woynok-Geschichte: Brecht »›lobte‹ [...] an den Geschichten, ›dass sie die Befreiung der Seghers vom Auftrag erkennen lassen‹, auch ›daß ein Querkopf und Einzelgänger in diesen Geschichten als die tragende Figur auftritt‹« (Benjamin, zit. nach Fehervary 2007, 130; vgl. Batt 1973, 261). Die Auftragsproblematik wird später von Heiner Müller in seinem Drama Der Auftrag (1979) wieder aufgenommen, in dem es sich um die Unmöglichkeit der Ausführung eines einmal erhaltenen Auftrags in der veränderten politischen Situation handelt (vgl. Fehervary 2007, 130). Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok werden im Kontext der im französischen Exil entstandenen Erzählungen von Seghers als künstlerischer Einschnitt gelesen, den die Autorin Anfang 1938 selbst deutlich herausstellt (vgl. Schlenstedt WA II/2, 368). Eine Konstante der Forschung sowohl in Überblicksdarstellungen als auch in Einzelstudien bildet die Dialektik zwischen Individuum und Gemeinschaft, dem Einzelnen
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und der Gruppe (vgl. Schrade 1993; Kaufmann 1995; Hilzinger 2000). Die modellhafte Anlage der Erzählung erlaubt außerdem, Woynoks Geschichte auf die »allgemeinste Ebene menschlicher Existenz« zu beziehen (Kaufmann 1995, 121); hier wird der Mensch in seiner »Doppelnatur als Natur- und Sozialwesen, in der Spannung von Individualisierung und Sozialisierung« (ebd.) gezeigt. Überdies wird die Erzählung vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte als Verarbeitung der in der Partei gewonnenen Erfahrungen interpretiert, etwa als »Gleichnis für die Notwendigkeit der Volksfront« (Hilzinger 2000, 111 f.). In der Woynok-Gestalt wird der Schriftsteller und Vagabund Georg K. Glaser gesehen (vgl. Schrade 1993, 57); außerdem werden Anspielungen auf andere Figuren von Seghers wie Grubetsch oder Jason und auf »Brechts asozial-chaotische[n] Baal« erkannt (Hilzinger 2000, 112). Neben der Einzelgängerthematik wird in der Forschung die Kunstthematik hervorgehoben (vgl. Koh 2007, 99). Die Wirkung der Kunst, genauer des Erzählens, auf die psychische Verfassung des Menschen wird intradiegetisch insbesondere an der Wirkung des Liedes über die Wolfsbraut auf Woynok veranschaulicht (vgl. SRW, 32 f.). Die Erzählung wird häufig vor dem Hintergrund der im Exil stattfindenden Kunstdebatten als Beitrag zur Realismus-Expressionismus-Debatte der 1930er Jahre gedeutet (vgl. Beutin 1992, 405; Zehl Romero 2000, 181; Moschner 2007, 211–219). Seghers setzte Lukács’ Realismusverständnis, dem zufolge die Wirklichkeit »im Sinne des Realismusbegriffs des 19. Jahrhunderts als etwas Zusammenhängendes, Ganzes« zu betrachten und entsprechend als künstlerische Methode zu verwenden sei, eine Verbindung von »realistischer und märchenhaft-phantastischer Schreibweise« entgegen (Moschner 2007, 212). Die Auffassung, dass die Wirklichkeit nicht in ihrer Ganzheit, sondern in Experimenten und Stilbrüchen erfasst werden muss, kommt in allen drei Erzählungen von Seghers zum Ausdruck, denn hier werden die Sagen lediglich bruchstückhaft erzählt und deren lehrhafte Elemente nur angedeutet (vgl. Händler 2007, 220).
Sagen von Artemis Im Arbeitskalender von Anna Seghers wird der Beginn der Arbeit an der Artemisdichtung für Ende Januar 1938, die Niederschrift für die Woche zwischen 2. bis 9. Februar und der Abschluss für den 14.2. vermerkt; im März 1938 wird ein erneuter Arbeitsgang verzeichnet (vgl. Schlenstedt WA II/2, 378). Die Er-
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zählung wird dann 1938 im September-Heft der von Johannes R. Becher in Moskau herausgegebenen Zeitschrift Internationale Literatur veröffentlicht. Da sie also unmittelbar nach der Fertigstellung der Sagen vom Räuber Woynok entstanden ist, gelten für sie dieselben poetologischen Rahmenbedingungen. Fünf Jäger versammeln sich mitten in der Nacht in einer Waldschenke und erzählen einander vorm offenen Feuer von ihren Begegnungen mit der Göttin Artemis, der griechischen Göttin der Jagd und des Naturlebens, der Tochter von Zeus. Sie werden nicht beim Namen genannt, sondern nach ihrem Äußeren als der alte, der kleine, der jüngste, der einäugige und der junge Jäger charakterisiert. Gemeinsam ist allen Erzählungen, dass die Begegnung mit Artemis das Leben jeden Jägers grundlegend verändert hat. In der Erzählung des Alten bringt sie einem jungen Knaben gleich auf seiner ersten Jagd den Tod. Der Knabe wird von dem Alten versehentlich erschossen, woraufhin dieser verstummt (vgl. SvA, 56–60). Der Kleine erzählt von einem ungewöhnlichen Wettlauf, zu dem er von Artemis verleitet wird und infolgedessen auf sein bisheriges Leben zugunsten einer Jägerexistenz verzichtet (vgl. SvA, 62–64); der Jüngste berichtet von einem Wächter, der über sein jahrelanges Werben um eine junge Wäscherin (Artemis) seine Pflichten und die Zeit vergisst (SvA, 66–68). Die Erzählung des Einäugigen handelt von seiner Rückkehr aus der Fremde in das Tal der Kindheit, welches er aber nicht wiedererkennt, u. a. weil der alte tiefe Wald gerodet wurde: »Dieses Tal war völlig kahl. Auf dem einem Bergabfall konnte man noch die Baumstümpfe der Rodungen sehen, aber der andere Gebirgsabfall samt allen Nebentälern war bis auf die Wurzeln ausgeschlagen« (SvA, 71). Die ihm erscheinende Göttin maßregelt den Verzweifelten und verweist vorsichtig auf die Keimzelle eines »neue[n] Wald[es]« (SvA, 75), was allgemein als Ausdruck der Zuversicht auf eine mögliche Erneuerung gedeutet wird (vgl. Schlenstedt WA II/2, 381). Der junge Jäger hingegen erzählt keine eigene Geschichte, nimmt jedoch intensiven (Blick)kontakt auf mit der in der Stube anwesenden und den Erzählungen schweigend zuhörenden jungen Magd, von deren Erscheinung er sichtlich angezogen wird. Erst nach dem Ausklingen aller Erzählungen, als sie vom Wirt zum Wasserholen hinausgeschickt wird und nicht zurückkehrt, wird diese Magd von den Jägern als Artemis erkannt. Auch diese Erzählung zeichnet sich durch einen sagenhaften Ton, zahlreiche Personifizierungen und Wiederholungen sowie eine Vielfalt an poetischen Bildern aus.
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In der Forschung lassen sich mehrere Interpretationslinien erkennen. Einigen gilt diese Geschichte vordergründig als ein Text, in dem Grunderfahrungen des Exils verarbeitet werden (vgl. Hilzinger 2000, 112); insbesondere die Geschichte des einäugigen Jägers lässt sich auf die Situation der Emigration und der Rückkehr in die Heimat übertragen. Im Fokus steht hier meist die Relation zwischen den Jägern und der Göttin, welche als Verkörperung der höchsten Instanz betrachtet wird. Die »Berührung mit der Sphäre des Göttlichen« (Albrecht 2005, 228) kann den Menschen verändern bzw. verzaubern, ja verwandeln. Die Verwandlung ist aber nur dann möglich, wenn der Mensch für das Phantastische und Wunderbare offenbleibt: Die Götter kommen, »wenn man sie vergißt. Wenn man sogar den Wunsch nicht mehr hat, sie wiederzusehen, dann stehen sie plötzlich vor einem« (SvA, 77). Schrade sieht das Grundthema der Erzählung im menschlichen Streben nach dem Nicht-Materiellen bzw. nach einem Ideal oder einer Utopie, die von der griechischen Göttin verkörpert wird (vgl. Schrade 1993, 58). Zentral wird in diesem Zusammenhang erneut die Kunstthematik: Artemis wird zu einer Projektionsfläche für die Imagination der Jäger, auf die sie ihre Ideale, Träume und Hoffnungen übertragen (vgl. Koh 2007, 99). Dabei wirkt der Gegensatz zwischen Artemis als Phantasiegestalt (in der Erzählung der Jäger) und der ›realen‹ Magd in der Rahmenerzählung (Waldstube) besonders effektiv. Die Figuren von Artemis und der Magd werden ausgedeutet als Phantasie und Realität bzw. als Poesie und Leserschaft, womit zwei Wirkungen der Literatur – eine den Leser ansprechende, ihn aufrüttelnde und eine bloß rezeptive – hervorgehoben werden (vgl. Koh 2007, 100 f.). Weiter wird die Bedeutung von Artemis im Hinblick auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft erläutert, und zwar unter Berücksichtigung des Zusammenspiels der verschiedenen Erzählebenen (der göttlichen, der individuellen und der gemeinschaftlichen) miteinander (vgl. Streblow 2007, 226–230). Schließlich wird in der Göttin »das ausgeklügelte Symbol der Revolution bzw. des Revolutionären« gesehen (vgl. Schrade 1993, 58). Genauso wie andere sagenhafte Erzählungen von Seghers werden auch die Sagen von Artemis als künstlerische Umsetzung der theoretischen Postulate der Autorin aufgefasst: ihres Plädoyers für ein »buntes«, »fantastisches« und »freies« Erzählen, gerade in politisch finsteren Zeiten (vgl. Koh 2005, Cover). Hier werden die beiden Erzählungen – Sagen vom Räuber Woynok und Sagen von Artemis – dezidiert im Hin-
blick auf Seghers’ spezifisches Erzählkonzept von Sagen untersucht (s. Kap. 40). So geht Koh von der wörtlichen Bedeutung des Wortes »Sage« als ›Gesagtes‹, ›Erzähltes‹ oder ›Berichtetes‹ aus und konstatiert hierzu vielfältige Korrespondenzen auf der Handlungsebene, wenn etwa Erzählungen bzw. Lesungen in den Geschichten selbst stattfinden (vgl. Koh 2007, 98). Die Erzählung wird überdies im Hinblick auf das Motiv des Kleidertausches bzw. als eine ›Verkleidungsge schichte‹ gelesen, denn die Göttin Artemis tritt in der Rahmenerzählung in der Verkleidung einer Dienerin auf (vgl. Dubrowska 2013, 137). Sagen von Artemis wurden 1971 von Uta Feustel-Paech in einer BallettOper verarbeitet.
Die drei Bäume Die drei kurzen Texte des Triptychons Die drei Bäume, die ebenfalls das Mythologische, Legenden- und Märchenhafte aufgreifen, entstanden 1940, im Jahr des Einmarschs der deutschen Truppen in Paris, als sich Anna Seghers in Lebensgefahr vor der Gestapo verstecken musste. Sie wurden 1946 im Juni-Heft der Zeitschrift Neues Deutschland in Mexiko veröffentlicht. Die Texte stellen einen Zyklus dar, in dem jeweils der Baum eine zentrale Rolle spielt. In der Erzählung Der Baum des Ritters finden Holzfäller in einer hohlen Buche einen Ritter »in voller Ruestung« (WA II/2, 95), einen Gefolgsmann Karls des Kühnen aus dem 15. Jahrhundert. Er versteckte sich »auf der Flucht vor den Soldaten des Königs Ludwig des Elften in seiner Todesangst« (ebd.) in einer Baumspalte und konnte sich nicht mehr befreien. Während er eines grausamen Todes starb, »rauschte und gruente« (ebd.) der Baum noch mehrere Jahrhunderte lang. Der Text Der Baum des Propheten nimmt explizit Bezug auf eine apokryphe »Überlieferung« vom Tod des Propheten Jesaja, in welcher Jesaja als Kritiker Jerusalems, Exilant in Babylon und Verkünder einer neuen Erde dargestellt wird (vgl. Quilitzsch 1993, 117 f.). Der bislang unerschrockene Prophet versteckt sich nach verlorener Schlacht vor seinen Verfolgern in einem ›hohlen Zedernholz‹, wo er – starr vor Todesangst – auch dann verbleibt, als die Gefahr vorbei ist. Von Holzarbeitern wird er lebendig zersägt (»[s]ein Volk war erschlagen, und mit dem Volk verstummt war die erhabene Stimme, von der er gewohnt war, Weisungen zu empfangen«; WA II/2, 96). In Der Baum des Odysseus wird in Anlehnung an den Mythos von Odysseus von der Rückkehr des Heroen nach Ithaka zu seiner Ehefrau Penelope erzählt, die sich nach
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zwanzig Jahren Trennung der Identität ihres Mannes nicht sicher ist: »Dieser Mann kann Odysseus sein. Er kann es auch nicht sein. [...] Vielleicht ist er nur ein Pirat, und sein Boot liegt versteckt in einer der Buchten. Was sagt mir mein Herz? – Garnichts« (WA II/2, 97). Der Heimkehrer gibt sich als Odysseus zu erkennen, indem er das von sich selbst in einen Baum geschnittene Hochzeitsbett, das inmitten des von ihm gebauten Hauses steht, erwähnt (vgl. ebd., 98). Über die expliziten mythologischen und biblischen Bezüge hinaus sind die drei Texte über Bäume in einen breiteren intertextuellen Zusammenhang zu stellen, wo dem Baum eine tragende, auch politische Funktion zukommt. So schreibt Bertolt Brecht in seinem zwischen 1934 und 1938 entstandenen Gedicht An die Nachgeborenen: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt« (Brecht 1988, 85). Zwar wird hier der Baum anders als in Die drei Bäume funktionalisiert, denn Brecht wendet sich explizit gegen die in den 1930er Jahren verbreitete Flucht in die Naturlyrik, die nationalsozialistische Verbrechen verschweigt. In beiden Fällen – bei Brecht und Seghers – ist der Baum aber ein Zündstoff für politische und ethische Debatten. In Günter Eichs berühmtem Gedicht Ende eines Sommers, das erst 1955 gedruckt wurde, wird hingegen vom Trost der Bäume gesprochen: »Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!« (Eich 2006, 127). Der Baum als Urbild des Lebens tröstet durch sein Bestehen im Wechsel der Jahreszeiten – er wird zum Sinnbild für vielfältige Verheißungen. Bezeichnender Weise können auch Eichs kurze Prosatexte Maulwürfe, die er 1968 veröffentlichte, zu Die drei Bäume in Parallele gesetzt werden, denn sie situieren sich gattungsmäßig zwischen Kurzgeschichte und Gedicht. Seghers’ Triptychon, zuweilen auch als »rätselhaft« bezeichnet (Schrade 1993, 58), wird meist vor dem Hintergrund der Biographie der Autorin gelesen (Einmarsch der Deutschen in Paris, die damit verbundene direkte Bedrohung von Seghers, ihr misslungener Fluchtversuch und schließlich ihre Flucht nach Mexiko). Seghers verarbeitet hier ihre Todesängste, extreme existentielle Fragen eines Flüchtlings, der im Exil mit dem Tod bedroht wird (vgl. ebd., 58 f.). Während in den ersten zwei Geschichten die Flucht- und Verstecksituation deutlich gemacht wird (sie handeln von »einer Flucht inmitten tödlicher Gefahr und von der Rettung durch den Unterschlupf in einem Baum«; ebd., 59), konzentriert sich die dritte auf die Trennung von Mann und Frau im Krieg (ebd., 59). Auch Neu-
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gebauer sieht in den drei »Variationen um Folgen von Furcht, Flucht, Entfremdung und Vertrauenslust« in erster Linie »Gleichnisse für Emigrantenproblematik« (Neugebauer 1978, 73). Biografisch und politisch zugleich interpretiert Frank Quilitzsch (1993) den Zyklus, den er innerhalb der Poetologie Seghers’ – zwischen Zeitgenössischem und Historischem einerseits sowie Mythischem, Sagen- und Märchenhaftem andererseits – situiert. Die drei Teile des Zyklus, der durch seine Schlichtheit und Dramatik an die Balladendichtung erinnert, werden mythologisch durch den Baum als »[Ort] der Zuflucht und Entscheidung« und formal durch das Daphne-Motiv zusammengehalten (Quilitzsch 1993, 114). Alle drei Texte verbindet zudem das Motiv der Furcht: »Furcht vor Verfolgung, Furcht, sich zu erkennen geben müssen, Furcht, nach jahrzehntelanger Abwesenheit daheim nicht aufgenommen zu werden« (ebd., 119), wobei die dritte Erzählung in der Besinnung auf das ›Dauerhafte‹ die Furcht überwindet. Genau in dieser Thematik lassen sich auch Bezüge zu anderen Werken Seghers’ erkennen, wie etwa zu der Fluchtfabel im Roman Das siebte Kreuz; hier wünscht sich der fliehende Protagonist Georg Heisler in seiner Todesangst die Verwandlung in einen Baum. Bäume als mythische oder vom Mythos inspirierte Motive in Seghers’ Triptychon werden auch von Tom Gärtig besprochen. Während in den ersten zwei Geschichten der Baum als Versteck dient, ist er in Der Baum des Odysseus ein Ort des Erinnerns, denn er markiert das Zentrum des Hauses von Odysseus und Penelope (vgl. Gärtig 2007, 235). Besonders in der Rittergeschichte, welche den Gegensatz von Mensch und Natur thematisiert, kann die Metamorphose Daphnes in einen Lorbeerbaum als Vorlage dingfest gemacht werden (ebd., 232). Eine andere Interpretationsrichtung schlägt Andrea Rudolph ein, die in den drei ›Parabelerzählungen‹ einen »Vorentwurf auf die Heimkehr« und zugleich ein »Formprogramm« Seghers’ sieht (Rudolph 2004, 260 f.); die Erzählung sei eine »ethische Formleistung«, die als »Zukunftsprojektion und Erwartungshaltung« nach 1945 auf beide deutsche Literaturen gelegt ist (ebd., 277). Literatur
Albrecht, Friedrich: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern [u. a.] 2005. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12. Hg. von Werner Hecht u. a. Frankfurt a. M. 1988.
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Dubrowska, Małgorzata: Die mythische Welt Anna Seghers’. Literarische Bilder aus dem französischen Exil. In: Études Germaniques 67 (2013), Nr. 269, 133–145. Eich, Günter: Sämtliche Gedichte. Frankfurt a. M. 2006. Fehervary, Helen: Nur eine Räubergeschichte? Gedanken zu ›Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok‹. In: Argonautenschiff 16 (2007), 129–137. Gärtig, Tom: Zwischen Mythos und Geschichte. Bäume im Werk von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 16 (2007), 231–239. Händler, Mike: Die Verweigerung der schönsten Sagen des Räubers Woynok sowie Aspekte von Kunst, Individuum und Gemeinschaft in Anna Seghers’ Erzählung ›Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok‹. In: Argonautenschiff 16 (2007), 220–223. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Mit 12 Abbildungen. Stuttgart 2000. Kaufmann, Eva: Schöne Räubergeschichte. In: Argonautenschiff 4 (1995), 117–126. Koh, Maeng-Im: Mythos und Erzählen im Werk von Anna Seghers. Würzburg 2005.
Koh, Maeng-Im: Anna Seghers – Die Sagenerzählerin. In: Argonautenschiff 16 (2007), 97–103. Moschner, Heiko: Die Erzählung ›Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok‹ von Anna Seghers. Ein Beitrag zur ›Realismus/Expressionismus-Debatte‹? In: Argonautenschiff 16 (2007), 211–219. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Mit Abbildungen. Berlin 1978. Quilitzsch, Frank: Vom Ritter über Jesaia bis zu Odysseus. Anna Seghers’ Triptychon ›Die drei Bäume‹. In: Argonautenschiff 2 (1993), 114–122. Rudolph, Andrea: Ethische Formutopie oder affirmative Ideologie. Formprogramme bei Anna Seghers und Gottfried Benn. In: Adrian Hummel/Sigrid Nieberle (Hg.): Weiter schreiben – wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre. Festschrift für Günter Häntzschel. München 2004, 257–277. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart 1993. Streblow, Inga: Die Bedeutung der Artemis im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. In: Argonautenschiff 16 (2007), 226–230.
Jadwiga Kita-Huber
10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942)
10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942) Das siebte Kreuz entsteht im französischen Exil, in das Anna Seghers mit ihrer Familie 1933 flieht. Ein Jahr bevor sie die Arbeit an dem Roman aufnimmt, reist sie 1937 mit der internationalen Schriftstellervereinigung nach Madrid, um dort den Spanischen Bürgerkrieg zu unterstützen; diese Erfahrung fließt in den Roman ein. Die Konzeption des Romans erfolgt im September 1938, die folgenden Monate sind seiner Ausarbeitung gewidmet. Mitte Dezember ist das erste Kapitel abgeschlossen. Von Juni bis August 1939 erscheinen die ersten Kapitel im Vorabdruck in der Moskauer Exilzeitschrift Internationale Literatur; mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 bricht dieser Vorabdruck ab. Im Oktober 1939 liegt das erste vollständige Manuskript des Romans vor. Ende November kursieren bereits mehrere, nicht vollkommen identische Manuskripte. Sie weisen Korrekturen von unterschiedlichen Bearbeiterinnen und Bearbeitern auf, vor allem dort, wo Seghers von normgerechter Grammatik, Interpunktion und Orthographie abweicht. Der in der 2000 erschienenen Werkausgabe von Bernhard Spies edierte Band (WA I/4) orientiert sich an dem Manuskript, an dem Anna Seghers selbst noch einmal einige Überarbeitungen vorgenommen hatte, bevor ihr Roman Anfang 1943 in der deutschsprachigen Erstausgabe erschien. Seghers’ Überarbeitungen lassen erkennen, dass es ihr darauf ankam, die »Schwebe« zu halten »zwischen verschriftlichter Normsprache und mündlicher Unmittelbarkeit« (Spies WA 1/4, 452). Bei der Gestaltung der Dialoge achtet Seghers auf eine möglichst authentisch wirkende Inszenierung von Mündlichkeit, mit der Einebnung der Erzählersprache und der Sprache der Figuren signalisiert sie, »daß der Erzähler wohl außerhalb der Geschichte steht, aber nicht über ihr« (ebd., 480). Die poetologische Programmatik, die sich in den Überarbeitungen erkennen lässt, ist der Grund dafür, dass der Werkausgabe die deutschsprachige Erstausgabe des Romans zugrunde gelegt wurde und nicht eine später nochmals geglättete – wenn auch von Anna Seghers autorisierte – Fassung, wie sie im vierten Band der Gesammelte[n] Werke in Einzelausgaben lange Zeit verbreitet war. Eine Neuausgabe des Romans aus dem Jahr 2015 nimmt noch einmal einige wenige behutsame Anpassungen in Rechtschreibung und Interpunktion vor,
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orientiert sich im Wesentlichen aber an dem von Spies besorgten Band der Werkausgabe von 2000. Die Entstehungszeit des Romans fällt in die Endphase der Expressionismusdebatte (s. Kap. 36). An ihr beteiligen sich eine Vielzahl exilierter deutschsprachiger Autor/innen, unter ihnen auch Anna Seghers. Anlass für die Debatte ist Gottfried Benns Bekenntnis zum Expressionismus, das im November 1933 erscheint. Benn versucht darin, den Vertretern der nationalsozialistischen Kulturpolitik die Literatur des Expressionismus anzudienen. Anfang 1934 reagiert der Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukács darauf mit einem Aufsatz über Größe und Verfall des Expressionismus. Der Essay löst eine lebhafte Debatte aus, die zunächst stark auf die Person Benns fokussiert ist, sich bald jedoch von ihm löst und die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer politisch verantwortlichen Literatur verhandelt. Lukács formuliert darin die Überzeugung, es sei Aufgabe der Literatur, erzählend die Welt sinnvoll zu ordnen. Er wendet sich in diesem Zusammenhang gegen avantgardistische Formexperimente und fasst in seinem 1938 veröffentlichten Beitrag Es geht um den Realismus noch einmal seine Position zusammen. Anna Seghers beteiligt sich an der Debatte in zwei Briefen. Sie entstehen in der Zeit unmittelbar vor und während der Entstehung ihres Romans Das siebte Kreuz im Juni 1938 und im Februar 1939 und werden im Mai 1939 veröffentlicht. Seghers erhebt darin Einspruch gegen die Lukács’sche Verdammung literarischer Formexperimente. »Allerdings formuliert sie keineswegs eine umfassende, freie Darstellung ihrer eigenen Poetologie [...]. Deshalb besagt ihre Stellungnahme viel über die Schwierigkeiten, die ihr von politischen Gesinnungsgenossen bereitet wurden, aber wenig über die poetischen Verfahrensweisen, die sie zur gleichen Zeit im Siebten Kreuz entwickelte. Sie sind entschieden reichhaltiger« (Spies WA I/4, 473). In der Tat erprobt Anna Seghers im Siebten Kreuz eine Vielfalt experimenteller Schreibweisen. Das Werk zur Avantgarde des modernen Romans zu rechnen, wäre jedoch verfehlt. Seghers verzichtet auf Verfahren wie Montage und Fragmentierung und auch auf die Einarbeitung von Träumen und Märchen. »Stil und Sprache bewegen sich auf einer eingängigen Mittellage« (Stephan 1997, 81), so dass zutreffender von einem »moderierten Modernismus« (ebd., 84) zu sprechen wäre. In paratextuellen Kommentierungen wie auch im Text selbst ist Seghers erkennbar darum bemüht, den Realitätsgehalt und die politische Relevanz des Romans unter Beweis zu stellen. Nachdrücklich be-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_10
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tont sie, dass die Handlung auf einer wahren Begebenheit beruhe. Sie integriert Augenzeugenberichte, die sie zum Teil explizit nennt, so beispielsweise Hans Beimlers Im Mörderlager Dachau aus dem Jahr 1933. Der Name des Lagers spielt durchsichtig verfremdend auf das Konzentrationslager Osthofen an, das bereits 1934 aufgelöst wurde. Ihr fiktives Lager Westhofen verortet Anna Seghers in einer Landschaft um Worms, die ihr genauestens vertraut ist. So kann sie aus dem Exil heraus eine möglichst wirklichkeitsnahe Beschreibung der Fluchtrouten leisten, die ihre Protagonisten wählen. Die dem Roman vorangestellte Widmung für die »toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands« betont die Aktualität und Relevanz des Romans.
Inhalt Die Handlung spielt im Jahr 1937. Sie setzt mit der Flucht von sieben politischen Häftlingen aus dem fiktiven Konzentrationslager Westhofen ein. Um für die Häftlinge im Lager ein Exempel zu statuieren, lässt der Lagerkommandant auf dem Appellplatz des Lagers sieben Bäume kappen und mit Querbalken versehen. Er kündigt an, dass alle Häftlinge binnen einer Woche gefasst sein und ihre zu Tode gefolterten Körper an den Kreuzen zur Schau gestellt werden sollen. Sechs der Geflohenen werden tatsächlich wieder gefangen. Doch einem von ihnen, Georg Heisler, gelingt die Flucht. Das für ihn vorgesehene Kreuz im Lager bleibt leer. Es wird zum Zeichen des Triumphs gegen die behauptete Allmacht der Peiniger. Der Kommandant des Lagers wird versetzt, an seine Stelle tritt ein kühler Bürokrat, der die Kreuze sofort entfernen lässt. Georg Heisler entkommt über die Grenze. Er wird sich den Kämpfern des Spanischen Bürgerkriegs anschließen und so seinen aktiven Kampf gegen den Faschismus fortsetzen. Auf seiner sieben Tage dauernden Flucht kann sich Georg Heisler nicht an seine nächsten Angehörigen und Freunde wenden; seit seinem Ausbruch aus dem Lager stehen gerade sie unter besonderer Beobachtung. So ist er auf ein Netz aus ihm kaum (mehr) oder gar nicht bekannten Helfer/innen angewiesen. Insgesamt sind dies in dem Roman etwa dreißig Personen; sie kommen – wie auch die sieben entflohenen Häftlinge – aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. An den Hauptstrang der Fluchtgeschichte um Georg Heisler lagern sich durch deren Einbeziehung etwa hundert Nebenhandlungen an.
Bevor Georg Heisler die Hilfe der Menschen, mit denen er in Kontakt tritt, in Anspruch nehmen kann, muss er sich ihrer Zuverlässigkeit versichern. Die Geschichte seiner gelingenden Flucht beschreibt auch die Geschichte einer Kette von existentiellen Entscheidungen. Diese sind nicht nur von Georg Heisler selbst, sondern auch von seinen Helfer/innen zu treffen. Die multiperspektivische Erzählweise, die Seghers wählt, bietet Einblick in deren Entscheidungsprozesse, in ihr Denken und Empfinden. Viele der Helfer/innen, die Georg Heisler unterstützen, engagieren sich im kommunistischen Untergrund, viele aber verstehen sich auch als gänzlich unpolitisch. Ihre ›einfache‹ Menschlichkeit, die der Roman zumeist mit einem ›einfachen‹ sozialen Status korreliert, weist den Kommunismus der organisierten Untergrundkämpfer als die politisch konsequente Ausformulierung eines allgemeinen Humanismus aus, der sich nicht in hohlen Phrasen erschöpft.
Rezeption Anna Seghers sieht sich nach dem Abschluss ihres Manuskripts im Oktober 1938 mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten konfrontiert, denen die Verbreitung eines in der Muttersprache verfassten Romans im Exil ausgesetzt ist. Sie bemüht sich umgehend und sehr engagiert um Übersetzungen. Im Dezember 1938 sendet sie Abschriften des Romans in die USA und nach Moskau, einige Exemplare verbleiben in Frankreich. 1940 geht ein Exemplar an den im kalifornischen Exil lebenden Berthold Viertel mit der Bitte, den Roman als Vorlage für ein Filmdrehbuch zu prüfen. Es dauert dennoch ganze vier Jahre, bis der Roman im Oktober 1942 in den USA erscheinen kann. James A. Galston besorgt die Übersetzung ins Amerikanische. Sie ist, einige ›Retuschen‹ ausgenommen, im Wesentlichen textgetreu. Bei den Eingriffen, die Galston vornimmt, handelt es sich vor allem um Kürzungen, die längere epische Passagen mit dem Schäfer Ernst betreffen sowie um Streichungen von Abschnitten, in denen allzu explizit die kommunistischen Überzeugungen der beiden Heldenfiguren Ernst Wallau und Georg Heisler ausformuliert werden. Das siebte Kreuz erlebt in den USA eine nicht nur für einen Exilroman ungewöhnlich breite Rezeption. Wenige Tage nach seinem Erscheinen geht der Roman in einer Massenauflage von 300.000 Exemplaren an die Mitglieder des Book-of-the-Month-Clubs. Innerhalb
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kürzester Zeit sind insgesamt fast 500.000 Exemplare verkauft. Wesentlichen Anteil an dem überwältigenden Erfolg des Romans hat seine Fassung als Graphic Novel. Sie erscheint ab Ende 1942 als Fortsetzungsgeschichte in dreißig Folgen in sämtlichen Zeitungen des HearstImperiums. Anna Seghers hat Kenntnis davon, arbeitet selbst jedoch nicht an dieser Fassung mit. Den Erfordernissen des Genres entsprechend ist die komplexe Romanhandlung in ereignisreiche Einzelepisoden gegliedert, die jeweils mit Cliffhangern schließen. Die Handlung ist auf die Fluchtgeschichte reduziert und auf Spannungsmomente zugespitzt, der politische Gehalt ist auf das Nötigste reduziert. Mit dieser pointierenden Textauswahl, die ausschließlich mit Originalzitaten arbeitet, korrespondiert die expressionistische Bildlichkeit der Bildfolgen. Mit ihr wird William Sharp alias Leon Schleifer beauftragt, ein aus Lemberg stammender in den USA lebender Emigrant. Er wählt ungewöhnliche und extreme Perspektiven, setzt starke Kontraste und fügt beklemmende Schatten ein. Die Seiten der einzelnen Folgen bestehen aus vier, in zwei Fällen auch aus drei gerahmten Bildern, die in zusammenhängenden Sequenzen ohne Sprechblasen aufeinander folgen und mit einem Einzeiler untertitelt sind. Dieser ist dem begleitenden Originaltextauszug entnommen, der neben die Bildfolgen gestellt ist. Erst 2015 erscheint die deutsche Übersetzung der damals in den USA weit verbreiteten »pictorial«-Fassung. Sie übernimmt die Illustrationen William Sharps und, so weit als möglich, auch die Auswahl der Textauszüge. Ihnen ist die behutsam revidierte Neuauflage des Romans von 2015 zugrunde gelegt. Anfang 1943 erscheint der Roman im deutschsprachigen Original in Mexiko. Herausgebracht wird er von dem 1942 von deutschsprachigen Exilanten gegründeten Exilverlag El Libro Libre, zu dessen Gründungsmitgliedern Anna Seghers zählt, die inzwischen auch mit ihrer Familie in Mexiko lebt. Dem Roman ist eine englischsprachige Vorbemerkung vorangestellt, die Georg Heisler als ein Symbol des Widerstands ausweist. Dass diese Vorbemerkung zu dem in deutscher Sprache erscheinenden Roman in englischer Sprache formuliert ist, lässt vermuten, dass von Seiten des Verlags das Bedürfnis bestand, über die politische Funktion des Romans in einem anderssprachigen Umfeld Rechenschaft abzulegen. Noch im selben Jahr erfolgt eine Übersetzung ins Spanische, auch sie erscheint bei El libro libre. Übersetzungen ins Schwedische und Portugiesische folgen, 1948 wird der Roman ins Niederländische übertragen, 1949 ins Russische.
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In den USA geht die Erfolgsgeschichte des Romans unterdessen weiter. Seine Verbreitung wird noch einmal entscheidend befördert durch eine gekürzte Ausgabe, die 1944 für das amerikanische Militär gedruckt und an die Soldaten verteilt wird, um diesen einen Einblick in die Seele des deutschen Volkes zu gewähren: »Das siebte Kreuz als Landeskunde« (von Steinaecker 2015, 77). Weltweiten Durchbruch sichert dem Roman schließlich seine Verfilmung 1944. Die US-amerikanische Journalistin und Drehbuchautorin Helen Deutsch schreibt das Buch, Regie führt der bereits seit 1929 in Amerika lebende Fred Zinnemann, ein ehemaliger Assistent von Berthold Viertel. Mit Spencer Tracy in der Hauptrolle ist der Film bis in die Nebenrollen hinein prominent besetzt – in einer davon tritt Helene Weigel auf, die Frau Bertolt Brechts. Mit einer großen zeitlichen Verzögerung wird der Film in Deutschland erstmals 1972 in der Reihe Der besondere Film im ZDF gezeigt. Nach dem Ende des Krieges erscheint der Roman im Berliner Aufbau Verlag und bei Querido in Amsterdam, 1947 bei Desch in München. Breite Aufmerksamkeit erhält er in Deutschland durch die Verleihung des Büchner-Preises an Anna Seghers im Jahr 1947. In der DDR, in die Seghers 1947 remigriert und wo sie in den Jahren von 1952 bis 1978 das Amt der Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes innehat, wird der Roman zur Pflichtlektüre an den Schulen. In der BRD wird er durch die Studentenbewegung 1968 wiederentdeckt. Heute gehört Das siebte Kreuz zum Kanon der deutschsprachigen Literatur. Der Roman wurde inzwischen in über 40 Sprachen übersetzt und ist das erfolgreichste Werk Anna Seghers’ (s. Kap. 58).
Forschung Eine Darstellung, die zwischen dem Überleben des Einzelnen und dem massenhaften Sterben im Konzentrationslager ein ›angemessenes Verhältnis‹ herstellt, kann es nicht geben. In diesem Sinne formuliert Ruth Klüger, eine Überlebende des Holocaust, die Frage, wie sie ihre autobiografischen Aufzeichnungen davor bewahren könne, so gelesen zu werden »als wären sie etwa Nachtrag und Bestätigung zu Anna Seghers’ Das siebte Kreuz«. Ein »Roman, der von der Kritik zwar als ›das schönste Buch über das Dritte Reich‹ bezeichnet worden ist, dessen Schönheit sich jedoch darin ausdrückt, dass die gelungene Flucht des Einzelnen, das Überleben des Einen von Sieben, für den Triumph, den
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Sieg des Ganzen, des Guten steht? Wie kann ich«, fragt Klüger in direkter Wendung an ihre Leser/innen weiter, »euch vom Aufatmen abhalten?« (Klüger 1992, 139). Das Problem, das Klüger formuliert, ist ein grundsätzliches. Im Zusammenhang mit Seghers’ Roman stellt es sich insofern in besonderer Weise, als dieser zum einen den Anspruch erhebt, eine Geschichte des kollektiven politischen Widerstands in der Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen, zugleich aber eine durchaus spannende, auf eine Heldenfigur vertrauende Fluchtgeschichte konstruiert. Die Frage danach, in welches Verhältnis Das Siebte Kreuz die Heldengeschichte des erfolgreichen Flüchtlings Georg Heisler zu der Erzählung vom Kollektiv setzt, die außerordentlich suggestiv immer wieder in eine Erzählung des Kollektivs umschlägt, ist wesentlich. Es ist eine Frage mit weitreichenden ethischen Implikationen. Sieben Kreuze werden nach der Flucht der Häftlinge im Lager errichtet, sieben Tage dauert die Flucht Georg Heislers, in sieben Kapitel ist die Handlung des Romans unterteilt. Die durch den Titel vorgegebene, motivisch und strukturell akzentuierte Zahl sieben legt es nahe, den Roman – wie häufig geschehen – als umgekehrte Schöpfungsgeschichte zu lesen. Das Leitmotiv des Romans, das Kreuz, verweist auf die Ikonographie des christlichen Opfertodes (Kuschel 2001, 108 f.). Mit dem titelgebenden siebten Kreuz, das leer bleibt und das am Ende des Romans für die Häftlinge zum Symbol der Hoffnung wird, codiert der Roman die christliche Auferstehungserzählung in eine innerweltliche Erfolgsgeschichte des politisch motivierten Widerstands um. Mit der Zahl sieben verweist der Roman auch auf die Vielzahl der im politischen Widerstand Organisierten. Er erhebt damit Einspruch gegen die christliche Vorstellung einer auserwählten Opferfigur, die ihr Leben für die auf Erlösung hoffende Menschheit hingibt. Die politisch Kämpfenden in Seghers’ Roman sind aktiv Handelnde. Sie handeln aus einem ›einfachen‹ Humanismus heraus, dabei tritt stets die Sorge um das Wohl des oder der Einzelnen hinter der Verantwortung für die Gemeinschaft zurück. Als der alte Gewerkschaftler Wallau, einer der sieben aus dem Lager Entflohenen, aufgegriffen und wieder ins Lager zurückgebracht wird, gilt die Sorge der Mithäftlinge nicht zuerst seinem Einzelschicksal, sondern dem Ende des antifaschistischen Kampfes. »Was beinahe nie in der Geschichte geschehen war, aber schon einmal in unserem Volk, das Furchtbarste, was einem Volk überhaupt geschehen kann, das sollte
uns jetzt geschehen: ein Niemandsland sollte gelegt werden zwischen die Generationen, durch das die alten Erfahrungen nicht mehr dringen konnten. Wenn man kämpft und fällt und ein anderer nimmt die Fahne und kämpft und fällt auch, und der nächste nimmt sie und muss dann auch fallen, das ist ein natürlicher Ablauf, denn geschenkt wird uns garnichts. Wenn aber niemand die Fahne mehr abnehmen will, weil er ihre Bedeutung garnicht kennt?« (SK, 169)
Die Verzweiflung der Lagerhäftlinge artikuliert sich in der kollektiven wir-Form. Es ist der politische Widerstand, der in diesem »wir« zu Wort kommt, hier kommentiert er die nationalsozialistische Vernichtungspolitik der vollständigen »Ausrottung« eines Volkes. Das Volk, von dem das kollektive »Wir« der antifaschistischen Häftlinge spricht, meint das deutsche Volk. Dass sich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik auf das jüdische Volk richtete, spielt in diesem Lagerroman bemerkenswerterweise keine nennenswerte Rolle. Lediglich in zwei Episoden, in der Episode mit dem jüdischen Arzt Doktor Löwenstein und mit der Geschäftsfrau Dora Katzenstein, wird das jüdische Schicksal thematisiert (Haller-Nevermann 1997, 56–62). »Vom Standpunkt eines marxistisch-kommunistischen Internationalismus«, so fasst es Kremer zusammen, »erscheint der Verzicht auf eine religiöse und nationale Identifikation mit dem Judentum nahe liegend« (Kremer 2012, 460). Das siebte Kreuz schreibt damit frühzeitig und maßgeblich an dem ›antifaschistischen Paradigma‹ mit, das die Exilforschung jahrzehntelang bestimmte. Es impliziert eine herausgehobene Wertschätzung des aus politischer Überzeugung selbstbestimmt ›gewählten‹ Exils oder Sterbens im Lager gegenüber dem durch die nationalsozialistische Rassenpolitik angeordneten, ›passiv erlittenen‹ Tod oder der erzwungenen Flucht ins Exil; es ist eine Unterscheidung, die sich bereits in der frühen Exilliteratur abzeichnet und von der Forschung zunächst übernommen, seit langem aber schon kritisch reflektiert wird (vgl. Loewy 1991; Winckler 1979; Braese 1996). Wallaus Festnahme und Tod rufen bei den Lagerinsassen eine große Erschütterung und zugleich auch Mitleid hervor – nicht nur mit Wallau, sondern auch mit seinen Peinigern. Sind diese doch nicht böse, sondern nur unwissend und reißen so »das Beste aus, was im Lande wuchs« (SK, 169 f.). Das Täterprofil, das in dieser völkischen Mitleidsszenerie entworfen wird, setzt sich dabei in einem geradezu atemberaubenden Zeitsprung über generationelle Gegebenheiten hin-
10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942)
weg: In den Aufsehern der Konzentrationslager sehen die antifaschistischen Kämpfer in Seghers’ Roman Männer, die bereits als Kinder ihren Eltern entrissen und den Erziehungseinrichtungen der Nationalsozialisten überantwortet wurden. Dort beraubte man sie ihrer natürlichen Humanität, so dass sie nun als Täter nicht mehr wissen, was sie tun – bis eines Tages ihre wahre Natur wieder durchbrechen und sich gegen die nationalsozialistischen Machthaber richten wird. Die Forciertheit, mit der an dieser zentralen Stelle im Roman die Vorstellung von dem eigentlich guten (deutschen) Volk gerettet wird, macht deutlich, wie dezidiert Anna Seghers darum bemüht ist, in und mit ihrem Roman zentrale von den Nationalsozialisten besetzte Begriffe wie den des Volkes wieder zurück zu gewinnen und in eine antifaschistische, kommunistische Vorstellung von einem guten Volk einzupassen. Dem großen Projekt der Rückgewinnung eines positiv besetzten Verständnisses von Volk und Heimat verschreiben sich im Siebten Kreuz außerdem sowohl die Charakterisierungen der ›einfachen‹ und unverdorbenen Menschen als auch Passagen mit ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, die zumeist um den Schäfer Ernst situiert sind. In ihnen wird die Empfindung von Zugehörigkeit zu den Menschen, die in einem bestimmten Landstrich leben und sich dort zu Hause fühlen, so mit ihren Geschichten und mit der Geschichte verschränkt, dass ein vielstimmiges Tableau mit großer historischer Tiefenschärfe entsteht. Eindrücklich entfaltet wird dieses Tableau gleich im ersten Kapitel des Romans, das in den Paukenschlag des letzten Satzes mündet: »Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns« (SK, 16). Das einstimmige »Wir« des Kollektivs steht kontrapunktisch zur Vielstimmigkeit der weitverzweigten Romanhandlung. Es ist Garant für das »Unzerbrechbare« (SK, 259), das jeder Mensch in sich trägt, »unangreifbar« und »unverletzbar« (SK, 421). Die letzten Zeilen des Romans beschwören diesen Bestand, dabei von einer betont nüchternen Sprache ins hohe Pathos wechselnd. Doch so sehr auch das Kollektiv erzählend und erzählerisch ins Zentrum gerückt und abschließend noch einmal mit all seiner politischen Macht aufgerufen werden mag, so wenig vertraut der Roman ausschließlich auf seine Kraft. Er setzt – und darin mag sich neben der Modernität seines Erzählens der breite und anhaltende Erfolg begründen – mit Georg Heisler auf einen Helden, der mit sämtlichen Eigenschaften ausgestattet ist, die einen echten und selbstverständlich männlichen Helden im 20. Jahrhundert charakterisieren: Ohne große Worte zu machen, kämpft er für
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die gute Sache, die zugleich die Sache des Kollektivs ist. Er ist nicht zu korrumpieren, er ist einsam und attraktiv, »ein wahrer womanizer« (Steinaecker 2015, 77). Diese Eigenschaften bilden sich auch in der Physiognomie Georg Heislers ab, genauer: in den unregelmäßigen Punkten in seinen Augen. Sie werden zum ›Fenster‹ der Seele des Helden, über dessen Innenleben ansonsten wenig zu erfahren ist. Aus Charakterzügen werden so die ›Wesenszüge‹ eines Helden. Die unregelmäßigen Punkte in den Augen Georg Heislers fallen seinen wechselnden Geliebten ebenso auf wie seinen Mithäftlingen – und seinen Peinigern werden sie zum Inbegriff seiner Unfassbarkeit noch lange bevor er tatsächlich flieht und entkommt. Einer der Häftlinge beschreibt es so: »An ihm haben die uns zeigen wollen, wie man einen baumstarken Kerl einszweidrei umlegt. Aber das Gegenteil passierte. [...] Was er immer für ein Gesicht gehabt hat, so ein Lächeln, das sie ganz rasend gemacht hat, und er hat solche Augen gehabt und solche vielen komischen spitzen Pünktchen darin. Aber jetzt,« so fährt er fort, auf die Misshandlungen im Lager Bezug nehmend, »ist sein schönes Gesicht ganz platt geschlagen.« (SK, 74 f.)
Georg Heislers Verzicht auf Bindungen erweist sich als die notwendige Voraussetzung für den politischen Kampf, für den er frei sein muss. Der Einzige, der sich von Anfang an nicht durch seine scheinbare Leichtigkeit hatte täuschen lassen, sondern gerade darin seine Qualität als Hoffnungsträger und Leitfigur des politischen Widerstands erkannt hatte, ist der alte Gewerkschaftler Ernst Wallau. Er scheint ganz anders geartet zu sein als Heisler, hat als Familienvater geradezu entgegengesetzte Lebensumstände gewählt und doch teilt er mit ihm, als es darauf ankommt, das zentrale Moment der Ungebundenheit. Denn unter der Folter bleibt auch Wallau verschwiegen, weil er sich von allen Banden lossagt: »›Es gab einmal einen Mann, der Ernst Wallau hiess. Dieser Mann ist tot. [...] Wenn es wahr ist, dass Sie aus Leichen Aussagen erpressen können, ich bin toter als alle Ihre Toten.‹ [...] ›Nun sagen Sie mir mal, Wallau, bekennen Sie sich auch heute noch zu Ihren alten Ideen?‹ ›Das hätte man mich gestern fragen sollen. Heute kann ich nicht mehr antworten. Gestern hätte ich Ja rufen müssen, heute darf ich schweigen. Heute antworten andere für mich: die Lieder meines Volkes, das Urteil der Nachlebenden –.‹« (SK, 190–192)
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Diese Dimension der Ungebundenheit verbindet Wallau und dem ›womanizer‹ Georg Heisler. Als melancholische Reflexion wird sie ganz am Ende des Romans sichtbar, in Heislers letzter Liebesbegegnung mit einer Kellnerin, einer Zufallsbekanntschaft, die ihm auf der letzten Station seiner Flucht Unterschlupf bietet. Es ist eine Männerwelt, in der die Fahne des Widerstands getragen und weitergereicht wird. Frauen spielen in ihr höchstens die Rolle von politisch Interessierten, niemals aber Informierten (s. Kap. 46). Keine der handelnden Frauen ist vollständig in das politische Geschehen eingeweiht. Die Frauen, die einen Beitrag zu Heislers Flucht leisten, machen es zumeist aus Liebe. Es ist die Liebe der Frau zu dem attraktiven Mann, die seine ehemalige Ehefrau Elli bewegt. Sie ist bereit, für einen geliebten Mann alles zu tun, selbst für Georg, der sie mit dem gemeinsamen Kind für eine andere Frau hatte sitzen lassen. Für ihre gute Tat wird ihr der Roman am Ende eine gerechte Belohnung zukommen lassen: Zwar wird sie Georg nicht wieder zurückbekommen, dafür aber wird sich ein einfacher, guter Kerl ihrer annehmen, der die Verbindung mit Ellis Vater vereinbart. Elli selbst soll von dieser Verabredung nichts erfahren, gehört sie doch zu jenen Frauen, die ›erobert sein‹ wollen. Die Mutter Georg Heislers, eine eigentlich unpolitische Frau, bangt um ihren aus dem Lager geflohenen Sohn und hält ihm die Treue gegen einen seiner Brüder, den die Nationalsozialisten auf ihre Seite gezogen haben und der damit zu einer Gefahr für Georg geworden ist. Doch Georg wird nicht zu ihr flüchten. Sie gehört zu jenen, die im Fokus der Verfolger stehen und die er auf seiner Flucht keinesfalls aufsuchen darf. Die Schneiderin, zu der Georg kommt, um sich auf seiner Flucht neu einzukleiden, hilft ihm fürsorglich weiter; doch lässt der Roman offen, ob sie in ihrem schlichten Denken überhaupt die Tragweite ihrer mutigen Handlung ermessen kann. Auch eine als stark, klug und vielschichtig gezeichnete Frauenfigur wie die Garagenbesitzerin, bei welcher der Flüchtende für einige Tage unterkommen kann, wird in die wahre Geschichte nicht eingeweiht. Eine politisch interessierte Frau wie Grete Fiedler, die ihr Leben aufs Spiel setzt und wissentlich gefälschte Papiere an den Flüchtling überbringt – auch sie kennt nur Details. Ihr selbst genügt es, nicht die ganze Wahrheit zu wissen. Sie begnügt sich damit, dass ihr Mann – mit dem sie ihre Hilfsaktion gemeinsam durchführt – durch den Wiedereintritt in den politischen Kampf, von dem er sich lange ferngehalten hatte, seine alten Lebensgeister wieder zurückgewinnt.
Der politische Kampf mobilisiert den matten Gatten und macht aus ihm wieder den Geliebten von einst. Eine kluge Frau wie die Kellnerin der letzten Nacht schließlich, die sich die Zusammenhänge aus wenigen Indizien ganz zutreffend zusammenreimt – in das Geschehen eingeweiht wird auch sie nicht. Dafür gewährt ihr der Roman die höchste Auszeichnung, die er für seine Frauenfiguren zu vergeben hat. »Sie half Georg beim Anziehen und reichte ihm Stück für Stück, wie die Soldatenfrauen, wenn die letzte Urlaubsnacht aus ist. Mit ihr hätte ich alles teilen können, dachte Georg, mein ganzes Leben, aber ich hab ja kein Leben zu teilen« (SK, 419). Helden und »Soldatenfrauen« machen keine großen Worte. Sie gehören zu jenen ›stark empfindenden‹ Menschen, von denen bereits im ersten Kapitel des Romans die Rede ist. Es sind Menschen, die sich nicht in Worten, sondern in Taten artikulieren, die nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft handeln, und die, wenn die Stunde gekommen ist, nicht zaudern, sondern wissen, was zu tun ist. Immer dann, wenn der Blick auf innere Zerrissenheiten frei gegeben wird, handelt es sich um schwächliche Figuren. Einigen von ihnen gelingt es, in der politischen Tat über sich selbst hinaus zu wachsen und alle Zweifel hinter sich zu lassen, so wie es etwa bei Georg Heislers Jugendfreund Paul Röder der Fall ist. Auch er trifft seine Entscheidung schließlich allein, ohne seine ängstliche Frau mit einzubinden; auch er wird schließlich der Folter standhalten. Weil dieser Spielraum jedem Menschen – oder doch: Mann – gegeben ist, weil das Potential des ›Unzerbrechbaren‹ in jedem von ihnen ruht, ist in Seghers’ Roman das Gegenwort zu Stärke nicht Schwäche, sondern Allmacht. »Während die Starken sich ruhig einmal irren können, ohne etwas zu verlieren, weil selbst die mächtigsten Menschen noch Menschen sind – ja, sogar ihre Irrtümer machen sie nur noch menschlicher, – darf sich, wer sich als Allmacht aufspielt, niemals irren, weil es entweder Allmacht ist oder garnichts. Wenn ein noch so winziger Streich gelang gegen die Allmacht des Feindes, dann war schon alles gelungen.« (SK, 168)
In den großen Zeitgeschichtsromanen von Anna Seghers erkennt Lutz Winckler eine »Achtung vor dem Volk«, die hier »ihre literarisch vollendete Form gefunden hat« und die »den Schlüssel bildet zum Verständnis der Struktur dieser Werke und ihrer antifaschistischen Erziehungsabsicht« (Winckler 1979, 174). In Das siebte Kreuz verschränkt sich ein kon-
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sequent modernes Erzählen mit der Forderung nach einer Literatur, in der die gesellschaftliche Realität gezeigt und mit der sie verändert wird. Dabei bleibt der Roman in seiner Modernität immer verständlich, die Handlung ist nicht nur nachvollziehbar, sondern spannend. Er erreicht so nicht nur ein kleines avantgardistisches oder bildungsbürgerliches, sondern ein ungewöhnlich breites Publikum. Dem Roman den Vorwurf machen zu wollen, er trage kolportagehafte Züge, wäre ebenso verfehlt wie der Versuch, ihn vor diesem Verdacht in Schutz nehmen zu wollen. Es ist gerade diese Verschränkung von modernem Erzählen und der Nähe zur Kolportage, in der sich die Kunst und der politische Anspruch dieses Romans zeigen. Die Rezeptionsgeschichte hat diesen Anspruch bestätigt. Das siebte Kreuz gehört zum ›Unzerbrechbaren‹ des Kanons antifaschistischer Literatur. Literatur
Braese, Stephan: Fünfzig Jahre ›danach‹. Zum Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 14: Rückblick und Perspektiven. München 1996, 133–149. Haller-Nevermann, Marie: Jude und Judentum im Werk Anna Seghers’: Untersuchungen zur Bedeutung jüdischer Traditionen und zur Thematisierung des Antisemitismus in den Romanen und Erzählungen von Anna Seghers. Frankfurt a. M. 1997.
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Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992. Kremer, Detlef: Seghers, Anna [eigentl. Netty Reiling]. In: Andreas Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2012, 459–461. Kuschel, Karl-Josef: Das leer gebliebene Kreuz – zur Funktion jüdisch-christlicher Motive im Werk von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 10 (2001), 108–128. Loewy, Ernst: Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remigration. München 1991, 208– 217. Seghers, Anna/Sharp, William: Das siebte Kreuz. Mit den Originalillustrationen von 1942. Nachwort von Thomas Steinaecker. Frankfurt a. M./Wien/Zürich 2015. Steinaecker, Thomas von: Ein Welterfolg. Nachwort zu: Anna Seghers/William Sharp: Das siebte Kreuz. Mit den Originalillustrationen von 1942. Frankfurt a. M./Wien/ Zürich 2015, 71–91. Stephan, Alexander: Anna Seghers. Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin 1997. Vogt, Jochen: Anna Seghers. In: Kindler kompakt. Deutsche Literatur 20. Jahrhundert, ausgewählt von Hermann Korte. Stuttgart 2015, 112–115. Winckler, Lutz: Bei der Zerstörung des Faschismus mitschreiben. Anna Seghers’ Romane ›Das siebte Kreuz‹ und ›Die Toten bleiben jung‹. In: Lutz Winckler (Hg.): Antifaschistische Literatur. Prosaformen, Bd. 3. Kronberg/Ts. 1979, 172–201.
Bettina Bannasch
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Inhalt
Die Novelle Das Obdach entstand 1941 im französischen Exil und erschien in Mexiko in der Zeitschrift Freies Deutschland (Heft Nr. 1, 1941/1942). Nach eigenen Angaben hat Seghers »diese Geschichte ungefähr um dieselbe Zeit geschrieben, in der sie passiert sein mag, oder nur wenig später, jedenfalls in der ersten Hälfte des Krieges, als die Wehrmacht Frankreich besetzt hat« (Seghers/Herzfelde 1986, 17). Das Obdach gehört zu den Texten, die von der Autorin als »streng real« und »zeitgemäß« bezeichnet werden (ebd., 63). Am Ende des Textes, gleichsam als Epilog, findet sich eine Anmerkung der Erzählerin: »Ich habe diese Geschichte erzaehlen hoeren in meinem Hotel im 16. Arrondissement von jener Annette, die dort ihren Dienst genommen hatte« (Od, 106). Neugebauer äußert die Vermutung, dass für den Protagonisten der Novelle die Kinder des österreichischen Schriftstellers Bruno Frei Pate standen (Neugebauer 1980, 106; Wagner 1975, 210). Aber auch die Autorin selbst befand sich kurzfristig in einer Situation, in der sie ihre beiden Kinder unter die Obhut ihrer Freunde in Paris geben musste (vgl. Neugebauer 1980, 95). In der Zeit des Pariser-Exils arbeitete Seghers an einem Essay, dessen Thematik den Frauen und Kindern in der Emigration gewidmet war (vgl. Seghers 1993). Die Darstellung der Erfahrungen von deutschen Frauen und Kindern betont das Alltägliche der Emigration, jenseits der Heroisierung der Wiederstandkämpfer durch den kommunistischen Diskurs (vgl. Bernstorff 2006, 38). Schlenstedt stellt außerdem einige Aspekte aus dem Essay Frauen und Kinder in der Emigration heraus, die den Blick der Autorin auf gesellschaftliche Umstände betreffen. So erscheint Emigration bei Seghers »als Bruch, ein Lebensbruch«, nach dem das gewöhnliche Leben für alle Beteiligten ein Ende findet. Aber dieses »Herausgeschleudertwerden« bedeutet bei aller Destruktion auch eine »Chance, Neues zu gewinnen« (Schlenstedt 1993, 125). 1951 wurde die Novelle in den vom Aufbau Verlag Berlin verlegten Erzählungszyklus Die Kinder aufgenommen; hier werden, wie der Titel nahelegt, Geschichten über jugendliche Schicksale in Zeiten des Krieges versammelt. Zu den weiteren Texten des Bandes gehören Die verlorenen Söhne und Die Tochter der Delegierten, die in der DDR geschrieben wurden, aber in China und Polen spielen. Die Autorin widmete den Zyklus »der Jugend zu ihren III. Weltfestspielen für den Frieden« (Seghers 1951).
Die Erzählung Das Obdach macht auf den Widerstand in Deutschland und in den von der Wehrmacht besetzten Ländern aufmerksam. Gleichzeitig ist sie als Aufruf zu verstehen, den Widerstand unter keinen Umständen aufzugeben. Kinder, die aus kommunistischen Familien kommen, lernen von ihren Eltern nach deren Werten zu leben und versuchen in dem vorherrschenden, gegen sie gerichteten Regime zu überleben. Die Geschichte spielt im September 1940 in Paris, das kürzlich von der Wehrmacht besetzt wurde. In der Erzählung treten drei Protagonisten auf, die Hausfrau Luise Meunier, ihr Ehemann, der als Dreher arbeitet, und der namenlose 12-jährige deutsche Junge. Während eines Einkaufs erfährt Luise Meunier von ihrer Schulfreundin Annette Villard, einer Hotelangestellten, dass ein 12-jähriger deutscher Junge nach einer sicheren Unterkunft sucht, weil seine Eltern in Deutschland als Widerstandskämpfer von der Gestapo verhaftet worden waren. Die Mutter ist im Konzentrationslager umgekommen, der Vater konnte zwar aus dem KZ fliehen, wurde aber in Frankreich erneut festgenommen. Nun droht dem Jungen Abschiebung nach Deutschland zu seiner dem Nationalsozialismus zugewandten Familie. Selbst Mutter vieler Kinder und eingenommen von der Tapferkeit des Jungen, beschließt Frau Meunier, ihm zu helfen und nimmt ihn bei sich auf. Beide sind sich der großen Gefahr, die ihnen droht, bewusst. Frau Meunier will ihrem Mann die Wahrheit über die Herkunft des Jungen verschweigen und erzählt ihm eine erfundene Geschichte, von einem Neffen, dessen Mutter ihren verwundeten Mann im Lazarett besuchen möchte. Herr Meunier, der demobilisiert und niedergeschlagen aus der Maginot-Linie nach Hause zurückkehrt, findet sich resigniert mit der Anwesenheit der Wehrmacht in Paris ab, zuweilen bewundert er sogar die Stärke, die Disziplin und den Ordnungssinn der Deutschen. Infolge bestimmter Ereignisse erwacht bei Herrn Meunier ein gewisser Widerstand gegen die Besatzer. In dieser Zeit erzählt ihm seine Frau vom Schicksal des verhafteten Deutschen aus Anettes Hotel und von dessen Sohn. Herr Meunier ist von der Geschichte ergriffen und äußert den Wunsch, so einen Jungen in der Not unterstützen zu wollen. Daraufhin erfährt er die Wahrheit über den bereits in sein Haus aufgenommen Jungen.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_11
11 Das Obdach (1941)
Rezeption In den frühen Jahren nach dem Krieg wurden in der Bundesrepublik Deutschland Seghers’ Texte, auch die Novelle Das Obdach nicht rezipiert. 1973 wurde Das Obdach in Texte Texte Texte Lesebuch für das 9. Schuljahr vom Bayerischen Schulbuchverlag aufgenommen, danach folgten zwei weitere Veröffentlichungen: 1976 in Wort und Sinn, Lesebuch für den Deutschunterricht beim Schöningh Verlag und 1979 in Auswahl im Bochumer Verlag Kamp (vgl. Naumann 1981, 177). Seit den 1970er Jahren findet das Werk von Anna Seghers in der Didaktik der Bundesrepublik einige Beachtung: Die Ausführungen zu neuen Aspekten der Interpretation von Seghers’ Texten beschäftigen sich mit dem Kunstverständnis der Autorin, der Beziehung des Romans zur historischen Realität, seinen mythischen Bezügen, seinem Faschismusbegriff und dem Verhältnis von Sozialismus und Realismus (vgl. Merkelbach 1983, 534–542). Die Erzählung Das Obdach war politisch nicht angreifbar, denn sie konnte in ihrem historischen Kontext gelesen werden, nämlich als Text gegen die nationalsozialistische Herrschaft. In der DDR wurde die Erzählung im Aufbau Verlag mehrfach verlegt und später dort auch verfilmt. Die Erstausstrahlung im DDR-Fernsehen fand am 15.11.1981 statt. Den Film drehten Ursula Schmenger und Hannes Walsinger, in den Hauptrollen spielen Anja Braun, Andre Heintke, Michaela Hotz. Das Drehbuch entstand unter der Mitarbeit der Autorin. Die Thematik des Films wird in der Beschreibung der Sparte »antifaschistischer Widerstandskampf« zugeschrieben. Die Verfilmung wird ausdrücklich an ›Kinder‹ (ohne Altersangabe) adressiert. Ganz der Gattung der Kinder- und Jugendfilme angemessen, wird hier die Handlung aus der Erlebnisperspektive des jugendlichen Protagonisten geschildert, der die Hauptrolle im Film übernimmt (vgl. Beutelschmidt/ Steinlein 2004, 153).
Forschung In den kurzen Erzählungen, die im Zyklus Die Kinder gesammelt werden, verfolgt die Autorin das Ziel, die Kinder – Jungen und Mädchen gleichermaßen – als Hoffnungsträger für die Zukunft zu präsentieren. Diese Überzeugung fußt auf dem Engagement Seghers’ als Mitglied des Weltfriedensrates. In Das Obdach wird die Aufgabe des Kampfes für eine bessere Zukunft vom Vater auf den Sohn übertragen. Dieser erzählerische
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Handgriff macht bereits deutlich, wie die Autorin ihre Poetologie auf dem »Prinzip Hoffnung« aufbaut, das dann an den Mädchen- und Jungenfiguren exemplifiziert wird (vgl. Bernstorff 2006, 60). Das »Prinzip Hoffnung«, also die Überhöhung der Mütter und der Kinder, wird durch die realen, ausweglos erscheinenden Umstände notwendig, um Frieden zu beschwören. Der Text lässt sich in die Tradition des Kampfes der Frauen gegen Krieg und Gewalt stellen, denn die Autorin betont die Verantwortung der Frauen für den Frieden und weist auf die Rolle der Kinder als Garanten für eine bessere Zukunft und für ein Gelingen der Friedensarbeit hin (vgl. Bernstorff 2006, 51 f.). Horst Nalewski bemerkt, dass Seghers das Kleist’sche Motiv des Überlebens eines Kindes in der Erzählung Das Obdach, aber auch in anderen Texten (z. B. Die Saboteure, Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe) thematisiert und mit geschichtlichen Prozessen verknüpft, um den erzählten Geschichten eine positive Note zu geben (vgl. Nalewski 1975, 38). Ein weiteres Indiz für das »Prinzip Hoffnung« in Seghers’ Novelle bildet die Überzeugung, dass der Mensch nach Höherem und Stärkerem strebt und nicht in Angst und Verunsicherung verharren will. Das Gute des Menschen überwindet demnach das Böse. Die größte Hakenkreuzfahne über Paris, von der sich Herr Meunier eingeschüchtert fühlt, erweist sich so nur als »zeitweilig im Übergang von Lähmung zu Wort und Tat« (Neugebauer 1980, 107). Im Kontext des Essays Frauen und Kinder in der Emigration bietet es sich außerdem an, die Erzählung Das Obdach unter modernen Gendergesichtspunkten zu untersuchen (vgl. Dubrowska 2009). So sieht Małgorzata Dubrowska in der Novelle die Entstehung »einer mythischen Welt«, denn die Protagonistin, Luise Meunier, wird mit »einer mythisch anmutenden Stärke ausgestattet, die in der Zeit der Bedrohung aktiviert wird« (Dubrowska 2013, 141). Literaturgeschichtlich gesehen, vermittelt die Novelle Kenntnisse über eine ganze Epoche: »die Problematik der Zeit wird von Seghers an einem realen Fakt durchgespielt« (Diersch/Orłowski 1983, 198). Neugebauer schlussfolgert, dass in der Novelle das Schicksal der Deutschen im Exil erfasst wird, denn die Autorin beschreibt »Not und Gefährdung der aus Deutschland Vertriebenen und Verbannten, und zwar unter Bedingungen des Krieges« (Neugebauer 1980, 106). Der Text mit seinen zentralen Motiven wie Flucht, Migration, Todesangst, Widerstand und Zivilcourage besitzt aber auch eine überzeitliche Dimension und bietet Stoff für heute relevante Forschungsfelder. Gerade
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der Gedanke, dass die Migration nicht nur destruktive Kräfte in sich birgt, sondern auch eine neue Beweglichkeit herbeiführt, ein Sich-Öffnen auf Neues und eine Sorge um Dinge und Menschen, die außerhalb der Familie liegen, ist aktuell und kann sich für das Verständnis zeitgenössischer gesellschaftlicher Probleme der Migration als fruchtbar erweisen. Literatur
Bernstorff, Wiebke von: Fluchtorte: die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers. Göttingen 2006. Beutelschmidt, Thomas/Steinlein, Rüdiger (Hg.): Realitätskonstruktion. Faschismus und Antifaschismus in den Literaturverfilmungen des DDR-Fernsehens. Leipzig 2004. Bingula, Hans: »Ich heiße Charlotte Dupont ...« – Rollenbiografien zu Seghers’ Erzählung ›Das Obdach‹. In: Argonautenschiff 22 (2013), 192–196. Diersch, Manfred/Orłowski, Hubert: Annäherung und Distanz. DDR-Literatur in der polnischen Literaturkritik. Halle/Leipzig 1983. Dubrowska, Małgorzata: »Und ich brauch doch so schrecklich Freude« – Frauentopoi im Werk von Anna Seghers. Lublin 2009. Dubrowska, Małgorzata: Die mythische Welt Anna Seghers’. Literarische Bilder aus dem französischen Exil. In: Études Germaniques 68/1 (2013), 133–145. Merkelbach, Valentin: Rezeption und Didaktik von Anna Seghers’ Roman ›Das siebte Kreuz‹. Diskussion Deutsch 14/73 (1983), 532–550. Nalewski, Horst: Anfang – Ende – Relation in Erzählungen von Anna Seghers. In: Weimarer Beiträge 21/11 (1975), 35–55. Naumann, Uwe: Sammlung. Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst. Frankfurt a. M. 1981. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Berlin 1980. Roussel, Hélène: Anna Seghers’ Blick auf Frankreich in
»Frauen und Kinder in der Emigration«. In: Argonautenschiff 11 (2002), 65–74. Roussel, Hélène: Schwierigkeiten beim Schreiben für den Frieden. Zu drei vergessenen Kurzgeschichten von Anna Seghers: »Die Kinder des Zweiten Weltkrieges«. In: Argonautenschiff 13 (2004), 294–308. Schlenstedt, Silvia: Überlegungen zu Anna Seghers’ »Frauen und Kinder in der Emigration«. In: Argonautenschiff 2 (1993), 123–131. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Wort und Sinn. Lesebuch für den Deutschunterricht. Hg. von Karl-Ernst Jeismann. Paderborn 1976, 149–152. Seghers, Anna: Das Obdach. Freies Deutschland 1941/1942, Heft 1. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Auswahl. Hg. von Alfred Baumgärtner und Horst Künnemann. Bochum 1979, 112– 116. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Die schönsten Erzählungen. E-Book. In einer Auswahl von Christina Salmen mit einem Nachwort von Gunnar Decker. Berlin 2013. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Die schönsten Erzählungen. In einer Auswahl von Christina Salmen mit einem Nachwort von Gunnar Decker. Berlin 2008. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Post ins Gelobte Land. Erzählungen. Auswahl von Ursula Emmerich mit Illustrationen von Günter Lück. Berlin/Weimar 1990. Seghers, Anna: Das Obdach. In: Texte Texte Texte. Lesebuch für das 9. Schuljahr vom Bayrischer Schulbuch-Verlag. Hg. von Reinhard Brunner und Edmund Kösel. München 1973, 221–223. Seghers, Anna: Die Kinder. Berlin 1951. Seghers, Anna: Frauen und Kinder in der Emigration. In: Argonautenschiff 2 (1993), 319–327. Seghers, Anna/Herzfelde, Wieland: Gewöhnliches und gefährliches Leben: ein Briefwechsel aus der Zeit des Exils 1930–1946. Darmstadt 1986. Wagner, Frank: »... der Kurs auf die Realität«. Das epische Werk von Anna Seghers (1939–1943). Berlin 1975.
Monika Wolting
12 Transit (engl. 1944; dt. 1948)
12 Transit (engl. 1944; dt. 1948) Sowohl der Inhalt als auch die Entstehung und Publikation des Romans Transit sind aufs engste mit Seghers’ prekärer Exilsituation verknüpft. Nachdem sie 1933 über die Schweiz nach Frankreich emigriert war, spitzte sich ihre Lage nach der deutschen Westoffensive zu. Ihr Mann wurde bereits zu Beginn des Jahres 1940 verhaftet und blieb bis 1941 in Südfrankreich interniert, die Schriftstellerin floh im Juni 1940 mit ihren Kindern aus dem besetzten Paris zunächst nach Parmiers, dann nach Marseille. Im März 1941 gelang ihr, nach schwierigen Bemühungen in Konsulaten und Behörden, mit ihrer Familie die Überfahrt nach Amerika. Nach Internierungen auf Martinique und Ellis Island erreichte sie im Juni 1941 Mexiko. Im Vorwort zur tschechischen Ausgabe berichtet sie rückblickend über diese Entstehungsumstände: »Der Roman ›Transit‹ [...] ist im ersten Kriegsjahr in Frankreich begonnen worden. Er wurde mitten in der Situation geschrieben, die darin beschrieben ist. Ein paar Seiten entstanden in Hotelzimmern und Cafés von Marseille, ein paar in den Pyrenäen, als unsere Maenner dort im Lager eingesperrt waren, ein paar auf dem Schiff, das aus Marseille an der spanischen Kueste entlang, um das kuenstlich vernebelte Fort von Gibraltar herum, in endloser, erschoepfender Fahrt auf die Insel Martinique zufuhr.« (WA I/5, 286)
Tatsächlich teilt sie Franz Weiskopf bereits am 20.8.1941 aus Mexiko-Stadt mit, sie werde »in etwa einem Monat ein Buch kleiner bis mittl. Umfang fertig haben. Es spielt in Marseille in dem ganzen Hexenkessel und hat eine schoene Liebes und Abenteurergeschichte« (Br1, 117). Anfang 1943 war die Arbeit abgeschlossen, am 4. Februar 1943 fand eine erste Lesung aus dem noch titellosen Roman im Heinrich-HeineKlub in Mexiko statt (vgl. Schlenstedt WA I/5, 319). Ebenso komplikationsreich wie die Entstehung gestaltete sich die Veröffentlichung von Transit (vgl. ebd., 339–346). Der von emigrierten deutschsprachigen Schriftstellern – unter ihnen neben Seghers Alexander Abusch, Walter Janka und Bodo Uhse – geleitete mexikanische Exilverlag El Libro Libre, in dem 1942 noch Das siebte Kreuz erschienen war, lehnte die Veröffentlichung des Romans, offensichtlich aufgrund literaturpolitischer Vorbehalte innerhalb des kommunistischantifaschistischen Kuratoriums, ab. Der Erstdruck erfolgte daraufhin nicht auf Deutsch, sondern in einer englischen Übersetzung von James A. Galston, die im
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Mai 1944 bei Little, Brown & Company in Boston erschien. Noch während der Drucklegung schrieb Seghers im Januar 1944 die letzten drei Seiten des Romans völlig neu. Ferner kündigte sie dem Verlag ein Vorwort an, das jedoch nicht erhalten ist. Auf Spanisch wurde Transit im gleichen Jahr im mexikanischen Verlag Nuevo Mundo veröffentlicht; die Publikation erfolgte bald darauf auch in Dänemark, Frankreich, Italien und Schweden. In Deutschland wurde der Roman dem Publikum 1947 zunächst in Fortsetzungen in der Berliner Zeitung sowie in Rundfunklesungen zugänglich gemacht (vgl. Schlenstedt WA I/5, 341 f., 348). Ein Jahr später erfolgte die deutsche Erstausgabe in einer schlecht lektorierten Fassung im Verlag Curt Weller, Konstanz. In der DDR erschien der Roman erstmals 1951 im Aufbau Verlag.
Poetologische Bezugspunkte um 1940 Wie für die Entstehung und Veröffentlichung des Romans, so ist auch hinsichtlich seiner poetologisch-ästhetischen Rahmenbedingungen die politisch-zeitgeschichtliche Krisenerfahrung entscheidend; von zentraler Bedeutung ist die Frage, wie sozialistische Schriftsteller/innen angesichts von NS-Diktatur und Exil schreiben sollen. Ihre Position hat Seghers 1938/39 im brieflichen Austausch mit Georg Lukács, dem sich im Moskauer Exil aufhaltenden maßgeblichen Vertreter der sozialistischen Ästhetik, entfaltet. Dessen Realismus-Konzept bewertet sie dort als unbefriedigend. Während Lukács sich an Goethe und den bürgerlichen Realisten des 19. Jahrhunderts orientiert und die Formexperimente der Moderne – ein Beispiel ist John Dos Passos – als ›Dekadenz‹ ablehnt, verweist Seghers auf den Wert des ästhetischen Experiments gerade in schwierigen Zeiten wie etwa des Kriegs. Historische »Krisenzeiten«, so Seghers, seien »in der Kunstgeschichte von jeher gekennzeichnet durch jähe Stilbrüche, durch Experimente, durch sonderbare Mischformen« (Lukács/Seghers 1971, 349). Die Kunst solcher Zeiten erscheine als »Zerfall. Im besten Fall absurd, experimentell. Es war aber doch der Anfang zu etwas Neuem« (ebd.). Die Position, die Seghers hier in theoretischer und historischer Perspektive einnimmt, kann in gewisser Weise als Schlüssel für das ästhetische Konzept des zwei Jahre später entstandenen Romans angesehen werden. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Transit bei sozialistischen Schriftstellerkollegen im Exil auf Skepsis stieß, warum auch seine weitere Rezeption höchst ambivalent aus-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_12
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fiel und warum er in der DDR häufig in verzerrter Perspektive wahrgenommen wurde. Einen zweiten impliziten, für die narratologische Konzeption des Romans wichtigen Bezugspunkt stellt die Auseinandersetzung mit Walter Benjamin dar. Dass in Transit Benjamins im September 1940 verübter Selbstmord versteckt erwähnt wird – »In einem Hotel in Portbou, jenseits der spanischen Grenze, hatte sich in der Nacht ein Mann erschossen, weil ihn die Behörde am nächsten Morgen nach Frankreich hatte zurückschaffen wollen« (Tr, 196) –, kann als wichtiges poetologisches Signal im Hinblick auf die Erzählstruktur des Romans angesehen werden. In seiner Rezension von Seghers’ Roman Die Rettung von 1938 hatte Benjamin bemerkt: »Die Stimme der Erzählerin hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten« (Benjamin 1972, 533). Unter Bezugnahme auf orale Muster attestiert er der Autorin damit, über ein Gegenmodell zu jener Krise des Erzählens, zum Verlust von narrativer Kohärenz und Erfahrungsaustausch in der Moderne zu verfügen, die er 1936 in seinem Essay »Der Erzähler« beschrieben hatte. Mit genau diesem Problemkomplex setzt sich Transit auseinander, indem dort unterschiedliche Modelle des Erzählens verhandelt werden. So bringt der Ich-Erzähler einen Überdruss gegenüber der verwirrenden Fülle an »aufregenden Berichte[n]« und »spannenden Erzählungen« (Tr, 6) zum Ausdruck, die gegenwärtig über Flucht und Transit zirkulierten. Im Kontrast zu diesen »flüchtig[en]« Geschichten möchte er »gern einmal alles erzählen, von Anfang bis zu Ende« (ebd.), denn, so heißt es in einer späteren Meta-Reflexion, »abgeschlossen ist, was erzählt wird« (Tr, 215). Diesem Ziel nähert sich der Roman durch ein Modell mündlicher Narration. Die Rahmenhandlung entwirft eine archaische Erzählsituation am Ofenfeuer einer Pizzeria am alten Hafen von Marseille, wobei die Leserin/der Leser als anwesendes Gegenüber angesprochen wird. Auch das »uralte[...] Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter«, wird in seiner Überzeitlichkeit verklärt: »Wunderbarer uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solang es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer« (Tr, 88 f.). Mit der archaischen Mündlichkeit geht das erzählerische Ideal der Vollständigkeit und Ganzheit einher, indem das Ende der intradiegetischen zeitlich mit dem Beginn der extradiegetischen Erzählung zusammenfällt; die Binnenhandlung endet damit, »daß ich mich hierher
in die Pizzeria zurückzog« (Tr, 280), was dann zur rahmenden Situation des Gesprächs und des Erzählens führt. Suggeriert wird damit, dass hier tatsächlich ›zu Ende erzählt‹, etwas ›abgeschlossen‹ wird. Dass dies allerdings in deutlicher Spannung zu anderen, verwirrend heterogenen narrativen Strukturelementen des Romans steht, unterstreicht wiederum den gegenüber Lukács formulierten Anspruch, angesichts der historischen Krisensituation »Experimente« und »Mischformen« ins Werk zu setzen.
Inhalt Im Zentrum des Romans steht Marseille im Herbst und Winter 1940/41 – ein Ort, an dem vor den Nationalsozialisten und Franco-Faschisten geflohene Transitäre aus ganz Europa festsitzen und auf die erhoffte Ausreise warten. Den tatsächlichen Namen des Ich-Erzählers und Protagonisten erfährt der Leser nicht, er nimmt aufgrund falscher Papiere im Verlauf der Handlung die Namen Seidler und Weidel an. Er hat eine Ausbildung als Monteur absolviert und ist zunächst aus einem deutschen KZ und dann aus einem Arbeitslager bei Rouen über Paris nach Marseille geflohen. Seine Geschichte ist dabei nur eine unter vielen, sie ist mit zahlreichen Berichten über andere Flüchtlinge, die seinen Weg kreuzen, verknüpft. Von den anderen Emigranten in Marseille unterscheidet er sich jedoch, indem er bevorzugt, dort zu bleiben. Der Ausreise steht er gleichgültig gegenüber, er schlägt die Möglichkeit dazu sogar aus, als er schließlich im Besitz der nötigen Papiere ist. Er bleibt, obwohl er ausreisen könnte, während die meisten anderen Flüchtlinge bleiben müssen, obwohl sie das Land verlassen wollen. Dieses Spiel der Umkehrungen verdeutlicht die Absurdität der Transitsituation und insbesondere den Teufelskreis der Bürokratie, die den Emigranten beides, den Aufenthalt wie das Ausreisen, beinahe unmöglich macht. Den Höhepunkt erreicht die Absurdität darin, dass die lebensrettende Bewerkstelligung der Ausreiseformalitäten ausgerechnet für einen Menschen gelingt, der bereits tot ist, den Schriftsteller Weidel, der in Paris Selbstmord verübt hat. Der Ich-Erzähler verdankt seine erfolgreichen Bemühungen um ein Mexiko-Visum der Tatsache, dass er die Papiere des verstorbenen Weidel, die er in Paris an sich genommen hat, auf dem mexikanischen Konsulat in Marseille abgeben möchte und dieser Name dort für seinen eigenen Künstlernamen gehalten wird. Eine weitere Verstrickung entsteht, indem er sich in Marie, die Frau Weidels, ver-
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liebt, die nichts von dessen Tod weiß und ihn in Marseille aufzuspüren versucht. In ihrer Suche erhält sie immer wieder Auftrieb dadurch, dass durch die ihr verborgen bleibende doppelt falsche Identität des IchErzählers (Seidler/Weidel) das Gerücht von Weidels Aufenthalt in Marseille kursiert. Dass in der Transitsituation des endlosen Wartens und der absurd-labyrinthischen modernen Bürokratie in sarkastischer Weise die Toten die Gewinner sind, gilt schließlich auch für Marie, denn von dem Schiff, auf dem sie mit ihrem neuen Geliebten, einem Arzt, schließlich ausreist, heißt es, es sei untergegangen. Zur pejorativen Darstellung der Transitsituation als Totenreich, als Zustand der Leere und des endlosen Wartens gibt es innerhalb des Romans einige Kontrapunkte. Dazu zählt der von Seghers im Schreibprozess spät hinzugefügte finale Entschluss des Protagonisten, sich in Südfrankreich niederzulassen und sich im Fall eines weiteren Vordringens der Deutschen der Résistance anzuschließen. Einen positiven Gegenpol bildet auch die französische Familie Binnet, bei der er Aufnahme findet. Auch der mitinterniert gewesene Antifaschist und Spanienkämpfer Heinz, dem ein Bein fehlt und der deshalb auf der Flucht getragen wird, unterstreicht das Grundprinzip der Solidarität, des einander nicht Im-Stich-Lassens, dem das Verhalten vieler anderer Transitäre, insbesondere der Schriftsteller, kontrastiert. Schließlich weist auch die zunehmende Identifikation des Ich-Erzählers mit dem Schriftsteller Weidel, über die beiden gemeinsame Liebe zu Marie hinaus, politisch-ethische Implikationen auf: Dass dieser »in einem Anfall von Eingreifenmüssen« (Tr, 211) ein Massaker der Frankisten angeprangert hatte (vgl. Tr, 134), stiftet eine Verwandtschaft mit dem Ich-Erzähler, der zwar keiner Partei angehört, doch von sich erzählt, aus einem ähnlich spontanen Impuls heraus »in das Gesicht eines SA-Lümmels« (Tr, 211) geschlagen zu haben. Die realen biographischen Hintergründe des Romans liegen auf der Hand. So erinnert die Figur Weidel an den Schriftsteller Ernst Weiß, den Seghers in Paris kennenlernte; aus Pamiers schreibt sie am 23. November 1940, in relativer Übereinstimmung mit der Romanhandlung, an Franz Weiskopf: »J’ai demandé à Paris dans l’hôtel de Weiss s’il est là, on me dit, il est évacué. Plus tard on apprend qu’il s’est suicidé, on se dit quelle drôle d’expression pour un suicide!« (Br1, 91) Von Seghers real Erlebtes und Romanhandlung stimmen bis in das Detail überein, dass sie, wie der Ich-Erzähler, auf der Flucht aus Paris von der Wehrmacht überholt wurde (vgl. Schlenstedt WA I/5, 314) und dass
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es zu Komplikationen mit ihrem mexikanischen Visum kam, da es auf ihren Künstler- statt auf ihren Geburtsnamen ausgestellt war (vgl. ebd., 315). Mindestens ebenso wichtig wie die biographischen Bezüge sind die zahllosen intertextuellen Verweise innerhalb des Romans. In der oft grotesken Darstellung der absurd-labyrinthischen Bürokratie orientiert sich Seghers an Beschreibungen, wie sie aus den Romanen Franz Kafkas bekannt sind. Wenn geschildert wird, wie aus dem Innenraum des brasilianischen Konsulats »nie gesehene, nie geahnte Beamte heraussprangen« und »auf einmal [...] die Schreibmaschinen zu klappern an[fingen]« (Tr, 244), so liegt die Ähnlichkeit mit Kafkas Romanen Der Proceß oder Das Schloss auf der Hand. Seghers schreibt sich damit, wenn auch mit deutlichem zeitgeschichtlichem Bezug, bewusst in Traditionen der literarischen Moderne ein, die im Rahmen der doktrinär sozialistischen Ästhetik abgelehnt wurden. Das in Transit von einem jüdischen Flüchtling erzählte »Märchen von dem toten Mann« (Tr, 208) kann als eine Radikalisierung der »TürhüterParabel« aus Kafkas Roman Der Proceß verstanden werden. Wird der »Mann vom Lande« bei Kafka kurz vor seinem Tod darauf hingewiesen, dass der Eingang, vor dem er Jahre lang wartete, nur für ihn bestimmt war, womit im Nachhinein auf tragisch-paradoxe Weise die Möglichkeit des Einlasses aufscheint, so wird bei Seghers der unerträgliche Zustand des endlosen Wartens, die Situation des hundert Jahre lang auf das Urteil Gottes wartenden toten Mannes, bereits als die Hölle selbst benannt (vgl. Tr, 208 f.). Den anderen Pol des intertextuellen Spannungsfelds machen antike mythologische und biblische Anspielungen aus. Zum Teil handelt es sich um einzelne, Assoziationsräume etwa des Todes oder der Endzeit eröffnende Formulierungen wie »Das alles taugt nicht für sie [Marie], nicht der Ort, nicht die Stunde« (Tr, 95; vgl. Mattäus 24,36) oder »Die Toten, die wir zurückließen, würden längst von ihren Toten begraben sein« (Tr, 197; vgl. Mattäus 8,22). Seghers selbst hat in allerdings irreführender Weise (vgl. Walter 1984, 132) auf einen angeblichen Bezug der Handlung – eine Frau zwischen zwei Männern, die aber einen dritten, verstorbenen liebt – zu Racines Andromaque hingewiesen (Br2, 85). Hans Albert Walter (1984, 92–110) hat zahlreiche weitere intertextuelle Bezüge detailliert untersucht; sie reichen von der Odyssee über die Bücher Moses bis hin zum mythologischen Paar Amor und Psyche. Die Funktion solch mythologischer Anspielungen ist eine doppelte: Die konkrete Situation der Emigranten wird im Sinne eines Bewältigungs-
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modells ins Überzeitliche gehoben; umgekehrt erfährt der Mythos eine zeitgeschichtliche Aktualisierung.
Zeitgenössische Rezeption Die ambivalente Rezeption von Transit hat Anna Seghers noch vor der Publikation selbst vorausgesehen: »Ich weiß noch nicht, ob das Buch vielen Leuten gefallen wird oder sie irritiert oder beides« (WA I/5, 338). Insbesondere war ihr die Diskrepanz zwischen der ästhetischen Qualität und der beschränkten politischideologischen Benutzbarkeit des Romans bewusst; an den Verleger Curt Weller schreibt sie im Mai 1950, »dass ich Buecher geschrieben habe, die mir vielleicht kuenstlerisch weniger gefallen, die ich aber sicher paedagogisch fuer nuetzlicher halte« (Br1, 366). Bereits die kommunistischen Mit-Emigranten Seghers’ in Mexiko nahmen den Roman reserviert auf. Bodo Uhse vermerkt: »wir glaubten, das sei nicht die rechte Art Roman für uns« (WA I/5, 339). Auch die Aufnahme des Erstdrucks in den USA blieb verhalten, der neue Roman konnte nicht an den großen Erfolg von Das Siebte Kreuz anknüpfen. Eine Auswertung zeitgenössischer Rezensionen in US-Zeitungen, die die Herausgeberin vorgenommen hat, kommt zu dem Ergebnis, dass im Hinblick auf Transit zwar »die erzählerischen Qualitäten des Romans, seine Neuheit betont, die Intensität der Darstellung des Fluchtpunkts Marseille gelobt« wurden, jedoch der gleichgültige Charakter des Ich-Erzählers auf Unverständnis stieß und ein heroisch-kämpferischer Protagonist vermisst wurde (vgl. Schlenstedt WA I/5, 347). Ein Nachdruck der deutschen Erstausgabe in der sozialdemokratisch orientierten schweizerischen Büchergilde Gutenberg wurde 1949 mit der ganz ähnlichen Begründung abgelehnt, es handle sich »mehr um eine Zustandsschilderung, als um ein wirklich positiv kämpferisches und fortschrittliches Buch« (ebd., 344). Für die Veröffentlichung des Romans in der DDR lag »ein verhalten positives, befürwortendes Gutachten vor« (Schlenstedt WA I/5, 346), das den – am ehesten auf der politischen Linie liegenden – Schluss als »nachträglich angeklebt« (ebd.) charakterisierte. Über die Rezeption in der DDR berichtet Seghers selbst dem Verleger Weller im Mai 1950, »dass ausgerechnet dieses arme Buch, ueber das sich manche bloede Leute, die ich nicht neu gebaeren und Du nicht neu zeugen kann, schrecklich aergern und die es nicht verstehen [sic]« (Br1, 367). Differenziert setzt sich der DDR-Publizist Paul Rilla in einem 1950 in der Zeitschrift Sinn
und Form publizierten Essay über die »Erzählerin Anna Seghers« mit Transit auseinander. Er erkennt erstens die »Dschungel der Bürokratie« als Grundthema des Romans und attestiert daher eine »Verwandtschaft mit der erzählerischen Alpdruckwelt Franz Kafkas« (Rilla 1950, 108); der entscheidende Unterschied liege allerdings darin, dass »die Instanzen einer allmächtigen Sinnlosigkeit« (ebd.) bei Kafka im Unterbewusstsein angesiedelt seien, während Seghers sich ganz der Realität zuwende, woraus Rilla eine Kritik am »bürgerlichen Terror« (ebd., 109) ableitet. Ebenso zentral ist zweitens das Ethos des engagierten Schriftstellers, das anhand der Figur Weidel entwickelt wird.
Forschung Die Rezeption in Deutschland seit den 1950er Jahren ist durch die Ost-West-Konfrontation des Kalten Kriegs gekennzeichnet; Seghers wurde »in Westdeutschland [...] nicht gedruckt, im östlichen Deutschland dem dominanten Literaturverständnis anbequemt« (Schlenstedt WA I/5, 350). Die seit 1962 in der Bundesrepublik publizierte Werkausgabe des Luchterhand-Verlags wurde von einem Boykott-Aufruf begleitet. Der in diesem Rahmen 1963 veröffentlichte Roman Transit nahm in der literaturkritischen Einschätzung eine Sonderrolle ein: Während Seghers als Repräsentantin der DDR-Literatur abgelehnt wurde, erfuhr Transit Anerkennung; Silvia Schlenstedt spricht treffend von einer »Entgegensetzung der Dichterin Seghers mit der Kommunistin Seghers« (WA I/5, 351). Marcel Reich-Ranicki betonte aufgrund der dargestellten Absurdität die Nähe des Romans zum französischen Existentialismus und zu Kafka. Im Gegensatz zu Paul Rilla sieht er darin jedoch ein bewusstes Abweichen von der kommunistischen Parteilinie und vom realistischen Erzählen, das er auf ein erschüttertes Weltbild der Autorin in der Folge des Hitler-StalinPakts zurückführt (vgl. Reich-Ranicki 1963, 237). Den von ihm als psychologisch unplausibel kritisierten Schluss erklärt er durch den Einfluss der kommunistischen Mit-Emigranten auf Seghers in Mexiko. Wichtige, die politischen Machtblöcke tendenziell überschreitende Rezeptionszeugnisse stammen von Nachkriegsliterat/innen wie Heinrich Böll und Christa Wolf. Böll würdigt Transit in einem Spiegel-Artikel vom April 1964 als herausragendes Werk Seghers’ und stellt den Roman auf doppelte Weise ins Spannungsfeld zwischen der NS-Diktatur und der aktuellen Situation des Kalten Kriegs: Zum einen empfindet er die Tatsa-
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che, dass er in der BRD lange nicht veröffentlicht wurde und die Autorin dort auf Vorbehalte stößt, als Skandal, der ihn an den Umgang mit unerwünschter Literatur im Dritten Reich erinnert. Zum anderen bezieht er jedoch die Situation von Emigranten nach 1933 auf das aktuelle Schicksal von DDR-Flüchtlingen. Christa Wolf betont in ihrem Essay »Transit: Ortschaften«, der 1986 in Sinn und Form erschien, auch mit Blick auf Seghers’ Biographie den Charakter der konkreten Wirklichkeit, der für die Darstellung der Zeit und der Orte in Transit konstitutiv sei; sie verweist aber – jenseits des im engeren Sinne Politisch-Ideologischen – auch auf die grundsätzliche »Sehnsucht nach ›Unversehrbarkeit‹« (Wolf 2003, 165), die im Roman zum Ausdruck komme und das Interesse an ihm wachhalte. Verfilmungen von Transit stammen vom französischen Regisseur René Allio (Frankreich, 1991) sowie von Christian Petzold (Deutschland/Frankreich, 2018), ein weiteres dem Roman verpflichtetes filmisches Dokument ist Fluchtweg nach Marseille. Bilder aus einem Arbeitsjournal von Ingemo Engström und Gerhard Theuring (BRD, 1977). Eine freie dramatische Adaption bildet Volker Brauns Transit Europa (UA Ost-Berlin 1988). Auch die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Transit stand lange Zeit im Zeichen der Ost-West-Auseinandersetzung: »Neigte man in der DDR dazu, am Roman die Entwicklung eines teilnahmslosen Beobachters zu einem aktiv solidarischen Antifaschisten herauszupräparieren, [...] so kehrte man in der BRD die Vergeblichkeit des kollektiven Handelns hervor und die Ausgesetztheit des modernen Menschen« (Schlenstedt WA I/5, 352). Auf eine neue Stufe gehoben wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung durch die Monographie von HansAlbert Walter Anna Seghers’ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth (1984). Walter unternimmt eine sehr genaue und kritische Lektüre des Romans, die neben ausführlichen Erörterungen zu intertextuellen Bezügen auf die narratologische Komplexität und Divergenz des Romans eingeht. So wird der Ich-Erzähler, der als gelernter Monteur angeblich nicht liest, dessen Erzählen aber von literarischer Bildung zeugt, als montierte Kunstfigur (vgl. Walter 1984, 89) charakterisiert und generell die »Doppelbödigkeit und Vieldimensionalität des Geschehens« (ebd., 91) herausgearbeitet. Zahlreiche Beiträge (u. a. Barkhoff 1991, Delfau 2010, Schuster 2015, Sicks 2013, Thuner 2003, Ujma 2016, Winckler 2010) haben seither Walters Befund der bewussten Inkonsistenz der Erzählkonzepte aufgegriffen, der vereindeutigende Interpretationen aus-
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schließt. Adäquat ist es, von einem generellen Charakter des Changierens auszugehen, der weder die Interpretation im Sinne einer generellen Absurdität der menschlichen Existenz, die in der Transit-Situation versinnbildlicht wird, ausschließt noch eine politische Deutung im Sinne einer, wenn auch relativ unspezifischen, Ermutigung zum Widerstand und zur Solidarität. Trotz des Romanschlusses stehen keinesfalls konkrete politisch-ideologische Aussagen im Zentrum, vielmehr bilden ›Langeweile‹ und ›Bleiben‹ die Schlüsselbegriffe. Zur Geltung kommen somit weniger sozialistische Ideale als vielmehr überzeitlich-archaische Muster – etwa die Pizzabäckerin als archaisch-zeitlose Schönheit (vgl. Tr, 271), das uralte Hafengetratsch, die Mythen, in denen die aktuelle Situation gespiegelt wird – sowie der schlichte Wunsch zu bleiben. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich in der Forschung innerhalb der letzten drei Jahrzehnte zwei – miteinander verbundene und einander überlappende – Schwerpunkte ab: Zum einen die Aspekte der Erinnerungsarbeit sowie der Selbstthematisierung des Erzählens, zum anderen die Analyse der Transitsituation in raumtheoretischer Perspektive. In Anknüpfung an Walter deutet etwa Jürgen Barkhoff das Erzählen in Transit als den fragilen Versuch des Subjekts, sich der gleichermaßen privat wie geschichtlich gemachten Erfahrung zu vergewissern, wobei sich »die Chance der Standortbestimmung [...] gerade im Durchgang durch die mythisch-ästhetische Aneignung von Welt« (Barkhoff 1991, 231) gestalte. Lutz Winckler spricht im Hinblick auf die disparaten Erzählkonzepte in Transit von »einer nicht zu-endekommenden narrativen Erinnerungsarbeit« (Winckler 2010, 206). Auf den experimentellen Charakter im Kontext der literarischen Moderne weist Jörg Schuster (2015) hin: Neben dem Bezug zu Kafka und zur existentialistischen Absurdität sowie dem Experimentieren mit unterschiedlichen Erzählmodellen rekurriere Seghers auch auf die für die Moderne spezifische Autonomie sprachlicher Signifikanten, die sich in den wiederholt geschilderten »Namensverschiebung[en]« (Tr, 172) manifestiere. Christina Thurner, die in ihrer Monographie Der andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten 1933– 1945 2003 neben Transit auch Exilromane von Irmgard Keun, Alice Rühle-Gerstel, Klaus Mann und Lion Feuchtwanger in den Blick nimmt, verbindet Michel de Certeaus Konzept des Nicht-Orts mit einer genauen narratologischen Analyse. Sie stellt fest, dass sowohl das mündliche Erzählmodell als auch das Ro-
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man-Modell »untergraben und subvertiert« (Thurner 2003, 68) werden; hinsichtlich des Protagonisten betont sie die Namenlosigkeit und das weitgehende Fehlen einer Vorgeschichte und spricht in diesem Zusammenhang von einer »Defiguration der Erzählfigur« (ebd., 71). Sie kommt so zum Schluss, dass neben der Transitsituation auf der Inhaltsebene auch eine »transitäre Praxis des Erzählens« (ebd., 75) festzustellen ist. Der Roman thematisiere also »inhaltlich, was er auch praktiziert. Er hält Vergängliches in schriftlicher Form fest. Er schreibt es jedoch nicht endgültig fest, indem er das Flüchtige, Transitäre des Gegenstandes sowohl zum Thema als auch zur Methode erhebt« (ebd., 91). Aus raumtheoretischer Perspektive untersucht auch Lars Wilhelmer den Roman von Seghers, und zwar als Beispiel für Transit-Orte in der Literatur. In Anknüpfung an Thurner betont er das für Transit konstitutive Spannungsverhältnis von »Motive[n] und Metapher[n] des Durchgangs, des Übergangs, des Fließens und der Zerstreuung« (Wilhelmer 2015, 206) einerseits und dem »Themenfeld des Bleibenden, des Ursprünglichen, Verwurzelten, Erdverbundenen« (ebd., 207) andererseits. Literatur
Barkhoff, Jürgen: Erzählung als Erfahrungsrettung. Zur IchPerspektive in Anna Seghers’ Exilroman ›Transit‹. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 9 (1991), Exil und Remigration, 218–235. Benjamin, Walter: Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers’ Roman »Die Rettung« [1938]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972, 530–538. Böll, Heinrich: Gefahr unter falschen Brüdern [1964]. In: Ders.: Werke. Essayistische Schriften und Reden 2. 1964– 1972. Hg. von Bernd Balzer. Köln o. J., 28–31. Delfau, Caroline: Zwischen den Welten. Zur Poetik des Tran-
sitorischen in Anna Seghers’ Roman ›Transit‹ und ihrer Novelle ›Überfahrt‹. In: Sabina Becker/Robert Krause (Hg.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933. München 2010, 38–56. Lukács, Georg/Seghers, Anna: Ein Briefwechsel. In: Georg Lukács: Werke, Bd. 4. Probleme des Realismus I. Essays über Realismus. Bielefeld 1971, 345–376. Reich-Ranicki, Marcel: Die kommunistische Erzählerin Anna Seghers. In: Ders.: Deutsche Literatur in West und Ost. Prosa seit 1945. München 1963, 222–244. Rilla, Paul: Die Erzählerin Anna Seghers. In: Sinn und Form 2/6 (1950), 83–113. Schuster, Jörg: Anna Seghers’ ›Transit‹ (1944). In: Sonja Klein/Sikander Singh (Hg.): Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945. Perspektiven und Deutungen. Darmstadt 2015, 204–213. Sicks, Kai: Anna Seghers: ›Transit‹ (1944/1947). In: Bettina Bannasch/Gerhild Rochus (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin 2013, 527–534. Thurner, Christina: Der andere Ort des Erzählens. Exil und Utopie in der Literatur deutscher Emigrantinnen und Emigranten 1933–1945. Köln/Weimar/Wien 2003. Ujma, Christina: Anna Seghers und die Moderne: Positionen aus der Expressionismusdebatte und den großen Exilromanen. In: Charmian Brinson/Andrea Hammel (Hg.): Exile and Gender I. Literature and the Press. Leiden/Boston 2016, 34–48. Walter, Hans-Albert: Anna Seghers’ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. Wilhelmer, Lars: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld 2015. Winckler, Lutz: Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers ›Transit‹. In: Exilforschung 28 (2010), 194– 210. Wolf, Christa: Transit: Ortschaften [1986]. In: Dies./Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe. Gespräche und Essays. Hg. von Angela Drescher. Berlin 2003, 152–165.
Jörg Schuster
13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946)
13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946): Der Ausflug der toten Mädchen, Post ins gelobte Land, Das Ende Im Zentrum dreier Erzähltexte, die Anna Seghers 1946 unter dem Titel Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen im New Yorker Exilverlag Aurora veröffentlicht, steht die Auseinandersetzung der Autorin mit persönlichen Leid- und Verlusterfahrungen im Holocaust. Stärker als Das siebte Kreuz und Transit sind die drei Novellen – neben der titelgebenden Erzählung Post ins gelobte Land und Das Ende – biografisch grundiert. Seghers reflektiert in ihnen weniger ihre politische Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland als vielmehr ihre persönliche Betroffenheit: die Ermordung ihrer Mutter, ihre jüdische Herkunft aus einer einst sehr etablierten, nun aber ausgelöschten Kunsthändlerfamilie und ihre Exilerfahrungen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Fragen von Täterschaft, Schuld und Gerechtigkeit, die der Band gleich den Romanen aufwirft, eine große Unmittelbarkeit. Sowohl im frühen Nachkriegsdeutschland als auch in der DDR hat die persönliche Dimension der drei Texte ihre Rezeption zum Teil erschwert, in jüngerer Zeit aber entscheidend zu ihrer Neuentdeckung beigetragen und den titelgebenden Text Ausflug der toten Mädchen zu »Anna Seghers berühmtester Erzählung« (Schulte 2002, 104) gemacht.
Der Ausflug der toten Mädchen Diese Novelle stellt rückblickend die persönliche Erinnerung einer Ich-Erzählerin dar, die eine große Nähe zur Person Anna Seghers besitzt. Gleich der Autorin befindet sich die Erzählerin im mexikanischen Exil und reflektiert, gerade von einer monatelangen Krankheit genesen, während eines Spaziergangs am Rande eines mexikanischen Dorfes ihre Situation, die von Mut- und Antriebslosigkeit ebenso geprägt ist wie von der Sehnsucht nach der Heimat. »Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt« (AtM, 122). Sie gelangt – so erinnert sich die Ich-Erzählerin retrospektiv – an ein etwas außerhalb des Dorfes gelegenes Rancho, dessen grünlich schimmernder Hof sich abhebt von der ausgedörrten Umgebung. Sie betritt den Hof durch einen Torbogen, dessen ausgewaschenes Wappen sie zu kennen glaubt, und sieht im Inneren des Hofs eine Schaukel. Dort er-
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kennt sie ihre besten Schulfreundinnen, Leni und Marianne, als junge Mädchen. »Im selben Augenblick rief jemand: ›Netty!‹« (AtM, 123), wobei die rufende Stimme der damaligen Lehrerin gehört. Sie will die Mädchen zum Rest ihrer Schulklasse rufen, die eben zu einem Schulausflug startet. Ausgehend von der rätselhaften Wahrnehmung der Mädchen, von der im Präteritum erzählt wird, ohne dass sie explizit als Imagination markiert ist, wird das Schicksal der Mädchen im Nationalsozialismus entfaltet. Der titelgebende ›Ausflug‹ – eine Dampferfahrt auf dem Rhein – findet im Vorfeld des Ersten Weltkriegs statt und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die Verbrechen des Nationalsozialismus, die aufbauend auf die rätselhaften Imaginationen erinnert werden, den Mädchen noch bevorstehen. Aus der Sicht der wahrnehmenden Ich-Erzählerin, die über detaillierte Kenntnisse verfügt, liegen sämtliche Geschehnisse dagegen in der Vergangenheit, wobei sie kontinuierlich zwischen den drei Zeitebenen – der Jugend mit dem Schulausflug, den Ereignissen im Holocaust und den Erlebnissen im Exil – hin- und herblendet. Ausgehend von einer detaillierten Betrachtung ihres Gesichts wird zunächst die Geschichte Lenis entfaltet – es ist diejenige einer Widerstandskämpferin, deren Mann in einer verbotenen Druckerei verhaftet wird. Auch Leni wird verhaftet, muss ihr Kind allein zurücklassen und weigert sich unter Folter, gegen ihren Mann auszusagen, bevor man sie »im Frauen-Konzentrationslager im zweiten Winter dieses Krieges langsam, aber sicher an Hunger zu Grunde gehen ließ« (AtM, 125). Ihr »Apfelgesicht mit der eingekerbten Stirn« hatte Leni – da will sich die Ich-Erzählerin ganz sicher gewesen sein – »selbst im Tod [...] behalten« (ebd.). Nachbarn verstecken Lenis Kind und schaffen es zu Verwandten nach Berlin. Ihre frühere Schulfreundin Marianne verweigert sich dieser Hilfsaktion, da sie durch ihren Mann – einen SS-Sturmbannführer – an das Regime gebunden ist und Lenis Widerstand ablehnt; dieser Mann hatte die Verhaftung von Lenis Mann betrieben. Vor dem Hintergrund der Wahrnehmung von Leni und Marianne als schaukelnde Schulfreundinnen erscheinen der Ich-Erzählerin diese späteren Ereignisse als unvorstellbar. Lebensläufe weiterer Klassenkameradinnen kommen hinzu: Nora etwa buhlt während des Ausflugs um die Aufmerksamkeit ihrer Lieblingslehrerin, wird jedoch später als »Leiterin der nationalsozialistischen Frauenschaft unserer Stadt« (AtM, 129) die besagte Lehrerin »bespucken und [als] Judensau verhöhnen« (AtM, 130). Lore wird im Nationalsozialismus Selbst-
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mord begehen, weil ein eifersüchtiger Liebhaber sie der ›Rassenschande‹ überführen will. Gerda nimmt sich aus Scham über eine von ihrem Ehemann aufgehängte Hakenkreuzfahne das Leben. Marianne findet »keinen leichteren Tod als die von ihr verleugnete Leni« (AtM, 145) – sie verbrennt bei der Bombardierung der Heimatstadt. Auch die Lebensgeschichten einiger Jungen kommen hinzu, da die Mädchen auf eine Jungenklasse treffen, zu der intensive Beziehungen bestehen: Lores Freund Walter organisiert im Nationalsozialismus den Abtransport von Lenis Mann. Mariannes Freund fällt bereits im Ersten Weltkrieg – er hätte sie, so vermutet die Ich-Erzählerin, von der späteren Mittäterschaft im Nationalsozialismus bewahrt. Die Erinnerung an das An- und Ablegen des Dampfers nimmt den späteren Aufbruch ins Exil vorweg. Aus dessen Erfahrung wieder ins Gedächtnis gerufen, wird die Fahrt zunächst zu einer positiven Wiederbegegnung mit Heimat, zu der die jüdische Mädchenklasse damals – im Vorfeld des Ersten Weltkriegs – zweifelsohne zählte (vgl. AtM, 144). Doch bald mischen sich Spuren der Entfremdung ein. Die Rückkehr in die elterliche Wohnung gerät zu einer bösen Vorahnung der späteren Katastrophe und erhält Züge einer imaginierten Rückkehr in die Heimatstadt aus dem Exil, wobei die Stadt, die hier klar als Seghers’ Heimatstadt Mainz in Erscheinung tritt, gegen besseres Wissen als unzerstört vorgestellt wird (AtM, 145). Das erinnerte Wiedersehen mit der Mutter – getrübt von der überraschenden »Bangnis [...], ein Verhängnis könnte mich am Wiedersehen hindern« (AtM, 149) – wird zur Erinnerung an deren Ermordung. Ihre Mutter sei bestimmt gewesen »zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war« (AtM, 149). Der Tod von Seghers’ Mutter in einem Lager im besetzten Polen wird damit zum Nukleus der gesamten Geschichte, von dem aus der Blick zurückschweift in die Exilsituation. Der Blick in den Hof der elterlichen Wohnung wird überblendet mit Wahrnehmungen jenes Innenhofs, in welchem die innere Reise durch Raum und Zeit ihren Anfang nahm. Im letzten Satz der Erzählung erhält die Geschichte eine metanarrative Wendung, die zugleich den zeitlichen Erzählerstandpunkt deutlich macht: »Plötzlich« – so die Erzählerin auf der Ebene der Mexiko-Erinnerungen – habe sie sich an den Auftrag ihrer Lehrerin erinnert, den sie noch während des Schulausflugs erhalten hatte: einen Aufsatz über den Schulausflug zu schreiben. »Ich wollte gleich morgen oder noch heute
abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen« (AtM, 151) – und sie erfüllt sie nun, in ihrem mexikanischen Exil, durch das Erzählen jener Geschichte, die mit diesem Satz endet.
Post ins gelobte Land Die zweite Erzählung des Bandes hat ihren Hintergrund ebenfalls in der Geschichte des europäischen Judentums im 20. Jahrhundert und verbindet dieses mit Israel als ideellem, aber auch geografischem Hoffnungsraum. Eine Erzählinstanz, die außerhalb der erzählten Geschichte steht, berichtet vom Schicksal einer ostjüdischen Kürschner-Familie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in den Holocaust. Stark zeitraffend nutzt die Erzählinstanz dazu einen distanzierten, rätselhaft altertümlichen, zuweilen ironischen Modus der Allwissenheit. Im »letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts« (eine fast wörtliche Entlehnung aus Theodor Storms Der Schimmelreiter) flieht die Familie nach einem Pogrom aus einer polnischen Stadt. Gezeichnet vom Verlust fast aller Angehörigen, besteht die Gruppe aus den Eltern Grünbaum, ihrem Schwiegersohn Nathan Levi, dessen kleinem Sohn und Nathans Eltern. Nach einem Aufenthalt in Wien und einer Zwischenstation im schlesischen Kattowitz kommen sie bei Salomon Levi, dem wohlhabenden Bruder Nathan Levis, in Paris unter, wo sie schließlich heimisch werden. Detailliert schildert die Erzählinstanz das jüdische Leben im Paris der Jahrhundertwende und rückt dabei zunehmend Jakob, Nathans aufwachsenden Sohn, in den Fokus. Verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrend, beschließt Jakob Augenarzt zu werden und wird dabei beruflich sehr erfolgreich. Sein Onkel Salomon wird bald Anhänger Theodor Herzls und stirbt während einer Israel-Reise in Haifa. Auch Nathan hat den Wunsch, vor seinem Tod das gelobte Land zu sehen. Doch anders als die Israel-Vorstellung seines Bruders, hat der Wunsch Nathans, wie die Erzählstimme kommentiert, »keine politischen Grenzen, er war nur von Gott erfüllbar. Seine Wurzel war der Glaube, nicht ein Landstreifen in Vorderasien« (PgL, 221). Zeit seines Lebens ein Kritiker des Zionismus seines Bruders, beschließt der alternde Nathan – zum großen Erstaunen seines Sohnes Jakob – seinen Lebensabend in Israel zu verbringen. Er bricht nach Haifa auf, wo er in einem Altenheim unterkommt, und korrespondiert intensiv mit seinem Sohn in Paris. Unmittelbar vor Kriegsbeginn stirbt der Sohn in Paris an einer Krankheit. Dennoch geht der Briefverkehr mit
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dem Vater in Israel weiter: Jakob hinterlässt seiner Gattin einen Stapel Briefe und bittet sie, diese nach seinem Tod in regelmäßigen Abständen an den Vater zu schicken. Da Jakob in seinen Briefen Weltkrieg und Holocaust vage antizipiert hatte, bleibt der Vater auch angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus in dem Glauben, der Sohn überlebe. Auch während ihrer Flucht aus Paris versendet die Witwe Nathans hinterlassene Briefe, die in ihrer anspielungsreichen und deutungsoffenen Schreibweise die Fiktion vom Weiterleben des Sohnes aufrechterhalten. Als die Briefe ausbleiben, weil der von Nathan hinterlassene Vorrat zur Neige gegangen ist, ahnen die Freunde des alten Levi, die ihm die Briefe seines Sohnes vorlesen müssen, vom Tod des Sohnes und planen, die Brieffiktion ihrerseits fortzusetzen. Jakobs Witwe misslingt die Flucht vor den Nationalsozialisten. Doch auch nach ihrer Verschleppung geht der Briefverkehr zunächst weiter, da französische Freunde ihren Auftrag übernehmen und einen weiteren Brief aufsetzen lassen. Statt des alten Levi, der inzwischen verstorben ist, warten nun dessen Freunde sehnsüchtig auf die Post aus Europa, die schon längst nicht mehr von Levis Sohn stammt. Auf diese Weise setzt sich – so das symbolische Ende des Textes – die ›Post ins Gelobte Land‹ fort, obwohl der Sender und der Empfänger der Briefe nicht mehr leben. Europa als Raum der Verbannung, des Terrors und der Rastlosigkeit und das Gelobte Land als Raum der Verheißung, und des Friedens, das den kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa entgegengesetzt wird, rückt der Text durch die symbolische ›Post‹ in eine intensive Austausch- und Wechselbeziehung im Sinne einer zwar fernen und zugleich problematischen, aber wirklichen Hoffnungsperspektive. Diese Dimension hat eine Rezeption des Textes in der DDR erschwert, stellt heute aber eine Perspektive dar, unter der der Text noch weiter zu erforschen ist.
Das Ende Die letzte Erzählung des Bandes rückt die Täter der nationalsozialistischen Verbrechen ins Zentrum und führt vor, dass diese ihr Leben unbescholten weiterführen können, während die überlebenden Opfer lebenslang von den Folgen ihrer Taten gezeichnet sind. Bei Arbeiten an einem Bahndamm trifft der Ingenieur Volpert durch Zufall auf den Bauern Zillich, der Aufseher jenes Konzentrationslagers war, in dem Volpert während des Nationalsozialismus interniert war – später wird deutlich, dass es sich dabei um das Vernich-
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tungslager Piaski bei Lublin handelt, in dem Seghers’ Mutter ermordet wurde (vgl. Pohle 1992b, 47). Die Wiederbegegnung setzt traumatische Erinnerungen an den grausamen Lageralltag in Gang. Zillich war für besonders quälende Foltermethoden bekannt, ist aber inzwischen auf seinen Bauernhof zurückgekehrt und führt sein gewöhnliches Leben weiter; und auch das übrige Dorf zeigt bemerkenswert wenige Spuren des eben beendeten Krieges. Die Wiederbegegnung löst weniger bei Volpert, sondern vielmehr bei seinem Schergen panische Reaktionen aus. Hatte ihn im Lager selbst »die Hoffnung auf Rache lebendig erhalten« (DE, 155), reagiert Volpert nun ruhig und besonnen. Nachdem Zillich sich entfernen kann, da Volpert ihn nicht schnell genug identifiziert, um ihn festhalten zu können, wartet Volpert mit einem Arbeiter auf seine Rückkehr. Doch Volpert plant keine brutale Vergeltung oder gar Selbstjustiz, sondern eine subtile Nachstellung der KZ-Situation, die in Zillich Reaktionen auslösen soll, die für ihn Rache genug sind. Er will Zillich lediglich – so gibt er seinem Kollegen gegenüber an – bei seinem Namen rufen: Zillich. »Dann will ich ihn hier herankommen lassen hinter den Zaun; er muß sich zwischen uns beide stellen. Dann will ich ihn ein paar Kleinigkeiten fragen. Dann kann es passieren, daß er wild wird« (DE, 157). Doch Zillich kehrt nicht zurück, sondern begibt sich panisch auf die Flucht. Die Erzählinstanz schwenkt ihren Blick dabei weg von Volpert hin auf Zillich, dessen innere Vorgänge nun im Zentrum stehen und die geprägt sind von der tiefsitzenden Angst, entdeckt zu werden. Auf diese Weise entsteht das Psychogram eines Täters, der mit seinem rastlosen, aufbrausenden und unkontrolliertem Wesen vom Außenseiter zum willfährigen Diener des Nationalsozialismus wird und sich nun – in Zeiten des Friedens – vergeblich danach sehnt, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen. Schmerzen bereitet ihm dabei jedoch nicht die Reue, sondern vielmehr die Niederlage und die Angst vor Rache und Bestrafung. Moralische Kriterien, nach denen er sein Verhalten im Nationalsozialismus rückblickend als falsch erkennen könnte, besitzt er nicht. Die Reuegefühle eines anderen ehemaligen SS-Schergen hält er für eine Folge des Wundfiebers, die sich legen würden, sobald dieses überwunden wäre (vgl. DE, 179). Volpert erstattet inzwischen Anzeige bei den Alliierten, wo man ihm versichert, den Gesuchten bald zu finden. Doch Volperts Gefühle werden auch hier nicht von Rache dominiert. Es geht ihm nicht um Zillich selbst, der in der Gruppe der Täter ein beliebiges Mitglied war, sondern um das Phänomen des Natio-
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nalsozialismus an sich: »Selbst wenn sie den Zillich morgen finden, das Böse war dadurch noch nicht gefangen, wovon der Zillich ein Auswuchs war« (DE, 168). Zillich gelingt es zwar, der Strafverfolgung zu entkommen, wählt aber aus Angst verraten zu werden, den Freitod. Die letzte Szene des Textes gehört Zillichs Sohn, der auf die Nachricht vom Tod des ungeliebten Vaters in einer für den Überbringer der Nachricht erschütternden Weise reagiert: »Der Junge erstrahlte. Seine Augen glänzten auf; sein ganzes Gesicht strahlte vor Freude« (DE, 211). Für den Junglehrer Degreif, der die Todesbotschaft überbringt, ist diese Reaktion von »allen Schrecken der letzten Jahre [...] der eisigste und der schneidendste« (ebd.). Doch erweist sie sich als Anlass für eine neue Vater-SohnBeziehung, mit der die Erzählung, ins Innere Degreifs blickend, in vorsichtiger Hoffnung endet: »Jetzt mußte ein anderer, ein fremder Vater, jetzt mußte er selbst für ihn sorgen« (ebd.).
Entstehung und Veröffentlichung Der Briefwechsel zwischen Anna Seghers und ihrem Freund und Verleger Wieland Herzfelde gibt detailliert Auskunft über das Entstehen und die Produktionsbedingungen der Erzählungen. Bereits im Oktober 1942 bittet Herzfelde Seghers im Kontext der Planungen zur Gründung eines neuen Verlags um eine »Erzählung oder Novelle im Umfang von 32 bis 64 Seiten«, die im »Zusammenhang oder wenigstens in bezug auf die Kämpfe der letzten Jahre« stehen solle (Seghers/Herzfelde 1985, 39). Im Februar 1943 glaubt Seghers, »in ein paar Wochen eine Kurzgeschichte« schicken zu können (vgl. ebd., 40), im Juni 1943 ist bereits von zwei Erzählungen die Rede (ebd., 45). Im Mai 1943 erfährt Anna Seghers von der Deportation der Mutter, was in die entstehende Erzählung eingeht (vgl. Pohle 1992b, 44). Im Dezember 1943 kündigt sie den Titel Der Ausflug der toten Mädchen an und bittet um eine möglichst rasche Veröffentlichung. Im März 1944 sendet sie das Manuskript. In der Zeitschrift Cuadernos Americanos erscheint im November/Dezember 1944 eine spanische Fassung der Erzählung, deren Vergleich mit der ersten deutschsprachigen Fassung von 1946 deutlich macht, dass es eine bislang unbekannte deutschsprachige Urfassung gegeben haben muss, die der spanischen Übersetzung zugrunde lag (vgl. Schulte 2002, 104). Die Bearbeitungsstrategien zwischen der verlorenen ersten und der publizierten Fassung lassen sich nachvollziehen (vgl. ebd., 105):
Anna Seghers war offenbar um eine Reduzierung des biografischen Anteils und eine bessere »textstrukturelle ›Absicherung‹« (ebd.) der verschiedenen erzählerischen Zeitebenen bemüht. Im Juni 1945 erscheint in der Yale Review eine englische Übersetzung des Textes, die auf Grundlage der deutschen Publikationsfassung entstanden ist (vgl. ebd., 103), im März 1946 eine englische Übersetzung von Das Ende in der Saturday Evening Post (vgl. Zehl Romero 2000, 434). Vermutlich Anfang 1945 berichtet Seghers Herzfelde von der Veröffentlichung auf Spanisch (Seghers/Herzfelde 1985, 54), sendet mit Artemis und Das Obdach zwei weitere Erzählungen und schlägt als Titel für den Band Ausflug der toten Mädchen und andere Geschichten vor. Herzfelde hält die drei Erzählungen aber für zu unterschiedlich, als dass sie in einem Band veröffentlicht werden könnten. Auf sein Bitten hin lässt Seghers ihm zwei weitere Erzählungen schicken – am 1. September 1945 Das Ende, Ende Oktober 1945 Post ins gelobte Land. Ab Januar 1946 korrespondieren beide über die Aufmachung des Bandes, ferner über mögliche Übersetzungen ins Norwegische und Französische. Nach Seghers’ Rückkehr nach Deutschland erfolgt eine Neuauflage im Aufbau Verlag 1948, in der die drei Erzählungen um zwei weitere – Das Obdach und Die Saboteure – erweitert werden (weitere Auflagen 1949 und 1967). Maßgeblich für die Rezeption der Titelnovelle in der DDR ist eine Ausgabe bei Reclam Leipzig 1962 (zahlr. Neuauflagen) mit einem Nachwort von Hans Mayer. In der Bundesrepublik erscheint der Text erstmals 1969 zusammen mit weiteren Seghers-Erzählungen bei Rowohlt, 1979 ebenfalls zusammen mit weiteren Erzählungen bei Luchterhand. Erste Übersetzungen erfolgen ins Polnische (1953), ins Französische (1956; vgl. Schulte 2002), Tschechische (1965) und Rumänische (1969), 1978 abermals ins Englische, 1981 ins Italienische und 1990 ins Griechische. Bereits für 1978 lässt sich eine französischsprachige Theateradaption des Textes nachweisen (Text/ Übersetzung: Joël Lefebvre, Regie: Jacques Lassalle, UA: St. Denis, Théâtre Gérard-Philipe, 10.10.1978).
Zeitgenössische Rezeption Durch den Erscheinungsort New York wird der Band zunächst in der zerstreuten Exilgemeinschaft rezipiert. In Deutschland selbst war das Buch zunächst nicht verfügbar. Zwar wurde es auch hier wahrgenommen, stieß aber auf ein geteiltes Echo: »Ich habe seltsame Briefe
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bekommen von Menschen, die ›Die toten Mädchen‹ in Deutschland durch Zufall lasen« (Seghers/Herzfelde 1985, 93), schreibt Seghers im September 1946 an Herzfelde. Im deutschsprachigen Exil sowie in der Schweiz wird der Band dagegen als retrospektive Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und der eben erst beendeten nationalsozialistischen Herrschaft sehr begrüßt: »Poetische Besinnlichkeit und gegenwartsnahe Tragik gehen dauernd ineinander über, und die von der Dichterin flüchtig und doch so treffend gezeichneten Charaktere fesseln, ergreifen und erschüttern«, heißt es in einer kurzen Notiz in La Otra Alemania/Das Andere Deutschland, dem in Buenos Aires erscheinenden Organ der Vereinigung der »demokratischen Deutschen in Südamerika« (N. N. 1946, 14 f.). In einer kurzen Anzeige bespricht der in Harvard tätige Historiker Fay (1947) den Band als lebendige Auseinandersetzung mit einigen tragischen Konsequenzen des Nazi-Regimes in Deutschland. Äußerst positiv wird der Band insbesondere von Max Schroeder – USA-Emigrant und später Cheflektor des Aufbau Verlags – in der New Yorker Exilzeitung The German-American rezensiert, ferner in der Basler National Zeitung. Auf Rezensenten in Deutschland dagegen wirkten die Darstellungen jüdischen Leids häufig verstörend (vgl. Schlenstedt WA II/2, 410 f.). Die Authentizität der fiktionalen Erzählung irritierte offenbar deshalb, weil sich die Wirklichkeit des Holocaust der Vorstellungskraft vieler Zeitgenossen entzog. Dies gilt auch für den Verleger Herzfelde, der vor der Veröffentlichung Seghers gegenüber brieflich einwendet, in Das Ende kämen »allzu viele Menschen vor, die durch ein KZ gegangen sind. Selbst wenn das der Wirklichkeit entspricht, ich kann das nicht beurteilen, wird der Leser es schwerlich glauben« (Seghers/Herzfelde 1985, 65).
Forschung Wesentlich dynamisiert wird die Rezeption der Titelerzählung durch Hans Mayer, der als einer der ersten dem Text eine Schlüsselstellung im Gesamtwerk von Seghers zumisst. Selbst ein in der DDR lebender Jude, hat Mayer eine größere Sensibilität für die biografische Dimension der Erzählung. Brieflich gegenüber der Autorin, nicht aber öffentlich, äußert sich Georg Lukács 1965 sehr positiv über die Ausflugs-Novelle – und lässt dabei ganz offenbar »manche literaturtheoretische Debatte und Positionsbestimmung der Vergangenheit hinter sich« (Pohl 1992b, 41). In einer bis heute gültigen, auf das Erzählverfahren abzielenden Aus-
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einandersetzung betrachtet Walter Grossmann, der 1939 aus Wien in die USA emigrierte und seinerzeit in Harvard lehrte, die verschiedenen Zeitebenen der Titelnovelle. Grossmann (1962) gelten diese Verfahren als Auseinandersetzung mit einer traumatisierenden Vergangenheit, die sich sehr gezielt ausdifferenzierter Erzählformen bediene. In der DDR der 1970er Jahre werden die drei Erzählungen in den Kontext der Exilerfahrungen von Seghers gerückt, wobei an den Freiheits- und Aufbaumythos angeschlossen wird, der um Seghers Rückkehr nach Deutschland entsteht. Die Verfolgung im Nationalsozialismus, ihre Exilerfahrung und der Wunsch nach einem besseren, freieren Deutschland im Zeichen von Sozialismus und Kommunismus ist das zentrale Deutungsschema etwa in der Seghers-Biographie von Kurt Batt (1973), der auch die drei Erzählungen Seghers hierin integriert. Fragen der jüdischen Identität werden in der Deutung der Erzählungen nicht ignoriert, aber in ihrer Bedeutung einem genuin politischen Verständnis des Textes untergeordnet. Christa Wolf rückt Seghers Ausflug-Novelle in den Kontext der eigenen Bemühungen um eine Aktualisierung romantischer Konzepte. Für sie ist weniger das erinnerungskulturelle Potenzial der Erzählung interessant als vielmehr der sich in ihr artikulierende Versuch, das ›Mythische‹ und das ›Reale‹ zu verbinden. Zugleich verweist Wolf deutlich auf die autobiografische Dimension des Textes, zu dem sie gezielt Recherchen anstellt. Eine frühere Mainzer Lehrerin von Anna Seghers zitiert Wolf etwa mit den Worten »Es ist alles so gewesen, wie sie es beschrieben hat« (Wolf 1986, 363). Und auch frühere Schulfreundinnen geben an, dass sie sich alle wiedererkannt hätten. Zu den historischen Vorbildern der Figuren liegen umfangreiche Materialien und Selbstauskünfte Seghers vor (vgl. Pohle 1992b, 44; Zehl Romero 2000, 73, 76 f.). Auch in der westdeutschen Literaturwissenschaft finden Anna Seghers’ Erzählungen Beachtung, dies insbesondere, nachdem Hans Mayers Seghers-Deutungen 1962 in Form einer Essaysammlung in Hamburg erscheinen. Werner Zimmermann führt 1969 im Rahmen einer Interpretationssammlung, die schulund hochschuldidaktischen Zwecken dient, in Seghers’ Titelnovelle ein, ordnet die Dimension persönlich erlittenen Leids und jüdischer Identität der Erzählung aber einem phänomenologischen Existenzialismus unter, der den Text zuvorderst präge. Die verschiedenen Zeitformen und -ebenen dienen weniger der Darstellung der »Ungeheuerlichkeit des später erlittenen oder begangenen Unrechts«, sondern handeln von »Bewäh-
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rung oder Nicht-Bewährung, von Selbstbewahrung oder Selbstverlust« (Zimmermann 1969, 339). Seit den ausgehenden 1980er Jahren wird der titelgebenden Novelle durch die Forschung eine erhebliche Bedeutung für Seghers’ Entwicklung beigemessen (vgl. Bernstorff 2006, 248), wobei neue Forschungskontexte ein Potenzial des Textes aufdecken, das durch ideologiegelenkte Lektüren verdeckt geblieben war. Der äußerst lebendige Forschungsdiskurs steht im Kontext des Interesses für Erinnerungsliteratur, findet aber auch im Rahmen der Genderforschung und der Exilforschung statt. Auffällig ist das große Interesse für die Novelle in der US-amerikanischen Germanistik, das bereits in der sehr frühen Wirkungsgeschichte begründet liegt. Neu gestellt wird insbesondere die Frage nach der Bedeutung des Jüdischen für die drei Texte, bleibt in der Forschung jedoch bis heute unterrepräsentiert. HallerNevermanns monografische Studie gelangt noch 1987 zu der problematischen Feststellung, dass in der Titelnovelle – wie im publizistischen Werk von Seghers – »[e]ine wie immer geartete Auseinandersetzung mit der Politik der Massenvernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten« nicht stattfindet (Haller-Nevermann1997, 99); Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter. Post ins Gelobte Land könne als Kritik am jüdischen Leben und Plädoyer für die Assimilation und »Entfernung von der jüdischen Religion« gelesen werden (ebd., 123). Auch Hoffmann (2013) hält weite Teile der Erzählung für eine Kritik an traditionellen jüdischen Lebensformen. Grenville (1998, 129 f.) betont dagegen, dass Fragen nach der jüdischen Identität in Seghers’ Werk selten so explizit thematisiert werden wie in der Ausflugs-Novelle, die viele formale Merkmale der späteren Erinnerungsliteratur vorwegnimmt. Eine autobiografisch grundierte Darstellung des Judentums im gesamten Erzählband erkennt auch Zehl Romero (2000, 43–49, 61 u. ö.), die ferner nachweisen kann, dass sich Seghers intensiv – und nicht allein im Zusammenhang mit ihrer Dissertation – »mit jüdischen Themen und Traditionen auseinandergesetzt hat« (ebd., 102), wobei sie früh zur Kritikerin des Zionismus wird (ebd., 178). Als eine intensive, biografisch intendierte Auseinandersetzung mit dem Judentum deutet auch Silvia Schlenstedt Post ins Gelobte Land (vgl. Schlenstedt WA II/2, 398–400). Auch vor dem Hintergrund von Fragen nach dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ wird die Ausflug-Novelle wiederentdeckt – als einer der wenigen Texte von Seghers, die sich motivisch dem Exilland nähern, wobei Mexiko ein neu zu entdeckender Raum des ›Anderen‹
darstellt, vor dessen Hintergrund das ›Eigene‹ erst sichtbar wird (vgl. Pohle 1992a).Wiebke von Bernstorff (2006, 109) betont, dass die drei zentralen Komponenten der Novelle – »das Erzählen, das Erinnern und die Heimat – in Gestalt der Ich-Erzählerin, der Mädchen und der Mutter ›weiblich inkorporiert‹ werden« (ebd., 192). Werkbiografisch ist die Ausflugs-Novelle auch deshalb interessant, weil hier »fast alle Frauentypen« (ebd., 248) präfiguriert sind, die in den späteren Erzähltexten Seghers’ auftreten. Neben der Spezialforschung gibt es verschiedene Versuche, die AusflugsNovelle schuldidaktisch zu nutzen (vgl. zuletzt Christmann/Leis 2007) und durch exemplarische Interpretationen im Kanon zu verankern (vgl. Hilzinger 1996; 2000) – ein Bemühen, das in Bezug auf die titelgebende Novelle gewiss als erfolgreich zu betrachten ist. Weitere Forschungsperspektiven ergeben sich dadurch, dass nicht nur die Titelgeschichte, sondern der Erzählband als Ganzes stärker in den Fokus gerückt wird. Dies scheint insbesondere durch die gut dokumentierte Entstehungsgeschichte als legitim, die die drei Texte als intentional eng aufeinander bezogen ausweist. Insbesondere bei der bisherigen Deutung des Jüdischen in Post ins Gelobte Land besteht noch ein zuweilen erheblicher Differenzierungsbedarf: Die Deutung des Textes als Kritik am Judentum (s. Kap. 49) berücksichtigt den Entstehungskontext der biografischen Erfahrungen von Seghers nicht angemessen, die sich im Exil mit dem Verlust ihres gesamten kulturellen und familiären Hintergrunds konfrontiert sah. Auch die Darstellung des Gelobten Landes lässt sich – insbesondere angesichts der Gegenüberstellung von kriegerischem Europa und friedlichem Israel – kaum als rein negativ verstehen, wie dies vielfach angenommen wird (vgl. Melchert 2017). Die Frage nach der jüdischen Identität, die sich Seghers im Exil womöglich anders stellte als vor dem Hintergrund ihrer späteren Erfahrungen und Tätigkeiten in der DDR, könnte sich dabei als ein zentrales Bindeglied erweisen, das die drei Texte stärker noch als bisher als zusammengehöriges, dreigliedriges Werk in Erscheinung treten lässt. Literatur
Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Bernstorff, Wiebke von: Fluchtorte. Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers. Göttingen 2006. Christmann, Beate/Leis, Mario: Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. Lektüreschlüssel für Schüler. Stuttgart 2007.
13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946) Fay, Sidney B.: Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: Books Abroad 21/2 (1947), 228. Grenville, Anthony: Anna Seghers Confronts the Holocaust: The Jewish Dimension to ›Der Ausflug der toten Mädchen‹. In: Ian Wallace (Hg.): Anna Seghers in perspective. Amsterdam 1998, 117–133. Grossmann, Walter: Die Zeit in Anna Seghers’ ›Der Ausflug der toten Mädchen‹. In: Sinn und Form 14/1 (1962), 126– 131. Haller-Nevermann, Marie: Jude und Judentum im Werk Anna Seghers’. Frankfurt a. M./Berlin 1997 Hilzinger, Sonja: Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2. Stuttgart 1996, 30–40. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Hoffmann, Daniel: Post ins gelobte Land – Eine jüdische Erzählung. In: Argonautenschiff 22 (2013), 219–229. Mayer, Hans: Anmerkung zu einer Erzählung von Anna Seghers. In: Ders.: Ansichten. Zur Literatur der Zeit. Reinbek bei Hamburg 1962, 85–92. Mayer, Hans: Gedenkrede auf Anna Seghers. In: Ders.: Aufklärung heute. Reden und Vorträge 1978–1984. Frankfurt a. M. 1985, 237–248. Melchert, Monika: Post ins gelobte Land – Die Erfahrung der Flucht. In: Argonautenschiff 25 (2017), 67–70. N. N.: Anna Seghers, ›Der Ausflug der toten Mädchen‹. In: La Otra Alemania 127 (1946), 14–15, https://portal.dnb. de/bookviewer/view/102655327X#page/14/mode/1up.
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Pohle, Fritz: Kriegsexil in Mexiko und mexikanische Stoffe bei Anna Seghers. Vom ›Ausflug der toten Mädchen‹ (1943/44) zum ›Wirklichen Blau‹ (1967). In: Friedhelm Schmidt (Hg.): Wildes Paradies – rote Hölle. Das Bild Mexikos in Literatur und Film der Moderne. Bielefeld 1992, 111–129 (= Pohle 1992a). Pohle, Fritz: Vorbereitung für die nächste Deutschstunde und mehr: ›Der Ausflug der toten Mädchen‹ (1943–44). In: Argonautenschiff 1 (1992), 41–49 (= Pohle 1992b). Schulte, Klaus: »(...) durch die Übersetzung durch bis zum Neid. Die Einheit von Sprache und Inhalt.« Anna Seghers’ mexikanische Erzählung ›Der Ausflug der toten Mädchen‹ mit der Lupe wieder gelesen auf französisch, englisch und dänisch, mitsamt einem Ausblick durchs Fernrohr aufs Spanische. In: Argonautenschiff 11 (2002), 99–109. Seghers, Anna/Herzfelde, Wieland: Ein Briefwechsel 1939– 1946. Hg. von Ursula Emmerich und Erika Pick. Berlin/ Weimar 1985. Wolf, Christa: Zeitschichten. In: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959– 1985, Bd. 1. Berlin/Weimar 1986, 353–362. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000. Zimmermann, Werner: Anna Seghers: ›Der Ausflug der toten Mädchen‹. In: Ders.: Deutsche Prosadichtungen unseres Jahrhunderts. Interpretationen für Lehrende und Lernende, Bd. 2. Düsseldorf 1969, 329–343.
Leonhard Herrmann
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14 Das Argonautenschiff (1949) Die auch als Novelle bezeichnete Erzählung Das Argonautenschiff (Pallus 1986, 186; Steskal 2001, 165) – von Anna Seghers 1948 verfasst – erschien im Jahr 1949 zunächst in der Zeitschrift Sinn und Form (Heft 6/1949) und wurde vier Jahre später in Seghers’ Erzählband Der Bienenstock (1953) veröffentlicht. Die Erzählung entstand zusammen mit den Antillen-Geschichten Die Hochzeit von Haiti und Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe sowie dem Roman Die Toten bleiben jung in einer produktiven Schaffensphase kurz nach Seghers’ Rückkehr aus Mexiko. Das Argonautenschiff knüpft an die antike Argonautensage über Jason und den Raub des Goldenen Vlieses an, auf die Seghers bereits 1947 in ihrem Essay Große Unbekannte über die Geschichtswahrnehmung Lateinamerikas anspielt (vgl. Diersen 1992, 108). Über ein Notizbuch im Nachlass von Anna Seghers, in dem sie unter anderem mit der ersten Hälfte des Argonautenschiffs experimentierte, lässt sich nachvollziehen, dass die Erzählung in einer Lebensphase entstand, in der sich Seghers mit der Gegenwart im Nachkriegsdeutschland auseinandersetzte, in das sie 1947 zurückgekehrt war (vgl. ebd., 109–112). Im Gegensatz zu den anderen Texten im Notizbuch, die sich mit Gegenwartsthemen beschäftigen, widmet sich Seghers in ihrem Entwurf des Argonautenschiffs poetologischeren Themen (vgl. ebd., 109). Die verschiedenen Druckfassungen der Erzählung, die ursprünglich den Untertitel Sagen von Jason trug, belegen einen »Wechsel der Erzähloptik« (Diersen 1992, 113) in der Eingangsszene, die die von Jason ausgehende, mythische Aura stärker in den Fokus rückt (vgl. ebd., 113–115), sowie Änderungen in der Todesszene am Ende der Erzählung (vgl. Cohen WA II/3, 214 f.). Der Märchenton der Erzählung ist eine bewusste Entscheidung gegen die von Georg Lukács im Zuge der Expressionismusdebatte (1937/38) geforderten realistischen Schreibweisen (s. Kap. 36); zusammen mit anderen exilierten Schriftstellern sprach sich Seghers für experimentelle Formen, für das Sagenhafte und Märchenhafte in der Literatur aus (vgl. Cohen WA II/3, 213). Wie auch in anderen Erzählungen – u. a. Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok (1938), Die Sagen von Artemis (1938) und Die drei Bäume (1946) – bedient sich Seghers im Argonautenschiff der Motivik antiker Mythen und adaptiert die Sage um den Seefahrer Jason und die Mutter seiner Kinder Medea, die ihm zum Raub des Goldenen Vlieses auf Kolchis verhalf und der Sage nach später aus Rache für seinen Ehebruch die gemein-
samen Kinder tötete. Die Begegnung von Jason und Medea wird durch die doppelte Perspektivität des Erzählers und Jasons Erinnerung stark verdichtet (vgl. Bircken 2009, 129); auch der Kindermord durch Medea wird nur am Rande der Erzählung erwähnt. Stattdessen steht die Darstellung der Überzeitlichkeit des Mythos im Fokus, die sein »Aktualisierungspo tenzial [...] poetologisch fruchtbar« (Steskal 2001, 169) macht.
Inhalt und intertextuelle Bezüge In einer unter den Seefahrern berühmten Hafenkneipe – wahrscheinlich in Jasons Heimatstadt Jolkos – tritt der Argonaut Jason als Fremder auf, der den anderen Gästen seltsam vertraut und unbekannt zugleich vorkommt. Auf seinen Schultern trägt er das in Kolchis erbeutete Goldene Vlies, das wie ein »goldgelbes, schwarzgesprenkeltes Fell« (AS, 118) erscheint und ihm ewige Jugend verleiht. Jason wird in den folgenden Begegnungen zwar als charismatische, jedoch »unheroische, widerwillige, sogar herzlose Erlöserfigur« (Cohen WA II/3, 216) und als »Schicksalsgestalter« (Steskal 2001, 167) inszeniert: Die Wirtstochter der Hafenkneipe fällt infolge ihrer Begegnung mit ihm einer Eifersuchtstat zum Opfer, ein Knabe wird von Jason dazu ermutigt, seine Familie zu verlassen und einer Mutter rät er, sich von ihrem trunksüchtigen Mann zu trennen. In seiner letzten Begegnung trifft Jason in einem Wald schließlich auf einen alten Mann, der ihm von der Verehrung des Waldes durch die Menschen erzählt. Seit Jahrtausenden werden dort berühmte Schiffe zwischen den Bäumen aufgehängt, unter denen sich auch das Wrack der Argo befindet. Der Gärtner berichtet anschließend von den bekannten Ereignissen der Argonautensage. Jason lässt sich daraufhin erschöpft unter dem Baum nieder, an dem die Argo befestigt ist. An seine Vergangenheit und das ihm damals prophezeite Schicksal denkend, streckt er sich auf dem Gras aus und wird, seinem Tod ruhig in die Augen sehend, von der vom Baum fallenden Argo erschlagen. Bezüge zwischen dem Argonautenschiff und anderen Texten von Seghers lassen sich etwa zu der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (1946) aufzeigen. So gibt es Parallelen in der Todesbegegnung der Erzählerfiguren sowie der Darstellung der räumlich gestalteten Übergänge zur erinnerten Vergangenheit (vgl. Melchert 2007, 106–107). Auch Bircken sieht Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Erzählungen, so etwa
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_14
14 Das Argonautenschiff (1949)
in der Inszenierung einer gewissen Lebensmüdigkeit, die die Erzählerfiguren befällt, sowie der Sehnsucht nach Heimkehr (vgl. Bircken 2009, 135). Ähnlichkeiten in der ambivalenten Inszenierung der männlichen Protagonisten als heimatlose Seefahrer, die sich der moralischen Bewertbarkeit entziehen, lassen sich in den Figuren Grubetsch (1927) und Hull im Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) finden (vgl. Diersen 1992, 117). Augenscheinliche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Seghers’ Mythenadaption und der Erzählung Die Nacht der Argo aus Marie Luise Kaschnitz’ Erzählband Griechische Mythen (1943), in der Kaschnitz, ähnlich wie Seghers im Argonautenschiff, eine JasonFigur inszeniert, die herkömmliche Diskurse des Heroischen aufweicht. Es wird ein männlicher Held dargestellt, der melancholisch auf seine schuldbeladene Vergangenheit zurückblickt und schließlich von den herabfallenden Planken des einstigen Prachtschiffes erschlagen wird. Wie auch in Kaschnitz’ späterem Hörspiel Jasons letzte Nacht (1952) wird in den Erzählungen ein scheiternder Jason inszeniert, der »ambivalente Bilder eines männlichen Heldentums« entwirft (vgl. Stephan 2006, 119–123). Kaschnitz’ linear-chronologische Erzählweise unterscheidet sich jedoch deutlich von der komplexen Erzählstruktur in Seghers’ Argonautenschiff. In Hans Henny Jahnns Mythenadaption Medea (1929), die Seghers mit großer Wahrscheinlichkeit kannte, wird Jason durch den Verjüngungszauber der – bei Jahnn als Schwarzafrikanerin inszenierten – Medea ebenfalls als ewiger Jüngling im Alter seiner Söhne vorgeführt, der der alternden Kolcherin ihre leibliche Vergänglichkeit vor Augen führt. Jahnns wie Seghers’ Adaption ordnen sich somit in den Kontext um Fragen nach Überzeitlich- und Schicksalhaftigkeit ein (zu Jahnns Medea-Drama vgl. Steskal 2001, 120–151). Heiner Müller hat sich im Zuge der Entstehung seines Stückes Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982), an dem er bereits 1949 zu arbeiten begann (vgl. Stephan 2006, 128), intensiv mit Seghers’ Werk auseinandergesetzt (vgl. Cohen WA II/3, 218). In alternativen Präsentationsformen adaptiert Müller die Sage um Jason und die Argonauten in drei Teilen und versetzt den Mythos in eine postapokalyptische Szenerie, über die Kritik am europäischen Zivilisationsprozess und patriarchalischen Machtverhältnissen geübt wird (vgl. Stephan 2006, 129). Ein Jahr nach Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft erschien1992 im Aufbau Verlag die erste Aus-
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gabe des Anna-Seghers Jahrbuches, das »in Erinnerung an Sage und Neugestaltung des Stoffes durch Anna Seghers während ihrer Heimkehr« nach dem Argonautenschiff benannt wurde (Bock 1992, VII).
Rezeption Das Argonautenschiff traf direkt nach seinem Erscheinen auf großes Unverständnis durch das Lesepublikum und wurde erst ab den 1980er Jahren von der Literaturwissenschaft eingehender rezipiert (vgl. Schrade 1993, 87; Opitz 1999, 55). Die Erzählung wurde aufgrund der sich verändernden politischen Situation in der DDR erst Ende der 1970er Jahre wahrgenommen, als durch die schwieriger werdenden Verhältnisse ein kritischer Blick auf die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit in den Fokus rückte (vgl. Diersen 1992, 107). So steht die zeitgeschichtliche Relevanz der Erzählung im Kontrast zu ihrer »eklatante[n] Wirkungslosigkeit in der Öffentlichkeit« in den Jahren nach der Veröffentlichung, was auch auf andere Schwerpunkte der Literaturwissenschaft in den 1950er Jahren zurückgeführt werden kann (vgl. Pallus 1986, 187).
Forschung Während Walter Pallus Seghers’ Erzählung direkt auf eine Ideologie der »Geschichtsverdunkelung und des modifizierten Elitekults« (Pallus 1986, 201) seit 1948 bezieht, ist Andreas Schrade zufolge die Erzählung vielmehr als »existentielles Überdenken eines gesellschaftlichen Vorhabens« zu lesen, das weit über konkrete gesellschaftliche Ereignisse im Deutschland Ende der 1940er Jahre hinaus geht (vgl. Schrade 1993, 88). Abgesehen von biografischen Lesarten, die das Argonautenschiff im Kontext von Seghers’ Heimkehr aus dem Exil deuten (vgl. Diersen 1992; Bircken 1999 und 2009; Melchert 2007), wird Seghers’ Erzählung zudem im Kontext philosophischer Ansätze der damaligen Zeit gelesen: Aufgrund des im Argonautenschiff inszenierten Dialogs zwischen Jason und dem Gärtner, in dem Jason seine eigene Geschichte kritisch hinterfragt, ordnet Antonia Opitz die Erzählung in den Kontext des aufklärerischen Vernunftdenkens ein (vgl. Opitz 1999, 61–63). Sie bezieht Seghers’ Verarbeitung des mythologischen Stoffes auf die kurz zuvor in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlichten Ausführungen zu Odysseus aus Theodor W. Adornos Dialek-
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tik der Aufklärung (1944), die sich für die Existenz von »Mythos und Rationalität als nebeneinander existierende und gleichermaßen berechtige Formen menschlichen Denkens« aussprechen (ebd., 63). Christoph Steskal arbeitet zwei weitere Bedeutungsebenen von Seghers’ Erzählung heraus. Eine poetologische Ebene beleuchtet die Relevanz von Mythen in der Gegenwart und ihre »unbestimmt-allgemeingültige Bedeutung« (Steskal 2001, 167). Seghers verdeutlicht über ihre Inszenierung der Dialektik von Kontinuität und Veränderung das utopische Potenzial des Mythos (vgl. ebd., 168 f.). Auf einer lebensphilosophisch-soziologischen Ebene weist sie über die Darstellung des egoistischen Handelns Jasons auf den negativen Aspekt der Individualisierung in der Gemeinschaft hin (vgl. ebd., 170–174). Insbesondere im Kontext literarischer Mythenadaptionen unter gender-kritischen Aspekten gewann Seghers’ Argonautenschiff etwa 50 Jahre nach seinem Erscheinen neue Aktualität. Inge Stephan argumentiert, dass Jason in Seghers’ Erzählung zwar als Antiheld konstruiert wird, Seghers mit dieser Figur jedoch sympathisiert und den herkömmlich auf Medea bezogenen Fremden-Diskurs auf den männlichen Protagonisten überträgt (vgl. Stephan 2006, 118 f.). Während Steskal zufolge die Medea-Figur im Argonautenschiff marginalisiert wird (vgl. Steskal 2001, 165), arbeitet Heike Bartel gerade die unterschätzte Stellung der Medeafigur in der Erzählung heraus. Seghers folgt zwar insofern Euripides’ Mythos, als sie Medea als Mörderin ihrer Kinder zeigt; durch die negative Darstellung Medeas aus Jasons Sicht bewirkt diese perspektivische Brechung jedoch eine Distanznahme des Lesers zum Protagonisten. Somit setzt sich Seghers im Argonautenschiff über die Darstellung Medeas aus der Perspektive einer ambivalent inszenierten Jasonfigur auch mit geschlechtsspezifischer Geschichts- und männlich dominierter Mythenschreibung auseinander. Dies bestätigt sich auch in der eingeschränkten Sicht Jasons auf Medea und der demgegenüber facettenreichen Darstellung der weiblichen Nebenfigur (vgl. Bartel 2007, 66–70). Andrea Geier befasst sich mit der meta-mythischen Erzählebene im Argonautenschiff und ihrer Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext zwischen »Schicksalhaftigkeit und Handlungsmacht« (Geier 2007, 230), das als wiederkehrendes Grundmotiv in Seghers’ Werk herausgearbeitet wurde (vgl. Albrecht 2005, 180). Die Begegnung Jasons mit sich selbst als Protagonist einer Geschichte aus vergangenen Zeiten, der in der Gegenwart der Erzählung unerkannt bleibt, liest Geier als
Kritik am veralteten Bild des männlichen Helden sowie der Gesellschaft und deren Geschlechterverhältnissen, die diesen Helden hervorbrachten (vgl. Geier 2007, 231–233). Mit der Darstellung der Mehrdeutigkeit von Jasons Tod, der sein Schicksal und damit den »zweifelhaften Helden-Mythos« (ebd., 234) besiegelt, evoziert Seghers Fragen nach dem Verhältnis des mythischen Helden zur Gesellschaft der Gegenwart (vgl. ebd., 233 f.). Seghers’ besondere Akzentuierung der Mythenadaption wurde von Bircken im Kontext von Schicksal und Zufall betrachtet. Im Gegensatz zur äußerst knappen Erinnerung an die Begegnung mit der »schwarze[n] Hexe« (AS, 133) Medea, steht das Schiff Argo im Zentrum der Erzählung und wird zum Symbol des Schicksals (vgl. Bircken 2009, 129–132). Obwohl Jason diesem durch das Verpassen der Argo zunächst scheinbar entgeht, wird er am Ende der Erzählung vom Schicksal eingeholt und der Prophezeiung nach durch sein Schiff getötet, durch das der »Einzelne [...] wieder in den Erfahrungskreislauf der Generationen hineingeholt« wird (ebd., 132). Literatur
Albrecht, Friedrich: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern [u. a.] 2005. Bartel, Heike: Der Blick auf Medea: Erzählperspektive und Mythenkritik in Anna Seghers’ Erzählung ›Das Argonautenschiff‹. In: Argonautenschiff 16 (2007), 60–72. Bircken, Margrid: Verhängtes oder verlorenes Schicksal? Über Anna Seghers’ ›Das Argonautenschiff‹ (1949). In: Der Deutschunterricht 6 (1999), 29–40. Bircken, Margrid: Medea – Mythische Figur und Zeiterfahrung. In: Helmut Peitsch/Eva Letzi (Hg.): Literatur, Mythos und Freud. Kolloquium zu Ehren von Prof. Dr. Elke Liebs. Potsdam 2009, 117–141. Bock, Sigrid: Vorbemerkung. In: Das Argonautenschiff 1 (1992), III–VII. Diersen, Inge: Jason 1948 – Problematische Heimkehr. In: Argonautenschiff 1 (1992), 107–128. Geier, Andrea: Konfrontationen mit dem Mythos am Mythos. Verhandlungen von Schicksalhaftigkeit in metamythischen Texten von Anna Seghers, Günter Kunert und Volker Braun. In: Ortrun Niethammer/Heinz-Peter Preußer/Françoise Rétif (Hg.): Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen, Überschreibungen, Übermalungen. Heidelberg 2007, 227–246. Melchert, Monika: Jason und das Mädchen aus Mainz. In: Argonautenschiff 16 (2007), 104–110. Opitz, Antonia: Mythische Heimkehr. In: Peter Gosse/ Roland Opitz (Hg.): Was ist das Bleibende? 20 Einmischungen von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern. Berlin 1999, 54–67. Pallus, Walter: Der Schriftsteller wächst mit der Teilnahme seiner Leser. Weiterführung und Neuansatz epischer Gestaltung bei Anna Seghers. In: Walter Pallus/Gunnar
14 Das Argonautenschiff (1949) Müller-Waldeck (Hg.): Neuanfänge. Studien zur frühen DDR-Literatur. Berlin/Weimar 1986, 172–225. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Stephan, Inge: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln 2006.
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Steskal, Christoph: Medea und Jason in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Regensburg 2001.
Katrin Dautel
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15 Die Toten bleiben jung (1949) Die Toten bleiben jung ist jene »große Novelle [...], deren Handlung vom Januar 1919 bis Januar 1939 reichen wird« (KuW4, 138), wie Anna Seghers in einem Brief schreibt, den sie am 27.3.1939 aus dem Pariser Exil an Johannes R. Becher in Moskau sendet. Ihr Romanvorhaben kann Seghers allerdings erst später im mexikanischen Exil verwirklichen. Die Niederschrift wird 1947 fertig und sie nimmt das Manuskript bei ihrer Rückkehr nach Berlin mit. Dort wird der Roman 1949 von Aufbau (Berlin) und Suhrkamp (Frankfurt am Main) im Mitdruck publiziert, er ist im September jenes Jahres unter den Neuerscheinungen auf der ersten Frankfurter Buchmesse der Nachkriegszeit zu sehen (Degemann 1985, 108, 114). Eine polnische Übersetzung erscheint noch vor der Erstausgabe in Deutschland (Warschau: Czytelnik, 1949). In der DDR werden bis Ende 1953 »fünf Auflagen mit insgesamt 70.000 Exemplaren« (Bock 1979, 431) gedruckt. 1968 wird Die Toten bleiben jung von der DEFA unter der Regie von Joachim Kunert und mit einem Drehbuch von Christa Wolf verfilmt. In der BRD publiziert der Luchterhand Verlag den Roman erst 1967.
Inhalt Die Erschießung des jungen Spartakisten Erwin im Januar 1919 durch Offiziere der Reichswehr ist »der furiose Auftakt des Buches« (Schrade 1993, 80). Daran anknüpfend, entwirft Seghers in fünf parallel geführten Handlungssträngen, die sich in achtzehn Kapiteln jeweils mit vier bis sieben Erzählsträngen entfalten, ein episches Panorama deutscher Geschichte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Lebensgeschichten und Alltag der proletarischen Schicht werden anhand der Figuren, die sich um den Toten ranken, geschildert. Marie, Erwins schwangere Freundin, erfährt niemals von dessen Ermordung, entscheidet sich aber gegen eine Abtreibung und heiratet den Witwer Geschke, selbst Vater von drei Kindern, nachdem sie ihn von ihrer Schwangerschaft in Kenntnis gesetzt hat. Ihr Kind Hans findet diese Geschichte nie heraus, es lernt aber durch Zufall den Kommunisten Martin, Erwins Gefährten, kennen, und schließt Freundschaft mit ihm. Durch diesen älteren Freund findet Hans zum Kommunismus, kommt jedoch in die Hitlerjugend und dann in die Wehrmacht. In den letzten Monaten des Krieges plant er mit anderen Soldaten die Übergabe an die Rote Armee,
aber sie werden entdeckt und erschossen. Den Befehl dazu gibt derselbe Offizier Fritz von Wenzlow, der sechsundzwanzig Jahre vorher den Spartakisten Erwin, Hans’ leiblichen Vater, erschossen hat. In Berlin findet währenddessen Hans Freundin Emmi, von ihm schwanger, bei dessen Mutter Marie Unterschlupf. Wenzlow, aus einer preußischen Offiziersfamilie, hat Anfang der 1930er Jahre seine militärische Laufbahn im China Tschiang Kai-sheks fortgesetzt und wird später, im Zweiten Weltkrieg, zum Major befördert. Im Feldlager erhält er die Nachricht vom Tod seines einzigen Sohnes 1943 bei einem Luftangriff in Potsdam, was zugleich das Verschwinden des glorreichen Familiennamens bedeutet. Dass die alte Tante Amalie, Stütze der Familie, auch gestorben ist, erfährt Fritz von Wenzlow wenige Tage bevor er, in einem Kessel an der Ostfront eingeschlossen, sich eine Kugel durch den Kopf schießt. Helmut von Klemm, der 1919 den Befehl zur Erschießung Erwins gegeben hat, vertritt im Roman das industrielle Bürgertum am Rhein. Von seinem treu ergebenen Chauffeur Becker, der als Klemms Bursche die Leiche des Spartakisten Erwin im Wald verscharren half, wird Klemm über den Seitensprung seiner Ehefrau Lenore, Fritz von Wenzlows Schwester, mit dem befreundeten Ernst von Lieven unterrichtet und lässt sich scheiden. Bevor er aber 1929 Nora, die Tochter des Kommerzienrates Castricius, heiratet, und einen neuen Chauffeur einstellt, wird Klemm vom eifersüchtigen Becker in den Tod gefahren (Tbj, 243–249; vgl. die Erzählung Der Führerschein, GW IX, 186 f.). Sein Sohn Helmut kommt einige Jahre danach in die »Führerschule, in der die Partei den jungen SS-Nachwuchs erzog« (Tbj, 437), und noch später in den Krieg, wo er als »vorzüglich angeschriebener SS-Offizier« (Tbj, 591) auf einer Militärkonferenz an der Ostfront auf seinen Onkel Fritz von Wenzlow stößt. Ernst von Lieven, der Nachkomme einer baltischen Junkersfamilie, 1919 ebenfalls an Erwins Ermordung beteiligt, wird SS-Offizier und heiratet seine Kusine Elisabeth, die 1943 in das alte Familiengut nördlich von Riga – wohl mit dem Schloss Krimulda identifizierbar – zieht. Anfang 1944 muss sie aber zum dritten Mal in ihrem Leben das Haus aufgeben, um mitsamt ihrem neugeborenen Sohn im verschneiten Wald auf den Tod zu warten. Ernst von Lieven wird indessen auf dem Gut von Partisanen erschossen. Der 1919 bei der Ermordung Erwins wachende Soldat Wilhelm Nadler, Bauer von Beruf, findet danach zu seiner Arbeit und zu seiner Ehefrau zurück, obwohl sie inzwischen von ihrem Schwager Christian ein Kind be-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_15
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kommen hat, was Wilhelm Nadler aber nur vermuten kann. Später geht er in die SA, während sein Bruder Christian als Schuster arbeitet. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs wird Wilhelm Nadler in Frankreich erschossen, so dass Christian, wegen seines hinkenden Beines als kriegsuntauglich erklärt– »die Wunden des ersten Krieges [haben ihn] vor dem Tod des zweiten beschützt« (Tbj, 626) –, die Witwe heiraten kann. Nachdem Wilhelm Nadlers ältester Sohn auch gefallen ist, ist der Bauernhof für Christians Sohn Karl gesichert, der »bei den Russen gefangen« (Tbj, 626) ist.
Rezeption Die Toten bleiben jung erscheint 1949, im Gründungsjahr der BRD und der DDR, als die Spaltung der Welt in Ost und West feststeht, und erntet die bittersten Früchte der Polarisierung, was schon bei der Lektorierung des Manuskripts ans Licht gekommen war. Für den Westen ist der Roman »zu antikapitalistisch und prosowjetisch, für den Osten dagegen nicht positiv genug, vor allem, was den Widerstand von Partei und Arbeiter gegen Hitler betraf« (Zehl Romero 2003, 73). Während der US-amerikanische Verlag Little, Brown and Co. den Roman zu lang fand, ist die Figur der Tante Amalie für den sowjetischen Verlag für Fremdsprachige Literatur zu positiv. Wenn die Besatzung der Wehrmacht im Vergleich zur Besatzung der Roten Armee in Lettland für Suhrkamp zu negativ geschildert worden sei, empfahl Aufbau die Entschärfung des Ausdrucks der Unwilligkeit der Offiziere, die am 20.7.1944 das Attentat auf Hitler versucht hatten, sich dabei mit Proletariern zu verbünden (ebd., 72). Nach der Publikation wird der Roman als das »Hohelied der Gerechtigkeit und der Unausweichlichkeit des Geschehens, parallel zum Geschichtsverlauf 1918– 1945« gelobt, »Dokument und Dichtung, Chronik und Epos zugleich« (Reissig 1949, 117). Die Roman-Polyphonie eines John Dos Passos oder einer Elisabeth Langgässer ist »hier auf die Ebene eines vollkommen eindeutigen und einheitlichen Realismus übertragen« (ebd.). Hermann Hesse berichtet in seinem »Rundbrief an einige Freunde in Schwaben« (1950), Die Toten bleiben jung habe ihm »bis auf den Titel [...] überaus gut gefallen, denn es waltet in ihm eine dichterische Kraft, Liebe und Gerechtigkeit, die stärker ist als alle Parteigebundenheit« (Hesse 1981, 835). Für die politisch gesteuerte Aufnahme von Die Toten bleiben jung in der frühen DDR ist die Rezension von Fritz Erpenbeck im Zentralorgan der SED, der Ta-
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geszeitung Neues Deutschland, charakteristisch. Mit der Überschrift »Das Werk einer großen Realistin« lobt er den Roman als »die bedeutendste Erscheinung des Jahres 1949« (Erpenbeck 1950, 3) gegenüber jenen »interessanten« Werken, die für ihre avantgardistische »Formspielerei« vom »Reklamelärm [...] der bürgerlichen Literaturkritik« (ebd.) gefeiert würden. Andere ostdeutsche Rezensenten betonen die richtungsweisende Profilierung der proletarischen Figuren (vgl. Rittinghaus 1950, 33), die »in hohem Maße typisch« (Auer 1950, 139) sind. Hiermit wird auf den politischen Auftrag zur literarischen Darstellung des Typischen hingewiesen, das damals als Auslöser einer der ersten scharfen literaturpolitischen Streitigkeiten in der DDR wirkt (vgl. Vilar 2008, 108–119). Konkreter Ansatz dafür ist die Frage nach der Erfüllung der Forderungen des sozialistischen Realismus bezüglich des positiven Helden, d. h. eines zukunftsfrohen Proletariers als Leitfigur der sozialistischen Literatur. Es kommt zu einer regelrechten Kontroverse mit Paul Rilla, der u. a. im Rahmen der Besprechungen auf dem II. Schriftstellerkongress (Berlin-Ost, 4.–6.7.1950) angegriffen wird (vgl. Rilla 1950a; 1950b). Beendet ist die Diskussion trotzdem nicht (vgl. Kast 1950; Knipowitsch 1950). Nirgendwo als in der DDR wird Anna Seghers strenger gerügt, aber eine Stellungnahme von ihr erfolgt erst 1962, als sie im Diskussionsbeitrag zum Schauspiel Die Sorgen und die Macht von Peter Hacks für das Neue Deutschland schreibt: »Manchem Schriftsteller ist es passiert, daß man seine Ansicht verwechselt hat mit der Ansicht einer seiner Gestalten. Mit meinem Buch Die Toten bleiben jung hatte ich zum Beispiel viel Kummer« (KuW2, 135). Diesbezüglich bemerkt Walter Janka aus der Perspektive des Jahres 1990: »[D]er Roman Die Toten bleiben jung von Anna Seghers bereitete Ulbricht Sorgen. Und nicht nur ihm. Die sowjetischen Freunde waren wegen des herausgelesenen Fatalismus enttäuscht. Sie alle hätten es lieber gesehen, wenn dieser Roman nie geschrieben worden wäre« (Janka 1989, 22). Nachdem der Luchterhand Verlag 1967 Die Toten bleiben jung publizierte, erscheinen auch die ersten Kritiken in der westlichen Presse, wobei die zeitliche Distanz zu neuen Deutungen führt, die dem Roman nicht ganz gerecht werden; so z. B. in der Rezension von Adelbert Reif, der bemerkt: »Auch die Toten an der Berliner Mauer bleiben jung« (Reif 1967, 51). Hingegen betont Hans-Albert Walter die »Genauigkeit des erzählerischen Panoramas«, das »durch die Gleichwertigkeit der Figuren gewährleistet [wird]« (Walter 1967,
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358). Die Position, die die Autorin bezieht, ist zwar die kommunistische, aber: »Endlich stellt Anna Seghers ihre Figuren auch vor die Frage, wie es kommen konnte, daß Arbeiter der faschistischen Ideologie verfielen, daß der Riß quer durch das Proletariat ging, mehr noch: daß auch die Gegner des Nationalsozialismus für diesen in den Krieg gezogen und mit ihm schuldig geworden sind« (Walter 1967, 359; vgl. Bock 1979, 424). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hebt Dietrich Segebrecht die Unzeitgemäßheit des Genres hervor: »Der realistische Roman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund hat bei uns keine Tradition mehr (es sei denn, man wollte Namen wie Kesten, Remarque, Weisenborn usw. nennen)« (Segebrecht 1967). An der DEFA-Verfilmung von 1968 bemängelt Heinz Kersten: »Keine Figur gewinnt schärferes Profil« (Kersten 1969, 99); das ist in Joachim Kunerts Film anders als im Roman mit seiner »differenzierte[n] Charakterisierung« (ebd.).
Forschung Die Toten bleiben jung, der umfangreichste Roman von Anna Seghers, entwickelt die kompositorische Technik der Romane, die die Schriftstellerin aufgrund ihres Konzepts von realistischer Literatur in der Weimarer Republik und im Exil verfasst hat (Die Gefährten, 1932; Das siebte Kreuz, 1942). Indem der historische Kontext durch die Darstellung einzelner Episoden und aus der Perspektive von teilweise ungebundenen Figuren bzw. Gruppen beleuchtet wird, knüpft Die Toten bleiben jung zugleich an die nicht nur literarische Tradition des weiten gesellschaftlichen Panoptikums an: an Fontane und Huch im deutschsprachigen Raum, Balzac und Flaubert im französischen und Tolstoj und Dostojewskij im russischen, sowie an die Wandmalerei des mexikanischen Diego Rivera. Ferner lässt sich in Seghers’ Roman der Gesamteindruck erkennen, den die Großstadtprosa Dos Passos’, die dokumentarische Literatur und die filmische Montagetechnik (vgl. Tbj, 273) bei Seghers hervorrief (Hilzinger 2000, 45). Trotzdem: Die Toten bleiben jung »relinquishes a good portion of modernist abstraction in favor of realism« (Fehervary 2001, 123). Mit dem Gesamtwerk von Seghers ist der Roman auch durch die Motivik verbunden. Es finden sich hier jene Lichtfünkchen in den Augen der tragenden Figuren (Erwin, Hans), die einerseits auf die Auseinandersetzung der Autorin mit dem Werk Rembrandts zurückgeführt werden können, andererseits aber auch
auf Ernst Blochs Anwendung der Lichtmetaphorik für jenen »Geist der Hoffnung, der als Vereinigung von ›Marxismus und Traum des Unbedingten‹ auf die Herbeiführung des Reiches der Gerechtigkeit zielt« (Haas 1997, 281).Darauf bezogen ist des Weiteren das Glücks- und Freudemotiv, das nicht nur das literarische Werk von Anna Seghers durchzieht. Der Gedanke: »Man kann ohne Freude nicht Leben« (Tbj, 385), der u. a. von Dostojewskijs Brüder Karamasow inspiriert wurde und in die »Tradition der jüdisch-frühchristlichen Idee eines messianischen Zeitalters und seiner materialistischen, diesseitigen Umsetzung« (Bischoff 2009, 197) eingeordnet werden kann, wird in Die Toten bleiben jung am erlebten Beispiel von Hans Geschke illustriert. Als »Muster einer Initiation in eine Art säkularisierte Glaubensgemeinschaft« (Hilzinger 2000, 24) entfaltet sich in Seghers’ Roman außerdem die LehrerSchüler-Beziehung. Hans Geschke findet diesbezüglich im Kommunisten Martin gleichzeitig ein Vorbild und einen Mentor, der ihn ideologisch formt und ihn das Leben als Passion vorzeigt. In janusköpfigem Verhältnis zur Lehrer-Schüler-Konstellation wird in Die Toten bleiben jung schließlich eine Art Herr-KnechtVerbindung gestaltet. Klemms Chauffeur Becker steht in dieser Hinsicht für »de[n] reine[n] Leibeigene[n]« (Tbj, 192), der Bauer Wilhelm Nadler ordnet sich bereitwillig verschiedenen Herren unter. Das zentrale Motiv in Die Toten bleiben jung ist allerdings der Tod, welcher Auftakt und Finale des Romans bildet (vgl. Albrecht 1990; Fehervary 2001, 22). Jeweils knüpft der Tod an das Thema der alleinstehenden schwangeren Frau, Marie am Anfang und Emmi am Ende an – stark und mutig wie Marie Kedennek in Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) oder wie Crisanta in der gleichnamigen Erzählung (1951) –, ein Thema, das allegorisch auf die neutestamentarische Geschichte der Empfängnis Marias verweist und aber auch auf die im Opfertod Jesu Christi enthaltene Zukunftserwartung (Schrade 1993, 80; vgl. Dubrowska 2009, 140 f.). Damit ist der Tod mit der Idee der nicht endgültigen Niederlage im Kampf der Unterdrückten und Ohnmächtigen – der Seghers’schen säkularisierten »Märtyrer« oder »Träger der revolutionären Bewegung« (Kracauer 1932, 5) – für Gleichheit und Gerechtigkeit verbunden. Im Roman stützt sich diese Zukunftshoffnung allerdings nicht auf Kommunisten, die etwa im Widerstandskampf abgehärtet worden wären, sondern auf Kinder, und zwar sowohl auf die Nachkommen von proletarisch-kommunistischen Opfern (das ungeborene Kind von Hans Geschke und seiner
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Freundin Emmi) wie auch von nationalsozialistischen Tätern (Anneliese von Wenzlow). Denn nachweislich ist das Hauptthema des Werks die Ergründung der Erzeugungsfaktoren der ideologischen Umwandlung in Deutschland zwischen 1919 und 1945: Warum die einen zu NS-Anhängern oder Mitläufern geworden sind und die anderen zu Gegnern – ein Sujet, für das im äußerst heiklen historischen Kontext der Ost-West-Polarisierung Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre wenig Interesse gewesen zu sein scheint. Um dieses Thema und dabei auch die »Degeneration der ehemals glanzvollen preußischen Geschichte zum aggressiven, gesamtdeutschen Militarismus« (Schrade 1993, 82) literarisch zu erfassen, schildert Seghers in Die Toten bleiben jung die Lebensgeschichten von Vertretern aus allen Schichten und sozialen Kreisen, wobei die Charakterisierung der verschiedenen Gruppen kleinere und größere Differenzen aufweist. In der proletarischen Sphäre zeichnen sich die starken Kontroversen zwischen Sozialdemokraten (Geschke) und Kommunisten (Geschkes Nachbar Triebel) aus. In der großbürgerlichen Offiziersfamilie Wenzlow steht der nationalsozialistische Stammhalter Fritz seiner ältesten Tochter Anneliese, seiner Schwester Lenore, und vor allem seiner alten Tante Amalie gegenüber, die den Nationalsozialismus mit skeptisch-kritischen Augen ansehen – aus gutem Grund trägt die Dame die Gesichtszüge des Kaisers Friedrich II. (vgl. Bock 1998, 162). Der aristokratische Emigrant Ernst von Lieven teilt den stillen Vorbehalt seines Vetters Otto dem Nationalsozialismus gegenüber nicht und verurteilt dessen Suizid nach dem Röhm-Putsch im Sommer 1934. Auch der kriegerische Helmut von Klemm unterscheidet sich von seinem geschäftsorientierten Vetter, der seine Söhne – anders als seinen Mündel, die Halbwaise Helmut von Klemm – in gewöhnliche Schulen schickt, so dass sie später den Familienbetrieb übernehmen können. In gleicher Weise unterscheidet sich der vom nazistischen Militarismus verblendete Bauer Wilhelm Nadler von seinem jüngeren, politisch skeptischen Bruder, dem Schuster Christian. Nicht minder wichtig ist die Position der christlichen Kirche dem Nationalsozialismus gegenüber, die im Roman vertreten wird durch die Figuren des ungenannten Pfarrers im Dorf der Familie Nadler und des Pfarrers Schröder, eines Mitglieds der Bekennenden Kirche, der für die Wandlung Anneliese von Wenzlows verantwortlich ist. Selbst auf formaler Ebene werden die grausamsten Gewalt- und Kriegsszenen (Ermordung von Paul Ströbel, Judentransporte, KZ, Li-
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quidierung der eigenen Truppen an der Front, Bombardierungen) in Die Toten bleiben jung mit Anekdoten gewürzt, wodurch die lächerliche Stupidität der gewalttätigen Verbrecher bloßgestellt wird, wie z. B. in der Reichspogromnacht, als die SA-Burschen, mit denen Franz Geschke marschiert, das prunkvolle Haus des Gaulleiters Hänisch mit der viel bescheideneren Wohnung der jüdischen Familie Mendelsohn verwechseln (Tbj, 508 f.). Dual ist in Die Toten bleiben jung nicht zuletzt der Blick auf die Sowjetunion als Land der Alphabetisierung (Tbj, 544) und als »Diktatur von Lumpen« (Tbj, 195). Allerdings scheint die ideologisch-pädagogische Position der Autorin in den Äußerungen einzelner Figuren angelegt, beispielsweise als der Kommunist Martin den historischen Hass zwischen KPD und SPD bedauert (Tbj, 175), oder als Stalins Säuberungen von Hans Geschke unter Berufung auf Benito Mussolini mit dem Argument des Renegatentums legitimiert werden: »Es waren vielleicht gar nicht die Besten, die man dort [in der Sowjetunion] totschoß. [...] Das kann man von Mussolini auch sagen, daß er ein alter Genosse war« (Tbj, 476; vgl. Rohrwasser 1991, 52 f.). Neben Transit (1944) und Das siebte Kreuz (1942) ist Die Toten bleiben jung einer des meistübersetzten Romane von Anna Seghers und gehört, auch wenn er heute kaum gelesen wird, zweifellos zum historizistischen Kanon. Wie Thomas Mann 1950 bemerkte: »Es ist wirklich ›sozialistischer Realismus‹ und große Erzählung« (zit. nach Bock 1998, 166). Literatur
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II Werk
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Loreto Vilar
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16 Crisanta. Mexikanische Novelle (1951) Bereits der Titel dieser Erzählung macht deutlich, was in ihrem Zentrum steht: Eine weibliche Hauptfigur und Mexiko. Thematisch kommt das Land in Seghers’ Texten bereits in Transit (1943) und im Ausflug der toten Mädchen (1943/1946) vor (vgl. Díaz Pérez, 2002), dort allerdings nur am Rande. In den Erzählungen Agathe Schweigert und Die Heimkehr des verlorenen Volkes wird Mexiko ebenfalls zum Thema. Nachdem die Autorin vierzehn Jahre im Exil, sechs Jahre davon in Mexiko, gewesen war, schrieb sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland Texte, die ihre Verbindung zu Mexiko im Untertitel verdeutlichen. 1950 entstand die Novelle Crisanta, die im Folgejahr im Inselverlag publiziert wurde. 1953 war die Erzählung Teil des Sammelbandes Der Bienenstock. Zwanzig Jahre nach der Rückkehr entstand dann Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967). Mexiko nahm in Seghers’ Wahrnehmung einen zentralen Stellenwert ein. 1945 schrieb sie an Jürgen Kuczynski, sie habe »Land und Volk lieb gewonnen« und werde »Heimweh« nach Mexiko haben (Br1, 171). Die Verzögerung des Schreibens über Mexiko war geplant und angekündigt, hatte die Autorin doch noch 1946 aus Mexiko an Johannes R. Becher geschrieben: »Da bringe ich Euch eine Menge von Material und Erlebnissen und Erfahrungen mit, die ich wohl manchmal zuerst kaum verstanden habe. (Die halbkolonialen Verhaeltnisse, die Macht der katholischen Kirche, die andauernde, jahrhundertelange, unwahrscheinliche Armut, usw.) Darueber werde ich aber besser daheim schreiben und noch besser mit Euch sprechen« (Br1, 188).
Inhalt und intertextuelle Bezüge Im Gegensatz zu Das wirkliche Blau ist die Hauptfigur in Crisanta weiblich. Diese Tatsache wird innerhalb der Diegese als eine Besonderheit herausgestellt: Der Text beginnt mit einer Adressierung und einer Antwort auf die imaginäre Aufforderung zu erzählen: »Ihr fragt, wie die Menschen in Mexiko leben? – Von wem soll man erzählen?« (Cr, 43). In der Folge werden drei berühmte mexikanische Männer genannt, von denen sich erzählen ließe –die zwei Priester und Revolutionäre Miguel Hildago y Costilla (1753–1811) (erwähnt auch in Br1, 171) und José Maria Morelos (1765–1815)
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sowie Benito Juárez García (1806–1872), der von 1858–1872 der erste Präsident Mexikos indigener Abstammung war. Mittels eines rhetorischen Kniffs werden diese Männer zur historischen Folie und dienen als Hintergrund, erzählt wird nämlich gerade nicht von ihnen, sondern von einer imaginären Figur, Crisanta. Die Hauptfigur ist Waise und Analphabetin, die von Lupe González und ihrem Mann eher zufällig aufgenommen wurde. Der Mann ist Bergarbeiter, trinkt und versucht sich eines Nachts an Crisanta zu vergehen – sie verrät ihn nicht und auch die Erzählinstanz wird nicht explizit (Cr, 50). Die Frau ist nicht nur für Crisanta ›wie ein starker Ast‹ (Cr, 44), sie wird als überaus eindrucksvolle Mutterfigur vorgestellt: »Weil sie sich Tag und Nacht selbst um fünf Kinder zu plagen hatte, kam ihr die fremde Mutter besonders tot vor und das fremde Kind besonders lebendig« (Cr, 44). Zudem rahmt Lupe auch die Erzählung, sie ist am Anfang für Crisanta da und versucht sie am Ende wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dazwischen wird Crisanta zur Arbeit in einer Tortilleria nach Mexiko City zu einer Frau Mendoza geschickt. Auf der Busreise verliebt sie sich in Miguel, der sie an ihrem Arbeitsort besuchen kommt. Was Crisanta auszeichnet, ist ihre Erinnerung an einen Ort und an die Farbe Blau: »Dort war ihr so wohl zumute gewesen wie nie mehr später. Als sei sie allein für sich von einem besonderen Himmel behütet. Wenn sie sich fragte, was es gewesen war, dann fiel ihr immer nur ein: blau« (Cr, 45). Miguel stammt aus einer Töpferfamilie, verlässt aber den traditionellen Beruf, um in einer Fabrik zu arbeiten. An ihm wird der Übergang vom familiär organisierten Handwerk zur Industrialisierung sichtbar – Miguel vertritt die moderne Arbeitswelt, so kann er den anderen etwa auch erklären, wie ein Streik funktioniert (vgl. Cr, 58). In der Erzählung wird im Weiteren die historische Alphabetisierungskampagne aufgenommen (zu Dokumenten zur Alphabetisierung in Mexiko vgl. Argonautenschiff 2002, 246 f. sowie eine briefliche Erwähnung in: Br1, 171). Miguel und sein Freund Pablo besuchen erfolgreich die Abendschule, während Crisanta nicht vorwärtskommt und den Schulbesuch schließlich abbricht, sie bleibt Analphabetin. Ein Kinofilm, den sich Crisanta und Miguel zusammen ansehen, nimmt parabelartig das Schicksal der weiblichen Figur vorweg – Pablo und Miguel verlassen die Stadt auf der Suche nach besserer Arbeit und »eine[r] ganz andere[n] Art Mädchen« (Cr, 62) heimlich. Crisanta stürzt ab: Sie geht nicht zur Familie zurück, sondern lebt auf der Straße, prostituiert sich, stiehlt Lebensmittel, wird schwanger und muss – so
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_16
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wird es zumindest angedeutet – eine Abtreibung vornehmen. Die Erinnerung an das Blau wird zu einem Moment der Sehnsucht. Frau Mendoza macht den Aufenthaltsort Crisantas ausfindig und schickt sie nach Hause, zur Familie González. Darüber ist die Hauptfigur »genau so bestürzt wie glücklich« (Cr, 67). Crisanta wird wiederum schwanger, von wem weiß sie nicht. Herr González rät ihr dringend, das Kind zu behalten. Die Erzählung endet mit der Vermittlung einer neuen Arbeitsstelle, wo Crisanta Obst verkauft und ihr Kind mit sich nimmt. Für dieses hat sie zumindest Hoffnungen, die nochmals an den damals mit Miguel gesehenen Film anknüpfen: »Sie dachte, ihr Sohn könnte auch ohne Eltern so klug werden wie der Sohn im Film. Er könnte lesen und schreiben lernen« (Cr, 68). Die Auflösung von Crisantas frühkindlicher Erinnerung wird schließlich explizit gemacht: »Auf einmal fiel ihr der Ort wieder ein, an dem sie als Kind gewesen war. Das unvergleichliche, unbegreifliche tiefe und dunkle Blau. Das war der Rebozo, das Umschlagtuch der Frau González gewesen, und was dahinter strömte, ihr Volk« (Cr, 69). Dieser Rebozo ist der Hauptgegenstand des Textes, er steht für Weiblichkeit, Mutterschaft und Geborgenheit. Er kann aber auch als Synekdoche für den Text als Ganzes betrachtet werden, denn der Text (textus) ist in seiner etymologischen Herkunft auch ein gewobener. Obwohl in der Erzählung die aktive Entscheidung für eine weibliche Hauptfigur deutlich gemacht wird, ist es eine Frauenfigur, deren Fortleben nur dann gesichert wird, wenn sie sich in die traditionelle Rolle der Mutter begibt. Mexiko ist in dieser Erzählung nicht nur Handlungsort, sondern es wird dem zeitgenössischen, europäischen Lesepublikum über das Land auch Wissen vermittelt, nach den berühmten Männern am Textanfang etwa über die Herstellung und Bedeutung von Tortillas. »Es [das Brot] macht aber Lärm. Es ruft die Hungrigen selbst« (Cr, 46). Volksfeste wie zur Ehrung der Jungfrau von Guadalupe (Cr, 55) kommen ebenso vor wie Leibeigenschaft (vgl. Cr, 61), die zum Thema wird. Innerhalb von Seghers’ Werk gibt es über das Motiv der Farbe Blau neben der bereits erwähnten Erzählung auch intertextuelle Bezüge zu Überfahrt (1971) und zu Drei Frauen aus Haiti (1980).
Forschung 1971 erschien von Gerhard Rothbauer eine Rezension, die sich vor allem mit einer Liebeszene aus Crisanta beschäftigte. Rothbauer wollte dabei die besondere
Sprache Seghers’ darlegen, kam aber zum Schluss, dass die Untersuchung des Stils »nichts Außergewöhnliches« hervorbringe und somit der »karge Text« genügen müsse (Rothbauer 1971, 151). Wie andere Lesende später auch, hält Rothbauer deskriptiv fest, dass Seghers’ Texte wirken. Wie sie das aber tun, scheint nicht einfach zu erklären. Neugebauer bezeichnet die Erzählung als »naiv erzählte Geschichte« (Neugebauer 1978, 128). Seine Lesart ist auch politischer Art: »Das Thema – die Notwendigkeit sozialer Bindungen – ist mit Problemen verknüpft, wie sie die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit sich bringt. [...] Allerdings verliert er [Miguel] – wie sein Freund Pablo – durch das Gefühl von Überlegenheit seine ursprüngliche Güte« (ebd., 126). Am ausführlichsten und reichhaltigsten wird die Erzählung in Wiebke von Bernstorffs Fluchtorte (2006) analysiert, ein ganzes Buchkapitel ist dort dem Text gewidmet. Die Autorin verweist in Bezug auf Crisanta auf Seghers’ Auseinandersetzung mit der mexikanischen Wandmalerei: »Neben wirkungspoetischen lassen sich auch erzähltechnische und ikonographische Übereinstimmungen zwischen den Bildern und den Texten der Autorin feststellen« (von Bernstorff 2006, 46; 101–109). Mit dem Mexiko-Bild auseinandergesetzt haben sich vor allem Díaz Péréz (2002; 2003) sowie Kniesche (2014). Letztere spricht von der narrativen Rahmung durch den Rebozo, der als eine Membran zwischen Mutter und Kind fungiere (Kniesche 2014, 223 f.). Die Bedeutung der literarisierten Geschlechterrollen wird in der Forschung unterschiedlich gewichtet. Grundsätzlich befindet Kaufmann, Seghers’ Texte ließen »kein ausgeprägtes Interesse für eigenständige Emanzipationsbestrebungen von Frauen erkennen« (Kaufmann 1996, 196). Brandes schreibt, Crisanta bleibe »gefangen in weiblicher Benachteiligung« (Brandes WA II/4, 406). Kniesche (2014, 223) meint, es sei das Alphabet, welches die Geschlechter trenne. Mit Fragen nach der dargestellten Männlichkeit setzt sich Villora (2016) auseinander, sie sieht im Gespräch Miguels mit den Männern auf der Hochzeit der Tochter González und vor allem in seiner Nicht-Wahrnehmung von Crisanta das Beispiel einer Barriere zwischen den Geschlechtern. Als eine von wenigen geht sie zumindest am Rande auf die angedeutete Belästigung Crisantas durch den Vater González ein. Ausgehend von der dargestellten patriarchalen, mexikanischen Ordnung stellt Villora aber auch fest, dass innerhalb der erzählten Welt eine Art Matriarchat praktiziert wird (vgl. Villora 2016, 54). Das betont auch Kniesche: »In Mexico, Anna
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Seghers found a place where men control history but where women discover a mythical realm beyond eternal strife« (Kniesche 2014, 228). Dass die Erzählung mit dem Ausdruck ›Volk‹ endet, rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Pohle bemerkt eher neutral: »Das tragende Motiv, die emphatische Beschwörung und poetische Überhöhung der Aufgehobenheit eines Waisenkindes im Volk, transzendiert aber den sozialen Realismus und verweist auf eine Erfahrung, die nicht in Deutschland gewonnen wurde« (Pohle 1992, 59). Kniesche hingegen bezeichnet die Verwendung des Ausdrucks als »daring, if not naive or worse« (Kniesche 2014, 224). Von einer Umdeutung geht Brandes aus. Sie schreibt, Seghers gebe »dem von der Naziideologie verfälschten Wort ›Volk‹ hier einen völlig neuen, sinnlich-gesellschaftlich-kulturellen Inhalt« (Brandes WA II/4, 406). Literatur
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Martina Wernli
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17 Kleine Erzählsammlungen der 1950er Jahre: Friedensgeschich ten (1950/53), Die Kinder (1951) Friedensgeschichten (1950/53) Ab dem Frühjahr 1950 zieht sich Seghers häufiger nach Schloss Wiepersdorf zurück, dem einstigen Wohnsitz von Bettina Brentano und Achim von Arnim, wo eine »Arbeitsstätte für Geistesschaffende« eingerichtet worden war. Im ländlichen Umfeld findet sie Ruhe zum Schreiben und gleichzeitig sammelt sie, auch im Umgang mit den Einwohnern, Material für die entstehenden Geschichten. In einem Brief an Rudolf Vápeník vom 25. Mai 1950 heißt es: »Ausgezeichnete kleine Bibliothek aus der Goethezeit, die Gegend sehr einsam, das Dorf mit 250 Einwohnern aus Umsiedlern, Altbauern, Neubauern, die früher Tagelöhner waren, ist eine Art winziger Maggiwürfel von Klassenkampf« (Br1, 368). Das sehr überschaubare Wiepersdorfer Umfeld bietet Seghers damit ein aufs engste gedrängtes gesellschaftliches Kraftfeld, in dem sich die Bemühungen und Widerstände beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung aus nächster Nähe beobachten lassen. Im Zeitraum von August bis Oktober 1950 erscheinen die sechs Kurzgeschichten und die beiden später nicht mehr publizierten Erzählungen Das Grab und Die Granate zunächst unter dem Zyklustitel Der Friede in der Zeitung Tägliche Rundschau. 1953 werden sie dann in der zweibändigen Sammlung der Erzählungen mit dem Titel Der Bienenstock im Aufbau Verlag erstmals in Buchform veröffentlicht. Teile der Friedensgeschichten dienen Seghers auch in ihren politischen Essays immer wieder als Beispielanekdoten für den Anbruch einer neuen Zeit. So verweist sie etwa in Über die Entstehung des neuen Menschen (KuW3, 242–250) auf Erntedankfest und Die Umsiedlerin als Beispiele für eine positive Entwicklung hin zum neuen Menschen (vgl. Brandes WA II/4, 460, Anm. 114; Bock 1977, 126). Inhalt, strukturelle Aspekte und intertextuelle Bezüge Die sehr kurze, erste Erzählung Das Urteil handelt vom unzufriedenen Landarbeiter Franz Müller, der offen gegen die neuen Verhältnisse in der DDR opponiert und aus Angst vor Repressionen Republikflucht begeht. Konfrontiert mit der Möglichkeit zum Militärdienst nach Vietnam eingezogen zu werden, entschei-
det er sich für eine Rückkehr in die DDR, wo er wider Erwarten keine Sanktionen erfährt und sich nun geläutert in den friedlichen Aufbau der Republik integriert. Auffällig ist die durch den Titel gegebene Anspielung auf Kafkas namensgleiche Erzählung. Allerdings erwartet den Protagonisten bei Seghers kein von außen gefälltes Urteil durch die Familie bzw. den Dorfverbund. Vielmehr sieht man in Ansätzen eine selbstbestimmte Entscheidung für die friedliche Alternative des sozialistischen Aufbaus. Die zweite Geschichte Die Umsiedlerin erzählt von den Schwierigkeiten des Neuanfangs der Anna Nieth. Seghers thematisiert am Beispiel dieser Flüchtlingsfrau Repressionen der alteingesessenen Bauern gegen Flüchtlinge aus dem Osten. Erst ein selbstbestimmtes und mutiges Anprangern der Missstände auf einer öffentlichen Versammlung führt zu einer positiven Veränderung der Verhältnisse und einer geglückten Integration der Neusiedlerin in den Dorfverbund. Intertextuell zeigen sich in dieser Geschichte Parallelen zum Märchen von der Gänsemagd (vgl. Brandes WA II/4, 430). Die Erzählung Der Traktorist stellt das Gemeinschaftsgefühl als unabdingbare Basis für den Frieden heraus. Nachdem ein lebensfroher und den neuen sozialistischen Verhältnissen zugewandter Traktorist durch die Explosion eines Blindgängers beim Pflügen des Feldes ein Bein verliert, erkennen alle Parteien im Dorf, dass die Altlasten des Krieges potentiell jeden treffen können. Diese Einsicht führt zu einem solidarischen Miteinander von Altbauern und Neubauern im Kampf für einen friedlichen Neubeginn. Auch Der Kesselflicker thematisiert den friedlichen Neubeginn in Person eines kriegsgeschädigten Invaliden, der mit seinem Rollwagen über die Dörfer fährt und nützliche Reparaturarbeiten leistet. Bei dieser Tätigkeit hört er die Ängste, Sorgen und Hoffnungen der Menschen und spendet Zuversicht für eine friedliche Zukunft. Mit der Figur dieses Kesselflickers schafft sich Seghers an zentraler Stelle der Sammlung eine Art allegorisch lesbares Alter Ego für das eigene Rollenverständnis als Schriftstellerin. Mit der fünften Erzählung Der Landvermesser führt Seghers deutlich die bei breiten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Vorbehalte gegen die neue sozialistische Ordnung in ihren Erzählkosmos ein. Der titelgebende Landvermesser beteiligt sich zwar im Tagesgeschäft qua Profession an der Neuverteilung von Land und Boden, träumt jedoch privat von einer nostalgisch verklärten Restauration der alten Herrschaftsverhältnisse. Diese zunächst irritierende Erzählung stärkt bei ge-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_17
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nauer Betrachtung die Stoßrichtung des Erzählzyklus, denn eine friedlich aufzubauende neue Gesellschaftsordnung muss vereinzelte Zweifel und subversive Positionen temporär abfedern und aushalten können. Verbindungen zu den anderen Erzählungen des Zyklus gibt es neben dem Setting hier auch durch die intertextuelle Anspielung auf Kafkas Landvermesser und die Aufnahme romantischer Märchenmotive in der Figurenzeichnung (vgl. Brandes WA II/4, 432). Gemeinsam mit Das Urteil bildet die ebenso skizzenhafte letzte Erzählung Das Erntedankfest den Rahmen des Erzählzyklus. Sie handelt vom Flüchtling Anton Bandusch und seiner Frau, die als Neubauern im Dorf angesiedelt werden. Losgelöst vom gesellschaftlichen Leben im Dorfverbund bewirtschaften sie ein im Zuge der Bodenreform zugeteiltes Flurstück. Die geglückte Integration und das Engagement für die neue Gesellschaft zeigen sich erst überraschend beim Erntedankfest, wo sich die wortkargen Neubauern mit zwei Festwagen beteiligen, die in plakativer Gegenüberstellung von alten und neuen Zeiten den Dank für das friedensstiftende sozialistische System ausdrücken. Auch in der in dieser kurzen Erzählung anklingenden Gegenüberstellung von Arm und Reich bzw. Alt und Neu lassen sich wieder typische Märchenmotive erkennen (vgl. Brandes WA II/4, 433). Rezeption und Forschung Die Friedensgeschichten erfuhren schon durch ihre Erstpublikation in einem periodischen Druckerzeugnis und die spätere Aufnahme in Der Bienenstock eine breite Rezeption in der DDR. Dabei wurden sie durchaus ambivalent aufgenommen. Bekannt ist der beißende Spott mit dem Johannes R. Becher die Geschichten aufgrund ihrer Simplizität und Unverständlichkeit für breite Bevölkerungsschichten in seinem Tagebuch bedachte, wo es heißt: »Beinahe rührend diese Hilflosigkeit, irgend etwas Neues zu gestalten« (vgl. Krenzlin 1979, 191). Dennoch waren die skizzenhaften Erzählungen Seghers’ wirkmächtig – und sei es nur in polemischer Abgrenzung (ebd., 192) – wie die Aufnahme und Bearbeitung von Motiven aus Die Umsiedlerin und Der Traktorist bei Heiner Müller zeigen (vgl. ebd.; Hilzinger 2000, 150; Brandes WA II/4, 450). In der Forschung werden die Friedensgeschichten zumeist als Versuch einer direkten Darstellung der neuen Wirklichkeit mit neuen Menschen, die sich in der entstehenden DDR entwickeln und die pointiert in kleinen Einzelgeschichten präsentiert werden, gesehen (vgl. Schrade 1994, 34 f.). Es sind Momentaufnah-
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men, mit teils stark didaktischem Impetus, die aufzeigen sollen, wie die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse zur dauerhaften Sicherung des Friedens beizutragen helfen. Literaturgeschichtlich bedeutsam werden die Erzählungen vor allem dadurch, dass es Seghers gelingt, hier punktuell Neues in Zeiten des Umbruchs, der von vielen Menschen als mühevoll und schmerzhaft empfunden wurde, aufzuzeigen. Durch die Situierung im dörflichen Umfeld wird das Neue dabei direkt im Leben verortet und nicht in den politischen Absichtserklärungen der Zeit (vgl. ebd., 40). Kritische Positionen heben auf die stark dem Programm der Aufbauliteratur verpflichtete Schreibweise der Erzählungen ab. So findet sich fast durchweg eine schmucklose, parataktisch-knappe Sprache, die in den aufgerufenen Naturbildern den Sozialismus als ideelle Verheimatung des Menschen in Frieden, Arbeit und Natur verkläre (vgl. Brandes 1992, 68) und somit häufig an Agitprop-Prosa anknüpft (vgl. Bock 1977, 128). Hilzinger schwächt die einseitig propagandistische Lesart der Erzählungen ab, indem sie auf das durchaus vorhandene Problembewusstsein für Brüche und Widersprüche in der sozialistischen Entwicklung hinweist und sie in ihrer sprachlichen Ausformung in die Nähe von Brechts Kalendergeschichten rückt (vgl. Hilzinger 2000, 150).
Die Kinder (1951) Der Erzählband Die Kinder wurde im Sommer 1951 veröffentlicht und versammelt die drei kurzen, thematisch lose verbundenen Erzählungen Die verlorenen Söhne, Das Obdach und Die Tochter der Delegierten. Die bereits 1941 im französischen Exil entstandene Erzählung Das Obdach (s. Kap. 11) wird von den zwei neueren Erzählungen gerahmt. Über die Zusammenstellung der Publikation erfahren wir in einem Brief Seghers’ an Wladimir Iwanowitsch Steshenski vom 29. Juni 1951 genaueres. Dort heißt es: »Jetzt will ich zunaechst versuchen, wenigstens drei kleine Geschichten von Jugendlichen zusammen zu stellen. Die polnische ist bei Euch geschrieben, die chinesische muss ich hier fertig machen. Ich moechte dann vielleicht noch die kurze Geschichte Das Obdach (deutschfranzoesisch) dazunehmen; denn die Jugendlichen, die sie hier kennen, interessiert am meisten darin der Junge« (Br1, 389 f.). Die wenigen Sätze machen deutlich, dass für alle drei Erzählungen unterschiedliche Entstehungsorte angenommen werden müssen. Das Buch erschien in einer Erstauflage von 10.000
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Exemplaren und ist mit dem Widmungsvermerk: »Der Jugend zu ihren III. Weltfestspielen für den Frieden« versehen. Anna Seghers war, wie viele Schriftsteller/innen des jungen sozialistischen Staates, dazu aufgerufen, etwas zu dieser prestigeträchtigen Veranstaltung beizusteuern, die im August 1951 in Berlin stattfindet. Insofern kann man den Erzählband Die Kinder auch als anlassgebundene Auftragsarbeit lesen, der die Autorin gerne nachkam. Als Vorzeigeautorin von Weltruhm war sie zur Eröffnung der Weltfestspiele in Berlin als Ehrengast geladen, wovon Dokumentaraufnahmen einer Kino-Wochenschau zeugen, die Jahre später in einen Spielfilm nach Seghers’ Erzählung Überfahrt montiert wurden (vgl. Melchert 2011, 136). Inhalt, strukturelle Aspekte und intertextuelle Bezüge Die kurze Erzählung Die verlorenen Söhne handelt vom chinesischen Befreiungskampf und dem Schicksal zweier Kinder. Die heterodiegetische Erzählinstanz berichtet zunächst von der fast zwanzig Jahre zurückliegenden Entscheidung des Funktionärs Teh Cheng-li in die Illegalität zu gehen, um die Erziehung der Landsleute zu einer besseren Gesellschaft voranzutreiben. Seine beiden Söhne, deren Mutter bei der Geburt des jüngeren Sohnes gestorben war, gibt er in die Hände der Partei, die einen loyalen Pflegevater für die Kinder sucht. Eingebunden in die Entwicklungsgeschichte der Söhne sind dabei immer wieder Exkurse zur historischen Situierung der chinesischen Revolution. Nachdem die beiden Jungen zunehmend in prekäre Unterbringungsverhältnisse geraten, stirbt der jüngere Sohn. Am Beispiel des älteren Sohnes wird in geraffter Darstellung der Entwicklungsgang von behüteter Kindheit über bäuerliche Landarbeit in ärmlichen Verhältnissen und proletarische Fabrikarbeit unter gesundheitsschädigenden Bedingungen hin zur Politisierung im studentischen Umfeld vorgeführt. Den Abschluss der Erzählung bilden die Feierlichkeiten zum Sieg der chinesischen Revolution in der Stadt, wo Vater und Sohn wieder aufeinandertreffen. Abgehoben durch die einzige Leerzeile im Text kontrastiert die Erzählung als Schlusspunkt zum zunächst öffentlichen Wiedersehen auf der Ehrentribüne das private Aufeinandertreffen der beiden. In dieser Entschleunigung des bis dahin stark gerafften Ereignisganges wechselt die Erzählung in den dramatischen Modus und präsentiert den intimen Moment der Bitte um Vergebung für den Tod des Bruders durch den Sohn und die Absolution des Vaters in direkter Rede.
Die Wiedervereinigung der Kernfamilie währt nur kurz und lässt den Sohn erneut allein zurück. Trotz dieser Ambivalenz schaffen die letzten beiden Sätze des Textes, die zum einen vom Druckabfall durch die einsetzende innere Ruhe beim Sohn berichten und zum anderen vom selbstständigen Hinausgehen des Jungen in die Stadt und damit in eine offene Zukunft, eine positive Wendung. Die verlorenen Söhne weist eine Nähe zum Roman Die Gefährten (1932) auf. Die Erzählung kann wie ein weiterführender Einzelstrang dieses Romans gelesen werden und erhellt damit die Entwicklung der operativen »Schreibweise Seghers’ nach der eigenen Erfahrung von Exil und Verfolgung« (Brandes WA II/4, 407). Eine intertextuelle Beziehung besteht außerdem bereits explizit über den Titel der Erzählung, zum Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium (Lukas 15, 11–32). Verstärkt wird diese Nähe zum biblischen Motiv auch durch die Parallelen bezüglich der Eifersucht des älteren Bruders (vgl. Ki, 75) und der biblischen Anklänge in der Sprache, wenn es um die Dringlichkeit des väterlichen Auftrags geht (vgl. Ki, 76). Die Beschäftigung mit dem biblischen Motiv vom verlorenen Sohn findet sich bei Seghers bereits in ihrer kunsthistorischen Dissertation, wo es mehrfach Erwähnung findet, um die Besonderheit des Rembrandt’schen Spätwerks aufzuzeigen (s. Kap. 34). Die zweite Erzählung Das Obdach entstand wahrscheinlich noch im französischen Exil. Seghers gestaltet hier in Form eines realistischen Berichts eine wirkliche Begebenheit. Es ist die Geschichte einer französischen Familie, die das Kind eines verfolgten deutschen Antifaschisten bei sich aufnimmt. Während die Frau das Kind ganz selbstverständlich, trotz der drohenden Gefahr, in die Familie integriert, muss der Mann im Laufe der Erzählung erst die politische Richtigkeit bzw. Notwendigkeit der Entscheidung einsehen (vgl. Hilzinger 2000, 117 f.). Im Unterschied zu den beiden anderen Erzählungen in Die Kinder fällt die anders geartete Perspektivierung auf, denn im Fokus steht hier eben nicht das Kind, sondern die obdachgebenden Erwachsenen (s. Kap. 11). Den Eingang der dritten Erzählung Die Tochter der Delegierten markiert die Mitteilung, dass die polnische Arbeiterin Felka von ihren Parteigenoss/innen zum Gewerkschaftskongress nach Moskau delegiert wurde. Da die kommunistische Partei Polens in den 1920er Jahren – wo die Geschichte Seghers’ situiert ist – verboten war, gestaltet sich diese Reise nach Moskau als gefährlich. Oberste Priorität hat zunächst die Unterbringung der elfjährigen Tochter, deren Vater bereits
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verstorben ist. Nachdem die kurzfristige Unterbringung bei Freunden scheitert, unterbreitet Jozia, die Tochter der Delegierten, den Vorschlag, allein in der gemeinsamen Wohnung zu bleiben. Der weitaus größte Teil der Erzählung wird aus der Perspektive der Tochter präsentiert. Das Kind, welches zu Beginn der Reise fast euphorisiert scheint und von der immensen Wichtigkeit des mütterlichen Parteiauftrags überzeugt ist, bekommt mit zunehmender Dauer des Fortbleibens der Mutter Zweifel und Ängste. Auf dem Höhepunkt der Erzählung erlebt man die Tochter in tiefer Einsamkeit und einem durch Hunger und Schlafmangel bedingten Delirium, das ihr Zeitgefühl zunehmend außer Kraft setzt (vgl. Ki, 97 f.). Die nächtlich heimkehrende Mutter findet ihr Kind schließlich geschwächt, aber erleichtert ob des glücklichen Ausgangs der geheimen Mission wieder. Die Entbehrungen des eigenen Kindes sind Felka durchaus bewusst, werden aber ob der wichtigen Einsichten, die der Kongress für den kollektiven Kampf der polnischen Genossen erbrachte, relativiert. Rezeption und Forschung Eine zeitnahe literaturwissenschaftliche Einordnung der Erzählungen in den einschlägigen Fachzeitschriften auf dem Gebiet der DDR unterbleibt. Allerdings gibt es dennoch eine Reihe von Rezensionen des Bandes in den Tageszeitungen der DDR, die sich dabei jedoch mehrheitlich auf eine Nacherzählung des Inhalts beschränken (vgl. Brandes WA II/4, 442). Die Erzählung Die verlorenen Söhne findet, losgelöst von dem Erzählband, kaum Beachtung und gilt als Vorbereitung für die im September und Oktober1951 stattfindende Chinareise Anna Seghers’, die sie zusammen mit einer DDR-Delegation anlässlich des zweiten Jahrestags der Gründung der Volksrepublik China unternahm (vgl. ebd., 407). Die Erzählung Die Tochter der Delegierten wird breiter rezipiert. Seghers führt hier das fort, was bereits den Essay »Frauen und Kinder in der Emigration« bestimmt hat: Der großen Idee wird das menschliche Zusammenleben untergeordnet. Die Kinder werden in diesem Prozess als Verbündete gesehen, deren Ängste und Zweifel toleriert (vgl. Das Viereck), während die Mütter sie in den wichtigsten Stunden allein lassen, um ihren politischen Auftrag zu erfüllen. Daraus resultiert die Wirkung des Textes in der DDR. Den Kindern und Jugendlichen des Landes sollte rechtzeitig ihre Aufgabe beim Aufbau der anderen Gesellschaft und eine entsprechende proletarische Haltung be-
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wusstgemacht werden. Die Erzählung wird zeitnah ins Englische und viele weitere Sprachen übersetzt und findet in der DDR Eingang in den Schulbuchkanon (vgl. WA II/4, 408). Im Jahr 1977 entsteht, »wie Seghers das wünschte« (Zehl-Romero 2008, 63), unter der Regie von Wojciech Ziwek eine DDR-Polen-Koproduktion für das Fernsehen mit dem Titel Jozia, Tochter der Delegierten. Vertiefende Forschungsarbeiten zu den Texten des Erzählbands Die Kinder sind nicht bekannt. Es gibt in einigen Überblicksdarstellungen zum Werk Seghers’ Erwähnungen des Erzählbands und meist wenige Sätze zur Einordnung der Erzählungen in den zeitlichen Kontext der Publikation. Häufig werden Die Kinder nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich in die Nähe der Friedensgeschichten von 1950 gerückt. Die Texte sind dabei auf eine »operative Funktion [reduziert] [...], die die Seghers ihren in rascher Folge am Beginn der fünfziger Jahre publizierten Arbeiten zudachte« (Sauer 1978, 141). Klaus Sauer macht sowohl für Die verlorenen Söhne als auch für Die Tochter der Delegierten »die Einübung revolutionärer Geduld als Voraussetzung der Teilnahme an Klassenkämpfen« (ebd.) als zentrales Thema aus. Dabei sieht er beide Geschichten, trotz der räumlichen und zeitlichen Entfernung von Nachkriegsdeutschland, als epische Antworten auf die aktuelle Situation (vgl. ebd.). Ähnlich argumentiert auch Frank Wagner, der anmerkt, dass die übergreifende Idee des Internationalismus im Hinblick auf die national- und welthistorische Aufgabe der Arbeiterklasse Seghers’ Werk bestimmt, so dass sie das »Ideen- und Kunstmaterial vieler Zeiten und Zonen, Epochen und Völker« kennen und verarbeiten können, womit in ihren Texten der »globale Zusammenhang aller Menschen in der Menschheitsgeschichte« zum Ausdruck gebracht wird (Wagner 1974, 145). Diese Positionen stützen durchaus das programmatische Selbstbild von Seghers, die sich auch als eine »Chronistin der kommunistischen und Arbeiterbewegung, die sie weit bis in die sechziger Jahre hinein als einen unaufhörlich fortschreitenden Prozeß – nach ›aufsteigender Linie‹ – ansieht« (Schrade 1993, 62), versteht. Neuere Forschungspositionen heben zwar auch den »didaktischen Impuls« (Brandes WA II/4, 407) der Erzählungen hervor, verweisen aber gleichzeitig auf die implizit eingeschriebenen Zweifel daran, »ob die großen Anstrengungen, die Gefahren und Verluste an gelebtem Leben im Dienste der Revolution gerechtfertigt sind« (ebd.). Sonja Hilzinger sieht gerade in den permanenten Kämpfen, denen hier die ursprünglichsten menschlichen Beziehungen zum Opfer fallen, eine
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besondere Tragik für die Kinder (vgl. Hilzinger 2000, 147). Lesbar sind die Erzählungen somit durchaus auch als Verarbeitung der Erfahrungen von Anna Seghers, »deren eigene Kinder ja nicht in Deutschland, sondern unter den schwierigen Bedingungen des Exils in Frankreich und Mexiko aufgewachsen sind« (ebd.). Die den Erzählungen eingeschriebene explizite Darstellung der Nöte sowie der Leiden und Opfer des Kampfes für ein besseres Leben machen auch etwas von der Müdigkeit und dem Utopieverlust der Erzählerin Seghers’ in den frühen Jahren ihrer Rückkehr deutlich (vgl. ebd., 148). Literatur
Bock, Stephan: Die neue Realität. Am Beispiel der Erzählungen ›Die Rückkehr‹, ›Friedensgeschichten‹, ›Der Mann und sein Name‹ und ›Agathe Schweigert‹. In: Peter Roos/ Friderike Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 121–133. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992.
Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Krenzlin, Leonore: Theoretische Diskussionen und praktisches Bemühen um die Neubestimmung der Funktion der Literatur an der Wende der fünfziger Jahre. In: Ingeborg Münz-Koenen [u. a.] (Hg.): Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960. Berlin 1979, 152–195. Melchert, Monika: Heimkehr in ein kaltes Land. Anna Seghers in Berlin 1947 bis 1952. Berlin 2011. Sauer, Klaus: Anna Seghers. München 1978. Schrade, Andreas: Der Schriftsteller als Propagandist des sozialistischen Aufbaus. Standortbestimmung nach der Rückkehr aus dem Exil. In: Argonautenschiff 2 (1993), 57–63. Schrade, Andreas: Entwurf einer ungeteilten Gesellschaft. Anna Seghers’ Weg zum Roman nach 1945. Bielefeld 1994. Wagner, Frank: Das Bild der Polen im literarischen Werk von Anna Seghers. In Weimarer Beiträge 7 (1974), 136–149. Zehl-Romero, Christiane: Anna Seghers und »ihre« Filme. In: Argonautenschiff 17 (2008), 53–67.
Markus Wiegandt
18 Der Mann und sein Name (1952)
18 Der Mann und sein Name (1952) Als die Erzählung Der Mann und sein Name 1952 erscheint, ist die DDR kaum drei Jahre alt. Anna Seghers hat sich erst zwei Jahre zuvor in Ostberlin niedergelassen und kann bereits in dieser Eingewöhnungsphase einen erfolgreichen Neuanfang verbuchen. Nach der Verleihung des Nationalpreises im Vorjahr wird sie 1952 zur Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbandes gewählt. Zeitgleich schwelen die ersten kulturpolitischen Konflikte. Seitdem Alexander Dymschitz 1948 den Kampf gegen den Formalismus in die SBZ getragen und Walter Ulbricht die Abwehr der dekadenten, ›abstrakten‹ Kunst 1951 zur Chefsache gemacht hat, zeichnen sich die ersten Tendenzen einer strikten Unterordnung der Literatur unter Politik und Ideologie sowie die Disziplinierung derjenigen ab, die sich nicht in das kulturpolitische Programm einpassen. Unter dem Eindruck des (auch) antisemitisch motivierten, stalinistischen Schauprozesses gegen Rudolf Slánský und dreizehn weitere KSČ-Mitglieder in Prag im Erscheinungsjahr von Der Mann und sein Name stellt sich auch den jüdischen Re-Migranten in Deutschland (wo die Prozesse 1955 mit der Verurteilung von Paul Merker fortgeführt werden) die eigentlich undenkbare und gänzlich unaussprechbare Frage, ob es in der antifaschistischen DDR antisemitische Tendenzen gibt (vgl. Zehl Romero 2003, 94, 137). So frisch Seghers’ beruflicher und intellektueller Neuanfang in dem sich gerade konsolidierenden Staat ist, dessen kulturelles Selbstverständnis sie entgegen aller besorgniserregender ›Begleiterscheinungen‹ aktiv mitgestalten wird, so dicht an die unmittelbare Gegenwart der jungen DDR ist die Handlung der Erzählung angelegt, die sich ganz dem Neuanfang und der Gestaltung der Zukunft widmet. Der Mann und sein Name könnte damit als frühes Stück Aufbau-Literatur gelten, würden sich Erzählanlass und Plot nicht allein auf das gerade erst Vergangene rückbeziehen: auf das Ende des Nationalsozialismus in buchstäblichen sowie menschlich-moralischen Trümmern.
Inhalt und Deutungsansätze Wie in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür (1947) kommt auch in Seghers’ Erzählung ein Mann zurück nach Deutschland. Zwar mit dem Leben davongekommen, aber desillusioniert und innerlich völlig abgestumpft, verkriecht er sich im Keller einer Berliner Häuserruine wie ein Tier in seinem Bau. Da er hand-
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werklich geschickt ist, beginnt der Unbekannte gegen Naturalien einfache Reparaturen zu machen und kann überleben. Die Figur, abwechselnd »der junge Mann«, »der junge Mensch« oder »der Fremde« genannt, war bei der SS, gesteht sich jedoch nur einen geringen Anteil persönlicher Schuld ein: »Was war ich schon groß? Der Stellvertreter des Stellvertreters« (MsN, 109). Seine Vergangenheit kann er so lange verbergen, bis er den Entnazifizierungsfragebogen ausfüllen muss und nicht weiß, was er »in die leeren Rubriken« (MsN, 106) eintragen soll. Ein plötzlich auftauchender Unbekannter, der sich Berg nennt und tatsächlich ein alter Bekannter des Mannes ist, kommt ihm zu Hilfe. Obwohl Berg seinen echten Namen kennt (der lautet Retzlow), gibt er ihm mit dem laut ausgesprochenen »Wahrhaftig! Heinz Brenner!« (MsN, 106) mehr als irgendeine falsche Identität. Er gibt ihm den Namen eines verfolgten antifaschistischen Kämpfers und damit den Baustein zu einer Legende, die das Fundament des sich nun aufbauenden Lügengebirges bildet. Als der falsche Brenner beginnt, einer geregelten Arbeit als Schlosser nachzugehen, kann er sich aus seiner Lethargie herausarbeiten. Er knüpft soziale Kontakte und entwickelt sich zu einem vorbildlichen Arbeiter, der sogar die Parteischule besucht, womit er auch den Kontakt zum zwielichtigen Berg abbricht. Das Gefühl, wieder eine Aufgabe zu haben, hilft Brenner bei seiner gesellschaftlichen Wiedereingliederung und zeitweise scheint er zu verdrängen, dass er, der ehemalige SS-Mann, den Namen eines Kommunisten trägt. Vor allem zu seinem Kollegen Lohmer und seinem Lehrer in der Parteischule baut Brenner Vertrauen auf. Mal meldet sich bei ihm ein schlechtes Gewissen, das ihn drängt, seinen Vertrauten die Wahrheit zu gestehen, mal tendiert er dazu, einfach alles zu verdrängen und mit seiner neu erlangten sozialistischen Identität, von der er immer überzeugter ist, zu überdecken. Alle Chancen, die sich Brenner für das eigenständige Aufdecken der Lüge bieten, bleiben indes ungenutzt, bis eines Tages alles auffliegt. Als er durch einen Zufall ein weiteres Mal auf Berg trifft, wird er von ihm enttarnt. Brenner landet vorm Betriebsausschuss, der ihn mit der härtesten Maßnahme bestraft: Er muss den Betrieb verlassen. Auffällig an Seghers’ Erzählung ist das auf mehreren Ebenen ausgearbeitete semantische Feld um die mit der Namenlosigkeit verbundene Identitätssuche oder -korrektur des Protagonisten. ›Der Mann‹ kann seinen echten Namen erst wieder führen, nachdem er die Lüge gestanden hat und bestraft wurde. Das Benennen und Bekennen von Schuld (vor sich und vor der Gemein-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_18
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schaft) sind damit auch die Schlüsselwörter, die den poetologischen Faden der Erzählung spinnen. Der innere Konflikt des Protagonisten, der darin besteht, dass er mehrere Chancen hat, seine Schuld zu bekennen, diese aber nicht nutzt, spitzt sich so lange zu, bis ihn die äußeren Umstände zwingen, zu gestehen. Die Konsequenz ist der Ausschluss von der Arbeitsstelle, mit einer Chance zur Bewährung: Er bekommt eine neue Arbeit an einem anderen Ort. Am Ende, nach dem langen Prozess der reinigenden Läuterung und erneuten Mühen, sich eine Existenz zu erarbeiten, nimmt das Kollektiv, also die sozialistische Gesellschaft als Ganzes, den einstigen Nazi wieder auf. Von der Last befreit, entwickelt sich der neue Retzlow zu einem besseren, ja: ›neuen Menschen‹ und er trägt seinen Teil zum Aufbau des Sozialismus bei. Am Ende bekommt Retzlow sogar seine alte Liebe, die junge Lehrerin Katharina, zurück. Ob es sich um ein Happy End handelt, bleibt zweifelhaft, wenn es im Schlusssatz der Erzählung heißt: »Sie werden sich liebhaben. Es wird nicht leicht sein« (MsN, 199; vgl. Zehl Romero 2003, 133). Hinter einer gewissen Holzschnittartigkeit der Handlungsabfolge und der Darstellung der Charaktere (inklusive der Unterbringung einiger Klischees zum Kalten Krieg) verbirgt sich die Intention, gegen das bereits kurz nach Ende des Krieges einsetzende Verdrängen anzuarbeiten. Geradezu parabelhaft wird der Appell übermittelt nicht zu vergessen und zwar anhand einer ambivalent ausgearbeiteten Figur, deren Namenlosigkeit sowie ›korrigierte‹ Lebensgeschichte auf die Leser/innen projiziert werden kann. Die moralische Lehre, die hier geliefert wird, besteht darin, dass man Schuld nicht allein für sich gestehen und verarbeiten kann, sondern dies in einem öffentlichen Prozess – in Form des öffentlichen Bekennens und Bereuens vor einer höheren Instanz – ausgehandelt werden muss. Im Zuge dessen ruft Seghers’ Text außerdem christliche Grundthemen wie Schuld, Bereuen, Beichten und Büßen auf, die hier jedoch allein auf das Primat des sozialistischen Staates übertragen werden.
Rezeption und Forschung Der Mann und sein Name wird in nahezu allen Übersichten und Biographien kommentiert oder zusammengefasst. Besonders die stets kurz ausfallenden Darstellungen der 1960er Jahre (vgl. Neugebauer 1971, 155) betonen die Relevanz, die Der Mann und sein Name künstlerisch beim Aufbau eines ›neuen Deutschlands‹ einnimmt: »Die Kraft der Partei [...] ist
auch hier in erster Linie wirksam, indem sie Walter Retzlaff [sic] zur kritischen Selbstbesinnung und in ein neues Dasein führt« (Seghers 1960, 23). Die zeitgenössische Rezeption der Erzählung im Erscheinungsjahr, insbesondere im Umfeld des Schriftstellerverbandes und der Kulturfunktionäre, war jedoch weitaus weniger harmonisch. In der Forschungsliteratur wird betont, es habe äußerst kontroverse Diskussionen (vgl. Hilzinger 2000, 138; Zehl Romero 2003, 132 f.) gegeben, die sich an der Darstellung des Wandels des SSMannes, der sich als Antifaschist ausgibt, zu einem vorbildlichen Sozialisten störten. Dabei sei es nicht der Wandel an sich gewesen, ein Prozess, der »zu den persönlichen Erfahrungen und literarischen Topoi jüngerer DDR-Autoren und -Autorinnen« (Zehl Romero 2003, 133) der Zeit gehörte, sondern eher die Differenziertheit und bis zum Ende nicht vollständig abgebaute Ambivalenz, mit der der innere Konflikt des Mannes von den Leserinnen und Lesern nachvollzogen werden kann – einschließlich offener Fragen, die bis zum Schluss nicht geklärt oder geglättet werden. Trotz des Hinweises, Der Mann und sein Name sei als Vorgriff auf die Grundkonstellation der Romane Die Entscheidung und Das Vertrauen zu verstehen (Batt 1973, 227), steht die Erzählung vor allem in der späteren wissenschaftlichen Analyse des Seghers’schen Werkes eher im Schatten bekannterer Erzählungen und Romane. In der Forschung wird die Erzählung u. a. als Beispiel aus der Schaffensphase unmittelbar nach dem Krieg behandelt oder unter Berücksichtigung von Einzelaspekten wie bspw. der Bedeutung des literarisierten Arbeitsgestus (vgl. Peitsch 2006) untersucht. Gleichwohl stellt Der Mann und sein Name einen paradigmatischen Text seiner Zeit dar, in dem nicht nur zeitgenössische Alltagsthemen wie die zerstörten Städte, das Leben in Ruinen oder der Wiederaufbau aufgenommen werden. Die politische Brisanz des Textes mag heute verblasst sein, besteht aus der Zeit heraus betrachtet aber darin, genau das künstlerisch umzusetzen, was in der unmittelbaren Gegenwart für den Wiederaufbau wichtig war und gerade zu Beginn der 1950er-Jahre zu wenig oder (noch) gar nicht reflektiert wurde: die Frage nach der (persönlichen) Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus, der Sühne dafür und die Frage nach dem ›Wie‹ dieser Sühne. Allem vorangestellt war dabei die Frage nach der Rolle, die der sozialistische Staat bzw. das sozialistische Kollektiv bei diesem Prozess spielen soll. Nicht zuletzt kann Der Mann und sein Name auch als eine Art Auseinandersetzung der Autorin mit ihren persönlichen Erfahrungen gelesen werden, die sie in
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den ersten Jahren nach der Rückkehr aus dem Exil machte. Seghers’ berufliche Rückkehr glückt mit Unterstützung der Partei. Zugleich wird sie aber daran gehindert, ihr kosmopolitisches Leben zwischen Deutschland, Frankreich und anderen Orten aufrechtzuerhalten. Nur zum Preis ihrer Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit (vgl. Zehl Romero 2003, 99) wird Seghers zur zentralen Akteurin der DDR-KulturElite. Andererseits scheitert eine konfliktlose mentale Rückkehr daran, dass ihr die in Deutschland Zurückgebliebenen gänzlich fremd geworden sind (vgl. ebd., 13, 134). Überliefert ist dieses innere Unbehagen in ihren Briefen an Freunde und Kollegen außerhalb Deutschlands (vgl. Seghers 2000; Zehl Romero 2003, 21), wobei sie die Dumpfheit und Unbelehrbarkeit der Deutschen, die angesichts des totalen Zusammenbruchs nichts gelernt haben und sich als Opfer stilisieren, besonders abgestoßen haben. Diese Grunderfahrung scheint sich vor allem in die ersten Kapitel von Der Mann und sein Name eingeschrieben zu haben, da gerade diese Szenen ein eindrückliches Bild der inneren moralischen Zerrüttung des Protagonisten Brenner/Retzlow zeichnet, was den persönlichen Arbeitstitel motiviert, den Anna Seghers ihrer Erzählung gab: Novelle vom Boesewicht (vgl. Zehl Romero 2003, 132). 1983 wurde die Erzählung für das Fernsehen der DDR unter der Regie von Vera Loebner verfilmt, die Figur des Retzlow wird von Ulrich Mühe gespielt, Berg von Eberhard Kirchberg und Katharina von Gesine Laatz.
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Literatur
Anna Seghers. Leben und Werk. Ein Literaturverzeichnis. Hg. vom Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Leipzig 1960. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Brockmann, Stephen: From Nacism to Socialism. Anna Segher’s ›Der Mann und sein Name‹. In: German Studies Review 37 (2014), 297–316. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. Berlin 2003. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Ihr Leben und Werk. Berlin 21971. Peitsch, Helmut: »Besinnungsloses Arbeiten« als Weiterwirken faschistischer Vergangenheit in Anna Seghers’ frühen Nachkriegserzählungen ›Die Rückkehr‹, ›Friedensgeschichten‹, ›Der Mann und sein Name‹. In: Argonautenschiff 15 (2006), 87–99. Renner, Wenzel: ›Der Mann und sein Name‹. In: Tägliche Rundschau (II), 24.4.1953. Seghers, Anna: Der Mann und sein Name. Erstausgabe. Berlin 1952. Seghers, Anna: Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947. Hg. von Christel Berger. Berlin 2000. Straub, Martin: »Sie bauten ihr furchtbar geschlagenes Land auf, selbst furchtbar geschlagen.« Anna Seghers’ Erzählung ›Der Mann und sein Name‹. In: Argonautenschiff 8 (1999), 103–116. Waligora, Lorenz: Anna Seghers: ›Der Mann und sein Name‹. In: Die Buchbesprechung 1952, H. 2, 45–46. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003.
Inga Probst
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19 Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden (1953) Bei der zweibändigen Bienenstock-Ausgabe von 1953 handelt es sich um die erste größere, aber nicht vollständige Sammlung der bis zu diesem Zeitpunkt von Seghers publizierten oder (in selteneren Fällen) erst hier erschienenen Erzählungen der Jahre 1929 bis 1952. Das Textkorpus ist in einen eigens für diese Veröffentlichung konstruierten zyklischen Rahmen eingebettet und zeitlich-chronologisch nach dem Entstehungsdatum der einzelnen Erzählungen geordnet. Die Bände zeugen von der für Seghers charakteristischen »Utopie einer besseren, sozial gerechteren Welt« (Brandes 1992, 6) und sind sowohl als Vergangenheits- wie auch als Gegenwartsbewältigung prägnant dem Gemälde der Zeithistorie verpflichtet. In ästhetischer Hinsicht zeichnen sich die zwei Bände besonders durch variationsreiche literarische Formen sowie durch eine erzähltechnische Vielfalt aus. Der für Seghers charakteristische »ästhetische Pluralismus« (Hilzinger 2000, 153) bestimmt auch die Bienenstock-Ausgabe in aller Deutlichkeit. Die Sammlung changiert zwischen dezidiert an das mündliche Erzählen ausgerichteten Erzählstrukturen (v. a. die Bauern von Hruschowo oder die Friedensgeschichten) und komplexeren, besonders kunstvoll ausgestalteten Erzähl- und Zeitkonstruktionen (v. a. »Der Ausflug der toten Mädchen«). Die Mehrzahl der in den Bänden enthaltenen Erzählungen ist zuvor bereits in kommunistischen Zeitungen und Zeitschriften aus dem Ausland (v. a. in Freies Deutschland) erschienen oder auch bereits in anderen Sammlungen veröffentlicht worden. Das Argonautenschiff wurde im Bienenstock erstmalig in Buchform gedruckt. Darüber hinaus sind die Erzählungen Die Stoppuhr und Die Rückkehr hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Die in einem Zeitraum von über zwanzig Jahren verfassten Erzähltexte sind von unterschiedlichster Länge: von zwei Seiten (wie Die Stoppuhr, Der Führerschein, Das Viereck) bis hin zu fast 80 Seiten, wie es bei den längeren Erzählungen Das Ende, Die Saboteure, Die Hochzeit von Ha iti, Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe oder Die Rückkehr der Fall ist. Abgerundet werden die zwei Bände durch eine einleitende und eine abschließende Rahmenfiktion (Der Bienenstock, Bd. I., und Der erste Schritt, Bd. II). Beide Texte werden im Inhaltsverzeichnis durch Kursivsetzung hervorgehoben und sind auf einer Metaebene angesiedelt; sie stellen als äußere und
kunstvolle Rahmenhandlung eine ›Fiktion in der Fiktion‹ dar: »Ich will hier ein paar Geschichten aufschreiben, die ich dort gehört habe« (Bst I, 9). Seghers hat ihre Rahmenhandlung und die dazugehörigen Binnenerzählungen unter der poetologischen Prämisse eines »Knotenpunkt[s] vieler Fäden« (Bst II, 367) zu einem umfangreichen und inhaltlich vielseitigen »sympoetische[n] Gesamtkunstwerk« (Beck 2008, 581) gruppiert. Es finden sich Auszüge einzelner Kapitel aus von ihr bereits veröffentlichten Romanen wieder (Aufstellen eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kamptschik aus Der Weg durch den Februar), Sagen und Mythen (Die schönste Sage vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Argonautenschiff) sowie Erzählungen zu großen sozialen Konflikten von der Französischen Revolution (z. B. Die Hochzeit von Haiti) über den europäischen Faschismus (z. B. Das Ende) bis hin zur deutsch-deutschen Teilung (v. a. Die Rückkehr und der Zyklus Friedensgeschichten). Der Band lässt damit bisweilen aktuell-politische Dimensionen hinter sich und bietet dem Rezipienten aus den verschiedensten Blickwinkeln weltanschauliche und lebensgeschichtliche Überlegungen an. Die exotisch-historischen Stoffe – z. B. die Aufstände auf den Karibischen Inseln am Ende des 18. Jahrhunderts und die Anfänge der chinesischen Volksrevolution – sollten zwar nicht unreflektiert auf aktuellere geschichtliche Dimensionen übertragen werden, sie fungieren dennoch mitunter als eine Art »Modellcharakter für die Gegenwart, die am historischen Material klarer und verständlicher gemacht werden kann« (Schrade 1993, 91).
Rahmenfiktion und Binnengeschichten des ersten Bandes Der dreiseitige Vorspann zum Bienenstock, welcher bereits die Rahmengeschichte für Der erste Schritt (zuerst veröffentlicht in der Täglichen Rundschau, 19.10. – 4.11.1952) darstellte, zitiert und variiert ältere literarische Vorbilder rahmenzyklischen Erzählens wie vor allem Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Wielands Hexameron, Tiecks Phantasus, E. T. A. Hoffmanns Serapionsbrüder oder auch die orientalischen Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht (vgl. Hilzinger 2000, 153). Die Rahmenhandlung bietet nicht nur vereinzelte Hinweise auf den autobiographisch gefärbten Hintergrund des Erzählband-Titels – so hieß das Internat der Privatschule bei Bellevue, welches die Kinder von Seghers besuchten –, sondern verweist auch sinnbildlich auf die poetologischen Prämis-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_19
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sen der Autorin. So kann die detaillierte Beschreibung des Hauses, in dem sich die illegal angereisten, vom kommunistischen Gedankengut überzeugten Teilnehmer/innen eines internationalen Friedenskongresses zum Erzählen treffen, auf die schriftstellerische Dimension der Autorinstanz übertragen werden: »Doch der, der jetzt im ›Bienenstock‹ wohnt, hat selbst nur einige Reihen hinzugefügt« (Bst I, 8). Das erzählende Ich, so wird es in der fiktionalen Selbstdarstellung inszeniert, schreibt nahe an der Zeithistorie und will unmittelbar aus dem Leben heraus erzählen (»Ich will hier ein paar Geschichten aufschreiben, die ich dort [im Bienenstock-Haus; N. J. S.] gehört habe«; Bst I, 9). Die daraus resultierende untrennbare Mischung aus Phantastik und Realitätsbezug, die auch in ihren Erzählungen zum Ausdruck kommt, wird bereits im Vorspann offensichtlich: »Der eine sagte: ›Ich möchte ein Märchen hören.‹ Der andere sagte: ›Ich nur, was wirklich passiert ist.‹ Und manche wollten am liebsten alles hören« (Bst I, 9). Auffällig sind die biographischen Parallelen zu diversen Aktivitäten Seghers’ rund um das Erscheinungsjahr der Bienenstock-Ausgabe: Im Jahre 1950 wurde die Autorin zum Mitglied des Weltfriedensrates und zum Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste berufen, 1951 erhielt sie den Stalin-Friedenspreis und seit 1952 wiederum war sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR – allesamt hohe Ämter, deren Arbeitsintensität sinnbildlich mit dem regen Tun im Bienenstock verglichen werden kann. Das Bienenstock-Haus kann damit auch insbesondere als eine allegorisch-utopische Darstellung einer politisch-gesellschaftlichen Wegweisung in eine friedvollere Welt verstanden werden: »Wenn ich irgendwo krank lag oder in Schwierigkeiten geriet, dann dachte ich, dort [im Bienenstock] müßte alles wieder in Ordnung kommen« (Bst I, 7). Die Unterkunft stellt als gemeinschaftsbildender Bienenstock eine künstliche Arbeitsnische dar, in der das darin befindliche ›Volk‹ (die Teilnehmenden des Friedenskongresses) fleißig für eine bessere Welt arbeitet: »Die Jugend wartet ungeduldig auf unsere Berichte, auf unsere Erzählungen« (Bst II, 368). Bienen gelten in der griechischen Mythologie als himmlische Boten, die dem Menschen göttliche Gaben wie Weissagung oder Wegweisung bringen, aber auch Nachrichten in die geistige Welt befördern sollen. Nach dem einleitenden Rahmentext folgt die einführende Erzählung des ersten Bandes unter dem Titel Bauern von Hruschowo (1929), die bereits in dem Band Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft publiziert wurde. Die Seghers’sche Erzählsammlung be-
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ginnt folglich mit dem »erste[n] Text, der von marxistischen Positionen durchdrungen ist« (Brandes 1992, 37). Auf diese Erzählung folgen wiederum zwei Kurzgeschichten, die aufopferungsvolle kommunistische Heldentaten im Kontext der chinesischen Revolution thematisieren: die im Jahre 1932 erschienene kurze Geschichte Die Stoppuhr, in der es um die Schilderung eines Massenkampfes gegen die roten Provinzen im Süden Chinas geht, für welche deutsche Offiziere engagiert werden, sowie der knappe Text Der Führerschein. Im Führerschein wird die ›Heldentat‹ eines chinesischen Chauffeurs erzählt, der ein Auto mit japanischen Offizieren, die ihn zur Fahrt zwingen, mit Absicht in den Yangtse-Fluss fährt. Der Text kann u. a. als Allegorie für den starken Widerstandswillen des chinesischen Volkes im Kampf gegen die japanische Invasion gelesen werden. In der darauffolgenden Erzählung Der letzte Weg des Kolloman Wallisch (1934) geht es in Analogie zur vorangegangenen Erzählung um die Schattenseiten des Klassenkampfes, nämlich um einen ermordeten »Bolschewik« (Bst I, 45), der »Fleisch war vom Fleisch der Arbeiterklasse, das man gequält hat« (Bst I, 54). Nach dem Romanauszug Aufstellen eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kamptschik aus dem Roman Der Weg durch den Februar und der weniger als drei Seiten umfassenden Geschichte Das Viereck, in der die Tochter das Vermächtnis ihres toten Vaters, der als revolutionärer Kämpfer ermordet wurde, erhalten will, wechselt der Erzählton ins Märchen-, Sagen- und Mythenhafte: Im phantastischen Gewand werden eine Räubergeschichte (Die schönste Sage vom Räuber Woynok) und die romantisch-wunderbaren »Sagen« der Göttin »Artemis« erzählt. Diese komplexen Erzählungen stellen keine unvermittelten politischen Texte dar – was aber nicht impliziert, dass sie völlig »jenseits zeitgeschichtlicher Bezüge« (Batt 1980, 116) zu verankern sind: Es geht um grundlegende Auseinandersetzungen mit allgemein-menschlichen Aspekten wie vor allem den Möglichkeiten und Gefahren des Einzelgängertums und der Frage nach dem Glauben an eine göttliche Vorhersehung oder an das Schicksal. Auch in den drei kurzen, 1940 entstandenen und 1946 erstmals publizierten parabelhaften Baumge schichten Die drei Bäume (Der Baum des Ritters, Der Baum des Jesaias, Der Baum des Odysseus) geht es um Grundsätzliches, nämlich um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sowie um Reflexionen hinsichtlich eines diesbezüglichen zeitgeschichtlichen Wandels. Dient der Baumstumpf bei Odysseus in der
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letzten der drei Parabeln noch als Material für die Menschen (hier für den Bau eines Bettes), so stellt die erste Baumgeschichte vielmehr eine Parabel für die Allmacht der Natur dar, denn der wachsende Baum siegt über den Menschen, der in einer hohlen Buche umkommt (vgl. Schrade 1993, 59). Heinz Neugebauer liest die Trias aufgrund ihrer »Variationen um Folgen von Furcht, Flucht, Entfremdung und Vertrauensverlust« als »Gleichnisse für Emigrantenproblematik« (Neugebauer 1980, 73). Anschließend geht es erneut um konkrete zeitgeschichtliche Dimensionen: In der Erzählung Das Obdach (1941), die auch bereits in der kleinen Sammlung Die Kinder publiziert wurde, beweist eine Frau ihr moralisches Handlungsbewusstsein, in dem sie im besetzten Paris einen von der Gestapo verfolgten Jungen mutig zu sich nach Hause nimmt und in ihrer antifaschistischen Haltung auch den Ehepartner geschickt überlistet. Anschließend folgt das künstlerisch sehr ambitionierte und bekannte Requiem Der Ausflug der toten Mädchen, deren schwermütige Kriegsschicksale zusammen, wie es im Text heißt, »das Schicksal der Heimat, das Schicksal des Volkes ausmachen« (Bst I, 163). In der umfangreichen Erzählung Das Ende wiederum wird der Innensicht eines Nazi-Schergen viel Platz eingeräumt; der Text liefert einen fundierten Blick in die Psyche eines Täters, der in einen unreflektierten Rechtfertigungsmodus verfällt. In der protokollartigen, nüchternen und doch am Ende hoffnungsvoll anmutenden Erzählung Die Saboteure geht es ebenfalls um eine Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart, hier allerdings aus einem völlig anderen Blickwinkel: aus der Perspektive der Widerstandskraft aktiver Antifaschisten. In der darauffolgenden Erzählung Argonautenschiff werden indes über eine freie Bearbeitung um den mythischen Jason-Stoff erneut existentielle Fragen über den Weg ins Sagenhaft-Wunderbare gesucht. Der Band endet anschließend mit zwei historisch-exotischen, ästhetisch komplexen Erzählungen rund um das Thema Sklaverei, die wiederum 1962 gemeinsam mit Das Licht auf dem Galgen, in den Karibischen Geschichten veröffentlicht wurden: Die Hochzeit von Haiti (1948) und Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1948). Es handelt sich in beiden Fällen um umfangreiche interkulturelle bzw. postkoloniale Erzähltexte (vgl. Uerlings 1997, 50–124). Die Hochzeit von Haiti steht nicht willkürlich am Ende des ersten Bandes; schließt er doch mit »dem Ausblick auf die Fortführung der Revolution, die momentan eine Niederlage erlitten hat« (Schrade 1993, 93). Das revolutionäre
Denken gewinnt damit eine überzeitliche Dimension, »eine Perspektive über die Niederlage hinaus« (ebd.), an der das Hoffnungsvoll-Utopische haftet, das freilich (noch) nicht erreicht worden ist. Für die Autorin stand die Vision eines friedlichen Zusammenlebens zeit ihres Lebens im Blickfeld des Interesses – dies symbolisiert auf prägnante Weise auch der »solidarische[] Zusammenhalt [der] friedlichen Gemeinschaft« (Hilzinger 2000, 152) im Bienenstock-Haus. Der Bienenstock mit seiner zyklischen Erzählstruktur fungiert damit symbolisch als eine Art Zufluchts- und Regenerationsort, an dem mit Hilfe von Kampfesmut und mitmenschlicher Solidarität der unermüdliche Einsatz für eine positivere Zukunft im Mittelpunkt steht.
Binnengeschichten und Rahmenfiktion des zweiten Bandes Der zweite Band des Bienenstocks beginnt mit der bei Seghers sehr beliebten China-Thematik (s. Kap. 41): In der Erzählung Die Überbringung des neuen Programms an das Südkomitee (1949) geht es um den langen, lebensgefährlichen Weg, den Liau Han-sin in Kauf nimmt, weil er vom Zentralkomitee beauftragt wurde, entscheidende Änderungen (v. a. zur Landverteilung) an das Südkomitee zu übermitteln. Diese wurden dort jedoch bereits längst erfüllt und stimmen Satz für Satz mit dem überein, was das Zentralkomitee vorzuschlagen intendierte. Das glückliche Ende verweist auf die erfolgreiche Initiation neuer Regelungen, insofern diese konsensfähig sind und alle gemeinsam daran arbeiten, sie zum Allgemeinwohl ein- bzw. umzusetzen. Es folgen die ebenfalls 1949 entstandenen kürzeren Erzählungen Die Kastanien und Die gerechte Verteilung; beide Texte sind bereits 1950 gemeinsam mit der Überbringung des neuen Programms an das Südkomitee in dem Erzählband Die Linie erschienen. In den Kastanien geht es thematisch um den Hitler-StalinPakt und den diesbezüglichen Widerstand in Frankreich – wobei eine proklamierte Rechtfertigung der Taktik Stalins in den Mittelpunkt gerät. Hilzinger sieht in diesem Text »die fast schon euphemistische Deutung, dass die Kommunisten für Stalin die Kastanien aus dem Feuer zu holen hatten« (Hilzinger 2000, 53). Der stark parteilich-erziehende Ton findet sich dann auch in Die gerechte Verteilung wieder: Hier wird Kusmin – er ist Mitglied einer Kommission zur Beschleunigung der Kollektivierung – im Jahr 1928 von seinem Stiefvater gerade deshalb so gelobt, weil er die marxistischen Grundsätze der »gerechten Verteilung« er-
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kennt, welche wiederum auf der besagten Versammlung genau so beschlossen werden, »wie Marx es sich vorgestellt hat, wenn der Sozialismus gesiegt haben wird« (Bst II, 51). Die lange DDR-Erzählung Die Rückkehr (1948) über den Kriegsheimkehrer Werner Funk ist im Bienenstock erstmalig veröffentlicht worden; es handelt sich um den ersten literarischen Text, den Seghers nach der Rückkehr aus dem Exil wieder in Deutschland publiziert hatte – die biographischen Parallelen sind hier offenkundig. Fiona Pröll bezeichnet »Die Rückkehr« als »Mitbegründertext der DDR-Literatur« (Pröll 2017, 27). Thematisch geht es um das gespaltene Deutschland nach 1945 und die Sehnsucht nach der Verwirklichung einer nach humanistischem Ideengut konzipierten sozialistisch-demokratisch geprägten Nachkriegsgesellschaft: Der sich im Selbstfindungsprozess befindliche Funk, der zunächst versucht, im Westen »Ruhe und Frieden« (Bst II, 54) zu finden, weil ihm die sowjetische Besatzungszone so ›fremd‹ (Bst II, 60) geworden ist, kehrt doch am Ende wieder zu seiner Familie im Osten zurück. Auch wenn sich der Text bisweilen von einer allzu idealtypisch-idealistischen Überhöhung der DDR löst, indem etwa Funks kritische Reflexionen offengelegt werden (»Ich bin weg aus dem Osten; denn ich hab mich nach einem Ort gesehnt, wo man einen in Ruhe läßt, und nicht in einem fort vom Menschen verlangt, daß er seine ganze Kraft hergibt«; Bst II, 114), so wird doch am Ende die SBZ bzw. die DDR zu einem kommunistischen »Idealbild« stilisiert, in dem die mehrfach wiederholte Sentenz »Der Traum kann Wirklichkeit werden« (Bst II, 105) zumindest realisierbar erscheint. Nach der mexikanischen Novelle Crisanta folgen sechs Friedensgeschichten: Das Urteil, Die Umsiedlerin, Der Traktorist, Der Kesselflicker, Der Landvermesser, Das Erntedankfest. Die Friedensgeschichten sind allesamt um 1950 entstanden und widmen sich am Beispiel einzelner Lebensschicksale ›normaler‹ Leute in zuversichtlicher Manier der unmittelbaren Wirklichkeit im neuen DDR-Staat. Der Blick wird besonders auf einen lebensweltlichen Neuanfang im Zeichen einer innovativen friedlichen Geschichtsepoche, die das sozialistische Gedankengut bringen wird, gerichtet: Auch wenn die Hauptfiguren anfangs noch misstrauisch gestimmt sind und Zuversicht und Vertrauen erst einmal gewinnen müssen (»ob wirklich etwas an dieser Freiheit dran sei«; Bst II, 177), zeigt doch bereits die Bodenreform (»die Erde vergaß den Krieg«; Bst II, 173), dass auch der Einzelne durch aktive Teilnahme am Aufbau einer neuen Gesellschaft – so die literari-
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sche Inszenierung – zu seinem individuellen Glück gelangen kann. Einzelne Teile der Friedensgeschichten sind bereits um 1950 in Zeitschriften veröffentlicht worden. Nach Hilzinger können die Geschichten als »propagandistische Illustration der ›antifaschistischdemokratischen Umwälzung‹ der ersten Nachkriegsjahre der DDR« beschrieben werden, ohne allerdings einer allzu getreuen, platten Linie zu folgen, da die brüchige Entwicklung [gleichsam] nicht ausgespart wird (vgl. Hilzinger 2000, 153). Nach dem Friedensgeschichten-Zyklus folgen zwei Erzählungen, die zuvor bereits in der Sammlung Die Kinder erschienen sind: Die Tochter der Delegierten und Die verlorenen Söhne (s. Kap. 17). In dem darauffolgenden Prosatext Der Mann und sein Name, welches als letztes Werk vor der Rahmenerzählung Der erste Schritt als optimistischer Blick in den revolutionären Umbruch fungiert, geht es um die sukzessive Umerziehung eines ehemaligen Nazis zum überzeugten Sozialisten. Der zweite Band wird durch die knappe, in einem einfachen Erzählton gehaltene Rahmengeschichte Der erste Schritt abgeschlossen. In dieser abschließenden Metaerzählung wird erneut das gesellige Erzählen im Bienenstock-Haus thematisiert. Nach einer zweiseitigen Einführung, durch die der Rezipient wieder zum Erzählort des Bienenstocks zurückkehrt, werden in diesem Zyklus mehr als zwanzig kurze und fiktive Personenporträts dargeboten, in denen in reportageartiger Form diversen männlichen und weiblichen Delegierten verschiedenster Herkunft das Wort gegeben wird: »Wir hatten uns wieder alle Art von Geschichten aus unseren Leben und Heimatländern erzählt« (Bst II, 367). Es handelt sich um eine zufällig zusammengekommene Gesprächsrunde, in der jeder von sich und seinem individuellen Weg in die Friedensbewegung berichtet: »So was hört man nicht oft« (Bst II, 456), denn es geht doch in erster Linie um die erdrückenden dunklen Seiten des Lebens, die hier kulminieren und ›erzählt‹ werden müssen: Streiks, Verfolgungen, Verhaftungen, die revolutionären Unruhen der Nachkriegszeit, Tod und vieles mehr. Mit Blick auf die narrative Selbstreflexivität ordnet sich Seghers insgesamt betrachtet in ihrer abschließenden Rahmenfiktion in die literaturgeschichtliche Tradition rahmenzyklischen Erzählens ein (vgl. Kleinschmidt 2018, 291–298). Für das 20. Jahrhundert allerdings wird die Motivierung des Erzählens deutlich verschoben: Mehr denn zum unterhaltenden Zeitvertreib durch gesellige Unterhaltung oder zur Flucht vor Unheil geht es bei Seghers auch immer wieder um die
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normative Funktion des Erzählens, gegen die aktuellen »Widrigkeiten der Welt« (Japp 2018, 14) anzu schreiben und damit gleichsam eine therapeutische Arbeit zu leisten. Allen Teilnehmenden ist die Utopie einer besseren Welt gemeinsam; der »erste Schritt« kann sich allerdings bisweilen auch als sehr mühselig erweisen: »Was ihr den ›ersten Schritt‹ nennt, bedeutet selten, daß man sofort einen neuen Weg einschlägt. Man geht oft auf seinem alten weiter, bis einem klar wird, daß man schon längst hätte abbiegen müssen« (Bst II, 374). Es handelt bei dieser Erzählung also nicht bloß um einen ernüchternden, chronikartig angelegten Bericht, sondern am Ende wird, trotz aller Hürden, die es zu überwinden gilt, der Glaube an eine Kehrtwende akzentuiert und ein eher optimistischer Blick in die Zukunft vermittelt.
Rezeption und Forschung Auffällig ist, dass die sehr frühen Erzählungen von Seghers, die sich noch nicht als dezidiert politisch-ideologisch gefärbte Texte einer kommunistischen Revolutionärin erweisen, in dem zweibändigen Sammelband des Bienenstocks fehlen – vor allem die szenisch-episodisch strukturierte Erzählung Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara. Einige in den zwei Bänden fehlende Erzählungen finden erst zehn Jahre später Eingang in die erweiterte Bienenstock-Ausgabe, die nunmehr aus drei Bänden besteht, aber auf einen spezifischen, eigens für diese Sammlung angefertigten Erzählrahmen verzichtet. Auch der jüdische Text Post ins Gelobte Land (1949) wurde erst 1963 in die erweiterte Sammlung aufgenommen, in der aber immer noch u. a. die in der Forschung bislang weniger beachtete satirische Erzählung Reise ins lfte Reich (1939) fehlt, in der es um die schwierige Situation von Emigranten geht, sich an ein fremdes Land anzupassen. Diese offensichtlichen »Lücken« spiegeln nach Hilzinger »die selektive Seghers-Rezeption in der frühen DDR« (vgl. Hilzinger 2000, 153) deutlich wider. In der Forschungsliteratur ist die zweibändige Bienenstock-Ausgabe als eigenständige Publikation mit einem speziell für diese Sammlung konstruierten Erzählrahmen bislang wenig beachtet worden, obgleich die Erforschung der variationsreichen Formen des rahmenzyklischen Erzählens in der Geschichte der europäischen Literaturen in den letzten Jahren einen bedeutsamen Aufschwung erfahren hat und die Rahmenhandlung als eigenständige narrative Form vermehrt in den Mittelpunkt geraten ist (vgl. Klein-
schmidt/Japp 2018). Mit Blick speziell auf Seghers sind weitergehende Untersuchungen erstrebenswert, die insbesondere das dialogische Verhältnis zwischen der Rahmenhandlung und den einzelnen Binnenerzählungen genauer analysieren und eine ausführlichere intertextuelle Verortung der Seghers’schen Publikation innerhalb der europäischen Tradition des literarischen Rahmenzyklus vornehmen. Hinsichtlich der einzelnen Erzählungen wiederum variiert die Forschungslage, je nach Bekanntheitsgrad der Texte, stark: Neben den vielfach beachteten Erzählungen Argonautenschiff und Der Ausflug der toten Mädchen wurden insbesondere die kürzeren Erzähltexte (v. a. Die Stoppuhr, Der Führerschein, Der letzte Weg des Kolloman Wallisch, Das Viereck, Die drei Bäume) von der Forschung bislang selten berücksichtigt und vorwiegend in den größeren Zusammenhang ihrer schriftstellerischen Entwicklung eingebettet, die sich speziell auf ihre Erzählungen fokussiert. Literatur
Arnold, Heinz Ludwig: Widerstand, Utopie, Macht. Anna Seghers: Das Vertrauen. In: Karl Deiritz/Hannes Krauss (Hg.): Verrat an die Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Berlin 1993, 160–166. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Mit Abbildungen. Leipzig 21980 Beck, Andreas: Geselliges Erzählen in Rahmenzyklen. Goethe – Tieck – E. T. A. Hoffmann. Heidelberg 2008. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Japp, Uwe: Einleitung. In: Christoph Kleinschmidt/Uwe Japp (Hg.): Der Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen. Von Boccaccio bis Goethe, von Chaucer bis Gernhardt. Heidelberg 2018, 9–23. Kleinschmidt, Christoph/Japp, Uwe (Hg.): Der Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen. Von Boccaccio bis Goethe, von Chaucer bis Gernhardt. Heidelberg 2018. Kleinschmidt, Christoph: Nachwort. In: Ders./Uwe Japp (Hg.): Der Rahmenzyklus in den europäischen Literaturen. Von Boccaccio bis Goethe, von Chaucer bis Gernhardt. Heidelberg 2018, 279–298. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Berlin 1980. Pröll, Fiona: Der innerdeutsche Vergleich in Anna Seghers’ ›Die Rückkehr‹. Gut und Böse im Dienst sozialistischer Propaganda? Berlin 2017. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart 1993. Seghers, Anna: Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden. Berlin 1953. Seghers, Anna: Der Bienenstock. Gesammelte Erzählungen in 3 Bänden. Berlin 1963 (erweitert, ohne Rahmen). Uerlings, Herbert: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte. Tübingen 1997.
Nadine J. Schmidt
20 Die Entscheidung (1959)
20 Die Entscheidung (1959) Der erste Hinweis auf den Plan für Die Entscheidung ist im Brief vom 6.4.1946 von Anna Seghers aus MexikoStadt an Johannes R. Becher in Berlin belegt. Darin berichtet die Schriftstellerin über ihre Idee für einen Roman, »der mit den Schicksalen einer Familie zu tun hat, die an der Entstehung und am Aufbau eines grossen deutschen Konzerns beteiligt war. Ich denke dabei an I. G. Farben, Hoechst, und Opel, Ruesselheim (General Motors)« (Br1, 187). Die Jahre in Deutschland unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil 1947 sind für Seghers aber voll intensiver Arbeit. Zum anderen muss sie auch »lernen, den Mühen der ›nachrevolutionären‹ Ebenen des sozialistischen Alltags Stoffe abzugewinnen« (WA I/7, 659). Dafür schreibt sie »vier Reportagen« (Bock 2013, 111; vgl. WA I/7, 663–666) und »sechs Kleinerzählungen bzw. Erzählungsfragmente« (Diersen 1992, 109) mit Gegenwartssujet, unpublizierte Urquellen für Die Entscheidung, und besucht u. a. das Stahl- und Walzwerk in Riesa in Sachsen (vgl. WAI/7, 659 f.; Bock 2013, 112 f.), das bis 1945 im Besitz vom Stahl-Tycoon Friedrich Flick war, um dann vollständig demontiert und später neu aufgebaut und in die Planwirtschaft der DDR eingebunden zu werden. In literarischem Gewand ist dieser Kontakt im Essay »Was geschah und was blieb« (1968, KuW4, 78–81), »[a]ls Nachwort zum 1. Teil und Vorwort zum 2. Teil des Romans Die Entscheidung bezeichnet« (KuW4, 218), nachweisbar. Während sich Thema und Form des geplanten Romans profilieren, sammelt Seghers wichtige Informationen zum historischen Kontext, die sie sorgfältig notiert (vgl. WAI/7, 660). Am 29.6.1951 berichtet sie: »Ich sammele [...] Material fuer einen internationalen Industrieroman« (Br1, 390). Nach ihren Kalendereintragungen hat die Autorin Ende August 1953 mit der Niederschrift begonnen (Zehl Romero 2003, 147, 151, 373). In direktem Zusammenhang mit ihrem Romanprojekt stehen u. a. die mehrwöchigen Studien 1954 im Tolstoj-Archiv im Landgut Jasnaja Poljana bei Tula, die Seghers macht, um den Entstehungsprozess von Krieg und Frieden zu erforschen (s. Kap. 38). »Sie sind eine Art konzeptionelle Vorarbeit (bzw. Bestätigung) für das eigene Projekt, die ›neue Wirklichkeit‹ in ihren tiefen geschichtlichen Dimensionen zu erfassen« (Schrade 1993, 113). Sie sucht bei Tolstoj Rat zur Gestaltung eines zeitgeschichtlichen Sujets, das ihr entgegen des antifaschistischen Kampfes ganz neu ist: dem sozialistischen Aufbau in Ost-Deutschland. Problematisch scheint dabei aber nicht nur die Tat-
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sache zu sein, dass die literarisch zu gestaltende Realität nicht zur Grunderfahrung der nun über fünfzig Jahre alten Schriftstellerin gehört (Hilzinger 2000, 71), sondern vor allem die Spur des Stalinismus (ebd., 69), die besonders in der letzten Arbeitsphase am Roman gut sichtbar ist. Angesichts der Ereignisse der Jahre 1956–1957 (XX. Parteitag der KPdSU, Ungarn-Aufstand, Harich-Janka-Prozesse in der DDR) unterbricht Seghers sogar die Niederschrift des Romans, um ihre Empörung (Radvanyi 2005, 128), ihre »Sorgen« (Zehl Romero 2003, 170) und ihre »tiefe Enttäuschung« (ebd., 178) in Erzählungen wie Vierzig Jahre der Margarete Wolf (1957) und Der gerechte Richter (posthum 1990) zu verarbeiten, die – anders als die ideologisch konforme Erzählung Brot und Salz (1957) – ihre desillusioniert-kritische Einstellung zur historischen Realität vermitteln. 1958 wählt die Autorin schließlich »den plakativen Titel« (Zehl Romero 2003, 189; vgl. 387) Die Entscheidung für den Roman und schreibt ihn fertig. Im November wird der Vertrag mit dem Aufbau Verlag unterschrieben, der das Buch 1959 herausbringt – gleich nach der Publikation erhält Seghers zum zweiten Mal den Nationalpreis der DDR. 1961 erscheint die russische Übersetzung im Moskauer Verlag für Fremdsprachige Literatur, in der BRD wird der Roman erstmalig 1977 im Luchterhand Verlag publiziert. Ein Film-Projekt in den 1960ern in der DDR wird nicht realisiert (vgl. Br2, 118, 136, 200, 420 f.; Zehl Romero 2008, 62 f.). 1968 erscheint der zweite Teil von Die Entscheidung mit dem Titel Das Vertrauen.
Inhalt Die Handlung von Die Entscheidung ist auf den Aufbau eines im Zweiten Weltkrieg »zertrümmert[en]« (E, 15) und dann vom »Russe[n] [...] demontiert[en]« (E, 16) Stahlwerks im fiktiven Kossin von Oktober 1947 bis zum frühen Herbst 1951 fokussiert. Parallel zum Wiederaufbau des volkseigenen Betriebs in Ost-Deutschland, das bis 1945 im Besitz der Familie Bentheim war, steht die Neuerrichtung – mit Unterstützung durch den Marshallplan – des Bentheim-Stahlwerks im erdachten Hadersfeld in West-Deutschland, ehemals Filiale der Firma in Kossin (vgl. Kriele 2016). Einzelne Episoden in den USA, Mexiko und Paris ergänzen in drittrangigen Handlungssträngen die Geschichte. Die verschiedenen Schauplätze werden– neben etlichen privaten und professionellen Bindungen der Figuren– durch die Reisen des Schriftstellers Herbert Melzer
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_20
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miteinander verbunden. Aus den USA kommt er zuerst nach Mexiko, dann nach Paris und schließlich in die BRD, um dort bei einer Demonstration von Metallarbeitern tödlich zu verunglücken. Sein Buch zum Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939), an dem er als Kämpfer der Internationalen Brigaden teilgenommen hat, soll am Ende in der DDR veröffentlicht werden und dort seine Leser finden (E, 593 f.; vgl. V, 430). An Melzer erinnern sich der Arbeiter Robert Lohse, der den Schriftsteller bei den Interbrigaden in Spanien kennengelernt hat, und der alte Lehrer Waldstein, nun Schulleiter des Ostrowski-Schulheims in Greilsheim in der SBZ/DDR, in der Schluss-Szene von Die Entscheidung. Zwei Drittel des Romans sind den Figuren und dem Geschehen in Kossin gewidmet. Einige Arbeiter hier sind überzeugte Sozialisten, wie z. B. Lohse, während andere dem sozialistischen Aufbau eher skeptisch gegenüberstehen, wie z. B. der alte Janausch. Für Ideologisierungsarbeit zuständig sind Parteifunktionäre wie Richard Hagen, vormals auch Interbrigadist in Spanien; über Wirtschaftspolitik entscheiden legendäre Kommunisten wie Martin, der nun »im Ministerium für Schwerindustrie« (E, 516) arbeitet. Der angesehene Prof. Berndt ist der Werkleiter, mit ihm arbeiten die Ingenieure Toms, Büttner, Riedl, Rentmair, Nerling und Zibulka, sowie Petrow, der sowjetische Kontrolloffizier. Ihre jeweiligen Lebenswege bis in die Kossiner Gegenwart werden flashbackartig dargestellt, die Fabel ist auf ihren beruflichen Alltag und auf ihre familiären und freundschaftlichen Beziehungen konzentriert. Lohse arbeitet im Stahlwerk, möchte aber viel lieber Lehrausbilder werden, eine Arbeit, die er bei seiner Ankunft in Kossin unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs freiwillig gemacht hat. Am Ende besteht er die Aufnahmeprüfung für den nun erforderlichen Ausbilderlehrgang, was ihm zum Teil dank der Hilfe des jungen Thomas Helger gelingt, eines Lehrlings im Kossiner Stahlwerk und Ex-Schülers von Waldstein wie Lohse und Hagen. In der Liebe schwankt Lohse zwischen der Arbeiterin Ella Busch, dem FDJ-Mädchen Lisa Zech und der Flüchtlingsfrau Lene Nohl, deren Ehemann sich als Agent des Westens herausstellt. Riedl und seine Ehefrau Katharina leben getrennt, er in Kossin, sie »in einem Dorf am Main« (E, 154), denn als Katholikin kann sie sich für einen Umzug in ein Land nicht entscheiden, in dem man »an nichts glaubt« (E, 157). Obwohl er im Briefwechsel versucht, sie zum Umzug zu überreden, und dreimal zu ihr reist, um sie nach Kossin mitzunehmen, unternimmt sie erst später, allein und hochschwanger, die Reise zu Fuß
über die grüne Grenze. Schließlich stirbt sie bei der Geburt des Kindes. Rentmair wählt den Freitod nach einem Arbeitsunfall an einem Schmelzofen, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen ist. Unklar bleibt, inwieweit der Ingenieur für den Unfall verantwortlich war, oder ob dieser vielmehr als technischer Sabotageakt von eingeschleusten Agenten des Westens organisiert wurde: Rentmair fühlte »einen tückischen Schlag, der aus der Dunkelheit genau auf ihn gemünzt war« (E, 385). Der streberhafte Büttner, Rentmairs Kollege, dessen Mitwirkung am Unfall im Dunkeln bleibt, fühlt sich im volkseigenen Betrieb beruflich benachteiligt und wird von westlichen Agenten angeworben, um die Flucht des Werkleiters Berndt in die BRD zu erzwingen. Das ist der härteste Schlag gegen den sozialistischen Aufbau in Die Entscheidung, der aber nur zum Teil gelingt, denn ein neuer Leiter tritt sofort an Berndts Stelle, Ulsperger, der im Exil in der Sowjetunion war, wo er studiert hat. Ein Arbeiterwettbewerb soll zudem sowohl als ideologische Stärkung wie auch als materieller Anreiz – durch die Aussicht auf Prämien – dienen, damit es zu keiner Produktionssenkung kommt. Im Bentheim-Werk wird indessen gestreikt und demonstriert, um bessere Arbeitsbedingungen und Einkommensverbesserungen einzufordern. Erst der neue Chef, Eugen Bentheim, möchte »[n]icht mehr die groben alten Maßnahmen, sondern ablenkende, stimulierende« (E, 534) einführen, um die »Arbeitslust zu steigern« (E, 534), nachdem sein älterer Bruder und Besitzerserbe Otto, ehemaliger SS-Offizier, in der Fastnacht 1951 vom Arbeiter Anton in einem persönlichen Racheakt für den während des Krieges von Bentheim verschuldeten Mord an seiner geliebten Resi erschossen worden ist. Zugleich unterhalten sich der Kommerzienrat Castricius, Justizrat Spranger und Mister Weiß, Vizepräsident der US-amerikanischen Stanton Engineering Corporation, in den Luxus-Villen des Ersteren, Sonnenblick im Taunus und Melanie am Rhein, und warten ab, denn, wie Castricius sagt: »Nichts ist futsch, alles kommt wieder in Ordnung. Er [der alte Betriebsinhaber Bentheim] soll sich freuen, daß die dort im Osten sein Werk wieder neu aufbauen. Er wird es dann neu aufgebaut wiederbekommen« (E, 272).
Rezeption Die Aufnahme von Die Entscheidung, dem lange erwarteten Roman mit SBZ/DDR-Thematik aus der Feder der Kommunistin Anna Seghers, ist von der politi-
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schen Spannung der Ost-West-Konfrontation stark geprägt (vgl. Degemann 1985, 121–125). Anlass dazu bietet schon der Titel. Während östliche Kritiker ihn für »sehr zutreffend« (Auer 1959, 184) halten, klingt er für westliche Rezensenten »wie eine politische Fanfare« (Hartung 1959/1960, 749) und wie »die Faustformel entweder-oder« (Rühle 1960, 255). Wenn im Neuen Deutschland steht: »[D]ie unsichtbare Überschrift lautet: ›Der Sozialismus siegt!‹« (Köhler 1959), so entgegnet German Life & Letters: »It could in fact be subtitled: ›A leading article with figures‹« (Andrews 1961/1962, 262). Von Ost und West wird das Programmatische (vgl. Neugebauer 1970, 158; Labroisse 1973, 204) im Wort Entscheidung betont, wobei die westliche Literaturkritik auf die programmatische Leere (Raddatz 1976, 238) aufmerksam macht sowie auf die »Unverständlichkeit« (Reif 1970, 707) der Entscheidung für einen Sozialismus mit stalinistischer Prägung. Hinsichtlich der Gegenüberstellung von Ost und West im Roman achtet die Kritik besonders auf die negative Schilderung des Lebens und Arbeitens in der SBZ/DDR. Unter dem Titel »Die geistige Kapitulation der Anna Seghers« bestaunt Marcel Reich-Ranicki in diesem Sinne die »spürbare melancholische Stimmung, die von ihrer [Seghers’] Enttäuschung und Resignation zu zeugen scheint« (Reich-Ranicki 1959). Im Artikel »Die Entscheidung der Anna Seghers. Ein Roman als Purgatorium« stellt Sabine Brandt den ›dumpfen Pessimismus‹ (1960, 77) bei der Darstellung der sozialistischen Wirklichkeit fest. Ästhetisch-gestalterisch wird Die Entscheidung von westlichen Rezensenten allgemein als klischeehaft-parteiische Darstellung der deutsch-deutschen Realität desavouiert (vgl. Andrews 1961/1962, 260 f.; Reif 1970, 705; Labroisse 1973, 200). Entsprechend wird der Roman als »ideologische Heilslehre« (Brandt 1960, 81) abgestempelt. Von der ostdeutschen Literaturkritik wird Die Entscheidung demgegenüber als »Meisterwerk des sozialistischen Realismus« (Lange 1959, 3) gefeiert. Die Hauptmerkmale der Methode – realistische Gestaltung, Parteilichkeit und erzieherisch-didaktisches Prinzip – seien im Roman gut erkennbar: Er »kündet mit unbestechlicher Wahrheitstreue und klarer sozialistischer Parteilichkeit von der großen Entscheidung im Kampf um unsere Nation und wird seinen Lesern die großen Zusammenhänge erkennen helfen, in denen sich unser alltägliches Leben, unsere Freuden, Hoffnungen und Träume bewegen« (ebd., 10), die Autorin »verteidigt die neuen, sozialistischen Verhältnisse und trägt dazu bei, diese durch ihr künstlerisches Schaffen, durch helfende Kritik, durch aktive Teilnah-
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me am gesellschaftlichen Leben zu festigen« (Neugebauer 1970, 168). Wenn die westliche Kritik ferner an Die Entscheidung bemängelt: »Eine durchgehende Handlung gibt es nicht, sondern nur eine lose Gruppierung von Handlungsfetzen« (Brandt 1960, 81); »This novel certainly recalls Die Toten bleiben jung, where the characters were similarly dwarfed by world events« (Andrews 1961/1962, 262), entgegnen östliche Rezensenten, der Roman sei als qualitativer Zeitgeschichts- und Epochenroman (Diersen 1960, 57 f.; Batt 1973, 247 f.) einzuordnen, wohl aber »um den Preis einer fiktional freier verfügbaren Handlungsführung« (Batt 1973, 248). Erst in den Rezensionen der 1980er Jahre findet eine objektivere Beurteilung statt: »Zu den Leistungen der Anna Seghers zählt, daß sie in einem Ensemble von Personen mit ihren Schicksalen und Haltungen die Politik als einen organischen Teil des Menschenlebens dargestellt hat« (Püschel 1981, 61). In den 1970er Jahren wird außerdem auf die supraideologische, moralische Qualität aufmerksam gemacht, die im Roman der Entscheidung für den östlichen Teil der Welt zugewiesen wird: »[D]ie sozialistische Umwälzung [erscheint] eher als Sache einer klassenlosen Moralität und kaum in den unmittelbaren vitalen Interessen der Arbeiterklasse begründet« (Schneider 1973, 111; vgl. Stephan 1975, 186). Nicht zuletzt habe »der richtigen Entscheidung die (wiederholte) Bewährung zu folgen« (Fries 1982, 82; vgl. Neugebauer 1970, 170). »The substance of the novel is not the decision for or against East Germany, but the ex tremely complicated, painful process of decision making«, bemerkt Lowell A. Bangerter (1980, 134).
Forschung »[Z]eigen, wie in unserer Zeit der Bruch, der die Welt in zwei Lager spaltet, auf alle, selbst die privatesten, selbst die intimsten Teile unseres Lebens einwirkt« (KuW2, 25), das wollte Anna Seghers in ihrem Roman Die Entscheidung »an verschiedenen Menschenschicksalen« (ebd.) hervorheben; das korrespondiert mit dem auf Lukács’ Gesellschaftsroman zurückgehenden »Romantypus Seghers« (Schrade 1993, 47). Die Entscheidung ist aber zugleich der erste Versuch der Schriftstellerin, die ›neue Wirklichkeit‹ im Osten Deutschlands in Romanform zu gestalten, weswegen das Kossiner Stahlwerk im Fokus steht – ein Industriezweig, dem in der unmittelbaren Nachkriegszeit große strategische Bedeutung beigemessen wurde. Im
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wirtschaftspolitischen Bereich illustrieren daher das Stahlwerk in Kossin und dessen Gegenstück, das Bentheim-Werk in Hadersfeld, die Teilung. Während die Arbeit im Ersteren einer prometheischen Tat gleichgestellt wird – sogar das Motiv der Bändigung des Feuers ist beim ersten Abstich (E, 165) präsent –, ermöglicht die Instandsetzung des Letzteren die Wiedereingliederung ehemaliger Nazis wie Eugen Bentheim, die Ausbeutung der Arbeiterschaft und nicht zuletzt die Vorbereitung eines neuen Krieges. In der privat-emotionalen Sphäre ist die Geschichte vom Ingenieur Ernst Riedl im Osten und seiner Ehefrau Katharina im Westen das paradigmatische Fallbeispiel für die Spaltung. Hierin wirkt die religiös-theologische Grundlage als entscheidender Faktor, wobei Katharina sie mit dem christlichen Glauben und der unmittelbaren humanitären Leistung der Nächstenliebe verbindet, während Ernst Riedl, in dessen Zimmer sich Das Kapital von Karl Marx und Die Bekenntnisse des Augustin (E, 164) befinden, ihre Materialisierung im kommunistischen Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit und in der Praxis des sozialistischen Aufbaus in Ost-Deutschland sieht. Die Entscheidung kann somit formal eine »überwiegend eindimensionale[...] Figuren- und Handlungsgestaltung« (Hilzinger 2000, 187) attestiert werden. Es lässt sich andererseits »die Vorherrschaft der Ideologie und Theorie über die Realität« (Schrade 1993, 114) beobachten sowie eine »Überbetonung der pädagogischideologischen Aspekte, die es an die Leser im jungen Staat zu vermitteln galt« (Bischoff 2009, 310). In dieser Hinsicht stellt das erste Kapitel die Folgerichtigkeit der geschichtlichen Entwicklung in Ost-Deutschland vor. Bis in die SBZ/DDR führt der kämpferische Lebensweg, den der Kommunist Richard Hagen und der Arbeiter Robert Lohse im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) mit den Internationalen Brigaden eingeschlagen haben. Die ideologische Anknüpfung geht durch den Altkommunisten Martin aus Die Toten bleiben jung (E, 5; vgl. E, 516–518) bis zum Spartakusbund zurück. Ein Schlag gegen das Neue ist die Flucht der Kossiner Betriebsleitung in den Westen, die in Die Entscheidung weitgehend als Folge von der Sabotage des Westens dargestellt wird (vgl. Kriele 2016, 159) und die Klimax der Story bildet. Trotzdem wird das Allgemeinbild der Wirklichkeit in der SBZ/DDR im Roman weder einheitlich positiv dargestellt noch beschönigt. Schon in der Eröffnungsszene entgegnet der alte Janausch der Rede des Parteiarbeiters Richard Hagen vor den Kossiner Arbeitern mit einer Art Gegenrede: »[W]orin besteht denn nun
hier das Neue?« (E, 15). Im volkseigenen Betrieb haben Arbeiter zudem wenig zu entscheiden, Robert Lohse darf beispielsweise nicht mehr als Anlerner bzw. Lehrausbilder von jungen Arbeitern tätig sein, obwohl diese Stelle »vielleicht das Beste« (E, 79) in seinem Leben ist: Nur am Ende des Romans – vier Jahre später – steht ihm dieser Beruf in Aussicht (E, 430, 447, 551, 554). So wie diese werden auch andere, viel wichtigere Entscheidungen von der Betriebsleitung und der Partei auf staatlicher Ebene gemäß den Anweisungen der sowjetischen Kontrollinstanzen getroffen – die verdutzte Frage des Ingenieurs Zibulka: »Nach Moskau? (E, 375)« stellt lediglich dessen gutgläubige Einstellung bloß. Bedenklich ist ferner die Tatsache, dass die Argumente der verschiedenen Figuren für den Sozialismus nur selten einleuchtend sind und überzeugen können, wohl wegen Seghers’ »reduktionistische[n], in gut und böse, Opfer und Täter geschiedene[n] Weltbild[es], das nicht auf inhaltliche Argumentation, sondern auf moralische Überredung setzte« (Hilzinger 2000, 67). Mit Riedls Erläuterungen über die Arbeitsverhältnisse im Kossiner Betrieb kann sich beispielsweise sein Kollege Rentmair nicht zufriedengeben. »[D]u bist schon gleichgeschaltet« (E, 162), erwidert er aus diesem Grund, worauf der Erstere keine argumentativ plausible Antwort gibt, sondern eine unzutreffende naive Parallele zieht. In West-Deutschland kann Riedl weder seinen Schwager noch seinen älteren Bruder oder seine Ehefrau Katharina von der Mustergültigkeit der sozialistischen Ordnung in der SBZ/DDR – und von der Richtigkeit des kommu nistischen Humanitätsideals – überreden, nur seine Mutter lässt sich dafür gewinnen (E, 308–327). Am prägnantesten kommt jedoch »Riedls blinde, naive Gläubigkeit« (Bischoff 2009, 91) im Gespräch mit Pater Traub ans Licht, als die Schauprozesse am Beispiel des ungarischen Kardinals Mindszenty thematisiert werden (E, 323 f.). Weitere problematische Aspekte der in Die Entscheidung geschilderten ostdeutschen Wirklichkeit sind das dogmatisch-sektiererische Verhalten der Genossen (z. B. Max Kemphoff gegenüber Herbert Melzer, Paul Meeseberg gegenüber Robert Lohse, Herta Fürth gegenüber Friedrich Rentmair) und die menschliche Kälte (vgl. Br1, 310), die sich bei Rentmairs Selbstmord als nicht unbeträchtlicher Faktor erweist (vgl. Vilar 2004, 145–153) sowie die Angst vor der »Stasi-Maschinerie« (Bischoff 2009, 210).Wenn Seghers andererseits durch die Darstellung des Suizids, einem in der sozialistischen Literatur als »Un-Thema« (Emmerich 1996,
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206 f.) streng verpönten Motiv, schon ein Tabu bricht, so urteilt sie durch den Tod Katharina Riedls zwar über eine Frau, die sich im Westen u. a. vom katholischen Pater Traub »Furcht [hat] einjagen lassen«, die »zu spät gekommen« (KuW2, 27) ist, aber zugleich auch über die DDR als den Staat, in dem Katharina Riedl nicht hätte leben können, weil es dort keine Meinungsfreiheit gibt (E, 326, 396) und der einzelne Mensch nicht zählt (E, 395), und weil dieser Staat der kommunistischen Utopie wegen die »Hoffnung der auf Gott gerichteten Utopie ablehnt« (Bischoff 2009, 214; vgl. Dubrowska 2009, 251 f.; Vilar 2004, 85 f., 206 f.). Als affirmative Alternativen zum Todesmotiv sind in Die Entscheidung die Motive der Freude (»Man kann ohne Freude nicht leben«, E, 482), des Lichtes (E, 155– 156), des Gebrauchtwerdens (E, 50) und der Veränderung (E, 163) erfasst. Damit verbunden ist die Pädagogik-Thematik, die im Roman verschiedene Formen annimmt. Das erlebte Beispiel wird anhand von Waldsteins ›Märtyrertum‹ als kommunistisches Opfer in der NS-Zeit (E, 38 f.) illustriert. Der erzieherisch-didaktische Charakter von Literatur zeigt sich durch Melzers Buch zum Spanischen Bürgerkrieg (E, 410 f.). Die meinungsbildende Wirkung der Lehre wird zunächst von Waldstein als »besondere[m] Lehrer« (E, 29) exemplifiziert, dann von Lohse als altruistischem Anlerner von Jungen (E, 70). Wie in Die Toten bleiben jung gewährleisten Kinder auch in Die Entscheidung die beste Zukunftsperspektive: der Lehrling Thomas Helger im Stahlwerk Kossin und der neugeborene Sohn Ernst Riedls, der freilich ohne Mutter wird wachsen müssen (vgl. Vilar 2004, 87, 207; Bischoff 2009, 215). Im Spiel mit der literarischen Fiktion könnte Die Entscheidung dem Inhalt nach als die Fortsetzung von Melzers Spanienbuch »Sie zogen gemeinsam aus« (E, 329) gelesen werden. Allerdings scheint ästhetischkonzeptuell der Realismus in Melzers Buch (»Manches stimmt nicht. Das Wichtigste stimmt«; V, 440) nicht nur mit Die Entscheidung, sondern auch mit Das Vertrauen zu kongruieren; insofern verschmelzen beide DDR-Romane von Anna Seghers historische Realität mit Träumen (vgl. »Der wichtigste Ismus« (1948), KuW1, 217). Literatur
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Loreto Vilar
21 Karibische Geschichten (1962)
21 Karibische Geschichten (1962): Die Hochzeit von Haiti (1948), Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), Das Licht auf dem Galgen (1960) Der Band Karibische Geschichten (1962) umfasst drei Erzählungen, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und erstveröffentlicht worden waren: Die Hochzeit von Haiti und die Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe waren unmittelbar nach ihrer Entstehung 1948 und 1949 veröffentlicht worden. Das Licht auf dem Galgen blieb dagegen zunächst Fragment und erschien erst 1960. Die biographischen Skizzen »Große Unbekannte« (1947), die »Miranda« (1947) und »Ein Neger gegen Napoleon« (1948) enthalten (KuW3, 217– 242), gehören zum Stoffumkreis dieses Zyklus’, der später durch Drei Frauen aus Haiti (1980) zu einem karibischen Doppelterzett erweitert wurde (s. Kap. 28). Der innere Zusammenhang der Karibischen Geschichten ergibt sich stofflich aus den revolutionären Bestrebungen in den westindischen Kolonien um 1800 und dem Verrat der Französischen Revolution durch Napoleon, thematisch aus der Reflexion dieser Verhältnisse im Spiegel einer begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen sozialistischen Revolution und poetologisch aus der Forderung, die Literatur solle das »Gedächtnis der Revolution« (Batt 1980, 195; vgl. LG, 162) sein, gerade ihrer gescheiterten, weil zu früh gekommenen bzw. verratenen und vergessenen Protagonisten. Daraus ergibt sich eine spannungsreiche Form quellengestützter historischer Erzählungen mit Anleihen bei Märtyrer-Legenden und Passionsgeschichten. Mit der Haitianischen Revolution im Zentrum, der Selbstbefreiung schwarzer Sklaven, die 1804 in die erste Gründung eines Staates auf ehemals kolonisiertem Boden mündete, bildete die Karibik einen Mikrokosmos der transatlantischen Kolonisations-, aber auch Widerstands- und Revolutions- sowie Literaturgeschichte. Seghers informierte sich darüber eingehend, suchte Kontakt zu Denkern wie Aimé Césaire und leistete mit ihren sechs karibischen Erzählungen einen Beitrag zu einer literarischen Reihe deutschsprachiger Literatur zu diesem Themenkomplex, die prominent mit Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo (1811) begann, auf die sich Seghers bezog, und die mit Werken Hans Christoph Buchs und Hubert Fichtes sowie Heiner Müllers Stück Der Auftrag (1980) fortgesetzt wurde (vgl. Uerlings 1997). Die Karibischen Geschichten sind der ambitionier-
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te Auftakt einer postkolonialen deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, dem noch lange Jahre nichts Vergleichbares folgte. Den Deutschen im Jahr 1948 Toussaint Louverture, die Zentralfigur der Haitianischen Revolution, als welthistorische Idealfigur anzubieten und in der Geschichte der Karibik um 1800 Unabgegoltenes für Gegenwart und Zukunft Europas wie auch der übrigen Welt zu entdecken, das war für die marxistische jüdische Exilantin, die durch den anti-rassistischen Internationalismus der Weimarer Republik geprägt war, ein kleiner Schritt, für ein Volk, das gerade von außen von Faschismus und Rassismus befreit werden musste, aber eine Herausforderung. Die Rezeption begann denn auch schleppend und blieb lange durch blinde Flecken gekennzeichnet. In der DDR ließen sich die Erzählungen als Kritik am bürgerlichen Verrat der ursprünglich humanen und progressiven Ideale der Französischen Revolution deuten, den Napoleon, Hitler und, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aller drei Erzählungen, der westliche Imperialismus begangen hätten, während die schwarzen Jakobiner der Karibik die Vorfahren der erfolgreichen Freiheitskämpfer in Vietnam, Kuba und vielen afrikanischen Ländern seien. Eine Schlüsselrolle spielte Das Licht auf dem Galgen, weil man hier den nötigen optimistischen Ausblick fand, den der zwischenzeitliche Verlauf der Geschichte bestätigt habe (vgl. Hölzel 1961; Streller 1962; Neugebauer 1980, 121). Im Westen wurde dagegen die ästhetische Qualität verhalten gelobt und eine auf den »Widerstand gegen koloniale Unterdrückung« (Reich-Ranicki 1966) beschränkte Überhöhung der Revolution konstatiert.
Die Hochzeit von Haiti (1948) Die Erzählung spielt während der ersten, von Toussaint gelenkten Phase der Haitianischen Revolution. Für einen kurzen Moment werden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Wirklichkeit. Es ist die ›hohe Zeit‹ Haitis – eine der Möglichkeiten, den anspielungsreichen Titel zu erläutern, der vordergründig auf die wegen der Revolution nicht zustande kommende Hochzeit zwischen zwei adligen Familien verweist. Der Titel lässt sich aber auch auf die enge Verflechtung der Geschichte Toussaints mit der des eigentlichen Protagonisten, des jüdischen Brillantenhändlers Michael Nathan, beziehen. Er wird zum einzigen weißen Sekretär Toussaints. Die Entscheidung für die Revolution verbindet sie tiefer als jedes andere Paar, auch als Michael und Margot, eine vormalige schwarze Sklavin, die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_21
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seine Lebensgefährtin wird. Napoleons Versuch der Rückeroberung der Insel beendet die kurze Blütezeit. Toussaint gerät in französische Gefangenschaft und stirbt dort einige Jahre später, Michael Nathan verliert Frau und Kind, zieht innerlich für immer ausgebrannt nach London, gründet dort noch eine Familie, stirbt dann aber etwa zur selben Zeit wie Toussaint. Der Titel enthält außerdem eine Anspielung auf Kleists Verlobung: Während dort die Verlobung zwischen der ›Mulattin‹ Toni und dem Weißen Gustav wie die Haitianische Revolution in einer Katastrophe endet, erscheint bei Seghers die Solidarität zwischen Schwarz und Weiß in der Frühphase der Revolution als Vorschein einer Utopie, die durch den gleichzeitigen Tod der Protagonisten nicht dementiert, sondern bestätigt wird. Auch poetologisch ist die historische Erzählung ein Gegenentwurf zu Kleist, »den ich sehr bewundere«, der aber »von der Negerrevolution nicht viel wußte und nicht viel verstand. Für ihn war San Domingo etwas Phantastisches, Exotisches« (KuW2, 32).
Nachbarinsel Haiti: »Sie verstanden endlich, was ihnen blühte, wenn sie sich ergaben« (SG, 112). Das Wechselspiel von Untergang und Auferstehung, Ende und Fortsetzung, Vergessen und Erinnerung wird im letzten Kapitel der Erzählung auch auf einer weiteren Ebene inszeniert. Ein französischer Oberst erzählt daheim von den Kämpfen auf Guadeloupe. Dabei erfährt er, dass Toussaint in Fort de Joux gestorben ist, der Krieg gegen die Franzosen aber andauert. Der Leser weiß, dass die ehemaligen Sklaven ihn gewinnen werden und die Sklaverei auf Haiti nie wieder eingeführt werden wird. Für die intradiegetischen Zuhörer ist eine andere Episode wichtiger, für den Oberst das »Sonderbarste« (SG, 116): Man habe seinerzeit unter den toten Schwarzen auch den Leichnam eines Weißen gefunden. Nur der Leser weiß, dass es sich um Beauvais handelt. Die Erzählung bewegt einen jungen Zuhörer »bis ins tiefe Herz« (SG, 116). Die Ahnung, dass es »eine andere Welt« gebe, in der das Selbstopfer für andere von höchster Bedeutung ist, erzeugt bei ihm ein »Frösteln« (SG, 117).
Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949)
Das Licht auf dem Galgen (1960)
Die erzählte Zeit umfasst im Wesentlichen die Jahre 1799–1802. In Guadeloupe war die Sklaverei 1794 durch Robespierre abgeschafft worden, doch die Mehrheit der ehemaligen Sklaven lehnt die Aufforderung zur regelmäßigen Arbeit auf dem nunmehr eigenen Besitz ab. Dagegen richtet auch die Überzeugungsarbeit der drei Protagonisten wenig aus: der ›Mulatte‹ Berenger, Kommandant des Forts von Guadeloupe, der Weiße Beauvais, ein französischer Offizier, und der Schwarze Paul Rohan, ein ehemaliger Feldsklave. Die Entscheidung fällt mit der Machtergreifung Napoleons: Auf Guadeloupe wird die Sklaverei wieder eingeführt. Die Protagonisten und einige wenige weitere Inselbewohner leisten Widerstand, obwohl sie wissen, dass er zwecklos ist: Berenger sprengt sich mitsamt dem Fort in die Luft, Beauvais fällt im bewaffneten Kampf gemeinsam mit weiteren, schwarzen Gegnern der Sklaverei, ebenso Paul Rohan. Sein Vetter Jean Rohan wird auf der Flucht mit Hilfe anderer Schwarzer von einer Patrouille aufgespürt und erschossen. Die Wirtin Manon, Sympathisantin der männlichen Protagonisten, wird ermordet, als sie sich gegen die Zudringlichkeiten eines Offiziers entschieden zur Wehr setzt. An der Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe ändert der Widerstand nichts. Sie wird aber zum Fanal für die schwarzen Revolutionäre auf der
Drei Beauftragte der französischen Revolutionsregierung unternehmen – in der Maske von Feinden der Revolution – den Versuch, in der britischen Kolonie Jamaika einen Sklavenaufstand zu organisieren: Debuisson, ein auf Jamaika geborener Sklavenhaltersohn, Sasportas, ein spanischer Jude, der sich als königstreuer französischer Emigrant ausgibt, und der Seemann Galloudec, der die Rolle des Dieners von Debuisson spielt. Am Ende scheitern sie, weil ihr Auftraggeber, die letzte französische Revolutionsregierung, nach dem 18. Brumaire nicht mehr vorhanden ist. Das Geschehen ist eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der der Seemann Malbec dem Jakobiner Antoine, der seinerzeit für die drei Männer die Papiere ausfertigte, einen Brief seines auf Kuba verstorbenen Freundes Galloudec mit der Nachricht vom Scheitern der Mission übergibt und erzählt, was jener ihm berichtet hat. Im Mittelpunkt der Binnenhandlung stehen die Reaktionen auf den Verrat der Revolution. Debuisson will sogleich alle Aktivitäten stoppen, seine beiden Gefährten widersprechen, eine Erhebung schwarzer Sklaven scheitert jedoch. Debuisson rettet seinen Kopf, indem er seine Mitstreiter verrät. Sasportas wird gefangen genommen und zum Tode verurteilt, weil er nicht bereit ist auszusagen. Galloudec gelingt die Flucht. Zurück-
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schauend scheint es ihm, als leuchte ein Licht über dem Galgen, an dem Sasportas gehenkt wurde. Während die DEFA-Verfilmung Das Licht auf dem Galgen (1976) bei Publikum und Kritik durchfiel und auch Seghers deutliche Einwände äußerte (vgl. Brandes WA II/5, 463–465), war Heiner Müllers komplexe Seghers-Rezeption, deren Kern Der Auftrag bildete, von ganz anderem Format.
Forschung Die Karibischen Geschichten sind, darin ist sich die Forschung heute einig, das Ergebnis komplexer Spiegelungsverhältnisse. Die Ereignisse in der Karibik sind in Seghers’ Sicht vor allem Effekte der Französischen Revolution, die, daheim von Napoleon verraten, an der Peripherie fortlebte in heute vergessenen Kämpfen, deren Erinnerung hilft, den Kampf gegen Hitlerdeutschland und die bevorstehenden gesellschaftlichen Revolutionen als Teil einer sozialistischen Revolution verständlich zu machen. Damit ist ein Spannungsfeld von Alterität und Identität bezeichnet, bei dem der Blick in die andere Zeit und die andere Kultur durch Interessen der eigenen Gegenwart mit gesteuert wird: Die jakobinische Phase der Französischen und die Frühphase der Haitianischen Revolution erscheinen als Orte und Zeiten einer noch unschuldigen Revolution oder doch begeisternder, Erfüllung verheißender Anfänge einer weltweiten revolutionären Umgestaltung und ihres Verrats. Lateinamerika war zudem die Region, die der Exilantin Seghers Zuflucht gewährt und ihr Überleben ermöglicht hatte, und die Karibik wird auch nach 1945 immer wieder zum imaginären Fluchtort in einem oft als fremd und bedrückend erlebten Deutschland. Gleichwohl ist Seghers eine gut informierte Darstellung der sozialen Verhältnisse und der historischen Bewegungen in der Karibik gelungen. Die kolonialen Gesellschaften erscheinen mit ihren diversen Gruppen – den ›großen‹ und den ›kleinen‹ Weißen, den ›Mulatten‹, den schwarzen Sklaven und den freien Schwarzen sowie den Juden – in einem differenzierten Licht, ebenso die destabilisierenden Momente wie die divergierenden Interessenlagen in der Kolonialgesellschaft, das widersprüchliche Verhalten Frankreichs und die Rivalität der europäischen Großmächte. Den Dreh- und Angelpunkt aller Erzählungen bildet die Forderung nach einer die rassifizierenden Grenzen übergreifenden Solidarität im Kampf für die Freiheit, die nur als Emanzipation aller gelingen kann. In die-
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sem Sinne meint die Befreiung von der Sklaverei in den Karibischen Geschichten immer auch die Befreiung aus allen Verhältnissen, in denen der Mensch ein versklavtes Wesen ist. Seghers versucht deshalb, in den Figurenkonstellationen binäre Oppositionen zu vermeiden und soziale, intellektuelle und ethische Differenzen unabhängig von den Hautfarben und Nationalitäten zu verteilen. Gleichwohl sind die Karibischen Geschichten in der postkolonialen Forschung massiv wegen ihres Eurozentrismus’ und einer damit verbundenen Zeichnung der Geschlechterverhältnisse kritisiert worden (vgl. Gutzmann 1988; Weigel 1994; Teraoka 1997, 7–26; Uerlings 1997, 49–102). In der Tat ist nicht zu übersehen, dass die Helden der Erzählungen zumeist intellektuelle europäische Männer sind, denen alle anderen Figuren funktional zugeordnet sind, als Gegenspieler oder aber als (meist indigene) Revolutionäre mit (noch) unzureichendem Geschichtsbewusstsein. Das gilt sogar für Toussaint, es gilt aber auch für die (meist stummen und passiven) Frauenfiguren, die das »aus dem an Reinheitsidealen orientierten Revolutionsethos ausgeschlossene Begehren« (Weigel 1994, 175) verkörpern, mit einem bias zwischen schwarzen Frauen, die häufig mit den weißen Revolutionären sympathisieren und sie keusch begehren, einerseits sowie ›mulattischen‹ und weißen Frauen andererseits. Diese Kritik an den fehlenden indigenen Perspektiven und der politischen Passivität der Frauenfiguren ist zuletzt relativiert worden (vgl. Mast 1997; Layne 2017). Gleichwohl ist der Befund zutreffend und er hat einige problematische Implikationen. Die Haitianische Revolution erscheint bei Seghers als schlichte Fortsetzung der Französischen Revolution, deshalb gilt die Führungsrolle der Weißen als ebenso unproblematisch wie das Konzept einer Revolution von oben. Andere Formen des Widerstands und Ursprünge der Revolution, wie der Vaudou, werden entweder nicht genannt oder, wie die marronage, ihr als zu disziplinierende Vorform untergeordnet. Den Black Atlantic, die Entstehung eines Widerstandes in einer transnationalen Diaspora, vielfach verbunden mit Kreolisierung und Hybridisierung, hat Seghers noch nicht in den Blick bekommen. Es dominiert der Überlegenheitsanspruch einer ›weißen‹ Kultur, als deren Inbegriff Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erscheinen. Lateinamerikanische Autoren wie Jacques Roumain, Jacques Stéphen Alexis, Édouard Glissant oder Alejo Carpentier haben in dieser Zeit bereits stärker die Alterität und die Hybridität Lateinamerikas betont. Aimé Césaire, Begründer der Négritude und zu-
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gleich Marxist, von dem Seghers wichtige Anregungen erhielt, geriet dabei aber in ähnliche Spannungsverhältnisse wie sie (vgl. Pizer 2011). Und noch in Müllers Auftrag gerät die Karibik, trotz der Einbeziehung von Césaire und Fanon, zur eurozentrischen Projektionsfläche eines von Marx ausgehenden sozialistischen europäischen Anspruchs auf Universalismus: Vor allem, dass Sasportas vom weißen Juden zum schwarzen Christus-Orpheus mutiert, verleiht der Utopie der ›schwarzen Revolution‹ einen Hauch von »sozialistischem Rousseauismus« (Uerlings 1997, 146). Eurozentrismus und Bemühen um historisch-kulturelle Wahrhaftigkeit relativieren sich gegenseitig. Die Idealisierung der ›weißen‹ Kultur wird außerdem begrenzt durch die komplexe Motivationslage der Autorin sowie ihre Kritik am späteren Verlauf der Französischen Revolution und den Wunsch, darin auch katastrophale Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts wie den Faschismus, später auch den Stalinismus, zu spiegeln. Diese zeit- und selbstkritischen Dimensionen der Karibischen Geschichten sind erst spät vollumfänglich erschlossen worden. Sie zeigen sich etwa in der Rolle, die das Judentum in den Karibischen Geschichten und für ihre Konzeption spielt, einer bemerkenswerten interkulturellen Dimension, die quer liegt zur geographischen Alterität und auch poetologische Aspekte berührt. Denn Seghers erzählt auch von jüdischem Leben in der Karibik, und die beiden sehr positiv gezeichneten Protagonisten Michael Nathan und Sasportas sind Juden. Sie sind in Seghers’ wichtigster Quelle, Ralph Korngolds Citizen Toussaint (1944), wie sie hervorhob (vgl. KuW2, 31 und 33), als historische Figuren belegt. Das bot Gelegenheit, auf die gesellschaftliche Randstellung von Juden und Schwarzen und bei der Emanzipation hinzuweisen. Auch darf man annehmen, dass Seghers damit den großen Anteil von Juden an der sozialistischen Bewegung gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts würdigen wollte (vgl. Grimm 1986, 161). Vor allem aber beerbt die Marxistin Seghers den jüdischen (und christlichen) Messianismus, indem sie dessen Topik auf die der Revolution überträgt (vgl. Greiner 1994). Die Rhetorik der Karibischen Geschichten ist durch eine beständige Überblendung von weltlicher Geschichtsphilosophie und religiösen Semantiken, von innerweltlicher und transzendenter Eschatologie geprägt. Auch mit ihrer Bestimmung der Literatur als ›Gedächtnis der Revolution‹ überträgt Seghers ein Grundelement jüdischer Erfahrung auf ihr Denken und Schreiben. Sie steht damit in einer seinerzeit prominent von Benjamin und Bloch weiter entwickelten Tradition marxistischen Denkens. Dass sie sich nicht
primär als Teil der jüdischen Geschichte und diese nicht als ein zentrales Charakteristikum ihres Jahrhunderts begreift, sondern von übergreifenden sozialen und politischen Bewegungen her denkt, ist ihr nicht als »Verleugnung und Verdrängung der vorangegangenen jüdischen Identität« (Haller-Nevermann1997, 165) zum Vorwurf zu machen. Die Frage, warum sie Juden nicht deutlicher als Angehörige einer spezifischen Religion und Kultur darstelle, wäre ähnlich wie im Falle von Lessings Dramen damit zu beantworten, dass es ihr um den (versklavten und dagegen aufbegehrenden) Menschen in den Juden (und Schwarzen, ›Mulatten‹ u. a. m.) geht. Gleichwohl bleiben kritische Fragen: nach einem unbedachten Umgang mit antisemitischen Stereotypen, danach, ob eine Ausblendung der Shoah Teil einer marxistischen Deutung von Faschismus und Rassismus ist, die ein angemessenes Verständnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts verhindert und dazu beiträgt, dass auch der Antisemitismus im realsozialistischen Osteuropa nicht zureichend wahrgenommen werden konnte (vgl. Haller-Nevermann 1997, 139– 167). Dagegen ließe sich einwenden, dass die ansonsten funktionslose jüdische Identität der Vorzeigefigur Sasportas in einem bemerkenswerten Widerspruch zum staatlichen Antizionismus der DDR steht. Auch die Anspielung auf den spanischen Rabbiner Jakob ben Ahron Sasportas (1610–1698) ließe sich als Kritik deuten (vgl. Brandes WA II/5, 470). Dass es unter den Revolutionären Antisemitismus gibt, zeigt Seghers, wenn ein Genosse Toussaints Michael Nathan anschreit: »Verdammter weißer Jude!« (HH, 54) Gegen die Behauptung einer Nichtthematisierung der Shoah wurde eingewandt, dass das Bild der Leichenberge in Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe geeignet sei, das ikonische Bild von Auschwitz zu evozieren (vgl. Cohen WA II/3, 207). Erst nach 1989 wurde erkannt oder ausgesprochen, wie sehr krisenhafte Erfahrungen der Autorin nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, mit der SBZ und der jungen DDR und später mit den politischen Erschütterungen infolge der Enthüllung der stalinistischen Verbrechen Eingang in die Texte gefunden haben (vgl. Hilzinger 2000, 62–72). Das reicht von kleinen Anspielungen und Szenen bis hin zum übergreifenden Thema vom Verrat der Revolution, während einzelne Themen, wie das Misstrauen und die Schikanen der Parteiführung gegen Juden und Westemigranten, von Anfang an präsent sind. Zur Ironie der (Rezeptions-) Geschichte gehört, dass in dieser Sicht Das Licht auf dem Galgen nicht mehr als optimistische Prophezeiung einer inzwischen eingetretenen humanen Zu-
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kunft erscheint, sondern als Auseinandersetzung mit dem eigenen Verrat, d. h. dem durch die eigene Führung in Gestalt des Stalinismus und der Schauprozesse im eigenen Land, aber auch mit Seghers’ eigener, schwieriger, von ihr selbst als zwiespältig empfundener Rolle dabei, die sich aus der Loyalität gegenüber diesem Staat und seiner Regierung, die sie nicht preisgeben wollte und konnte, ergaben. In dieser Lesart wurde auch nach Schattenseiten der Lichtfiguren, vor allem Toussaints, gefragt und die Figurenkonstellation Debuisson-Sasportas neu bewertet. Wird dem Verräter nicht genauso viel Verständnis entgegengebracht wie der Vorbildfigur (vgl. Brandes WA II/5, 435; Hilzinger 2000, 156)? Ist diese die Wunschfigur der Autorin, während der andere ein dunkleres Alter Ego verkörpert? Wie auch immer: Im zeitgenössischen DDR-Kontext ist die Figur des Remigranten, der zum Verräter wird, ebenso ambivalent wie die Tatsache, dass das titelgebende Licht auf eine der von außen in das Land gekommenen revolutionären Führungskräfte fällt. Die in der Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe exponierte Auseinandersetzung mit Fragen von Landverteilung, Lohnarbeit, Produktion für den Eigenbedarf und gesamtwirtschaftlicher Produktion verweist u. a. auf Lenins ›Bauernfrage‹ (vgl. Cohen WA II/3, 209) sowie die Bodenreform in der SBZ, und die Lethargie der von außen befreiten Sklaven erinnert an »die tatsächliche politische Apathie in der DDR-Bevölkerung, die ja nicht durch ihre eigene Revolution oder durch demokratische Wahlen zum sogenannten Sozialistischen Gesellschaftssystem gelangt war« (Brandes 1992, 66). Überschaut man den Zyklus der Karibischen Geschichten insgesamt, dann lässt sich zudem konstatieren, dass die Revolution in immer größere Ferne rückt: Gibt es in der ersten Erzählung mit der Schilderung der ›Hochzeit‹ Saint-Domingues unter Toussaint noch eine anschauliche Vergegenwärtigung einer befreiten Gesellschaft, so dominiert in der zweiten die desaströse Erfahrung, dass die Revolutionäre mit der Befreiung von außen gar nichts mehr erreichen. In der dritten scheitert die Revolte ebenfalls, jetzt aber am Verrat der Revolutionäre selbst, und lebt nur unter allergrößten Anstrengungen fort als Erinnerung an eine Hoffnung, die weder in der Peripherie der Macht noch in der Hauptstadt der Revolution mehr eine realistische Aussicht auf Verwirklichung hat. Bei der Frage nach verborgener Zeitkritik muss häufig offen bleiben, ob es sich um versteckte Andeutungen handelt, um Reste einer ursprünglichen, später
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jedoch verworfenen Gestaltungsabsicht oder schlichte Quellenentlehnungen und ob Spannungen und Risse im Erzählgefüge intendiert oder Ausdruck eines nicht vollständig durch die Autorintention kontrollierten Erzählens sind. Welche Kompromisse Seghers bei aller Kritik am eigenen Lager einzugehen für nötig hielt, lässt sich an den frühen Entwürfen zu Das Licht auf dem Galgen erkennen. Grundlegend für Seghers’ Schreibverfahren ist die Antizipation des Geschichtsziels in die Erzählgegenwart in Form leibhaftiger Erfahrungen der Protagonisten – Erfahrungen des Glücks der Freiheit und der Solidarität, die als Vorschein und Beglaubigung der Utopie angelegt sind. In der Druckfassung des Lichts auf dem Galgen gehört dazu prominent die Erinnerung Antoines an die ursprüngliche revolutionäre Begeisterung des Volkes von Paris zur Zeit der Herrschaft der Jakobiner, die in der Erzählgegenwart von 1802/03 verfolgt werden. Die frühen Entwürfe (1948/49) zeichneten dagegen ein ambivalentes Bild der Jakobinerzeit mit ihren willkürlichen Denunziationen und Verhaftungen. Mit der späteren Druckfassung restituiert Seghers die Geschichtserzählung von der Jakobinerherrschaft als glücklicher revolutionärer Zeit, ihre Schrecken, die terreur, werden nicht thematisiert. Ob die Autorin in den frühen Entwürfen im historischen Spiegel Gegenwartskritik üben wollte (vgl. Diersen 1993, 44– 48) oder die Arbeit abgebrochen hat, weil sie diese Deutung gerade nicht wollte (vgl. Uerlings 2021), ist strittig. Die Überarbeitung zur Druckfassung zeigt aber, welches sacrificium intellectum Seghers auch als Schriftstellerin zu erbringen bereit war. Heiner Müller wird im Auftrag exakt diesen Punkt aufgreifen. Dabei wird der Terror der Revolution zum Ausdruck ihres Scheiterns und Büchner zum Kronzeugen für diese Wahrheit und für die Trauer um die Toten sowie die zerstörte Hoffnung. Die These vom ›Verrat‹ der Revolution soll diese retten (vgl. Hilzinger 2000, 73). Sie lastet einer korrupten Führung an, was möglicherweise ein strukturelles Problem der Sache selbst ist: Die revolutionäre Gewalt zerstört, was sie befreien wollte. Seghers verschweigt nicht die Opfer, die die Revolution gekostet hat, im Gegenteil erzählen die Karibischen Geschichten vor allem davon und von der Trauer darüber. Die Toten werden aber nicht zum Problem der Revolution, sondern ihrer Gegner. Dabei drohen aus Opfern der Revolution solche für die Revolution zu werden. Sich einzugestehen, dass die Revolution und die von ihr hervorgebrachte Gesellschaft womöglich nicht weniger Gewalt, Rassismus, Unrecht und physisches
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sowie psychisches Elend mit sich gebracht haben wie diejenige, an deren Stelle sie trat, und zwar auf Haiti wie in der Sowjetunion und im übrigen Osteuropa, die DDR eingeschlossen, das war Anna Seghers schwerlich möglich. Das ist bei Heiner Müller grundlegend anders, ebenso bei Kleist, dessen Geschichtsskepsis kaum Handlungsspielräume lässt (vgl. Uerlings 2018), aber auch Seghers wird in Drei Frauen aus Haiti die zerstörerischen Aporien befreiender Gewalt neu bewerten (s. Kap. 28). Nimmt man die in der neueren Forschung unversehens wiederbelebte These von der Analogie zwischen Haiti bzw. der Karibik und der DDR ernst, dann erscheint die DDR (und das übrige Osteuropa) als sowjetische Kolonie, die auf eine durch Kommissare aus dem Mutterland der Oktoberrevolution angeleitete und nach deren Muster durchgeführte Revolution von oben hoffen darf. Mit dem Unterschied, dass hier eine – in Seghers’ Sicht und Terminologie – bereits ›verratene‹ Revolution importiert wird. Revolution als Kolonisation? Darin liegt vielleicht die abgründigste Frage, die die Karibischen Geschichten aufwerfen. Literatur
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Herbert Uerlings
22 Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965)
22 Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965) Die neun Erzählungen entstanden in den Jahren 1956 bis 1964; gedruckt wurden sie 1965, also im Kontext des Ungarn-Aufstandes, der Prozesse gegen Wolfgang Harich, Walter Janka u. a. sowie der Grenzschließung zwischen DDR und BRD. Auf den Titel hatte sich Seghers im Dezember 1957 festgelegt (vgl. Brandes WA II/5, 436). Als erstes, im Mai 1957, entstanden erste Notizen zu Agathe Schweigert und Der gerechte Richter (ebd., 439) sowie zu Susi (ebd., 447). In einer undatierten Kladde, die möglicherweise ebenfalls von 1957 stammt, vielleicht aber auch erst auf 1961/62 zu datieren ist (vgl. Albrecht 2005, 336 f.), finden sich eine Version von Der Führer, ein Fragment zu Der gerechte Richter und eine Frühfassung von Die Heimkehr des verlorenen Volkes (vgl. Brandes WA II/5, 440). Wiedersehen wurde vermutlich 1961 geschrieben (vgl. ebd., 445). Der Prophet entstand auf dem Heimweg von Seghers’ Brasilienreise 1963, ebenso Das Schilfrohr (vgl. ebd., 443 f.). In einem undatierten Diarium wurde neben einem Teilentwurf des Schilfrohrs auch der vollständige Text von Tuomas beschenkt die Halbinsel Sorsa niedergeschrieben (vgl. ebd., 448). Der gerechte Richter, Die Postbotin und Der Bilderrahmen wurden letztlich nicht in die Sammlung aufgenommen.
Inhalt Der kleine Band mit neun Erzählungen lenkt durch seinen Titel die Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Hauptfiguren, deren ›Schwäche‹ vor allem darin besteht, dass sie keine Machtpositionen einnehmen, wirtschaftlich und sozial eher im unteren Bereich der Gesellschaft angesiedelt und insgesamt ›unauffällig‹ (Brandes WA II/5, 436) sind. In Agathe Schweigert ist es die Titelfigur, die durch die heterodiegetische Erzählstimme (die am Ende als homodiegetische erscheint) als »bläßlicher« und »schwächlicher« (vgl. WA II/5, 165), von ihr nicht nahestehenden Figuren als »dürftiges Wesen« (ebd., 176) und »armselige Frau« (ebd., 187) bezeichnet wird. Als Besitzerin eines kleinen Kurzwarengeschäftes verfügt sie über wenig finanzielle Mittel, aber auch über wenig Bildung. Charakterisierend für sie ist darüber hinaus ihre – bereits im Namen angelegte – Schweigsamkeit, die nur in Erwartung einer ihr nahe stehenden Person in eine verhaltene Lebendigkeit umschlägt. Ihre Kraft
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besteht in der Liebe zu ihrem Sohn, die sie ihre Schüchternheit überwinden und trotz ihrer fehlenden politischen Bildung letztlich zur Spanienkämpferin (als tatkräftige Krankenpflegerin) werden lässt. Dass sie freilich alle Menschen, denen sie sich öffnet, wieder verliert, führt dazu, dass aus ihrer Entschiedenheit Härte wird und dass sie fast völlig verstummt. Der Führer in der gleichnamigen Erzählung ist ein Knabe von großer Schönheit, der als Gehilfe in einer Raststation im von Italien besetzten Äthiopien arbeitet. Seine ›Schwäche‹ liegt darin, dass er Angehöriger eines kolonialisierten Volkes ist, das von seinen Eroberern mit großer Gier ausgebeutet wird. Die Leser/innen folgen durch die anfängliche Nullfokalisierung eher dem Blick der goldsuchenden Italiener, bis sie durch einen unauffälligen Wechsel zur internen Fokalisierung aus Sicht des jungen Bergführers Einblick in dessen Vorhaben erhalten und den Untergang zumindest dreier lange ahnungsloser Eroberer und ihres sich opfernden Führers mitverfolgen. Die Motive seiner Aufopferung werden nicht benannt, weisen aber auf Widerstand gegen die Eroberer. Der wiederum männliche Protagonist in Der Prophet gleicht nicht dem in Der Führer, sondern eher Agathe Schweigert: »schmächtig und schwächlich« (WA II/5, 207), »schwerfällig«, »ungeschickt« (ebd., 209) oder »hilflos« (ebd., 211) lauten die Figureninformationen, die die Leser/innen durch die heterodiegetische Erzählerstimme über ihn erhalten, allerdings nicht nur: Ebenso häufig wird sein Stolz auf die von ihm geleistete journalistische Arbeit genannt, zumeist gespiegelt in der Bewunderung anderer Figuren. Sein Weg führt von Ungarn aus durch verschiedene Länder Europas und endet schließlich in einem deutschen KZ. Er leistet Widerstand aus einem politischen Bewusstsein heraus, das er bereits als Jugendlicher entwickelt hat, von wo aus er auch in den Augen des Lagerkommandanten zum »Propheten« (ebd., 213) wird, der zwar ebenso wie seine »Prophezeiung« (ebd.) vernichtet werden kann, deren Wahrheit aber, als Prolepse über das Ende des Textes hinausweisend, unangreifbar bleibt. Die Protagonistin in Das Schilfrohr, der vierten Erzählung, ähnelt dem Propheten zwar in ihrem Alleinsein und ihrer Tatkraft, durch ihre Verschlossenheit und anfängliche politische Unkenntnis (vgl. WA II/5, 215) ist sie aber viel mehr den anderen weiblichen Hauptfiguren Agathe Schweigert und Susi aus der gleichnamigen Erzählung zuzuordnen. Zugleich ist sie die einzige unter den Hauptfiguren, die kaum einen Ortswechsel vollzieht; sie bewegt sich aber innerlich, in-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_22
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dem sie sich durch den bei ihr versteckten Widerstandskämpfer emotional für einen Menschen ebenso wie für seine ihr neuen Gedanken öffnet (vgl. ebd., 218). Das titelgebende Schilfrohr ist dabei ein zwar lebensrettendes Utensil, das seine Nützlichkeit aber erst durch Martas Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit gewinnt: Hierin und in ihrer wortlosen, aber treuen Liebe liegt ihre Kraft, die sie überdies »dann auf öffentliche, gesellschaftliche Bereiche ausweitet« (ebd., 444). Stilistisch auffällig an dieser Erzählung sind die häufig gebrauchten Gedankenstriche, die zumeist für Ellipsen stehen, wodurch die ohnehin hohe narrative Distanz durch vieles Unausgesprochene noch erhöht wird. Von den genannten drei Protagonistinnen unterscheidet sich Pelageja Wassiljewna in Wiedersehen dadurch, dass sie ihren politischen Feind sehr wohl kennt. Die Erzählung, die die Mittelstellung in der Sammlung einnimmt, weicht aber auch in ihren literarischen Mitteln von den anderen ab, indem sie erstens durch eine autodiegetische Erzählerstimme umrahmt wird und zweitens zwei darunterliegende Ebenen mit den ebenfalls homo- bzw. autodiegetischen Erzählern Wolodja und Witja besitzt. Die Verschränkung der vom Umfang her gleichwertigen ersten beiden Ebenen macht es unmöglich, eine Hauptfigur festzulegen, und damit auch, eine einzelne ›schwache‹ Figur: Vielmehr stehen alle Figuren, die gemeinsam den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion durchgestanden und unter Opfern zurückgeschlagen haben, für die ›Schwachen‹ (in den Worten Wolodjas: »weil ich schwächer war, unglaublich schwächer als das Böse«; ebd., 234), die aber im Gegensatz zum Führer den Sieg ihres Volkes und sein Weiterleben ermöglicht haben, worin zugleich ihre Kraft besteht. Auch die Erzählung Das Duell weist im Vergleich zu den anderen eine formale Besonderheit auf, nämlich das Verwobensein zweier Handlungsstränge, wodurch die Figur, auf der jeweils die interne Fokalisierung ruht, wechselt. Dadurch, und weil von keinem Duell im eigentlichen Sinne erzählt wird, lassen sich die Bezüge zum Titel der Einzelerzählung wie der Sammlung nicht ohne weiteres herstellen. Die Grundsituation des Duells findet sich in der Beziehung zwischen Karl Bötcher und Professor Winkelfried wieder, wenngleich den Anlass dazu keine Beleidigung gibt, sondern die existentielle Bedrohung Bötchers durch Winkelfrieds Denunziation 1933. Das nun stattfindende ›Duell‹ zwischen beiden Lehrern wird nicht durch körperliche Gewalt ausgetragen (diese vermeidet Bötcher mit eiserner Selbstdisziplin; vgl. WA II/5, 258), sondern geistig, wobei der Schüler Ernst Helwig
eine Art ›Waffe‹, mit der der Sieg errungen werden kann, darstellt. Durch den Kunstgriff, die interne Fokalisierung zu wechseln, wird dieser nicht zum Objekt degradiert, sondern behält, indem die Leser/innen bereits mit ihm »bekanntgemacht« wurden, seine Menschlichkeit ebenso wie Bötcher, der ihn sonst nur benutzen würde. Ein eindeutiger Hinweis des Textes zeigt sich im Bruch der Fokalisierung, da ein Einblick in die Figur Winkelfried dessen Hass auf Bötcher zu erkennen gibt. Weniger eindeutig lässt sich hier die Verkörperung der ›Schwachen‹ feststellen: Ist es Bötcher, der aufgrund seines Herzens körperlich schwach ist, aber mit der Kraft seines Geistes siegt? Oder doch Ernst Helwig, der den jüngeren Schülern geistig unterlegen ist, aber mit Bötchers Unterstützung auch einen Sieg über sich selbst erringt? Dadurch, dass alle Beteiligten zum Lehrgang an einen ihnen fremden Ort reisen müssen, kommen sie nur durch den Ortswechsel zu ihren Erfahrungen. Die Erzählung Susi, die siebte des Bandes, ist mit den anderen auf mehrfache Weise verbunden: Sie wird, wie Wiedersehen, von einer homodiegetischen Erzählerstimme eingeleitet und abgeschlossen, freilich durchgängig von der Protagonistin als Analepse erzählt. Die Figur Susi ähnelt in ihrer stillen Tätigkeit und im politisch richtigen Handeln ohne entsprechende Vorbildung Agathe Schweigert und Marta Emrich. Zugleich ist aber auch eine Verbindung zum jungen Ato in Der Führer vorhanden, die in der körperlichen Schönheit beider besteht; auch Susi besitzt einen »Schimmer«, »auf ihrem Scheitel und auch auf ihren Augen« (WA II/5, 275). Sie begibt sich ebenso wie Agathe Schweigert wegen eines geliebten Menschen auf die Reise in ein fremdes Land und beginnt dabei auch unter eigenen Entbehrungen politisch zu handeln. Ihre Stärke ist ihre große Liebesfähigkeit und Treue, der Unaufrichtigkeit ihres Geliebten zum Trotz. Die Handlung der letzten beiden Erzählungen ist nicht im 20. Jahrhundert angesiedelt, sondern liegt ganz bzw. mit ihrem Anfang Jahrhunderte zurück oder beginnt vor »zweitausend Jahren oder noch früher« (ebd., 291), und streift damit bereits den mythischen Bereich. Verstärkt wird dies durch die Ortswahl, da nur Mexiko real, die Halbinsel Sorsa jedoch fiktiv ist. In Tuomas beschenkt die Halbinsel Sorsa bricht der arme Bauer Tuomas, der durch den Erzähler mehrfach als »verzagt« oder »schwach« (ebd., 296) charakterisiert wird, von Not getrieben auf, um durch den Handel mit Schnitzwaren einige Lebensmittel einzutauschen. Seine Offenheit gegenüber dem Ortswechsel über das Bekannte hinaus und sein Mut, verrufene
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Fremde zu treffen, ermöglichen es ihm, eine neue Anbaumethode kennenzulernen, die vielleicht die Zeit der Not beenden könnte. In für Seghers ungewöhnlich oft angewandter direkter Rede wird der Gegensatz zu seinen Landsleuten, die im Althergebrachten förmlich erstarrt sind und nur in der gehässigen Beobachtung des Streits anderer Vergnügen finden, herausgestellt – er selbst ist am Ende »freundlich« und »stolz« (ebd., 314 f.). Im Gegensatz zu Der Führer, der durch die spiegelbildliche Anordnung der Erzählungen ein Gegenstück zu Tuomas ist, löst Letzterer den Konflikt nicht durch den Gang in den Tod, sondern zeigt eine Möglichkeit zu leben. In Die Heimkehr des verlorenen Volkes wird von der erzwungenen, etwa 500 Jahre dauernden Flucht eines mexikanischen Volkes vor den europäischen Eroberern erzählt; es ist die einzige Reise in diesem Band, die in einer erwünschten Heimkehr endet und die damit auch einen versöhnlichen Abschluss für die Erzählungen bildet. Zugleich führt sie aus einer lange vergangenen Geschichte in die Gegenwart zurück. Von den erzählerischen Mitteln her reiht sie sich in die Mehrzahl der Erzählungen ein, indem auch hier heterodiegetisch erzählt wird, eine relativ hohe Distanz herrscht und eine interne Fokalisierung überwiegt, hier aus Sicht des vertriebenen Volkes (worin eine Parallele zu Das Wiedersehen liegt). Eine andere Verbindung besteht in der Ortsbeschreibung der Halbinsel, deren Fiktivität in Tuomas auf die des mexikanischen Volkes ausstrahlt. Eine Raffung eines langen Zeitraums, wie sie in Johann Peter Hebels Kalendergeschichten Unverhofftes Wiedersehen und Die Obstfrau von Brienne angewandt wurde, verbindet die letzte Erzählung mit der ersten (vgl. WA II/5, 167; 330 f.). Die Kraft der durch ihr Vertriebensein ›Schwachen‹ besteht in ihrer Zähigkeit über Jahrhunderte hinweg, die bis dahin reicht, das ihnen zugewiesene Land abzulehnen, weil es nicht ihr eigenes ist, und zu warten, bis sie ebendieses erhalten können. Kritik an den europäischen Eroberern mischt sich in dieser Erzählung mit dem Bild des Stromes der durch den Faschismus Vertriebenen, deren Rückkehr aus dem Exil als Wunschbild evoziert wird.
Thematische Beziehungen Seghers war es wichtig, dass die Erzählungen zusammen erscheinen und im Verbund gelesen werden (vgl. Brandes WA II/5, 437); so bestehen auch zahlreiche Zusammenhänge und gegenseitige Verweise zwischen den Texten. Hervorzuheben ist die Rahmung
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durch Agathe Schweigert und Die Heimkehr, die man als Bogen vom »Aufbruch der Verfolgten aus Europa« bis zur »gelungenen Heimkehr des verlorenen Volkes« lesen kann (ebd., 438); darüber hinaus zeigt Brandes einen spiegelbildlichen Aufbau in den Thematiken der Erzählungen, ausgehend vom mittleren Wiedersehen. Über den gemeinsamen Titel hinaus ist ein Grundthema aller Erzählungen zu suchen: Zehl Romero nennt hier die Gerechtigkeit, die allerdings besonders in den nicht veröffentlichten Erzählungen (v. a. Der gerechte Richter) dominiert (Zehl Romero 2003, 241). Brandes spricht von der »Widerstandskraft einfacher Menschen«, die sich »der jeweils bestehenden politischen Wirklichkeit widersetzen« (Brandes WA II/5, 421; 437–439). Darüber hinaus aber kristallisieren sich folgende Themen heraus, die wiederum untereinander in Verbindung stehen: Reisen bzw. Veränderung vs. Erstarrung, Religion bzw. Mythos und Realität vs. Fiktion. Alle Hauptfiguren mit Ausnahme Marta Emrichs, die aber eine starke innere Veränderung durchlebt, unternehmen Reisen, teils freiwillig, teils gezwungenermaßen; zwei führen in den Tod. Nur bei der letzten gibt es eine erwünschte Heimkehr. Insbesondere bei den Frauenfiguren gehen die Reisen mit einem Lernprozess, auch in politischer Hinsicht, einher, bei den Männern geht es um das Beharren auf dem als richtig Erkannten. Demgegenüber stehen Figuren, die sich dem Neuen verweigern und förmlich erstarrt sind: besonders deutlich in Tuomas, aber auch bei Karl Emrich im Schilfrohr. Der politisch richtige Standpunkt spielt bei den meisten Erzählungen bereits vordergründig eine Rolle. Insofern jedoch gerade die Frauen über keine politische Vorbildung verfügen, aber trotzdem schon richtig handeln, wird die Lehre vom politischen Bewusstsein als entscheidendem Moment des richtigen Handelns konterkariert und ihm eine ganz andere Kraft entgegengesetzt: die Liebe zum Sohn, zu einem Mann oder auch zur Heimat. Auch die anderen Figuren handeln nicht nur rational aufgrund ihres Bewusstseins, sondern fügen ihrem Bewusstsein zumindest die Leidenschaft für das als richtig Erkannte hinzu – keine dieser Figuren gehört zu den »Erstarrten«. Umgekehrt gibt es aber sehr wohl Figuren, die zwar den richtigen politischen Standpunkt haben, aber nicht liebevoll handeln: Schweigerts Sohn Ernst, der zwar gelegentlich eine »spitze Bemerkung« (WA II/5, 171) bezüglich der Nationalsozialisten macht, aber seiner Mutter nichts erklärt und schließlich ohne eine Nachricht an sie nach Spanien geht. Das Gleiche gilt für Kurt Steiner, der zwar die Beziehung zu Marta Emrich eingeht, ihr auch tat-
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sächlich seine Weltsicht nahebringt, sie aber ohne jegliche Erklärung verlässt, als die Gefahr für ihn vorbei ist (freilich wird seine politische Haltung ohnehin dadurch als wankelmütig dargestellt, dass er am Ende die SBZ verlässt). Im Duell werden aus Sicht Helwigs die Sozialdemokraten und die Kommunisten charakterisiert: »sie waren gutmütig, aber sie kamen ihm unklug vor in ihren Gedanken. Mancher Kommunist [...] kam ihm schroff, selbstgerecht vor, aber ihre Gedanken [...] waren oft richtig« (ebd., 243). Eine nicht sogleich ins Auge fallende, aber doch deutliche Differenz zwischen dem geforderten Denken und dem dazugehörigen Fühlen und Handeln tut sich hier auf, eine Erstarrung im Denken, die das Menschliche aus dem Blick verliert. Das zweite wichtige Thema sind die mehr oder minder versteckten Bezüge zu Religion oder Mythos, die fast in jeder Erzählung vorhanden sind: Schon der Titel der Sammlung weist auf den 2. Brief des Paulus an die Korinther, wobei in Bezug auf die Charakterisierung kommunistischer Figuren wohl auch Vers 7, der von der Gefahr der Selbstüberhebung spricht, wichtig ist. In Der Führer sind die deutlichsten Bezüge zur Bibel zu finden, nicht nur im Vergleich des Knaben mit einem »erzürnten [...] Engel« (WA II/5, 195) und seinem Selbstopfer, sondern auch sprachlich in Anspielung auf die bzw. Verkehrung der Schöpfungsgeschichte: »Es ward Morgen. Der letzte Tag« (ebd., 205). Zugleich findet die Handlung in einer Landschaft statt, die in expressionistischer Darstellungsweise auf einen mythischen Raum verweist und für den Ato Symbol seiner »eigenen, jahrtausendealten Kultur« der koptischen Christen (Brandes WA II/5, 443) ist, die durch die Eroberer bedroht wird. Die benannten »zweitausend Jahre« (WA II/5, 189 und 291) Geschichte in Die Heimkehr des verlorenen Volkes verbinden diese Erzählung mit Tuomas ebenso wie das Ostinato des »Umsonst« am Beginn hier mit dem Dröhnen und Klirren dort (vgl. ebd.); überdies kehrt die Schönheit des Ato in den mexikanischen Priestern wieder, die »Knaben, kluge, schönäugige, makellose« als Nachfolger ausbilden (ebd., 318). Im Gegensatz zu Tuomas, aber in Übereinstimmung mit Die Heimkehr wird hier die Zeit des Mythos bis in die Gegenwart überführt. Der Prophet verweist bereits durch den Titel auf den religiösen Bereich, was durch die Handlung gerechtfertigt ist, obwohl sie vordergründig innerhalb der realen Geschichte stattfindet. Ebenso wie der Führer opfert sich der Prophet und wird wie dieser zum Märtyrer (ebd., 444), indem durch seine Prophezeiung die Mitgefangenen Hoffnung und dadurch die Kraft zu überleben finden können. Im Schilfrohr heißt die Haupt-
figur Marta und ist ebenso tatkräftig wie die Schwester Marias im Lukasevangelium (10,38–43) und im Johannesevangelium (11,1–45). Überdeutlich wird das durch den Hinweis am Beginn von Wiedersehen, wo die Erzählerin gleich zu Beginn die Hl. Martha im Kirchenfenster zu sehen meint – wobei die Kirche das handlungsauslösende Element ist. In Duell wird von einer Statue im Park berichtet, die von den Lehrern als Nymphe, Diana oder die Muse Melpomene identifiziert wird (vgl. WA II/5, 250, 262 und 269), ohne dass die Richtigkeit von der Erzählstimme bestätigt würde. Die Skulptur steht einerseits für den Mythos, der aus der Antike bis in die Erzählgegenwart die Zeiten verbindet. Andererseits bedeutet die Tatsache, dass die Figuren die Bedeutung der Skulptur nicht mehr lesen können – über die Identifikationsversuche als jungfräuliche Göttin der Jagd oder als Muse der Tragödie lässt sich keine sinnvolle Verbindung zum Inhalt der Erzählung herstellen −, dass die Vertrautheit mit dem mythischen Grund verlorengegangen ist. Auch der Name des Hausmeisters, Selbdritt, weckt zwar die Assoziation mit den christlichen Heiligen, hat aber als bloßer Name keine weitere Bedeutung im Text. In Agathe Schweigert sind es nur die Sterne, zu denen über Schweigerts Erstaunen in Spanien (im Gegensatz zu den blassen, kümmerlichen in Algersheim; vgl. WA II/5, 175, 181) ein Zusammenhang zu etwas Höherem hergestellt wird. Freilich liegt hier der Bezug zum Spanienlied erst einmal näher, aber in Verbindung mit ihrer Bedeutung in Der Führer und Die Heimkehr lässt sich auch hier die Brücke zum Mythos schlagen. Susi ist durch das metaphorische, erzählerische Heraufbeschwören des Mythos verbunden mit Der Führer und Tuomas. In Die Heimkehr werden die Themen des Bandes zusammengeführt. In der Thematisierung des mexikanischen Volkes werden die mythischen Elemente der vorchristlichen Astronomen mit ihren Priestern und Gesängen mit der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte verknüpft: Über den Titel und in Bezug auf die Prophezeiung des Hesekiel 34, 16 wird nicht nur inhaltlich das jüdisch-christliche Paradies mit der sozialistischen Utopie zusammenge- bzw. sogar in die historische mexikanische Realität überführt, sondern es wird der Bogen ebenso zum Titel des Erzählbandes wie zu seinem Anfang des Aufbruchs ins Exil geschlagen, zu den Erzählungen Der Führer und Der Prophet sowie zu Tuomas und Susi. Die Abgetrenntheit vom Mythos im Duell ist damit überwunden. Das dritte wichtige Thema tritt am deutlichsten in der mittleren Erzählung in Erscheinung. Erzählerisch
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hervorgehoben durch einen kurzen Einschub von Gleichzeitigkeit wird der Gegensatz »zwischen Erfindung und Wirklichem« (WA II/5, 229), zwischen Wahrheit und Fiktion thematisiert. Obwohl Wolodja diese Grenze sehr genau kennt, erzählt er von einer Fiktion, indem er der Mutter seines Freundes von dessen gutem Tod berichtet habe, obwohl er »in Wirklichkeit« (ebd., 232) sehr schmerzhaft war. Zugleich betont er aber indirekt die Wahrheit »all diese[r] Einzelheiten« (ebd., 236), an die er sich durch die Wiederbegegnung erinnert. Ebenso auf der ersten Erzählebene betont die Erzählerin die Wahrheit der Existenz der versteckten Kirche sowie, dass ihr diese besonders in unsaniertem, bewohntem Zustand gefallen habe (vgl. ebd., 227). Insofern gerade das Erzählen eines Detailreichtums, wie die Wiedergabe wörtlicher Rede aus der Erinnerung, ein Kennzeichen der Fiktionalität eines Textes ist, verschwimmen trotz gegenteiliger Behauptung die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und verweisen so auf eine durch die Gestaltung verbürgte Wahrheit literarischer Texte. Ebenso wichtig ist die Darstellung in der abschließenden Erzählung Die Heimkehr, wo der Mythos über die Literatur am Ende direkt in die Realität hineinwirkt: Die Erinnerung an seine Heimat war vom Verlorenen Volk in seinen jahrhundertealten Gesängen und Erzählungen, also in seiner Literatur, aufbewahrt worden (vgl. ebd., 318, 335), so dass es das reale Land aus seinen fiktionalen Texten erkennt und zurückgewinnt. Somit wird ganz am Schluss inhaltlich und sprachlich der Unterschied zwischen ›Geschichte‹ und ›Geschichten‹ negiert: »›Hört unsere Geschichte!‹ / Die besten Geschichtenerzähler [...] traten vor. Sie erzählten und sangen aus ihrem Gedächtnis, was darin aufgehoben war« (ebd., 335). Weniger hervorstechend, aber doch präsent ist das Thema dort, wo die Erzählungen durch die homodiegetische Erzählstimme beglaubigt werden: in Agathe Schweigert und Susi. Bei Letzterer verwebt sich die Ebene der Erzählerin mit der des Erzählten so weit, dass parallele Handlungsmomente entstehen. So wie die Erzählerin »nach den Fäden, aus denen der Schimmer kam« (WA II/5, 275) im Haar der kindlichen Susi sucht, tut es später auch der Geliebte Jean (ebd., 279), beide begegnen den auf den nahenden Herbst weisenden Herbstzeitlosen. Während hier die Erzählerin nur wiedergibt, was Susi selbst »erzählte« (ebd., 289), notiert in Agathe Schweigert die Erzählerin, was sie »von ihr weiß« (ebd., 188), so dass der Wahrheitsanspruch gegenüber Susi noch gesteigert wird. Die Thematisierung an so prominenten Stellen der Sammlung (in der ersten, mittleren und letzten Erzählung) spricht für die
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Wichtigkeit des Themas, das zugleich als Auseinandersetzung mit dem offiziell nicht zurückgenommenen Verbot eines Formalismus und den Vorgaben des sozialistischen Realismus zu verstehen ist: Denn wenn eine durch die Erzählstimme in keiner Weise zweifelhaft erscheinende Figur die Wahrheit erzählen kann, ohne auf Fiktion verzichten zu müssen, wenn, mehr noch, Geschichte und Geschichten sich so eng verbinden können, dass der Mythos im Stande ist, unmittelbar in die historische Realität hineinzuwirken, dann wird es schlicht sinnlos, von Künstlern zu verlangen, sich auf die Abbildung der Realität zu beschränken. Eben dieser Beschränkung hat sich Seghers in Die Kraft der Schwachen nicht unterworfen, wie ihre Figuren auch sonst kaum dem Schema des positiven Helden entsprechen.
Rezeption Im Gegensatz zu anderer Kurzprosa von Seghers wurde die Erzählungssammlung nach ihrem Erscheinen in der DDR häufig, und zwar »stark politisch-ideologisch« rezensiert, so dass diejenigen mit deutlichem DDR-Bezug zu den »am besten gelungenen« erklärt wurden, wohingegen die am wenigsten realistischen Texte Tuomas und Die Heimkehr teilweise auf Unverständnis stießen (vgl. Brandes WA II/5, 458). Die in der Situation des Kalten Krieges auf westlicher Seite entstandenen Rezensionen konstatierten gerade den umgekehrten Fall: Die besten Erzählungen sind diejenigen ohne DDR-Bezug, wobei alle als nicht politisch wahrgenommen wurden und ein »Nachlassen der dichterischen Gestaltung« beklagt wurde (ebd., 459). Von den Erzählungen wurden Das Duell (1969) und Das Schilfrohr (1974) unter ihrem ursprünglichen Titel sowie Die große Reise der Agathe Schweigert (1972) in der DDR verfilmt (vgl. ebd., 461–463). Agathe Schweigert, Das Schilfrohr und Das Duell wurden Schullektüre in der DDR. Adaptiert wurden Seghers’ Erzähltexte insbesondere von Heiner Müller, für Die Kraft der Schwachen trifft das auf Das Duell zu, und zwar in der dritten Episode von Wolokolamsker Chaussee (1986; Fehervary 1999, 162).
Forschung Eine ausführliche Beschäftigung mit der Sammlung, auch unter dem Aspekt ihrer Komposition, liegt mit Zehl Romero (2003, 181–186 und 240–250) sowie
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Brandes vor. Zehl Romero (2003, ebd.) beurteilt und interpretiert die Erzählungen, wie naheliegend, im Kontext ihrer Biographie und ordnet sie in Seghers’ Gesamtwerk ein, wobei sie der Entstehungsgeschichte entsprechend viel Raum gibt. Brandes (WA II/5, 436– 456) betrachtet neben der Entstehung der Texte die Komposition ihrer Anordnung sowie die intertextuellen Bezüge und widmet sich stärker als Zehl Romero jeder einzelnen Erzählung. Dazu kommt die Untersuchung des Bezugs zwischen Die Heimkehr und Der gerechte Richter durch Diersen (1994), in der sie Die Heimkehr als Entwurf einer gelingenden Utopie mit nur teilweiser Verankerung in der Geschichte im Gegensatz zum Utopieverlust in der sozialistischen Realität in Der gerechte Richter darstellt. Im Kontext des Fluchtmotivs betrachtet Fehervary einzelne Erzählungen aus Die Kraft der Schwachen neben zahlreichen anderen Texten von Seghers. Das Schilfrohr findet nur kurz wegen des politischen Flüchtlings Kurt Steiner Erwähnung, während Agathe Schweigert in der Tradition der Fluchterfahrung der Evangelisten ebenso betrachtet wird wie als »Flucht nach vorn in eine unbekannte Zukunft« (Fehervary 2017, 53); letzterem Motiv wird auch Der Führer zugeordnet. Beachtung in einem größeren Kontext fand Die Heimkehr bei Haas (1975, 163–168) im Zusammenhang mit dem Mythos und bei Gutzmann (1994) über den Bezug zu Mexiko als Handlungsort und Stoff. Einzelinterpretationen gibt es zu Der Führer (Jäckel 1974; Albrecht 2005) und Das Duell (Bergstedt/Morling 1990). Jäckel arbeitet vor allem die intertextuellen Bezüge heraus und stellt die Erzählung so in den Kontext der Weltliteratur, Albrecht hingegen nutzt für seine Deutung vor allem den dargestellten Raum mit seiner surrealistischen Landschaft. Bergstedt/Morling heben die Ambivalenz der Erzählung im Hinblick auf die vorgetragenen Argumente der Gegner Winkelfried und Bötcher hervor
und die darin angelegte Frage, inwiefern die drängende Unterstützung Bötchers in eine Bevormundung umschlagen könnte. Müllers Stück fassen sie an diesem Punkt als Gegenentwurf auf, indem Helwig zum Gegner Bötchers wird und damit Winkelfrieds Argumente rechtfertigt. Literatur
Albrecht, Friedrich: Versteinerte Welt. Zu Anna Seghers’ Novelle ›Der Führer‹. In: Ders.: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965−2004. Bern [u. a.] 2005, 333–369. Bergstedt, Alfred/Morling, Kerstin: Das Duell: zu Anna Seghers Erzählung ›Das Duell‹ (1965) und Heiner Müllers ›Wolokolamsker Chaussee‹; T.3: Das Duell (1986). In: Brandenburgische Landeshochschule 34 (1990), 693–704. Diersen, Inge: Erfahrung Mexiko. Die lateinamerikanischen Spuren im Schaffen von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 3 (1994), 145–154. Fehervary, Helen: Landschaften eines Auftrags. In: Jost Hermand/Helen Fehervary (Hg.): Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller. Köln/Weimar/Wien 1999, 160–175. Fehervary, Helen: Zur Topographie der Flucht in den Romanen und Erzählungen von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 25 (2017), 47–56. Gutzmann, Gertraud: Der lateinamerikanische Kontinent in Anna Seghers’ publizistischen Schriften. In: Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis (Hg.): »Neue Welt« / »Dritte Welt«. Interkulturelle Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika und der Karibik. Tübingen/Basel 1994, 155–183. Haas, Erika: Ideologie und Mythos. Studien zur Erzählstruktur und Sprache im Werk von Anna Seghers. Stuttgart 1975. Jäckel, Günter: Die Kraft der Schwachen und die Freundlichkeit der Welt. Eine Interpretation von Anna Seghers’ Novelle ›Der Führer. In: Weimarer Beiträge 20 (1974), 68–77. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947−1983. Berlin 2003.
Caroline Köhler
23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967)
23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967) Die Erzählung Das wirkliche Blau ist nach Crisanta (1950) der zweite Text von Seghers, dessen Untertitel direkt auf Mexiko verweist. Er wurde zwanzig Jahre, nachdem die Autorin aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt war, geschrieben. Die nahe Verbindung Seghers’ zum mittelamerikanischen Land wird durch Interviews bezeugt, so sagte sie einmal: »Mexiko habe ich sehr geliebt. Ich war dort schwer krank – nach einem Unfall –, aber gerade dadurch lernte ich viele Arten von Menschen gründlich kennen« (undat. Interview von Roos/Hassauer-Roos 1977, 157). Die dem Text vorangestellte Widmung verweist auf den Entstehungskontext, Seghers befand sich im Urlaub in Armenien: »Geschrieben in Dilishan. Meinen armenischen Freunden, Schriftstellern und Töpfern, gewidmet« (WA II/6, 6). Seghers wollte die Erzählung im Band Die Kraft der Schwachen publizieren, der aber früher veröffentlicht wurde, wie sie in einem Brief vom 13.5.1966 an den Rektor der Bergakademie Freiberg, Prof. Dr. Lindemann bemerkt (vgl. Kaufmann WA II/6, 395). Die Erstausgabe erschien 1967 im Aufbau Verlag, die zweite Auflage erst 1976. Das Archivmaterial zeigt, dass Seghers bei der Gestaltung der Hauptfigur von einer Erinnerung an einen Färber ausging. Bei der Recherche orientierte sie sich an Material, das sie in der Bergakademie Freiberg über die historische Farbgewinnung in Sachsen im 17. Jahrhundert gefunden hatte (vgl. ebd., 397). Es ergibt sich daraus, dass als Folie hinter der dargestellten mexikanischen Gegenwart an der Schwelle zur Industrialisierung eigentlich Techniken aus Sachsen von dreihundert Jahren zuvor stehen. Diese Überlagerung ist vor allem in Zusammenhang mit einer postkolonialen Lektüre noch wenig beachtet worden.
Inhalt und intertextuelle Bezüge Das wirkliche Blau ist die Erzählung vom Töpfer Benito Guerrero, der sich in der Machart seines Geschirrs auf ein bestimmtes Muster mit dem titelgebenden Blau spezialisiert hat. Benito lebt mit seiner Frau Luísa, den drei Söhnen und einem Maultier in einem Dorf namens Santiago Ixcuintla (zur Verwendung von fiktiven und realen Ortsnamen vgl. Roussel 2002, 192). Dort stellt er seine Töpfe her und verkauft sie in der Stadt auf dem Markt, wohin ihn jeweils die ganze
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Familie begleitet. Guerrero wird als Meister seines Handwerks eingeführt, sein Geschirr ist weithin bekannt und gefragt. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges und daraus resultierenden Lieferengpässen fehlt nun der Farbstoff, und dieser Umstand wird für die Familie Guerrero zur existentiellen Bedrohung. Es ergibt sich ein Reigen von Nachfragen bei unterschiedlichen Lieferanten, der Händler Don Victor wartet auf eine Lieferung der Firma von Fernández. Dieser hat Verträge mit einem in Mexiko ansässigen Alfredo Müller, der deutscher Herkunft ist (auf den historischen Bezug zu I. G. Farben verweist Bernstorff 2006, 123). Mit dieser Figur werden Deutschland und der Krieg zum Thema, eine auktoriale Erzählinstanz schaltet Informationen zwischen die narrativeren Teile des Textes: »Die Lagerbestände waren beschlagnahmt, die Geschäftsbücher eingezogen. Denn nach dem Überfall auf Pearl Harbour waren die USA im Krieg gegen Japan und Deutschland; Mexiko hatte sich den Amerikanern angeschlossen« (DwB, 17). Die Sichtweise von Fernández wird teilweise intern fokalisiert wiedergegeben. Notgedrungen experimentiert Benito mit anderen Farben, es will ihm aber nichts Überzeugendes gelingen, die Einnahmen bleiben aus, die Lebensmittel werden knapp. An dieser Stelle taucht plötzlich eines Nachts Tante Eusebia auf, deren »scharfe grünliche Augenlichter« »funkelten« (DwB, 24). Eusebia weiß von einem Silberbergwerk und von einem Vetter Rubén, der mit einem Gehilfen, Lorenzo, das gesuchte Blau aus Resten des Bergbaus gehoben habe. Und sie ist es, die Benito rät, jenen Vetter aufzusuchen. Dass der Töpfer aus dem Dorf reiseunerfahren ist, lässt sie nicht gelten, sondern befiehlt ihm: »Und du fragst unterwegs, und einer, der mit dir fährt, wird wissen, wo dieses Bergwerk liegt« (DwB, 26). So macht sich Benito auf den Weg. Nach dem nächtlichen Auftritt von Eusebia gibt es einen Wechsel des Erzählstranges. Im Fokus steht nun Deputado Ramirez, der ein geschäftliches Gespräch mit seinem Schwiegersohn, Vázquez, führt. Über die Figur Müller sind die beiden Erzählstränge miteinander verbunden, Ramirez will nämlich Geschäfte mit jenem machen. Er weiht Vázquez ein, bereut es aber sofort, weil dieser zu bedenken gibt: »Mir scheint, dein Müller versteht sich darauf, Verbotenes mit Normalem zu mischen« (DwB, 28). Geschäfte in Kriegszeiten zu machen, kann gefährlich sein, zumal mit den Deutschen. So warnt Vázquez: »Diese Deutschen ermorden gar Gefangene« (DwB, 29). Der Mord an den Juden wird dabei in der Erzählung nicht explizit zum Thema.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_23
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Vázquez ist jedoch der Meinung, jedes weitere Geschäft verlängere den Krieg. Obwohl es bedeutungsträchtig scheint, dass der Erzählstrang durch Löwengebrüll vorübergehend abgeschlossen wird, bleibt offen, warum dieses Gespräch in der Nähe eines Zoos stattfindet. In der Zwischenzeit befolgte Benito Tante Eusebias Ratschlag, seine Abreise wird mit einer Faden-Metaphorik beschrieben, die quasi-materielle Gebundenheit an das Zuhause reißt schließlich (vgl. DwB, 30). Es beginnt eine monatelange Reise mit mehreren Halten an Orten, wo Rubén sich einmal aufgehalten hatte, mittlerweile aber bereits weitergereist war. Die Suche nach dem richtigen Bergwerk wird erzähltechnisch mittels einer imaginären Begehung eines Stollens umgesetzt. Benito betritt den »Schacht der Erinnerung« (DwB, 32), findet dort Rubén und sieht das Blau strahlen. Auf der Erdoberfläche und in der Wirklichkeit hingegen finden die Figuren hauptsächlich Schutt und Elend. Die Eltern von Rubén Alvarez trifft Benito unter prekären Umständen lebend an. Alles Wichtige für die Suche nach dem Blau wird unter Männern in Pulquerias besprochen, wenn Benito allerdings auf seinem Weg nicht mehr weiterweiß, sind es Frauen, die ihm weiterhelfen. Mehrere Traumsequenzen zeigen Benito entweder falsche Farben oder heimische Marktszenen mit seinem treuen Maultier. Kontakt mit der Familie zuhause kann der Analphabet Benito nur aufnehmen, wenn er jemanden dazu überreden kann, für ihn ein paar Zeilen zur Post zu bringen. Endlich trifft er seinen Vetter, muss sich seinen Farbstoff aber verdienen und so verstreicht wiederum viel Zeit. Rubén hinkt seit Geburt und findet keine Partnerin. Diese Lebenserfahrung macht ihn auch gegenüber Benito misstrauisch. Rubén wird als schlaue Außenseiterfigur mit weichem Herz beschrieben – als der Name Eusebia gefallen ist, zeigt er sich gegenüber seinem Vetter freundlich. Sein Gehilfe Lorenzo ist Pragmatiker, er möchte mit dem Farbstoff vor allem Ruhm erreichen und ist auch bereit, seine Geliebte, die Kellnerin Concepción, für eine strategisch bessere Partie sitzenzulassen. Benito schafft es schließlich mit dem Farbstoff nach einer derart langen Zeit nach Hause, dass er mittlerweile auch noch Vater einer Tochter geworden ist. Sein neues Geschirr ist ein Erfolg, alles schmecke einem darauf besser (vgl. DwB, 88), meinen die Kunden. Der Erzählstrang wird noch einmal gewechselt, Ramirez und Fernández sprechen mittlerweile über die Nürnberger Prozesse (vgl. DwB, 88). Die allerletzte Szene fokussiert erneut auf Benito, der vom Markt
heimgeht. Sein Sohn spricht mit dem Mulo und Benito bedankt sich beim Dorflehrer dafür, dass sein Sohn Schreiben und Lesen kann. Die Pointe, dass es bei Benitos Reise nicht nur um eine materielle Suche, sondern vor allem um einen Selbstfindungsprozess und das Erreichen einer Selbstständigkeit ging, macht die Schlusspassage explizit, in der Don Victor Benito mitteilt, das Blau sei wieder im Handel erhältlich. Benito lehnt das Angebot ab und antwortet lakonisch: »Ich hab mein Blau gefunden. Und hol mir’s selbst, wenn ich’s brauche. Einmal für allemal« (DwB, 90). Auf die Parabelstruktur des Textes verweist auch eine Leerstelle in der Erzählung, nämlich die Frage, wie Luísa und die Kinder während der Abwesenheit ihres Mannes überhaupt existieren konnten. Intertextuelle Bezüge lassen sich über das Thema Mexiko zu Crisanta (1951) sowie dort und darüber hinaus zum Motiv der Farbe Blau in Überfahrt (1971) und in Drei Frauen aus Haiti (1980) herstellen. Zur etwas klischierten Darstellungsweise von Mexiko gehört das Tortilla Klatschen und Backen, der omnipräsente Pulque sowie die gestapelten Hüte im Zug (DwB, 30 f.). Christa Wolf nimmt in Nachdenken über Christa T. das »wirkliche Blau« auf (vgl. Bernstorff 2006, 117).
Forschung Die Sekundärliteratur hat verschiedentlich auf mögliche Referenzen in der Namensgebung der Hauptfigur verwiesen – Benito Guerrero teilt seinen Nachnamen mit dem berühmten mexikanischen Wandmaler Xavier Guerrero (1896–1974) und den Vornamen mit Mexikos erstem indigenen Präsidenten, Benito Juárez Garcia (1806–1872). Roussel (2002, 196) schließt deshalb auf eine »indianische Identität des Töpfers«, die allerdings im Text nicht verbürgt ist. Das titelgebende Blau wird oft mit der Romantik in Verbindung gebracht: »Wie Novalis’ Held Heinrich von Ofterdingen begibt sich Benito danach auf die Suche, doch ist er, wie es der Titel besagt, auf Reales aus« (Neugebauer 1978, 192; vgl. Hilzinger 2000, 14; Uerlings 2000, 12; Roussel 2002, 197). Diese Lesart ist aber durchaus nicht zwingend, zumal sich Anna Seghers selbst entschieden dagegengestellt hatte. 1971 bedankte sie sich bei Lew Sinowjewitsch Kopelew für dessen Besprechung von Das wirkliche Blau und schrieb: »Übrigens habe ich diese Novelle selbst gern, nur mit der ›Blauen Blume der Romantik‹ hat sie, glaube ich, nichts zu tun. Dagegen habe ich früher eine Novelle
23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967) geschrieben, die auch in Mexiko spielt und in der die Farbe Blau auch eine wichtige Rolle spielt. Nur, in dieser anderen Novelle, die Crisanta heißt, bezieht sich das Blau auf eine Erinnerung, auf den Rebozo der Mutter, das Umschlagtuch, in das das kleine Kind früher immer gewickelt war. [...] Nochmals danke ich Dir herzlich für die schöne Besprechung, Du hast genau gefunden, was mir daran wichtig ist: Die Arbeit des Töpfers und das Unfaßbare, das in der Kunst enthalten ist.« (Br2, 213)
Als heimliche Hauptfigur hat die Forschung Tante Eusebia beschrieben. Kaufmann bezeichnet sie als eine »spukhaft wirkende Figur« (Kaufmann WA II/6, 398), Neugebauer »als gute[n] Geist« (Neugebauer 1978, 190). Ihr Auftritt sei »etwas märchenhaft« (Uerlings 2000, 12), »wie eine Kräuterhexe« (Karlavaris-Bremer 1996, 206) oder sie sei eine »gute Fee und halbe Hexe« (Roussel 2002, 192). Noch wenig Aufmerksamkeit bekam bisher das Maultier, das in dem Text eine zentrale Rolle einnimmt. Es kann nicht nur symbolisch für die Ausdauer und Beharrlichkeit, sondern auch als diegetisches Tier (Borgards 2016, 226–228) gelesen werden: Die Familie des Töpfers lebt mit dem Mulo auf eine Weise zusammen, dass es in der Terminologie von Donna Haraway als »companion animal« (Haraway 2003, 14) bezeichnet werden kann. Benito träumt unterwegs vom Mulo und sehnt sich nach ihm: »Mit tiefem Verlangen nach seinem bedachtsamen unvergleichlichen eignen Maultier, es würde vielleicht jetzt, behutsam für andere die Lasten schleppend, daheim die Seinen ernähren« (DwB, 34). Während in der konträren Welt des Bergwerkes Lorenzo keine Rücksicht auf das dortige Maultier nimmt, pflegt Benito dessen Wunden (vgl. DwB, 71). Und es ist das Maultier, das mit seinem Instinkt die Heimkehr Benitos vorwegnimmt: »das Mulo spürte, daß etwas Wichtiges näherkam. Es wurde ein wenig unruhig« (DwB, 87). Die Erzählung wird entweder als »Schlüsseltext« (Bernstorff 2006, 113) der DDR-Literatur der 1960er Jahre gelesen oder dann politisch und künstlerisch wertend, wenn etwa Uerlings das Verdikt ausspricht: »Die dergestalt umgefärbte Blume ist nicht nur rot, sondern auch tot« (Uerlings 2000, 15). Meist wurde der Text als Parabel oder Märchen gelesen: »In dieser mexikanischen Geschichte, in der Anna Seghers aus der Distanz des Alters Land und Leute ihres Exillandes zeigt, verwebt sie mehrere Aspekte ihrer Schreibweise – Märchenhaftes, Soziales, Zeitbezogenes – zu einer Parabel vom Künstler, der sich nicht beirren läßt auf
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der Suche nach seinem ureigensten Ausdrucksmittel« (Karlavaris-Bremer 1996, 208; zum Märchen vgl. Neugebauer 1978, 190; 192 f.; Roussel 2002, 192). Mit der sprachlichen Dimension der Erzählung haben sich bisher vergleichsweise wenige auseinandergesetzt, Neugebauer stellte einige Beobachtungen an: »Emotionalisiert wird durch Vergleiche oder Wiederholungen (›immer weiter zu suchen, zu suchen nach dem Blau‹), durch Schaltgruppen (Gott weiß wie), Zwillingsformeln (gestriezt und geschniegelt) oder Ellipsen (›Warum, das war Müllers Sache‹)« (Neugebauer 1978, 193). Schließlich sind in dieser Erzählung wie auch in Crisanta die Figuren in einer patriarchalen Gesellschaft situiert. Villora (2016, 55) sieht aber »a hidden matriarchy in this story«. In der Tat gelingt der Selbstfindungsprozess nur deshalb, weil Luísa zuhause die Familie ernährt, weil Tante Eusebia die Reise initiiert und weil unterwegs mehrere Frauen Benito mit Ratschlägen, Wegbeschreibungen sowie mit lebensnotwendigem Essen und Wasser beiseitestehen. Literatur
Bernstorff, Wiebke von: Fluchtorte. Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers. Göttingen 2006. Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Díaz Péréz, Olivia C.: Das Bild Mexikos und die Exilerfahrung im Werk von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 11 (2002), 85–98. Díaz Pérez, Olivia C.: Mexiko als antitotalitärer Mythos. Das Werk von Anna Seghers zwischen Nationalsozialismus, mexikanischem Exil und Wirklichkeit der DDR. Tübingen 2016. Diersen, Inge: Erfahrung Mexiko. Die lateinamerikanischen Spuren im Schaffen von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 3 (1994), 145–154. Gargano, Antonella: Die Morphologie des ›Wirklichen Blaues‹. Zu Anna Seghers’ Erzählung. In: studi germanici. Anno XXXIII, 1 (1995), 79–90 Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago 2003. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Karlavaris-Bremer, Ute: Frauen in Anna Seghers’ Erzählung ›Das wirkliche Blau‹. In: Argonautenschiff 5 (1996), 204– 209. Lürbke, Anna: Mexikovisionen aus dem deutschen Exil. B. Traven, Gustav Regler und Anna Seghers. Tübingen/ Basel 2000. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Berlin 1978. Pohle, Fritz: Anna Seghers. Das Rätsel um das wirkliche Blau. In: Martin Hielscher (Hg.): Fluchtort Mexiko. Ein Asylland für die Literatur. Konzeptionelle Mitarbeit: Klaus
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Meyer-Minnemann und Fritz Pohle. Hamburg/Zürich 1992, 57–59. Roggausch, Werner: Rückkehr. 1947–1977: Rückblick und Neubeginn in der DDR. Eine Einleitung. In: Peter Roos/ Friederike J. Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers. Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 103–110. Roos, Peter/Hassauer-Roos, Friederike J.: Gespräch mit Anna Seghers. In: Peter Roos/Friederike J. Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers. Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 152–160. Roussel, Hélène: Reise als Umweg zu sich, Exil als Energiequelle. Zu Anna Seghers’ Erzählung ›Das wirkliche Blau‹. In: Argonautenschiff 11 (2002), 192–201.
Sandoval, Josefina: México in Anna Seghers’ Leben und Werk 1940–1947. Berlin 2001. Uerlings, Herbert: Novalis und die Moderne. Seghers – Hilbig – Benn – Bachmann. In: Ders. (Hg.): ›Blüthenstaub‹. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis. Tübingen 2000, 7–41. Villora, Trinidad Marín: Masculinity and Femininity in Anna Seghers’ and Bodo Uhse’s Mexican Exile Narratives. In: Exile and Gender I. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 17 (2016), 49–59.
Martina Wernli
24 Das Vertrauen (1968)
24 Das Vertrauen (1968) Das Vertrauen ist von Anna Seghers als zweiter Teil des Romans Die Entscheidung geplant worden, worauf die Anmerkung hinweist »Ende des ersten Teils« (E, 619) sowie die Erklärung der Autorin 1959 gleich nach der ersteren Publikation: »Es gibt einige Personen, nach denen man mich jetzt schon oft fragt. Deren Schicksal will ich weiter verfolgen« (KuW2, 29). Dieser zweite Roman mit DDR-Thematik (vgl. Br2, 51, 131) muss aber noch einige Jahre auf seine Niederschrift warten. Seit der ersten Notiz über das Projekt 1946 bis zur Veröffentlichung von Das Vertrauen vergehen über zwanzig Jahre, was »einmalig« (Bock 2013, 114) bei Seghers ist und auf die Tatsache zurückzuführen zu sein scheint, »dass die Gestaltung gerade dieses Stoffes bei der Autorin auf besondere Schwierigkeiten [stößt]« (Hilzinger 2000, 188; vgl. Bischoff 2009, 315). Erstens braucht Seghers eine sorgfältige, ausführliche Dokumentation. Zweitens steht sie unter dem starken Eindruck solch zeithistorischer Ereignisse wie dem 17. Juni 1953 in der DDR, dem XX. Parteitag der KPdSU und dem Ungarischen Volksaufstand 1956, die aber weder ihre »Parteidisziplin« (Brandes 1992, 26) brechen, noch ihre ideologisch affirmative Ausrichtung beeinträchtigen – »vielleicht steckt[...] darin auch ein Teil Selbstüberredung oder auch eine Art von Dankbarkeit« (Hilzinger 2000, 67) gegenüber dem Staat, in dem sie im Laufe der Jahre zur »Ikone« (ebd., 75) bzw. zur »Galionsfigur« (Zehl Romero 2003, 256; vgl. ebd., 94 f.) wird. Drittens widmet sich Seghers in den 1960er Jahren dem Schreiben von Erzählungen wie Das wirkliche Blau (1967) sowie vom Erzählzyklus Die Kraft der Schwachen (1965). Viertens wird die Arbeit an Das Vertrauen immer wieder unterbrochen, nicht zuletzt wegen längerer Krankenhausaufenthalte (Zehl Romero 2003, 255–257). Während Seghers andererseits für Die Entscheidung bei Tolstoj methodischen Rat sucht, findet sie in Dostojewskij ein Vorbild für inhaltlich-konzeptionelle Fragen, die sich ihr bei der Arbeit an Das Vertrauen stellen. Im Essay »Woher sie kommen, wohin sie gehen« (1963, KuW2, 181–217) deutet Seghers an, dass Dostojewskijs Schreiben in einer Art »Selbstschutz« (KuW2, 198) eine gewisse Ähnlichkeit zu ihrer eigenen Schreibhaltung in der DDR aufweist (Vilar 2003, 170– 172, 181). In diesem Sinne ist der Aufsatz von ihren Kollegen im Schriftstellerverband der DDR gedeutet und entsprechend begrüßt worden – wie der Stasiakte von Anna Seghers zu entnehmen ist (vgl. Vilar 2003, 182; Zehl Romero 2003, 212, 393) –, und tatsächlich
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lässt sich zwischen Seghers’ Interpretation ausgewählter Stellen aus Die Brüder Karamasow in ›Woher sie kommen, wohin sie gehen‹ und der Deutung etlicher Szenen von Das Vertrauen eine auffällige Parallele ziehen. Hierfür ist die Auseinandersetzung der Schriftstellerin mit Motiven wie dem Teufel und der Freude und mit Themen wie der Zensur und dem Schweigen von besonderer Relevanz, insofern sie z. B. die Identifizierung der Inquisition bei Dostojewskij mit dem Stalinismus bei Seghers oder der russischen »Pobedonoszew-Leute« (KuW2, 200) mit den Zensoren in der DDR nahelegen. Außerdem scheint die Schilderung des 17. Juni 1953, des zentralen zeithistorischen Ereignisses und zugleich wesentlichsten Kristallisationspunktes der Handlung von Das Vertrauen, auf Seghers’ Lesart der Brüder Karamasow zu beruhen: Dostojewskij verneint »den Geist der Verneinung, und er läßt ihn eine Folgerung ziehen, die nicht revolutionär ist, sondern ihr Gegenteil: eine napoleonische Folgerung [...]: Alles ist erlaubt – um so schnell wie möglich den gepriesenen Zustand herbeizuführen« (KuW2, 192). Inhaltlich beschäftigt Seghers überdies die Zeitspanne, welche die in Das Vertrauen zu erzählende Geschichte umschließen soll. Ob ein dritter Band zu erwarten sei, lässt sie aber offen. Prospektiv erläutert sie nur, dass sie »wichtige Ereignisse bis 1956 (XX. Parteitag der KPdSU und die Konterrevolution in Ungarn) oder 1958 hineinarbeiten« (KuW4, 183) müsse, ohne dass sie allerdings ›in direkter Form‹ vorkommen. Zu jenem dritten Teil kommt es jedoch nicht mehr: »Eine weiterführende, optimistische Darstellung des Aufbaus einer freien sozialistischen Gesellschaft war ihr [Seghers] für die repressive Epoche nach 1953 wohl nicht möglich« (Brandes 1992, 75). Abgesehen von der Rahmenhandlung der späteren Erzählungen Überfahrt (1971), Steinzeit (1975) und Wiederbegegnung (1977), endet der thematische Bezug zur DDR-Wirklichkeit in Seghers’ Werk mit diesem Jahr. Ab 1967 zwingt sich Seghers zur Fertigstellung des Manuskripts. Vorabdrucke erscheinen im Dezember jenes Jahres in der Zeitschrift der FDJ Forum, während die Autorin noch mit dem Lektorat des Aufbau Verlags über einzelne Kapitel wie z. B. den Schluss diskutiert (Zehl Romero 2003, 254–257; Br2, 194, 466). Publiziert wird der Roman schließlich im November 1968, als die Welt unter dem Schock der Erstickung des Prager Frühlings von Truppen des Warschauer Pakts im August steht, wodurch Seghers’ »Korrektur der Geschichte bezüglich der russischen Panzer vor Kossin [am 17. Juni 1953] eine neue, höchst aktuelle Bedeutung« (Zehl Romero 2003, 264) gewinnt: als implizite
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_24
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Kritik an derartigen blutigen Maßnahmen (Zehl Romero 2003, 264; Vilar 2004, 313–321; Bischoff 2009, 101–104; Bock 2013, 122 f.). 1969 wird Das Vertrauen vom Moskauer Progress Verlag veröffentlicht. In der BRD bringt der Luchterhand Verlag ihn erstmals 1977 heraus.
Inhalt Die Handlung von Das Vertrauen ist auf den Alltag der Arbeiter im volkseigenen Stahlwerk im fiktiven Kossin in der DDR konzentriert. Einzelne Episoden spielen um das Bentheim-Stahlwerk im ebenfalls erdachten Hadersfeld im Rhein-Main-Gebiet und in BerlinWest, weitere Schauplätze sind die USA und Mexiko. Als kontextuell-historische Kulisse gilt die Zeitspanne von Ende 1952 bis Herbst 1953, so dass der Volksaufstand am 17. Juni 1953, Hauptthema des Buches, zentral liegt. Plot und Personen sind aus dem Roman Die Entscheidung (1959) bekannt. Die gemeinsame Erinnerung von einigen der Figuren geht freilich durch das Buch von Herbert Melzer (V, 409–420, 439 f., 462–464) viel weiter zurück in die Vergangenheit bis zum Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939). Als Kämpfer der Internationalen Brigaden kommen in jenem Buch der Autor selbst, ein Schriftsteller, der in Die Entscheidung ums Leben kam, der Arbeiter Robert Lohse und der Parteiarbeiter Richard Hagen vor. In Das Vertrauen führt Lohse ein glückliches Leben voller beruflicher und privater Erfüllung: Er arbeitet als Lehrausbilder an der Betriebsschule des Fiete-Schulze-Werks »weit weg von Kossin, fast an der Ostsee« (V, 118); Lene Nohl wird seine Lebenspartnerin. Vervollständigt wird auch das familiäre Glück Hagens durch die Geburt eines Sohnes. Bei seiner Arbeit als Parteisekretär im Stahlwerk Kossin vermag Hagen es aber nicht, wichtige systemische Fehler zu erkennen, stattdessen zweifelt er an seiner Überzeugungskraft: »Warum gelingt mir hier etwas nicht, was mir mein Lebtag gelang?« (V, 296). Um diesen Mangel zu beheben, beschließt Hagen am Ende zu studieren, wobei er jedoch »nicht einmal richtig weiß, wie und was« (V, 433). Um Melzers Spanienbuch sammeln sich in den letzten Seiten von Das Vertrauen Lohse und Hagen, der jüngere Thomas Helger und Waldstein, der alte Lehrer von ihnen allen. Helger ist eine der Hauptpersonen im Roman, er arbeitet im Kossiner Stahlwerk und bereitet sich für ein Studium an der Technologischen Hochschule in Granitz vor. Seine Zulassung wird aber wegen eines
Ausflugs nach Berlin-West mitsamt einer alten Freundin, Pimi, die sich als Diebin entpuppt, trotz des gerichtlichen Freispruchs zurückgezogen, so dass Helger sich am Schluss nur für ein Fernstudium einschreiben darf – privat verheißt allerdings die Liebe der jungen Toni Enders Thomas Helger das Glück. Diese Episode spielt sich in den Monaten vor dem Volksaufstand des 17. Juni ab, der im Roman am Beispiel des Kossiner Stahlwerks dargestellt wird. Anhand der Diskussionen unter den Arbeitern und mit den Parteifunktionären und Ingenieuren wird das geschildert, was zum Protest führt, vor allem die prekären Arbeitsbedingungen, die die Arbeiter zu einem kargen Lebensstandard zwingen, zumal die Lage noch verschlimmert werden soll: Die Arbeitsnorm soll ohne entsprechenden Lohnausgleich erhöht werden. Zudem stiften eingeschleuste Agenten des Westens (u. a. Helmut von Klemm, ehemals in der SS) zum Streik an. Dennoch gelingt es Richard Hagen, die sowjetischen Panzer vom Stahlwerk fernzuhalten, wofür es in diesem Betrieb schließlich nicht gestreikt wird. Von der streikenden Masse draußen vor dem Stahlwerk wird aber die hochschwangere Arbeiterin Ella Schanz zu Tode getrampelt. Nach dem 17. Juni werden »noch ein paar verhaftet, teils daheim, teils im Betrieb« (V, 385), u. a. der alte Arbeiter Janausch. Der 1951 aus Kossin in den Westen geflüchtete Professor Berndt (vgl. Die Entscheidung) irrt indessen in der BRD und in den USA herum, bis er nach Mexiko kommt, um in dem von der US-amerikanischen Stanton Engineering Corporation neugegründeten Stahlwerk in Monterrey eingestellt zu werden. Seine Ehefrau Dora zieht es jedoch vor, mit ihren Kindern im Schwarzwald zu bleiben. Ingenieur Büttner, der die Flucht organisiert hatte, ist inzwischen stellvertretender Leiter des Forschungsinstituts im Bentheim-Werk in Hadersfeld geworden und hat eine Affäre mit Nora Bentheim, der verwitweten Tochter des Kommerzienrates Castricius, begonnen. Büttners ambitionierte, verführerische Ehefrau Helga hat ihrerseits ein Verhältnis mit dem Betriebserben Eugen Bentheim. Beide Beziehungen werden letzten Endes aber vom alten Castricius, der alle Fäden in der Hand hält, vereitelt. In Das Vertrauen gönnt sich dieser sogar einen letzten eindrucksvollen Machtbeweis bzw. eine Altersmarotte: Er veranlasst, dass die »sagenhaft[e]« (V, 185) Villa Melanie am Rhein, eine Art »Gralsburg« (V, 185), unmittelbar nach seinem Tod von Helmut von Klemm ausgeräumt und abgetragen wird. Das Gelände hat Castricius vorher »an den Amöneburger Betrieb« (V, 426) – Harze und Lacke Klemm (E, 182) – veräußert.
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Rezeption Die Resonanz von Das Vertrauen ist – wie bei der Veröffentlichung von Die Entscheidung – durch die politischen Spannungen des Kalten Kriegs bedingt: Dadurch ist »der Erwartungshorizont gegenüber diesem Buch bereits präformiert« (Degemann 1985, 150), und es wird einer eingehenden werk- und textimmanenten Lektüre kaum unterzogen. Die Rezeption erfolgt vielmehr ganz allgemein durch den Filter des von »dem Parteimitglied und der Kulturfunktionärin Seghers« (Hilzinger 2000, 71) offiziell nie widerlegten Bekenntnisses zur DDR. Den Anstoß zur Stellungnahme der Kritik gibt zunächst die Tatsache, dass Das Vertrauen der zweite Teil von Die Entscheidung ist. Hierüber scherzt Marcel Reich-Ranicki im Artikel »Bankrott einer Erzählerin«, indem er an die Information »Ende des ersten Teils« (E, 619) erinnert: Die Autorin habe nun jene »unbarmherzige Drohung« (1969) wahrgemacht. Für Franz Schonauer, der in ähnlichem Ton schreibt: »[A]m Schluß des Bandes fehlt der Vermerk: ›Ende des zweiten Teils‹. Ein dritter steht also nicht mehr zu befürchten« (Schonauer1970, 130), habe die Schriftstellerin die zwei Romane im Selbstauftrag entworfen: »Anna Seghers hält sich [...] strikt an das Periodisierungsschema der DDR-Geschichtsschreibung, die die entsprechende Zeitspanne in zwei Entwicklungsstufen einteilt: Stufe 1 Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung (1945–1950); Stufe 2 Schaffung der Grundlagen des Sozialismus. Pauschal vergröbert läßt sich also sagen: Die Handlung des Romans Die Entscheidung gibt die erste, die Handlung des Romans Das Vertrauen gibt die zweite Stufe des Aufbaus wieder.« (Ebd., 131)
Solchen Urteilen gegenüber preisen östliche Rezensenten die Zusammengehörigkeit von Die Entscheidung und Das Vertrauen: »Zum erstenmal steht im Mittelpunkt nicht in der Hauptsache der Kampf gegen etwas, sondern der Kampf für etwas: für den [...] Sieg des Sozialismus in den Köpfen und Herzen der Menschen in der DDR« (Joho 1969, 161). Auch die ›monumentale epische Dreiheit‹ von Die Toten bleiben jung, Die Entscheidung und Das Vertrauen wird als ›epochales Werk‹ gelobt, »das den opfervollen, doch siegreichen Kampf der deutschen Arbeiterklasse von der Novemberrevolution bis zum beginnenden Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik begleitet« (Neugebauer 1970, 179).
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Ästhetisch-qualitativ bewerten westliche Rezensenten Das Vertrauen als »langweilig und geschmacklos und vollkommen mißraten, [...] töricht und verlogen« (Reich-Ranicki 1969), als »schlecht« (Raddatz 1969) und als »eine Art öffentliche Selbstverbrennung« (ebd.) der »Staatsautorin« (Arnold 1969, 109), die gleichwohl als »große Erzählerin« (Reich-Ranicki 1969) gilt. Sie verreißen den Roman u. a. wegen »seiner unverhüllten Parteinahme für Diktatur und Terror« (Zehm 1969). Wegen der »konform[en]« Darstellung des 17. Juni sei Das Vertrauen »schamlos« (Raddatz 1969), »obszön« (Reich-Ranicki 1969) und voller »Zynismus« (ebd.). Die DDR-Literaturkritik hingegen feiert Das Vertrauen als »sozialistisch-realistische[n] Roman« (Große 1969, 645). An die Diskussion um Die Toten bleiben jung anknüpfend, betonen ostdeutsche Rezensenten einerseits, dass es in Das Vertrauen zwar keinen »positiven Helden« (Joho 1969, 162) gebe, dafür aber ein breites Kollektiv, »das stellvertretend für die Menschen in unserer Republik« (ebd.) sei, und andererseits, dass es darin auch »keine Klischees, keine Schwarzweißmalerei bei der Schilderung« (ebd., 167) der Menschen gebe. In diesem Zusammenhangwird jedoch das Ausbleiben des bewährten Kommunisten Martin aus Die Toten bleiben jung (1949) und Die Entscheidung (1959) in Das Vertrauen generell übersehen, nur Sigrid Bock sieht in Richard Hagen und »in seinem Sieg über die Putschisten am 17. Juni [...] die revolutionären Kampferfahrungen des Kommunisten Martin lebendig« werden: »Die Toten sind in Wahrheit jung geblieben!« (1969, 131). Die Fokussierung der Handlung in Das Vertrauen auf den Kossiner Schauplatz im Vergleich zur ausgewogeneren Verteilung zwischen Ost und West in Die Entscheidung gibt der Literaturkritik Anlass zu entgegengesetzten Wertungen. Östliche Rezensenten (Geisthardt 1969; Große 1969, 652) schätzen dies durchaus positiv ein, und sehen in den wenigen Szenen im Westen eine »künstlerische Notwendigkeit« (Motyljowa 1970, 448), die inhaltlich als Kontrast (Batt 1973, 267) und ideologisch-pädagogisch als Darstellung einer Bedrohung legitimiert ist (vgl. n. n. [Bock] 1969, 163). Demgegenüber sieht die westliche Kritik in der Konzentration der Handlung auf das DDR-Szenarium den Beweis dafür, dass Seghers »Interesse nur an dem [hat], was sozialistischen Realismus installiert und auf den Weg über diesen [zu] sozialistische[r] Realität« führt (Arnold 1969, 112). Nuancierter urteilen andere Rezensenten, die darauf aufmerksam machen, dass in Das Vertrauen »weniger
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der Klassenfeind BRD selbst als eine mit diesem Prinzip identische Klassenfeindlichkeit in der DDR zur Sprache kommt« (Labroisse 1973, 204). Sowohl von der östlichen als auch von der westlichen Literaturkritik wird gleich nach dem Erscheinen des Romans ignoriert, dass in Das Vertrauen die verschiedenen Unrechts- und Gewaltformen des Stalinismus – die Schauprozesse im Ostblock (V, 19 f.), der Personenkult (V, 91–97, 100 f.) und die Niederschlagung des Aufstands am 17. Juni 1953 in der DDR (V, 352–355, 359–363) – anhand von Figurenreden aus Ost und West erfasst werden, und dass heikle, tabuisierte Themen wie die politisch-ideologischen Schwankungen der Genossen – angesichts der Moskauer Ärzte-Prozesse (V, 108 f., 134, 148–150) und die Information über die Gefängnisse und Gulags in der Sowjetunion (V, 101, 439) – als offene Fragen dargestellt werden (vgl. Joho 1969, 166; Skriver 1969).
Forschung In der Roman-Dilogie Die Entscheidung (s. Kap. 20) und Das Vertrauen verschmilzt »das umfangreiche vielgliedrige Romangeschehen« (Bock 2013, 115) in Die Toten bleiben jung »zu einer Einheit« (Bock 2013, 115), wobei in Das Vertrauen die Fabel noch spezifischer auf eine einzige Kernfrage, den Aufstand des 17. Juni 1953, fokussiert ist. Zur Darstellung jenes historischen Datums breitet Seghers am Beispiel des Kossiner Stahlwerks die ganze Fülle der materiellen und ideologisch bedingten Ursachen sowie die offiziell verkündete Sabotage feindlicher Agenten des Westens aus. Einerseits steht der niedrige Lebensstandard der Arbeiter in der DDR nicht im Vergleich zur NS-Vergangenheit, sondern gegenüber den Arbeitern in der BRD: »Sie vergleichen sich nicht mit den Toten, sie vergleichen sich mit den Lebenden« (V, 211; vgl. V, 30, 280, 300 f.), urteilt der Ingenieur Zibulka. Problematisch sind außerdem die technologische Rückständigkeit der Anlagen (»Stellt eure [Kokillen] ins Museum«; V, 177) und die mangelhafte Organisation des Produktionsprozesses (»vollständig vertan sei die Wartezeit«; V, 212) im volkseigenen Betrieb. Den Ausschlag gibt die Arbeitsnormerhöhung ohne entsprechenden Lohnausgleich im Mai 1953 – trotz der Rücknahme der Maßnahme (V, 304): »Das ist kein Leben, dieses Gehetze [...] Ihr gebt ihm schöne Namen. Technisch begründete Arbeitsnormen. Planung. Sparsamkeit. Wir streiken, weil wir es Ausbeutung nennen« (V, 335), klagt der Arbeiter Heinz Köhler.
In »Andeutungen« (Bock 1991, 72), an denen die DDR-Zensur (vgl. Emmerich 1996, 48–62) nichts zu beanstanden hat, schildert Seghers in Das Vertrauen andererseits eine Wirklichkeit, die in keine dem kommunistischen Ideal entsprechend humanisierte Zukunft blicken lässt, in der allgegenwärtige Indoktrinierung, »euer ganzes Parteigewäsch« (V, 165), grassiert und Sektierertum sich durchsetzt. Strenges, dogmatisches Verhalten wird am Beispiel von Heiner Schanz’ Parteiausschluss (V, 234 f.) illustriert. Am einleuchtendsten ist aber der Fall Thomas Helger, der vom Ingenieur Riedl als »Dummjungenquatsch« (V, 311) bezeichnet wird. Seiner Ansicht nach kann solch eine Angelegenheit den sozialistischen Staat nur blamieren: »Laßt doch um Gottes willen den Helger studieren. Uns wird er nur Ehre einlegen« (V, 312), warnt Riedl. Die Antwort zu Riedls Frage: »Wieso kam es, daß die Strengen, Unversöhnlichen viel Macht besaßen?« (V, 314) liegt wohl in den im Roman dargestellten, vielschichtigen Dimensionen des Stalinismus in der DDR: Bespitzelung (V, 10, 214 f.), Denunziantentum (V, 256, 383), Anschuldigungen und Prozesse (V, 21 f., 54, 74, 111 f., 152–154, 255, 430 f.), Freiheitsstrafen und Gulag in Sibirien (V, 287, 290, 447–449), Personenkult (V, 40–43, 60–62, 130–134, 137–139, 207 f., 250, 264, 461). Nicht zuletzt hat »Sowjetrußland als Idealbild im Vertrauen seinen einstigen parareligiösen Glanz verloren« (Bischoff 2009, 155), denn das stalinistische Modell steht nun für eine Gewalt, die es zu verschweigen gilt (V, 447–449; vgl. Br2, 196; Hilzinger 2000, 69; Kaufmann 2004, 80). Durch das Ausbleiben des ›legendenumwobenen‹ Martin (aus Die Toten bleiben jung und Die Entscheidung) in Das Vertrauen kann in diesem Sinne aber die von ihm verkörperte »heroische Phase der Arbeiterbewegung, den Heroismus, das Märtyrertum, das diese Bewegung in den ärgsten Zeiten ihrer Bedrängnis hervorbrachte« (Schrade 1993, 119), doch unberührt bleiben. In diesem Zusammenhang problematisiert der Romaninhalt auch das Titelwort Vertrauen. Statt Parteilichkeit bzw. Vertrauen in die Partei illustrieren die verschiedenen Beispiele im Roman Seghers’ Vertrauen in die Genossen bzw. in die einzelnen Menschen als Mittel zu einer »Humanisierung der Gesellschaft« (Schrade 1993, 125), welche »sowohl die nationale Selbständigkeit gegenüber der Sowjetunion [meint,] als auch das Niederreißen der hierarchischen Strukturen, die die Gesellschaft in Befehlende und Ausführende gliedert« (ebd.). Gleichwohl legt die gebetsähnliche Formel: »Unser aller Blut erspar uns heute« (V, 360; vgl. Matthäus 6, 11), die Richard Hagen am 17. Juni he-
24 Das Vertrauen (1968)
raufbeschwört, eine Interpretation im eschatologischen Bereich nahe: »Vertrauen in Gott erweist sich als verläßlicher als Vertrauen in die Genossen« (Bischoff 2009, 104), woraus sich folgern lässt, dass »spätestens die Ereignisse des 17. Juni die utopischen Hoffnungen, die Seghers mit dem Aufbau der DDR verband, minimiert hatten« (ebd.). Dementsprechend kann es am Ende des Romans lediglich zu jener »Korrektur der Geschichte bezüglich der russischen Panzer vor Kossin« (Zehl Romero 2003, 264; vgl. Vilar 2004, 316, 341 f.; Bischoff 2009, 311– 315) kommen, für die die Autorin allerdings eine Erläuterung andeutete. Zur Darstellung des Aufstandes in Das Vertrauen bemerkte sie 1973 in einem Brief: »Das ist alles Schnee des vergangenen Winters« (Br2, 242), wohl in dem Sinne, dass »inzwischen von weit mehr (›Schnee‹) zu reden war – denkt man daran, dass sowjetische Panzer im Herbst 1956 in Ungarn und im August 1968 in Prag gerollt waren« (Kaufmann 2004, 81). Gleichzeitig verwies Seghers aber auch auf die Gedanken von Elisabeth von Lieven am Ende von Die Toten bleiben jung (1949), die, ihren Tod und denjenigen ihres Kindes im verschneiten Wald ahnend (Tbj, 622– 624), »weiß, alle Spiele sind aus, alle Hoffnung verloren« (Kaufmann 2004, 81). Hinsichtlich ihrer Schilderung des 17. Juni in Das Vertrauen deutet solch ein Verweis auf eine weit entfernte Episode in einem anderen Roman wohl auf eine gedankliche Übereinstimmung der Schriftstellerin mit der baltischen Emigrantin in ihrer aussichtslosen Lage hin: Die historische Realität des Jahres 1953 in der DDR ist für Seghers genauso hoffnungslos geworden und daher ohne idealisierende Revision undarstellbar. In Bezug auf Das Vertrauen mag der Befund belegt sein, dass »die Mehrdeutigkeit und Differenziertheit in Figuren- und Handlungsgestaltung, in Komposition und Stil, nachlässt oder sogar verschwindet« (Hilzinger 2000, 70; vgl. ebd., 188). In Seghers’ allerletztem Roman mit DDR-Thematik gipfeln aber neben dem Todesmotiv Motive wie die Freude, das Licht und das Gebrauchtwerden, die ihr Werk durchziehen (vgl. Br2, 58), ex negativo einerseits im symbolträchtigen, vom skrupellosen Handlanger Helmut von Klemm erledigten Abtragen der Villa Melanie am Rhein – Seghers’ Herkunftsregion –, das Haus, das für den Kommerzienrat Castricius »was Sicheres« (V, 426) und »auf Erden der liebste Ort« (V, 426) ist, in dem er »mal lange glücklich« (V, 185) war. Andererseits erreicht diese Motivik im Tod der hochschwangeren, freudebegehrenden Arbeiterin Ella Schanz am 17. Juni 1953 in der DDR ihren Höhepunkt (V, 326–344; vgl. Bischoff
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2009, 201–204; Vilar 2004, 319–321, 342). Nicht zuletzt dadurch offenbart sich – trotz des »süßlich-sentimentale[n] Schlußszenario[s]« (Bischoff 2009, 312) des Betriebsfestes und des Besuchs bei Waldstein (V, 450–464) – die absoluteste Desillusionierung der Schriftstellerin als kommunistische Utopistin. Literatur
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II Werk
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Loreto Vilar
25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971)
25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971) »Anna Seghers’ letztes erzählerisches Werk mit einem Gegenwartssujet« (Schrade 1993, 137) ist 1971 im Berliner Aufbau Verlag, in der BRD im Luchterhand Verlag Neuwied/Berlin erschienen (vgl. Albrecht 2002, 423 f.). Seghers wollte – so in einem Gespräch mit Günter Caspar, dem Cheflektor des Aufbau Verlages – »einen kleinen Roman schreiben, etwa wie ›Transit‹, oder auch nur eine größere Erzählung. [...] Sie wird heißen Die Früchte dieses Landes. Diese Geschichte hängt mit meinen Reisen nach Brasilien zusammen« (KuW2, 35). Aus einem Brief an Zélia Amado vom 17. Februar 1963 geht hervor, »dass sie die Arbeit an diesem Projekt auf der Rückreise ihrer ersten Brasilienfahrt im September 1961 begonnen hatte« (Albrecht 2002, 423). Auf eine zentrale Rahmenbedingung weist Schrade hin, der die Erzählung in konzeptioneller und geschichtsphilosophischer Perspektive in Bezug auf die beiden früheren DDRRomane, Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968), interpretiert, und zwar so, dass »die Einheit von Individuum und Geschichte (Revolution)« (Schrade 1993, 137) sowie die damit verbundene »Begründung einer ungefährdeten individuellen Identität« (ebd., 134) »aus dem tatsächlichen Geschichtsprozess« nicht mehr realisierbar und in einem »allumfassenden Gesellschaftsroman« (ebd., 137) gebündelt werden könne.
Inhalt und intertextuelle Bezüge Während einer dreiwöchigen Reise auf dem polnischen Cargo-Schiff »Norwid« von Bahia nach Rostock vertraut der Arzt Ernst Triebel dem Ich-Erzähler – einem von seiner Firma nach Brasilien delegierten Ingenieur namens Franz Hammer – seine unglückliche Liebesgeschichte mit Maria Luisa Wiegand an, die wie er aus Thüringen stammt und nun bei ihrer Tante in Brasilien lebt. Aus dem Munde des zum zweiten Ich-Erzähler avancierten Triebel erfährt der Leser nun auch von dessen erster Schiffsreise nach Brasilien kurz vor der Reichspogromnacht 1938. Damals hatte er sich in Brasilien gut eingelebt und eine glückliche »Jugendzeit« (Üf, 75) mit der schönen Maria Luisa verbracht. Nach dem Tod seiner Mutter kurz nach der Ankunft in Brasilien folgte 1946 auf Wunsch seines Vaters die Rückkehr nach Ostdeutsch-
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land. In die folgenden Jahre fallen der Anfang seines Medizinstudiums im zerbombten Berlin, sein Eintritt in die FDJ und die Freundschaft mit dem Gruppenleiter Gustav sowie später die Gründung der DDR. Begleitet wird diese Zeit vom »fruchtlosen Warten« (Üf, 79) auf Maria Luisas Übersiedlung und das erhoffte gemeinsame Leben mit ihr. Es kursieren unterschiedliche Versionen über den (Frei-)Tod seiner Geliebten. Nach seiner Anstellung im Krankenhaus in Ilmenau und der Bekanntschaft mit Herta Gehring findet er sich schließlich mit dem Verlust seiner Jugendliebe ab. Parallel zur allmählichen »Zermürbung« und »Abstumpfung« (Üf, 18, 74–75) seiner Bindung an Maria Luisa erfolgt eine verstärkte Identifizierung des IchErzählers Hammer mit der Geschichte Triebels, die mit einer inneren, vom Naturschauspiel auf dem Ozean und den Gesprächen mit anderen Passagieren bewirkten Umwertung der eigenen Positionen, einer veränderten Einstellung zur jüngsten Zeitgeschichte sowie zu Literatur und Kunst ergänzt wird. Die unerhörte Begebenheit erzählt Triebel kurz vor Schluss, als er von der Begegnung mit einer an Maria Luisa erinnernden unbekannten Frau an der Seite eines fremden Mannes berichtet. Die mehrere Jahrzehnte umfassende Lebensgeschichte Triebels endet mit der, von den beiden Erzählerfiguren postulierten Idee eines »unverwüstlichen [...] Kerns« (Üf, 165) bzw. von »etwas Festem« (Üf, 174) im Menschen. Die den Erzählakt selbst nicht selten thematisierende Erzählung enthält mehrere Hinweise auf literarische Werke, die für Seghers ausschlaggebend waren. Zu ihnen gehören der gesellschaftskritische Roman Der Mulatte von Aluísio Azevedo, der von den Jugendlichen gelesen und später von Triebel ins Deutsche übersetzt wird, sowie Gedichte des polnischen Dichters Cyprian Kamil Norwid. Namentlich erwähnt werden außerdem Joseph Conrad, der englische Autor polnischer Abstammung, sowie der dem Erzähler Hammer »hochtrabend« (Üf, 136) und »edelmütig« (Üf, 137) vorkommende Goethe und dessen Gedicht Über allen Wipfeln [sic!]. Während der zweiten Seereise wird die Halbinsel erwähnt, auf der »Hamlet der Geist seines Vaters erschienen« (Üf, 102) sein soll. Durch die Erzählung des Hausmädchens Emma, die von der (angeblich) verstorbenen Maria Luisa als einer schönen Leiche im Wasser spricht, wird auf das Ophelia-Motiv angespielt. Auch den Dichtern Federico García Lorca und Antonio Machado (Üf, 137 f.) wird die Ehre erwiesen (vgl. Eggensperger 2014, 370–372).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_25
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II Werk
Rezeption Trotz der Zunahme des Interesses für die DDR-Literatur in den 1960er und 1970er Jahren sowie einer sich allmählich differenzierenden literaturwissenschaftlichen und journalistischen Rezeption der Schriften von Seghers bleibt die westdeutsche Einstellung dem Spätwerk gegenüber mit wenigen Ausnahmen virulentpolemisch und abwertend. Als Beispiel für den »Verriss des Spätwerks« (Degemann 1985, 146) kann die Rezension mit dem Titel »Stille Herta« im Spiegel vom 3.1.1972 gelten, in dem geradezu höhnisch festgestellt wird: »Seit die vaterländische Existenz der DDR ihr nichts mehr aufgibt, was ›beschreibend zu verändern‹ wäre – und das tat sie einst respektabel –, beschränkt sich Anna Seghers [...] aufs bestätigende Beschreiben« (N. N. 1972, 84). Der Rezensent sieht »keinen erkennbar realen Anlass [...], diese realistische Rührgeschichte zu erzählen«. Die Erzählung wird als »zähe Erbauungsschrift gegen die Mischehe zwischen Exotismus und Sozialismus«, die Figuren als »Plus- und MinusKlischee-Typen« (ebd.) abgetan. Der DDR-Literaturwissenschaftler Kurt Batt nennt Überfahrt »die Erzählung einer Heimkehr aus der Emigration und insofern ein Stück Lebensgeschichte der Autorin, literarisch gebrochen und phantasievoll verwandelt« (Batt 1973, 279). Als zentrales Motiv werden »das Verhältnis von Dauer und Wechsel, von Festigkeit und Veränderung« (ebd., 274) sowie das endgültige Ankommen in der DDR als eigentlicher »Heimat« (ebd., 279) mittels eines vergangenheitsbewältigenden Erzählaktes hervorgehoben. Den Symbolgehalt des Titels ohne Artikel interpretiert Batt als »Durchgang, Überwindung, Wandlung, Veränderung« (ebd., 275) bzw. als »Durchgang in eine ›neue Welt‹«, die semantisch vieldeutig ist und vor allem »politische Assoziationen hervorruft« (ebd., 279). Unantastbar bleibt in dieser Interpretation die »weltanschauliche Geschlossenheit« (ebd., 274) der Autorin, ihr »höchster Anspruch auf moralische Integrität« und das »Vertrauen auf eine elementare Menschlichkeit« (ebd., 278). Die intertextuellen Bezüge beschwören zudem die Vision einer »sozialistischen Weltkultur« (ebd., 283) herauf. Heinz Neugebauer rechnet die Erzählung zu den Werken, die nach dem VIII. Parteitag der SED (1971) »die Dialektik von Nationalem und Internationalem [...] sowie die Beziehungen zwischen Wirklichkeit, Schriftsteller, Werk und Leser« (Neugebauer 1980, 193 f.) synthetisierend darstellen, ganz »im Sinne Lenins« (ebd., 193). Triebels Entscheidung für die DDR, seine Vision über die rückwärts laufende Konquista-
doren-Eroberung und das Motiv der Völkerverständigung zeichnen einen Weg, der »vom Kapitalismus in den Sozialismus führt« und die Handlung in die »revolutionäre Weltveränderung« (ebd., 198) einordnet.
Forschung Andreas Schrade deutet die Figur Ernst Triebel als ein Individuum, das seine Erfahrungen zwar »nicht außerhalb des geschichtlichen Raums« (Schrade 1993, 141) macht, dessen Stabilität jedoch aus seiner Liebesbeziehung entsteht. Die Veränderung des Menschen als »lebenslanges Thema« (ebd., 139) der Autorin werde diesmal in einem »frisch erzählten Buch, voller Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit« (ebd., 138), in einer »doppelten Ich-Erzählung« (ebd., 140) mit einem vielschichtigen Handlungsverlauf behandelt. Schrade fragt sich, ob die Gedanken des Ich-Erzählers Hammer über den »unverwüstlichen Kern« im Menschen nicht auch als Ausdruck einer Art »Verunsicherung [...] hinsichtlich [...] der festen ethischen Grundlagen des Menschen« deutbar wären, die zwar »letztlich das wichtigste Unterpfand von Anna Seghers’ Revolutionsauffassung sind« (ebd., 139), nun aber erschüttert würden. Als Reaktion auf die in erster Linie aus Westdeutschland kommende moralisierende Kritik hinsichtlich ihrer politischen Rolle in der DDR, die Seghers’ Romanen nach 1949 jegliche literarische Bedeutung abspricht, plädiert Waltraud Wende für eine Trennung der Aktivität der Sozialistin Anna Seghers von dem »Wirklichkeitsmodell ihrer literarischen Werke« (Wende 1998, 26). Ausgehend von Juri M. Lotmans Konzept der Literatur als »Modellierung der Welt« zum Zweck der »Optimierung unserer Selbst- und Welterkenntnis« (ebd.) wird deutlich, dass sich die Überfahrt – in der Terminologie von Hans Blumenberg – durch »Bedeutungsreichtum«, »Vieldeutigkeit« und »Komplexität« (ebd.) auszeichnet. Die Komplexität und Mehrdeutigkeit der Überfahrt – einmal als Liebesgeschichte, dann als politische Zeitgeschichte und schließlich als Metaerzählung über das Erzählen – zeigt sich auf den Ebenen der Erzähltechnik (Parallelisierung mit der Tradition des novellistischen Erzählens; »verschlungene Erzählstränge«; ebd., 46), der »differenzierten Zeitschichtungen« (ebd.) und der Sprache sowie der »Vielzahl thematischer Bezüge« (ebd., 37) und der »eingebauten Literatur-Reminiszenzen« (ebd., 41). Die Erzählung wird so als Ausdruck »zunehmender Differenzierung des politischen Wirklichkeitsmodells der DDR-Autorin« (ebd., 44) erkennbar.
25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971)
Als Schlüssel zur »inneren Biographie« (Hilzinger 2000, 75) von Seghers und als Ausdruck ihres widersprüchlichen Verhältnisses zur DDR bzw. zu der in die dargestellte Liebesbeziehung »eingebundene[n] Idee vom Sozialismus« (ebd., 74) interpretiert Sonja Hilzinger die Erzählung Überfahrt. Sie wird als eine Geschichte von »Entfremdung und Verlust«, von »persönlicher Desillusionierung« des als Seghers’ Alter Ego fungierenden Triebel gelesen, als das »Scheitern eines Entwurfs, in dem das Lebenskonzept und die Identität der Hauptfigur aufs engste mit der sozialistischen Idee verbunden sind« (ebd., 141). Mit dem Hinweis auf »vorher unbekannte Materialien über sein biographisches Umfeld« unterzieht Friedrich Albrecht den Text Überfahrt einer Lektüre, die »Lebensstoffe« aus der Realität der Autorin in verschiedenen Schichten ausmacht. Die »Ilmenauer Idylle Triebels« wird beispielsweise als »Widerschein einer tiefen Sehnsucht nach endgültiger Heimkehr« (Albrecht 2002, 439) Seghers’ gedeutet. In Anlehnung an Homi Bhabhas Begriffe ›pädagogische‹ und ›performative‹ Narration argumentiert Marike Janzen für eine differenzierte Wahrnehmung der DDR-Schriftsteller/innen »not simply as victims of Stalinism or Western cultural imperialism, not as Stasi agents, but as heterogeneous, discursively inscribed bodies« (Janzen 2006, 176). So wird auch die Erzählung über die »transformation« (ebd., 175) von Franz, dem »loyalen DDR-Bürger«, und Ernst, dem »ambivalenten DDR-Bürger« (ebd., 179), als ein Plädoyer für die Wichtigkeit der Wechselwirkung privater und öffentlicher Diskurse für den Einzelnen und als Ausdruck einer möglichen kritischen Teilnahme eines Individuums an der Gesellschaft gedeutet (vgl. ebd., 176). Auf diese Weise können Diskrepanzen zwischen der offiziellen DDR-Ideologie und der Lebenspraxis der DDR-Bürger enthüllt werden (vgl. ebd., 177). Dadurch werden von Seghers drei offizielle DDR-Narrative neu geschrieben: a) die DDR als Bastion gegen die immerwährende Drohung aus dem korrupten Westen; b) der ›Ankunftsmythos‹ und der der klassenlosen Gesellschaft; c) die DDR als Berechtigter eines besonderen deutschen kulturellen Erbes (vgl. ebd., 180). Janzens Interpretation enthält außerdem kritische Reflexionen über die oft einander widersprechenden Interpretationen der Erzählung vor und nach der Wiedervereinigung. Caroline Delfau geht vom Begriff der Akkulturation aus und projiziert dieses »offene und dynamische Konzept der wechselseitigen Selbst- und Fremdbestimmung« (Delfau 2010, 39) auf das literarische
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Schaffen der Autorin. Deren Exilerfahrung und die daraus resultierende »transitäre Existenz« begründen die zentrale Rolle des Motivs »des Übergangs von einer Welt in die andere« (ebd., 40). Untersucht werden die literarischen Ausprägungen des Transitorischen als »Grenz-, Übergangs- und Schwellenerfahrung« (ebd., 54), mit einem Fokus auf das »Leitmotiv der Abfahrt« (ebd., 40). Das Schiff und die Hafenstädte werden als Erscheinungsformen von »ortlosen Zwischenräumen« (ebd., 42), als »Räume des Dazwischen« (ebd., 44) interpretiert, aus deren Perspektive auch »Heimat und Fremde« (ebd.) der Hauptfigur Triebel reflektiert werden. In der Überfahrt, als »retrospektive Ich-Erzählung« (ebd., 51) definiert, erweist sich das Erzählen als klärender und abschließender Akt und somit als ein Gegenpol zum Transitorischen, indem es – auch auf der Metaebene – als »Bewältigungs- und Selbstvergewisserungsstrategie« (ebd., 53) funktionalisiert wird. Klaus Eggensperger fokussiert auf die Figur der Maria Luísa, die als »zentrale Figur der Fremde« und als »Verkörperung eines Ideals« gedeutet wird, »das immer auch politische Dimensionen hatte« (Eggensperger 2014, 366). Sie wird »im Kontext des politischen Ideals der jungen Anna Seghers« (ebd., 366 f.) – der Weltrevolution, der revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mittels einer engagierten Literatur – und im Licht der Herausforderungen, mit denen sich dieses Ideal nach 1947 konfrontiert sah, gewertet. Maria Luísa fungiert folglich als Verkörperung einer harmonischen Verbindung des privaten Lebens- und Liebesglückes mit einem politisch-sozialen Engagement und der Orientierung an den Werten eines sich wissenschaftlich verstehenden Sozialismus. Die Tatsache, dass Triebel statt seiner Geliebten aus Fleisch und Blut mit der ›gläsernen Frau‹ wieder nach Deutschland zurückkehrt, zeigt für Eggensperger, dass das »politisch-moralisch richtige Engagement des Protagonisten einen Verzicht auf »privates Glück« (ebd., 369) impliziert. Verallgemeinert heißt das: »Sinnlichkeit und menschliche Wärme sind in Seghers’ später Erzählung weder mit dem Aufbau des Sozialismus noch mit dem sich an diesem Projekt beteiligenden Protagonisten verbunden« (ebd., 369). Als einen bisher wenig beachteten Aspekt in Seghers’ Überfahrt hebt Withold Bonner »die offenkundige Verknüpfung von Narration, Heimat und Wasser« (Bonner 2017, 187) hervor. Während die Forschung das Wasser als Medium der Ambiguität, Bipolarität, Fluidität und des dichterischen Wagnisses in Seghers’ Werk deutet, wird es in Überfahrt als Meta-
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pher für die Flüssigkeit poetischer Rede und als raumzeitliches Medium interpretiert, das Distanz und dadurch Reflexion ermöglicht. Der von der Erzählung transportierte Heimatbegriff, der bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgt wird, öffnet sich auf »das Andere, Fremde und Widersprüchliche« (ebd., 191). Bonner sieht in Seghers’ Entscheidung, die Hauptfigur Triebel in einer »liminalen Position des Übergangs zwischen zwei Heimaten« (ebd., 195) zu halten, einen bewussten Akt, der in erster Linie autobiografisch – als Ausdruck der »Auflösung ideologischer Wahrheitsdiskurse« (ebd., 197) – begründet ist. Symbolisch aber akzentuiert er »die Flüssigkeit und Formlosigkeit des Wassers« (ebd., 195), die auch für eine Relativierung und Fluidisierung der Lesarten des Textes (»eine fließende Materie«; ebd., 188) steht. Literatur
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Lehel Sata
26 Sonderbare Begegnungen (1973)
26 Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Unirdischen, Der Treff punkt, Eine Reisebegegnung Der 1973 im Aufbau Verlag und bei Luchterhand unter den Titel Sonderbare Begegnungen erschienene Band vereint drei Erzählungen: Sagen von Unirdi schen, Der Treffpunkt und Die Reisebegegnung, die ein Alterswerk sind: Anna Seghers stand nunmehr im achten Lebensjahrzehnt, und seit reichlich zwanzig Jahren war sie die Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbands (1973 in Schriftstellerverband der DDR umbenannt). Nach den (kultur-)politischen Zäsuren von 1965 mit dem Kahlschlagplenum und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verband sich mit dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker an der Spitze von Staat und Partei 1971 noch einmal die Hoffnung auf eine innenpolitische Liberalisierung, zumal Honecker auf der 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1971 die viel zitierten Worte gesagt hatte, dass es auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben könne, wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgehe. Die jüngere Autorengeneration, die den Nationalsozialismus nicht mehr im Erwachsenenalter erlebt hatte, meldete sich zunehmend mit Texten zu Wort, die Subjektivität und Individualität thematisierten, sich kritisch mit der DDR-Gegenwart auseinandersetzten und neue Schreibweisen entwickelten. Dass die Veröffentlichungen von einer Autorin der älteren Generation wie Anna Seghers mit bestimmten Erwartungen – oder Nicht-Erwartungen – aufgenommen wurden, reflektierte sie ironisch in einem Brief vom 3. Juli 1973 an Tamara Motyljowa: Freunde hätten ihr erzählt, dass man ein wenig über die Unirdischen bestürzt gewesen sei und befunden habe, dass die Leser »gar nicht an diese Art Anna gewöhnt« (Br2, 241) seien. Damit rekurriert sie auf das Nicht-Realistische ihrer literarischen Neuerscheinung, das vor allem auf die erste und dritte Erzählung der Sonderbaren Begegnungen zutrifft. Darin verhandelt die Autorin Fragen von Kunst und Literatur und arrangiert ein Zusammentreffen von Figuren, das in der Wirklichkeit nicht hätte stattfinden können. Stärker an die vorangegangenen, auf Zeitgeschichte bezogenen Veröffentlichungen schließt hingegen die mittlere Erzählung an, die im Deutschland der Jahre von etwa 1928 bis 1945 angesiedelt ist.
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Sagen von Unirdischen Die ersten Überlegungen für diesen Text, für den als Entstehungsdatum das Jahr 1970 angegeben ist und der zuerst in Sinn und Form (1/1972) erschien, reichen in die 1960er Jahre zurück (vgl. Kaufmann WA II/6, 401 f.). Bereits der Titel spielt auf ein nichtrealistisches Sujet an. Die Erzählung hat zwei längere Kapitel, die sich darin gleichen, dass Bewohner eines namenlos bleibenden Gestirns mit hochentwickelter technischer Zivilisation als Kundschafter die Erde ansteuern und sich einer von ihnen besonders intensiv für die Menschen interessiert. Im ersten Kapitel wird der Unirdische Michael genannt. Seine Ankunft fällt in die Zeit des ausgehenden Mittelalters, der Reformation und des Bauernkriegs; darauf verweisen Textelemente wie religiöse Kunst, Bibellektüre in der Landessprache und Bauernheer. Der zweite nennt sich Melchior, er bricht etwa ein Jahrhundert später auf und gerät in den Dreißigjährigen Krieg, auf den brennende Städte und Dörfer, ein Heerlager und konfessionelle Gegensätze hindeuten. Melchior bleibt auf der Erde und verbindet sich mit einer Frau, Katrin. Ein drittes, kurzes Kapitel erzählt abschließend von den Nachfahren Melchiors, von denen ab und zu einer plötzlich in die Fremde aufbricht. Was die dargestellte Zeit betrifft, so handelt es sich also jeweils um Epochen der Krise und des Krieges. In diesem Punkt unterscheidet sich die Erde signifikant von dem fremden Planeten, denn auf diesem gibt es keinen Krieg. Michael spricht davon, dass bereits die erste Gruppe bei ihrer Landung vor mehr als tausend Jahren in »wilde Kriege« (SB, 101) geraten sei und auch spätere Gruppen brennende Städte vorgefunden hätten. Die Tatsache, dass die Kundschafter bei ihren Expeditionen immer auf kriegerische Auseinandersetzungen stoßen, lässt die Gewalt als Element der Conditio humana erscheinen. Neben den andauernden kriegerischen Konflikten gibt es eine zweite fundamentale Differenz zwischen beiden Lebenswelten: Die Unirdischen kennen keine Kunst. Im ersten Kapitel begegnet Michael der jungen Marie und ihrem Vater, dem Holzschnitzer Matthias. Zwei Bildwerke, die sich in dessen Werkstatt befinden, regen ein Gespräch über Kunst an: ein unvollendeter Abendmahlsaltar von Meister Matthias und ein golddurchwirkter Teppich, der das Motiv der Einhornjagd zeigt und an dem dreißig Mädchen drei Jahre lang gestickt haben sollen. Die Konfrontation mit diesen Kunstwerken ist als überwältigendes emotionales Erlebnis gestaltet: Michael, der nur den Klang
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_26
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der Worte, nicht aber deren Bedeutung versteht, kann seinen Blick vom Teppich nicht losreißen, und beim Betrachten des Altars leuchten seine Augen auf in »ratlosem Glück« (SB, 103). Diese Wirkung wiederum wirkt auf den Schöpfer des Bildwerks zurück, und zwar ebenfalls emotional, denn der Meister beobachtet Michaels Reaktion und vergisst in diesem Moment »all die Leiden und auch die Angst dieser Tage« (SB, 103). Kunst kann, so formuliert es die Frau des Meisters, die »Menschen glücklich machen im Unglück« (SB, 105). Im zweiten Kapitel entfaltet vorzugsweise die Musik in Form von Orgelspiel, Gesang und Waldhornklang ihre Wirkung. Allerdings gibt es keine starke Künstlerpersönlichkeit wie Meister Matthias und auch keine Reflexion über Kunst. Melchior und Katrin, die er vor der Verfolgung als vermeintliche Hexe rettet und mit der er bis zu seinem Tod auf der Erde lebt, haben Nachkommen, die vor allem tüchtige Handwerker sind. Mit der Zuordnung der Erzählung zu einem Genre ist Anna Seghers recht frei umgegangen; die Geschichte sei »eine Art Märchen oder, wie es ja auch dasteht, eine Sage«, äußerte sie 1973 in einem Interview (AE2, 459); in einem anderen Interview bezeichnete sie die Erzählung noch einmal als »märchenhaft« (AE2, 463). Für die Genrezuschreibung der Sage fehlen indes wichtige Merkmale wie reale Orts- und Personenangaben, und näher als das Märchen scheint, von der an den Märchenton angelehnten Schlussformel abgesehen, durch das Motiv des interplanetaren Kontakts die Science-fiction-Literatur zu liegen. Dem aber steht entgegen, dass weder Zukünftiges noch die technisch hochstehende außerirdische Zivilisation wirklich veranschaulicht wird; die Science-fictionKomponente ist eher »ein auf Allernotwendigstes reduziertes, karges Erzählvehikel« (Batt 1973, 1298). Der Leser erfährt lediglich, dass der fremde Stern eine palmenähnliche Vegetation besitzt im Gegensatz zum vielfältigen Grün der Erde mit Unterholz, Gräsern und Blumen. Diesem botanischen Wildwuchs korrespondiert ein anthropologischer: das nicht fassbare Wesen der Erdbewohner, die sowohl herrliche Kunst als auch zerstörerische Gewalt hervorbringen. Dazu im Kontrast steht die technische Intelligenz der Fremden, die zwar friedlich leben, aber nur Funktionales erschaffen. Die Erzählung stellt dem rationalen Nützlichkeitsdenken die Kunst mit ihrer Qualität des Emotionalen, des Ergreifenden und Unbegreiflichen entgegen, wobei bemerkenswert ist, dass die Kunst, besonders im ersten Kapitel, zutiefst im Sakralen wurzelt. Dafür
sprechen auch die religiösen bzw. biblischen Anspielungen, die sich mit den Bildkunstwerken und den Namen einiger Figuren verbinden. So ist der Erzengel Michael sowohl in der jüdischen als auch christlichen Tradition bekannt, und Melchior ist in der christlichen Überlieferung der Name eines der Weisen aus dem Morgenland, die dem Stern nach Betlehem gefolgt sind. In profanierender Umkehrung sucht der ›unirdische‹ Melchior vergeblich einen Astronomen auf, um durch dessen Fernrohr seinen Heimatstern zu suchen, zu dem er die Verbindung verloren hat. Klingt hier der Gegensatz von Astrologie und Astronomie an, so wird damit auch der Gegensatz von Glauben und Wissen angedeutet. Maria als Gottesmutter ist gleich mehrfach im Text präsent: als Namenspatronin von Marie, als Statue in der Kirche, als Motiv im Bildteppich mit der Einhornjagd und als letztes, unvollendetes Schnitzwerk von Meister Matthias, den Michael auf sein Gestirn mitnimmt. Dieses Holzstück lässt später Melchior die Existenz von Kunst erahnen und verbindet so das erste Kapitel mit dem zweiten. In einem Brief an Sergej Tjulpanow, dem sie von der Fertigstellung der Sonderbaren Begegnungen berichtete, beklagte Anna Seghers den »unglaublich kalten, unmenschlichen Atheismus« (Br2, 234), der nichts mehr liebe und jedes Symbol verachte. Vor diesem Hintergrund bedeuten die Sagen von Unirdischen auch die Hochschätzung künstlerischer Kreativität und ›Spiritualität‹, die aus dem (religiösen) Glauben erwachsen und auf ein großes Repertoire an Bildern bzw. Geschichten zugreifen können, dem technik- und fortschrittsfixierte Utopien nichts Adäquates an die Seite zu stellen haben. Diese Auffassung von Kunst unterscheidet sich fundamental von dem kulturpolitisch intendierten funktional-didaktischen Verständnis jener Zeit. In den 1960er Jahren hatte auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) der Wirtschaft zu mehr Effizienz verhelfen sollen. Der dort verwendete Systembegriff stammte aus der Kybernetik als einer neuen Wissenschaft und beeinflusste auch die Kulturund Literaturpolitik. Im Zusammenhang mit der vielbeschworenen, noch ungebrochen bejahten »wissenschaftlich-technischen Revolution« wurden Kunst und Literatur noch stärker als zuvor instrumentalisiert und ökonomischen Regulativen unterworfen (vgl. Emmerich 2009, 184–190). Die Sagen von Unirdischen lassen sich durchaus als literarische Erwiderung lesen, ohne dass die außerirdische und die irdische Zivilisation zu einem unversöhnlichen Gegen-
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satz, zu einer »Entweder-Oder-Allegorie« (Batt 1973, 1297) gesteigert würden. Obwohl die emotionale, auf das Subjekt bezogene Wirkung von Kunst stark betont wird, so wird sie doch nicht aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entlassen, denn Meister Matthias hofft, dass sich in der Judas-Figur seines Altars diejenigen wiedererkennen, die »Drangsale aller Art« (SB, 104) zu verantworten haben.
Der Treffpunkt Die zweite Erzählung des Bandes, 1971 entstanden, handelt von Freundschaft, politischem Widerstand und Versagen in der Zeit der Weimarer Republik und NS-Diktatur. Hauptfigur ist der Arbeitersohn Erwin Wagner, der seinen Schulfreund Klaus Rautenberg in kommunistische Kreise und schließlich in den Widerstand gegen die Nationalsozialisten führt. Zum Drehund Angelpunkt wird ein geplantes konspiratives Treffen der beiden im Dom von Naumburg. Ausgemacht ist ein warnendes Zeichen für den Fall, dass sich einer von ihnen beobachtet fühlt. Erwin, der auf der Zugfahrt die Gespräche der hitlerbegeisterten Mitreisenden hört, wird von »Bangnis befallen« (SB, 145), betritt den Dom gar nicht erst und legt sich die Ausrede zurecht, Klaus habe ihm das vereinbarte Warnsignal gegeben. Als er erfährt, dass Klaus verschwunden ist, entfernt er sich zunehmend von den Genossen, nimmt einen fremden Namen an, kommt in einer Kartonagefabrik unter und heiratet die unansehnliche Tochter des Besitzers, die in der NS-Frauenschaft aufsteigt. Losgelöst von den Genossen, wird er orientierungslos, was sich exemplarisch darin zeigt, dass er sich die Ereignisse in Spanien »nicht richtig erklären« (SB, 154) kann. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion ist sein Inneres »vom Blitzkrieg aufgerissen« (SB, 160), nach der Hinrichtung der Attentäter vom 20. Juli empfindet er Reue und Scham. Zur Umkehr führt das jedoch nicht. Als er nach Kriegsende Klaus am vereinbarten Tag und Ort trifft, wenn auch zufällig, versucht er, die Wahrheit über Naumburg zu erzählen. Klaus lässt ihn jedoch sein Geständnis nicht zu Ende bringen, sondern begrüßt vielmehr sein damaliges Verhalten. Er habe im Dom einen Spitzel erkannt, erzählt er, sei geflohen und habe in der Sowjetarmee gekämpft. Einen bekennenden Brief, den Erwin wenig später an ihn schreibt, erhält er zurück mit dem Vermerk, dass der Adressat unbekannt verzogen sei. Das Heldennarrativ des kommunistischen Widerstands bedient Anna Seghers mit dieser Erzählung
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nur bedingt, auch wenn einige aufrechte kommunistische Widerstandskämpfer darin vorkommen und Klaus, der Kämpfer, in der letzten Begegnung groß und lebhaft erscheint, Erwin hingegen schwach und vergrämt, der körperliche Kontrast also dem moralischen korrespondiert. Der Fokus liegt auf dem Versagen eines jungen Kommunisten – Erwin ist die zentrale Figur, nicht Klaus, der sich als standhaft erweist, auch nach einer anderthalbjährigen Haftstraße. Wirkungsästhetisch zielt die Erwin-Figur jedoch nicht plakativ auf Distanzierung: Die Naumburg-Szene ist eng an Erwins Perspektive gebunden und sticht narrativ durch ihre Länge und Detailliertheit heraus, sie nimmt fast ein Fünftel des Gesamtumfangs der Erzählung ein und macht durch viele Gedankenzitate Erwins Angst nachvollziehbar. Seine Depravation vom Widerstandskämpfer zum Widerstandslosen, der nur noch im Alltag funktioniert, erfolgt passiv und aus dem verständlichen Wunsch zu überleben, und sein Verschwinden in Naumburg erscheint retrospektiv sogar als richtig. Im Spektrum der politischen Haltungen, die die Figuren der Erzählung verkörpern, gibt es auch opportunistische Figuren, die nie etwas riskieren, so wie zwei von Erwins Geschwistern, die zu den Nazis überlaufen, und Klaus’ Vater, ein ehemals sozialdemokratisch gesinnter Kunstschlosser, der im Gefolge der wirtschaftlichen Krise ängstlich reagiert. Die Zugreisenden oder auch Erwins Frau repräsentieren die Gruppen der deutschen Bevölkerung, die mit nationalsozialistischen Ideen und Praktiken sympathisierten. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass im Dom von Naumburg die Predigt eines Vertreters der Deutschen Christen stattfinden soll. Ein Detail der Erzählung weist beiläufig in die andere politische Richtung: Erwin ist irritiert und zornig über den Hitler-Stalin-Pakt, findet darin aber schließlich eine Rechtfertigung für seine eigene Verwirrung: »In solchen Zeiten ist alles möglich« (SB, 157). Mit der Erwähnung des Nichtangriffspakts, der viele Kommunisten schwer getroffen hatte (vgl. Bayerlein 2008), auch Anna Seghers im Exil, obwohl sie ihn später verteidigte (vgl. Zehl Romero 2000, 342), deutet sie auf einen heiklen Punkt in der historischen Selbstvergewisserung der DDR hin, in deren ideologisch gesteuerter Geschichtsschreibung die Person Stalins und die Stalinismus-Problematik weitgehend ausgespart blieben (vgl. Weber 1992). In der Forschung stieß diese Erzählung auf vergleichsweise geringes Interesse, entsprach sie doch »am ehesten dem öffentlichen Bild der Autorin« und resümierte noch einmal deren Lebensthema »Solida-
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rität und Imstichlassen« (Batt 1973, 1295); zudem war sie mit viel »allzu bekannter Komparserie« (ebd., 1296) belastet. Das ›Sonderbare‹ sah man vor allem darin, dass unklar bleibt, ob die Nachkriegsbegegnung zwischen Klaus und Erwin in der (fiktiven) Wirklichkeit oder nur in Erwins Phantasie stattgefunden hat (vgl. Batt 1973, 1295; AE2, 460). Auch Anna Seghers selbst äußerte sich in diesem Sinne und wollte die Entscheidung den Lesern überlassen: »Nach dem zweiten Treffpunkt muß der Leser nachdenken, ob Erwin seinen Freund in der vereinbarten Stunde wirklich erblickt hat oder, zugleich real und irreal, nur in der Erinnerung seine mahnende, hoffnungsfreudige Gestalt« (AE2, 464; ähnlich AE2, 460, 468). In den Materialien zur Erzählung Steinzeit findet sich eine vergleichbare Bemerkung: »Aber die zweite Geschichte ›Der Treffpunkt‹, zu der man mir nicht viel gesagt hat, [...] ist mir sehr wichtig. Denn hier kommt das Phantastische oder wahrscheinlich Phantastische aus dem gewöhnlichen Leben heraus. Ein durch Schwäche und Angst vom ersten Treffpunkt ab verödetes Leben springt zuletzt aus Reue, aus Liebe zum Freund, aus dem heißen Wunsch ihn wiederzusehen, ins Phantastische. Dadurch wird sich der Mensch verändern« (Brandt 1992, 138). Für die Phantasie-Variante spricht, dass sich Klaus zwischen den Trümmern wie eine spukhafte Gestalt formiert, »wie ein Nebelschwaden, der dichter wurde« (SB, 167), und dass die Begegnung wenig später Erwin selbst wie ein »Traum« (SB, 171) vorkommt. Dagegen steht allerdings, dass die Szene nicht konsequent an Erwins Perspektive gebunden ist, sondern mehrfach die Innenperspektive von Klaus in Form von Gedankenrede und Gedankenbericht vermittelt wird, was in der Kompetenz der Erzählinstanz liegt. Letztlich ist das jedoch nicht entscheidend für den Ausgang, den Anna Seghers der Erzählung gegeben hat: ein offenes Ende. Erwins Bekenntnis erreicht nicht den Adressaten, er kann nicht vom Freund entschuldigt werden und bleibt mit seinem belasteten Gewissen zurück. Kurt Batt, Lektor bei Hinstorff in Rostock und ausgewiesener Seghers-Kenner, hob in seiner differenzierten Besprechung des Erzählbandes hervor, dass der Ausgang »nicht mit einem Schuldspruch von außen besiegelt« werde, sondern die Problematik nach innen verlagere – nicht mehr der Tod sei die Sühne für Verrat, sondern der Verlust der Identität (Batt 1973, 1295). Dennoch zeigte die »überwiegend müde Resonanz«, dass die Thematik und ihre Gestaltung wohl für die Gegenwart nicht viel zu bedeuten hatten (vgl. Kaufmann WA II/6, 410).
Die Reisebegegnung In der dritten, auf 1972 datierten Erzählung Die Reisebegegnung lässt Anna Seghers drei Schriftsteller in Prag zusammentreffen, die sich aufgrund ihrer Lebensdaten nie persönlich hätten austauschen können: E. T. A. Hoffmann (1766–1822), Nikolai Gogol (1809– 1852) und Franz Kafka (1883–1924). Anna Seghers, deren erste Beschäftigung mit Kafka nicht genau datierbar ist, wohl aber in die Mitte der 1920er Jahre fällt (vgl. Hermsdorf 1978, 46; Winnen 2006, 33–42), hatte im Mai 1963 der vierköpfigen DDR-Delegation angehört, die nach Liblice in der Nähe von Prag reiste, wo die erste Kafka-Konferenz in einem sozialistischen Land stattfand. Die politische Brisanz dieser Tagung erwuchs vor allem daraus, dass über Formen der Entfremdung im Sozialismus diskutiert wurde (vgl. Busch 2009). Anna Seghers vermied in Liblice Stellungnahmen (vgl. Zehl Romero 2003, 225 f.), machte sich aber auf dem Internationalen Schriftstellerkongress, der zwei Jahre später in Berlin und Weimar stattfand, zu Kafkas Fürsprecherin, indem sie ihn unter die Schriftsteller zählte, die in der Zeit ihres Exils wichtig für sie gewesen seien. Bereits damals hätten sie, die Exilanten, Kafkas Zusammenhang mit Gogol und E. T. A. Hoffmann gefühlt (vgl. AE2, 303). Hier nannte sie die drei Autoren das erste Mal öffentlich in einem Atemzug. Die Entstehung der Reisebegegnung war also ein längerer Prozess, zu dem auch intensive Recherchen zu den drei Hauptfiguren gehörten (vgl. Zehl Romero 2003, 288–291). Als Initiator des Literaturgesprächs fungiert im Text Gogol, der Hoffmann brieflich um das Kennenlernen gebeten hat. Zu dieser arrangierten Begegnung kommt ungeplant ein unbekannter Dritter hinzu: Kafka, der im verabredeten Café sitzt, schreibt und durchstreicht und dadurch Hoffmanns Interesse weckt. Im Unterschied zu den beiden voranstehenden stark zeitraffenden Erzählungen ist diese zeitdeckend strukturiert, da sie weitgehend aus direkter Rede bzw. Gedankenrede besteht. Der dramatische Modus drängt die vermittelnde Erzählinstanz zurück, so dass für die Rezeptionssteuerung das Arrangement der Figurenreden entscheidend ist. Wie von Gogol intendiert, findet ein Gespräch über Literatur statt, das um das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur kreist, um die Verantwortung des Autors und das Verhältnis von Leben und Werk. Zudem geht es um die Ästhetik des Hässlichen oder Bösen, um Sprache (vgl. Mehnert 1997, 37–39) und Zensur. Erzählerisch setzt Anna Seghers die Logik zeitlicher
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Chronologie nicht nur generell, sondern auch in einem Detail außer Kraft: Gogol und Kafka bleiben in den Grenzen ihres historisch möglichen Wissens um die beiden Schriftstellerkollegen, Hoffmann jedoch nicht, denn seine Gedanken über Gogols künftige religiöse und literarische Entwicklung und dessen religiös-asketischen Hungertod übersteigen das historisch Plausible, ebenso sein Wissen um Kafkas posthum erschienenen Roman Der Prozess. Bei der Debatte über den Umgang mit Zeit erhält er wiederum eine Sonderstellung unter den drei Figurenstimmen, denn während Gogol und Kafka sich an das »Gesetz der Zeit« (SB, 182) halten, antwortet Hoffmann auf Gogols Kritik, leichtfertig mit der Zeit umzugehen, ein Dichter dürfe sich Erfindungen erlauben (vgl. SB, 196). In seinen Erzählungen Meister Floh und Ritter Gluck, auf die rekurriert wird, macht er genau dasselbe wie Anna Seghers in der Reisebegegnung: die Freiheit fiktionalen Erzählens zu nutzen und chronologisch unmögliche Begegnungen stattfinden zu lassen. Er ist es außerdem, der dies fiktionsintern thematisiert, eine narrative Metalepse, da seine Äußerung der Erzählinstanz zukommen würde: »Wir drei, wir säßen hier doch gar nicht beisammen an diesem Tisch, wenn wir ernstlich die Zeit einhalten würden« (SB, 183). Im Zusammenhang damit disputieren die drei Schriftsteller sowohl über den Wirklichkeitsbegriff als auch über die Frage, wie Wirklichkeit in der Literatur darzustellen ist, wobei Wirklichkeit nahe an den Begriff der Wahrheit gerückt wird. Zwar können sie sich nicht auf ein gemeinsames Konzept verständigen, stimmen aber darin überein, sich nicht strikt an die gängigen Vorstellungen von Wirklichkeit binden zu müssen. Darunter verstehen sie im weiten Sinne das Phantastische, das eben kein zweckfreies Spiel, sondern Ausdruck eines kritischen Bewusstseins von den »Mängeln der bürgerlichen Gesellschaft« ist (Schuhmann 1988, 8). Verbunden ist damit auch ein rezeptionsästhetischer Aspekt, denn am Beispiel Hoffmanns wird angedeutet, dass ein literarischer Text nicht realistisch sein muss, um in einer bestimmten politischen und gesellschaftlichen Situation Wirkung zu entfalten: Er, der als der »wildeste Träumer« (SB, 184) von ihnen gelte, habe vielleicht am meisten unter dem Zeitgeschehen in Gestalt der Zensur gelitten, sinniert er. Hoffmann unterscheidet sich auch im Umgang mit seinem eigenen Werk markant von den beiden anderen. Gogol, der unter den Einfluss der orthodoxen Kirche geraten ist, will nicht gelungene Kapitel vernichten und Kafka ein komplettes Autodafé veranstalten, weil er davon ausgeht, dass die Menschen sein Werk miss-
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oder gar nicht verstehen. Hoffmann hingegen ist es suspekt, »so viel Wesens« um die Nachwelt zu machen (SB, 179). Er tritt im Text als der vitalste Autor auf, der den Anfechtungen seiner Zeit robuster und gelassener als die beiden anderen begegnen konnte. Kontraste treten auch bei der Verständigung darüber zutage, welche Verantwortung der Autor mit seiner literarischen Darstellung der Wirklichkeit übernimmt. Gogol vertritt eine religiöse Position, indem er sagt, dass jeder am Jüngsten Tage für das, was er geschrieben habe, »geradestehen« (SB, 179) müsse. Kafka formuliert den Anspruch, sein subjektives Verständnis von Wirklichkeit ohne Rücksicht auf die Leserschaft literarisch zu gestalten: »Man wird mir vorwerfen, meine Welt sei ausweglos. Habe ich aber nicht das Recht, wenn mir die Wirklichkeit ausweglos vorkommt, sie darzustellen, wie ich sie sehe?« (SB, 198) Dagegen trägt Hoffmann als poetologisches Credo vor, man müsse nach einem Ausweg suchen, nach einer »Bresche in der Mauer« (ebd.). Ein Lichtpünktchen müsse aufglänzen, gewisse dunkle Bilder bekämen erst durch richtig eingesetztes Licht ihren Sinn, so wie bei Rembrandt. Dieser Vergleich rückt seine Position wiederum implizit in die Nähe der Autorin: Anna Seghers hatte über Rembrandt promoviert und mehrfach ein ähnliches Verständnis der Funktion von Literatur geäußert (s. Kap. 34). Zu Kafka sagt Hoffmann, dessen Erzählungen fehle es, dass man sich irgendwann und irgendwie »hoch erheben kann über die Leiden und Qualen in unserem bedrohten Leben« (SB, 193) – eine Auffassung, die mit der Kunstbetrachtungsszene in den Sagen von Unirdischen korrespondiert. Hoffmann, der Romantiker, wird zeitweilig zum »Sprachrohr« (Hilzinger 1988, 269) der Autorin und ist durch seine Nähe zu Seghers’schen poetologischen Positionen als Figur privilegiert. Er wird in eine deutliche Nähe zu Kafka gerückt, schon zu Beginn, als er sich nach Betreten des Cafés für den unbekannten mageren Mann interessiert und sich zunächst mit ihm allein unterhält. Beide sind Gogol gegenüber dadurch bevorzugt, dass ihre Perspektive immer wieder durch Gedankenzitate wiedergegeben wird. Hoffmann scheint sogar Kafkas Gedanken lesen zu können, wenn er ausspricht, was Kafka eben gedacht hat: dass die meisten Menschen unter dem Wirklichen nur das »Sichtbare und das Greifbare« (SB, 180) verstünden. Gogol hingegen kommt nur in Form der zitierten Rede zu Wort und wird mit einer gewissen Distanz geschildert, zumindest was die Person betrifft. Als Schriftsteller stellt ihn E. T. A. Hoffmann jedoch über sich und Kafka: Keiner könne »schreiben wie er, verwurzelte Wirklich-
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keit, aus der dann Träume galoppieren; und alles zugleich, so daß sich die Träume auch in den Herzen verwurzeln« (SB, 200). Es gibt jedoch noch eine narrative Besonderheit: Alle drei Autoren lesen bzw. zitieren Passagen aus ihren Werken, Kafka aber ist zudem dadurch exponiert, dass er sich mitten im Schreibprozess befindet und zum intradiegetischen Erzähler wird, indem er eine fremde, chassidische Geschichte erzählt: Ein Knabe stirbt, da sein Wunsch, bei einem Rabbi, einem wahren Meister, zu lernen, durch einen Fremden verhindert wird und damit auch das Erscheinen des Messias. Auf der Figurenebene dient diese Legende in poetologischer Hinsicht dazu, über das Böse und dessen literarische Gestaltung bzw. Wirkung zu sprechen; unter geschichtsphilosophischem Aspekt handelt sie vom utopischen Streben und dem notwendigen Aufbruch, dessen Verhinderung letale Konsequenzen für die Betroffenen hat (vgl. Haas 2000). Mit der Figur Kafkas wird hier die reiche jüdische Kultur, die in der DDR marginalisiert war, zitiert, und zudem verbindet sich mit dem jüdischen Autor ein existentielles Thema, das auch für Anna Seghers als Jüdin galt: die Fragilität der Existenz und die Sehnsucht nach Stabilität, gezeigt an der Figur des Landvermessers im Schloß, der sich sehnlich »Seßhaftwerden, eine Bleibe« (SB, 176) wünscht. Die Reisebegegnung hat als dezidiert poetologischer Text unter den drei Erzählungen des Bandes die meiste Resonanz erfahren. In den Rezensionen zeigt sich, dass sie im Osten und Westen Deutschlands gegensätzlich rezipiert wurde: Im Westen überwogen Verrisse, im Osten positive Beurteilungen. Die westlichen Besprechungen monierten vor allem die nicht-differenzierte Figurensprache der drei Schriftsteller und das Kafka-Bild, da dessen Werk textintern am meisten kritisiert wird (vgl. Winnen 2006, 47–49). In der DDR waren Schriftstellerkolleg/innen wie Christa Wolf und andere von der Erzählung überrascht (vgl. Zehl Romero 2003, 286). Rückblickend gehört die Reisebegegnung zu einer Reihe von fiktionalen Texten, die in den 1970er Jahren die schriftstellerische Existenz reflektierten, sei es anhand von Gegenwartsstoffen wie in Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. (1968), Günter de Bruyns Preisverleihung (1972) oder Werner Heiduczeks Tod am Meer (1977), sei es am historischen Modell wie in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (1978). Als Beitrag zum poetologischen Selbstverständigungsprozess in der DDR ist Anna Seghers’ Reisebegegnung folglich von Beginn an interpretiert worden (vgl. Schuhmann 1988; Schulz 1982). Die vorrangige
Bedeutung sah und sieht man in der kritischen Auseinandersetzung mit dem ›sozialistischen Realismus‹ und dem ›Erbe‹-Kanon, zu dem Kafka und die Autoren der Romantik nicht gehörten (vgl. Hilzinger 1988, 260–271; Straub 1993; Horn 2005). Kafkas Werk wurde in den 1950er und 1960er Jahren, vor allem unter dem Einfluss von Georg Lukács, in der DDR als formalistisch und dekadent abgelehnt; auch deshalb zog die differenziert gestaltete Figur Kafkas besonderes Interesse auf sich (vgl. Hermsdorf 1978; Bock 1984; Winnen 2006). Anna Seghers fasste Kafka als Künstlertypus in einer Umbruchzeit auf und empfand in der »zerreißenden Intensität der Zeiterfahrung« (Hermsdorf 1978, 57) seine Verwandtschaft mit sich und ihrer eigenen Generation (s. Kap. 39). Trotz der Kritik, die textintern geäußert wird, ist eine besondere emotionale Nähe zu Kafka spürbar (vgl. Richter 1983, 1179). Die Besonderheit von Anna Seghers’ Kafka-Rezeption lässt sich darin sehen, dass »sie innerhalb eines traditionellen sozialistischen Deutungsmusters bleibt, dieses aber gleichzeitig erweitert« und das Werk des Prager Autors öffentlich verteidigt (Winnen 2006, 95). Vielleicht konnte die Reisebegegnung gerade durch die »nur vorsichtige Erweiterung des literarischen Kanons« zum kulturpolitischen Ereignis werden und für Verleger, Lektoren und jüngere Schriftsteller autorisierende Hilfe sein (vgl. ebd., 96). Seltener thematisiert, aber nicht unwichtig ist die dialogisch geprägte Form der Erzählung. Nicht zuletzt durch die »Verortung in einem Café« (Bernstorff 2005, 223) wird der kommunikative Prozess betont, und auch das besaß eine literaturpolitische Implikation, denn der offene Diskurs ist das Gegenteil von normativen Verlautbarungen. Insgesamt waren die Sonderbaren Begegnungen, vor allem die erste und dritte Erzählung, ein Plädoyer für einen erweiterten, undogmatischen Realismusbegriff und gegen allzu simple produktions- und rezeptionsästhetische Vorstellungen von Literatur. Sie verteidigten die Imaginationskraft des Menschen und die Gestaltung von Wirklichkeitserfahrung in der Form des Poetischen und Phantastischen. Ihr literaturgeschichtlicher Stellenwert liegt darin, dass sie Impulse für ein neues Selbstverständnis der DDR-Literatur in den 1970er Jahren gaben und alle Versuche, die »Welt mittels der Phantastik zu erkunden, autoritativ« (Batt 1973, 1300) sanktionierten. Sie wurden wichtig für die Suche jüngerer Autoren nach alternativen Lebens- und ästhetischen Entwürfen, die sie in der unter Verdikt stehenden deutschen Romantik fanden (Hilzinger 1988).
26 Sonderbare Begegnungen (1973) Literatur
Batt, Kurt: Lob der Phantasie. In: Sinn und Form 25/6 (1973), 1293–1300. Bayerlein, Bernhard H. (Hg.): »Der Verräter, Stalin, bist Du!«. Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939– 1941. Berlin 2008. Bernstorff, Wiebke von: Erträumte und erschriebene Orte der Kommunikation. Das ›Traumcafé einer Pragerin‹ von Lenka Reinerová und die ›Reisebegegnung‹ von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 14 (2005), 216–225. Bock, Sigrid: Anna Seghers liest Kafka. In: Weimarer Beiträge 30/6 (1984), 900–915. Brandt, Marion: Vorfassung zu Anna Seghers’ Erzählung ›Steinzeit‹ – Beschreibung und Kommentar in bezug auf eine mögliche Interpretation. In: Zeitschrift für Germanistik NF II 2/1 (1992), 138–148. Busch, Imke: Die Kafka-Konferenz. In: Michael Opitz/ Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart 2009, 154– 155. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw.e Neuausgabe. Leipzig 42009. Haas, Erika: Atlantis und die ›Poetik der Hoffnung‹. Noch eine Lesart zu Anna Seghers’ Erzählung ›Die Reisebegegnung‹. In: Argonautenschiff 9 (2000), 72–79. Hermsdorf, Klaus: Anfänge der Kafka-Rezeption in der sozialistischen deutschen Literatur. In: Weimarer Beiträge 24/9 (1978), 45–69. Hilzinger, Sonja: Die »Blaue Blume« und das »Wirkliche Blau«. Zur Romantik-Rezeption in den Erzählungen ›Das Wirkliche Blau‹ und »Die Reisebegegnung« von Anna Seghers. In: Literatur für Leser 11/4 (1988), 260–271. Horn, Anette: Kontroverses Erbe und Innovation. Die Novelle ›Die Reisebegegnung‹ von Anna Seghers im litera-
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turpolitischen Kontext der DDR der siebziger Jahre. Frankfurt a. M. 2005. Mehnert, Elke: Grenzüberschreitungen – Zu Anna Seghers’ Erzählung ›Reisebegegnung‹ (1972). In: Dies. (Hg.): Imagologica Slavica. Bilder vom eigenen und dem anderen Land. Frankfurt a. M. [u. a.] 1997, 29–46. Richter, Hans: Der Kafka der Seghers. In: Sinn und Form 35/6 (1983), 1171–1179. Schuhmann, Klaus: Auf der Suche nach dem »Wirklichen Blau« – Künstler- und Schriftstellerproblematik in drei Erzählungen von Anna Seghers. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 1988, Nr. 799, 3–14. Schulz, Christiane: Ästhetische Positionsbestimmung am literarhistorischen Modell. Zu Anna Seghers’ Erzählung ›Die Reisebegegnung‹. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik 6 (1982), 71–86. Straub, Martin: Kafka Rezeption und Realismus-Auffassung in ›Die Reisebegegnung‹. In: Argonautenschiff 2 (1993), 64–76. Weber, Hermann: »Weiße Flecken« in der DDR-Geschichtsschreibung. Aufgaben der Geschichtswissenschaft nach der politischen Umwälzung. In: Rainer Eckert/Wolfgang Küttler/Gustav Seeber (Hg.): Krise – Umbruch – Neubeginn. Eine kritische und selbstkritische Dokumentation der DDR-Geschichtswissenschaft 1989/90. Stuttgart 1992, 369–391. Winnen, Angelika: Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig. Würzburg 2006. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003.
Katrin Löffler
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27 Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977) Der schmale Band, der 1977 im Aufbau Verlag und 1978 bei Luchterhand erschien, enthielt nur zwei Erzählungen. Neben Überfahrt (1971) und Sonderbare Begegnungen (1973) war er Anna Seghers’ dritte Publikation in Buchform in den 1970er Jahren. Die Literatur gewann in jenen Jahren an Differenzierung und schärferer Konturierung. Vor allem jüngere Autoren thematisierten kritisch den DDR-Alltag und damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sei es durch fiktionale Texte oder die aufkommende dokumentarische Literatur. Die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus als produktionsästhetische Norm verlor an Relevanz, was sich auch in der Aneignung moderner narrativer Techniken und der Veröffentlichung phantastischer Romane zeigte. Das literarische Feld veränderte sich durch den 1972 abgeschlossenen Grundlagenvertrag zwischen DDR und BRD, da sich für DDR-Autoren die grenzüberschreitenden Publikationsmöglichkeiten verbesserten, was sie nutzten, um die Drucklegung ihrer Texte in der DDR zu befördern (vgl. Meyszies 1996, 157–166). Dass die Liberalisierung nach dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 jedoch ihre Grenzen hatte, machten der Ausschluss von Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband 1976 und, auf eklatante Weise, die Ausbürgerung von Wolf Biermann im November 1976 bewusst – eine Zäsur, die letzte Hoffnungen auf die Reformwilligkeit der Partei- und Staatsführung zerstörte und zahlreiche Intellektuelle und Künstler dazu bewegte, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Für Anna Seghers, die jüdische Remigrantin, bedeutete diese Maßnahme eine höchst schmerzhafte Erinnerung an die Aberkennung staatsbürgerlicher Rechte im nationalsozialistischen Deutschland. Noch war sie die Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR und geriet vermittelnd zwischen die Fronten (vgl. Zehl Romero 2003, 309–315). Schon in den Sonderbaren Begegnungen hatte Anna Seghers den Stoff ihrer Erzählungen nicht mehr in der DDR-Gegenwart verortet, und auch mit Steinzeit. Wiederbegegnung vermied sie einen solchen direkten Bezug, griff aber dennoch – anders wiederum als in den Sonderbaren Begegnungen – zeitgeschichtliche Ereignisse auf. Im Unterschied zu diesem Erzählband entschied sie sich jedoch nicht für einen übergreifenden Buchtitel, sondern reihte die Titel der beiden Erzählungen aneinander. Beide sind motivisch eng mit-
einander verbunden (vgl. Arndt 1989, 82). Die Kontrastwirkung, äußerte Anna Seghers im Interview, sei nicht von vornherein beabsichtigt gewesen, sondern habe sich »im Entstehen der Geschichten ergeben« (AE2, 478).
Steinzeit Diese zuerst in Sinn und Form (5/1975) abgedruckte Erzählung stellt einen ehemaligen amerikanischen Vietnam-Soldaten namens Gary in den Mittelpunkt. Am Beginn steht wie in den Sagen von Unirdischen eine geglückte Landung: Gary ist mit einem Fallschirm abgesprungen, nachdem er ein Flugzeug entführt und Geld erpresst hat. Dank eines kolumbianischen Passes, den ihm ein Vietnamkamerad besorgt hat, entkommt er nach Kolumbien und versucht, sich dort ein neues Leben aufzubauen. Mehrfach wechselt er den Ort, immer in der Angst vor Verfolgung und Festnahme. Zweimal ist er mit einer Frau liiert; mit der ersten, der schönen Eliza, erscheint ein dauerhaftes Zusammenleben möglich und damit eine normale, unauffällige Existenz. Die zweite Frau, Luisa, ist von vornherein nur eine Liaison für ihn. Dank seines Geldes, aber auch seiner Fähigkeiten und Zuverlässigkeit findet er wiederholt Anstellungen in der Landwirtschaft oder betätigt sich selbst erfolgreich als Landpächter. Zu einer besonderen Begegnung wird der Anthropologe Tom Hilsom, den Gary auf einer abgelegenen Halbinsel im Amazonasgebiet trifft und dem gegenüber er sich als Sprachforscher ausgibt. Er ist ihm durch sein Sprachtalent bei den anthropologischen Forschungen behilflich und unterstützt ihn bei den Bemühungen, die ›Eingeborenen‹ den Ackerbau zu lehren. Nur ihm gegenüber öffnet er sich und erzählt von sich selbst. Immer wieder werden jedoch Annäherungen an andere Menschen abgebrochen durch die Angst, identifiziert und ausgeliefert zu werden. Zuletzt ist Gary unterwegs im Westen Kolumbiens, um in einer Hochebene Weideland zu pachten. Er stürzt ab, Landarbeiter finden seinen Leichnam und müssen ihrem unbarmherzigen Ranchero das Geld aushändigen, das sie bei dem Toten gefunden haben. Anna Seghers gelingt es, durch einfache Sprache, eine nicht-plakative, andeutungsreiche Figurengestaltung und die sparsamen Bezüge auf das Zeitgeschehen – den Vietnamkrieg – der Erzählung einen überzeitlichen Charakter zu geben. Flucht, Angst, Alleinsein, Misstrauen, das Fehlen fester menschlicher Bindungen sind das zentrale Thema. Damit erinnert Steinzeit
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_27
27 Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977)
an frühere Texte wie beispielsweise Das Siebte Kreuz und Transit (vgl. Göhler 2017), nur dass hier nicht Verfolgte eines mörderischen Regimes die Hauptfiguren sind, sondern ein amerikanischer Vietnamsoldat, an dessen Perspektive die Erzählung fast ausschließlich gebunden ist und über dessen Vergangenheit, Motive und Emotionen der Leser nur sparsam informiert wird. So erfährt man, dass Gary dem Vietnamkrieg entronnen ist, indem er eine Verwundung künstlich verschlimmert hat. Dahinter steht indes keine Kriegsgegnerschaft, sondern selbstgenügsames Abenteurertum, denn bereits auf dem Heimweg in die USA hatte Gary »Sehnsucht bekommen nach Wildnis und Spannung, nach dem freiwillig verscherzten, unbändigen Leben« (Stz, 207). Die Informationen über den Wiederaufbau des zerstörten Vietnam und den bevorstehenden Friedensschluss – gemeint ist der Vertrag von Paris 1973 – rufen lediglich das Gefühl der Enttäuschung über den vergeblichen Einsatz hervor, ohne zum Nachdenken über sich und amerikanische Politik anzuregen resp. ein Kriegsgegner zu werden: »Man hatte also all die Leute vollkommen unnütz hingeschickt, um ganze Landesteile auszuradieren. Er wunderte sich. Daß die Zeit, die er hier verbrachte, etwas mit seinem vergangenen Leben zu tun hatte, kam ihm nicht in den Sinn« (Stz, 212). Der Neuanfang, den Gary anstrebt, ist von vornherein dadurch diskreditiert, dass ihm Selbst- und politische Reflexivität weitgehend fehlen. Seine einzige im Ansatz kritische Überlegung zum Vietnamkrieg ist: »Des Raubes wegen verfolgt man mich, wegen der paar Beutel von Dollars. Davon sind die nicht ärmer geworden. Was alles in Vietnam passiert ist, das kam ihnen ehrlich vor. Die würden niemals ein Wort verlieren über die Städte und Brücken, die ich auf ihren Befehl zusammenknallte« (Stz, 236). Aus seiner Figurenperspektive beschränkt sich der erstrebte Neuanfang auf den Ortswechsel, mit dem er die imaginierten Verfolger abgeschüttelt hat. Der Gedanke an Glück ist fast immer mit dem Gefühl der Furcht bzw. dem Gedanken an die gelungene Flucht verschwistert; die Vorstellungen von der Zukunft bleiben diffus und selbstbezogen: »Ein gutes Leben, ein saftiges Leben hätte ich mir verdient« (Stz, 208). Diese egozentrische Glücksvorstellung macht ihn zur Kontrastfigur von Celia und Alfonso in Wiederbegegnung. Ist eine solche Figurencharakterisierung nicht dazu angetan, die Sympathien der Leser/innen zugunsten von Gary zu steuern, so gibt es auch andere, durchaus positive Merkmale, die den ehemaligen Vietnamsoldaten auszeichnen. Er ist begabt, besonders für Spra-
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chen, arbeitet gut und gewissenhaft, wird als Aufseher einer Ranch von den Kindern seines Brotherrn geliebt, und auch als er selbst zum Landpächter wird, gilt er als strenger, aber gerechter Herr. Er ist nicht gänzlich unempfänglich für menschliche Beziehungen, wie an Eliza, Hilsom und am schönen kolumbianischen Jungen Estébano gezeigt wird. In der Begegnung mit dem Anthropologen gibt er einige Details aus seiner Vergangenheit preis, die einen sozialen Kontext andeuten und sein Verhalten, vor allem die Praxis beständiger Flucht auch psychologisch motivieren: Er war ein vom Vater misshandeltes, von Mutter und älterem Bruder alleingelassenes Kind, das auf dem heimischen Rancho schuften musste. Lediglich mit dem Großvater, der nur geduldet mit im Haus lebte, verband ihn eine Beziehung wechselseitigen Mitgefühls. Leitmotivisch zieht sich die »letzte Zigarette« durch den Text: Es ist die letzte Zigarette einer eigentlich für den Großvater bestimmt gewesenen Schachtel, die er dem jüngeren, von ihm unbeachteten Bruder verweigert hat – die einzige Handlung, die er bedauert, und ein Sinnbild für das Verfehlen eines solidarischen, andere Menschen einbeziehenden Lebens. In der gemeinsamen Arbeit mit Hilsom deutet sich das Potential an, das in Gary steckt. Als der Anthropologe für zwei Wochen die Halbinsel verlässt, um Besorgungen zu erledigen, fühlt sich Gary zunächst bedrückt vom Alleinsein. »Die alte Leere machte ihm die ersten Tage fast unerträglich. Ein anderes Menschenleben, das auf ihn wirkte, auf das er wirkte, hatte die Leere beschwichtigt« (Stz, 234). Dann nimmt jedoch wieder der Argwohn überhand und treibt ihn fort. Signifikantes Merkmal dieser vereinzelten Existenz ist das Schweigen, das Verheimlichen. Die Öffnung und Gesprächsbereitschaft gegenüber Hilsom bereut Gary gleich darauf und ist einen Augenblick lang »wie überwältigt von dem Zwang zu schweigen sein Leben lang« (Stz, 233). Dass seine Existenzform nicht dem Leben, sondern dem Tode zugewandt ist, wird in seinen falschen Identitäten angedeutet, die er jeweils einem Toten entlehnt: Die Papiere, die ihm sein ehemaliger Vietnam-Kamerad verschafft, gehörten einem verstorbenen Kolumbianer, und als er die Halbinsel und den Anthropologen verlässt, schifft er sich mit Holzarbeitern an der Stelle eines Toten ein. Die Erzählung endet damit, dass Hilsom, der Einzige, der etwas von den existentiellen Nöten Garys ahnt, die wenigen auf ihn bezogenen Notizen in seinen Unterlagen unleserlich macht und mit diesen Spuren sozusagen auch die Erinnerung tilgt – ein radikales Ende, das keinerlei Hoffnung lässt. Die Sinnlosigkeit dieses Menschen-
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lebens und noch des Todes wird dadurch unterstrichen, dass nicht einmal das Geld, das er bei seinem Absturz bei sich trägt, den Bedürftigen zugutekommt. Der Titel der Erzählung findet sich im Text in verschiedener Verwendungsweise wieder. Zweimal denkt Gary an den Befehl des Generals, dessen reales Vorbild Curtis Emerson LeMay ist (vgl. Kaufmann WA II/6, 415), Vietnam in die »Steinzeit« zurückzubomben (Stz, 208; 219), und der Anthropologe Tom Hilsom erzählt Gary von seinem letzten Buch, in dem er das Leben gewisser Eingeborenengruppen mit dem Leben von Menschen in der jüngeren Steinzeit verglichen hat. Steinzeit deutet also zum einen auf die zerstörerischen Kriegsziele der USA hin, zum anderen auf die frühgeschichtliche Entwicklungsphase des Menschen, in der erstmals der moderne Homo sapiens auftritt und den Stein als Werkzeugmaterial bevorzugt. Zugleich ist sie ein noch immer präsenter Zustand, ohne dass dieser näher ausgeführt oder gar bewertet wird. Hilsom, der über unterschiedliche Ausdrücke der zwei benachbarten indigenen Stämme auf der Halbinsel nachdenkt und eine mögliche Ursache in der kolonialen Eroberungsgeschichte Südamerikas sieht, trifft mit einer Bemerkung unbewusst Garys Situation: »Verfolgung macht immer mißtrauisch und isoliert« (Stz, 229). Symbolisch beschließt Gary sein Leben in einer Hochebene, von der es heißt: »Dumpf und grau war die Steinwelt geworden, in die er geraten war« (Stz, 250). In der Verquickung von historischem, psychischem und geographischem Aspekt stehen Stein und Steinzeit für Härte, Unwirtlichkeit, Lebensfeindlichkeit, und zwar zeitübergreifend, ohne dass der Text einen Ausblick auf Veränderbarkeit gibt, ohne Suche nach einer »Bresche in der Mauer«, wie es E. T. A. Hoffmann in der wenige Jahre zuvor entstandenen Erzählung Reisebegegnung noch zur Aufgabe des Schriftstellers erklärt. Gary bleibt ohne Kontrastfigur, die einen anderen Weg als seinen anböte und damit als Träger einer möglichen intendierten Rezeptionsperspektive fungieren würde. Die Materialien im Anna-Seghers-Archiv zeigen, dass die Autorin intensiv an Steinzeit gearbeitet hat und im Schreibprozess mehrere signifikante Veränderungen vornahm, die das Innenleben der Hauptfigur zunehmend differenzierten (vgl. Brandt 1992). So schwächte sie den direkten Bezug auf den VietnamKrieg ab, was zur Folge hat, dass Gary nicht als »Vietnamkrieger« (ebd., 141) präsentiert wird, von dem sich die Leser von vornherein distanzieren müssen. Wurde Gary in den frühen Textfassungen tatsächlich wegen der Flugzeugentführung gejagt, so erscheint die
Verfolgung in der Endfassung nur mehr als Projektion Garys, und damit erhalten seine Angst und sein Misstrauen subjektive Ursachen. Auch die familiären Umstände erfahren Verschiebungen. So wird das Verhältnis zum Großvater in der Bedeutung zurückgenommen, das Verhältnis zum jüngeren Bruder hingegen ausgebaut, wodurch die Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen deutlicher hervortritt. Sollte Gary vermutlich in den frühen Fassungen bereits nach dem Weggang von Hilsom sterben, so setzt er in der Endfassung seine Flucht weiter fort und dringt immer tiefer in unbesiedeltes Land vor. Nicht der Vietnamsoldat wird vorgeführt, sondern, allgemeiner und existentieller, der begabte Mensch, der »im Laufe seines Lebens in immer größere Bindungslosigkeit gerät und im Alleinsein, im ›Niemandsland‹ stirbt, ohne das Glück gefunden zu haben« (Brandt 1992, 145). Die künstlerische Qualität verschaffte der Erzählung schon zur Zeit ihrer Veröffentlichung mehr Anerkennung als die zweite Erzählung des Bandes. Zwar wurde Gary teilweise schlichtweg als Negativfigur und Produkt amerikanischer Kriegspolitik aufgefasst (vgl. Plavius 1978; Kaufmann 1986; Neugebauer 1976), aber auch als eine für Anna Seghers untypische Hauptfigur, die den Blick auf die »ungewöhnlich differenziert[e]« Ästhetik des Wertens lenkt (Arndt 1989, 85).
Wiederbegegnung Diese Erzählung, die auf eine Idee aus dem Jahr 1957 zurückgeht (vgl. Kaufmann WA II/6, 419), führt die Leser in die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte; sie handelt von den Kämpfen und Entbehrungen spanischer Exilanten in Mexiko und im Widerstand gegen die Franco-Diktatur in Spanien. Erst 1975, also kurz vor dem Erscheinen des Erzählbandes, war Francisco Franco gestorben; damit gewann der Stoff von Wiederbegegnung – die brutale franquistische Herrschaft – in der Gegenwart eine gewisse Aktualität. Vermutlich veranlasste die Nachricht vom bevorstehenden Ende der Franco-Diktatur Anna Seghers dazu, die alte Idee wieder aufzugreifen (vgl. Albrecht 2005, 468–472; WA II/6, 420). Nach ihrer eigenen Aussage schrieb sie die Geschichte, »als Franco noch am Leben« war und »niemand wußte, was seinem Tod folgen würde« (AE2, 479). Hauptfiguren der Erzählung sind Alfonso Varela und seine Frau Celia, die durch den Kampf gegen Franco getrennt werden. Alfonso muss in die Illegalität abtauchen und spürt, dass ihn die Liebesbeziehung
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verzehren würde. »Das durfte nicht sein in dem Leben, das er jetzt führen mußte«, heißt es (Wb, 260). Celia reist deshalb mit der befreundeten Familie Méndez über Frankreich nach Mexiko aus. In Abständen ruft die Parteileitung in Mexiko – dass es sich um die Kommunistische Partei handelt, wird nicht ausgesprochen – Illegale aus Spanien herbei, um sich über die Lage informieren zu lassen, und als Alfonso diesen Auftrag erhält, ermöglichen ihm die Genossen trotz einiger Sicherheitsbedenken ein dreitägiges Zusammensein mit Celia, weil auch er, wie der Freund Antonio Méndez beharrt, ein Mensch sei und »einen Funken Freude« brauche (Wb, 269). Celia bringt nach dieser Begegnung im März 1945 die Tochter Luisa zur Welt und kehrt 1949 nach Spanien zurück, wo sie durch ihre Tante Josefa finanziell unterstützt wird. Sie findet Kontakt zu Franco-Gegnern, die in der Illegalität operieren, und unterstützt deren Arbeit. Ihrer Tochter muss sie die Identität des Vaters verheimlichen. Bei einem illegalen Auftrag trifft sie in einem Kiosk unerwartet für nur einen Augenblick Alfonso, doch da sich die beiden beobachtet glauben, zeigen sie keine Regung des Erkennens. Ob diese zweite Begegnung Zufall oder eine Prüfung oder gar eine Falle war, wird nicht aufgedeckt. Die Erzählung schließt damit, dass Celia den inhaftierten und verwundeten Alfonso als Hilfsschwester getarnt im Krankenhaus besuchen kann – die dritte und letzte Begegnung. Sein Schicksal bleibt offen; es gibt nur Gerüchte von seiner Flucht und dem fortgeführten politischen Kampf. Die Jahre in Mexiko und in Spanien beanspruchen etwa gleich viel Umfang. Wird in der ersten Hälfte das Geschehen auch aus der Perspektive Alfonsos vermittelt, so ist die zweite Hälfte weitgehend an Celias Erleben gebunden. Die erzählte Zeit umfasst etwa ein Jahrzehnt; erzählt wird also stark zeitraffend, und dem entspricht die Dominanz des Erzählers und damit des narrativen Modus. Zu Beginn gibt es ein erzählendes Ich, das nach langer Krankheit und Krankenhausaufenthalt zum ersten Mal in einem Café in México-Stadt sitzt, dort liest und schreibt und den Reden der spanischen Emigranten am Nachbartisch zuhört. Das Gespräch kommt auf eine gewisse Celia und ihren Mann Alfonso, die einander in heißer Liebe verbunden und nun durch die Umstände getrennt seien. Das erzählende Ich vergisst dann diese Reden für Jahre, sie liegen zusammen mit anderen »auf dem Grund« der Erinnerungen (Wb, 257). Die homodiegetische Erzählung wird überleitungslos als hetereodiegetische Erzählung fortgesetzt, und das legt nahe, die nun erzählte Ge-
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schichte als fiktionale Verarbeitung des Gehörten durch das namentlich nicht näher bezeichnete ErzählIch aufzufassen. Die wenigen Details, mit denen es ausgestattet ist, weisen auf Anna Seghers als empirische Autorin hin. Sie hatte im Juni 1943 in Mexiko einen Verkehrsunfall erlitten und danach lange Zeit im Krankenhaus zubringen müssen; zudem schrieb sie gern in Cafés (vgl. Bernstorff 2005, 216). Die Erzählkonstruktion hat eine poetologische Implikation: Sie stellt die Fiktionalität der erzählten Geschichte heraus und bekräftigt zugleich die Authentizität derartiger Ereignisse. Celia und Alfonso sind Heldengestalten, vorbildhafte Kämpfer, die das Exil, alle Gefahren und Entbehrungen der illegalen Arbeit klaglos ertragen, ihr Leben aufs Spiel setzen und ihre persönlichen Bedürfnisse dem politischen Kampf unterordnen. Symbolisch für Alfonsos innere Klarheit und Entschiedenheit sind seine hellen Augen, die mehrfach erwähnt werden. Selbst zuletzt, im Krankenhaus, ist er zwar äußerlich zerschunden und unkenntlich geworden, aber innerlich ungebrochen: »Sein Blick kam aus den gleichge bliebenen, unveränderten, hellen Augen« (Wb, 321). Im Seghers’schen Werk steht Alfonso als opferbereiter, verfolgter Revolutionär in einer Reihe von Figuren, die bis ins Frühwerk zurückreicht (vgl. Albrecht 2005, 455). Celia ist ihm in ihrer Selbstbezwingung eine ebenbürtige Kampfgefährtin. Ihre politische Haltung wird durch ihre Herkunft motiviert, denn ihre Mutter hatte einen Republikaner geheiratet, zum Missfallen der Schwester Josefa, Celias Tante, die mit einem politischen Opportunisten verheiratet war und deren einziger Sohn Emilio auf Seiten Francos im Bürgerkrieg gefallen ist. Ein auffälliges Attribut Celias ist die wiederholt erwähnte Schönheit, die nicht nur das Äußerliche meint, sondern an das antike Ideal der Kalokagathie anknüpft, die Einheit des Guten und Schönen. Sie erscheint als etwas wesenhaft Eigenes, denn der seit Kindertagen befreundete Antonio Méndez erinnert sich, dass Celias Schönheit, die »bis ins Innere hinein« ging (Wb, 265), ihn als Knaben schon bis in sein eigenes Inneres traf. Celia wird bis »zu nonnenhafter Bedürfnislosigkeit« (Albrecht 2005, 464) stilisiert. Méndez ist gequält von ihrer »tapferen Stummheit« (Wb, 284), und mehrfach ist von ihrer Selbstbezwingung die Rede. Auch durch die Geburt der Tochter ändert sich »nichts Entscheidendes« in ihrem Leben (Albrecht 2005, 467), und nirgendwo im Text ist von Momenten des Glücks und der Freude über das Kind die Rede. Da die Situation Celia auch Luisa gegenüber zum Schwei-
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gen und somit zur Distanz zwingt, erscheint die Einschränkung der privatesten Bindungen als Teil des Opfers, das für den politischen Kampf gebracht wird. Mit der Krankenschwester Teresa, die Celia bei ihrer Tante kennenlernt, gibt es eine Figur, die Kontrast- und Korrespondenzrelationen aufweist. Auch Teresa lebt ohne Mann; ihr Partner, ein republikanischer Arzt, hat im Bürgerkrieg sein Leben verloren. Aber sie hat Angst, die erst von ihr abfällt, als der Franquist Emilio, der sie umwirbt, tot ist. Sie sei, wie sie zu Celia sagt, wieder die, die sie »früher war« (Wb, 313), und Celia habe ihr dabei geholfen. Anders als bei Celia gibt es also bei Teresa einen gewissen Selbstverlust, der bezeichnenderweise mit einem Verlust an Schönheit einhergeht, aber sie findet zu alter Klarheit zurück. Vor allem an der Beziehung Celias zu Teresa wird das Problem des Vertrauens und damit ein Kernproblem der Arbeit im Widerstand thematisiert. Der Satz aus Steinzeit, der auf Gary zu beziehen ist, trifft auch hier zu: »Verfolgung macht immer mißtrauisch und isoliert« (Stz, 229). Ein Schlüsselsatz der Erzählung in Form eines Gedankenzitats stammt von Celia, die in Mexiko einen jungen Kanadier namens Henry Field von Francos Klugheit und taktischem Geschick schwärmen hört, ohne einen Gedanken an die vielen Opfer des Bürgerkriegs zu verwenden: »Kein Glaube, kein Ziel« (Wb, 281). Field strebt einen Posten als Attaché in Madrid an, ein anderes Ziel gibt er nicht zu erkennen. In dieser egozentrischen Beschränkung auf eigene Wünsche liegt nicht nur textintern der Kontrast zu den Figuren, die Exilanten und Franco-Gegner sind, sondern auch zu Gary in Steinzeit. Und noch in einem weiteren Satz spiegeln sich die beiden Erzählungen. Während Gary denkt, er sei »immer, immer allein gewesen« (Stz, 210), kann die nach Spanien zurückgekehrte Celia aufatmen, als sie Post von einer Freundin und Weggefährtin aus Paris erhält: »Ich bin nie und nirgends allein« (Wb, 298). Steht die Sinnhaftigkeit des Handelns auch außer Zweifel, so wird doch explizit die Frage nach dem dafür zu zahlenden Preis gestellt, und zwar bei der dritten Begegnung von Alfonso, den die Fama zum »Superhelden« macht (Kaufmann 2005, 213). In ihrer Bewegung, »die seinen Körper mehr streifte als anfaßte, war die Liebe, die ihre Leben so heftig zusammengetrieben hatte«, heißt es, und daran schließt sich erlebte Rede an: »Die Liebe, die ihm mehr als das Leben war. Ist das wahr? [...] Und was war sein Leben wert? [...] Was war das, was einem Menschen, was ihm selbst wert war?« (Wb, 320 f.) Eine Antwort darauf gibt es nicht, sie bleibt den Leser/innen überlassen, die sich
auch fragen müssen, ob der Titel der Erzählung, der ja ein Singularwort ist, auf diese dritte und letzte Wiederbegegnung abzielt. Zwar wird die Hoffnung auf ein gutes Ende angedeutet, auf eine Zeit, in der das Paar zusammenleben kann, in Anspielung auf den Mythos von Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt. Alfonso vergleicht sich nach der kurzen Begegnung im Kiosk, der zweiten in der Chronologie, mit Orpheus. Anders als dieser habe er sich nicht nach der Geliebten umgedreht. »Er hatte weder sie noch sich selbst verraten. Sie war daher nicht endgültig verloren, und er würde sie wiedersehen« (Wb, 310). Die Erfüllung dieser Hoffnung kann man jedoch bereits in der letzten erzählten Begegnung im Krankenhaus erfüllt sehen, so dass das Ende offenbleibt. Nach eigenem Bekunden hatte Anna Seghers Steinzeit als einer »kalten« Geschichte mit Wiederbegegnung etwas »Heißes, Starkes« gegenüberstellen wollen (Kaufmann WA II/6, 419 f.). So wurde die Erzählung durchaus gelesen: als Bestätigung dafür, dass die »Liebe zwischen zwei Menschen groß und schön wird, wenn sie aufgehoben ist in der ›größeren Liebe‹ zum Vaterland und zum Volk, dessen soziale Befreiung erstritten werden muß« (Mehnert 1979, 151). Allerdings fragt sich, wie und auf welches Lesepublikum die märtyrerhafte Opferbereitschaft wirken sollte und ob sie rezeptionsästhetisch als Appell zur Bewunderung und Nachahmung zu interpretieren wäre. Die heiße Liebe des Paares wird mehr behauptet als ästhetisch vermittelt; selbst in der Schilderung des dreitägigen Zusammenseins wird noch nicht einmal ein Kuss erwähnt und bleibt der Bereich des Sexuellen ausgeklammert. Zudem wird die Askese im Privaten nicht durch ein wie auch immer geartetes Gefühl des Glücks, für eine gerechte Sache zu kämpfen, kompensiert. Ein Naturbild lässt sich durchaus symbolisch auffassen: Als Alfonso, in Mexiko angekommen, mit dem Zug weiterfährt, sieht er zwei einzelne Schneegipfel, »vereinsamt und fern«, ein Anblick, der ihn erstaunt und zugleich beruhigt, »vielleicht weil er unbewußt fühlte, daß sie von jeher ragten, die beiden einzelnen, und auch für immer ragen würden« (Wb, 270). Hier wird die »heiße Liebe« geradezu konterkariert bzw. metaphysisch überhöht. Anna Seghers führte die Handlung nicht bis in die Zeit der endenden Franco-Diktatur, sondern nur bis etwa ins Jahr 1952. Die Leser/innen wussten also, dass dem Paar noch lange Jahre des Getrenntseins bevorstanden und auf Franco eine parlamentarische Monarchie folgen würde, nachdem Juan Carlos 1969 zum Nachfolger Francos und 1975 zum König proklamiert
27 Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977)
worden war. Mit diesem Wissen konnte man die Figur Alfonsos, des Kommunisten, auch als modernen »Sisyphos« (Albrecht 2005, 462) verstehen. Das offene Ende, der Verzicht auf explizite Sinngebung liest sich dann als »Dokument einer zu Ende gehenden, mit letzter Kraft verteidigten Hoffnung« (ebd., 477). Er birgt kaum ein »Lichtpünktchen«, an die »Stelle von Gewissheiten sind Fragen getreten« (Kaufmann 2005, 213). Betrachtet man Wiederbegegnung als Seghers’ Alterswerk im Kontext der erstarrten DDR-Strukturen, entstanden rund dreißig Jahre nach Kriegsende, dann liest sich der Text primär als Erinnerung an die immensen Opfer, die für den antifaschistischen Kampf gebracht worden sind, zwar abgehandelt an Figuren, die gegen das Franco-Regime in Spanien kämpfen, aber eben auch als Erinnerung an die Opfer, die deutsche Widerstandskämpfer und Exilanten während der nationalsozialistischen Herrschaft gebracht hatten. Literatur
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Katrin Löffler
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28 Drei Frauen aus Haiti (1980): Das Versteck, Der Schlüssel, Die Trennung Die drei Erzählungen Das Versteck, Der Schlüssel und Die Trennung bilden den schmalen Band Drei Frauen aus Haiti, der 1980, zum 80. Geburtstag der Autorin, mit Illustrationen von Günther Lück im Aufbau Verlag erschien. Geschrieben 1977/78 (vgl. Kaufmann WA II/6, 424) sind die Erzählungen zu einer Zeit entstanden, die sowohl politisch als auch privat von Belastungen geprägt war (vgl. ebd., 392). Für Konflikte in der DDR und eine restriktive Kulturpolitik ist die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 charakteristisch. Seghers litt in dieser Zeit immer wieder unter Krankheiten und psychischen Verstimmungen (vgl. Kaufmann 2003, 154), so dass ihre schriftstellerische Arbeit und die Hinwendung zu entfernten Schauplätzen und Zeiten als »Fluchtort« (ebd.) betrachtet werden kann. Doch die Erzählungen stellen nicht etwa einen Rückzug in eine exotische Inselidylle dar, sondern widmen sich konkreten historisch-politischen Umständen, die zudem eng mit der europäischen Geschichte zusammenhängen, bis in die Gegenwart des Schreibens reichen und Probleme reflektieren, die auf die zeitgenössische Situation in der DDR übertragbar sind. Der Kürze der Erzählungen bzw. Novellen (vgl. Kaufmann WA II/6, 424) korrespondiert ein bewusst schnörkelloser Stil: An Manuskripten lässt sich zeigen, dass Seghers die Texte im Lauf der Überarbeitung zunehmend knapper gestaltete (vgl. ebd., 426). Die Anordnung zu einem Zyklus mit drei Teilen und der Schauplatz verbinden die Erzählungen innerhalb von Seghers’ Werk mit dem Band Karibische Geschichten (1962). Auch zu Seghers’ biographischer Darstellung Große Unbekannte (1947/48), die ebenfalls als Trilogie geplant war, besteht ein Zusammenhang, insbesondere über die Figur des Toussaint L ’Ouverture. Gegenüber der Konzentration der früheren Texte auf die Zeit der Französischen Revolution und der Freiheitskämpfe in Südamerika fokussiert der letzte Zyklus die haitianische Geschichte in einem weiteren historischen Rahmen und die Perspektive verändert sich, indem – wie schon der Titel hervorhebt – drei weibliche Figuren im Zentrum stehen. Die drei Erzählungen des Bandes sind jeweils in sich geschlossene Texte, die zugleich eine Einheit bilden: In chronologischer Anordnung von der frühen Kolonialzeit (Das Versteck) über die Zeit der Haitianischen Revolution (Der Schlüssel) bis zur Gegenwart
des Schreibens mit der diktatorischen Herrschaft der Duvaliers (Die Trennung) werden drei Phasen der Geschichte Haitis miteinander in Bezug gesetzt und ähnliche Konstellationen über fünf Jahrhunderte hinweg erkundet. Die literarische Darstellung der fiktiven Frauengestalten, deren Leben von den historischen Umständen, die in den Erzählungen knapp skizziert werden, beeinflusst ist, wendet sich Erfahrungen zu, die von Geschichtsschreibung und politischer Berichterstattung wie auch von Seghers’ bisherigem Fokus auf »große Unbekannte« kaum erfasst werden.
Inhalt Das Versteck greift eine Szene auf, die H. H. Houben in Christoph Columbus. Tragödie eines Entdeckers (1932) schildert (vgl. WA II/6, 426–427): Von einer Gruppe indigener Mädchen, die auf Kolumbus’ Schiff nach Spanien gebracht werden sollen, kann ein Teil fliehen; Houbens Darstellung endet mit ihrem Verschwinden im Wald der Insel (vgl. Houben1932, 280). Bei Seghers gelingt nur einer der Frauen die Flucht. Im Hauptteil der Erzählung wird deren weiteres Leben verfolgt. Insofern konterkariert der intertextuelle Bezug den Fokus auf die ›Tragödie eines Entdeckers‹: Das Versteck der Protagonistin bei Seghers, Toaliina, ist der Gegenpol zu ihrer kolonisatorischen Entdeckung. Sie flieht in eine Höhle, wo sie zuerst mit einer alten Frau lebt und nacheinander mit zwei Männern, mit denen sie mehrere Kinder hat, die jedoch nicht bei ihr bleiben. Beide Männer, die die Höhle ebenfalls immer wieder verlassen, werden schließlich versklavt bzw. gefangengenommen und gefoltert, aber Toaliinas Versteck, das auch für andere zu einer Zuflucht wird, bleibt unentdeckt. Durch Berichte der männlichen Figuren und Erzählereinschübe wird das isolierte Leben der Protagonistin mit Ereignissen in Haiti und Europa in Verbindung gebracht, wodurch die Kolonisierung sowie Momente des Widerstands und dessen brutaler Unterdrückung thematisiert werden. Zum Schluss des Textes ist Toaliina zu einer legendenhaften Figur geworden. In einem Sturm wird ihre Höhle zerstört. Die Erzählung endet mit dem in erlebter Rede wiedergegebenen Gedanken der Protagonistin, die sich an einem Felsen festhält und erwartet, von der Meeresbrandung mitgerissen zu werden: »Sie wußte, ihre Flucht war geglückt« (DFH, 334). Die zweite Erzählung, Der Schlüssel, spielt in Frankreich zur Zeit der Herrschaft Napoleons; von der Haitianischen Revolution berichtet die Hauptfigur, Clau-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_28
28 Drei Frauen aus Haiti (1980)
dine, eine schwarze Haitianerin, in einer längeren Rückblende. Der Text steht insbesondere in Bezug zu Seghers’ Die Hochzeit von Haiti, dessen zentrales Thema der Sklavenbefreiung und ihres Führers Toussaint L ’Ouverture er variiert. Claudines Mann Amédée, wie sie ein ehemaliger Sklave, wurde als Arbeiter nach Frankreich gebracht, wohin Claudine ihn begleitete. Um dem in der Festung Joux im Jura-Gebirge eingesperrten Toussaint nahe zu sein, arbeitet Amédée dort im Straßenbau. Die Verbindung zwischen Claudine und ihm geht auf das zentrale Ereignis der Erzählung während der Revolution zurück. Claudine war als Sklavin auf einem Gutshaus zur Strafe für ein Missgeschick in ein kleines Gefängnis in der Wand eines Festsaals eingesperrt worden. Zunächst von den feiernden Weißen beobachtet, wird sie dann Zeugin von deren Vertreibung durch die revoltierenden Sklaven. Diese übersehen jedoch Claudine, bis Amédée auf sie aufmerksam wird und sie befreit. Den Schlüssel zu ihrem Gefängnis trägt er an einer Kette um den Hals, woran Claudine ihn später wiedererkennt. Auf einer Versammlung interessiert sich auch Toussaint für die Geschichte ihrer Befreiung. In Frankreich kann Amédée nur mehr zu dem Fenster von Toussaints Zelle hinaufsehen und sich von einem sympathisierenden Wächter berichten lassen. Als Toussaint stirbt und sein Grab nach Bordeaux verlegt wird, folgen Amédée und Claudine nun auch dem Toten und finden Anschluss an Mitglieder der inzwischen verbotenen Vereinigung der »Freunde der Schwarzen«. Als ihr Mann stirbt, lehnt Claudine es ab, den bedeutungsgeladenen Schlüssel zu übernehmen, und Amédée wird, seinem eigenen Wunsch gemäß, damit begraben. Der Titel der dritten und längsten Erzählung, Die Trennung, kann im Kontext der deutschsprachigen Haiti-Literatur als Anspielung auf die Reihe von Kleists Die Verlobung in St. Domingo (1811), Seghers’ Hochzeit sowie Hans Christoph Buchs Die Scheidung von San Domingo (1976) und deren Verknüpfung von Politik und Liebe bzw. Liebesmetaphorik verstanden werden. Die Trennung spielt im zeitgenössischen Haiti unter der Herrschaft von Jean-Claude Duvalier, die Seghers fiktionalisiert, indem sie auch deren Ende, welches tatsächlich erst 1986 eintrat, beschreibt. Die Erzählung beginnt mit einer Trennung: Cristobal, der Freund der Protagonistin Luisa fährt nach Kuba, um dort von der revolutionären Politik zu lernen. Luisa, die auch in ihrer politischen Haltung an dem Geliebten orientiert ist, vermisst ihn sehnsüchtig, wohingegen dieser seine ehemalige Freundin offenbar vergisst. In der Nähe einer Bibliothek, die Cristobal als
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Beitrag zur Agitation gegen das Duvalier-Regime aufgebaut hatte, wird Luisa verhaftet; selbst unter Folter verrät sie ihren Geliebten nicht. Am Tag der Befreiung von der Diktatur finden Cristobal und Juan, ein Freund, die Protagonistin im Keller eines Gefängnisses, wo sie unter Toten brutal misshandelt zurückgeblieben war, nachdem die feiernde Menge sie nicht beachtet hatte. Juan nimmt Luisa, deren Gesicht stark entstellt ist, bei sich auf; auch Cristobal fühlt sich ihr wieder verbunden, ist aber zugleich zu der Tochter Juans hingezogen. Luisa stiftet schließlich die Verbindung zwischen beiden, indem sie erklärt, dass das Glück der anderen sie selbst glücklich mache. Am Schluss der Erzählung wird angedeutet, dass Luisa ihren eigenen Tod herbeiführt, indem sie trotz Warnungen in der Regenzeit ins Freie geht. An ihrem Begräbnis nehmen viele Menschen teil und erinnern an den revolutionären Umbruch. Die Richtung des imaginierten Neuanfangs für Haiti wird jedoch als noch unsicher beschrieben.
Rezeption Der Erzählungsband wurde in der DDR, oft in Zusammenhang mit Würdigungen der Autorin anlässlich ihres 80. Geburtstags, positiv aufgenommen. Die Texte erfuhren fast durchweg eine optimistische Deutung als Botschaften revolutionärer Hoffnung auch unter widrigen Umständen, so z. B. in den Rezensionen in der Ausgabe der Zeitschrift neue deutsche literatur zu Seghers’ 80. Geburtstag (vgl. Joho 1980; Fries 1980; Streller 1980). Unter Bezugnahme auf den Titel von Seghers’ früherem Erzählband wurde die Darstellung der »Kraft der Schwachen« (Molle 1981, 460) akzentuiert. Als generelle Themen standen die Frage nach der Befreiung der Einzelnen innerhalb einer allgemeinen revolutionären Erhebung (vgl. Kaufmann 1980, 155) und das literarische Gedächtnis des alltäglichen Lebens im Gegensatz zu geschichtsträchtigen Taten (vgl. Wagner 1981, 46) im Vordergrund. Im Sinne einer internationalistischen Ausrichtung wurde die Vermittlung außereuropäischer Wirklichkeiten hervorgehoben und gegen Zweifel an ihrer Relevanz für die aktuelle Realität der DDR verteidigt (ebd.). Die Darstellung von überwiegend passiven und leidenden Frauen wurde im Kontext der zeitgenössischen DDRLiteratur als eine »Polemik gegen die Gestaltung der emanzipierten, erfolgreichen Frau« (Molle 1981, 460) aufgefasst. Die Knappheit des Erzählstils, dessen Gegenläufigkeit zu Konventionen der DDR-Literatur
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Kaufmann (1980, 151) positiv herausstellt, wurde öfter erörtert, daneben, besonders für Das Versteck, die Nähe zu Legenden (vgl. Lüder 1983, 316). Auch in der BRD wurde der Band positiv rezipiert; prominent durch den Schriftsteller Hans Christoph Buch, der ebenfalls die Verknappung und »Entstofflichung« (Buch 1980) der Texte betont und dabei auch auf einige faktische Ungenauigkeiten hinweist, die Erzählungen aber bezüglich ihrer dichten Symbolik mit den späten Novellen Goethes vergleicht und so in den Kanon der deutschen Literatur einreiht.
Forschung In der Forschung zu Drei Frauen aus Haiti lassen sich, neben der Diskussion formalästhetischer Fragen, besonders bei Greiner (1994), der die zyklische Struktur der Texte fokussiert, und der Auswertung von Archivmaterial, Überarbeitungen und einschlägigen Lektüren (Kaufmann 2003), drei inhaltliche Schwerpunkte identifizieren: die Analyse der Frauenfiguren, das Thema des Scheiterns revolutionärer Bewegungen und die Darstellung von Haiti. Verschiedene Aspekte der Handlung und Figurenkonstellation sowie der sprachlichen Gestaltung werden dabei durchaus oft gegenläufig interpretiert. Der Band erschien zu einer Zeit, in der im Kontext der Frauenbewegung in der BRD Seghers’ weibliche Figuren kritisch betrachtet wurden (vgl. Hassauer/ Roos 1982, 121 f.); Drei Frauen aus Haiti aber wurde eher von Autor/innen aufgegriffen, die sie gegen den Vorwurf eines ›männlichen Blicks‹ (vgl. Haas 1980) verteidigten (vgl. Beicken 1981, 90; Milfull 1985, 47). Die Zuordnung der weiblichen Figuren zu reproduktiven Tätigkeiten im Gegensatz zu den politischen Aktivitäten der männlichen Figuren wird dabei als Reflexion auf tatsächliche Gegebenheiten gesehen (vgl. Beicken 1981, 89) wie auch als eine Aufwertung der mit der traditionellen weiblichen Rolle verknüpften Aufgaben und Eigenschaften, etwa »Ausdauer, Geduld, Opferbereitschaft« (Milfull 1985, 49) – ohne dass diese bei Seghers zu natürlich weiblichen Attributen stilisiert würden (vgl. Kaufmann 1980, 158). Auch die Bezogenheit der weiblichen auf männliche Figuren, die insbesondere für Claudine und mit noch drastischeren Konsequenzen für Luisa gilt, ist häufig Thema. Hier wird ebenfalls diskutiert, ob es sich um ein Fortschreiben der traditionellen weiblichen Rolle handelt (vgl. Uerlings 1997, 105 f.) oder um deren kritische Erkundung, was neuere Deutungen wieder in den Vor-
dergrund rücken (vgl. Bernstorff 2006, 224, 229; Janzen 2018, 123). Gerade in der bezüglich der weiblichen Hauptfigur am häufigsten diskutierten Erzählung Die Trennung finden sich deutliche Hinweise darauf, dass Luisas Rolle nicht ungebrochen als ein vom Text bejahter weiblicher Opferwille zu lesen ist, wie etwa bei Uerlings (1997, 110 f.), sondern als die Darstellung einer sozialen Realität, die Frauen die Teilhabe, auch an revolutionären Bewegungen, politischer Bildung und individueller Emanzipation, doppelt erschwert – verstärkt durch ihr eigenes Einfügen in vorgegebene Muster, wie schon Kaufmann (1980, 156) argumentiert. Die negative Zeichnung der Cristobal-Figur (vgl. Bernstorff 2006, 236) legt z. B. nahe, dass der als seine Entscheidung markierte Verzicht darauf, Luisas entstelltes Gesicht durch plastische Chirurgie wiederherstellen zu lassen (vgl. DFH, 360 f.), nicht etwa vom Text affirmiert wird, so Petersen (1992, 399) und Uerlings (1997, 112), sondern als eine Form männlicher Machtausübung ausgewiesen ist (vgl. Bircken 2002, 112). Der weibliche Körper soll Zeichen bleiben (vgl. Bernstorff 2006, 241); die symbolträchtige Entstellung von Luisas Gesicht bedeutet, dass es nicht mehr lebendiger Ausdruck ihrer Individualität, sondern »unverändertes Zeugnis« (DFH, 360) ist, und Luisas Leiden daran wird thematisiert. Allerdings stellt Seghers dar, dass die Protagonistin ihre Opferrolle aktiv annimmt, indem sie die Bindung zwischen Cristobal und Juans Tochter fördert. Wenn das als eine Form weiblichen Selbstbewusstseins und autonomen Handelns gesehen werden kann (vgl. Kaufmann 1980, 157; Bernstorff 2006, 242), beruht es jedoch auf dem Verzicht auf eigene Ansprüche. Während Uerlings (1997, 113–116) eine psychoanalytische Lesart dieser Figurengestaltung als masochistisch vorlegt und Albrecht die Erzählung aufgrund ihrer widersprüchlichen Momente gar als »unausgereift« (Albrecht 1999, 352) bezeichnet, kann der Text gerade wegen seiner Ambivalenzen als eine Darstellung der diskursiven »Repräsentation des Anderen« (Bernstorff 2006, 187) gelesen werden, die geschlechtlich kodierte Machthierarchien, die auch Liebeskonzepte prägen, kritisch reflektiert. Die Trennung und Der Schlüssel sind durch zwei Szenen miteinander verbunden, in denen die jeweilige Protagonistin während eines Moments der allgemeinen Befreiung von der revolutionären Masse zunächst übersehen und erst später von einzelnen Akteuren beachtet wird. Das verweist auf das Problem des Zusammenhangs zwischen kollektiver und individueller Befreiung bzw. allgemeiner Idee und konkreten Einzelnen
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(vgl. Hilzinger 2000, 76) wie auch auf eine mangelnde Wahrnehmung der doppelt unterdrückten Stellung der Frau. Diese kritischen Beschreibungen von revolutionären Erhebungen, die durch die Wiederholung ähnlicher Szenen auch einem linearen Fortschrittsgedanken entgegenstehen, wurden nach 1989/90 als »der Abgrund am Ende des Lebens und Werkes einer kommunistischen Schriftstellerin« (Schrade 1993, 155) ge lesen. Statt jedoch als Darstellung eines notwendigen Verzichts Einzelner zugunsten revolutionärer Kämpfe, wie bei Schrade, können die Erzählungen auch als Anstoß zu einer Selbstkritik emanzipativer Bewegungen gewertet werden (vgl. Janzen 2018, 130), die neben dem grundlegenden Widerspruch zur herrschenden Ordnung auf unterschiedliche Positionen innerhalb von Macht- und Ausbeutungszusammenhängen sowie auf ihre eigenen Momente der Unterdrückung aufmerksam werden müssten. Für diese Thematik ist der Schlüssel zu dem Gefängnis Claudines als Zeichen der Befreiung der Einzelnen bedeutsam. Dass Claudine am Ende des Textes ablehnt, den Schlüssel selbst zu tragen, kann als Beleg ihrer Unterordnung unter Amédée gelesen werden und als Affirmation einer männlichen Zuständigkeit für die revolutionäre Befreiung (vgl. Uerlings 1997, 108). Entsprechend kritisiert Uerlings, dass Claudine nur befreit werde, um als Symbol zu dienen, nachdem ihr Leben allein auf Amédée und dessen Bezug auf Toussaint und die Revolution ausgerichtet ist. Bernstorff liefert eine gegenläufige Deutung: Claudine lehnt es am Ende ja gerade »zornig« (DFH, 345) ab, zur Repräsentantin einer Idee zu werden; die Zurückweisung des Schlüssels ist als »die Verweigerung einer Verdinglichung im diskursiven Prozess der Zeichenkonstitution« (Bernstorff 2006, 225) deutbar. Die Ablehnung des Symbols steht dann für eine Hinwendung zum alltäglichen Leben und damit auch zu der traditionell weiblichen Sphäre, deren Bedeutung neben den revolutionären Kämpfen der männlichen Figuren hervorgehoben wird (vgl. ebd.). Mit dem Aufkommen postkolonialer und interkultureller Ansätze wurde Drei Frauen aus Haiti, wie auch die Karibischen Geschichten (s. Kap. 21), äußerst kritisch gelesen (vgl. Petersen 1992; Uerlings 1997, 102– 124), obwohl signifikante Unterschiede zwischen beiden Zyklen bestehen, besonders durch die haitianischen Hauptfiguren in den späteren Texten. Eine positive Bewertung der Darstellung schwarzer Charaktere in beiden Zyklen findet sich noch bei Hodges (1987), wohingegen Petersen eine scharfe Kritik an Seghers’ Perspektive formuliert, die allerdings zum Teil
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stark verallgemeinert, etwa wenn sie deutschsprachige Texte über kolonisierte Völker überhaupt als problematisch ansieht (vgl. Petersen 1992, 401). Auch Uerlings, der sich mit verschiedenen Haiti-Darstellungen in der deutschsprachigen Literatur beschäftigt, stellt einen »Ethnozentrismus« (Uerlings 1997, 107) fest, den er der Zeit der Dekolonisierung zuordnet, die generell von einer Orientierung an Europa geprägt gewesen sei, aus postkolonialer Sicht jedoch kritisch betrachtet werden müsse (vgl. ebd., 124). Bernstorff hingegen, die Seghers’ Texte über Mexiko und die Karibik und deren Raum-Konstruktionen mit einem narratologischen Ansatz liest, hebt das kritische Potenzial der Erzählungen positiv hervor (vgl. Bernstorff 2006, 169– 245). Sie interpretiert die Texte vorwiegend als Revolutions- und (indirekte) Sozialismus-Kritik. Janzen betrachtet die drei Erzählungen wiederum in Zusammenhang mit einem sozialistischen Konzept: der internationalen Solidarität. Dabei verbindet sie einen postkolonialen Ansatz – sie liest Drei Frauen aus Haiti mit Gayatri Spivaks »Can the Subaltern Speak?« (1983) – mit der Einordnung in Seghers’ Praxis internationalistischer Autorschaft (vgl. Janzen 2018, 99–127). Von der postkolonialen Kritik in den 1990er Jahren wurde etwa die Darstellung der indigenen Frauen in Das Versteck als eine Reproduktion kultureller Stereotypen kritisiert (vgl. Petersen 1992, 399 f.; Uerlings 1997, 121–124). Petersen sieht eine vom Text nicht in Frage gestellte Konstruktion exotistischer Klischees. Doch erweist sich etwa der von ihr kritisierte Vergleich der Frauen mit »Fliegende[n] Fische[n]« (DFH, 327) als trügerisch, wenn unmittelbar im Anschluss dargestellt wird, wie die Flucht der Frauen über das Meer für fast alle misslingt – sie sind eben keine Naturwesen, die im Wasser oder auf der Insel eine natürliche Zuflucht finden. So könnte allenfalls Toaliinas Versteck in der Höhle gelesen werden (vgl. Petersen 1992, 399). Uerlings sieht die Figur entsprechend als »eine Variation der edlen Wilden«, die mit »der Konstruktion einer geschichtslosen Natur« in Verbindung gebracht werde (Uerlings 1997, 121). Er selbst aber verweist darauf, dass Toaliinas Rückzug in die Höhle »eine durch geschichtliche Gewalt erzwungene Enthumanisierung« (ebd., 119) sei. Damit jedoch wird der Gegensatz zwischen Natur und geschichtlicher Welt fundamental in Frage gestellt: Der scheinbare Naturzustand ist erst durch die Kolonisierung entstanden, statt dieser vorgängig zu sein. Janzen betont, wie die Verbindungen zwischen Toaliinas Leben und »worldhistorical epochs« (Janzen 2018, 113) marginalisierte Erfahrungen gerade als Teil der ›Weltgeschichte‹ in
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den Vordergrund rücken. Seghers stelle mit den unterdrückten und oft stummen Frauenfiguren diejenigen dar, die auch von einem emanzipatorischen Diskurs, der sich auf ein bestimmtes Bild des revolutionären Intellektuellen und Aktivisten bezieht, nicht wahrgenommen werden (vgl. ebd., 116). Sie sieht darin Seghers’ Appell, den Blickwinkel der internationalen Solidarität zu erweitern (vgl. ebd., 130), was sie als einen bis heute wichtigen Ansatz für ein Konzept global orientierter, solidarischer Autorschaft ausweist. Die Knappheit und Dichte der drei Erzählungen mit ihrer vielschichtigen sprachlichen Gestaltung erzeugt eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten, die keineswegs erschöpft sind. Etwa die differenzierte Reflexion auf Zeichenhaftigkeit (vgl. Greiner 1994) und Wahrnehmung (vgl. Bernstorff 2006, 189–243), gerade bezogen auf die Frage der Repräsentationsfunktion weiblicher Figuren könnte weiter erörtert werden. Auch die Darstellung von Praktiken kultureller Gedächtnisse – mündliche Erzählungen, Symbole, Grabmäler, ein »afrikanische[s] Museum« (DFH, 351) – wäre ein interessanter Ansatzpunkt. Das komplexe Zusammenspiel von ökonomischer Ausbeutung – in der bisherigen Forschung eher beiläufig behandelt –, politischer Unterdrückung und Geschlechterhierarchien wie auch die einander oft widersprechenden vorliegenden Analysen, etwa bezüglich der Konstruktion der haitianischen Figuren, und die Irritationen, die besonders von der Gestaltung der weiblichen Charaktere ausgehen, bieten Anknüpfungsmöglichkeiten für zukünftige Forschung mit aktueller politischer Relevanz. Literatur
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Kathrin Schödel
29 Schriften aus dem Nachlass
29 Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990) Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003) Dieser Text, geschrieben 1924, wurde erstmals 2003 aus dem Seghers-Archiv von Pierre Radvanyi veröffentlicht. Anna Seghers selbst erscheint diese Geschichte »wie ein unbehauener Stein«; das vermerkt sie in ihrem Tagebuch am 22.12.1924, das unter dem Titel Und ich brauch doch so schrecklich Freude gemeinsam mit diesem Text publiziert wurde (vgl. Melchert 2004). »Die ›Legende‹ handelt von einem fiktiven Bischof von Rouen. Dieser Jehan d’Aigremont ist einerseits Heilender in der Nachfolge Christi, gerät andererseits auf folgenschwere Abwege« (Beicken WA II/1, 322). Nachdem er (völlig überraschend) die Dirne Claudina ermordet hat – hier wird das in den 1920er Jahren in Kunst und Literatur häufig bearbeitete Motiv des Lustmords zitiert –, kommt Jehan in ein Straflager, wo er auf Chat Chat Rouge, eine Teufelsfigur, trifft, mit der er nach der gemeinsamen Flucht zu den Flussschenken in Rouen zurückkehrt und sich erneut als Heiler betätigt. »Der heilige Bischof von Priepournous, tralilatralilalala. Der heilte viel Weiber für 20 Sous tralilatralilalala« (ebd., 321). Dieser Liedtext wird in der Geschichte mehrfach wiederholt und fungiert so als Leitmotiv. Durch seine Beziehung zu Catharina, einer als heilige Hure gezeichneten Figur, die sich für ihn aufopfert, kann der von Gewissensbissen geplagte Jehan zwischenzeitlich Ruhe finden, bevor er sich schließlich unter die Bettler von St. Anne, seiner ehemaligen Kirche in Rouen, mischt, um so seine Tat zu bereuen: »ein in ein paar Spinnweben gewickeltes Herz« (Legende – WA II/1, 226). Der positiv versöhnliche Ausgang der Geschichte verblüfft: »Gott hatte seine Seele aufgenommen in das Ewige Leben« (ebd., 228). Das könnte dem Genre geschuldet sein (vgl. Haas 2007). Diese fingierte ungewöhnliche Heiligenlegende zeugt von der Gnade Gottes, die eigentlich keiner literarischen Lizenz bedarf, und sie bezeugt die Fabulierfreude der jungen Autorin sowie einige für ihr weiteres Schreiben wichtige Motive, etwa die Figur des cha-
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rismatischen Außenseiters, wie ihn später Grubetsch oder auch Hull in Der Aufstand der Fischer von St. Barbara verkörpert. Auch in Die Toten auf der Insel Djal steht ein »sonderbarer, kauziger Kirchenmann« (Beicken WA II/1, 295) im Mittelpunkt. Wichtig ist diese erste, zu Weihnachten 1924 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte Erzählung für den Autorennamen der Seghers, die den rebellischen Pfarrer zu ihrem (literarischen) Großvater erklärt; Beicken spricht von einer »makabre[n] Existenzstiftung« (ebd.). Wichtig ist außerdem, dass diese ›Sage aus dem Holländischen‹ (so der Untertitel) »als fiktive Nacherzählung« (ebd., 294) konzipiert ist. In eine solche aus einer mündlichen Erzähltradition stammende, sagenumwobene, merkwürdige Geschichte wird auch die Legende von der Reue des Bischofs eingerückt. »Phantasie und Wirklichkeitssinn, Wunderbares und Anteilnahme, Erfindungsreichtum und Engagement sind Pole, die Seghers’ Schreiben bestimmen« (ebd., 289). Das gilt insbesondere für ihre Frühphase und brachte ihr später immer wieder Kritik durch die Partei ein (vgl. ebd., 335). Beicken hingegen bemerkt lobend: »Sehr visuell, noch mit expressionistischer Dichte und einem doch schon zum Sachlichen hinstrebenden Stil erzählt Seghers, von filmischer Darstellung im Bildlichen wie im Szenischen angetan« (ebd., 323). Anders als in späteren Texten verläuft die Erzählung von der Reue des Bischofs chronologisch und ist auf die Perspektive der Titelfigur fixiert; die Bevorzugung einer männlichen Perspektive ist für das Frühwerk charakteristisch. Die Nachlassveröffentlichungen von Anna Seghers gelten als umstritten. Sabine Brandt (2004) tut dies als »[d]as Unwissen der frühen Jahre« ab, während Sonja Hilzinger (2004) die Legende von Jehan d’Aigremont in ein für Seghers charakteristisches »Grundmuster« von »Passion und Erlösung« einordnet (vgl. WA II/1, 334), wobei die Geschlechterrollen konventionell verteilt sind. In Einzelbeiträgen hervorgehoben werden die biblischen Bezüge (Dubrowska 2009) und die Teufelsfigur (Kaufmann 2007) sowie das filmische Schreiben (Beicken 2008 und 2009) und die Form der Legende (s. Kap. 40), die den gesellschaftskritischen Anspruch der Autorin auf eine andere als die realistische Schreibweise umsetzt.
Jans muß sterben (1925; 2000) Diese 1925 geschriebene Geschichte wurde zum 100. Geburtstag der Autorin im Jahr 2000 im Aufbau Verlag aus dem Archiv von Pierre Radvanyi veröffent-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_29
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licht. Es handelt sich um eine eindringlich erzählte sozialpsychologische Studie mit z. T. expressiven Bildern und aufschlussreichen intertextuellen Bezügen. Nach einem Sturz beim Spielen am Fluss erkrankt der siebenjährige Jans schwer. Seine Eltern, Martin und Maria Jansen, sind äußerst besorgt. Für eine ordentliche ärztliche Behandlung fehlt das Geld. Die Geschichte spielt im Arbeitermilieu in einer Vorstadt, das wenig später auch in Grubetsch vorgestellt wird. Seghers schildert in Jans muß sterben detailgenau und überzeugend die emotionale Verfasstheit der Eltern – ihre Rat- und Sprachlosigkeit, ihre Enttäuschungen, ihre Verbitterung und Wut, die sich in unterschiedlichen Facetten äußern: als blinde vorwurfsvolle Aufopferung der Mutter, als hilflose Verleugnung der Gefühle beim Vater. In der Angst um den sterbenden Sohn hat sich ihre Sorge verbraucht und sie geben ihn auf. In dieser Nacht der Krise wird in verzweifelter Liebe die Tochter Anna gezeugt, mit der ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Das Krankheitsbild des Sohnes ist medizinisch unbestimmt; symbolisch erkrankt der Junge »an der miserablen Welt, in der er lebt« (Beicken WA II/1, 325), während Anna »im Kontrast zu ihrem älteren Bruder ein Sinnbild des Gesunden und Unbekümmerten ist« (ebd.). Jans, zwischenzeitlich wieder etwas zu Kräften gekommen, aber emotional völlig versehrt, stirbt ein Jahr nach seiner Erkrankung bei einer Mutprobe, mit der er seinen ehemaligen Kameraden beweisen will, dass er wieder dazugehört. In der Forschung wurde diese Nachlasspublikation bisher wenig beachtet. Diese in wechselnder Figurenperspektive, teilweise auktorial erzählte Geschichte weist biblische Bezüge zur ›Heiligen Familie‹ auf, besitzt einen existenzphilosophischen Grundton und ist durch eine »differenzierte Visualisierung« (Roussel 2001, 215) geprägt. Letzteres wird bezogen auf Anna Seghers’ Studium der Kunstgeschichte, kann aber auch im Hinblick auf ihren späteren »Kleinen Bericht aus meiner Werkstatt« (1932) verstanden werden. Dort äußert sie als literarisches Ziel, »einem Stück Wirklichkeit einen Steckbrief aus[zu]stellen« (KuW2, 13); das bezieht sie ausdrücklich auf die innere wie äußere Realität. Schulz erkennt in Jans muß sterben »jene ›existentielle Fragestellung‹, die bereits den ersten veröffentlichten Text Die Toten auf der Insel Djal bestimmt hatte – das Verhältnis von Lebensverlangen, Daseinshunger und der Macht des Todes« (Schulz 2005, 254). Jans steht in der Tradition des ›göttlichen Kindes‹ (ebd., 256). Seine Verwandlung zu einem kleinen, abstoßenden Ding, das »rätselhafte dünne Klagelaute« (Jans – WA II/1, 245) von sich gibt und »ein
abgestorbenes Greisengesichtchen« (ebd., 240) besitzt, rückt ihn in die Nähe zu Gregor Samsa. »Die Dichte der intertextuellen Bezüge zu Kafkas Verwandlung legt den Schluß nahe, daß die junge Autorin mit Jans muß sterben eine Art von ›realistischer Rückübersetzung‹ der Kafka-Erzählung und zugleich den Versuch einer Überbietung dieses literarischen Modells unternahm« (Schulz 2005, 265).
Der gerechte Richter (1957; 1990) Im Mai/Juni-Heft der Zeitschrift Sinn und Form erschien 1990 der Erstdruck der Erzählung Der gerechte Richter von Anna Seghers, mit dem knappen editorischen Kommentar: »Die Erzählung ist 1957 entstanden, die Autorin hat sie nie zum Druck angeboten. Das Originalmanuskript befindet sich im Anna-SeghersArchiv der Akademie der Künste der DDR.« 1990 publizierte der Aufbau Verlag in der Reihe »Texte zur Zeit« den nun als Novelle ausgewiesenen Text aus dem Nachlass (zu den unterschiedlichen Fassungen vgl. Bock 1990; Zehl Romero 2003, 183–186). Im Nachwort von Günther Rücker wird der literarische Text in Beziehung gesetzt zu Walter Jankas autobiografischem Bericht Schwierigkeiten mit der Wahrheit (1989 und 1990). Seither wird Seghers’ Novelle kontrovers diskutiert: Sie kann gelesen werden als literarische Stellungnahme zum Fall Janka, der 1957 als Konterrevolutionär verurteilt wurde – ein offensichtliches Unrecht, zu dem Seghers beim Prozess und in der Öffentlichkeit schwieg. Janka leitete zu dieser Zeit den Aufbau Verlag, in dem auch die Werke von Anna Seghers erschienen. Beide kannten sich aus der Zeit des Exils. Die Novelle Der gerechte Richter spielt nach dem Zweiten Weltkrieg in einem nicht näher bezeichneten sozialistisch regierten Land. Der Protagonist Jan, ein junger Rechtsanwalt, ist überzeugter Kommunist, der für seine Prinzipien und Grundsätze eintritt und sich für den Aufbau eines besseren, antifaschistischen Staates engagiert. Seine rasche Karriere zum Richter hat er seinen Fähigkeiten zu verdanken; diese werden zunächst von allen Kollegen gelobt: »Der kennt sich aus, dem macht man kein X für ein U vor. Der ist gerecht« (Seghers 1990, 8). Weil er Viktor Gasko, einen offensichtlich zu Unrecht des Verrats Beschuldigten, der als Widerstandkämpfer im Spanischen Bürgerkrieg seine Gesinnung und seinen Mut unter Beweis gestellt hatte, nicht verurteilen will, wird er seines Amtes enthoben und selbst wegen Kollaboration mit dem feindlichen Westen für Jahre in einem Lager interniert. Jan weigert
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sich, »etwas auszusagen, was nicht stimmt« (ebd., 14). Zu Beginn der Verhöre beansprucht Viktor: »Unsere Idee ist die beste, die Menschen sich jemals ausgedacht haben. Was macht ihr aus dieser Idee, ihr?« (ebd., 18– 19) Dem massiven Druck widersteht Jan; auch er wird zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber nicht die Willkürherrschaft des politischen Systems, sondern das Fehlverhalten eines Menschen macht er verantwortlich für die Rechtsbeugung und die Verurteilung Unschuldiger. In der Buchfassung ist der Text als Novelle ausgewiesen. Die ambigen Lesarten des Begriffs – Neuigkeit und Neufassung eines Gesetzes – können mit Blick auf das skandalöse Geschehen auch als impliziter poetologischer Kommentar der Autorin gedeutet werden, ein Kommentar, mit dem Seghers ihre Hoffnung auf einen Sieg der Gerechtigkeit in einem literarischen Text andeutet. Für die Gattung Novelle gilt das »unerhörte Ereignis« als ein zentrales Merkmal. Zieht man Hannelore Schlaffers Beschreibung der Novelle als »psychologische Fallstudie« hinzu, kann der Text als Fallstudie eines moralisch-ethischen Dilemmas des Protagonisten charakterisiert werden, als Herausforderung, dem massiven Druck standzuhalten und die Konsequenzen zu tragen (vgl. Schlaffer 1993, 225–239). Als expliziter poetologischer Kommentar kann der intertextuelle Bezug zu Franz Kafkas fragmentarischem Roman Der Process (1914–1915) gedeutet werden. Der Erzähler kommentiert den ersten Verweis auf den ›Fall‹ Viktor Gasko mit einer deutlichen Referenz zum Protagonisten Josef K. im Process: »Plötzlich war er verhaftet worden, zur Bestürzung der Freunde, die etwas davon erfahren hatten« (Seghers 1990, 11). Sowohl auf formaler als auch inhaltlicher Ebene korrespondieren die unvollendet gebliebenen Texte. In beiden fokussiert der Erzähler die Perspektive der Protagonisten mit dem intensiven Gebrauch der erlebten Rede, von Gedankenzitaten und inneren Monolo gen. Viktor Gasko und Josef K. kämpfen darum, die Gründe für die Anschuldigungen zu verstehen. Aber »[a]nders als Kafka hält [...] Seghers in ihrer erzählten Welt an einem genau definierten Projekt der sozialen Emanzipation fest« (Sanna 1992, 280). Rezeption und Forschung Jankas vorab publizierter Auszug Schwierigkeiten mit der Wahrheit aus der umfangreichen Autobiographie Spuren eines Lebens (1991) erschien zunächst 1989 in der Essay-Reihe des Rowohlt Verlags; 1990 wurde er auch in der Reihe »Texte zur Zeit« des Aufbau Verlags
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publiziert, der Reihe, in der im selben Jahr Seghers’ Novelle erschien. Christa Wolf wertet im Vorwort die »Publikation im Aufbau-Verlag« als »Zeugnis dafür, wie ernst und tiefgreifend die Veränderungen in unserem Land schon sind: öffentlich und radikal wird jenes Grundübel zur Sprache gebracht, aus dem über die Jahrzehnte fast alle anderen Übel des Staats DDR hervorgegangen sind: der Stalinismus« (Wolf 1990, 7). Die Folgen des XX. Parteitags der KPdSU im Februar 1956, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagene Ungarn-Aufstand im Oktober 1956 sowie die gescheiterten Versuche von Janka, Seghers und anderen, den angeblichen Verräter Georg Lukács nach Wien zu bringen (vgl. Janka 1990, 30–44; Zehl Romero 2003, 169–172), bilden den historisch-politischen Hintergrund sowohl für Jankas Bericht als auch für Seghers’ Novelle. Die Autorin hatte Janka gebeten, den bedrohten Lukács in die DDR zu holen. Der damalige Kulturminister und Dichter Johannes R. Becher unterstützte das Vorhaben, das letztlich am rigorosen Veto von Walther Ulbricht scheiterte (vgl. Janka 1990, 59) und zur Entmachtung von Becher führte. In dem ausführlichen Bericht über den Prozess (vgl. Janka 1990, 83–106), der am 23. Juli 1957 begann, schildert Janka auch das Verhalten der »anwesenden Schriftsteller« Anna Seghers, Willi Bredel, Bodo Uhse u. a.; »sie hatten sich an der Schreierei nicht beteiligt. Sie blieben stumm« (ebd., 92). Die Veröffentlichung der Novelle (zwei Ausgaben 1990) und Jankas autobiographischem Bericht (1989 in der BDR, 1990 in der DDR) in engster zeitlicher Nähe, der Mauerfall und die offizielle Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 prägen die kulturpolitischen und politischen Diskussionen, die in den nächsten Jahren die Rezeption von Seghers’ Text beeinflussen. Wallace deutet die schnelle Veröffentlichung der Novelle »as part of a resolute attempt to rescue Seghers’s reputation« (Wallace 1997, 130). Wurde sie bis zur Veröffentlichung von Jankas Bericht als literarische Ikone und engagierte Kämpferin für einen humanistisch geprägten Sozialismus verehrt und geschätzt, mehrten sich mit Jankas Bericht auch kritische Stimmen. Janka hat sein Verdikt gegen die ›schweigende‹ Seghers später revidiert; sie habe entschieden gegen seine Verhaftung Stellung bezogen (Janka 1994, 121–123, 131–135; vgl. auch Zehl Romero 2003, 172–178). Im Januar 1990 hebt das Oberste Gericht der DDR das Urteil von 1957 auf; Janka wird aber nie rehabilitiert. Günther Rückers ausführliches Nachwort in der Ausgabe der Novelle im Aufbau Verlag ist als wichtiger Paratext zu lesen. Geschrieben in Form eines Briefes an
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einen »junge[n] rigorose[n] Freund« (Rücker 1990, 67) versucht es, Anna Seghers von dem moralischen Vorwurf ihres Schweigens im Fall Janka freizusprechen, indem es die junge Generation an die schwierige Zeit Mitte der 1950er Jahre erinnert und auf die humanistische Tradition verpflichtet, der Seghers in ihren Werken immer treu geblieben sei. Paradoxerweise formuliert dieses Nachwort für die Nachgeborenen aber genau die Vorwürfe, die es zu entkräften sucht, denn es ist keineswegs zwingend, die Novelle Der gerechte Richter auf den Fall Janka zu beziehen (vgl. Wallace 1997, 131). Gegen den Nimbus von der von allen geliebten Dichterin (vgl. Rücker 1990, 60 f.) ruft das Nachwort »die Fama von einer feigen, duckmäuserischen, ängstlichen Anna Seghers« (ebd., 70) auf. Allen Gerüchten zum Trotz wird deutlich, dass Seghers’ Verhalten nicht nur eine Frage von Kampfgeist, Mut und Aufrichtigkeit ist (oder zumindest so verstanden werden kann), sondern als die einer möglichen Strategie und potentiellen Allianzen, die realistisch oder auch nur pragmatisch abzuwägen waren (vgl. ebd., 72). Grub hebt später sogar hervor, dass die Novelle von Seghers die »Erkenntnis« vermittele, »dass ein Eingreifen ihrerseits in den Prozess sinnlos gewesen wäre« (Grub 2003, 94). Bereits in Heft II der Weimarer Beiträge 1990 erschienen in der Rubrik »Für und Wider« mehrere Beiträge, die Jankas Schwierigkeiten mit der Wahrheit, die Buch-Ausgabe des Gerechten Richters und das Nachwort von Günther Rücker kontrovers kommentierten. Die Deutung der Novelle als Schlüsselwerk in Reaktion auf den Fall Janka und seinen autobiographischen Essay Schwierigkeiten mit der Wahrheit betont der kurze Beitrag von Martina Langermann: »Der Text leistet zuerst Zeitzeugenschaft, beschreibt er doch auf zwingende Weise die große Beunruhigung, die die Autorin erfaßte« (Langermann 1990, 1800). Auch Elke Mehnert liest das »Novellenfragment als eine radikale Bestandsaufnahme«, geschrieben »aus Überzeugung – und wider ihre Erfahrung« (Mehnert 1990, 1804). Waltraud Wende wiederum lobt später die »schonungslose Demaskierung der DDR-Justiz und damit verbunden die kritische Infragestellung des politischen DDR-Alltags« (Wende 1996, 157). Friedrich Albrecht hingegen bewertet den »Versuch, die Antwort [...] zu personalisieren und Gestalten wie Kalam, dem bösen und machtgierigen Greis, oder dem karrierebeflissenen Nachfolger Jans die Verantwortung zuzu schreiben«, als »seltsam hilflos« (Albrecht 1990, 1796). Wolfgang Emmerich riskiert die Frage: »Kann ein Kunstwerk überhaupt ein Äquivalent für öffentlichen Einspruch oder gar politisches Handeln sein?« Seine
Antwort lautet: »Ich denke, das kann es nicht« (Emmrich 1990, 1798). Spätere Einschätzungen sind differenzierter: »Ambivalenzen eines Werkes wie das von Anna Seghers in das Raster von Kategorien wie Staatsdichtung – Dissidenz hineinzupressen, bedeutet, ihm die Ausdruckskraft und Darstellungsfunktion, mit denen ein für das ganze Jahrhundert typischer Konflikt, hier in seiner sozialistischen Version, gestaltet wird, in Abrede zu stellen« (Sanna 1992, 280). Auch beim Bau der Mauer 1961, bei der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ 1968 sowie bei der Biermann-Ausbürgerung 1976 hat Anna Seghers ebenfalls geschwiegen. Sie blieb sich also treu, nicht öffentlich gegen ein offensichtlich ungerechtes Vorgehen des Staates zu intervenieren und damit demonstrativ moralisch im Recht zu sein. Diese Position delegiert sie an ihre literarischen Texte bzw. deren einschlägige Figuren. In ihren Werken ist eine spezifische Situation für alle Leser/innen genau entfaltet und auf je eigene Reflexionen angelegt. Der auch von Sanna (1992) konstatierte Bruch im Werk von Anna Seghers, der mit der Novelle Der gerechte Richter markiert wird, lässt sich entsprechend als eine Verschiebung der Perspektive auffassen, bei der die Leser/innen stärker in die Pflicht genommen werden; dafür sprechen auch die anderen, nicht-realistischen Schreibweisen von Seghers. Aus Anlass des 100. Geburtstages wurde die Novelle im Auftrag des Südwestrundfunks verfilmt. Die Regie führte Torsten C. Fischer, die Rollen der Protagonisten Jan und Viktor Gasko übernahmen Frank Gierig und André Hennicke. Zuerst wurde der Film am 16. November 2000 in der ARD gesendet. Die Film-Novelle wird als »Parabel über Gerechtigkeit und Wahrheit, Willkür und Macht – in aller Nüchternheit und Strenge eine Geschichte von großer Kraft und Aktualität« charakterisiert (SWR – Presseportal 2000). Jan wird in das Ost-Berlin der 1950er Jahre versetzt, der Film endet mit dem Tod Gaskos in der Lagerhaft. Im Unterschied zum literarischen Text präzisiert der Film ein offenes Ende. Dem zynischen Kommentar Kalmans – »Wir haben Millionen für uns zu gewinnen, was machen da ein paar Unschuldige aus« – setzt Jan sein Beharren auf der Wahrheit entgegen: »Die Wahrheit lieben, anders wird keiner groß« (zit. nach Mönch 2000, 54). Literatur
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Carola Hilmes / Gabriele Rohowski
III Reden, Publizistik, Briefe
30 Vorträge und Reden Seghers’ umfangreiches publizistisches Werk umfasst nach derzeitiger Quellenlage knapp einhundert für den öffentlichen Vortrag konzipierte Texte (vgl. AE 1/2; KuW1–4, Seghers 1953, Anna-Seghers-Archiv [= ASA]). Ihre ersten mündlichen Äußerungen in der Öffentlichkeit lassen sich in die Zeit ihres Exils in Frankreich und Mexiko datieren; am häufigsten meldete sie sich in den 1950er und 1960er Jahren zu Wort. Insgesamt zeugen ihre Reden von ihrer (kultur-)politischen Mission, mithilfe der ihr als Schriftstellerin zu Gebote stehenden Mittel und Möglichkeiten gegen Faschismus und Inhumanität zu kämpfen, an der Schaffung des ›neuen Menschen‹ in der sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken und sich für eine friedliche internationale Völkergemeinschaft einzusetzen. Zeit ihres Schaffens äußerte sie sich anlässlich verschiedenster (kultur-)politischer Gegebenheiten. Ihre Reden reichen von Gedenk- und Dankesreden, Festvorträgen, Nachrufen und Kongressreferaten über Rundfunkund Fernsehansprachen, Vorträge in Betrieben und an der Universität bis hin zu Ansprachen anlässlich politisch bedeutsamer Ereignisse wie Parteikonferenzen oder Staatsjubiläen. In Anbetracht der unabhängig von der Handlungssituation immer wiederkehrenden und eng miteinander verwobenen Themen ›Antifaschismus‹, ›Aufbau des Sozialismus‹, ›Frieden‹, ›Anti-Kapitalismus‹, ›Anti-Imperialismus‹ und ›Rolle der Literatur für den sozialistischen Aufbau‹ ist es müßig, ihre Reden im Einzelnen bestimmten Themen oder Textsorten zuzuordnen; auch Seghers’ favorisierte rhetorische Handlungsmuster wie pädagogisierende Erlebnisberichte und Anekdoten manifestieren sich textsortenübergreifend. Für eine operationalisierbare Strukturierung wird hier behelfsmäßig unterschieden zwischen ihren im Exil gehaltenen Vorträgen, ihren Friedensappellen, ihren vor allem politisch motivierten und ihren primär kulturpolitisch-poetologischen Reden.
Exil-Reden Während ihres Exils in Paris und Mexiko setzte Seghers sich intensiv mit dem internationalen Faschismus auseinander. Als angesichts der zunehmenden
Bedrohung durch die Nationalsozialisten in Paris der I. Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur stattfand (21.–25.6.1935), entlarvte sie in ihrem Vortrag das von den Nationalsozialisten zweckentfremdete Fahnenwort »Vaterlandsliebe« als Pervertierung der ursprünglich positiven Begriffsbe deutung und stellte dem propagandistischen Sprachgebrauch ihr Verständnis einer ursprünglichen Vaterlandsliebe gegenüber, die sich im »alte[n] Pathos wirklicher nationaler Freiheitsdichter« (KuW1, 66) ausspreche. Abgedruckt wurde der Beitrag in der Deutschen Freiheitsbibliothek, dem publizistischen ›Freiheitsorgan‹ der Exilierten, das dem faschistischen Hitlerdeutschland das ›andere Deutschland‹ der Emigration entgegenstellte (s. Kap. 35). In ihrem in der spanischen Monatszeitschrift Hora de España veröffentlichten »Gruß« zum II. Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur (4.7.–17.7.1937 in Valencia, Madrid, Barcelona, Paris) dankte Seghers den Widerstandskämpfern und gestand angesichts des »unter opferreichen Kämpfen blutig ins Leben« umgesetzten Widerstandes die Machtlosigkeit der Intellektuellen ein, deren »Teilnahme an diesem Werk« im Vergleich mit den schweren Kämpfen in Deutschland und Spanien »nur eine schwache Geste« (KuW1, 67) sei. Ihren Bedenken gegenüber einem nur mittelbaren Engagement der intellektuellen Elite verlieh sie auch in ihrer Rede am 25.7.1938 auf der Außerordentlichen Konferenz der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur in Paris Ausdruck, die im Anschluss an den Weltfriedenskongress abgehalten wurde. In dem dort vorgetragenen, in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort publizierten Referat »Und jetzt muß man arbeiten« (AE1, 65–68; in KuW1 »Zum Kongreß 1938«) mahnte sie an, dass die vielen verabschiedeten Resolutionen und das auf dem Kongress beschlossene Hilfspaket für Künstler »nicht im Abstrakten« stecken bleiben, der Einsatz der Intellektuellen für die vom Faschismus bedrohten Völker nicht »bei Bekenntnissen stehenbleiben« dürften und es – insbesondere für die nachkommende Generation – einer positiv orientierenden Normativität bedürfe, denn nie habe »man noch eine Jugend allein dadurch gewonnen, daß man gegen etwas war, sondern immer durch das, wofür man war« (AE1, 66).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_30
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III Reden, Publizistik, Briefe
Auf dem vom 8.–9.5.1943 in Mexiko stattfindenden Landeskongress der Bewegung Freies Deutschland, zu deren bedeutender gleichnamiger Exilzeitschrift sie seit 1941 zahlreiche Aufsätze beitrug (s. Kap. 32), tat Seghers in ihrer »An die Untergrundkämpfer« betitelten Rede ihre tiefe Beklommenheit kund, über die Opfer des Hitler-Faschismus sprechen zu müssen. Sie entschied sich, dem »Rauch« der unzählbaren Opfer Gesichter zu geben, erinnerte an das Schicksal einiger »Deutsche[r] Legenden« und warnte vor einem mitläuferischen ›gewöhnlichen Faschismus‹, der den Einzelnen zum »Helfer Hitlers« mache (KuW4, 29 f.). Zwar meinte sie in Hitlerdeutschland einen wachsenden Widerstand zu erkennen; ein Urteil über die Situation behielt sie sich jedoch vor: »Wir sind weit weg, unsere Sicherheit spottet fast jedem Versuch, diesen Widerstand von hier aus zu werten« (KuW4, 31).
Reden als Berufung Zurück im besiegten Deutschland, wollte Seghers tätigen antifaschistischen Widerstand leisten, energisch am Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft mit- und der Gefahr eines neuen Krieges mit aller Entschlossenheit entgegenwirken. In logischer Konse quenz dessen, wogegen sie ankämpfen wollte, wurde sie nicht müde in öffentlichen Reden zu formulieren, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Ihre nunmehrige Lebensaufgabe der Mitarbeit am Aufbau der DDR war unlösbar mit ihrem schriftstellerischen Selbstverständnis verbunden, große gesellschaftspolitische Verantwortlichkeit und Wirkungsmacht zu haben und als prominente Repräsentantin eines besseren Deutschlands zu agieren. »Die staatliche Wertschätzung der Literatur« galt ihr »als Indiz für die faktische Bedeutung des eigenen Schaffens« (Jäger 2009, 320). Die konstitutive Nähe von Literatur und Politik war nicht zuletzt auch Grund für ihren Umzug von West- nach Ost-Berlin, wie sie 1956 rückblickend in ihrem sinnfällig betitelten Hauptreferat »Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung des Volkes« auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress erklärte: »Ich fuhr in die Ostzone, weil ich sicher war, daß meine Arbeit [...] in dem Kampf gebraucht und begrüßt würde« (KuW1, 92). Die zentrale gesellschaftliche Rolle des Schriftstellers und die »große Tragweite« (KuW1, 234) der Literatur motivierten sie zu öffentlichen Ansprachen und waren zeitlebens wichtige Themen, so in der Rede »Was wir dem Staat verdanken«, die sie1953 anlässlich der Vorbereitung der Wahlen zu den Bezirkstagen und zur Volkskammer hielt:
»Es ist die Möglichkeit, die der Schriftsteller hat, auf sein Volk so zu wirken, daß er an seinem Leben verändernd teilnehmen kann. Das kann er, weil wir zum ersten Male in der deutschen Geschichte einen Staat besitzen, in dem die Macht in den Händen der Menschen liegt, die den Frieden wünschen und soziale Gerechtigkeit und Freiheit. An dem Aufbau dieses Lebens kann der Schriftsteller teilnehmen.« (KuW3, 108)
Anlässlich des 25. Jahrtestages der DDR bezeichnete sie die gesellschaftspolitische Einflussnahme als primären »Ansporn« für das Wirken der Künstler in der DDR: »Wir sind froh [...], daß unser Anteil an diesem Leben, in diesem Staat, anerkannt wird und angespornt. Als eine eigenständige Kraft wirken wir ein auf die Produktion, die unser aller Leben verbessert« (KuW4, 114). Aus der so verstandenen Position einer exponierten moralischen Instanz heraus trat sie in sämtlichen Reden für ihre ›Wahrheit‹ im Sinn von Sozialismus, Pazifismus und Menschlichkeit ein. Als 1947 in Berlin der erste (noch gesamtdeutsche) Schriftstellerkongress tagte, dessen Ziel die »Sammlung aller antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen deutschen Schriftsteller auf dem befreiten deutschen Boden« (KuW1, 283) war, definierte sie den Begriff ›Freiheit‹ in ihrem Vortrag »Der Schriftsteller und die geistige Freiheit« demgemäß als »die Freiheit, für die Wahrheit zu kämpfen« (KuW1, 74). In ihrer Funktion als Mitglied des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands beteiligte sich Seghers in Ost-Berlin ohne Zögern an der Gründung (kultur-)politischer Gremien und war Mitbegründerin der Friedensbewegung der DDR. Ihre Reden und Vorträge sind vor dem Hintergrund ihrer engagierten Mitarbeit im Weltfriedensrat, ihrer Position als Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste und ihrem 26 Jahre währenden Amt als Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbandes innerhalb des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (seit November 1973 Schriftstellerverband der DDR) zu sehen.
Reden für den Frieden In den frühen 1950er Jahren lag Seghers’ Fokus auf der Friedensarbeit, für die sie sich zeitlebens einsetzte und deren Grundvoraussetzungen sie – dem ›Gründungsmythos‹ der DDR entsprechend (vgl. Emmerich 2000, 29) – in der sozialistischen Gesellschaft erkannte. In einer Rundfunkansprache erklärte sie 1950, dass im
30 Vorträge und Reden
Osten bereits durch die »Arbeit in den Fabriken und die Arbeit der Bauern« ein »Beitrag zum Kampf für den Frieden« geleistet würde, wohingegen die Menschen im profitorientierten Westen aufgrund der Remilitarisierung »den Anblick des Krieges nicht verlern[t]en« (KuW3, 65). Von den Studenten der Humboldt-Universität, zu denen sie 1952 sprach, forderte sie eine klare Positionsentscheidung zwischen der »Gespensterfabrikation von Lügenschleiern« im Westen (KuW3, 91) und dem ›sicheren klaren Bewusstsein‹ im Osten. Auch in der anlässlich des Völkerkongresses für den Frieden in Wien gehaltenen Rede vor den Werktätigen des Stahl- und Walzwerks Riesa bediente sie die der Parteilinie entsprechenden Rechtfertigungsmuster, indem sie Adenauers Aufrüstungspolitik und den westlichen Kapitalismus mit der Entstehung von Faschismus und Kriegstreiberei parallelisierte: »Die nazistischen Aggressoren wußten genau, daß Sklavenarbeit und Unwissenheit zusammengehören. Jetzt haben die amerikanischen Imperialisten das Erbe Hitlers angetreten« (KuW3, 96). Sämtliche ihrer Friedensappelle funktionieren rhetorisch über die negative Attribuierung Westdeutschlands bzw. der Westmächte in Gegenüberstellung mit der uneingeschränkt positiv konnotierten und mit ideologisch aufgeladenen Fahnenwörtern wie ›Frieden‹, ›Solidarität‹, ›Freiheit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Demokratie‹, ›Humanität‹ und ›Familie‹ verbundenen DDR. Das Hindernis für eine mögliche Wiedervereinigung sowie die Verantwortung für die instabile internationale Gemengelage verortete sie im Westen. In der am Vorabend der Berliner Außenministerkonferenz (25.1.–18.2.1954) gehaltenen Rede »Den Frieden bewahren!« urteilte sie: »Aber die Kriegstreiber, die Deutschland teilten, taten sofort wieder, was sie nur konnten, damit die Jugend ja nicht verlerne, was der Faschismus ihr beigebracht hatte. Damit eine neue Generation von Söldnern heranwachse, zu ihrem Profit, zum Schrecken der Nachbarvölker und zum Unglück des eigenen Volkes. Die wachsende Spannung zwischen den beiden Teilen von Deutschland ist ein Hauptfaktor der internationalen Spannung geworden. [...] Die demokratische deutsche Kultur ist die unumgängliche Grundlage für die Wiedervereinigung Deutschlands, die eine Voraussetzung für den Frieden ist.« (KuW4, 67)
In derselben Rede wird auch deutlich, welch bedeutsame Rolle sie der Kultur für den Friedensprozess einräumte; allerdings sah sie einen interkulturellen Aus-
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tausch einseitig vor dem Hintergrund eines am kulturellen Erbe orientierten, marxistisch interpretierten Humanismus: »Gerade wir wünschen, wenn wir von Weltkultur sprechen, daß das Leben der jungen Menschen, ihr Fühlen und Denken, wie es in ihren Büchern zutage tritt, den westdeutschen Lesern endlich vertraut wird, die von Lügen vergiftet sind. [...] Unsere Bücher und Zeitungen, unsere Theater und Kinos werden die demokratischen Traditionen der vier Völker [der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs; K. M.] zeigen [...]. Bei unserer Aufgabe, von der Entspannung zum wirklichen Frieden zu kommen, werden uns Shakespeare und Racine und Puschkin helfen, Balzac und Tolstoi, Maupassant und Tschechow.« (KuW4, 68)
Seghers hielt mannigfache Reden zum Frieden: »Kulturelle Brücken zu anderen Völkern« (KuW1, 208– 211); »Schlußwort auf dem 1. Kongreß der deutschen Kämpfer für den Frieden«, »Ansprache im Rundfunk«, »Ansprache in Riesa«, »Rede auf dem Völkerkongreß in Wien«, »Eine Konferenz der Mütter zur Verteidigung ihrer Söhne«, »Rede auf der 5. Tagung des Weltfriedensrates in Wien«, »Unser Appell schützt die Völker« (alle in: KuW3). Die »Dankesrede bei der Verleihung des Stalin-Friedenspreises« (Seghers 1953) ist separat erschienen; ferner »Den Frieden bewahren!« (KuW4) und »Die Kraft des Friedens« (AE2). Sie erreichten ein breites Publikum, wurden öffentlichkeitswirksam in den wichtigsten Presseorganen wie der Täglichen Rundschau, der Berliner Zeitung und in Neues Deutschland publiziert. Einige für den mündlichen Vortrag konzipierte Friedensappelle sind noch nicht erschlossen (vgl. ASA Sign. 384, 397, 407, 420, 433, 436, 445).
Spezifische Reden für den Sozialismus Zeugnis des selbst gewählten Auftrags, einen validen Beitrag zum sozialistischen Aufbau leisten zu wollen, legen neben Seghers’ Friedensreden zahlreiche weitere, zu diversen (kultur-)politischen Anlässen gehaltene Ansprachen ab, von denen einige noch nicht erschlossen sind. Seghers sprach vor Besuchern einer Festveranstaltung anlässlich des 150. Geburtstags Puschkins (KuW2) ebenso wie »vor brandenburgischen Bauern« (Seghers 1953); anlässlich der Weltfestspiele 1951 in Berlin (ASA Sign. 405); vor den »Kumpels von Oberweißbach« (ASA Sign. 385); in den Elektro-Apparate-
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III Reden, Publizistik, Briefe
Werken Treptow (»Unser Hans Becher«, KuW2); in ihrem Patenbetrieb, dem Röhrenwerk Neuhaus (ASA Sign. 399); »zum 1. Mai 1952 MAS Rheinsdorf« (ASA Sign. 412); vor Bergarbeitern in Zwickau (ASA Sign. 441) und anlässlich der Verleihung des Internationalen Lenin-Friedenspreises an Nikita Chruschtschow (ASA Sign. 436). Sie wandte sich – womöglich anlässlich des Internationalen Buchenwaldtreffens – an »die ehemaligen Häftlinge in Buchenwald« (ASA Sign. 196), sprach im Rundfunk (»Egon Erwin Kisch«, KuW2; »Ansprache im Rundfunk«, KuW3; »Joliot Curie« KuW3; »Rundfunk. Neujahr 1952«, ASA Sign. 401; vgl. auch ASA Sign. 401, 438, 489, 506, 3741) und im Fernsehen (»An die Werktätigen des VEB Röhrenwerkes ›Anna Seghers‹«, Zehl-Romero 2003, 439; Rede anlässlich des Todes von Wilhelm Pieck, ASA Sign. 429). In unmittelbar politischem Kontext stehen auch ihre Rede »Unsere Begegnung mit der Partei« (KuW2) anlässlich der II. Parteikonferenz der SED 1952, ihre Ansprache zum 5. März 1953, Stalins Todestag (Seghers 1953), ihr Vortrag »Was wir dem Staat verdanken« (KuW3) auf einer Matinee zur Vorbereitung der Wahlen zu den Bezirkstagen und zur Volkskammer 1954, ihr Nachruf »Das Beste von uns allen« (KuW3) auf den Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck sowie ihre Vorträge »Fünfzehn Jahre DDR und die Deutsche Akademie der Künste« (KuW4) und »Drei Begegnungen« (KuW3) 1964 anlässlich des 15. und »Ansporn für unser künstlerisches Wirken« (KuW4) 1974 anlässlich des 25. Jahrestags der DDR-Gründung. In ihren propagandistischen Ansprachen griff Seghers stets auf die zentralen, quasimythischen Rechtfertigungsmuster der DDR zurück und bewegte sich mit ihrer Argumentation auf Parteilinie. In der Gedenkrede für Hans (Johannes R.) Becher etwa lobte sie diesen als »Wegemeister« und »Dichter der Nation [...], des Sozialismus, des Friedens«, der dem Sowjetvolk so dankbar gewesen sei, weil es den Nationalsozialismus besiegt habe (KuW2, 127). Seghers veranschaulichte ihre Ausführungen oft mit Hilfe von Reise- und Erlebnisberichten und Äußerungen und Anekdoten aus der – oft jungen – Bevölkerung, die ihr nach eigener Aussage häufig von den Betroffenen selbst zugetragen worden waren. Ihre belehrenden Ausführungen vor brandenburgischen Bauern über die Bodenreform in China z. B. veranschaulichte sie mit Reisefotografien, die sie narrativ unterlegte (»Von dieser Brücke rief uns ein Junge zu: ›Stalin! – Mao Tse Tung!‹ – Das sind Worte, die jeder in jeder Sprache versteht«; Seghers 1953, 124). In der 1952 anlässlich der II. Parteikonferenz der SED gehaltenen Rede »Unsere Begegnung mit der Partei«
erzählte sie aus ihrer Exil-Vergangenheit in Paris und ihrer dortigen Begegnung mit einem Mann, dem sie zu großem Dank verpflichtet sei, weil er in ihr die integrative und orientierende Kraft der Partei reaktualisiert habe. Den Dialog zwischen ihr, einem Freund und diesem ›kleinen Menschen‹ gab sie wörtlich wieder: »Ich sagte: ›Aber wie soll ich denn wissen, ob und wie sich das überhaupt verändert?‹ Da sagte der andere Freund: ›Wir wissen ja nicht, wie das weitergeht‹, und der Kleine sagte: ›Wie das weitergeht, weiß ich auch nicht genau, aber ich weiß, es wird sich verändern.‹ ›Wieso weißt du das?‹ ›Ich weiß es, weil es die Partei weiß.‹ Auf einmal war dieser kleine Mensch der Ausdruck von etwas, was wir suchten und gefunden hatten.« (KuW2, 21)
Einschlägig für Seghers’ didaktisches Verfahren der kollektiven Volkserziehung ist desgleichen der 1964 anlässlich des 15. Jahrestags der DDR-Gründung gehaltene Vortrag »Drei Begegnungen«, in dem sie von drei prägenden zwischenmenschlichen Begegnungen erzählte, mittels deren sie die positive Wirkung des sozialistischen Systems auf das im Sinne des Gemeinwohls moralisch geläuterte Individuum veranschaulichte. Die erste Begegnung handelt von einer aus der Emigration zurückgekehrten Frau, die sich zur Jugendrichterin hat ausbilden lassen und deren positiver Einfluss auf einen ehemals kriminellen jungen Mann nun von diesem qua Dankesbrief bestätigt wird: »Da haben Sie mir die Augen geöffnet, nur Sie, und mich nie mehr aus den Augen verloren. Jetzt bin ich Elektriker, hab ›ne Familie. Mein Sohn wird anders, als ich war« (KuW4, 76). Solche Subjektivierung von (geschichtlicher) Erfahrung zwecks Verfügbar- und Bewusstmachung (des kognitiv Unzugänglichen) im Sinne einer ›narrativen Therapie‹ ist zentrales argumentatives Verfahren in Seghers’ Reden. Insgesamt zeichnen die politischen Reden das Bild einer sich zur DDR bekennenden Ikone des Literaturbetriebs, die sich der »Disziplin ihrer Partei [...] klaglos« unterwarf (Schneider 2016, 732) und offenen Widerspruch vermied, um »dem politischen Gegner im ideologischen Handgemenge des Kalten Krieges keine Argumente zu liefern« (Kaufmann 2009b, 311 f.) und um ihre Vorbildrolle als Repräsentantin eines neuen, friedlichen und gerechten Deutschlands nicht zu gefährden. Dabei wird immer wieder deutlich, wie sehr ihr daran gelegen war, besonders der Jugend den rechten Weg zu weisen, denn diese repräsentierte für sie den alles entscheidenden »Umschlagplatz zwischen
30 Vorträge und Reden
Vergangenheit und Zukunft« (KuW3, 73). Sicherlich steht der pädagogisierende Impetus ihrer Reden grundsätzlich im Dienst der Beglaubigung des parteitreuen Standpunkts. Der narrativ gestaltete Realitätsbezug sowie die Integration kultureller Themen fungieren zum einen als Beleg für den konstitutiven Zusammenhang von Kultur und Staat, zum anderen als Legitimierung des sozialistischen Wahlspruchs der Einheit von Führung und Volk. Es sollte aber auch nicht übersehen werden, dass die Perspektivierungen, die Seghers über Anekdoten und Erlebnisberichte vornimmt, zuweilen Möglichkeiten einer gewissen Distanzierung bieten. Ihrer volkserzieherischen Funktion entsprechend, fanden die primär politisch motivierten Reden in der Regel umgehend Eingang in die sozialistische Presse, etwa in die Tägliche Rundschau, in die Berliner Zeitung, in Neues Deutschland und in den Sonntag. Manche vorwiegend kulturpolitisch ausgerichtete Reden, z. B. »Die napoleonische Machtideologie in den Werken Tolstois und Dostojewskis« oder »Puschkin« (KuW2) wurden in Organen mit kulturpolitischer Schwerpunktsetzung wie Die neue Gesellschaft. Populärwissenschaftliche und kulturpolitische Monatszeitschrift der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft abgedruckt; der noch nicht erschlossene Vortrag »Kritischer und Sozialistischer Realismus. Scholochoff Balzac« (ASA Sign. 395) wurde gleich dreifach, und zwar in den Februarnummern des Morgen, der Neuen Zeit und der Nationalzeitung, also in den publizistischen Zentralorganen der Blockparteien LDPD, CDU und NDPD, veröffentlicht.
Reden zur Literatur Im real existierenden Sozialismus bekam Seghers’ Dasein als parteiliche, engagierte Schriftstellerin auch Risse, die sich argumentativ vor allem dort widerspiegeln, wo sie sich als Vorsitzende des Deutschen Schriftstellerverbandes auf Kongressen und Delegiertentreffen mit den doktrinären Vorgaben des Zentralkomitees auseinanderzusetzen hatte und in ein konflikthaftes Spannungsfeld zwischen Politik/Ideologie einerseits und Literatur/Ästhetik andererseits geriet (s. Kap. 35). Vom Standpunkt des ihr eigenen Metiers aus machte sie über ihre skeptische Haltung gegenüber einer verabsolutierten Engführung von Literatur und Ideologie mitunter auf Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen im System aufmerksam, ohne sich damit jedoch den Unmut der Kulturfunktionäre zuziehen oder ihre
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Position als hoch dekorierte Repräsentantin der DDRLiteratur riskieren zu wollen. »Ein offener Bruch mit dem Sozialismus« war für sie »angesichts der Alternativlosigkeit« (Kaufmann 2009b, 312) nicht denkbar. Von ihrem Lavieren zwischen ihrer der Sache nach treuen sozialistischen Gesinnung und ihrem Verständnis einer grundsätzlich eigenwertigen Literatur zeugen besonders ihr Hauptreferat auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress 1956 in Berlin (»Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung des Volkes«, KuW1; in AE2 »Die große Veränderung und unsere Literatur«), in dem sie das »zunehmend verbreitete Ungenügen an der unter Konfliktlosigkeit krankenden Aufbau-Literatur« deutlich artikulierte (Kaufmann 2009a, 13) und ihr Hauptreferat »Die Tiefe und Breite der Literatur« 1961 auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongress (KuW1) sowie ihre Ansprache auf dem Internationalen Schriftstellertreffen 1965 in Weimar (KuW1) und ihre Rede auf der I. Jahreskonferenz des Deutschen Schriftstellerverbandes 1966 (KuW1). So deutlich sie ihren sozialistischen Standpunkt in öffentlichen politischen Reden darlegte, so vehement verteidigte sie den künstlerisch-reflexiven Erkenntniswert der Literatur gegen ideologische Verengungen: »Also, es ist nicht so, wie man manchmal denkt: daß die Leistung des Schriftstellers sich in dem Maße steigert, in dem sich seine ideologische Klarheit steigert« (KuW1, 108). Dabei vertrat sie einen Anthropozentrismus, den sie im Rückgriff auf einen marxistisch interpretierten Humanismus – weitgehend kompatibel mit den kulturpolitischen Vorgaben – plausibel zu begründen wusste. In ihren kulturpolitisch-poetologischen Reden kritisierte sie z. B. wiederholt die Formalismus-Kampagne, die sich gegen Künstler richtete, die »ästhetische Ausdrucksformen benutzten, welche in den Augen der Partei die Form über den politisch-ideologischen Inhalt stellten und damit den Kriterien des sozialistischen Realismus widersprachen« (HähnelMesnard 2009, 94). Demgegenüber verteidigte sie den künstlerischen, mit Ideologemen inkommensurablen Eigenwert der Literatur und positionierte sich damit implizit auch gegen den Bitterfelder Weg: »Zu der echten, damit meine ich eine nicht didaktische, nicht scholastische Darstellung [...], braucht man freilich außer der politischen Einsicht wirklich künstlerische Kraft« (KuW1, 159). »Tiefe verändernde Wirkung geht nur von wirklicher Kunst aus« (KuW1, 119). »Man hat uns manchmal gewarnt [...], daß wir verhältnismäßig zuviel Wert auf ästhetische Fragen, auf Formfragen, legen, anstatt auf Parteilichkeit. [...] Mir
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III Reden, Publizistik, Briefe
scheint, daß wir bis jetzt noch längst nicht genug Wert auf ästhetische Fragen gelegt haben« (KuW2, 120). Seghers’ Verständnis einer am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beteiligten Literatur war das einer über ein breites und sich gegenseitig bedingendes Themen- und Ausdrucksspektrum verfügenden Literatur, die, ein humanistisch-sozialistisches Menschen- und Weltbild immer vorausgesetzt, vor allem auf das ›Innere‹ wirke und damit die »Aufnahmefähigkeit« des Menschen steigere (KuW1, 105): »Wie unsere Leser sich die verschiedensten Themen wünschen, [...] wählt sich der Schriftsteller auch das ihm entsprechende Thema. [...] Von dem Schriftsteller wird aber etwas anderes verlangt als nur die Schilderung unserer Aufbauwerke und der damit verbundenen Arbeitsprozesse. Von ihm wird verlangt, daß er darstellt, was sich dabei im Innern der Menschen zuträgt« (KuW1, 106). Mit dieser Literaturauffassung zeigte sie sich auch offen gegenüber der westdeutschen Literatur (vgl. z. B. KuW1, 165) und gegenüber Autoren, die im ästhetischen Kanon der DDR nicht erwünscht waren (s. Kap. 39). Die Literatur galt ihr als ein rezeptionsästhetisch offenes Reflexionsmedium (»Es ist auch möglich, daß verschiedene Leser aus einem Buch etwas Besonders herauslesen, jeder etwas anderes«; KuW4, 103), das den Einzelnen zum Nachdenken anregen und solcherweise dann auch in gesellschaftlicher Hinsicht zur Lösungsfindung beitragen sollte: »Unaufhaltsam drängt die Kunst danach zu reflektieren. Und die Wirklichkeit drängt danach, reflektiert zu werden« (KuW1, 162). »Offene Fragen sollen gestellt werden« (KuW1, 157). Seghers’ kulturpolitisch-poetologische Reden spiegeln ihren lebenslangen Konflikt, »sowohl dem eigenen ästhetischen Gewissen als auch der Kunstpolitik ihrer Partei gehorsam« sein zu wollen – ein Konflikt, der »äußerlich nicht sehr auffällig, für sie gleichwohl existentiell« war (Schneider 2016, 730). Ihre Rolle war die einer Sachwalterin einer sich grundsätzlich innerhalb der sozialistischen Weltanschauung bewegenden, trotzdem aber eigenständigen und die Gesellschaft authentisch, d. h. mit allen Schwierigkeiten reflektierenden Literatur (s. Kap. 37). Sie betrachtete den Bitterfelder Weg sowie die Zensurpraxis kritisch (vgl. z. B. KuW1, 78, 158 f., 161 f.) und wies auf die Gefahr einer planmäßigen ideologischen Verdrängung hin: »Es ist falsch, ein Hehl zu machen aus unseren Mängeln. Unsere immer noch unerfüllten Wünsche zu verschweigen, zu verschleiern, was noch nicht erreicht wurde« (KuW1, 166). Jene Passagen, die ihre ablehnende Haltung gegenüber einem zu eng verstandenen sozialistischen Realismus zum Ausdruck brachten, umrahmte
sie stets beschwichtigend mit der gängigen sozialistischen Rhetorik, z. B. in ihrem Referat »Der Anteil der Literatur an der Bewußsteinsbildung des Volkes«: »Die Existenz der Sowjetunion greift zutiefst in die Literatur ein, ob es dem Autor bewußt ist oder nicht. Auch wenn er kein politisches oder soziales Thema berührt – es gibt kein Gebiet unseres Lebens, in dem nicht die Frage Krieg oder Frieden eine wichtige, ja die entscheidende Rolle spielt.« (KuW1, 111) »Hier in der Deutschen Demokratischen Republik erleben wir den Aufbau des Sozialismus mit seinen Problemen und Schwierigkeiten, und wir arbeiten mit am Aufbau mit unseren Fähigkeiten. Wir sind parteiisch und wir schreiben parteiisch.« (KuW1, 113)
Die im Umfeld von Schriftstellervereinigungen gehaltenen Reden waren an ein fachspezifisches Publikum bzw. an die Parteiführung und die Kulturfunktionäre adressiert und erreichten in der Regel nicht die breite Öffentlichkeit. Abgesehen von den nachträglich 1969 und 1970 publizierten Reden auf dem I. (1947) und II. (1950) Schriftstellerkongress wurden ihre Vorträge nach derzeitiger Quellenlage entweder in den entsprechenden Kongressakten veröffentlicht oder in Literaturzeitschriften wie der dem Schriftstellerverband angegliederten Zeitschrift Neue Deutsche Literatur. Eine Ausnahme bildete die betont anti-westliche Eröffnungsansprache 1952 auf dem III. Deutschen Schriftstellerkongress (KuW1), die in der Täglichen Rundschau abgedruckt wurde. Weitere im Kontext der Verbandstätigkeit konzipierte Reden sind noch zu erschließen (vgl. ASA Sign. 409, 416–417, 419, 422, 426, 428, 430–432, 439, 447). Grundsätzlich steht eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Seghers’ Reden und Vorträgen noch aus. Für eine solche bedarf es einer kritischen Sichtung, Überarbeitung und Ergänzung der bis dato unübersichtlichen und unzureichenden Quellenlage. Eine sorgfältige Edition aller Texte wird die von Fehervary/Spies seit 2000 im Aufbau Verlag herausgegebene Werkausgabe leisten, die neben Erläuterungen und Varianten auch entstehungs- und rezeptionsgeschichtliche Kontexte darbietet. Darauf werden profunde Forschungen aufbauen können, welche die mannigfachen Forschungsdesiderate dann bearbeiten und die bisher ungenutzten Quellen auswerten können. Zahlreiche noch offene Fragen wie die, warum Seghers ihre für den IX. Parteitag vorbereitete Rede »Die Rolle der Literatur in der sozialistischen Gesellschaft« (ASA Sign. 400) letztlich nicht hielt, werden
30 Vorträge und Reden
auf der Basis einer wissenschaftlichen Quellendarbietung zu beantworten sein. Literatur
Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausg. Berlin 2000. Gansel, Carsten: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961. Berlin 1996. Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984. Hähnel-Mesnard, Carola: Art. Formalismus-Debatte/Formalismus-Kampagne. In: Michael Opitz/Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/Weimar 2009, 94–96. Jäger, Andrea: Art. Sozialistischer Realismus. In: Michael Opitz/Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDRLiteratur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/ Weimar 2009, 319–322. Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriss. Köln 1982. Kaufmann, Eva: Art. Aufbau Literatur. In: Michael Opitz/ Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur.
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Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/Weimar 2009, 11–13 (= Kaufmann 2009a). Kaufmann, Eva: Art. Anna Seghers. In: Michael Opitz/ Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/Weimar 2009, 311–313 (= Kaufmann 2009b). Pamperrien, Sabine: Versuch am untauglichen Objekt. Der Schriftstellerverband der DDR im Dienst der sozialistischen Ideologie. Frankfurt a. M. [u. a.] 2004. Rüther, Günther: »Greif zur Feder, Kumpel«. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949–1990. Düsseldorf 1991. Schneider, Rolf: Anna Seghers. In: Wilhelm Kühlmann (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 10: Ros–Se. Darmstadt 22016, 730–733. Seghers, Anna: Frieden der Welt. Ansprachen und Aufsätze 1947–1953. Berlin 1953. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003.
Katharina Meiser
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31 Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937 Anna Seghers war über die Schweiz nach Frankreich geflüchtet, wo sie mit Unterbrechungen durch einige Reisen bis zum Herbst 1940 lebte. Frankreich wurde zum bevorzugten Exilland, weil es in den ersten Jahren der Hitlerdiktatur den politischen Flüchtlingen relativ große Freizügigkeit einräumte (vgl. Batt 1973, 84 f.). Sie musste wie viele andere deutsche Autor/innen Deutschland verlassen, um den Zuchthäusern und Konzentrationslagern zu entgehen. Autoren wie Willi Bredel, Carl von Ossietzky oder Ludwig Renn wurden eingesperrt, gefoltert oder gar wie Erich Mühsam zu Tode gequält. Anna Seghers’ Werke wurden gleich nach der Machtübertragung an Hitler auf die »Schwarzen Listen« gesetzt. Im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom16. Mai 1933, das sechs Tage nach der spektakulären Bücherverbrennung veröffentlicht wurde, steht auch ihr Name. Die Situation in Deutschland wurde immer bedrohlicher. »Ich verließ 1933 Deutschland, nachdem die Polizei mich schon einmal verhaftet hatte und mich unter ständiger Bewachung hielt« (Seghers 1947, 3). In ihren Aufsätzen und Reden finden sich nur spärliche Angaben über ihr persönliches Schicksal und sie machte es auch literarisch nicht zum zentralen Thema. Das bedeutete aber nicht, dass sie unter den Unbilden der Verbannung weniger litt als andere, denen die Emigration zum vorrangigen Schaffensproblem wurde. Neben ihrer immer wieder bescheinigten Charakterstärke und Geduld war es ihre kommunistische Weltanschauung, die dazu führte, dass sie die gegenwärtige politische Situation als vorübergehend begriff. Die Schwierigkeiten und psychologischen Strapazen, wie sie zum Beispiel Feuchtwanger in seinem Roman Exil (1940) beschrieben hatte, trafen auf sie nur teilweise zu. Das Deutschland der Weimarer Republik war für sie als Jüdin nie eine Heimat gewesen. Schon während der 1920er Jahre war sie mit kommunistischen Emigranten aus ost- und südosteuropäischen Ländern zusammengetroffen und kannte deshalb deren Probleme und Kämpfe. In Die Gefährten hatte sie anschaulich eine literarische Bearbeitung des Themas geliefert. Für Seghers wie für viele andere Autor/innen des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller war die Sowjetunion eine Hoffnung, eine Alternative. So wie Anna Seghers sich schon im Exil gegen dogmatisch verengte Kunst- und Literaturauffassungen ausgesprochen hatte, so rebellierte sie auch im Spät-
werk gegen einen engen Realismus-Begriff und entwirft z. B. phantastische Geschichten. In Sonderbare Begegnungen (1973) lässt sie in der Erzählung Reisebegegnungen Gogol, Kafka und E. T. A. Hoffmann zusammentreffen (s. Kap. 26). Die drei debattieren über wichtige Fragen der Kunst. Auf der Suche nach den vergessenen Autor/innen entdeckt Anna Seghers schließlich auch Kleist, Günderrode, Büchner, Hölderlin, Lenz und Bürger. Tolstoj, Dostojewskij, Dos Passos und Kafka wird sie als vorbildhaft für ihre Schreibkonzeption aufspüren (s. Kap. 38 und 39). Einen wichtigen Ansatzpunkt in diesem Zusammenhang bieten die Briefe an Georg Lukács vom Juni 1938 und vom Februar 1939. Es ging u. a. um Traditionsbeziehungen und um das Konzept des sozialistischen Realismus (s. Kap. 37). Seghers verteidigt jene Autor/innen, die in Übergangszeiten schrieben. Derartige Krisenzeiten seien in der Kulturgeschichte seit jeher durch enorme Stilbrüche, Experimente und sonderbare Mischformen charakterisiert. Um die Problematik zu verdeutlichen verweist die Autorin auf vergleichbare kunstgeschichtliche Perioden: »Als die Antike zusammenbrach, in den Jahrhunderten, in denen sich die christliche Kultur des Abendlandes eben erst entwickelte, gab es unsagbar viele Versuche, der Realität habhaft zu werden. [...] Vom Standpunkt der antiken Kunst aus, von der Blüte der mittelalterlichen Kunst aus, war das, was nachkam, der reinste Zerfall. Im besten Fall absurd, experimentell. Es war aber doch der Anfang zu etwas Neuem.« (Zit. nach Albrecht 1975, 47)
Die Problematik des Schriftstellers, der, von weltgeschichtlichen Umwälzungen erschüttert, um die Gestaltung seiner Grunderlebnisse ringt und sich auch auf die Gefahr seines Scheiterns den Weg in Neuland bahnt, ist ihr vertraut. Hier sieht Seghers Gemeinsamkeiten, die ihre Generation mit diesen teilweise vergessenen Dichter/innen verbindet und hier liegt auch die Basis für ihre Affinität zum eigenen Künstlertum. Mit ihnen fühlt sie sich enger verbunden als mit dem Klassiker Goethe. Gegenüber Lukács hatte sie sein von Goethe übernommenes Verdikt die Klassik sei gesund, die Romantik krank, kritisiert. Seghers lenkt den Blick auf die früh zugrunde Gegangenen, deren Schöpfungen von tiefen Disharmonien zerrissen sind und deren Lebenswerke Fragmente bleiben mussten. In Paris 1935 hatte sie ausgeführt: »Bedenkt die erstaunliche Reihe der jungen, nach wenigen übermäßigen Anstrengungen ausgeschiedenen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_31
31 Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937 deutschen Schriftsteller. Keine Außenseiter und keine schwächlichen Klügler gehören in diese Reihe, sondern die Besten: Hölderlin, gestorben im Wahnsinn, Georg Büchner, gestorben durch Gehirnkrankheit im Exil, Karoline Günderode, gestorben durch Selbstmord, Kleist durch Selbstmord, Lenz und Bürger im Wahnsinn.« (KuW1, 65 f.)
Sie konnten keine reifen Gesellschaftsromane schreiben wie Stendhal oder später Balzac. »Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land. Sie wußten nicht, daß das, was an ihrem Land geliebt wird, ihre unaufhörlichen, einsamen, von den Zeitgenossen kaum gehörten Schläge gegen die Mauer waren. Durch diese Schläge sind sie für immer die Repräsentanten ihres Vaterlandes geworden« (KuW1, 66). Mit der Verteidigung dieser Autor/innen sprach sie sich gegen die von Lukács propagierte geschichtsphilosophische Auffassung, seinen unhistorischen Demokratismus und sein Bestreben den kritischen Realismus Balzac’scher Prägung zum verbindlichen Muster zu erklären, aus. Damit verteidigte Seghers eine Schreibweise, die seiner Auffassung von sozialistischem Realismus nicht entsprach. Seine dogmatische Betrachtungsweise hatte eine lange folgenschwere Nachwirkung. Seghers setzte dagegen vehement auf die Notwendigkeit der künstlerischen Freiheit und Phantasie bei der Gestaltung neuer Grunderlebnisse im literarischen Kunstwerk. In Briefen an Lukács entwirft sie in den 1960er Jahren verstärkt ihren Ansatz realistischen Schreibens (vgl. KuW4, 164 f.). Bei der Ankunft deutscher Schriftsteller im Exil in Paris sagte Jean-Richard Bloch zu ihnen: »Vielleicht seid ihr selbst daran schuld, daß wir nur schwer verstehen, was bei euch vorgeht. Es fehlt eurer deutschen Literatur an den großen Romanen, die das Leben bei uns in Frankreich, in Rußland, in England, in Amerika erklären helfen« (KuW1, 153). Den Vorwurf nahm sie ernst und hat sich intensiv damit auseinandergesetzt. 1935 wird sie in ihren »Tagebuchseiten« vermerken: »Wir haben uns nicht ausreichend verständlich gemacht« (Seghers 1984, 7). In der Folgezeit bemühte sie sich um einen differenzierten Blick auf Deutschland und die gegenwärtigen Vorgänge im Land. Auch 1965 in ihrer Ansprache auf dem »Internationalen Schriftstellertreffen« in Weimar wird sie auf dieses Problem zurückkommen (KuW1, 147 f.). Im Exil in Mexiko arbeitet sie an ihrem Roman Die Toten bleiben jung, der aber erst 1949 erscheinen wird. Er ist der Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Faschismus und
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soll ein komplexes Gesellschaftsbild liefern. Mathias Bertram hat verschiedene Romane dieser Zeit verglichen und kommt zu dem Schluss: »keine andere literarische Epochendiagnose der Nachkriegszeit [bietet; H. S.-L.] ein so breites Spektrum von sozialen, politischen und psychologischen Erklärungen für den Faschismus wie ihr Roman« (Bertram 2000, 95). In diesem Roman hat sie den Bloch’schen von deutschen Autoren geforderten Anspruch verwirklicht (vgl. Berger 2000, 3).Und sie erarbeitet sich eine Strategie, die sie in ihren Reden in Paris darlegt. In ihrer ersten Rede 1935 spricht sie über »Vaterlandsliebe« und stellt klar, dass dieser Begriff nicht den Gegnern überlassen werden darf. Die Aufgabe des Schriftstellers sei es, ein Bild der aktuellen Zustände zu liefern, um aufzuklären: »Selten entstand in unserer Sprache ein dichterisches Gesamtbild der Gesellschaft. Große, oft erschreckende, oft für den Fremden unverständliche Einzelleistungen, immer war es, als zerschlüge sich die Sprache selbst an der gesellschaftlichen Mauer« (KuW1, 65). Der erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur fand vom 21.bis 25. Juni 1935 in Paris statt. Zuvor hatte Anna Seghers als Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) mit einer deutschen Delegation 1930 am Charkower Kongress teilgenommen. Diesem Bund war sie 1928 beigetreten, im gleichen Jahr wurde sie Mitglied der KPD. Der BPRS bot Seghers einen Internationalismus, den sie bereits in ihrer Jugend gesucht hatte, der aber stark an der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS) in der Sowjetunion orientiert war, zu dem die deutsche Gruppe um Johannes R. Becher, Biha, Egon Erwin Kisch, Alfred Kurella, Hans Marchwitza, Ludwig Renn, F. C. Weiskopf gehörte (vgl. Zehl Romero 2000, 229). Sie lernte Autor/innen aus aller Welt kennen und wird auch nach dem Exil vom internationalen »Kern alter Freunde« (ebd.) sprechen. Mit den deutschen Mitgliedern des BPRS, die in das sowjetische Exil gegangen waren, blieb sie auch nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in Kontakt. Zweifellos war sie eines der begabtesten Talente in dieser Gruppe. Mit einer unerschütterlichen Selbstsicherheit glaubte sie an ihre Begabung und konnte sich nur dadurch als Schriftstellerin und Frau gegenüber den führenden Multifunktionären der internationalen kommunistischen Literaturbewegung wie Johannes R. Becher oder den schreibenden Frauen um Brecht, aber auch gegenüber den Theoretikern des Bundes Lukács, Gabor oder Biha behaupten. In dieser Zeit stellte sie ihre schriftstellerische Arbeit mehr und mehr in den Dienst des Antifaschismus und der marxistischen Weltanschauung.
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III Reden, Publizistik, Briefe
Der Zweite Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur wurde im Februar 1937 in Madrid einberufen. Beide Kongresse hatten einen berühmten Vorgänger: Den ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller im August 1934 in Moskau. Anna Seghers hatte ausdrücklich offiziell bedauert, dass sie nicht teilnehmen könne, da sie intensiv an ihrem Roman Der Weg durch den Februar arbeite. Auf diesem Kongress wurde das zwei Jahre zuvor proklamierte Programm des sozialistischen Realismus diskutiert und bestätigt. Wichtiger kulturpolitischer Schwerpunkt war die Ausrichtung auf eine »Schriftstellervolksfront«, die ein Jahr später in Paris wirksam werden sollte. Unter dem immer stärker werdenden Eindruck der Gefahren, die in einer Anzahl von Ländern die Kultur bedrohten, haben Schriftsteller, wie Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg, Andrè Malraux, Andrè Gide, Jean-Richard Bloch und Paul Nizan den Aufruf zum Kongress zur Verteidigung der Kultur verfasst. Anna Seghers war an der Vorbereitung beteiligt. Dem Aufruf waren über 250 Teilnehmer aus 38 Ländern gefolgt. Auf diesem Ersten Internationalen Schriftstellerkongress in Paris fanden nachmittags und abends Diskussionsrunden statt. Diese Tagung gilt als der Gründungskongress der »Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur«, der auch der 1933 gegründete Schutzverband Deutscher Schriftsteller beitrat. Bei der Eröffnungsveranstaltung war der große Saal der Maison de la Mutualité trotz hoher Eintrittspreise voll besetzt. Zahlreiche Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland waren unter den 3000 Zuschauern. Wer keine Karten ergattern konnte, verfolgte die Reden über einen Lautsprecher draußen. Auf der Tagesordnung standen Themen wie »Das Kulturerbe«, »Nation und Kultur« und »Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft«. Unter den deutschsprachigen prominenten Exilant/ innen waren Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Anna Seghers. Ein Protokoll dieser Tagung existiert nur in russischer Sprache (vgl. KuW1, 278; hier auch Angaben zu weiteren Publikationen). Am 24. Juni in der Debatte über den Hauptbericht »Nation und Kultur«, den Henri Barbusse gehalten hatte, leiteten in der Nachtsitzung Martin Andersen Nexö und Jean Guèhenno die Diskussion. Seghers sprach in ihrem Beitrag über »Vaterlandsliebe«. Es war ihr erster auf einem internationalen Kongress. Die Rede wurde dem Tagungsordnungspunkt »Nation und Kultur« zugeordnet. Aus ihrem Heimatland, das sie bei aller Kritik aber auch als ihr Land begriff, vertrieben zu werden,
zwang sie ganz offensichtlich, sich mit der Idee »Vaterland« auseinanderzusetzen. Den schillernden Begriff nimmt sie zum Ausgangspunkt, um über die Dimensionen dieses Begriffs nachzudenken. Er war, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, ideologisch durch den Ersten Weltkrieg vereinnahmt und wurde ambivalent gebraucht. Seghers fasste den inflationären Begriff neu: antifaschistisch, positiv und vor allem sozial. Sie hatte sich als Reaktion auf den Chauvinismus des Ersten Weltkrieges kosmopolitisch orientiert. Durch ihre Hinwendung zum internationalen Kommunismus und der Idee einer Weltrevolution wird sich die Einstellung noch verstärken. Die Wahl ihres Themas kann deshalb auch nicht verwundern. Sie spricht assoziativ über einige wichtige relevante Themen. Das Spektrum ist breit, beginnend mit der gegenwärtigen bedrohlichen Situation der Kriegsvorbereitung in Deutschland. Es ist eine Standortbestimmung im Poltischen, Sozialen und Künstlerischen. »Fragt erst bei dem gewichtigen Wort ›Vaterlandsliebe‹, was an eurem Land geliebt wird. Trösten die heiligen Güter der Nation die Besitzlosen? ... Tröstet die ›heilige Heimaterde‹ die Landlosen? Doch wer in unseren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen demonstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte« (KuW1, 64 f.). Bei aller Verteidigung eines nationalen Vaterlandes appelliert sie an die Zuhörer/ innen: »Helfen wir Schriftsteller am Aufbau neuer Vaterländer« (KuW1, 66). Sie will einen Schulterschluss aller friedliebenden Völker, denn sie befürchtet den Ausbruch eines neuen Krieges: »Es ist nicht mehr, daß der Krieg nur droht, er verlockt auch. Der Mensch an der Stempelstelle, am laufenden Band, im Arbeitsdienstlager ist ein Niemand. Der dem Tod konfrontierte Mensch scheint wieder alles. In gewissem Sinne ist die Lüge wahr und deshalb furchtbar verlockend: ›Das Vaterland braucht dich‹« (KuW1, 65). Auch der Zweite Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Valencia-MadridBarcelona-Paris geht auf Ehrenburg zurück. Das Hauptanliegen des Kongresses war, die Schriftsteller/ innen zur aktiven Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und Faschismus aufzurufen. Am 3. Juli 1937 kamen die Delegierten in Valencia an. Am 4. Juli in der Nachmittagssitzung sprach als zweite Rednerin Anna Seghers, am 5. Juli ging die Fahrt nach Madrid und wegen der Kämpfe um die Stadt am 9. Juli zurück nach Valencia. Ehrenburg spricht von einem »Wanderzirkus«, der dann am 16. und 17. Juli in Paris mit zwei weiteren Sitzungen stattfand. In einem Brief vom Juli 1938 schreibt Anna Seghers an Alfred Kurella: »Heute
31 Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937
ist ein Jahr, dass wir nach Spanien fuhren. So kurz ich dort war, das war etwas Entscheidendes« (zit. nach Pichler 2017, 2). Diesen für sie bedeutenden und nachhaltigen Eindruck von Spanien betont sie auch in anderen Texten und Äußerungen, z. B. in dem nicht sehr umfangreichen Lebenslauf, den sie 1954 für ihre Kaderakte anfertigen musste. Pierre Radvanyi hat in den Erinnerungen an seine Mutter die Bedeutung des Schriftstellerkongresses in Spanien für sie ebenfalls hervorgehoben: »Sie erzählte mir auch von einem Augenblick, den sie für einen Wendepunkt in ihrem Leben hielt. Im Sommer 1937 war sie in Spanien unterwegs gewesen, um am Internationalen Schriftstellerkongreß teilzunehmen« (Radvanyi 2006, 126). »Das Entscheidende«, den »Wendepunkt« wird sie 1967 im Interview mit Wilhelm Girnus noch einmal betonen und weiter ausführen: »Nachdem ich ja daheim den Sieg des Faschismus ohne bewaffneten Kampf erlebt hatte, erlebte ich ihn nun dort, auch wenn es auf lange Zeit tragisch geendet hat, den bewaffneten Kampf. Und ich merkte, wie das die Menschen bis ins Innerste verändert und stärkt und umformt. Und einen starken Eindruck machten auf mich die Interbrigaden, zu denen ja auch viele mir bekannte deutsche Jungens und Schriftsteller gehörten.« (KuW3, 32)
Georg Pichler betont, wie wenig in Biographien und der Sekundärliteratur über ihren kurzen Aufenthalt in Spanien zu finden ist (vgl. Pichler 2017, 2). Ihre Rede ist in deutscher Sprache verschollen. Die russische Literaturwissenschaftlerin Tamara Motylowa fand sie in einer spanischen Zeitschrift und dadurch konnte eine Rückübersetzung erfolgen (vgl. KuW1, 279). Im Archiv der Akademie der Künste in Berlin ist Seghers’ Grußadresse in Spanisch und teilweise handschriftlich in Deutsch vorhanden (Anna-Seghers-Archiv, Signatur 445). Das Grußwort wurde nicht zusammen mit anderen Texten von Teilnehmer/innen in der Zeitschrift Das Wort abgedruckt, obwohl die weniger bekannte Maria Osten berücksichtigt wurde. Als Ursache vermutet Pichler Unstimmigkeiten. Bis heute sind die Aussagen und Publikationen über den Kongress nicht faktensicher. Es kam auch nachweislich zu keiner gefestigten Internationalität. Wolfgang Klein hat die Kontroversen konkreter benannt (vgl. Klein 2009, 99 f.) und Doris Danzer die unterschiedlichen Beziehungen der Intellektuellen beschrieben (vgl. Danzer 2012). Die Bedeutung des Kongresses kann man auch daran ermessen, dass der Ministerpräsident des republi-
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kanischen Spanien, Juan Negrin, den Kongress eröffnete. Willi Bredel, Redakteur der Zeitschrift Das Wort, war bemüht, den Kongress international bekannt zu machen. Er schrieb nicht nur das Vorwort »Valencia Juli 1937«, sondern publizierte in den Nummern neun und zehn insgesamt 25 Reden von internationalen Teilnehmern zusammen mit Zeichnungen, die Frontzeitungen des spanischen Freiheitsheeres entnommen waren. Die Deutschen stellten das größte Schriftstellerkontingent dar und von den neun Kongressteilnehmern, die im spanischen Bürgerkrieg kämpften, waren acht Deutsche: Theodor Balk, Willi Bredel, Hans Marchwitza, Gustav Regler, Ludwig Renn, Kurt Stern, Erich Weinert und Bodo Uhse. Außerdem sprachen noch Hans Kahle, Kommandeur der 11. Internationalen Brigade, Maria Osten, die die Organisation der Internationalen Brigaden übernommen hatte, Ernst Busch, der mit seinen revolutionären Liedern an den Frontabschnitten wirkte und Egon Erwin Kisch, der mehrere Reportagen über den Bürgerkrieg in Spanien geschrieben hatte und sich größtenteils bei seinem Bruder Friedrich, der als Chefarzt der Hospitäler der Internationalen Brigaden tätig war, aufhielt. Alle deutschen Teilnehmer/innen waren längere Zeit in Spanien, nur Seghers kehrte kurz nach ihrem Auftritt zurück nach Paris. Von hier aus war sie auch zum Kongress angereist. In der Rückerinnerung wird sie über die Kongressfahrt schreiben, dass sie sich »sorglos und arglos wie Schulkinder auf einem Ausflug« (zit. nach Pichler 2017, 9) vorkamen. In ihrer kurzen Erzählung Wiedersehen (1937) ist der Kongress als Hintergrund präsent. Organisiert wurde der Kongress von der Internationalen Allianz antifaschistischer Intellektueller zur Verteidigung der Kultur, der für das kulturelle Leben im bedrohten Spanien von großer Wichtigkeit war. Es wurden zwölf Diskussionsthemen vorgeschlagen: »Die Aktivität der Schriftstellervereinigung«, »Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft«, »Die Würde des Denkens«, »Das Individuum«, »Humanismus«, »Nation und Kultur«, »Die Probleme der spanischen Kultur«, »Kulturerbe«, »Die literarische Schöpfung«, »Die Verstärkung der kulturellen Bindungen« und »Hilfe für die spanischen republikanischen Schriftsteller«. Die etwa 200 Teilnehmer/innen kamen aus 28 Ländern und kommunizierten in verschiedenen Sprachen, da nur wenige Spanisch sprachen (KuW4, 21 f.). Anna Seghers trat am 4. Juli als zweite Rednerin in der Nachmittagssitzung nach dem US-amerikanischen Autor Malcolm Cowley auf. Sie grüßte die deutschen Kameraden der Internationalen Brigaden und erinnerte an
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Hans Beimler, der am 1. Dezember 1936 in Madrid gefallen war. Seghers betonte die Bedeutung des Schriftstellers im gegenwärtigen Kampf und hob hervor, dass in Spanien für die Freiheit der ganzen Welt gekämpft werde. War der Schwerpunkt des Kongresses 1935 in Paris auf eine theoretische Standortbestimmung der antifaschistischen Schriftsteller fokussiert, so ging es auf dem Kongress in Spanien um die aktuelle historisch-realpolitische Dimension. Er war, wie Weinert es formulierte »eine manifeste Kampfansage an den Weltfaschismus« (vgl. Pichler 2017, 8). So erklärte auch Ludwig Renn: »Wir Schriftsteller an der Front haben die Feder aus der Hand gelegt, denn wir wollen nicht mehr Geschichte schreiben, sondern Geschichte machen« (ebd.). Seghers’ Rede wurde in einem Organ der anarchistischen Publikation Nosotros (Wir) am 5. Juli abgedruckt. »Der andere Delegierte [nach Malcolm Cowley; H. S.-L], der einen wahrhaft revolutionären Eindruck machte, war Anna Seghers. Sie spricht von der illegalen Arbeit in Deutschland, vom wahren Antifaschismus der Tat, vom einzigen Weg, der sich für die revolutionären Schriftsteller auftut, die heute der Sache des Volkes zu dienen haben. Anna Seghers hat die Situation gerettet. Wir zollen ihr unsere Achtung in aller Aufrichtigkeit und mit umso größerer Dankbarkeit, als sie unsere Sicht nach den einzigen Ausdruck von Kultur dargestellt hat, der darstellenswert ist: die revolutionäre und ungeschwätzige proletarische Kultur.« (Zit. nach Pichler 2017, 10)
Seghers’ »Gruß an den II. Internationalen Schriftstellerkongreß 1937« erschien bald als Übersetzung in der Augustnummer der Zeitschrift Hora des España (Die Stunde Spaniens). Es wurden sechzehn Beiträge abgedruckt, als einziger deutscher und als einziger Beitrag einer Frau nur ihrer. In ihrem Text mit dem Titel »Zum Schriftstellerkongreß in Madrid« (1937), der in Die Internationale gedruckt wurde, zog sie ein Resümee über die literarische und politische Bedeutung der Zusammenkunft. Die Zeitschrift erschien als Tarnschrift unter dem Titel »Reclams Universalbibliothek«. Vollst. Verzeichnis Nr. 1–7310. August 1935, Leipzig 1937 (KuW4, 211). Seghers fordert eine antifaschistische Einheit unter der Leitung der Kommunistischen Partei, die für sie den einzigen Ausweg aus dem furchtbaren Ernst der Lage zeigen könne. Gleichzeitig mahnt sie, das passive Motto des Kongresses zur Verteidigung der Kultur aufzubrechen zugunsten einer schöpferischen Darstellung dessen, was geschaffen werden
müsse. »Hier haben viele Diskussionen in Madrid eingesetzt: mehr und mehr zu zeigen, wofür wir kämpfen als wogegen, nicht nur Kultur zu verteidigen, sondern aufzubauen« (KuW4, 26). In ihrer Rede am 25.7.1938 in Paris auf der Außerordentlichen Konferenz der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur, der im Anschluss an den Weltfriedenskongress in Paris (23.– 24.7.1938) stattfand, wird sie ihre Strategie folgendermaßen formulieren: »Alle Grundfragen heißen letzten Endes: Warum? und Wofür? und nie: Warum nicht? und Wogegen? Wir sind nicht anders durch das Vorsetzen der Silbe ›anti‹, sondern, indem wir von Grund auf anders sind. [...] Einer Jugend, die der Faschismus daran gewöhnt hat, vom ›Gefährlichen Leben‹ zu träumen, müssen wir eine von Grund auf andre Konzeption des Lebens bieten: eine Wahrheit, die weit verführerischer ist als die Lüge, das Aufsichnehmen von Gefahren für die Wahrheit. Statt dem ›Gefährlichen Leben‹, wie es von den Jünger und Dwinger besungen wurde, jenes andere, das gelebt wurde von Mühsam und Ossietzky.« (KuW1, 68)
Ihr Konzept zeugt von der Auffassung, dass Schriftsteller eine wehrhafte Haltung einnehmen müssen, um Einsichten von politischem Kampf, Schreibstrategie und Aufklärung zu erreichen. An diesem Punkt ist wohl auch ›der Wendepunkt‹ ihres Lebens, von dem der Sohn Seghers’ mit Bezug auf ihren Spanienaufenthalt spricht, zu verorten. Es ist die Erfahrung eines gelebten, aktiven Widerstandes gegen den Faschismus. Diese persönliche Erfahrung wirkt nachhaltig insofern, als viele Figuren ihres späteren Werkes Züge dieses Ideals tragen. Ihre Biografin Christiane Zehl Romero verweist darauf, dass sie kämpferischen Humanismus und internationale Solidarität als Verpflichtung eines Schriftstellers in den Kämpfen seiner Zeit betrachtete (vgl. Zehl Romero 2000, 226 f.). Aber bei allem kämpferischen Humanismus und internationaler Solidarität gab es kaum noch Einflussmöglichkeiten nach Deutschland hinein. Als historische Wahrheit ist zu konstatieren: Der kommunistischen Bewegung ist es nicht wirklich gelungen, Patriotismus und Heimatverbundenheit zu entwickeln, wie es Anna Seghers und andere forderten. Eine Ausnahme ist der Große Vaterländische Krieg in der Sowjetunion. Konflikte mit internationalistischen Grundhaltungen, der Erfahrung von proletarischer Heimat- und Vaterlandslosigkeit und vor allem die Einstellungen zur sozialen Frage und den Eigentumsvorstellungen neuer
31 Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937
Art behinderten geradezu, die Begriffe von Vaterland, Volk oder Heimat tatsächlich neu zu besetzen. Sie konnten die Massen nicht erreichen. Literatur
Albrecht, Friedrich: Originaleindruck Hercules Seghers. In: Kur Batt (Hg.): Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Berlin/Weimar 1975, 29–53. Batt, Kurt (Hg.): Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Berlin/Weimar 1975. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Berger, Christel: »Wir sind nicht anders durch das Vorsetzen der Silbe ›anti‹ sondern, indem wir von Grund auf anders sind.« Anna Seghers und der Antifaschismus. Ein Streifzug durch ihr Werk. In: Informationen Nr. 52, November 2000, 1–5. Bertram, Mathias: Literarische Epochendiagnosen der Nachkriegszeit. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960). Berlin 2000. Danzer, Doris: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Bindungen (1918–1960). Göttingen 2012. Klein, Wolfgang (Hg.): Paris 1935. Reden und Dokumente.
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Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Berlin 1982. Klein, Wolfgang: Nachtrag zu Paris 1935. In: Weimarer Beiträge 31/6 (1985), 899–900. Klein, Wolfgang: Die Rezeption des Schriftstellerkongresses 1937 in der DDR. In: Wolfgang Asholt/Rüdiger Reinecke/ Susanne Schlünder (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg in der DDR. Strategien intermedialer Erinnerungsbilder. Frankfurt a. M. 2009. Neue Deutsche Literatur, Heft 9. Berlin 1984 [NDL]. Pichler, Georg: »...das war etwas Entscheidendes«. Anna Seghers und der II. Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Valencia und Madrid. In: http://www.kfsr.info/2017/02/das-war-etwasentscheidendes-anna-seghers-und-der-ii-internationaleschriftstellerkongress-zur-verteidigung-der-kultur-invalencia-und-madrid-von-georg-pichler/ (4.4.2019). Radvanyi, Pierre: Jenseits des Stroms: Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Berlin 2006. Seghers, Anna: Sechs Tage, sechs Jahre. Tagebuchseiten. In: Neue Deutsche Literatur 32/9 (1984), 5–9. Seghers, Anna: Der erste Schritt. In: Tägliche Rundschau, 24.4.1947. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Hannelore Scholz-Lübbering
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III Reden, Publizistik, Briefe
32 Essays und Zeitschriftenprojekte
Quellenlage und Zugänglichkeit
»Publizistik ist immer Aktion«, heißt es im Handbuch Publizistik (Dovifat 2018, 5); ein auf die Öffentlichkeit bezogenes Handeln, das immer aktuell, weil auf das Zeitgeschehen orientiert ist. Will man sich mit Publizistik beschäftigen, dann sind, so Emil Dovifat (1890– 1969), einer der Begründer der Publizistikwissenschaft, drei Aspekte zu klären: die Frage nach der Öffentlichkeit, nach der (jeweiligen) Aktualität und nach der dazugehörigen Gesinnung. Denn Publizistik verlangt einen Standpunkt zum Tagesgeschehen, der aber nur in vollem Umfang veröffentlicht werden kann, wenn die freie Meinungsäußerung gewährleistet ist (vgl. Dovifat 2018, 6–8). Seine Überlegungen sind – das Handbuch erschien erstmals 1968 – vor dem Hintergrund der damaligen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Totalitarismus der Parteidiktatur der DDR zu sehen. Man könnte sie ebenfalls auf die Weimarer Republik und die Zensur-Debatten beziehen, die in den 1920er Jahren die deutsche Öffentlichkeit prägten. Die Weimarer Reichsverfassung schützte zwar erstmals die Meinungsfreiheit, allerdings kam es immer wieder zu strafrechtlichen Verfolgungen von vor allem linker und kommunistischer Publizistik. Es ist der Beginn des Zeitalters der Extreme, einer Zeit, die den Kollaps der Werte und Institutionen der liberalen Gesellschaft mit sich brachte (vgl. Hobsbawm 1995, 143–183). Dieser Hintergrund bestimmt den Beginn und die weitere Entwicklung von Anna Seghers’ publizistischer Tätigkeit. Dieser zeithistorische Horizont prägte ihren gesellschaftlichen und politischen Standpunkt, der sie zur prominentesten Vertreterin der sozialistischen Literatur machen sollte (vgl. Brandes 1998). Anders als im literarischen Werk steht in ihrer Publizistik das gesellschaftliche Engagement über den ästhetischen, die Gestaltung betreffenden Fragen, weshalb die Beiträge aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugschriften und Büchern zum Zeitgeschehen eher als Alltagsprodukte bzw. Texte zu sehen sind, die im Kontext ihrer Entstehungszeit gelesen werden sollten. Das verhindert nicht, dass man in Seghers’ Publizistik Aussagen zu übergreifenden Themen ihres Werkes finden kann, mit denen sich dann Konstanten und Brüche in ihren Anschauungen nachzeichnen lassen. Gerade deshalb ist bei der Beschäftigung mit diesen Texten aber das Verständnis des jeweiligen zeithistorischen Kontextes von entscheidender Bedeutung.
Seghers’ publizistische Arbeiten sind umfassend und thematisch vielfältig, erschließen sich heutigen Lesern gleichwohl hauptsächlich über Sammlungen, die in der DDR erschienen und ihr Werk an die dort herrschende Ideologie adaptierten. Die vollständigste ist die im Akademie-Verlag Berlin von Sigrid Bock herausgegebene vierbändige Ausgabe Kunst und Wirklichkeit (1970/71, 1977). Sie resultierte aus einer systematischen Durchsicht aller Bock zugänglichen Zeitungs-, Buch- und Archivmaterialien (vgl. KuW1, 5) und bildet damit eine unverzichtbare Grundlage für alle einschlägigen Beschäftigungen mit den theoretischen, poetologischen und publizistischen Äußerungen der Autorin (s. Kap. 35). Gleichwohl ist eine Neuedition des Seghers’schen publizistischen Werks aus verschiedenen Gründen nötig. Einige ergeben sich aus der heutigen Quellenlage, die eine Reihe von Texten zugänglich macht, die Bock nicht kannte bzw. nicht berücksichtigen konnte. Andere ergeben sich – darauf wies Kurt Batt bei Erscheinen der ersten drei Bände 1971 in seiner Rezension in der Literaturzeitschrift ndl hin – aus Bocks Konzeption und Umgang mit dem Quellenmaterial. Batt bemängelte zu Recht an der Ausgabe, die ihm zum wissenschaftlichen Gebrauch gedacht schien, dass es Textkürzungen gibt, die einen Abgleich mit der jeweiligen Erstausgabe nötig machen. Die thematische Gliederung, die Bock vornahm, erschien ihm weniger fragwürdig als der Herausgeberin selbst, denn die »augenscheinliche Inkonsistenz [der Bände] ergibt sich aus dem Charakter der Seghersschen Publizistik selbst, aus ihrer breiten Fächerung wie aus dem Umstand, daß Aktualität und Geschichte, Politik und Kunst stets miteinander verflochten sind« (Batt 1971, 142). Die von Bock angebrachte Gliederung, die die Chronologie der Entstehung durchbricht, böte insgesamt zu wenig Orientierung. Zwar steht am Ende jedes Beitrags die jeweilige Entstehungszeit und es wird im Kommentarteil noch eingehender auf den jeweiligen Kontext eingegangen, aber erst der 1977 erschienene vierte Ergänzungsband, der mit einem chronologischen Werkverzeichnis aller Erstveröffentlichungen abschließt, gewährt diesen unverzichtbaren Überblick. Die Übersicht zeigt zudem, welche Beiträge zum damaligen Zeitpunkt nicht erfasst wurden. In der neuen, seit 2000 erscheinenden Werkausgabe des Aufbau Verlags, die von Helen Fehervary und Bernhard Spies herausgegeben wird, sind vier Bände für die theoretischen, essayistischen und publizisti-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_32
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schen Schriften von Anna Seghers vorgesehen. Sie sollen chronologisch erschlossen werden, denn, so Bernhard Spies: »Die Erfahrungen mit der Arbeit an den bisherigen Bänden hat die Chronologie, so äußerlich sie bisweilen scheint, als wertvollen Helfer bei der Konzentration auf die ursprünglichen Darstellungsformen und Intentionen von Anna Seghers erwiesen« (Email an Y. D. vom 22.3.2019). Die Komplexität der Aufgabe, die sich aus der Notwendigkeit eines Herausgeberkommentars ergibt, der nicht nur die Entstehungszeit, sondern auch die Intention der Autorin sowie alle Anspielungen und Namensnennungen erfasst, bedarf jedoch einer finanziellen Förderung, die es derzeit nicht gibt, weshalb dieses Editionsprojekt innerhalb der Werkausgabe zurückgestellt ist. Aus den bisherigen Erörterungen wird deutlich, dass es derzeit nur in Ansätzen möglich ist, Seghers’ Publizistik zu skizzieren. Außerdem sind deren thematische Schwerpunkte weniger auf ihr literarisches Werk zu beziehen, als vielmehr auf die Aktualität der jeweiligen Ereignisse, um so Seghers’ Reaktion Rechnung zu tragen. Das geschieht auch in bewusster Abgrenzung zu der bemerkenswerten Neulektüre des Seghers’schen Werks, die Helen Fehervary 2001 vorlegte. Da, wo Fehervary auf die Bedeutung von Themenkomplexen, Bezugspersonen und daraus entstehenden Interpretationszusammenhängen hinweist, die in der Rezeption bis dahin vernachlässigt worden waren, finden sich bei der Beschäftigung mit ihrer Publizistik nur bedingt Anknüpfungspunkte. Während die literarische bzw. literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der mythischen Dimension in ihrem Werk für eine Revision des Gesamtwerks entscheidend ist, wie Fehervary überzeugend gezeigt hat, spielt das für Seghers’ am jeweiligen Zeitgeschehen orientierte Publizistik kaum eine Rolle.
Die Sowjetunion als gesellschaftliche Alternative Gemeinhin gilt Seghers’ Rezension zu Fedor Gladkows Roman Zement (1925) als ihre erste publizistische Arbeit. Der Roman war 1927 in einer deutschen Übersetzung von Olga Halpern im Verlag Literatur und Politik (auch: VLP oder Litpol) erschienen. Der Verlag stand seit seiner Gründung 1924 der kommunistischen Partei nahe und gab programmatische Texte wie etwa die ersten, vom Moskauer Lenin-Institut autorisierten, Bände von Lenins Ausgewählten Werken heraus. Liest man die Rezension, dann erfährt man relativ wenig
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über den Roman, dessen Handlung sich um eine junge Frau, Dascha, und ihr Leben in der gerade gegründeten Sowjetunion entwickelt. Sie verkörpert den Typ des sozialistischen Helden bzw. der Heldin, wie sie der sozialistische Realismus hervorbrachte: allesamt Protagonisten, die im Alltag stehen und diesen als positive Identifikationsfiguren meistern. Seghers wählt in ihrer Rezension die Perspektive von Daschas Mann Gleb, eines Revolutionärs, der von der »roten Front« zurückkommt und nun mit der Veränderung konfrontiert wird, die der gesellschaftliche Umbruch nach der Revolution verursachte, was sich vor allem am Verhalten seiner Frau zeigt. Seghers hält sich kaum mit der Handlung auf. Vielmehr wird der Roman in ihrer Besprechung zum Paradigma für den »revolutionären Alltag«, der, entsprechend der Gesetzmäßigkeit der marxistisch-leninistischen Teleologie, dieses Stadium der Geschichte bestimmte. Damit offenbart sich zugleich etwas von ihrem Weltbild und ihrem Verständnis von Literatur. Die Literatur begleitet die gesellschaftliche Veränderung in kritischer Reflexion und hilft, die sozialen und ideologischen Konflikte (das ist ein wichtiges Thema der Seghers’schen Poetologie) zu verstehen. Literatur bekommt so eine gesellschaftliche Funktion, die aus einem aufklärerischen Antrieb resultiert und den Schriftstellern/innen zudem eine im Grunde pädagogische Aufgabe zuweist. Seghers’ Rezension ist Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Positionierung, die sie zu jener Zeit vollzog: Durch ihre Heirat mit Lászlo Radványi 1925 und ihren Eintritt in die KPD und in den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS), die 1928 folgten, stellte sie ihre Arbeit in den Dienst des Kommunismus. Gleichwohl verrät der Publikationsort der Buchbesprechung noch etwas von dem liberal-bürgerlichen und zugleich jüdisch geprägten Rahmen, der Seghers’ Herkunft aus dem Frankfurter RheinMain-Gebiet bestimmte. Die Rezension erschien am 22.5.1927 in der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, jener Zeitung in der Seghers auch ihre ersten Erzählungen Die Toten auf der Insel Djal und Grubetsch veröffentlicht hatte. Ihr muss schnell klar geworden sein, dass sie so nicht die Leserschaft erreichte, um die es ihr ging: jene Menschen, die unter den gesellschaftlichen Konflikten am stärksten leiden, »verzweifelte und untergehende Menschen« (so Seghers in »Selbstanzeige«; KuW2, 11), die Hilfe und Unterstützung brauchen und die, wie sie, an die Revolution glaubten, mit der sich die Gesellschaft zum Kommunismus ändern sollte. Mit der Wahl der Publikationsorgane fällt auch die Entscheidung, welche Öffentlichkeit Seghers als Kom-
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III Reden, Publizistik, Briefe
munistin erreichen wollte. Die wenigen publizistischen Arbeiten, die in den darauffolgenden Jahren in Deutschland veröffentlicht wurden, erschienen dann bereits in kommunistischen Zeitungen und Zeitschriften wie Die Linkskurve, herausgegeben vom BPRS, oder dem Zentralorgan der KPD, Die Rote Fahne. Später, während der Jahre im mexikanischen Exil, sollte ihre jüdisch-deutsche Identität wieder stärker in den Vordergrund rücken. Die Beiträge, die Seghers in der Weimarer Republik verfasste, waren jedoch von der Aktualität der Entwicklung in der Sowjetunion bestimmt. Sie stehen in einem breiteren Kontext der außenpolitischen Annäherung Deutschlands an die Sowjetunion, die 1920 mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern begann und 1922 durch den Vertrag von Rapallo, mit dem auch, wie man heute weiß, ein geheimes Rüstungsprogramm besiegelt wurde, seine Fortsetzung fand und 1926 mit dem deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag eine gewisse Kontinuität erlangte, die neben Handelsvereinbarungen auch Deutschlands Neutralität bei einem Krieg der SU gegen einen Drittstaat zusicherte. Eine Ahnung dieser politischen Hintergründe bekommt man, wenn man Seghers’ Antwort auf eine Rundfrage liest, die das Internationale Büro für revolutionäre Literatur in Moskau 1930 in Vorbereitung auf die II. Charkower Schriftstellerkonferenz initiiert hatte. Bock beginnt damit unter dem Titel »Originaleindruck Sowjetunion« den dritten Band zur Seghers’ Publizistik: »Im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion ist es die Pflicht jedes ehrlichen Menschen, sich klar und bestimmt auf die Seite der Sowjetunion zu stellen, und sie mit allen Kräften zu verteidigen« (KuW3, 11). Um welche konkrete Kriegsgefahr es sich handelte, erschließt sich weder aus dem Text noch aus dem Herausgeberkommentar, weshalb die Hintergründe dieser Aussage diffus bleiben. Sie sind aber keineswegs nur in defensiver Hinsicht zu verstehen, denn mit der Revolution im Oktober 1917, in deren Folge die Sowjetrepublik gegründet wurde, verband die kommunistische Partei durchaus die Hoffnung auf eine weltumspannende Bewegung. Sowjet bedeutet ›Rat‹ und mit Räterepubliken wurde unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen europäischen Ländern experimentiert. So war z. B. die gescheiterte Räterepublik in Ungarn der Grund, der László Radványi und mit ihm viele andere Ungarn ins Exil nach Deutschland führte (vgl. Karádi/Vezér 1985). Mit der Idee einer Revolution verband sich in dieser Zeit für viele in Europa die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung und es entstand, angesichts des großen ge-
sellschaftlichen Aufschwungs in der SU, ein großes Interesse an den Entwicklungen dort. Reiseberichte über die Sowjetunion waren populär und vermitteln heute noch eine Idee, welchen Optimismus die Ereignisse in diesem Land weckten. So meinte etwa Franz Carl Weiskopf (1900–1955) in seiner Reportage mit dem visionären Titel Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927), dass die Sowjetunion in der Entwicklung der Menschheit allen anderen Ländern voraus sei. Der ›rasende Reporter‹ Egon Erwin Kisch (1885–1948) nahm sich 1925/26 ein halbes Jahr die Zeit, um das Land kennenzulernen und berichtete in Zaren, Popen, Bolschewiken (1927) über seine Erfahrungen. In diesem Zusammenhang sind Anna Seghers’ erste Beiträge über die Sowjetunion zu sehen. In Artikeln wie »Die Kriegsgefahr ist eine konkrete Gefahr« oder »Zwangsarbeiter?« verarbeitet sie Erfahrungen, die sie selbst 1930 auf einer ersten Reise in dieses Land gemacht und die bei ihr einen sehr tiefen Eindruck, im Rückblick ist von einem »Original-Eindruck« die Rede (KuW3, 24–26), hinterlassen hatte. Ihre Reise, die im Zusammenhang mit dem II. Schriftstellerkongress in Charkow steht, wurde organisatorisch durch die Gründung des BPRS möglich, der offizielle Delegationen in das Land schickte. Mit dieser Reise knüpfte Anna Seghers eine bleibende Beziehung zu diesem Land, die in ihrer Publizistik ihren Niederschlag fand und sie regelmäßig auf das Thema zurückkommen lässt (vgl. z. B. die Reportage »Sowjetmenschen«, 1948).
Exil in Frankreich: Mitarbeit an der deutschsprachigen Exilpresse Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 und dem Beginn ihres Exils ändert sich Anna Seghers’ publizistische Tätigkeit. Sie gilt nun der Bildung einer antifaschistischen Widerstandsfront, an der Schriftsteller, ihrer Ansicht nach, mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Anteil hatten. Politischer und literarischer Auftrag fallen dabei logischerweise zusammen, was sich z. B. an einer der ersten Exilzeitschriften, den in Paris erscheinenden Neuen Deutschen Blättern (1933– 1934) zeigen lässt, in deren Redaktion Anna Seghers mitarbeitete. Es war die marxistischste unter den liberalen Literaturzeitschriften, die von Wieland Herzfelde (1896–1988) herausgegeben wurde. Entsprechend ihrer Zielstellung galt es, Schriftstellern das richtige Klassenbewusstsein zu vermitteln, und das bedeutete, den Kampf gegen den Faschismus als »Frontalangriff
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des Finanzkapitals gegen die Arbeiterschaft« (1933/34, Nr. 11, 652; zit. nach Maas 1990 [Bd. 4], 191) zu begreifen und damit eine politische Perspektive aus entschieden kommunistischer Sicht einzunehmen. Unter dem Druck der damaligen politischen Situation und den Erfahrungen mit der Emigration verschob sich allerdings die auf die Zukunft einer neuen kommunistischen Gesellschaft gerichtete Perspektive auf die Darstellung historischer Kontinuitäten der deutschen Geschichte, die einen Gegensatz zur nationalsozialistischen Ideologie und der damit verbundenen Gewaltherrschaft bildeten. Gerade in diesem Zusammenhang wird, wie etwa in »Illegales legal« (1938; KuW1, 185 f.), die Bedeutung der deutschen Kultur und ihrer Klassiker für Seghers ein zentrales Thema, mit dem sie außerdem beginnt, individuelle Schicksale wie das Heinrich von Kleists (1777–1811), Karoline von Günderrodes (1780–1806), Georg Büchners (1813–1837) oder Heinrich Heines (1797–1856) aus der Frühphase der Bildung des deutschen Nationalstaates Anfang des 19. Jahrhunderts als symptomatische Folgen des deutschen Sonderwegs zu deuten. Mit Blick auf die drei für die Publizistik wesentlichen Aspekte wird mit dem Beginn des Exils in Frankreich die Frage nach der Öffentlichkeit virulent, denn auf ihre bisherigen Publikationswege konnten die Emigranten nicht bauen. Zum einen sind es die von der Sowjetunion unterstützten kommunistischen Presseorgane wie Internationale Literatur. Deutsche Blätter (1933–1945), Das Wort (1936–1939) und Deutsche Zentral-Zeitung (1927–1939), in denen Seghers in jener Zeit schrieb. Zum anderen publizierte sie auch in den im Exil neugegründeten Zeitungen und Zeitschriften wie beispielsweise Die neue Weltbühne (1933– 1939) oder in der vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Ausland seit Oktober 1933 in Paris herausgegebene Zeitschrift Der deutsche Schriftsteller (1934–1938); hier ist auch »Illegales legal« erschienen. Die Internationale Literatur wurde von der 1930 gegründeten Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS) in Moskau in verschiedenen Sprachen herausgegeben. Chefredakteur der deutschen Ausgabe war zunächst Hans Günther (1899– 1938), ab 1935 Johannes R. Becher (1891–1958). In dieser Zeitschrift erschienen von Anna Seghers u. a. erstmals das Hörspiel Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen (1937), die Sagen der Artemis (1938) sowie der öffentliche Briefwechsel, den Anna Seghers 1939 von Paris aus mit Georg Lukács im Rahmen der Expressionismus-Realismus-Debatte geführt hatte (s. Kap. 36). Lukács hatte sie, das sollte nicht vergessen werden,
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über László Radványi als Mitglied des 1919 emigrierten Budapester Sonntagskreises kennengelernt. Die Beispiele zeigen, dass ihr diese Foren nicht nur zur politischen Stellungnahme dienten, sondern dass sie dort auch Literarisches publizierte und sich zu literaturästhetischen Fragen äußerte. Das gilt für ihre Beiträge in der literarischen Monatszeitschrift Das Wort, deren Gründung auf dem ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris initiiert wurde und die ebenfalls in Moskau erschien. Sie wurde von Bertolt Brecht (1898– 1956), Lion Feuchtwanger (1884–1958) und Willi Bredel (1901–1964) herausgegeben. Die Chefredaktion hatte Fritz Erpenbeck (1897–1975) inne, der 1935 mit seiner Frau Hedda Zinner (1905–1994) ins Exil in die Sowjetunion gegangen war. In Das Wort erschienen u. a. Die schönsten Sagen des Räuber Woynok (1938), die auf den ersten Blick nicht mit der antifaschistischen Front zu vereinbaren sind. Auf die Bedeutung der Märchen und Sagen im Seghers’schen Werk und in ihrer Poetik wurde verschiedentlich aufmerksam gemacht. Helen Fehervary zeigt mit ihren Erläuterungen, dass Seghers hier an eine Diskussion anknüpft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Budapester Sonntagskreis geführt wurde und die sowohl von Lukács’ Begeisterung für die chassidischen Legenden wie von der Beschäftigung Anna Lesznais (1885–1966) mit Volksmärchen beeinflusst ist (vgl. Fehervary 2001, 122–147; zu Lesznai vgl. Karádi/Vezér 1985, 129–140). Es war eine keineswegs unkritische Auseinandersetzung, wie man aus beiläufigen Bemerkungen Anna Seghers an anderen Stellen, etwa in dem 1943/44 verfassten Essay über das »Freie[] Deutschland 1792« entdecken kann, in dem es heißt: »Die Hausfrau beschließt Märchen zu erzählen, um all die ewigen politischen Streitereien abzuschließen« (KuW3, 207). Von ganz anderer Art waren Seghers’ Beiträge in der Deutschen Zentral-Zeitung, dem ebenfalls in Moskau erscheinenden Organ der deutschen Sektion der Kommunistischen Internationale, jener internationalen Organisation kommunistischer Parteien, mit der die Weltrevolution vorangetrieben werden sollte. Hier erschien u. a. am 1.8.1936 unter dem Titel »Unsere Wahrheit muss mächtiger sein« eine Stellungnahme gegen Krieg und Faschismus, die die Kriegserklärung des Deutschen Kaiserreichs gegen Russland 1914 zum Ausgangspunkt nimmt, um – unter Verwendung derselben Mittel, nämlich der »totalen Mobilmachung des Geistes und des Körpers« – die Jugend für die »Veränderung dieser [faschistischen] Gesellschaftsordnung« zu gewinnen (KuW3, 40). Der Beitrag ist im
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Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Internationalen Friedenskongress zu setzen, der in dem Jahr in Brüssel stattfand (vgl. KuW3, 282). Seghers, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als offizielle Repräsentantin der DDR im Weltfriedensrat engagieren sollte, unterstützte den pazifistischen Gedanken, der dieser aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bewegung zugrunde lag. Dieses Engagement war – wie auch die Bewegung Freies Deutschland, für die die in Mexiko ab 1941 erscheinende Zeitschrift gleichen Namens die geistige Basis lieferte (s. u.) – eine Möglichkeit, an der Idee einer internationalen Bewegung festzuhalten. Mit Blick auf die literarischen Diskussionen, an denen sich Seghers in den Exilzeitschriften beteiligte, ist eine Akzentverschiebung in der marxistischen Ästhetik wahrzunehmen, durch die der Unterschied zwischen sozialistischer und bürgerlicher Literatur aufgehoben und vor allem die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts aufgewertet wurde. In der Seghers’ schen Publizistik schlägt sich diese Hinwendung zu der als progressiv bewerteten Tradition des bürgerlichen Realismus in einer intensiven Auseinandersetzung mit der russischen Literatur (im Besonderen mit Leo Tolstoj und Fjodor Dostojewskij) nieder, die fortan Schwerpunkte ihrer Publizistik bildeten (s. Kap. 38). In dieser ersten Phase des Exils in Europa sind ergänzend zu ihren publizistischen Aktivitäten auch noch Beiträge zu erwähnen, die nach Deutschland eingeschleust und dort illegal vertrieben wurden. Dazu gehören etwa ihr Bericht zum Schriftstellerkongress 1937 in Madrid oder ihre Rezension zu Bodo Uhses Chronik Die erste Schlacht (1938). Uhses Buch, das den Kampf des nach dem deutschen kommunistischen Widerstandskämpfer Etkar André (1894– 1936) benannten Bataillons der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg darstellt, war zunächst in dem von Willi Münzenberg in Strasbourg gegründeten Verlag Editions Prométhée erschienen, gelangte indes gleichzeitig als Tarnausgabe nach Deutschland. Das Beispiel demonstriert recht gut, wie die kommunistische, antifaschistische Propaganda sich organisierte.
Mexiko und die Tradition des progressiven Deutschlands Ab 1941 publizierte Anna Seghers hauptsächlich in der in Mexiko-Stadt erscheinenden Exil-Zeitschrift Freies Deutschland. Alemania libre (1941–1946), die
zunächst von Bruno Frei, ab 1942 von Alexander Abusch (1902–1982) herausgegeben wurde. Wiewohl einige der Mitarbeiter Kommunisten waren, verstand sich die Zeitschrift als überparteilich und stand zudem dem Heinrich-Heine-Klub nahe, dem Anna Seghers als Präsidentin vorstand. Dieser Klub entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zum kulturellen Zentrum der in Mexiko lebenden deutschsprachigen Exilanten. Mit der Wahl Heines wurde bewusst an die deutsch-jüdische Herkunft der Mehrheit der ca. 400 deutschsprachigen Emigranten in Mexiko appelliert. Gleichwohl ist die Zeitschrift, die mit einer Auflage von ca. 3500 Exemplaren (vgl. Maas 1976, 248) zu den bedeutendsten Periodika des deutschen Exils gehört und weit über Mexiko hinaus gelesen wurde, im Zusammenhang mit der Bewegung Freies Deutschland zu sehen. Das erste Heft erschien im November 1941, kurz darauf, im Januar 1942, wurde dort die Bewegung gegründet, der sich in der Folge Gruppierungen in anderen Ländern anschlossen. Die Initiative zur Gründung dieser Bewegung ist vor dem Hintergrund einer Debatte zu sehen, die der englische Politiker und Chefberater der britischen Regierung Lord Robert Gilbert Vansittart (1881–1957) mit der These ausgelöst hatte, das deutsche Volk sei seinem Charakter nach militaristisch und aggressiv, weshalb man den Nazismus lediglich als letzte Stufe seiner historischen Entwicklung sehen müsse. Als er daraufhin von dem amerikanischen Historiker Harry Elmer Barnes (1898–1968) beschuldigt wurde, ein Komplott gegen Deutschland zu beschwören, klagte Vansittart Barnes wegen Verleumdung an. In den USA mischten sich auch deutsche Emigranten wie zum Beispiel Emil Ludwig (1881– 1948) in die Debatte ein (vgl. Kaes 1995). In der marxistischen Tradition wird die Gründung der Bewegung Freies Deutschland meistens im Zusammenhang mit der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) im Kriegsgefangenenlager Krasnogorsk im Sommer 1943 gesetzt und damit aus der Aktualität des mexikanischen Exils in einen Kontext gesetzt, der den Einfluss der KPdSU in den Vordergrund rückt. Ein deutliches Echo auf die Debatte findet man in Seghers’ Publizistik beispielsweise in dem programmatischen Beitrag »Deutschland und wir«, der im ersten Heft der Zeitschrift erschien (KuW1, 186–191). Seghers thematisiert den Begriff Vaterland, erörtert ihn aus historischer Perspektive und an einzelnen Erfahrungen mit und Wahrnehmungen von Nationalsozialismus und Exil, die in der Frage gipfeln: »Was ist Deutschland?« (ebd., 190). Sie schließt mit einer Vorwegnahme zukünftiger
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Ereignisse, die zugleich Seghers’ Idee einer Kulturnation enthüllt: »Die Entfaschisierung Deutschlands wird seinem Volk, die eigene Geschichte überwindend, die Einheit des sozialen und nationalen Bewußtseins bringen, die Grundlage seiner neuen Kultur« (ebd., 191). Seghers’ Beiträge aus dieser Zeit diskutieren die dazugehörigen Begriffe, suchen nach terminologischer wie auch historischer Differenzierung und öffnen sich trotz marxistischer Grundüberzeugung einer Auseinandersetzung, die andere Perspektiven zulässt und vor allem auf internationale Verständigung zielt (vgl. »Volk und Schriftsteller« in Freies Deutschland [FD] Jg. 1 (1941/42), Nr. 12 (KuW1, 191– 197), oder »Aufgaben der Kunst« in FD Jg. 3 (1943/44), Nr. 12 (KuW1, 197–201)). Es geht ihr dabei und mit Blick auf den Wiederaufbau Deutschlands darum, sich auf die, wie sie meint, bis dahin vernachlässigte progressive Geschichte Deutschlands zu besinnen (vgl. »Freies Deutschland 1792« in FD 3. Jg. (1943/44), Nr. 4 (KuW3, 204–212). Gleichwohl bleibt ihre Perspektive auf die Kultur gerichtet und weist damit indirekt auf einen Schwachpunkt der politischen Konzeption hin, in der eine Kaderpartei die Gesellschaft autoritär organisiert.
Engagement im Weltfriedensrat und der Mensch im Sozialismus In der Nachkriegszeit stand Anna Seghers’ publizistisches Engagement zunächst im Zeichen der pazifistischen Bewegung, deren internationaler Charakter wohl auch ihrem eigenen Selbstverständnis entgegenkam und dessen Grundgedanke dem von allen geteilten Verlangen nach Frieden entsprach. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass diese Bewegung und damit auch Seghers relativ schnell in die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges geriet, in deren Konsequenz sie sich in ihrer Publizistik zu eindeutiger Parteinahme für die DDR und das sozialistische Lager entschied (vgl. Zehl Romero 2003, 123). Seghers wurde zur Repräsentantin der DDR, die nicht nur als Schriftstellerin und Intellektuelle für dieses Land einstand, sondern auch als Funktionärin der SED das Land international vertrat. Vor diesem Hintergrund verschiebt sich bei der Analyse ihre Positionierung im Hinblick auf Öffentlichkeit, Aktualität und Gesinnung, die drei für Publizistik wesentlichen Aspekte. Ihre Publizistik ist per se schon gefiltert durch das uneingeschränkte Bekenntnis zur Kaderpartei und zum sozialistischen Staat, den sie zu ihrer Heimat machte. Vor diesem Hin-
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tergrund ist auch die Tatsache zu sehen, dass Anna Seghers den Stalinpreis, die höchste Auszeichnung, die die SU damals Individuen für herausragende Leistungen verlieh, 1952 nicht für ihr literarisches Werk, sondern für ihre Arbeit im Weltfriedensrat erhielt. Der pazifistische Gedanke, es wurde schon erwähnt, formierte sich im 19. Jahrhundert in der Folge der Napoleonischen Kriege und führte schließlich in verschiedenen Ländern zur Bildung von Friedensgesellschaften, die sich als Teil einer internationalen Bewegung verstanden und seit den 1840er Jahren regelmäßig Kongresse organisierten (vgl. Kaestli o. J.). Der 1949 gegründete Weltfriedensrat, in dem sich Anna Seghers nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil engagierte, hatte jedoch noch eine andere Funktion. Er galt im Kalten Krieg als eine der bekanntesten kommunistischen Frontorganisationen (vgl. Ost-Probleme 1961), also einer Gesellschaft, die nach außen neutral wirkt, aber in ihrer Zielstellung und Führung wesentlich von der kommunistischen Partei bestimmt wird (vgl. ebd., 546). 1949 fand der Weltfriedenskongress parallel in Paris und Prag statt. Für den Pariser Kongress entwarf Pablo Picasso ein Plakat mit jener Friedenstaube, die inzwischen zu einem der bekanntesten Symbole der Friedensbewegung geworden ist. Seghers nahm an dem Pariser Kongress teil und berichtete darüber u. a. in ihrem Essay »Die Taube« in einer für sie typischen Weise, die anhand kurzer Porträts einzelner Personen die damalige politische Situation skizzieren und auf einen Nenner zu bringen versucht: »Die einfachen klaren Menschen lieben die einfachen, klaren Entscheidungen« (KuW3, 54). Es ist eine trügerische Wahrheit, die aber gleichzeitig einen Schlüssel zu ihrem Menschenbild, ihrem literarischen Schaffen und ihrem (öffentlich geäußerten) Selbstverständnis enthält. Sie sah sich als Stimme und Sprachrohr für »[d]ie Menschen, die guten Willens sind« und »die einfachen Dinge, in einfachen, klaren Worten [lieben]« (ebd., 54). Literarisch schlägt sich diese Sichtweise im Titel des Erzählbands Die Kraft der Schwachen (1965) nieder, hinter dem eine literaturästhetische Konzeption steht, die an die Anfänge der literarischen Moderne und bewusst an das marginalisierte, nicht-klassische und romantische Erbe erinnert. Beispielhaft ist dafür ihr Beitrag »Das Neue und das Bleibende« zur Vorbereitung der II. Bitterfelder Konferenz 1964, der im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED erschien (KuW1, 251–255). Damit ließ sich die dogmatische SED-Kulturpolitik der 1960er Jahre relativieren und damit eröffnete sich einer ganzen Generation junger Schriftsteller/innen in der DDR eine
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andere Perspektive auf die deutsche Literatur, in deren Folge z. B. Christa Wolf begann, sich intensiv mit der deutschen Romantik auseinanderzusetzen. Es ist der Blick auf den Einzelnen, den individuellen Menschen und sein Schicksal, der im totalitären Alltag der DDR unter Druck geriet: »[...] unbekannte, einfache Menschen, sagen wir, ohne die geringste Spur von dem, was man Personenkult nennt, Menschen, die völlig lautlos etwas Wichtiges tun. Wenn ich nicht über sie schreiben würde, dann würde man nie das geringste über sie erfahren« (Seghers 1974, 359).
Ausblick Am Ende wäre zu fragen, wie Anna Seghers, die die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen als eine der vorrangigen Aufgaben von Schriftsteller/innen betrachtete, die Welt heute kommentieren würde. Als Kommunistin hatte sie ihr Leben und ihr Werk ganz in den Dienst einer Ideologie gestellt, die mit der Überzeugung evolutionärer Gesetzmäßigkeit eine Revolution der Gesellschaft anstrebte, in der das Proletariat die Macht übernehmen sollte. Der Aufbau sozialistischer Staaten war für sie die Bestätigung dieser Vorstellung und bis zu ihrem Tod 1983 gab es für sie keinen wesentlichen Grund, an dieser Entwicklung zu zweifeln. Die Frage, wie sie die heutige Welt kommentieren würde, ist im Grunde eine an antizipierende Leser/innen gerichtete, denn wenn man sich mit ihrem Werk beschäftigt, dann geschieht das sehr oft nicht nur aus rein literaturhistorischem Interesse. Will man das Werk von Anna Seghers zukünftiger Forschung und Lehre öffnen, dann ist die Kontextualisierung ihres Werkes wie die der eigenen Perspektive in der Analyse unbedingt zu berücksichtigen. Deshalb spielen die Zeitzeugnisse und die Publizistik eine sehr wichtige Rolle.
Literatur
Batt, Kurt: Beruf und Berufung des Schriftstellers. In: neue deutsche literatur (ndl) 19/11 (1971), 141–148. Brandes, Ute: Anna Seghers’s Politics of Affirmation. In: Ian Wallace (Hg.): Anna Seghers in Perspective. Amsterdam, Atlanta GA 1998, 175–197. Dovifat, Emil (Hg.): Handbuch Publizistik, Bd. 1: Allgemeine Publizistik. Berlin 1968, Nachdruck 2018: DOI: 10.1515/9783111452548 (24.5.2019). Fehervary, Helen: Anna Seghers: The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001. Hobsbawm, Eric: Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übers. von Yvonne Badal. München 1995. Kaes, Anton: What to Do With Germany? American Debates About the Future of Germany 1942–1947. In: German Politics and Society 13/3 (1995), 130–141. Kaestli, Thomas: Friedensgesellschaften und Völkerbund, Stichwort auf dem Schweizer Portal für politische Bildung (o. J.). In: http://alt.politischebildung.ch/themenfelder/ menschenrechte/friedensgesellschaften-voelkerbund/ ?details=1&cHash=c30579d6a20ee8b98e9f708375b5a677 (13.5.2019). Karádi, Éva/Vezér, Erzsébet: Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt a. M. 1985. Maas, Lieselotte: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933– 1945, Bd. 1–4. Hg. von Eberhard Lämmert. München/ Wien 1976, 1978, 1981, 1990. o. A.: »Die internationalen kommunistischen Frontorganisationen: Der Weltfriedensrat«. In: Ost-Probleme. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. Hg. von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde 13 (1961), Nr. 18/19, 546–553. Seghers, Anna: Glauben an Irdisches. Essays. Hg. von Christa Wolf. Leipzig 21974. Walther, Hans Albert: Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 4: Exilpresse. Stuttgart 1978. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003.
Yvonne Delhey
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33 Briefe und Korrespondenzen Anna Seghers als Briefschreiberin Anna Seghers, Jahrgang 1900, gehörte noch zu einer Generation, die Briefe schrieb, in ihrem Fall sehr viele. Eine zweibändige Auswahl erschien 2008 bzw. 2010 im Rahmen der Werkausgabe, die 2000 im Aufbau Verlag in Berlin begonnen wurde. Diese zwei Bände basieren auf Recherchen in Archiven weltweit, auf den zur Verfügung gestellten Privatbriefen und auf einer Durchsicht des gesamten bis dahin im Anna-Seghers-Archiv (ASA) der Akademie der Künste in Berlin enthaltenen Materials, das heute zu einem guten Teil digitalisiert ist und abgerufen werden kann (unter https://archiv.adk. de). Die Auswahl der Briefausgabe ist repräsentativ und versehen mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat sowie Querverweisen, die u. a. auf weitere nicht aufgenommene Briefe von Seghers und ihren Korrespondent/innen verweisen. Diese Edition bringt aber keine Briefwechsel. Ein solcher wurde bislang nur in sehr kleinem Rahmen, mit bestimmten Personen oder Personenkreisen veröffentlicht, so etwa der Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Wieland Herzfelde von 1939 bis 1946 (Seghers/Herzfelde 1985) oder unter dem Titel Hier im Volk der kalten Herzen die Korrespondenz mit diversen Empfängern aus dem Jahr 1947, dem Jahr ihrer Rückkehr (Seghers 2000a). Außerdem erschienen sind der beschränkte Austausch mit Christa Wolf (Seghers/Wolf 2003b) sowie diverse Briefwechsel, die im Lauf der Jahre in der Zeitschrift der Anna-Seghers-Gesellschaft publiziert wurden (vgl. Argonautenschiff u. a. 1/1992, 2/1993, 4/1995, 6/1997, 8/1999, 11/2002, 13/2004, 19/2010). Der Bestand an Briefen, die erhalten sind, ist durch die Jahre hindurch sehr unterschiedlich und spiegelt das lange, aktive und schwierige Leben von Anna Seghers, das die Jüdin aus Mainz von Berlin zur Flucht nach Frankreich und weiter nach Mexiko zwang und schließlich in ein geteiltes Deutschland zurückführte. »[I]ch finde es schwer, und seit ich lebe, habe ich nie eine leichte Zeit erlebt«, schreibt sie 1966 an ihren erwachsenen Sohn nach Frankreich – als Ermutigung, denn sie glaubt trotz allem, dass ihrer »Welt etwas innewohnt, was weiter will« (Br2, 172). Diese grundsätzlich positive, hoffnungsorientierte Haltung durchzieht so gut wie alle in sehr verschiedenen Lebenslagen und für sehr verschiedene Adressaten geschriebene Briefe, obwohl Seghers immer den »Schatten hinter den Grenzpfählen der Wirklichkeit« (SK, 391) drohend spürte. Es ging ihr aber stets darum, sich von diesem
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Schatten nicht einschüchtern zu lassen und in ihrem Werk wie auch in den Briefen dagegen anzuschreiben. In ihrer schlimmsten Zeit, als sie sich verzweifelt bemühte, mit Mann und Kindern aus der Falle, zu der Frankreich mit dem Einmarsch der deutschen Truppen geworden war, nach Übersee zu fliehen, gesteht sie dem Freund Wieland Herzfelde, »es geht mir furchtbar schlecht. Man merkt es bei mir nicht so, denn ich kann nicht in Sack und Asche gehn, und jammern ...« (Br1, 59). Sie will auch jetzt nicht bedauert werden, sondern fordert immer wieder tatkräftige Hilfe. Seghers nennt sich selbst »zäh« und ist es unbedingt, wo es um die Sorge für ihre unmittelbare Familie, ihren Mann Laszló Radványi, den sie beim Studium kennenlernte und 1925 heiratete, und um ihre zwei Kinder Pierre (*1926) und Ruth (* 1928) geht, und vor allem dann, wenn es ihre Arbeit betrifft. Lebensphasen und Briefphasen Allgemein lassen sich die Briefe zwei Gruppen zuordnen, die vor und die nach der Rückkehr nach Deutschland geschriebenen. In der ersten Gruppe gibt es große Lücken, aber es ist schwer zu sagen, was und wie viel verloren ging. Seghers, zunächst noch Netty Reiling, schrieb mit der Hand und später auch mit der Schreibmaschine, doch gewöhnlich ohne Durchschlag, so dass der Zufall entschied, was ihre Briefpartner/innen bewahrten oder bewahren konnten. Für Netty Reiling waren Briefe eine Selbstverständlichkeit und 1924/25 ein unbedingtes Bedürfnis, wie die Jugendbriefe zeigen. Die Post funktionierte außerdem schneller als heutzutage. Doch diejenigen Briefe, die sie vermutlich als Studentin aus Heidelberg und als jung verheiratete Frau aus Berlin nach Hause schrieb, gingen spätestens bei dem erzwungenen Umzug in ein Judenhaus und der folgenden Deportation der Mutter in ein Vernichtungslager verloren. Während der Weimarer Republik, als Seghers in Berlin wohnte, hatte sie wohl allgemein wenig Bedarf an Korrespondenz und kaum Zeit für Briefe, denn es gab bereits Telefone. Ein handschriftliches Briefchen an Hans Henny Jahnn, der sie für den Kleistpreis 1928 nominieren wird, zeigt aber auf rührende Weise, wie sich die junge Autorin gleichzeitig in Szene setzte und versteckte (vgl. Br1, 12; s. Kap. 1). In der Diaspora des Exils wurden Briefe jedoch äußerst wichtig, um Kontakte aufrechtzuerhalten und um zu überleben. »Nicht allein bei Dir, wahrscheinlich auch bei mir, spielen Briefe eine groessere Rolle als ihnen zukommt« (Br1, 156), schrieb Seghers gegen Kriegsende an Kurt Kersten, der bis 1946 auf der Insel
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_33
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Martinique festsaß. Sie hatte 1940 dort mit ihrer Familie vorübergehend Station gemacht und war in ständiger Angst, auf dieser Insel hängenzubleiben. Als sie den Brief schrieb, war sie in Mexiko zwar bereits wieder in eine lebendige Gemeinschaft eingebunden, wusste aber noch sehr gut, wie ihr Briefe als ›ein Gesellschaftsersatz‹ dienten, als sie bei Kriegsbeginn plötzlich allein und isoliert war und Nachrichten von den Freunden in den USA erwartete. Ein Brief konnte den Besuch eines Freundes ersetzen: »comme autrefois la visite des meilleurs amis« (Br1, 66 f.) Obwohl die Überlieferung von Briefen aus der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg – von früher ist gar nichts erhalten – den Ereignissen entsprechend im Allgemeinen vereinzelt und sporadisch ist, gibt es jedoch einige faszinierende Ausnahmen; zwei Konvolute sind bereits erschlossen, ein anderes ist noch in Familienbesitz. Letzteres besteht aus vielen Päckchen von Jugendbriefen aus den Jahren 1924 und 1925, alle an László Radványi, den ungarischen Exilanten und Kommilitonen, den Seghers, damals noch Netty Reiling, 1925 heiraten wird. Einige davon konnten schon in die Werkausgabe aufgenommen werden und sind die frühsten Briefzeugnisse darin. Netty Reiling war nach beendigtem Studium in ihr Elternhaus nach Mainz zurückgekehrt, um die Heirat zu betreiben und sah den Freund selten, schrieb aber meist täglich, manchmal mehrmals täglich. László Radványi antwortete zwar, aber nur ihre Briefe sind erhalten, denn sie wurden mit dem Hausrat der Radványis, inklusive Büchern und Papieren, nach Frankreich nachgeschickt. Alles blieb aber zurück, als Seghers und die Kinder beim Einmarsch der deutschen Truppen plötzlich fliehen mussten, einzig ein Autograph von Heinrich Heine (ein Geschenk ihres Vaters) konnte gerettet werden und wurde später an der Wand ihrer Berliner Wohnung in Adlershof aufgehängt. Die nach Frankreich geschickten Sachen fanden sich bei der Rückkehr von Pierre Radvanyi, der als erster der Familie zum Studium nach Paris kam, mehr oder weniger intakt wieder. Seghers wollte, als sie nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil endlich eine eigene Wohnung bezog, allerdings nur ihre Bücher nach Berlin gesandt haben; dass es noch frühe Manuskripte und die Jugendbriefe gab, hatte sie vermutlich vergessen, denn für dergleichen interessierte sie sich nie. Als Pierre Radvanyi nach dem Tod der Mutter Zeit fand, sich genauer damit zu beschäftigen, konnte er das Sütterlin der Briefe und mancher Manuskripte nicht lesen und bat die Editorin der Briefausgabe um Hilfe. Schließlich wurden das Manuskript Jans muss
sterben (Seghers 2000b) sowie unter dem Titel Und ich brauch doch so schrecklich Freude das Tagebuch 1924/25 veröffentlicht (Seghers 2003a); darin ist auch Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen enthalten (s. Kap. 29). Es wurden viele Briefe transkribiert, einige in die Briefausgabe aufgenommen. Sie wie auch das unter den Papieren befindliche Tagebuch von 1924/25 zeigen eine ungewöhnliche junge Frau, die sich nach Liebe sehnte, verwundbar und ängstlich war, gleichzeitig aber äußerst praktisch, zielstrebig und mutig. Ihr Blick auf sich und andere, auch auf den geliebten Mann, war klar und kritisch. Die unkonventionelle Stimme dieser Briefe schwingt in allen späteren so verschiedenartigen Briefen mit, obwohl nie mehr so rückhaltlos und offen. Die Geschichte der Jugendbriefe gibt Einblick in die vielen Zufälle, die allgemein bei der Überlieferung von Briefwechseln, besonders in turbulenten Zeiten, walten und Lücken wie Fülle bestimmen. Aus Seghers’ Berliner Jahren gibt es kaum Korrespondenz, aus dem französischen Exil mehr, aber hauptsächlich einzelne, verstreute Briefe an unterschiedliche Empfänger, was vor allem darauf deutet, dass Seghers viele schrieb und schreiben musste. Sie suchte Verdienstmöglichkeiten, unternahm Arbeitsreisen und hielt Kontakte mit Kollegen und Freund/innen aufrecht, vielfach um sie zu ermutigen. Es gibt aber zwei größere erhaltene Konvolute, die sehr unterschiedliche Aspekte in Seghers’ Leben und Arbeit im französischen Exil erschließen. Zunächst die 1936/37 zahlreich versandten Briefe zu einem Editionsprojekt, das sie zusammen mit Lion Feuchtwanger übernommen hatte, für das sie aber die Hauptarbeit und -korrespondenz erledigte. Seghers warb dafür mit großem Einsatz und versandte Einladungs- und Nachfassbriefe an Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus aller Welt, die gebeten wurden, jeweils einem der bereits von den Nationalsozialisten ermordeten Deutschen einen ›Gedenkstein‹ zu setzen; dafür versprach Seghers den Beiträgern, ihnen entsprechendes Material zuzuschicken. Es kam zwar zu einem – heute verschollenen – Manuskript, aber zu keiner Veröffentli chung. Viele der erhaltenen Briefe gingen nach Moskau, wo sich Kollegen wie Johannes R. Becher und Willi Bredel befanden. Aber trotz Seghers’ wiederholter Bitten und Mahnungen lieferten sie keinen der versprochenen Texte, sondern höchstens Entschuldigungen und Wünsche nach Beiträgen für ihre Zeitschriften (vgl. Zehl Romero 2010). Das zweite Konvolut besteht aus den vielleicht erschütterndsten, für Seghers’ Person und Schaffen sehr
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aufschlussreichen Briefen. Es sind die lebendigen, immer drängenderen Lagebeschreibungen, Bitten und Forderungen, die sie seit der Kriegserklärung 1939 an die alten Freunde Wieland Herzfelde (vgl. Seghers/ Herzfelde 1985) und Franz Carl Weiskopf (vgl. Br1, 60 f.), die sich bereits in den USA befanden, schickte. Als Seghers keinen Ausweg in Europa sah, wollte sie mit ihrer Familie unbedingt in die USA – das fremde, noch fernere Mexiko, für das sie schließlich Visen bekam, erschien ihr nur als allerletzter Ausweg. Sie setzte in diesen Briefen ihr ganzes schriftstellerisches Können, ihre Überredungskunst und selbst ihre Rolle als Mutter ein, um die eigene verzweifelte Lage (gelegentlich auch die anderer) anschaulich und eindringlich zu schildern, um nicht vergessen zu werden und die für sich und ihre Familie dringend benötigte Unterstützung zu erhalten: Geld, Visa, Schiffskarten, Weiterreisemöglichkeiten und, eine wichtige Konstante, Hilfe bei der Veröffentlichung ihres eben fertig gestellten Romans Das siebte Kreuz. Sie war bekanntlich mit allem erfolgreich, außer mit einem Besuch und/oder Aufenthalt in den USA. Die Radvanyis durften das US-amerikanische Festland überhaupt nicht betreten und mussten weiter nach Mexiko, wo Seghers fast sieben Jahre blieb. Von hier schrieb sie ebenfalls viele Briefe, von denen deutlich mehr erhalten sind, einige – mit vielen ausgeschwärzten Stellen inklusive der Adressaten – in den Akten des FBI (vgl. Stephan 1995). Da Seghers nach dem Erfolg des Siebten Kreuzes keine Geldsorgen mehr hatte, konnte sie im Gegensatz zu anderen MexikoExilanten nach Kriegsende ihre Rückreise nach Europa selbst bestimmen und fuhr schließlich per Schiff Anfang 1947 über New York zunächst nach Stockholm. Sobald der Briefverkehr mit Europa möglich wurde, nahm sie noch vor der Rückkehr nach Berlin alte Beziehungen wieder auf, auch in der Sowjetunion. In Europa und endlich in Deutschland beschrieb sie den neuen und alten Freundinnen (es waren meist Frauen) in Mexiko, Schweden und Holland ihre Eindrücke bei der Heimkehr, die keine war. Obwohl sie sich kaum Illusionen gemacht hatte, fühlte sie sich im »Volk ›der kalten Herzen‹« (Br. 1, 500; Seghers 2000a) in die »Eiszeit« (Br1, 310) versetzt, wie sie in diesen Briefen recht deutlich schreibt. Erst im letzten Drittel ihres Lebens (ab 1950) hatte Seghers wieder einen ständigen Wohnsitz in OstBerlin und nun auch Sekretärinnen, die ihre Briefe, meist mit Durchschlag, schreiben und ordnen konnten. Es entstand eine äußerst umfangreiche Sammlung, die heute im Anna-Seghers-Archiv der Aka-
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demie der Künste in Berlin liegt und weiter ergänzt wird (vgl. https://archiv.adk.de). Mit der Rückkehr nach Deutschland wurde die Autorin des Siebten Kreuzes zur Ansprechpartnerin für Leser/innen, die sich mit Fragen, Klagen und Bitten an die prominente Autorin wandten. Seghers nahm diese Rolle ernst, besonders als sie 1952 zur Vorsitzenden des Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt wurde, was sie bis 1978 blieb. Sie fühlte sich verpflichtet, die meisten erhaltenen Briefe, vor allem die von jungen und arbeitenden Menschen zu beantworten, was auch mit Sekretärin eine enorme Aufgabe war. »Einen großen Teil meiner Arbeit macht meine Korrespondenz aus«, sagte sie und erklärte: »Man soll Menschen, die einem vernünftige Fragen stellen, auch vernünftig antworten« (Kretzschmar/Kiesling 1962, 6). Stile, Inhalte und Zensur Das Archiv enthält neben den schon zu Lebzeiten von Seghers nach Empfängern und Zwecken (z. B. reine Verlagskorrespondenz) geordneten Briefen auch Konvolute, die die Briefpartner oder deren Nachkommen der Akademie später übergaben, so u. a. die zahlreichen persönlichen Briefe von Seghers an Lore Wolf, ihre wichtigste, nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland lebende Freundin, sowie die Korrespondenz mit den sowjetrussischen Germanist/innen und Übersetzer/innen Tamara Motyljowa und Wladimir Steshenski, in der sie etwas ausführlicher über sich und ihre zeitgenössischen Arbeitspläne spricht. Nicht im Archiv enthalten sind Privatbriefe an die Kinder Pierre und Ruth Radvanyi, von denen einige für die Briefausgabe zur Verfügung gestellt wurden, sowie verschiedene Briefe, die in anderen Archiven, so z. B. dem des Aufbau Verlages (in der Staatsbibliothek), gefunden wurden. So umfangreich Seghers’ Korrespondenz ist, sie selbst betrachtete Briefeschreiben nicht als Kunst, die sie pflegte. Wiederholt finden sich bei ihr Äußerungen wie in einem Brief an Hermann Hesse: »sicher kann ich besser Erzaehlungen schreiben als Briefe« (Br1, 420) oder an Ellinor Jahnn: »Soviel ich schreibe, Briefe kann ich nicht gut schreiben« (Br1, 401). Als Leser/in ist man allerdings anderer Meinung. Besonders im Vergleich zu vielen ihrer Briefpartner/innen vermied Seghers stets, was sie »Sonntagsdeutsch« nannte. Sie war direkt und schaffte es, auch Fremden gegenüber und in offiziellen Schreiben ein Gefühl von Vertrautheit, Nähe und sogar von Wärme zu vermitteln. Im Kontext der Parolen, Sprachregelungen und Propaganda, die sie be-
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sonders in der DDR-Zeit umgaben, war ihre Aufmerksamkeit für Sprache in allem, was sie schrieb, selbst in den Briefen an unbekannte Leser/innen und bekannte Funktionäre, ein politischer Akt, den allerdings nur ganz wenige in ihrem Sinn verstanden. Fast alle ihrer frühen Briefe und einige spätere Privatbriefe sind handgeschrieben und schwer zu lesen, da Seghers zunächst Sütterlin gebrauchte und dann eine Mischung aus lateinischer Schrift und Sütterlin, was das Entziffern nicht leichter macht. Selbst mit der Schreibmaschine, die sie früh verwendete, schaffte sie es, ihre Leser/innen vor Probleme zu stellen. Sie verwendete lange Jahre eine Remington-Reisemaschine, in die sie erst spät Umlaute einbauen ließ. Auch war Orthographie, wie sie selbst meinte, nicht ihre Sache. Seghers war gebildet und belesen und verwies gern auf Literatur und Kunst, aber auf Genauigkeit kam es ihr dabei nicht an, denn dazu hatte sie einfach keine Zeit. Schon früh durchziehen Bemerkungen zu Eile und Überlastung ihre Briefe, die aber selbst bei schwerer Krankheit und im Alter Larmoyanz oder Selbstmitleid vermeiden. Schreiben an Einzelne, das keinen bestimmten Zweck verfolgte oder eine empfundene Verpflichtung erfüllte, erschien ihr meist als ein Luxus, zumal sie genug dringende Korrespondenz zu erledigen hatte. Einen privaten Gedankenaustausch konnte (oder wollte) sie sich schon aus diesem Grund nur selten leisten. Zur Veröffentlichung bestimmte Essays in Briefform gehörten jedoch durchaus zu Seghers’ Repertoire der kleinen Formen, was sie auf eine informelle und unpolemische Weise gekonnt einsetzte; so etwa ihre zwei Briefe an Georg Lukács von 1938/39 (KuW1, 173–185), die einen wichtigen Beitrag zur sogenannten Expressionismus-Debatte darstellen (s. Kap. 36). Briefe boten ihr die Möglichkeit, ihr wichtige Themen und Fragen auf einfach scheinende, persönliche Weise zu behandeln, indem sie einen bestimmten Empfänger direkt ansprach und die Leser/innen so in den angeblich privaten Austausch einbezog. Der Adressat und seine Ideen spielen eine wichtige Rolle im Brief, gehören aber zur Strategie des Textes, der durchaus komplexe Gedanken ausdrückt. Auch später griff Seghers auf diese Art von Brief zurück, um Ideen zu Kunst und Literatur möglichst direkt und unpedantisch zu äußern, etwa in dem »Brief nach Brasilien« und dem ebenfalls an Jorge Amado adressierten Brief »Über die Entstehung von Krieg und Frieden«; hierbei handelt es sich um ein größeres Projekt »Briefe zwischen Ost und West«, das aber nicht weitergeführt wurde (vgl. Zehl Romero 2003, 157 f.).
Nicht alle Briefe sind in deutscher Sprache. Seghers schrieb auf Französisch, Englisch und seltener auf Spanisch. Französisch war ihre beste Fremdsprache, sie verwendete sie selbstverständlich mit französischen Briefpartner/innen und mit Freunden wie Jorge Amado und seiner Partnerin, die kein Deutsch konnten. Doch sie setzte ihr gutes Französisch und ihr nicht so gutes, aber expressives Englisch auch strategisch ein, da sie seit dem französischen Exil mit der Überwachung ihrer Korrespondenz rechnete. So verfasste sie ihre Briefe aus Frankreich an Franz Carl Weiskopf auf Französisch, damit sie nicht auffielen und schneller befördert würden, und gleich nach der Rückkehr aus Mexiko schrieb sie aus Frankreich auf Französisch an ihren Freund Jürgen Kuczynsky nach Berlin. Der zunächst sehr dichte Briefwechsel mit ihrer Freundin, der in Mexiko lebenden Kubanerin Clara Porset, ist auf Claras Seite ganz auf Spanisch, das Seghers offensichtlich besser verstand als schrieb, während Seghers bald ganz ins Deutsche wechselte. Vorsicht und der Verdacht, dass ihre Briefe abgefangen und von Dritten gelesen werden könnten, hatten spätestens seit Kriegsbeginn Einfluss auf Stil und Inhalt. Decknamen, Umschreibungen und konspiratives Verhalten waren Seghers allerdings bereits aus den kommunistischen Kreisen, in denen sie in Berlin verkehrte, bekannt. Im Exil und danach griff sie dann zu Verschlüsselungen und Andeutungen, in erster Linie wenn es um die Erwähnung von Personen ging, wobei manchmal auch ihre spielerische Seite zum Einsatz kam. So nennt sie in einem an Jürgen Kuczynsky adressierten, vermutlich 1947 verfassten Nachkriegsbrief aus Paris Brecht »le mari de la mère Courage«, Alexander Fadejew »le père de la jeune garde« und Arnold Zweig »le vieux Israel« (ASA 3838). Von sich selbst spricht sie in einigen der Exilbiefe an F. C. Weiskopf in der dritten Person und bezeichnet sich als Anna, eine Distanzierung und Verschleierung, die aber mit einer viel tiefer liegenden und für Seghers charakteristischen Vorsicht zu tun hatte – sie wollte sich nicht direkt und voll preisgeben. Auf vielen Stationen ihres Lebens bis 1950 und noch danach rechnete Seghers nicht nur mit Zensur, sondern auch mit der Möglichkeit, dass ihre Briefe die intendierten Empfänger/innen gar nicht oder nicht so schnell, wie erwünscht, erreichen würden. Diese Befürchtungen waren nicht unbegründet. Gerade zu Zeiten, da Korrespondenz besonders wichtig für sie wurde, unterbrachen Krieg und unmittelbare Nachkriegszeit Postverbindungen oder machten sie unzuverlässig. Seghers entwickelte eine Reihe von Methoden, um da-
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gegen anzukämpfen. Wiederholungen, bewusste und wohl auch unbewusste –oft erinnerte sie in Eile und Angespanntheit nicht mehr genau, was sie schon geschrieben hatte –, waren eine Taktik, Briefe und Botschaften über Dritte eine andere. So wissen wir, dass Seghers über ihre Schwägerin Lily Szondi bis kurz vor deren Deportation mit ihrer Mutter in Verbindung stand (einige der Briefe der Mutter sind erhalten). Außerdem ist bekannt, dass Seghers nicht nur ihren französischen Agenten Bronislaw Buber, sondern auch andere Bekannte außerhalb von Deutschland einsetzte, um die Verbindung mit ihrem Mann, der bis 1952 in Mexiko blieb, aufrecht zu erhalten. Ihre an ihn erhaltenen Briefe konnten von der Editorin der Briefausgabe nicht eingesehen werden, bis auf einige wenige von Radvanyi, in denen er immer wieder beteuert, wirklich und bald kommen zu wollen. Als Erzählerin hielt Seghers ihre Erfahrungen mit der Bedeutung von Briefen in schwierigen Zeiten und ihr Wissen um den Trost, den sie bei aller Unzuverlässigkeit bringen können, in ihrer Novelle Post ins gelobte Land (s. Kap. 13) fest. Seghers hatte in ihrem langen Leben situationsbedingt sehr viele verschiedene Briefpartner/innen, darunter auch Vertraute, auf die sie sich verließ. Das waren, soweit wir Einsicht haben, zunächst László Radványi in den Jugendbriefen, F. C. Weiskopf und Wieland Herzfelde in der letzten Zeit des französischen Exils, die Freundinnen Clara Porset, Erika Friedländer und Irene Wirth nach der Heimkehr, Bronislaw Buber zwischen 1948 und 1950 sowie Lore Wolf, Tamara Motyljowa und Wladimir Steshenski in den DDR-Jahren und schließlich der brasilianische Autor Jorge Amado und seine Partnerin Zélia Gattai im Alter; damit sind die wichtigsten Briefpartner und -partnerinnen genannt. Privatbriefe an die Kinder sind entweder nicht erhalten oder noch nicht voll zugänglich. Es ist aber nach dem derzeitigen Kenntnisstand sehr unwahrscheinlich, dass sie die Kinder mit eigenen Sorgen belastete, denn in der Korrespondenz mit ihnen ging es ihr vornehmlich um deren Probleme und Bedürfnisse, um gemeinsame Ferien und Besuche der ›Franzosen‹ und ›Französchen‹, wie Seghers ihre französischen Enkelkinder nannte. In der DDR wechselte Seghers sehr viele Briefe mit Kollektiven und Brigaden, die sich gern nach ihr benannten. Sie wollte von den Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitglieder hören und besuchte ihre Briefpartner/innen in deren Kombinaten. Mit Recht sah Seghers in diesen Interaktionen etwas Neues, Sozialismus-Spezifisches. Wiederholt hob sie hervor, dass ihr Schreiben genauso Arbeit sei wie die in einer Fabrik.
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Dem Beruf des Schriftstellers wird damit die Gloriole des Genies genommen. Wie der Arbeiter in der Fabrik kann auch der Dichter Ausschussware produzieren. Eine ähnliche Position vertraten auch Bertolt Brecht oder Walter Benjamin, etwa in seinem Essay »Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Faschismus in Paris am 27. April 1934«. Unter ihren zahllosen Leserbriefen befinden sich auch viele von Schüler/innen und Schulkassen, deren Fragen und Reaktionen Seghers besonders interessierten – und manchmal enttäuschten –, da sie die Zukunft darstellten. In ihren Antworten bemühte sie sich, die Jugendlichen zu eigenen Überlegungen zu ermutigen und erklärte: »Mir mißfällt – und das erlebe ich andauernd – wenn junge Leute bei meinen Geschichten immerfort dazu gebracht werden, gewisse Begriffe, z. B. soz. Realismus, zu entdecken und darüber zu schreiben. Solche Hinweise stehen schon in den Anweisungen für Lehrer. Das verdirbt den Kindern und Erwachsenen den Geschmack am einfachen Lesen und Beurteilen« (Brief an Hans-Joachim Stadermann am 1.12.1976; ASA 2419). Im Laufe der Jahre kamen außerdem immer öfter Anfragen von Studierenden, die an Diplomarbeiten oder Dissertationen über Seghers’ Werke schrieben. Sie gab gewöhnlich Auskunft, aber nur einmal so ausführlich wie in dem Brief an Renate Francke zu den Karibischen Geschichten (vgl. Br2, 123–128). Einige ihrer Antworten auf Fragen zu ihren Werken wurden auszugsweise bereits anlässlich ihres siebzigsten Geburtstags veröffentlicht (vgl. Seghers 1970). Rein biographische Fragen lehnte Seghers stets ab, sie wollte nicht, dass man ihrem Leben oder dem ihrer Eltern nachforscht (vgl. Br2, 229–231). Relativ streng ging sie außerdem mit ausgebildeten Germanist/innen um, wobei sie Ausländer/innen und vor allem den bereits genannten russischen Freund/innen, entgegenkommender und offener begegnete als den Wissenschaftler/innen aus der DDR, obwohl sie zu ihrem Werk arbeitende Forscher wie Kurt Batt, Paul Rilla und Heinz Neugebauer durchaus respektierte. Sigrid Bock hingegen, die sich mit ihrer akribischen Arbeit zu Seghers in den Augen der Forschung Verdienste erworben hat – sie ist Herausgeberin der ›blauen Bände‹ Kunstwerk und Wirklichkeit (KuW1–3), einen Ergänzungsband dazu lehnte Seghers sogar ab (KuW4) –, schätzte sie ganz und gar nicht. Was sie störte, waren abstrakte Begriffe, dogmatische Erklärungen sowie zu viele genaue und ihrer Meinung nach falsche Fragen, die von außen an ihr Werk – und ihr Leben – herangetragen wurden. Abgesehen davon, dass sie gegen kulturpolitische
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Schlagworte ankämpfte, wehrte sich Seghers grundsätzlich gegen zu eindeutige Erklärungen und Kategorisierungen ihrer Texte, da es ihr auf das Suggestive und Eigentümliche von Literatur und Kunst ankam. Adressaten Spätestens seit sie 1928 dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller beigetreten war, kannte Seghers viele Schriftsteller/innen – in erster Linie Männer –, mit denen sie seit Beginn des Exils Briefe austauschte. Der Kreis erweiterte sich im Verlauf des Exils wesentlich, vor allem durch ihre Mitarbeit und Rolle auf dem I. und II. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 und 1936, wie Briefe an Zeitgenossen in vielen Ländern belegen, wobei wir annehmen müssen, dass hier ebenfalls vieles verloren ging. Nach der Rückkehr, als internationale Kontakte u. a. mit Pablo Neruda, Ilja Ehrenburg, Jorge Amado und Georg Lukács für Seghers immer wichtiger wurden, je enger ihr die DDR erschien, kam es zu gelegentlicher, mit den Amados zu häufigerer Korrespondenz. Es waren in erster Linie Lebenszeichen, die Zuneigung ausdrückten, Seghers verließ sich lieber auf das Wiedersehen bei Kongressen des Weltfriedensrates, die Treffen des Komitees für den Stalinfriedenspreis und auf diverse Besuche, bei denen wirkliche Gespräche geführt werden konnten, anders als bei den brieflichen Äußerungen, die stets ›nur ein Teil des Gesprächs‹ und deshalb nicht verlässlich bzw. nur zur Hälfte aussagekräftig sind. In den Briefen gibt es lediglich kleine poetische Andeutungen wie etwa in Briefen an Jorge Amado und Zélia Gattai, wo sich Seghers u. a. auf das Märchen von den sieben Raben aus der Sammlung der Brüder Grimm bezieht, das sie ihnen erzählt habe. Sie spricht von den Raben als ihren Brüdern (freres corbeau), die »verstreut«/vertrieben seien und die sie wiederfinden müsse (vgl. Br2, 327). Sie bezieht sich sehr wahrscheinlich auf die Enthüllungen über Stalin und die Freunde aus aller Welt, die sie bei den Treffen zur Verleihung des Stalin-Friedenspreises – auch sie war Preisträgerin – getroffen hatte. Und sie klagt, dass es kälter sei als früher und dass etwas fehle, vielleicht »nur der Zauber der ersten großen Liebe, das Wunder des Blitzschlags« (Br2, 327). Ein sehr großer Teil des Seghers’schen Briefwechsels handelt von ihrer Arbeit, ob sie nun Veröffentlichungsmöglichkeiten suchte oder zum Teil auch strittige Verhandlungen mit Verlegern und Verlagen führte, ob sie Informationen einholte oder gelegentlich Erklärungen lieferte. So höflich, ja freundschaftlich ihre Briefe meist
sind, in diesem Bereich konnte Seghers sehr bestimmt, hart und ungeduldig vorgehen. Stets wollte sie ihre Werke auf die vorteilhafteste Weise unter möglichst vielen Leser/innen weltweit verbreitet sehen – schließlich musste sie mit ihrem Schreiben meist allein den Unterhalt für die Familie verdienen. Häufig, auch noch in DDR-Zeiten, wo sie schnell zu einer einträglichen Hauptautorin des Staatsverlages Aufbau geworden war und dementsprechend behandelt wurde, schimpfte sie ›freundschaftlich‹ mit ihren Lektor/innen und Verlegern über Korrekturen, Veröffentlichungsdaten, Auflagenhöhe, Buchgestaltung und Verfügbarkeit. Ihre frühen Verleger, Fritz H. Landshoff und Curt Weller, ließ sie ganz fallen, als diese in den Nachkriegswirren auf finanzielle Schwierigkeiten stießen. Von Mexiko aus, als sie zunächst bettelarm war und höchst ungeduldig auf die versprochenen Früchte vom Erfolg des Siebten Kreuzes wartete, erklärte sie Weiskopf, der seine Geduld mit ihr zu verlieren begann, weil sie sich bei ihm über Maxim Lieber, ihren Agenten in den USA, beklagte, ihren Standpunkt: »Wie Du arbeite ich von morgens bis abends, wie Du kenne ich den Wert meiner Arbeit und meiner Fähigkeiten. Ich arbeite mit Leidenschaft, für mich und für die anderen. Ich lasse mich durch Erfolg nicht verrückt machen, wie ich mich auch nicht durch die tiefe Nacht um mich herum verrückt machen ließ. Doch ist es das Natürlichste auf der Welt, dass ich meine Interessen bei meinem Agenten und meinem Verlag wahrnehme, ich wäre dumm, wenn ich es nicht täte, und außerdem wäre ich verantwortungslos ...« (Br1, 492 f.)
Bezeichnenderweise beschwerte sich Seghers nicht direkt bei Lieber, den ihr Weiskopf vermittelt hatte und der ihr den Vertrag, den Übersetzer und die Filmrechte für Das siebte Kreuz verschaffte. Es gelang ihr schließlich fast immer, die Leute, mit denen sie geschäftlich zu tun hatte, in ein Netzwerk von Beratern und Helfern einzubinden und zu Freunden zu machen. Das galt ganz besonders für B. J. Buber, ihren anderen wichtigen Agenten, den früh verstorbenen Franzosen polnischer Herkunft, den sie in den wenigen Nachkriegsjahren, in denen er für sie arbeiten konnte, zu ihrem wichtigsten Vertrauten machte und mit dem sie direkt und viel korrespondierte. Auf der anderen Seite bezog sie Freundinnen sowie ihre Familie in ihre Arbeit mit ein und ließ sie teilnehmen an Plänen, Fragen und Sorgen. Das begann mit den Jugendbriefen an den geliebten Mann, der zeit seines Lebens ihr wichtigster Vertrauter und Berater blieb.
33 Briefe und Korrespondenzen
Seghers las immer viel. Als Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR betrachtete sie es außerdem als ihre Verpflichtung, die jüngeren Kolleg/innen nicht nur zu lesen, sondern auch zu ermutigen, vor allem wenn sie von Kulturfunktionären angegriffen wurden und in Schwierigkeiten gerieten. Sie hatte einen guten Blick für Talent und suchte mit ein paar freundlichen Worten über schwierige Zeiten hinwegzuhelfen, was meist alles war, was sie tun konnte, aber den Empfänger/innen viel bedeutete, wie Antwortbriefe bestätigen. Neben der eigenen Arbeit spielte der Alltag in Seghers’ Briefen eine große Rolle. Das begann mit den Jugendbriefen und ging bis ins Alter. Immer wieder fing Seghers je nach Zeit und Umständen etwas vom ›gewöhnlichen Leben‹ ein. Sie kümmerte sich um viele Menschen, aber die Familie stand im Vordergrund, d. h. vor allem Mann und Kinder, die weitere Familie spielte in den Jugendbriefen eine kleine Rolle, später tauschte Seghers mit ihrem Lieblingscousin in London Briefe aus, die erhalten sind. Mit anderen Mitgliedern der weiteren Familie hatte sie kaum Kontakt. Seghers’ Briefe sind bei allen Lücken und Zufällen der Überlieferung faszinierende und wichtige Zeitdokumente, und das gerade, weil sie keinen ausführlichen, überlegten Kommentar zu den Zeitereignissen und -diskussionen lieferten. Seghers schrieb als Betroffene, die als Frau, Mutter, Freundin und politisch engagierte deutsche Jüdin im 20. Jahrhundert überleben und als Autorin ihren Weg machen musste. Und ihre Briefe erlauben Einblicke in die Persönlichkeit einer komplexen, widersprüchlichen Frau und Schriftstellerin, die zugleich phantasievoll und praktisch war, verletzlich und zäh, rücksichts- und anspruchsvoll, die Kinder und Mann liebevoll umsorgte und ihr Talent sehr ernst nahm. Schreiben war ihr sowohl Verpflichtung wie Halt. »Natürlich arbeite ich wie immer, das ist eine Strategie, um weiterleben zu können« (Br2, 348), schreibt die Achtzigjährige. Die Briefe geben Einsicht in ihre Arbeitsweise und die Entstehungsgeschichten mancher Texte. Seghers schrieb sie jedoch nicht mit dem Gedanken an Veröffentlichung, im Gegenteil, Persönliches sollte privat bleiben. Für uns heute sind ihre Briefe Ergänzungen zum Werk einer bedeutenden Schriftstellerin und wichtige Dokumente zu der Zeit und dem Land, aus dem sie stammte und in das sie nach der Vertreibung zurückkehrte, um dabei zu helfen, es wieder und besser aufzubauen – ein Land, in dem sie aber nie ganz heimisch wurde. Wie alles, was Seghers schrieb, erfordern die Briefe, dass man genau liest. Dann begegnet man einer sensiblen, kreativen und lebensmutigen Frau, die witzig und klug war und
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sich ihrem Talent und ihrer Zeit verantwortungsbewusst stellte, so gut sie konnte.
Briefwechsel und Freundschaften Anna Seghers wechselte im Laufe ihres langen Lebens Briefe mit so gut wie allen Menschen, die ihr etwas bedeuteten, und mit sehr vielen, denen sie als berühmte Schriftstellerin wichtig wurde. Wenn man ihre zahlreichen Antworten an Leser/innen, inklusive Schüler/innen, Student/innen, Forscher/innen und Arbeiter/innen, an Kolleg/innen und Funktionär/innen –oft Einzelbriefe und keineswegs uninteressant –zur Seite legt, bleibt immer noch ein umfangreicher Briefwechsel. Das hat damit zu tun, dass ihre Briefpartner/innen weit verstreut lebten und dass Seghers nicht nur von 1933 bis 1947 außerhalb von Deutschland verbrachte, sondern auch in den Jahren nach der Rückkehr häufig unterwegs war. Während des Exils waren ihr die Briefkontakte lebensnotwendig, und sie blieben es in vieler Hinsicht nach dem Krieg und in der DDR weiterhin. Die Korrespondenz ist von unterschiedlicher Intensität; ein Freund oder sehr häufig eine Freundin standen zu einer bestimmten Zeit im Vordergrund, dann traten sie zurück. Seghers brauchte jedoch immer Vertraute, auf die sie sich verlassen konnte, vor allem wenn sie sich allein, isoliert und unsicher fühlte. Das war gegen Ende des französischen Exils und von 1947 bis 1950 in Berlin ganz besonders der Fall, änderte sich aber nicht mehr völlig, selbst als sie wieder Fuß gefasst und in der DDR ihren Mann, ein Kind und alte Freund/innen um sich hatte. Ihr Bedürfnis nach Vertrauten hörte nicht auf, vor allem auch nach solchen, die außerhalb der DDR lebten und einen breiteren Horizont boten. Mann und Familie Seghers’ wichtigster Briefpartner zu allen Zeiten, in denen sie nicht mit ihm zusammen sein konnte, war ihr Mann Laszló Rádványi – in den Jahren 1924 und 1925, als sie vor der Heirat meist von ihm getrennt in Mainz bei den Eltern wohnte, von 1947 bis 1952, in denen er noch in Mexiko blieb, und später gelegentlich, wenn sie ohne ihn auf Reisen ging. Diese Briefe sind, soweit erhalten, entweder noch nicht im Anna-Seghers-Archiv der Akademie der Künste oder gesperrt. Nur einige wenige konnten in die Briefausgabe aufgenommen werden. Bezeichnend für Seghers’ Liebe, ihre Ängste und die allgemeinen Schwierigkeiten mit der Post in den
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III Reden, Publizistik, Briefe
Nachkriegswirren ist ihre Praxis, Briefe an ihn nicht nur über Verwandte und Bekannte im Ausland zusenden, sondern in ein und demselben Brief gleichzeitig an Empfänger/in und Mann zu schreiben. An Erika Friedländer, bei der sie auf der Rückreise in Schweden Station machte, heißt es z. B.: »Ich bitte dich diesen Brief sofort dem Rodi [wie Seghers ihren Mann nannte] zu uebermitteln. Es ist sozusagen ein Brief an Dich und Rodi zusammen.« Und weiter: »Rodile, ... [i]ch wollte ihr 2 wuerdet euch kennen lernen. Ich glaube sie [Erika] ist sehr zuverlaessig« (Br1, 236, 238). Als das Paar ab seiner Rückkehr nach Ost-Berlin 1952 bis zu seinem Tod 1978 dann in einer gemeinsamen Wohnung lebte, er aber für sie schmerzlich wenig zu Hause war, hinterließ sie ihm öfters kleine handgeschriebene Briefchen. Zwei, die die Autorin dieses Beitrages sah, drücken Seghers’ tiefe Zuneigung und große Verletzlichkeit aus. Doch auch seine Briefe an sie sind zärtlich, selbst wenn er sie über seine Rückkehr aus Mexiko über Jahre hinweg vertröstete. Eine andere Art von Korrespondenz mit ihm, die im Anna-Seghers-Archiv zugänglich ist, sind seine oft detaillierten, sorgfältigen und ebenfalls liebevollen Randbemerkungen zu ihren Manuskripten aus der DDR-Zeit. Rodi war und blieb seit der gemeinsamen Studienzeit sowohl emotional wie auch für ihre Arbeit Seghers’ wichtigste Bezugsperson, der sie ein grundsätzliches, existentielles Vertrauen entgegenbrachte. Wenn Kommunikation nicht anders möglich war, musste sie ihm schreiben. Was den Rest der Familie betrifft, so sind keine Briefe an Seghers’ Mutter und Vater, Isidor und Hedwig Reiling, erhalten, obwohl wir annehmen können, dass es frühe Korrespondenz gab. Wir wissen, dass Seghers aus dem französischen Exil nach Hause schrieb, wie ein aufgefundener Brief des Vaters bezeugt. Mit der Mutter stand sie noch von Mexiko aus in Verbindung, wie deren vor der Deportation geschriebene Briefe belegen. Wenn man diese wenigen erhaltenen Briefe der Eltern liest, glaubt man zu wissen, woher Seghers ihre warme, direkte Art im brieflichen und persönlichen Umgang hatte. Auch mit den eigenen Kindern tauschte sie liebevolle Briefe, mit dem Sohn, Pierre Radvanyi, der im Herbst 1945 nach Frankreich ging und für immer da blieb, und mit der Tochter, Ruth Radvanyi, die nach ihrem Medizinstudium in Berlin praktizierte, aber einige Jahre ein Spital in Sansibar leitete. Von den Reisen und Urlauben schickte Seghers ebenfalls Briefe und Karten. Einige der Briefe an die Kinder konnten in die Briefausgabe aufgenommen werden, die meisten sind allerdings nicht oder noch nicht zugänglich. Was an diesen Briefen auffällt,
ist der große Respekt, den sie ihren Kindern und deren Arbeit neben liebevoller Fürsorge entgegenbrachte. Seghers korrespondierte auch mit der weiteren Familie, der eigenen und der ihres Mannes, aber sporadisch, so vor allem während des Exils und kurz danach. Lily Szondi, die Schwester ihres Mannes, half ihr mit Hedwig Reiling vor deren Deportation so lange wie möglich in Kontakt zu bleiben. Und nach dem Krieg konnte Lily Szondi über die Schweizer Post Briefe an ihren Bruder weiterleiten und für Seghers Honorare in Empfang nehmen. Von der entsprechenden Korrespondenz ist jedoch kaum etwas erhalten. Dagegen bewahrte Sally David Cramer, Seghers’ um sieben Jahre älterer Cousin mütterlicherseits, mit dem sie sich in ihrer frühen Jugend gut verstanden hatte, die lockere Korrespondenz auf, die die beiden nach dem Krieg über Jahre führten, wobei er die treibende Kraft war und viel öfter und ausführlicher als Seghers schrieb. Er war schon vor Hitlers Machtergreifung nach London gegangen, um da zunächst für den gemeinsamen Onkel Harry Fuld zu arbeiten. Sally Cramer sah sich als Repräsentant der in alle Welt verstreuten jüdischen Familie und hielt Seghers auf dem Laufenden. Sie nannten einander Hony und sie unterschrieb mit Tiffel, ihrem Spitznamen in der Mainzer und Frankfurter Familie. Seghers ging auf Sally und seine gut gelaunten, oft derben Späßchen ein, und zeigte dabei ihre eigene drastische Seite, machte jedoch klar, dass sie in einer anderen Welt lebte. Trotzdem mochte sie ihn weiterhin und fand ihn nützlich, u. a. um mit Mann und Sohn Kontakt aufrechterhalten, wenn die Postverbindung nicht verlässlich oder gar nicht funktionierte, so auch noch 1974, als ein Streik in Frankreich ihre Verbindung dahin unterbrach, Sally Cramer aber telefonieren konnte. Er schickte außerdem englischsprachige Bücher, die sie sich wünschte, z. B. über die Dead Sea Scrolls und eine Geschichte der Juden – und die Modezeitschrift Vogue. Dem Rest der Familie ihrer Mutter, der sich selbst gerettet, Hedwig Reiling aber nicht geholfen hatte, stand Seghers distanziert gegenüber, ließ sich aber nicht auf Vorwürfe ein. Als Sally einige frühe Briefe von Seghers’ Mutter an die Frankfurter Familie schickte und noch mehr anbot, lehnte Seghers ab: »Ich habe, was Dir sicher sonderbar vorkommt und was wahrscheinlich auch sonderbar ist, nicht gern Briefe von Menschen, die ich lebend gekannt habe. Ich weiss nicht genau warum, aber es ist mir ein schrecklich unangenehmes Gefühl« (Br2, 116). So allgemein die Bemerkung klingt, so deutet sie doch auf das tiefe Trauma durch den Tod der Mutter hin.
33 Briefe und Korrespondenzen
Bekannte Persönlichkeiten In Seghers’ Korrespondenz scheinen bekannte Namen aus vielen Ländern auf, die sie aus einem bestimmten Anlass anschrieb, so z. B. Hermann Hesse, den sie zur Teilnahme in die Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg einlud, oder an Thomas Mann, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Interessant ist, dass es für das kurze Glückwunschschreiben an Mann Entwürfe gibt, weil Seghers offensichtlich genau den richtigen Ton achtungsvoller, aber nicht huldigender Anerkennung treffen wollte. Sie schätzte Mann nicht besonders. Mit einigen Schriftstellerkollegen aber stand Seghers über lange Zeit in freundschaftlichem Verkehr. Sie hatte sie gern und unterstützte sie, wenn sie meinte, dass sie es brauchten, so Hans Henny Jahnn, der ihr den Kleist-Preis zugesprochen hatte, gleich zu Beginn der Nazizeit und dann in den 1950er Jahren, als es ihm nicht besonders gut ging und sie ihm eine Einladung in die DDR verschaffte. Sehr wichtig war ihr Georg Lukács, dem sie gleich nach Kriegsende noch von Mexiko aus schrieb. Sie wolle ihn so bald wie möglich besuchen, um mit ihm über ihre Arbeit, vor allem das Manuskript von Die Toten bleiben jung (1949), zu sprechen. Solange er in der DDR und in Ungarn hohes Ansehens genoss, traf sie ihn zwischen 1948 und 1956 wiederholt bei Kongressen und gegenseitigen Besuchen. Sie verstand sich auch, wie meist mit den Frauen ihrer Schriftstellerfreunde, gut mit Gertrud Lukács (geb. Bortstieber). Seghers hatte schon in ihrer Heidelberger Studienzeit viel über den frühen Lukács gehört, war seit Berlin per Du mit ihm und unterschrieb ihre Briefe mit dem persönlichen Netty. 1938/39 hatte sie ihm in ihren öffentlichen »Briefen an Lukács« zur Expressionismus-Debatte zwar widersprochen, suchte aber nach ihrer relativen Isolation in Mexiko seinen Rat und Anschluss an marxistische Literaturdebatten. Als er nach dem Ungarnaufstand 1956, den er anfangs unterstützt hatte, in Ungarn und der DDR in Ungnade fiel, blieb sie in losem, aber kontinuierlichem Kontakt mit ihm. In einem Brief – aus Brasilien – heißt es: »Vielleicht schreibe ich gerade deshalb an Dich, in [...] meinem grossen Bedürfnis, nach den Werten die mein Leben ausmachen u aus Wärme u Dankbarkeit für Vieles, was du klar gemacht hast« (Br2, 132). Auch die Beziehung zu dem allseits umstrittenen russischen Journalisten und Schriftsteller Ilja Ehrenburg, mit dem Seghers spätestens seit dem französischen Exil und der gemeinsamen Arbeit am I. Internationalen Schriftstellerkongress in Paris 1935 befreun-
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det war, ging tief. Sie vergaß ihm nicht, dass er ihr nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris noch mit einer Geldspende geholfen hatte. Nach dem Krieg begegnete sie ihm in Deutschland und in Moskau wiederholt. Noch von Mexiko aus schrieb sie ihm –auf Französisch –, wie sehr sie sein Buch La chute de Paris (Der Fall von Paris) bewunderte. Später las sie die ersten Bände seiner Autobiographie Menschen – Jahre – Leben (1962; 1965) in der westdeutschen Ausgabe. Sie bedauerte, dass er dafür von allen Seiten angegriffen wurde und verteidigte ihn. Seghers hatte den weltgewandten Überlebenskünstler sehr gern und mag eine innere Verwandtschaft mit ihm empfunden haben, obwohl – oder weil – er sich im Zweiten Weltkrieg als Kriegspropagandist in Hasstiraden gegen die nationalsozialistischen Deutschen ergangen hatte, vor allem aber, weil er seine Mit-Juden in der Sowjetunion und modernistische Kunst verteidigte, so gut er konnte, und sich zu Stalin bekannte, so lange er musste. Nach Ehrenburgs Tod versuchte Seghers seine Datsche für die Witwe zu retten. Während Lukács und Ehrenburg älter als Seghers waren und sie in gewisser Weise zu ihnen aufsah, war der Brasilianer Jorge Amado zwölf Jahre jünger und eine Nachkriegsbekanntschaft. Er bewunderte sie. Die Korrespondenz mit ihm ist Seghers’ ausführlichste und offenste mit einem Schriftstellerkollegen. Seghers lernte Amado, der als Mitglied der Kommunistischen Partei 1941 ins Exil gehen musste, zunächst nach Argentinien, dann nach Paris und in die Tschechoslowakei, 1948 kennen und zählte ihn zu ihren »Raben«. Auch Ehrenburg und Lukács gehörten dazu, internationale Schriftsteller, mit denen sie im Umkreis des Weltfriedensrates und des Stalin-Friedenspreises zu tun hatte und die ihr für kurze Zeit das Gefühl einer zweiten Jugend gaben. Gemeinsam mit ihrem Mann besuchte Seghers Amado und dessen Partnerin Zélia Gattai zweimal (1961 und 1963) in Brasilien. Sie vertraute sich den beiden an, obwohl Amado nach der Rückkehr in seine Heimat aus der Partei ausschied und dann seine erfolgreichsten Romane schrieb, die sich nun viel mehr mit sexuellen als mit sozialen Themen beschäftigten. Seghers, die, wie sie ihm schrieb, das Sexuelle für nicht so wichtig hielt, fühlte sich ihm trotzdem weiterhin nahe, weil sie seine phantastische, volksverbundene Welt mit den Mythen und Märchen ihrer Heimat und ihrer jüdischen Tradition, von denen sie ihm erzählte, verbinden konnte. Bis ins hohe Alter schrieb Seghers ihm und Zelia; 1973 gestand sie ihnen nach ihrem Besuch in Berlin eine riesige Einsamkeit: »Solitude énorme« (Br2, 247).
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III Reden, Publizistik, Briefe
Ein deutscher, doch ebenfalls weltläufiger Schriftstellerkollege, mit dem Seghers vor und nach ihrer Rückkehr aus Mexiko häufig korrespondierte, war der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski. Sie kannte ihn seit Paris, möglicherweise auch schon seit der Heidelberger Studienzeit, und sah in ihm in ihren ersten Jahren in Berlin einen wichtigen, einflussreichen Vertrauten, dem sie vor allem von ihren langen Paris-Aufenthalten in dieser Zeit schrieb. Er gehörte zur kommunistischen Aristokratie, musste aber wegen seiner jüdischen Herkunft in der schlimmsten Zeit des sowjetischen Antisemitismus den Vorsitz der »Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion«, in der Seghers ebenfalls Mitglied war, abgeben. Doch grundsätzlich konnte sie sich nach der Rückkehr aus dem Exil unter seinem Schutz wohler fühlen und ihn als Berater für Texte wie »Sowjetmenschen« und für ihre Mitarbeit bei den »Partisanen des Friedens« (später Weltfriedensrat) heranziehen. Mit ihm, der als USOffizier schon 1945 nach Deutschland kam und ihr die Situation beschrieb, tauschte sie noch von Mexiko aus Gedanken über die Zukunft aus. Aus Paris berichtete sie ihm dann über ihre Aktivitäten und schrieb auf Französisch, vor allem wohl um ihre Briefe für andere in Berlin weniger leicht zugänglich zu machen. Sie war vorsichtig und misstrauisch gegenüber ostdeutschen Funktionären und suchte die Nähe der Familie Kuczynski und der sowjetischen Besatzer, zu denen er – und dann auch sie – gute Beziehungen hatte. Mit der größeren Sicherheit, die Seghers schließlich in der DDR gewann und mit der Rückkehr ihres Mannes 1952, dem Kuczynski seine bereitwilligen Aussagen über Kollegen übelnahm, kam Distanz in die Freundschaft, die jedoch nie ganz abbrach. Obwohl etwas jünger als Seghers scheint sich Kuczynski weiterhin für sie verantwortlich gefühlt zu haben. Für den Parteifunktionär Kurt Hager befragte er sie einmal zu einem kulturpolitischen Thema und berichtete über ihre Antwort. Wie meist mochte Seghers auch die Frau, Marguerite Kuczynski, gern. Als ein Sohn des Paares einen schlimmen Unfall erlitt, schrieb sie verständnisvoll ermunternde Brieflein an den jungen Mann. Diese Fürsorge war keine Ausnahme, Seghers schloss gewöhnlich die Familien ihrer Briefpartner/innen durch Grüße, Fragen und Geschenke, in die Freundschaft ein. Freund/innen und Zeitgenoss/innen im Osten Ihre umfangreichste und, was die Arbeit betrifft, aufschlussreichste Korrespondenz führte Seghers mit der russischen Literaturwissenschaftlerin Tamara Motyl-
jowa und dem russischen Germanisten, Übersetzer und Kulturfunktionär Wladimir Steshenski. Sie kannte Motyljowa schon seit der Konferenz des BPRS (Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller) 1930 in Charkow und begegnete ihr beim ersten Besuch in Moskau 1948 und danach wiederholt auch in Berlin. Der Briefwechsel reicht von 1948 bis 1982. Doch blieben die beiden Frauen beim ›Sie‹, obwohl sie die jeweiligen Familien in die Beziehung einschlossen und einander privat besuchten. Als einen »Rattenschwanz von Bitten und Fragen« charakterisiert Seghers einen ihrer Briefe und beschreibt damit viele. Motyljowa betreute Seghers’ Werke in der Sowjetunion, aber auch Kinder und Enkelkinder auf deren Reisen dahin. Außerdem erbat Seghers Informationen über sowjetische Neuerscheinungen und wünschte sich wichtige Artikel aus der Literaturzeitschrift Novyi Mir und anderes Material. Sie selbst gab bereitwillig Auskunft über ihr Schreiben und ihre Pläne. Motyljowa stand unermüdlich zur Verfügung, organisierte Publikationen und Übersetzungen und schrieb Artikel sowie zwei Bücher über Seghers (1953 und 1984, Moskau). Als der in Westdeutschland zum Literaturpapst avancierende Marcel Reich-Ranicki 1959 Die Entscheidung als »geistige Kapitulation der Anna Seghers« (Die Welt, 3.9.) scharf kritisierte, verfasste Motyljowa eine Replik gegen den »Renegaten«, zu der Seghers selbst allerdings meinte, »der Mensch ist wahrhaftig nicht satisfaktionsfähig« (Br2, 82). Ehe er in den Westen gegangen war, hatte Reich-Ranicki 1952 in Warschau ihre Bekanntschaft gesucht und etwas später ein positives Buch (Epika Anny Seghers, Warszawa 1957) über sie veröffentlicht. Motyljowa war selbstverständlich fest eingebunden in die kulturelle Hierarchie der Sowjetunion, aber keine Funktionärin im engen Sinn, sondern eine angesehene Wissenschaftlerin, die hauptsächlich für Deutschland zuständig war. Sie trug viel dazu bei, dass Seghers in der Sowjetunion bekannt und beliebt war und es auch blieb, was der Autorin sehr viel bedeutete, da sie Land und Leute liebte, aber auch weil diese Anerkennung ihre Stellung in der DDR absicherte. Die Korrespondenz mit Wladimir Steshenski ist ebenfalls sehr umfangreich. Er war Germanist, Übersetzer und in der Auslandsabteilung des Schriftstellerverbandes der UdSSR Leiter der Abteilung für die westeuropäischen Länder. Anna Seghers nannte den um 21 Jahre Jüngeren ihren »Pistolero«, weil er sie bei ihren Aufenthalten, Reisen und Forschungen zu Tolstoj und Dostojewskij in der Sowjetunion betreute und begleitete. Der erhaltene Briefwechsel mit ihm beginnt 1951, dem Jahr, in dem Seghers den Stalin-Friedens-
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preis erhielt und längere Zeit in einem sowjetischen Sanatorium verbrachte. Die Anreden gehen von »Lieber Genosse« zu »lieber Stechi« über, der Umgang ist vertraulich und oft spielerisch, wie Seghers ihn vor allem mit Männern gern pflegte, zum Du kommt es aber nur sporadisch. An ihn schrieb Seghers noch ausführlicher als an Motyljowa, sowohl über ihre eigene Arbeit und ihre Pläne wie über die von Kolleg/innen und über Ereignisse in der Kulturszene der DDR, erklärt jedoch: »Das ist kein sogenannter Bericht, das ist ein allgemeiner persoenlicher Brief ueber ein paar eigene Eindruecke« (Br2, 11), dazu schien sie sich aber verpflichtet zu fühlen. Negative Urteile über Menschen und Geschehnisse fällt sie keine. Seghers schickte an Steshenski auch einen ausführlichen Lebenslauf zur eigenen Entwicklung, dem sie noch ein Addendum hinzufügte. Als er aber selbst nichts damit machte, sondern das Material an Christa Wolf weitergab, die an eine Biographie über Seghers dachte, schimpfte sie ihn auf ihre manchmal burschikose Art einen »faule[n] Hund« (Br2, 138). Anfang 1957, nach den politischen Ereignissen in Ungarn, Polen und der Verhaftung Walter Jankas in der DDR ist ihr Ton ein ganz anderer: »Nein, es war keine ordentliche Welt seit wir uns das letztemal sahen. Ich habe grosse Sehnsucht nach einer besonderen Art von Welt, in der man arbeiten und atmen und sich manchmal wie verrückt freuen kann. Das ist im Augenblick ziemlich selten« (Br2, 63). Sie scheint jedoch geglaubt zu haben, dass diese Welt bei ihren russischen Freund/innen trotz allem existierte. Seghers ließ Steshenski Bücher und Zeitschriften (auch westliche) schicken und machte ihm und seiner Familie viele persönliche Geschenke wie Jacken, Blusen, Schuhe. Bei all ihrer Liebe zur Sowjetunion wusste sie sehr wohl, dass es dort an vielem fehlte. Er revanchierte sich mit ›Vodka Starka‹ und Kapern. Wie fast immer gehörte das gegenseitige Schenken, meist als Mitbringsel und über Hin- und Herreisende für Seghers mit zur Freundschaft. Unter den »besten Freunden in der Welt«, als die Seghers ihre russischen Bekannten bezeichnete, waren auch die zwei, die sie bei ihrer Ankunft in Berlin 1947 in mächtigen Positionen vorfand: Alexander Dymschitz, Germanist und Leiter der Kulturabteilung der SMAD (Sowjetischen Militärabteilung in Deutschland), und Oberst Sergej Tjulpanow, Leiter der Informationsabteilung. Tjulpanow, »der Alte«, wie sie den um ein Jahr jüngeren nannte, gefiel ihr besonders gut. Beide mussten aber schon 1949 in ihre Heimat zurück, wo der eine Literaturprofessor am Maxim-Gorki-Institut in Moskau, der andere als Politökonom Dozent
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in Leningrad wurde. Unter ihrem Patronat hatte sich Seghers im Nachkriegsdeutschland besser gefühlt und auch, als sie keinen Schutz mehr boten, hielt sie freundschaftlichen Kontakt. Lew Kopelew, der später im Westen als Dissident viel Anklang fand, war ein ganz anderer Fall. Bis zu seiner Ausbürgerung 1981 schwankte sein Leben in der Sowjetunion zwischen Verstoßung und Rehabilitierung hin und her. Er war ebenfalls Germanist und nannte sich »Transitmann«, weil er für die russischsprachige Ausgabe von Seghers’ Roman Transit ein Vorwort geschrieben hatte. Seghers führte briefliche – und persönliche – Streitgespräche mit ihm, u. a. zu seinem Artikel »Wieviel deutsche Literaturen gibt es« (Kopelew 1988, 227–281). Obwohl Seghers einige westdeutsche Autoren wie Heinrich Böll und Peter Weiss hoch schätzte und sogar für den Stalin-Friedenspreis vorschlug, widersprach sie Kopelew, der behauptete, es gebe zwar zwei deutsche Staaten, doch nur eine deutsche Literatur. Sie sah den entscheidenden Unterschied in der »Tendenz zum Sozialismus« (Br2, 177), womit sie keineswegs dogmatische Literatur meinte, sondern auf ihre schon in den Lukács-Briefen ausgedrückten Gedanken zurückkam, dass sich eine erfühlte und erhoffte neue Zeit in der Kunst (wenn auch vielleicht noch nicht vollendet) ausdrücke, und darauf komme es an. Aus den wenigen erhaltenen Briefen an Kopelew, den sie in Moskau zusammen mit seiner Frau, einer Amerikanistin, traf und mit dem sie per ›Du‹ war, geht hervor wie viel zeitgenössische und westliche Literatur Seghers kannte, und fast scheint es, als ob sie ihm gegenüber damit ein wenig prahlte. Sie gab ihm Ratschläge, was er für seine Arbeiten lesen sollte, und fand seine Besprechung von Das wirkliche Blau »vielleicht die schönste, die ich erhalten habe« (Br2, 213); seinen Bezug ihrer Erzählung zur »blauen Blume der Romantik« lehnte sie jedoch ab. Die Schwierigkeiten, die er in der Sowjetunion hatte, überging sie wie gewöhnlich. Ja, sie fand es einen »blödsinnigen Gedanken«, dass er empfindlich darauf reagierte, als er meinte, dass sein voller Name im Vorwort zu Briefe an Leser nicht genannt wurde (Br2, 212). In der Tschechoslowakei hatte Seghers ebenfalls alte Freunde, die sie nach der Rückkehr auf ihren Reisen und Urlauben, die sie häufig über Prag führten, sah, in erster Linie Egon Erwin Kisch, der aber schon 1948 starb, und Gisela Kisch. Sie kannte sie schon aus der Weimarer Zeit, im französischen und mexikanischen Exil wurden sie dann gute Freunde. Nach dem Krieg war das Paar wie fast alle nicht-deutschen Mit-Exilant/innen, die einander ursprünglich in Berlin ken-
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III Reden, Publizistik, Briefe
nen gelernt hatten, in seine Heimat, in ihrem Fall die Tschechoslowakei, zurückgekehrt. Seghers bewunderte Egon als Schriftsteller und freute sich über den Erfolg seines letzten Buches Entdeckungen in Mexiko (1947), und sie liebte seinen Humor, der ihr im Berlin der Nachkriegszeit ganz besonders fehlte. An Gisela schätzte sie deren Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft, die sie weiterhin in Anspruch nahm. Ihnen schrieb Seghers 1947/48 häufiger als sie Antwort bekam und berichtete ihnen über das Nachkriegsberlin und über ihre Besuche bei den Kindern in Paris. Ihr Resümee zu Frankreich und den Franzosen: »Aber was auch dort ist oder noch geschieht – dem lieben Gott ist entschieden dieses Volk besser geglueckt« (Br1, 273). Seghers blieb mit Gisela in freundschaftlicher Verbindung, ihre Briefe wurden aber kurz und praktisch. Mit der Jüngsten der tschechischen Mit-Exilantinnen, Lenka Reinerová, und deren Mann, dem Jugoslawen Theo Balk, stand Seghers ebenfalls in brieflichem und persönlichem Kontakt. Dass Lenka im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess von 1952 ins Gefängnis kam – sie wurde 1964 »rehabilitiert« – erwähnte Seghers aber nie, nicht einmal Lenka gegenüber. Nach dem Krieg wurde Rudolf Vápenik, Mitarbeiter im tschechischen Verlag Práce, Übersetzer, u. a. von Seghers, und bis zum Prager Frühling 1968 Leiter des Hauses der tschechoslowakischen Kultur in Berlin, zu einem weiteren tschechischen Freund, mit dem Seghers den Rest ihres Lebens in Kontakt blieb. Vápenik, der Transit früh ins Tschechische übertrug, beklagte sich im Verlauf der Freundschaft öfters über die Bevorzugung von Parteifunktionären, z. B. für Reisen. Seghers tröstete ihn, indem sie zur Geduld mahnte. Als er nach dem Prager Frühling in ernsteren Schwierigkeiten war, übertrug sie ihm die tschechische Übersetzung ihrer neuesten Arbeit, Überfahrt, wohl um ihn zu unterstützen, sprach das aber wie immer nicht aus. Ungarn war ein anderes Land, in dem Seghers nach der Rückkehr Freund/innen aus ihrer Berliner Zeit hatte. Sie stand ihnen näher als ihr ungarischer Mann, den es nie mehr zurück in seine Heimat zog. Neben Georg Lukács waren das u. a. Tilda Alpári und ihr Mann Pál, dessen Vater zur Ungarischen Räterepublik gehört hatte und in Sachsenhausen ermordet wurde. Tilda war ursprünglich Deutsche und arbeitete nach dem Krieg als Übersetzerin, u. a. von Die Toten bleiben jung. Seghers machte 1952 auf der Durchreise nach Moskau einen ersehnten Halt in Budapest bei ihr und schrieb Tilda danach: »Seit Jahr und Tag habe ich keine so schoenen Ferien mehr erlebt wie gerade bei Euch« (Br1, 396). Sie sah Lukács und andere Freund/innen
und arbeitete und diskutierte mit ihnen über Der Mann und sein Name, die sie »Novelle vom Boesewicht« (vgl. Zehl Romero 2003, 132) nannte. Wie aus allen Briefen deutlich wird, brauchte sie diese Art von Gespräch, scheint sie aber nach dem Krieg in Berlin kaum gefunden zu haben. Derzeit machte sie sich Sorgen um ihre Erzählung, weil sie sich darin mit der Gegenwart in Deutschland auseinandersetzte, sich bei diesem Material jedoch unsicher fühlte. Umso mehr freute sie sich über die lockerere Atmosphäre in Ungarn, in der sie offener reden konnte. Seghers hielt weiterhin freundschaftlichen Kontakt mit Tilda und erinnerte sich noch im Alter an die Heiterkeit dieser Zeit. Gemeinsam mit den kommunistischen Freund/ innen im Ausland konnte sie sich in den frühen 1950er Jahren auf den erhofften Neuanfang freuen, der in Berlin so viel ferner und problematischer erschien. Briefpartner/innen und Freund/innen im Westen und in der DDR Unter dem Eindruck der düsteren Atmosphäre, die sie 1947/48 in Berlin vorfand, führte Seghers in diesen Jahren einen besonders intensiven Briefwechsel mit drei weiteren alten Freundinnen, von denen zwei gleichzeitig als »Postillon d’amour« (Br1, 311) an ihren Mann in Mexiko dienten. Eine von ihnen, Clara Porset, ursprünglich aus Kuba stammende Innenarchitektin und Frau des mexikanischen Malers Xavier Guerrero, wohnte allerdings selbst in Mexiko. Trotzdem ließ Seghers keine Gelegenheit aus, ihrem Rodi Nachrichten zu schicken und nach ihm zu fragen. Die Briefe an Clarita, wie Seghers ihre Freundin nannte, sind zuerst auf Spanisch, dann auf Französisch. Wie in vielen Briefen der Jahre 1947 und 1948 beschreibt Seghers ihre Eindrücke im »Volk der kalten Herzen«, wie sie die Deutschen unter Berufung auf einen nicht identifizierten Schriftsteller nennt (Br1, 500). Für Porset und Guerrero verwendet sie malerische Bilder, die das Groteske an der Zerstörung hervorheben und gesteht ihre ästhetische Freude daran. Sie hat zunächst Sehnsucht nach dem in jeder Hinsicht wärmeren Mexiko und will möglichst viel hören über die gemeinsamen Bekannten, inklusive Diego Rivera. Die Korrespondenz mit Porset erstreckt sich über viele Jahre, verliert aber an Intensität. Seghers letzter Brief stammt von 1956, dem Jahr, in dem beide einander nochmals sahen, doch Porsets erhaltene Briefe reichen bis 1970, was darauf hindeutet, dass sie Seghers antwortete. In ihren Briefen berichtete Porset ausführlich von sich und ihren Sorgen, aber auch von Mexiko und von der
33 Briefe und Korrespondenzen
Entwicklung in Kuba. Für Seghers rückten jedoch Mexiko und die Freundin mit der Zeit in die Ferne. Der Briefwechsel mit Porset lässt Seghers’ traditionell Frauen zugeschriebene Seite deutlich hervortreten: ihre Freude an »tratschito«, wie sie es nannte (Br2, 255), an Kleidern und häuslichen Kleinigkeiten, und ihre Sorge für Mann und Kinder. Sie ging in Ton und Art ihrer Briefe, wie wohl auch im persönlichen Verkehr, stark auf ihre Partner/innen ein und schrieb allgemein vertraulicher an Frauen als an die meisten Männer. Ihre Freundinnen waren stets Kommunistinnen und lebenserfahrene, beruflich tüchtige Frauen, aber ganz selten Schriftstellerinnen und nie auf dem eigenen Niveau. Seghers sprach auch zu ihnen über ihre Arbeit, nur fühlte sie sich freier, außerdem viel über Alltägliches und Praktisches zu reden, das sie stets stark in Anspruch nahm. Sie erwartete von ihren Freund/innen, dass sie sich ebenfalls dafür interessierten, nicht nur generell, sondern auch für ihre spezifischen Belange. Erika Friedländer war Kommunistin und Exilantin in Schweden. Seghers machte auf der Rückfahrt (1947) bei ihr Station, ehe sie unter den schwierigen Reiseund Visabestimmungen der Zeit weiterreisen konnte. Die Briefe an Erika sind voll von Dankbarkeit für die Zeit im schönen winterlichen und vom Krieg unversehrten Stockholm, von kontrastierenden Eindrücken aus Deutschland und von Botschaften für Rodi. Seghers zog zusätzliche Reisen in Betracht und suchte Kontakte mit dem schwedischen Kulturbetrieb und mit Verlagen. Sie schien sich nach mehreren Seiten absichern zu wollen. Als Erika, die schnell zur Vertrauten geworden war, aber schon 1948 ihrem Mann in die SBZ (den sowjetischen Sektor von Deutschland) folgte, hören die Briefe auf und– soweit bis jetzt bekannt – jede Spur einer weiterlaufenden Freundschaft. Dagegen bestand die Beziehung zu Irene With, Seghers’ wohl bester Jugendfreundin, bis zu deren Tod 1966. Von den späteren Briefen sind allerdings nur die von With erhalten. Die Frauen waren seit Seghers’ Studienzeit und ihrem Praktikum in Köln befreundet und sie besuchte Irene und deren damaligen Mann Karl With nach beendetem Studium weiterhin. Sie machte sich damals Gedanken über die Beziehung zur Freundin, die zwar Jüdin war, aber nicht religiös suchend wie sie selbst noch. Irene hatte sich nach der Pogromnacht mit ihren zwei Söhnen nach Holland retten können, dort überlebt und war geblieben. Wann Seghers von ihr oder über sie hörte, wissen wir nicht. Sie ließ ihr gleich von Schweden eines der vielen Pakete schicken, die sie zu dieser Zeit in Auftrag gab, und blieb auch weiterhin
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die Schenkende. In den ersten Briefen beschrieb sie die Verhältnisse und den Schwarzmarkt in Berlin sehr konkret, später ging es beiderseits um Familie und um Bücher, die Seghers sandte, nicht nur ihre eigenen, sondern auch die von Kollegen. Irene, die gelegentlich übersetzte und viel las, kritisierte mit Feingefühl. Die Erzählung Brot und Salz gefiel ihr z. B. weniger, ein Urteil, das Seghers letztendlich teilte. Während diese drei Korrespondenzen für die ersten Jahre nach der Rückkehr besonders intensiv und interessant sind, beginnt der Briefwechsel mit Eleonore (Lore) Wolf, die Seghers in Paris bei der Abschrift von Das siebte Kreuz geholfen hatte, zwar auch in der Nachkriegszeit, wird aber mit den Jahren umfangreicher und vertraulicher. In späteren Jahren verließ sich Seghers immer mehr auf die Gleichaltrige, deren Rüstigkeit und Lebensfreude sie bewunderte. Lore Wolf überlebte nach ihrer Verhaftung 1940 in Paris bis Kriegsende in einem nationalsozialistischen Zuchthaus. Seghers wusste von der Verhaftung, mehr aber nicht. Deshalb beginnt ihr erster Brief, noch aus Mexiko, mit den Worten »wenn man um einen lieben Menschen Angst hatte und endlich von ihm hoert, dann hat man das Gefuehl, als sei der liebe Mensch der allerliebste ueberhaupt« (Br1, 199). Sie ist präzise, möglicherweise aus schlechtem Gewissen, da sie Lore Wolfs Tochter in Paris zwar noch aus der Ferne sah, aber nicht half, da sie und ihre Kinder selbst in Gefahr waren. Der einzige Vorwurf jedoch, der jemals von der anhänglichen und umtriebigen Freundin kam, war viele Jahre später Lore Wolfs Enttäuschung, dass sie nicht zum großen 75. Geburtstag eingeladen wurde. Seghers entschuldigte sich: Sie habe gemeint, dass es für Lore Wolf eine Erleichterung sei, wenn sie ihr schreibe: »es ist nicht wichtig.« »Nun denke ich ja nicht wie du ›Ein Leben ist zu wenig‹. Ich denke ›Ein Leben ist uebergenug‹« (Br2, 269 f.). Sie spielt hier auf Lore Wolfs Erinnerungsbuch Ein Leben ist viel zu wenig (1973) an, das mit Seghers’ Unterstützung und mit ihrem Vorwort in der DDR erschien. Aus der zitierten Bemerkung lässt sich jedoch hören, was in den Briefen an Lore Wolf mehr als sonst zum Ausdruck kommt: Seghers’ mit zunehmendem Alter immer häufiger wiederkehrende Anfälle von Depression. Sie kämpfte dagegen an, aber schwere Krankheitsepisoden warfen sie zurück und schließlich konnte sie nicht mehr richtig gehen und letztendlich auch nicht mehr klar denken oder schreiben. 1977 gesteht sie Lore Wolf: »Irgendwann habe ich mal einen Punkt gemacht, und jetzt ist für mich Schluss mit allem. Weder das Geschreibsel bei Euch oder hier über diesen oder jenen Roman in-
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III Reden, Publizistik, Briefe
teressiert mich noch die Romane selbst. Das ist alles in ein Loch gefallen. Auch die Verfasser sind mir gleichgültig geworden« (ASA 3725). Noch war sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR, ein Amt, das man sie erst 1978 abgeben ließ. Diszipliniert arbeitete sie jedoch immer weiter, beendete Drei Frauen aus Haiti (1980) und diktierte immer wieder Anfänge zu einem neuen Projekt, »Der Fahrplan«. Sie führte auch weiterhin eine ausgedehnte Korrespondenz, formulierte ihre Briefe aber gewöhnlich nicht mehr selbst, sondern überließ das ihrer langjährigen Sekretärin Ruth Hildebrand. Meist unterschreibt sie aber mit der Hand. An Lore Wolf spielt sie manchmal mit ihren verschiedenen Namen, um etwas von den früheren Späßen mit der alten Freundin aufleben zu lassen. Unter ihrem letzten Brief steht jedoch eher traurig wissend: »Netty (?) Tschibi (?) Anna (?)« (Br2, 303). Lore Wolf, die Seghers oft Lenelore nannte (Lene war der Tarnname der Freundin gewesen) erfüllte alle Erwartungen, die Seghers an ihre guten Freundinnen stellte. Sie war engagierte Kommunistin, lustig, treu und praktisch. Da sie in Frankfurt am Main wohnte, bot sie ein wichtiges Fenster zum Westen, sowohl was die Beschaffung von Informationen über das Leben in der BRD betraf, wie von Büchern. Seghers wünschte sich ein breites Spektrum für sich und Fachliteratur für Mann und Tochter. Außerdem bestellte sie viele kleine Konsumgüter, die es nur im Westen gab, von Pampelmusen, Nescafé Gold und Kleidungsstücken bis zur Zahnhaftcreme Kukident, vor allem Dinge, die sie sich für ihre Familie wünschte. Seit ihre Werke bei Luchterhand zu erscheinen begannen, ließ Seghers D-MarkEinkünfte an Lore Wolf überweisen und konnte bei ihr bestellen, ohne sie finanziell zu belasten. Trotzdem wollte sie sich für deren Mühe revanchieren und schickte kleine Geschenke, vor allem Bücher. Wenn Seghers nach Mainz reiste, machte sie bei der Freundin Station. Viel öfter jedoch kam Lore Wolf in die DDR oder ging auch mit Seghers und deren Familie auf Urlaub. Der Briefwechsel beschäftigt sich viel mit alltäglichen Dingen, dem Hin und Her von Wünschen und Päckchen, Besuchen und Reisen, doch kommt es auch zum Austausch von Meinungen und Informationen, auf Seghers’ Seite allerdings mit Vorsicht, da sie annehmen musste, dass diese Korrespondenz das besondere Interesse der Stasi erregte. Auch innerhalb der DDR versandte Seghers viele Briefe und schrieb Bekannten und Freund/innen zu besonderen Anlässen wie z. B. zu Geburtstagen und zu Todesfällen. Sie wohnte nicht im Zentrum von Berlin, sondern in Adlershof und zog es trotz Telefon vor, bei
ihr wichtigen Gelegenheiten Briefe zu schicken, z. B. auch an ihre Verleger und Lektor/innen, an Kolleg/innen im Schriftstellerverband und an Kulturfunktionär/innen. An Walter Ulbricht schrieb sie u. a., um ihm das Geld vom Stalin-Friedenspreis zur Verfügung zu stellen. Mit Walter Janka, der in Mexiko und auch noch in Berlin ihr Verleger war, korrespondierte sie vor und nach seiner Gefängnishaft arbeitsbezogen, doch nie so freundschaftlich wie mit ihrem ersten Verleger beim Aufbau Verlag, Erich Wendt. Seghers ließ aber Bekannte und Freund/innen nicht ›fallen‹, wenn sie in politische Schwierigkeiten kamen, sie ging nur in einer Mischung aus Vorsicht, grundsätzlicher Treue zur ›Sache‹ und Hoffnung auf die Zukunft darüber hinweg. Freunde wie Lukács verstanden das, andere nahmen es ihr übel. Grundsätzlich hielt sie an alten Genoss/innen und Freund/innen fest und erklärte ihre Haltung in einem Brief an Steshenski mit einer, wie sie meint, »etwas romantische[n] aber richtige[n] Redewendung«: »›er ist doch der Gefährte meiner Jugend, der Vertraute schwerer Jahre, und wenn Deine Liebe auch noch so gross wäre und sie hätte die Flügel eines Engels und die Geschwindigkeit des Sturmes, sie könnte den Weg nicht mehr einholen, den seine Freundschaft zurückgelegt hat‹« (Br2, 163). Das galt auch für die wenigen engen Freund/innen, die Anna Seghers in der DDR hatte und die sie regelmäßig sah: Jeanne und Kurt Stern, Berta Waterstradt, Steffie Spira und Ursula Mayer/Amann. Helene Weigel, die sie seltener sah, gehörte ebenfalls dazu. Alle diese Beziehungen gehen auf die Weimarer Zeit oder auf das Exil zurück. Von den Jüngeren in der DDR schafften es nur Christa Wolf (geb. 1929) und Stephan Hermlin (geb. 1915) Seghers näher zu kommen, Wolf, weil sie sich sehr bemühte und Hermlin, vermutlich weil er der Typ von klugem, charmantem Mann war, für den Seghers immer eine Schwäche hatte. Außerdem war er Jude wie sehr viele von Seghers’ Freund/ innen. Sie, die stets Vertrautheit suchte, scheint sie eher unter Kommunist/innen jüdischer Herkunft gefunden zu haben, allerdings ohne je darüber zu sprechen und keineswegs ausschließlich. Literatur
Kopelew, Lew: Der Wind weht, wo er will. Gedanken über Dichter. Hamburg 1988. Kretschmar, Ingeborg/Kiesling, Gerhard: »Macht der Literatur. Besuch bei Anna Seghers. In: Neue Berliner Illustrierte 18 (1962), Nr. 31 (August), 6–8. Reich-Ranicki, Marcel: Die geistige Kapitulation der Anna Seghers. Zu dem Roman ›Die Entscheidung‹. In: Die Welt, 3.9.1959.
33 Briefe und Korrespondenzen Seghers, Anna: Briefe an Leser. Berlin 1970. Seghers, Anna: Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947. Hg. von Christel Berger. Berlin 2000 (= Seghers 2000a). Seghers, Anna: Jans muß sterben. Hg. von Christiane Zehl Romero. Berlin 2000 (= Seghers 2000b). Seghers, Anna: Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Hg. von Christiane Zehl Romero. Berlin 2003 (= Seghers 2003a). Seghers, Anna/Herzfelde, Wieland: Ein Briefwechsel 1939– 1946. Hg. von Ursula Emmerich und Erika Pick. Berlin/ Weimar 1985. Seghers, Anna/Wolf, Christa: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays. Hg. von Angela Drescher. Berlin 2003 (= Seghers 2003b).
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Stephan, Alexander: Im Visier des FBI. Deutsche Exilschriftsteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste. Stuttgart/Weimar 1995. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003. Zehl Romero, Christiane: »Heldenbuch« – Spuren eines verschollenen Manuskripts. In: Argonautenschiff 19 (2010), 255–263. Zehl Romero, Christiane: Briefe zu Anna Seghers’ Projekt eines Gedenkbuches für antifaschistische Schriftsteller und Widerstandskämpfer. In: Argonautenschiff 19 (2010), 264–303.
Christiane Zehl Romero
IV Poetologische Fragestellungen
34 Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924) Mit ihrer kunsthistorischen Dissertation Jude und Judentum im Werke Rembrandts, die sie im Herbst 1924 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg einreichte, beendete Netty Reiling ihr Studium der Kunstgeschichte, Sinologie und Geschichte. Am 4.3.1924 hatte sie das Rigorosum abgelegt; sie verteidigte die Arbeit am 4.11.1924 und schloss beide Leistungen mit dem Gesamtergebnis Note »sehr gut (2. Grad)« ab (Zehl Romero 2000, 143). Die kurze Schrift umfasst im Original 57 Schreibmaschinenseiten (vgl. Bock 2008, 190); Zehl Romero nimmt für die Niederschrift wenige Wochen an (vgl. Zehl Romero 2000, 138). 1981 wurde Jude und Judentum im Werke Rembrandts, mit einem Vorwort von Christa Wolf und einem Bildanhang versehen, bei Reclam Leipzig veröffentlicht, wobei Seghers schon 1979 über eine Publikation nachdachte (vgl. Zehl Romero 2000, 134). Gegenüber dem Originalmanuskript wurden in der Reclam-Fassung einige Literaturhinweise und Anmerkungen getilgt (vgl. Reiling 1990, 59; Bock 2008, 190 f., 193). 1984 wurden Auszüge der Schrift unter dem Titel »Rembrandt und die Juden« in der schweizerischen Kulturzeitschrift Du. Zeitschrift für die Kultur veröffentlicht, um »exklusiv für den Westen« (Seghers 1984, 42) Einblicke in eine bislang unbekannte Arbeit der im Vorjahr verstorbenen Anna Seghers zu geben. Die Doktorarbeit ist der erste und einzige Text, in dem sich Anna Seghers explizit und schwerpunktmäßig der Untersuchung des Judentums gewidmet hat, von dem sie sich wenige Jahre später (zwischen 1925 und 1927) mit dem Austritt aus der jüdischen Gemeinde abwendet (vgl. Haller-Nevermann 1997, 36). Die Schrift markiert außerdem das Ende der wissenschaftlichen Tätigkeit der 24-jährigen Netty Reiling, die sich gleichzeitig oder unmittelbar nach ihrer Dissertation dem literarischen Schreiben zuwendet (vgl. Bock 2008, 202). Wenngleich sie sich nicht mehr wissenschaftlich mit Rembrandt beschäftigen wird, bleibt der Künstler eine wichtige Referenzfigur im Werk der Autorin. Sie bezieht sich in ihren ästhetischen Schriften explizit auf Rembrandt, dessen »echte Kunstwerke« (KuW1, 213), die »dignité humaine« be-
förderten (ebd., 199). Auch einige ihrer fiktionalen Texte – Grubetsch (1927), Der Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) – weisen Bezüge zur Malerei Rembrandts auf (vgl. AdF, 100–133; Bock 2009, 76; Zehl Romero 2000, 139). In der Seghers-Forschung wurden Bezüge zwischen dem Thema der Dissertation und Reilings im Studium gewachsener Sensibilisierung für den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, ihrer gleichzeitigen Beschäftigung mit dem Zionismus und Martin Buber, ihrer jüdischen Erziehung und der spezifischen Struktur der jüdischen Gemeinschaft in Mainz sowie dem Vater hergestellt, der als Kunsthändler auf niederländische Kunst spezialisiert war (vgl. Wolf 1990, 8; Bock 2008, 194, 199 f.; Zehl Romero 2000, 139 f.; Haller-Nevermann 1997, 30–33). Anna Seghers erklärte die Themenwahl rückblickend lakonisch damit, dass sie schon als Schülerin in Holland mit der Kunst Rembrandts in Berührung gekommen ist (vgl. Roscher 1983, 53). Ihre Arbeit habe »eine bestimmte sonderliche Frage« (ebd., 54) verfolgt, die die spezifische Struktur der jüdischen Bevölkerung Amsterdams im 17. Jahrhundert betraf. In der spannungsreichen Konstellation von wohlhabenden sephardischen Juden und armen, vor allem aus Polen geflüchteten Juden habe sie nicht nur eine »historisch-soziale Frage« (ebd.) gesehen, sondern auch eine kunsthistorische Problemstellung, da dies »nicht ohne Auswirkung auf Rembrandts Darstellung« (ebd.) geblieben sei. Ihre Doktorarbeit bewertete sie rückblickend als »sicherlich scholastische, in mancher Hinsicht naive Arbeit« (ebd.), zu der sie sich nicht klar positionieren könne.
Inhalt, Thesen, Argumentation Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, also dem Zusammenhang »zwischen der Erscheinung des Juden in Rembrandts Werk und der des realen Juden seiner Zeit« (Reiling 1990, 26). Reiling untersucht diese Beziehung nicht als reines Abbildungsverhältnis, sondern als eine Konstellation, bei der sich Kunst und Lebenswirklichkeit wechselseitig durchdringen und zu »eigenwillig gestalteter Überwirklichkeit« (ebd., 38) verdichten. Dies weist sie anhand einiger biblischer
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_34
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IV Poetologische Fragestellungen
Motive sowie insbesondere anhand von jüdischen Porträts und Christus-Darstellungen aus Rembrandts späterer Werkphase nach. In ihrer Arbeit verbindet sie einen sozialhistorisch-kontextorientierten mit einem werkhistorisch-produktionsästhetischen Ansatz, der auch den Schaffensprozess, also die Zeichnungen und Studien, berücksichtigt. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Beobachtung, dass Rembrandts Bilder von Juden und vom Judentum von der Forschung bislang nicht differenziert genug betrachtet worden sind. Sie grenzt sich von zwei Annahmen ab, die von ihr als zu pauschal abgetan werden: erstens von der Vorstellung, »daß Rembrandt zu dem Judentum seiner Zeit in einer bewußten Beziehung« (Reiling 1990, 14; Herv. i. Orig.) gestanden hat, was nicht für alle Schaffensphasen gleichermaßen gilt, und zweitens von der Annahme, einer »inneren Verwachsenheit mit dem Judentum« (ebd., 55), was sie mit Blick auf Rembrandts von ihr nicht näher spezifizierte christliche Religiosität zu entkräften sucht. Laut Reiling bleibt der »christliche Ausgangspunkt das Wichtige und Ausschlaggebende« (ebd., 17) für Rembrandt. Während Rembrandts Frühwerk noch einer idealisierten Darstellungsform verpflichtet gewesen sei, die sich an den Vorstellungen eines »romantischen Judentums« orientiere und nicht »das Wesentliche und völkisch Eigentümliche eines wirklichen Modells« (ebd., 30) zeige, zeichne sich seine spätere Schaffensperiode durch einen wirklichkeitsnäheren Zugriff aus, den sie auf den Kontakt zu den Amsterdamer Juden zurückführt. Die Dissertation umfasst neben einer kurzen Einleitung und einem knappen Nachwort drei Kapitel: »Die jüdische Gesellschaft um Rembrandt«, »Rembrandts Judendarstellung außerhalb des religiösen Bildes« und »Die Gestaltung des überwirklichen Juden im Bilde«. »Die jüdische Gesellschaft um Rembrandt« führt in sozialhistorische Kontexte und Rembrandts Lebenswirklichkeit im jüdischen Viertel Amsterdams ein. Das Amsterdamer Judentum setzte sich aus zwei Großgruppierungen zusammen: einerseits den wohlhabenden und bürgerlich integrierten Sephardim, also den im Zuge der Inquisition aus Portugal und Spanien eingewanderten Juden, die laut Reiling »bereits in Spanien ihre kulturelle und völkische Absonderung aufgegeben« hatten (ebd., 15), und andererseits den Aschkenazim, die für sie den Typ des »gänzlich verarmten, gehetzten Ghettojuden« (ebd., 25) repräsentieren und verstärkt seit den 1640er Jahren aus Osteuropa nach Amsterdam flüchteten. Der Unterscheidung dieser
beiden Gruppen kommt in der Dissertation eine Schlüsselfunktion zu. Das Kapitel »Rembrandts Judendarstellung außerhalb des religiösen Bildes« behandelt jüdische Porträtdarstellungen. Reiling geht zunächst auf Porträts der bekannten sephardischen Juden Menasse ben Israel und Ephraim Bonus ein, die für sie keine spezifisch jüdische Lebenswirklichkeit, sondern den »repräsentativ-bürgerlichen Anstrich der sephardischen Sphäre« (ebd., 29) ausdrücken und in die Reihe der »holländischen Porträts« (ebd.) gehören. Davon unterscheidet sie frei gewählte Bildmotive, etwa Rembrandts Porträtstudien jüdischer junger Männer aus den späten 1640er Jahren, die sie auf Modellstudien osteuropäischer Juden zurückführt (vgl. ebd., 33). Laut Reiling sind diese Porträts teilweise von »einer fast rohen Häßlichkeit und Verwahrlosung« und, »in breiten, unmittelbaren Strichen hingesetzt«, von einem »völlig unrepräsentativen Charakter« (ebd., 32). Zusammen mit den späteren Christus-Darstellungen, auf die sie im letzten Analyseteil ausführlicher eingeht, werden sie als Beispiele für die Darstellung einer »jüdischen Wirklichkeit« (ebd., 32) angeführt. Das Kapitel »Die Gestaltung des überwirklichen Juden im Bilde« stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Reiling geht auf verschiedene Arten der Darstellungen biblischer Themen ein. Von Interesse ist, »wie der biblische Stoff den Stoff des überwirklichen Judentums und die Wiedergabe der alltäglichen Umgebung formt« (ebd., 38). Besondere Bedeutung kommt Rembrandts verschiedenen, zwischen 1648 und 1661 entstandenen Bildern von Christus zu, den Reiling als »die eigentliche Zentralgestalt Rembrandts« (ebd., 52) in den Blick nimmt. Hier wird der »Wandel in seiner Darstellung des überwirklichen Judentums am offenbarsten« (ebd., 52). In den vermutlich auf jüdische Modellstudien zurückgehenden Christusdarstellungen verschränken sich für Reiling Rembrandts eigene christliche Religiosität und seine lebendige Erfahrung des Judentums mit einer höheren künstlerischen Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit der kunsthistorischen Forschung erfolgt im gesamten Verlauf der Dissertation summarisch, selten mit explizitem Verweis auf einzelne, wenige Forscher. Nicht erwähnt wird u. a. Wilhelm Fraenger, der 1920 ein Buch über den jungen Rembrandt veröffentlicht hatte und als »Meisterschüler« (vgl. Bock 2008, 190) von Reilings Lehrer Carl Neumann sowie schillernde Figur der Heidelberger Kunstgeschichte immer wieder als Ideengeber für den späteren Autorinnennamen ›Seghers‹ zur Disposition gestellt wird (was Seghers bestritten hat; zu Fraenger
34 Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924)
und Seghers vgl. Bircken 2008). Ihre Argumentation stützt Reiling vor allem mit geschichtswissenschaftlichen, zum Teil auf Holländisch verfassten Abhandlungen und historischen Quellen. Für die Bildbeschreibungen und -analysen greift sie auf das Werkverzeichnis von Wilhelm von Bode zurück.
Kunstgeschichtlicher Kontext Als Netty Reiling ihre Dissertation einreicht, hat sich die Kunstgeschichte seit knapp zehn Jahren akademisch institutionalisiert, wobei wichtige Impulse für die Entwicklung des Faches von Untersuchungen zur niederländischen Malerei ausgegangen waren, die lange Zeit im Schatten der Renaissance-Forschung gestanden hatte (vgl. Michalski 2015, 28–43; Kultermann 1996, 114 f., 126–129). Mit dem Thema ihrer Dissertation knüpft Reiling an den großen Forschungsschwerpunkt ihres Lehrers und Doktorvaters Carl Neumann an, der mit seiner 1902 publizierten Rembrandt-Monographie ein Standardwerk vorgelegt hatte. Wie Neumann, der seit seiner Berufung auf den Heidelberger Lehrstuhl im Jahr 1911 für die Verbindung von Kunst- und Kulturgeschichte stand (vgl. Fink-Madera 1993, 33) und die zunehmend formalistische Ausrichtung des Faches kritisch sah (vgl. Neumann 1924a, 34), verfolgt auch Reiling primär einen kultur- und sozialhistorischen Ansatz. Ähnlich wie ihrem Lehrer, der vom jüdischen Glauben zum Protestantismus konvertiert war, ist es ihr dabei vor allem um die Unterscheidung zwischen Früh- und Spätwerk zu tun. Anders als Neumann verbindet Reiling ihre Rembrandt-Studie aber nicht mit einem psychologisch-didaktischen, auf die Ergründung der »Künstlerseele« (Neumann 1924b, Kap. VI) sowie auf kulturelle und nationale Erneuerung abzielenden Impetus. Neumann sieht in Rembrandts Werk »Wesen und Sinnesart der nordischen und deutschen Natur« (Neumann 1924b, Kap. VIII) ausgeprägt, wobei Rembrandt emphatisch als »werbende Kraft und Macht unserer ganzen zukünftigen Kultur« (ebd.) sowie als prophetischer Genius mit »himmlische[r] Berufung« (ebd., 734) annonciert wird. Damit knüpft Neumann an ein legendäres Rembrandt-Bild an, das Ende des 19. Jahrhunderts zum integralen Bestandteil der RembrandtForschung geworden war. Bestandteil der ambivalenten Legendenbildung ist auch Rembrandts Verhältnis zum Judentum, das bis in die Gegenwart von der Forschung unterschiedlich bewertet wird und aufgrund der unsicheren Quellenlage
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zu Kontroversen, auch romantischen Verklärungen führt (vgl. Nadler 2003, 44–57). In Reilings Ansatz, der »quer zur Rembrandt-Forschung« (Dorgerloh 1996, 114) steht, spielen diese »zementierten Lesarten und Gemeinplätze« (ebd., 113) keine Rolle; von Eduard Kolloffs Vorstellungen eines ›jüdelnden Rembrandt‹ (Reiling 1990, 16) distanziert sie sich explizit. Einige der von Reiling angesprochenen Fragestellungen sind in der Rembrandt-Forschung des 21. Jahrhunderts – in der mitunter kursorisch im Apparat auf Reiling hingewiesen wird (vgl. Nadler 2003, 226; Perlove/Silver 2009, 5; Zell 2002, 43) – immer noch aktuell. Dazu zählen die Rolle, die Rembrandts eigene religiöse Überzeugung (die sich keineswegs klar rekonstruieren lässt) für seine bildkünstlerische Auseinandersetzung mit dem Judentum spielt (vgl. Perlove/Silver 2009; Zell 2002), die soziokulturelle Struktur der jüdischen Gemeinde Amsterdams (vgl. Nadler 2003) und die Bedeutung, die aschkenasische Modelle für Rembrandts Studien und Porträts spielen (vgl. Landsberger 1946, 40–47) sowie die mittlerweile zum »major topos of Rembrandt scholarship« (Zell 2002, 56) avancierte Annahme, dass Rembrandts späte Christus-Darstellungen auf jüdischen Modellstudien fußen.
Die Dissertation im Kontext der SeghersForschung Die Dissertation ist im Rahmen biographischer Arbeiten (vgl. Bock 2008; Zehl 2000) sowie im Blick auf Seghers’ Verhältnis zur Kunst (vgl. Bock 2009; Dorgerloh 2009) und ihre Beziehung zum Judentum (vgl. HallerNevermann 1997; Heuer 2011) untersucht worden. Wichtige Anregungen sind in den 1980er Jahren von Christa Wolf ausgegangen (vgl. Wolf 1987, 279–352; Wolf 1990). Schwerpunkte der Forschung liegen in der werkbiographischen Verortung und im Aufzeigen der poetologischen Bedeutung des Textes, in dem das Schreibprogramm der zukünftigen Schriftstellerin schon angelegt ist, wobei auf das Realismus-Konzept hingewiesen wird (vgl. Bock 2008, 207–210; Wolf 1990, 10; Zehl Romero 2000, 141), das Seghers unter anderem in der Auseinandersetzung mit Tolstoj entfaltet (KuW2, 157–164). Mit Blick auf die jüdische Thematik wurde auf Parallelen zwischen der Struktur der jüdischen Gemeinschaft im Amsterdam des 17. Jahrhunderts und der jüdischen Gemeinschaft in Mainz hingewiesen (vgl. Bock 2008, 199; Haller-Nevermann 1997, 32; Zehl Romero 2000, 139 f.). Die Auseinandersetzung mit dem Judentum wird sowohl
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IV Poetologische Fragestellungen
als »Medium einer Distanzierung, die eine Transformation von Glaubensinhalten in einen wissenschaftlichen Gegenstand ermöglichte« (Haller-Nevermann 1997, 37), als auch als Bestärkung von Seghers’ Gläubigkeit und Ausdruck ihrer Heilserwartung (vgl. Bock 2008, 207; Zehl Romero 2000, 140 f.) angesehen. Renate Heuer sieht in Seghers’ Arbeit eine Absage an die Assimilation und einen »unerwarteten Beweis dafür, wie orthodox ihre Auffassung ursprünglich gewesen ist« (Heuer 2011, 40). Literatur
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Stephanie Bremerich
35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit
35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit Die in drei Bänden 1970/71 publizierte und 1979 um einen Ergänzungsband (KuW4) erweiterte Textsammlung Über Kunstwerk und Wirklichkeit enthält eine Vielzahl von Reden, Essays, Aufsätzen und anderen schriftlichen Äußerungen Anna Seghers’ zu Fragen von Kunst bzw. Künstlertum und stellt damit die zu diesem Zeitpunkt umfangreichste Sammlung ihrer literaturtheoretischen programmatischen Schriften dar. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (KuW1–3) bzw. von der Akademie der Wissenschaften der DDR (KuW4) durch HansGünter Thalheim und Hans Werner Seiffert (KuW1– 3) bzw. Hans-Günter Thalheim (KuW4), erfolgte die konkrete Bearbeitung aller vier Teilbände durch Sigrid Bock. Als Germanistin, deren Forschungsschwerpunkt die DDR-Gegenwartsliteratur darstellte, hatte sich Bock bereits zuvor einen Namen gemacht (vgl. Bock 1965). Sie arbeitete in den Jahren danach weiterhin zu Seghers und hat so sowohl in der DDR als auch in der Zeit seit der Wende die Seghers-Forschung nachhaltig geprägt (u. a. als Herausgeberin des Argonautenschiffs und als Verfasserin einer Monographie; vgl. Bock 2008). Insofern ist Über Kunstwerk und Wirklichkeit nicht nur hinsichtlich der Kunstauffassungen der Autorin Seghers von Interesse, sondern auch wissenschaftshistorisch als ein Dokument der Seghers-Forschung in der DDR zu lesen, das darüber hinaus Überlegungen für aktuelle Forschungsfragen bereithält (s. Kap. 32). Diese verschiedenen Perspektivierungsmöglichkeiten der Textsammlung gilt es bei der Betrachtung zu berücksichtigen, nicht zuletzt deshalb, da Über Kunstwerk und Wirklichkeit breit rezipiert wurde und entsprechend das Bild von Anna Seghers als Schriftstellerin wie als Intellektuelle und Kulturschaffende formte. Neben den konkret vermittelten Inhalten durch die jeweiligen Texte ist daher ebenso die vorgenommene Auswahl sowie die Art der Präsentation von Belang, da beides rezeptionslenkend war und zur Konstitution der Vorstellungen von Seghers’ Kunstauffassung beitrug.
Gliederung und Inhalt Die Ausgabe ist nicht auf Vollständigkeit angelegt. Sie präsentiert explizit eine »umfangreiche[] Auswahl [...] zu Fragen der Kunst, der Literatur und des Zeitgeschehens« als »Ergebnis einer systematischen Durchsicht von Zeitungs-, Buch- und Archivmaterialien« (Bock
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1970, 5). Die von der Bearbeiterin Sigrid Bock im Vorwort gegebenen Erklärungen sind damit als Hinweise auf die Programmatik zu verstehen, die nicht nur in den Seghers’schen Texten anzutreffen ist, sondern die durch die Form der Darbietung im Sinne einer DDRkonformen Literaturkonzeption eigens herausgestrichen wird. Für die Auswahl bestimmend war, »mit den Beiträgen den weltanschaulich-politischen und künstlerischen Entwicklungsweg der Epikerin zu erhellen und ihren theoretisch-publizistischen Anteil an der Entfaltung der sozialistischen realistischen Literatur aufzudecken« (ebd.). Insofern ergibt sich für Über Kunstwerk und Wirklichkeit eine doppelte Perspektive: Es werden einerseits Literatur- und Kunstauffassungen Seghers’ abgedruckt, die andererseits deutlich auf den historischen Kontext DDR und dessen kulturpolitische Prämissen bezogen sind. Seghers wird so nicht in ihrer historischen Genese als Autorin und bürgerliche, dem Marxismus verpflichtete Intellektuelle gezeichnet, sondern statisch als Repräsentantin der DDR-eigenen Kultur und Kunst betrachtet. Das wiederum erscheint angesichts der Funktionärin Seghers als Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes (1952–1978) plausibel, ist jedoch im Hinblick auf die konkreten historischen Kontexte, in denen ein großer Teil der abgedruckten Texte entstand, kritisch zu sehen. Diese Dopplung von konkretem Kontextbezug der jeweiligen Seghers-Texte und Leserlenkung im Sinne der zeitgenössischen DDR-Kulturpolitik zeigt sich bereits in der Titelwahl. Der Gesamttitel Über Kunstwerk und Wirklichkeit ist hierbei ebenso in seiner Spezifik und in seinen Bezügen zu verstehen wie die Titel der einzelnen Teilbände: Band 1 ist »Die Tendenz in der reinen Kunst« benannt. Er enthält neben den »Ansprachen auf Schriftstellertreffen« (1935–1969) verschiedene Aufsätze und Schriften zu »Beruf und Berufung des Schriftstellers« (1938–1967). Hierunter sind bedeutsame und bekannte Äußerungen Seghers’ versammelt: u. a. Auszüge aus dem Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39) sowie die programmatischen Essays »Aufgaben der Kunst« (1944), »Die Tendenz in der reinen Kunst« (1948), »Ismen« (1948) und »Der wichtigste ›Ismus‹« (1948). Band 2 trägt den Titel »Erlebnis und Gestaltung«, womit wiederum Schlagwörter der marxistischen Literatur- und Kulturtheorie Verwendung finden. Er ist in drei Abschnitte gegliedert: Der erste umfasst »Eigene Arbeitsmethoden« (1931–1968); u. a. sind die 1959 und 1965 geführten Interviews mit Christa Wolf abgedruckt (vgl. KuW2, 24–29, 35–44). Der zweite Abschnitt trägt den Titel »Zauber der Kunst« (1927–
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_35
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1968), worunter Schriften über andere Autoren versammelt sind. Schließlich drittens »Über Tolstoj und Dostojewski« (1942–1963), die einen eigenen Abschnitt erhalten und unter den übrigen literarischen Bezugnahmen hervorgehoben werden, wodurch die Bedeutsamkeit der russischen Literatur für Seghers’ Schaffen besonders betont wird (die Auseinandersetzung mit Lukács hingegen eine Marginalisierung erfährt; vgl. KuW1, 173–185). Band 3 ist auf inhaltlich-weltanschauliche Aspekte bezogen, wofür der programmatische Titel »Für den Frieden der Welt« steht. Auch dieser ist dem Schlagwortinventar der DDR um 1970 zuzuordnen, wobei mit ›Frieden‹ ein gleichermaßen universell positiv konnotierter, im konkreten Gebrauch aber seiner unmittelbaren Bedeutung entzogener Begriff verwendet wird (vgl. Stoecker 1996). Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste behandelt den »Originaleindruck Sowjetunion« (1930–1967), wobei der ›Originaleindruck‹ auf die Unmittelbarkeit der Besuche Seghers’ verweist, so dass dem Geschilderten eine unverfälschte Wahrheit attestiert wird im Sinne einer sozialistischen Kunst- und Wirkungstheorie (und unter Ausblendung der historischen Gegebenheiten z. B. zur Zeit des Stalinismus). Der zweite Abschnitt beschreibt »Zeitereignisse« (1932–1967) – hierunter sind Beiträge mit Verweisen auf unterschiedlichste tagesaktuelle Geschehnisse versammelt, wobei das Bekenntnis zum Sozialismus und zur DDR deutlich artikuliert ist. Erkennbar ist dies z. B. an Seghers’ Stellungnahmen zum 17. Juni 1953 im Neuen Deutschland (KuW3, 105; vgl. KuW3, 258–264) sowie zum Aufstand in Ungarn 1956 im Sonntag (KuW3, 111 f.). Im dritten Abschnitt sind unter der Überschrift »Wer war das eigentlich?« verschiedene Texte Seghers’ über historische Personen zusammengetragen. Neben in der DDR populären kommunistisch-antifaschistischen Märtyrerfiguren wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (vgl. KuW3, 167) oder Ernst Thälmann (vgl. KuW3, 136–153, 155–158) finden sich Texte zu Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht (vgl. KuW3, 166– 171) sowie zu weiteren Politikern, die affirmativ im Sinne des Staates DDR geschrieben sind, etwa zu Erich Wendt (vgl. KuW3, 171–174). Aber auch ihr Beitrag zum 70. Geburtstag von Georg Lukács ist abgedruckt (vgl. KuW3, 162–164). Der vierte Abschnitt versammelt unter dem Titel »Stufen zwischen Wirklichkeit und Werk« (1931–1954) verschiedene kleinere Arbeiten. Der vierte, als Ergänzungsband 1979 publizierte Teilband trägt weder einen eigenen Titel, noch enthält
er eigens benannte rezeptionslenkende Untertitel. Vielmehr sind die in der Zwischenzeit erschienenen Schriften, Briefe und Interviews separat aufgeführt und jeweils chronologisch geordnet. Insbesondere die 1970/71 publizierten Bände 1–3 wirken – nicht zuletzt durch die Art der Zusammenstellung und die Deutungshinweise mithilfe der Überschriften – in ihrer Form der Bestandsaufnahme als Beschreibung eines relativ festgefügten Ist-Zustandes und damit wie ein vorläufiges Resümee der Kunstauffassungen Seghers’. Die historische Genese der einzelnen Texte erscheint dadurch weniger von Interesse, da als Bezugspunkte nicht die jeweiligen zeitgenössischen Kontexte gewählt wurden, sondern die Gegenwart der DDR um 1970 mit ihren kulturpolitischen Prämissen. Exemplarisch seien Seghers’ Aussagen als Künstlerin gegen den Nationalsozialismus genannt, da sich hierin die Besonderheit des DDR-Bezugs im Vergleich zur jeweiligen historischen Verortung zeigt. Als aus bürgerlichem Milieu stammende Jüdin, die schon in jungen Jahren auf beachtliche schriftstellerische Erfolge zurückblicken kann, zählte Seghers zur NS-Zeit bereits zu jenen bekannten Autoren, die im Kontext ihrer bürgerlichen Sozialisation den Nationalsozialismus aufs Schärfste verurteilten. Debatten der vergangenen Jahre zu Fragen von Kultur und Zivilisation, zur Moderne, zur literarischen Tradition und hierbei insbesondere zur Spezifik der deutschsprachigen Kunst und Kultur wurden nun mit dem Heraufkommen des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung des deutschen Bildungsbürgertums debattiert und auch im Hinblick auf die Kunst betrachtet. Seghers’ Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur (1935) ist historisch innerhalb dieser geführten Debatten zu verstehen. Die Rede trägt den bezeichnenden Titel »Vaterlandsliebe«, und die darin angeführten Fragen demontieren die Nazi-Ideologie, indem Seghers das »Vaterland« als »Idee« beschreibt, um die gegenwärtig gekämpft wird, und sie entlarvend von verlockender »Gemeinschaft« und dem »Mythos von Blut und Boden« spricht (KuW1, 64 f.). Damit greift sie auf ein ähnliches Ideen- und Begriffsinventar zurück wie z. B. Thomas Mann in »Bruder Hitler« (vgl. Mann 1939), der für Seghers innerhalb der DDR häufig vergleichend herangezogen wurde (vgl. Rilla 1950, 9; Bock 1970, 23). Seghers’ Argumentation in dieser Rede zielt auf das Leiden am Vaterland, das in der deutschsprachigen Literaturgeschichte Tradition hat. Sie benennt vorzeitig »ausgeschiedene[] deutsche[] Schriftsteller« wie Höl-
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derlin und Kleist, die sie als »die Besten« beschreibt, und bezieht sich dabei auf Gorkij, um »die eminente gesellschaftliche Bedeutung von Geisteskrankheit« herauszustreichen (KuW1, 65 f.). Wurde diese Aussage später im Hinblick auf ihren DDR-Bezug als für Seghers spezifische Modifikation des literarischen Erbes aufgefasst, ist sie im zeitgenössischen Kontext der NS-Zeit und des Exils auf aktuelle Debatten bezogen. Auch Gorki wird von ihr dabei weniger in der späteren Lesart als Wegbereiter des sozialistischen Realismus gesehen denn als Intellektueller, der die zu seiner Zeit geführten psychiatrisch-medizinischen Diskurse thematisiert. So zeigt sich die doppelte Perspektive von Über Kunstwerk und Wirklichkeit am Beispiel dieser Rede, die zu ihrer Zeit (1935) aktuelle Fragen im Hinblick auf den Wirkungsradius der bürgerlichen Intellektuellen aufwarf, im Nachgang jedoch im Sinne eines von Seghers in jenen Jahren bereits favorisierten Realismus- und Erbeverständnisses gelesen wurde. Beide Perspektivierungen sind möglich, zeigen aber zugleich die Kontextabhängigkeit aller Interpretationen von Seghers’ theoretisch-programmatischen Äußerungen.
Wiederkehrende Themen und Motive in Seghers’ Kunstauffassung Die Seghers-Forschung geht einerseits davon aus, dass es eine »Seghers’sche Poetik im Ganzen« nicht gibt (Hilzinger 2000, 78); andererseits ist zu lesen, dass sich bestimmte Ansichten von Anbeginn in ihren Schriften formuliert finden (vgl. Bock 2008, 201–210). Von Interesse sind hierbei insbesondere Seghers’ Selbstverständnis als im Bürgertum sozialisierte jüdische deutschsprachige Schriftstellerin, ihre Präferenz der Epik, ihre auf einem marxistischen Kunstverständnis basierenden Ansichten, ihre Auffassung des sozialistischen Realismus im Allgemeinen wie im Detail, ihre Äußerungen zum literarischen Erbe, ihr politisches Agieren als Intellektuelle sowie ihr Rollenverständnis als Kulturfunktionärin in der DDR. Spätestens mit ihrem Beitritt zum Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (1928) sah sich Seghers selbst entsprechend ihrer Herkunft und Sozialisation durch die bewusste Hinwendung zum Kommunismus als bürgerlich-humanistische Schriftstellerin. Ihrem marxistischen Kunstverständnis gemäß ging sie davon aus, dass die Literatur – als Teilbereich der Kunst zum Überbau der Gesellschaft gehörend – bestimmte Funktionen innehat, indem sie zur Be-
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wusstseinsbildung beiträgt und so gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann. Als Besonderheiten ihrer Ansichten sind hervorzuheben, dass Seghers den historischen Materialismus nicht nur auf geschichtliche Prozesse anwendet (in dem Sinne, dass historisch notwendige Entwicklungen stattfinden, wobei die Gesellschaftsordnungen einander ablösen). Historische Bedingtheit, geschichtliche Prozesse und Bewusstwerdung der Individuen bezieht sie auch auf die Literatur (wie die Kunst als übergeordneter Kategorie) und die Schriftsteller (resp. Künstler) als in ihrer jeweiligen historischen Situation verortet. Ihr historisches und historisierendes Verständnis von Literatur und Kunst hat sie u. a. in ihrer Rede »Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung des Volkes« auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress 1956 dargelegt. Sie nimmt darin auf die russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts Bezug und korreliert Tolstojs Ausführungen zu den »drei Stufen der Entwicklung für den Schriftsteller« (KuW1, 108) mit der historischen Situierung des jeweiligen Autors (s. Kap. 38). Eine solche Übertragung und Analogisierung bestimmter Phänomene und Aspekte in andere Seinsbereiche als Prinzip ist auch in ihrem literarischen Werk anzutreffen, u. a. durch »Verdopplung des Erzählvorgangs in einer Rahmen- und einer Binnenhandlung« sowie mittels »Analogie zwischen dem Weg zu sich selber und einem ›äußeren Weg‹« (vgl. Hilzinger 2000, 79). Dieses Vorgehen bezüglich ihrer kunsttheoretischen Erörterungen erlaubt es Seghers’, differenziertere Ansichten zur Einordnung von Autoren und Werken in der Literaturgeschichte wie in der eigenen Gegenwart vorzunehmen. Anders als Lukács bezieht Seghers den Schriftsteller bzw. Künstler in ihre Überlegungen ein und sieht diesen in seiner historischen Bedingtheit und bezogen auf dessen Verhältnis zur außersprachlichen Realität, verstanden als Wirklichkeit. ›Wirklichkeit‹ ist hierbei marxistisch gedacht. Sie umfasst »die tatsächliche Existenz von Dingen, Eigenschaften, Beziehungen, Prozessen usw. der objektiven Realität. Wirklich sind also auch ideelle Erscheinungen, obwohl sie objektiv nicht real sind« (Fiedler/Gurst 1987, 201). Das an Tolstoj angelehnte Stufenmodell ist bei Seghers Ausgangspunkt für die Unterscheidung verschiedener Bewusstseinszustände, in denen sich ein Schriftsteller befinden kann. Bezogen auf die historische Situation ist das Stadium des Übergangs relevant (vgl. Bock 1970, 26 f.). Hierdurch können sowohl inhaltsbezogene wie auch die Form berücksichtigende Werturteile gefällt werden.
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Darüber hinaus ist diese historisierende Konzeption auch für Seghers’ Realismusverständnis von Belang – ebenfalls in Abweichung von Lukács (s. Kap. 36). Obwohl sie sich als bürgerliche Schriftstellerin in die Tradition des Realismus des 19. Jahrhunderts stellt, nimmt sie eine klare Unterscheidung zwischen kritischem Realismus (nicht als Begriff der Philosophie, sondern der marxistischen Literaturwissenschaft) und sozialistischem Realismus vor (s. Kap. 37). Maßgeblich ist hierbei die Stellung zur Wirklichkeit, welche sich nicht in der bloßen Darstellung der wahrnehmbaren historischen Realität erschöpft. Während der kritische Realismus historisch im 19. Jahrhundert zu verorten ist und dort die gesellschaftlichen Zustände so objektiv wie möglich literarisch gestalten will, umfasst der sozialistische Realismus mehr. Die Darstellung der Wirklichkeit weist über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der eigenen Gegenwart hinaus, indem die sozialistische Utopie literarisch mitthematisiert werden soll (vgl. Max 2018, 110–115): »Aus unserer gemeinsamen deutschen Literatur, die im Kampf um Einheit und Frieden entsteht, wird klar, was der Unterschied zwischen sozialistischem und kritischem Realismus bedeutet. Diese Begriffe sind oft erklärt und oft mißverstanden worden. Warum ist unsere Methode die Methode des sozialistischen Realismus? Weil wir die Wirklichkeit in ihrer Entwicklung zum Sozialismus darstellen wollen.« (KuW1, 112)
Wesentlich für Seghers’ Kunstauffassung sind die historische Kontextualisierung des Kunstwerks und der Einbezug des Künstlers, vor allem im Hinblick auf dessen gesellschaftliche Bewusstheit. Daraus ergibt sich ein Konzept von Literaturgeschichte, deren Epochenfolge sich in Analogie zur historisch notwendig gedachten Ablösung von Gesellschaftsformen vollzieht. Dadurch ist eine Abgrenzung des sozialistischen Realismus zu anderen Formen des Realismus gegeben (bürgerlicher/kritischer Realismus). Den sozialistischen Ideengehalt und die Parteilichkeit des sozialistischen Realismus beschreibt Seghers innerhalb ihrer eigenen Kunstauffassung als intendierte Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine solche Perspektivierung paraphrasiert einerseits bestimmte Aspekte des offiziellen Realismus-Diskurses innerhalb der DDR-Kulturpolitik. Andererseits hält sie auch Möglichkeiten zur Integration von Autoren und Werken bereit, die sich für die offizielle Deutung als problematisch erweisen. Darüber hinaus eröffnet die auf den marxistischen Wirklichkeitsbegriff bezogene und
zudem inhaltlich ideologisch orientierte Realismuskonzeption die Befürwortung auch solcher narrativer Darstellungsverfahren, die per se nicht als realistisch angesehen wurden. Dadurch sind sowohl Seghers’ Frühwerk als auch ihre späten Arbeiten mit der Hinwendung zum Mythos integrierbar. Die Umsetzung dieser Konzepte in Seghers’ eigenem literarischen Œuvre wurde durch die zeitgenössische Rezeption sowie von der späteren Forschung in ihrer Dialektik wahrgenommen: Sie »schuf [...] eine Prosa, die von der Wirklichkeit gesetzt war und wertsetzend die Wirklichkeit ordnete« (Rilla 1950, 15), wodurch die (marxistisch gedachte) Erkenntnisfunktion der Kunst auch den Künstler selbst einbezieht. Die aktuelle Forschung verweist ebenfalls auf »den künstlerischen Schaffensprozess in seiner Dialektik« bei Seghers: »im Autorsubjekt treffen, durchdringen und verwandeln sich die unmittelbare, subjektive Wahrnehmung von Wirklichkeit, deren Bewusstmachung und Analyse und die Wiedergewinnung der unmittelbaren sinnlichen Präsenz im Vorgang des Erzählens« (Hilzinger 2000, 79). Seghers schreibt in »Die Tendenz in der reinen Kunst«: »Der Künstler macht die Wirklichkeit durch die Mittel der Kunst bewußt. Er macht alle möglichen Phasen einzelner Teile bewußt, die sonst in der Fülle chaotisch auf uns einwirken. Es ist ein Zufall, was gerade auf uns wirkt. Aber durch den Künstler hört es auf, ein Zufall zu sein« (KuW1, 211). Die Dialektik außersprachlicher Realität als ›Wirklichkeit‹ und vom Künstler vermitteltem Kunstwerk zählt zu den Konstanten in Seghers’ Kunstkonzeption, wie sie über die Jahre wiederholt artikuliert wird. Eine Besonderheit im Vergleich zum kulturpolitisch programmatischen Schrifttum der DDR stellt bei Seghers die Wahrnehmung des Autors in seiner Subjektivität dar. Das Kunstwerk »ist seine Schöpfung geworden, und durch seinen Willen wird uns ein bestimmter Bestandteil bewußt« (KuW1, 211 f.). Die Hervorhebung des Individuums bezieht produktionsästhetische Gesichtspunkte ein und zielt hinsichtlich der in den Texten dargestellten Inhalte auf den Einzelnen ab. Hatte Seghers schon im Frühwerk den Fokus auf die Bedeutung des Individuums (vor dem Kollektiv) gerichtet und später in seiner Konsequenz gezeigt, z. B. in Das siebte Kreuz, führt sie dies in der DDR fort und artikuliert es zudem in ihren kunsttheoretischen Beiträgen. In »Aufgaben der Kunst« erläutert sie dieses Vorgehen, wenn sie von drei Werten spricht, von denen der erste »das Individuum« ist, dem »das Volk« sowie »die Menschheit« nachgeordnet sind (KuW1, 199). Grundlegend für Seghers ist »das Individuum
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mit allen seinen auslebbaren Eigenschaften, mit seiner sozialen Bedingtheit, mit seinen offenen und verborgenen Leidenschaften« in Entsprechung zur dignité humaine der »französischen Schriftsteller« (ebd.). Demgemäß müsse »die Kunst helfen [...], den einzelnen Menschen wieder einzusetzen« (ebd.). Im Einzelnen soll bei Seghers das Ganze zum Tragen kommen. Diese Gedankenfigur findet sich in den Texten bezogen auf konkrete Handlungsmuster, die die Wirklichkeit oftmals in Ausschnitten präsentieren, statt ein komplettes Panorama der Gesellschaft zu zeichnen, was von vielen Texten der frühen DDR-Literatur angestrebt wird. Außerdem ist die Fokussierung auf einzelne Figuren in ihrer individuellen Lage ebenfalls als Ausschnitt von Wirklichkeit zu verstehen. Mit Blick auf das männlich dominierte Figureninventar jener literarischen Epochen, an denen Seghers teilhat, lässt sich hier auch ihre Präferenz weiblicher Figuren zuordnen. Dadurch »verkörpert sich im Seghers’schen Erzählwerk jenes noch nicht in die Geschichte eingetretene [...] humane Potential von ›Weiblichkeit‹ bzw. ›Mütterlichkeit‹« (Hilzinger 2000, 83). Seghers rekurriert dabei nicht allein auf den »Topos von der Frau als Naturwesen« (ebd.), sondern gestaltet ihre Protagonistinnen als konkrete historische Individuen. Die Kunst kann so durch die Darstellung und Thematisierung von Ausschnitten ermöglichen, die Gesamtheit der Wirklichkeit wahrzunehmen, wobei – bezogen auf den Totalitäts-Begriff – eine Abweichung zu Lukács hervortritt. Schon in ihrer Dissertation zu Rembrandt (s. Kap. 34) findet sich die Konzeption, dass es »dem einzelnen Künstler beschieden sein kann, einen Teil der Wirklichkeit für seine Kunst zu entdecken, nach allen Richtungen hin abzutasten, mit einem bestimmten Stoff gleichsam eine Art Ehe einzugehen« (Reiling 1981, 13; vgl. Bock 2008, 257). Damit ist die bildende Kunst (repräsentiert durch Rembrandt) ebenso wie die Literatur als Bestandteil einer Kunst beschrieben, die Bewusstsein schafft. Kunst ist durch ihren jeweiligen historischen Kontext bedingt und an den jeweiligen Produzenten gebunden, der ebenfalls durch seine historische Situation geprägt ist. Zugleich kann Kunst durch die Art der Wirklichkeitsdarstellung Haltungen und Einstellungen beeinflussen und so Änderungen bewirken. Der sozialistische Realismus wird durch Seghers nicht allein im theoretischen Schrifttum weitergedacht, sondern auch im literarischen Werk. Ihre Hinwendung zum Mythos ist demgemäß nicht als Abkehr vom sozialistischen Realismus zu verstehen, sondern
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als Versuch einer möglichen Fortführung (s. Kap. 40). Als repräsentierte Wirklichkeit unter Hinwendung zur sozialistischen Utopie ist es für Seghers möglich und legitim, mythologische Stoffe für die DDR-Gegenwart fruchtbar zu machen. Ihr Einfluss auf den Fortgang der DDR-Literatur ist diesbezüglich unverkennbar. Genannt sei Christa Wolf, die sich in ihrer Mythos- und Romantikrezeption auf Seghers bezieht (vgl. KuW2, 38). Obwohl die Forschung angemerkt hat, dass Seghers’ »Versuch, den sozialistischen Realismus durch romantische und moderne Erzähltechniken zu bereichern, [...] scheitern [mußte], solange die Grenzen des bestehenden Begriffs des sozialistischen Realismus nicht reflektiert und aufgelöst wurden« (Horn 2005, 90 f.), ist doch deutlich, dass Seghers selbst diesen bis zuletzt hoch hielt. Noch 1976 spricht sie in »Die Kraft der Kunst« vom »oft behandelten, oft mißhandelten ›sozialistischen Realismus‹«, dessen »Orientierung auf den Menschen« sie für wesentlich erachtet (KuW4, 136). Die Hervorhebung des Individuums erstreckt sich darüber hinaus auf die Bewertung der Literaturgeschichte und damit auf das literarische Erbe. Seghers hat schon früh solche Autoren benannt, die für die Erbekonzeption der DDR weniger im Fokus standen – nicht zuletzt, da sie laut offiziellen Verlautbarungen den inhaltlichen wie formalen Anforderungen des bürgerlichen bzw. kritischen Realismus nicht in ausreichendem Umfang zu entsprechen schienen. So hat sie auf der Basis ihres eigenen Realismusverständnisses (im Zusammenhang mit ihrer Wirklichkeitskonzeption) Erweiterungen des Erbekanons angeregt. Neben solchen von ihr angeführten Autoren wie Hölderlin, Karoline von Günderrode, Kleist oder Lenz (vgl. KuW1, 65 f.), denen von Seiten der Kulturpolitik nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, ist vor allem ihre Hinwendung zu Kafka hervorhebenswert, da dieser namentlich in den frühen Jahren der DDR Ablehnung erfuhr (s. Kap. 39). Bei der Kafka-Konferenz 1963 in Liblice bei Prag war sie eine der wenigen Teilnehmer/ innen aus der DDR, und 1965, nur kurze Zeit vor dem 11. Plenum (dem sog. Kahlschlag-Plenum), erklärte sie auf dem Internationalen Schriftstellertreffen in Weimar, dass es »keinen großen Unterschiede [sic!] zwischen Büchners ›Lenz‹ und dem ›Schloß‹ von Kafka [gab]. Beide stellten eine düstere Zeit in bewundernswertem, schnörkellosem Deutsch dar« (KuW1, 150). Sie vergleicht damit nicht allein den in der DDR ideologisch vereinnahmten Georg Büchner mit dem als formalistisch stigmatisierten Franz Kafka, sondern durch die Benennung von Büchners Lenz bezieht sie
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sich auf einen in der DDR weitgehend marginalisierten Büchner-Text. Dass dadurch zugleich ihre Aussage zur Bedeutung Kafkas wieder relativiert ist, deutet die grundsätzliche Problematik Seghers’ an, innerhalb des staatlicherseits vorgegebenen Rahmens agieren zu müssen und dennoch eigene Akzente setzen zu wollen (s. Kap. 45).
Forschungsfragen Die in ihren theoretischen Schriften wiederholt gestellte Frage nach der Persönlichkeit des Autors wirft Seghers auf sie selbst zurück. Ihre Anspruchshaltung an die Kunst, Bewusstsein zu schaffen und Wirklichkeit zu setzen, betrifft auch das eigene Œuvre. Als »weltberühmte ›Grande Dame‹ der DDR-Literatur« (Sternburg 2012, 142) beschrieben, ist sie nicht nur Autorin, sondern zugleich Kulturfunktionärin. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern der von ihr eingeforderte künstlerische Anspruch von ihr selbst umgesetzt werden kann. Es ist offenbar, dass sie die Gegebenheiten in der DDR bis zuletzt als sozialistische Wirklichkeit aufzufassen gewillt war, auch wenn bestimmte Entwicklungen den eigenen Idealen zuwiderliefen. Das betrifft nicht nur komplexe politische Prozesse wie den Stalinismus in der Sowjetunion, den sie aus ihrem Schrifttum konsequent ausblendet (vgl. KuW3, 11–36), sondern auch Ereignisse im eigenen Land, die dem sozialistischen Ideal widersprechen. Genannt seien der Prozess um Walter Janka (1956/57) sowie die Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976) und die entsprechenden Nachwirkungen, bei denen Seghers sich auffallend zurückhaltend zeigte. Auch ihr Schweigen als Verbandsvorsitzende im Zusammenhang mit dem gescheiterten Publikationsversuch der Berliner Anthologie 1975/76 durch Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade ist zu erwähnen. Ihre aus dem Nachlass herausgegebene Novelle Der gerechte Richter lässt zwar einen grundsätzlichen Willen zur Auseinandersetzung bei Konflikten mit der Staatsmacht vermuten (hier bezogen auf den JankaProzess); dem gegenüber steht jedoch, dass sie bei konkreten Gelegenheiten die Konfrontation vermied und demnach »stumm blieb« (Emmerich 2009, 480). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung im Hinblick auf ihr Agieren steht hier noch aus (s. Kap. 1). Seghers’ Bedeutung erschließt sich nicht allein durch die Feststellung, »ein Opfer der angenommenen Rolle« geworden zu sein, als »praeceptor der DDR« zu fungieren (ebd., 143). Der Umstand, dass sie in der DDR als
Kulturfunktionärin und Autorin von Weltrang zu den »intellektuelle[n] Instanzen mit einer gewissen Autonomie« zählte (Bathrick 2009, 242), erfordert eine differenzierte Betrachtung, die ihr kultur- und kunsttheoretisches Schrifttum wie ihr literarisches Werk umschließt und aufeinander bezieht. Die Problematik, Vorfälle wie die genannten mit ihrem an der sozialistischen Utopie festhaltenden Wirklichkeitskonzept in Einklang zu bringen, spiegelt letztlich Seghers’ Apriori-Haltung, den Sozialismus in seiner Konzeption sowie dessen konkrete Umsetzung in der DDR nicht anzuzweifeln. An ihrem 1954 formulierten Credo hält sie bis zuletzt fest: »Ich verdanke der Deutschen Demokratischen Republik die Freiheit, über den Stoff schreiben zu können, über den ich schreiben will. Mein Stoff ist die Wirklichkeit, diese in Veränderung begriffene Wirklichkeit« (KuW3, 108). Die zunehmend vorhandenen Widersprüche sieht sie nicht, d. h. sie kann oder will sie nicht sehen. Ihr Anspruch, dass »der ganz große Künstler [...] ein neues Stück Wirklichkeit ganz bewußt machen kann« (KuW1, 179), wird von ihr selbst insofern tatsächlich nicht eingelöst. Die ersten drei Bände Über Kunstwerk und Wirklichkeit erscheinen 1970/71 zu einer Zeit, da in der Binnendifferenzierung der DDR-Literatur eine Zäsur stattgefunden hatte. Der sozialistische Realismus ist nicht mehr die leitende staatliche Kunstdoktrin. Zunehmend sind die seit den späten 1960er Jahren erschienenen Texte durch subjektive Authentizität bzw. neue Subjektivität charakterisiert. Die DDR-Literatur wird nun auch von der Bundesrepublik als eigenständige Literatur wahrgenommen. Zugleich werden die Texte in Ost und West als Gegenwartsliteratur gelesen, da zunehmend hier wie dort konvergent ähnliche Themen und Probleme von Interesse sind. Über Kunstwerk und Wirklichkeit formuliert demgegenüber die Kunstauffassungen aus der Zeit davor. In Inhalt, Auswahl und rezeptionslenkender Gliederung konstatieren die Bände ein Fazit der ersten beiden Jahrzehnte der DDR. Seghers’ Überlegungen zur Weiterentwicklung des sozialistischen Realismus unterliegen dieser Statik eines Resümees, zumal die weitere literarhistorische Entwicklung nicht dem von ihr vorgezeichneten Wegen folgen wird. Obwohl sie Impulse für die Romantik- und Mythenrezeption der kommenden Jahre gab, bleiben ihre Überlegungen zur Weiterführung im Kontext des Wirklichkeitsbezuges doch bloß Ansätze bzw. theoretische Überlegungen. Seghers selbst repräsentiert unterschiedlichste Aspekte einer marxistisch geprägten Kunstauffassung wäh-
35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit
rend der Zeit der späten Weimarer Republik, des Exils und der ersten Hälfte der DDR. Künftige Forschungen sollten den wechselseitigen Bezügen ihrer programmatischen Schriften und ihres literarischen Schaffens vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Kontexte Rechnung tragen. So erschließt sich ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte wie für die marxistische Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts. Literatur
Bathrick, David: Art. Öffentlichkeit. In: Michael Opitz/ Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart 2009, 241– 243. Bock, Sigrid: Probleme des Menschenbildes in Erzählungen und Novellen. Berlin Univ. Diss. 1965. Bock, Sigrid: Zur Entwicklung der weltanschaulich-künstlerischen Programmatik bei Anna Seghers. In: Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 1: Die Tendenz in der reinen Kunst. Bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1970, 11–60. Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008.
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Katrin Max
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IV Poetologische Fragestellungen
36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39) Die sogenannte Expressionismusdebatte wurde 1937 im Septemberheft der Exilzeitschrift Das Wort von Alfred Kurella angestoßen, der unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler den Artikel »›Nun ist dies Erbe zuende...‹« veröffentlichte. Kurella reagierte auf Klaus Manns öffentliche Stellungnahmen zu Gottfried Benns politischer Entwicklung. Benn hatte ein Bekenntnis zum NS-Regime eingefordert und am Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste solcher Mitglieder mitgewirkt, die dieser Forderung nicht nachkamen oder aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nicht nachkommen konnten. Klaus Mann verwies in seinem Artikel von 1937 auf »die Schreie aus den Konzentrationslagern«, auf den 30. Juni 1934, auf »die Juden-, Priester- und Sozialisten-Verfolgungen und die Beschießung von Guernica«, die Benn mit seinem öffentlichen Bekenntnis zur NS-Diktatur effektiv gestützt habe (Mann 1976, 42). Kurella verallgemeinerte diese Kritik, wobei er sich – teils vereindeutigend, teils umdeutend – auf Thesen bezog, die Georg Lukács in seinem 1934 auf Deutsch erschienenen Aufsatz »›Größe und Verfall‹ des Expressionismus« formuliert hatte. Als sich Lukács aktiv in die Debatte einschaltete, bestand er auf einer Diskussion über realistische Darstellungsweisen. Darauf weist der Titel »Es geht um den Realismus« hin, der im Gegensatz zu Kurellas Formulierung »es geht um den Expressionismus« (Ziegler 1976a, 53) steht. In Kurellas früher Auffassung führte der Expressionismus konsequent in den Faschismus (was Kurella später zurücknahm; vgl. Schiller 1994, 143). Im Gegensatz dazu hatte Lukács den deutschen Expressionismus 1934 als typische »literarische Ausdrucksform« nationalistischer »Sozialchauvinisten« innerhalb der USPD bezeichnet, von der sich 1918 die KPD abgespalten hatte (Lukács 1934, 154 und 163). Für Lukács setzte der Expressionismus eine kantianische Epistemologie voraus und beanspruchte zugleich eine Objektivität, die spontan über den »Rahmen der Bürgerlichkeit« hinausstrebte. Der abstrakte Pazifismus und die nur oberflächliche Antibürgerlichkeit des Expressionismus habe diesen Rahmen jedoch nicht überwunden (vgl. ebd., 164). Damit vergleichbar hielt Kurella sein Urteil, der Expressionismus enthalte nichts, »worauf man den antifaschistischen Kampf fußen kann« (Ziegler 1976a, 60), zumindest partiell aufrecht, da ein »objektiv reaktionäres Schaffen bei sub-
jektiv revolutionären Absichten« im Expressionismus häufig vorgekommen sei, was »eine bedeutende Fraktion der deutschen Intelligenz entwaffnete oder waffenlos ließ« (Ziegler 1976b, 256). Nach den teils polemischen Diskussionen über Expressionismus, Realismus und Humanismus, die vorwiegend in Das Wort und Die neue Weltbühne geführt worden waren, wurde der Artikel »Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács« (= Brw), der auf Seghers’ Initiative zurückging und vier Briefe umfasst, 1939 in Heft 5 der Zeitschrift Internationale Literatur abgedruckt (vgl. Krenzlin/Schiller 2002, 291–295). Seghers brachte eine besondere Diskussionskultur in die Debatte ein: Sie betonte das Gemeinsame der an der Diskussion Beteiligten – nicht nur in den Zielsetzungen. Sie bemühte sich intensiv und ostentativ um ein Verständnis der Positionen des Gegenübers und sie machte Meinungsverschiedenheiten in der Theorie nicht zum moralischen Vorwurf (vgl. Batt 1975, 204 f.).
Inhalt des Briefwechsels In ihrem ersten, auf den 28.6.1938 datierten Brief gab Seghers für die neuere antifaschistische Literatur zu bedenken, dass »das Zögern eines Künstlers, auf die Realität zuzusteuern, ganz verschiedene Ursachen haben« könne (Brw, 268). Ähnlich wie Lukács stellte sich Seghers als Außenstehende dar, wenn sie eine explizitere Klärung von Grundbegriffen forderte: »In Eurer Diskussion wird die ganze Terminologie sehr verschieden und oft ungenau gebraucht« (Brw, 269). Sie selbst bestimmte »Realismus überhaupt« als »Richtung auf die der jeweiligen Zeit erreichbare höchstmögliche Realität«, wobei sie den Begriff der ›Realität‹ für das Wahrgenommene verwendete (ebd.). Daneben machte sie deutlich, dass für sie zum Realismus eine »Herausarbeitung des Typischen, als die wesentlichen Momente im Gesicht der Klasse«, und eine »Tendenz zur Bewußtmachung von Wirklichkeit« gehörten, die in jedem »wirkliche[n] Kunstwerk« zumindest marginal vorhanden sein dürften (Brw, 271). So bestand für Seghers der »Irrtum« mancher Schriftsteller »nicht in der Methode selbst, sondern in der Anwendung einer Schablone, die von der Methode gerechtfertigt zu sein scheint« (Vilar 2013, 126). Seghers’ gezielte Frage nach dem »Verhältnis von Methode und Stil« (Brw, 270) erlaubte eine auch terminologische Differenzierung zwischen auf spezifische Inhalte bezogener Darstellungsweise und forma-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_36
36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39)
len Charakteristika verschiedener literarischer Techniken. In seinem Antwortbrief (28.7.1938) griff Lukács diese Unterscheidung als eine von Erkenntnisweise und Darstellungsweise auf. Er unterschied den von ihm verwendeten darstellungs- und wirkungsästhetischen Begriff der ›Unmittelbarkeit‹ von Seghers’ produktionsästhetischer Verwendungsweise (vgl. Batt 1975, 226), wobei er nicht so sehr formale als vielmehr inhaltliche Aspekte als ausschlaggebend ansah: »Unmittelbarkeit bedeutet in meinem Aufsatz nicht eine psychologische Verhaltensart«, schrieb Lukács, sondern »ein bestimmtes Niveau der inhaltlichen Aufnahme der Außenwelt, ganz einerlei, ob dieses Aufnehmen mit viel oder wenig Bewußtheit geschieht« (Brw, 276). Als bezeichnendes Beispiel für eine mangelhafte inhaltliche Durchdringung wählte er – wie schon zuvor in »Es geht um den Realismus« (vgl. Lukács 1976, 204) – einen Antikapitalismus, der »das Wesen des Kapitalismus in der Geldzirkulation erblickt«, was auch nach langem theoretischen Bemühen ein nur oberflächliches Verständnis dieser Wirtschaftsform bedeute (Brw, 276). Dass für gute Literatur auch »schriftstellerisches Talent« (ebd.) nötig sei, gestand Lukács ausdrücklich zu, doch ein solches Talent von der biographischen und sozialen Entwicklung loszulösen, bezeichnete er als einen »Fetischismus«, den er Anna Seghers nicht unterstellte (Brw, 277). In jedem Fall sei eine »intellektuelle und moralische Arbeit an sich selbst« erforderlich, um zunehmend realistische Literatur schreiben zu können. Damit sollte »die Spontaneität ihrer Grunderlebnisse« bei Schriftstellern »vertieft und bereichert« werden (ebd.). Mit Blick auf Thomas Mann verdeutlichte Lukács die potentielle Diskrepanz von Darstellungsmethode und Bewusstheit: »Das, was er gestaltet, ist unvergleichlich tiefer und der objektiven Wahrheit näher als das, was er als gedankliches Resultat seiner Forschungen theoretisch ausspricht« (Brw, 279). Gerade aufgrund der Möglichkeit einer solchen Diskrepanz war es für Lukács allerdings unerlässlich, dass auch antifaschistische Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihre politische Gesinnung nicht als Garant für gute Kunst ansahen. Im Gegenteil schien es ihm notwendig, gerade im eigenen Bewusstsein und Verhalten Überreste und Nachwirkungen von abgelehnten Traditionen zu erkennen und abzubauen, denn die politische Etablierung des Faschismus habe mittlerweile gezeigt, dass deren »Einfluß« »viel weiter und tiefer ist, als wir es in unserer früheren selbstgefälligen Überhebung gedacht haben. Und zwar nicht nur in den sogenannten kleinbürgerlichen Massen, son-
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dern in uns selbst« (Brw, 282). Zugleich sei inzwischen deutlich geworden, »daß um uns herum viel größere, stärkere, gesündere Gegenkräfte gegen den Faschismus vorhanden sind, als wir dies ebenfalls in unserer damaligen Selbstüberhebung geglaubt haben.« Diesen in bereits vorhandenen und teilweise wirkmächtigen literarischen Traditionen vertretenen »wirklichen Humanismus« gelte es daher stärker als bisher zu berücksichtigen (Brw, 283). Mit Blick auf Seghers’ Frage nach »Realismus überhaupt« warnte Lukács davor, auf eine Konzeption von Realismus als Methode der Erkenntnis verzichten zu wollen, auch wenn sie von den aktuellen literarischen Entwicklungen keinesfalls vollkommen abzutrennen sei. Ein Verzicht drohe zu »kanonisieren«, »was heute allgemein als Realismus gilt« (Brw, 284). So waren sich beide einig über die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der zeitgenössischen antifaschistischen Literatur. In ihrer Antwort (Februar 1939) war Seghers erneut darauf bedacht, eine verständnisvolle und konstruktive Argumentationsweise in der Diskussion zu stärken: »In einem Brief wie diesem hier kommen Gegenfragen und Einwände am leidenschaftlichsten heraus, weil man die Zustimmungen in den wichtigsten Fragen als selbstverständlich wegläßt« (Brw, 290). Sie distanzierte sich ironisierend von »Kollegen und Freunde[n]«, die der Diskussion »mit den merkwürdigsten Gefühlen« folgten: »Sie erwarten mit Spannung und Neugierde, wer den andern erledigt. Einer, meinen sie, müßte unbedingt auf der Strecke bleiben, sonst gelte das Spiel nichts« (Brw, 290 f.). Eine solche Entgegensetzung wollte Seghers gerade vermeiden. Unbeeinträchtigt von dieser wahrgenommenen Erwartungshaltung trieb Seghers die sachliche Klärung weiter voran (vgl. Ujma 2016, 39). Als gemeinsame Position hielt sie fest: »Im Kunstwerk steckt das Verhältnis des Künstlers zu seinem Stoff. Hier muß die Kritik herausfinden, wo die Bemühung um die Realität einsetzt, und den Schriftsteller darauf hindrängen« (Brw, 289). Damit verband sie ihre Forderung nach realistischerer Kritik. Es sei unbedingt auf eine gewissenhafte und verständnisvolle Methode der Kritik zu achten, »damit nichts Lebendiges, Neues mitbeschädigt wird« (Brw, 290). Ohne ein ›aber‹ zwischen berechtigter Zielsetzung und aus ihrer Sicht womöglich allzu rigoroser Festlegung fasste sie zusammen: »Du gehst davon aus, und mit Recht, daß der Kampf gegen den Faschismus in der Literatur nur mit ganz entgifteten, ganz ausgeräucherten Köpfen wirksam geführt wird. Auf unserm Gebiet verknüpfst Du diesen Kampf eng
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IV Poetologische Fragestellungen
mit bestimmten methodischen Fragen.« Dennoch verschwieg Seghers nicht ihre Befürchtung, dass damit »eine Verengung eintritt, wo von Dir selbst eben Raum gewonnen wurde« (ebd.). Lukács antwortete (2.3.1939), aus seiner Sicht seien sie beide durch den brieflichen Austausch »in der Hauptsache einander nähergekommen« (Brw, 291). Er plädierte für öffentliche Diskussionen und wandte sich gegen administrative Maßnahmen, wenn er schrieb: »einverstanden bin ich mit Dir in der Beurteilung einer Diskussion, wie sie unter Schriftstellern sein müßte. Deine Formulierung, daß nur das Unklare auf der Strecke bleiben müsse, ist sehr gut. Ich würde meinerseits nur ergänzend hinzufügen: und das Falsche« (ebd.). Zur weiteren Klärung griff er erneut auf Seghers’ Unterscheidung zwischen Methode und Stil zurück. Zuvor hatte er in seinem Artikel »Grenzen des Realismus?« vom 27.2.1939 in der Deutschen Zeitung betont, es gehe ihm auch um einen »Realismus überhaupt« im Gegensatz zu einem ausschließlich ›sozialistischen‹; auch E. T. A. Hoffmanns »satirische Phantastik« bezeichnete er dabei als »zutiefst realistisch« (Lukács 1979, 565 und 567). Lukács reagierte damit auf Ernst Fischers Kritik, der unter dem Pseudonym Peter Wieden »Einige Bemerkungen über die Zeitschrift ›Internationale Literatur‹« in der Deutschen Zeitung vom 22.1.1939 veröffentlicht hatte: »Es ist vielleicht nicht möglich, das Deutschland von heute, die Unterwelt des deutschen Faschismus, nur mit den Mitteln des Realismus darzustellen, aber es ist möglich, den Haß gegen die feigen Mörder, Räuber, Folterknechte und Judenschlächter in dichterisch gesteigerter Form zusammenzuballen, über sie in der Dichtung Gericht zu halten« (Wieden 1939, 4). Lukács ging darauf ein, indem er sich auf Karl Marx’ Analyse »der ›gespenstischen Gegenständlichkeit‹ der Ware« im ersten Kapitel von Das Kapital bezog: »die im Kapitalismus notwendig entstehende Fetischisierung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander« (Lukács 1979, 567) führe dazu, dass auch ›Gespenstisches‹ zur sozialen Realität gehören könne und daher realistisch darzustellen sei. Entsprechend ging Lukács auch im ›Briefwechsel‹ von einem Wechselverhältnis zwischen Form und Inhalt aus, das nicht bloß von Charakteristika des Stils abhing. Er kontrastierte die französische Geschichte mit der ›deutschen Misere‹, der »undemokratischen Entwicklung Deutschlands«, in deren Folge im Kaiserreich einerseits sehr viele deutsche Schriftsteller »vor der Ideologie des imperialistischen Krieges« kapitulierten. Anderseits sei aber auch »die Art der Oppositi-
on einer kleinen Minderheit« infolge dieser ›deutschen Misere‹ »sowohl inhaltlich als auch künstlerisch-formell« ungeeignet gewesen, die deutsche Bevölkerung erfolgreich gegen den Krieg aufzurütteln (Brw, 297). Während Lukács die oppositionelle Haltung selbst anerkannte, problematisierte er die Art, in der sie artikuliert und begründet worden war. Er gestand allerdings zu: »Auch in der Kritik fehlen uns die demokratischen Traditionen« (Brw, 298). Trotz mangelnder demokratischer Traditionen attestierte Lukács der deutschen Literaturkritik eine erzieherische Funktion. Generell bestand für ihn »die Aufgabe der Kritik« darin, die »intellektuelle und moralische Arbeit des Schriftstellers an sich selbst« als einen zunächst nur »spontanen Prozeß bewußt zu beschleunigen« (Brw, 296). Auf welche Art die Kritik diese Aufgabe am besten bewältigen könne, blieb in Lukács’ Argumentation offen. Es konnte so aufgefasst werden, als wäre ein bloßer »Willensakt« auf Seiten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach erfolgtem Hinweis auf ihre Unzulänglichkeiten ausreichend (Batt 1975, 213; vgl. Schiller 1974, 242 f.). Lukács’ Aufsatz »Schriftsteller und Kritiker«, in dem er sich mit diesem Verhältnis auseinandersetzte, erschien 1939 erst nach dem ›Briefwechsel‹ in Heft 9/10 der Internationalen Literatur. Kristopher Imbrigotta vertritt die These, dass Lukács im ›Briefwechsel‹ in Anlehnung an Lessing den Kritikern eine Rolle als »Prüfer« zuweist, während Seghers die Kritiker in Anlehnung an Herder als »Lehrer« begreift (Imbrigotta 2018, 25).
Expressionismusverständnis Abgesehen von El Greco, den Seghers als ›realistischen‹ Vorläufer des Expressionismus anführte, nahm sie im ›Briefwechsel‹ nur vereinzelt Bezug auf den historischen Expressionismus, namentlich auf Alfred Döblin und Franz Marc (vgl. Brw, 270–272). Dieter Schiller hat zu Seghers’ Sicht festgehalten: »das Thema Expressionismus interessiert sie offenbar wenig« (Schiller 1998, 99). Auch Antonia Opitz, die auf der Basis zuvor unzugänglicher Archivalien und neuerer methodischer Entwicklungen den ›Briefwechsel‹ untersucht und historisch und biographisch kontextualisiert hat, argumentiert, dass es Seghers nicht in erster Linie um eine Diskussion des Expressionismus ging (vgl. Opitz 2004, 86); es ging ihr vielmehr, wie Christina Ujma klar herausgestellt hat, um die Verteidigung stilistischer und technischer Mittel »modernistischer Schreibweise« (Ujma 2016, 34). Dabei wird Seghers in
36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39)
der Rezeption bisweilen Ernst Blochs ontologische Prämisse einer übergreifend diskontinuierlichen Realität zugeschrieben (vgl. Bischoff 2018). Dazu tendieren auch Till Breyer und Philipp Weber, die Seghers’ »Forderung nach Einsicht in ›gesellschaftliche Zusammenhänge‹« zugleich als Gemeinsamkeit mit Lukács herausstellen (Breyer/Weber 2019, 155). Für Kurt Batt ergaben sich aus Seghers’ Verständnis ihres eigenen »Verhältnis[ses] zur Wirklichkeit [...] methodisch prinzipielle Unterschiede zum Expressionismus, der die Wirklichkeit ›von innen‹ durch das dichterische Subjekt verändern oder aufsprengen wollte« (Batt 1969, 151 f.). ›Arbeit an sich selbst‹ bedeutete für Seghers nicht einsame, private Selbstüberwindung, sondern aktiven Austausch »innerhalb der gesellschaftlichen Praxis«, der Seghers gegenüber der Gesinnung einen Vorrang einräumte (ebd., 166). Gerade in ›Übergangszeiten‹ waren stilistische und formale Merkmale wie »jähe Stilbrüche«, »Experimente« und »sonderbare Mischformen« (Brw, 268) für Seghers ebenso unvermeidlich wie unter inhaltlichem Aspekt eine gewisse Phantastik. Darin sah sie zudem produktive Mittel, um neue angemessene Darstellungsweisen zu finden. Es ging ihr dabei nicht um eine Verteidigung der historischen Literatur- und Kunstbewegung des (deutschen) Expressionismus, sondern primär um die allgemeine Frage nach der Berechtigung bestimmter Stilmerkmale und Verfahren im kreativen Prozess. Insofern war es allenfalls ein ›Expressionismus überhaupt‹, für den sie sich einsetzte. Die historische Konkretisierung, die Seghers bei der Diskussion des Realismus und besonders für seine Aktualisierung in der Gegenwart einforderte, spielte in ihren Expressionismusbezügen keine Rolle. Wenn in der Forschung auf Seghers’ eigene Verwendung expressionistischer oder surrealistischer Formelemente verwiesen wird, ist darauf zu achten, welche inhaltlichen Funktionalisierungen damit verbunden wurden und wen sie damit (effektiv) adressierte. Für eine historische Verallgemeinerung der Diskussion, die sich vom Gegenstand des Expressionismus löste, spricht zudem Seghers’ positive Bezugnahme auf romantische und nicht-kanonisierte oder nicht-klassische Schriftsteller/innen sowie auf Tolstojs Schriften zur Ästhetik. Gegen die Annahme nur einer zulässigen Methode künstlerischer Produktion leitete Seghers aus dem von ihr postulierten Vorrang der Realität vor der jeweils anzuwendenden Methode eine Pluralität von Methoden ab. Um Goethe als Klassiker zu relativieren, zeigte sie kritisch auf, inwiefern spezifische gesellschaftliche
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Verhältnisse bestimmte Schriftsteller/innenbiographien begünstigten. So nehmen in der deutschen (im Vergleich zur französischen) Literaturgeschichte Geisteskrankheit oder Suizid einen besonderen Stellenwert ein, wie Lenz, Kleist, Hölderlin, Bürger und Günderrode zeigen. Ihre Namen hatte Seghers neben dem des jung verstorbenen Büchner bereits 1935 auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur unter Verweis auf eine Bemerkung von Maxim Gorkij angeführt (vgl. KuW1, 65 f.). Offenbar war es für Seghers nachvollziehbar, dass bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse einzelne Menschen, auch Schriftsteller/innen, in ›Wahnsinn‹ und ›Selbstmord‹ getrieben hatten. Die poetologischen Reflexionen über das Fragment gebliebene Manuskript des Schriftstellers Weidel in Transit verdeutlichen, dass Seghers es den Schriftsteller/innen nicht moralisch zum Vorwurf machte, wenn sie nur noch im Suizid einen Ausweg sahen. Seghers mag den Suizid aus der jeweiligen sozialen Situation heraus als verständlich, wenn auch beklagenswert aufgefasst und dargestellt haben; die spezifisch literarischen und wirkungsästhetischen Konsequenzen von Weidels Suizid – inwiefern sein nicht mehr fertiggestelltes Werk Anderen helfen könnte, die eigene soziale Situation zu begreifen und zu verändern – bewertet der Erzähler negativ (vgl. Batt 1969, 134 f.; Bischoff 2018, 8).
Weitere Entwicklung In Lukács’ weiterer Entwicklung kam es zu Annäherungen an Seghers’ Begründung einer im künstlerischen Arbeitsprozess nötigen und berechtigten Unmittelbarkeit. Batt (1975, 242 f.) sieht darin ein Abrücken von einer hegelianisch inspirierten Geringschätzung von bloß Partikularem, das sich in den Studien »Zur Konkretisierung der Besonderheit als Kategorie der Ästhetik« (1956) und Die Eigenart des Ästhetischen (1963) zeigte. Opitz (2004, 87) weist bereits in Lukács’ Fragment »Was ist das Neue in der Kunst?« (1939/40) ein Aufgreifen von Seghers’ Konzept von Unmittelbarkeit nach. Dass Lukács die Auseinandersetzung mit den ästhetisch-theoretischen Reflexionen von Tolstoj fortsetzte, auf den sich Seghers im ›Briefwechsel‹ berufen hatte, zeigt auch Lukács’ Essay »Der plebejische Humanismus in der Ästhetik Tolstois«, der 1938 im Septemberheft von Das Wort erschien. Obwohl sich Lukács bereits im 1937 erschienenen Kleist-Aufsatz von »der ungeheuren dichterischen Überlegenheit Kleists über Arnim und Brentano«
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IV Poetologische Fragestellungen
überzeugt gezeigt hatte (Lukács 1951, 48), sprach er sich gegen ein bloßes Stehenbleiben bei der Darstellung einer Zerrissenheit der Gefühle aus. Er formulierte mit Blick auf ›Klassenpsychologie‹ und Absichten den häufig zitierten »rigorosen Bannspruch gegen Kleist« (Batt 1969, 156), der ein »bornierter preußischer Junker« und »Vorläufer der meisten dekadenten Strömungen« gewesen sei (Lukács 1951, 48). In späteren Arbeiten wie »Über Preußentum« (1943) und »Puschkin« (1947) sollte Lukács sich deutlich gemäßigter äußern. Batt macht darauf aufmerksam, dass Seghers in späteren Arbeiten weniger auf Bürger, Kleist oder Hölderlin verweist als auf »militante Aufklärer« wie Georg Forster und Lessing (Batt 1975, 246). Auch ihr Bezug zu Kafka mag Vorbehalte einschließen, wenn Seghers 1963 nach der Prager ›Kafka-Konferenz‹ in einem Brief an Lukács schreibt, sie habe »sonderbar« gefunden, dass Ernst Fischer sich vorbehaltlos für Kafka ausgesprochen habe, nur weil der als politisch inopportun angesehen werde: »Ernst F[ischer] hat einmal jede Überbewertung von Kafka abgelehnt, nun ist er Feuer u[nd] Flamme dafür« (KuW4, 165).
Rezeptionsgeschichte Der 1957 nach Westen übergesiedelte Alfred Kantorowicz erinnerte sich 1978, dass der Briefwechsel-Artikel, der »in die Lehrbücher der DDR« Eingang gefunden hatte, bereits in den 1950er Jahren »in Vorlesungen und Seminaren der Germanistischen Institute der DDR« mit »besondere[r] Aufmerksamkeit« behandelt worden war. Ende der 1970er Jahre diente er »bei feineren Germanisten, die sich von den Absolventen der Parteihochschulen à la Jarmatz distanzieren wollen, als Argument gegen den immer noch nicht ›rehabilitierten‹ Lukács« (Kantorowicz 1978, 246). Obwohl der ›Briefwechsel‹ in der Bundesrepublik deutlich weniger zur Kenntnis genommen wurde als in der DDR, wurden die darin verhandelten Positionen auch hier als Entgegensetzung gedeutet. Dies ging bisweilen mit einer Übernahme von Urteilen aus der DDR einher, die allerdings mit anderen politischen Vorzeichen versehen wurden (vgl. Trapp 1981; Vilar 2013). Weitgehend unberücksichtigt blieb in dieser Rezeption auch Lukács’ Artikel »In memoriam Hanns Eisler« in der Zeit vom 3.9.1965, der auf eine Vermittlung der Positionen abzielt. In Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur heißt es, der 1939 veröffentlichte ›Briefwechsel‹ sei
»ohne nachhaltige Wirkung« geblieben (Schöttker 2009, 236). Jürgen Rühle hingegen, der in den 1950er Jahren u. a. bei Kantorowicz studiert hatte, sah im ›Briefwechsel‹ den »Höhepunkt« der Diskussion über Gestaltungsfragen der 1930er Jahre (Rühle 1988, 261). In einer späteren Ausgabe seines in mehreren westlichen Ländern einflussreichen Buchs Literatur und Revolution (1960) bezieht Rühle die Position von Seghers zudem auf Walter Benjamins Theorie: Seghers habe gegenüber Lukács »auf poetisch elementare Weise die Position von Benjamin« vertreten (Rühle 1988, 262). Benjamin, der schon 1936 in Das Wort Gottfried Benn zu den »Vorläufern des deutschen Faschismus« gezählt hatte (Benjamin 1936, 88), notierte sich allerdings für seine geplante Passagenarbeit, bei der Kritik von Benns »anthropologische[m] Nihilismus« seien »die Beziehungen nicht aus dem Auge zu verlieren, die Lukács zwischen Expressionismus und Faschismus etabliert hat« (Benjamin 1982, 590). Im Zuge der offiziellen Entkanonisierung von Lukács’ ästhetischer Theorie in der DDR wurden neben derjenigen Brechts weitere ›Künstlerästhetiken‹ oder -›poetiken‹ erarbeitet, darunter auch diejenige der promovierten Kunsthistorikerin Anna Seghers (vgl. Peitsch 2014, 114). Die »Anti-Lukács-Kampagne der ersten Jahre nach 1956« (ebd., 99) und die »gezielte Entgegensetzung von Brecht und Lukács« hatten zu einer »Offizialisierung Brechts versus Lukács« geführt (ebd., 94). Infolgedessen wurde auch Seghers als Vertreterin nicht-revisionistischer und ästhetisch nichtdogmatischer literaturtheoretischer Positionen vorgestellt und damit in scheinbaren Gegensatz zu Lukács gebracht. In der Gründungsphase des Zentralinstituts für Literaturgeschichte (ZIL) widmete Kurt Batt der poetologischen Position von Seghers einen Beitrag im Band Positionen (1969), der bereits zwei Jahre später in zweiter Auflage erschien. Obwohl der Herausgeber Werner Mittenzwei ein »Bekenntnis« zu den als ›Lehrern‹ vorgestellten Schriftstellerinnen und Schriftstellern in den Beiträgen ankündigte und zugunsten einer »sozialistischen Nationalliteratur« auch auf das Konzept der ›Generation‹ zurückgriff (Mittenzwei 1969, 5 und 7), fiel Batts Darstellung sehr differenziert aus. So bemühte er sich etwa um Vermittlung, wenn er festhielt, dass für Seghers im Gegensatz zu Lukács »nicht die ›intellektuell-moralische Arbeit an sich selbst‹ am Anfang« künstlerischer Arbeit stehe, sondern »das, was sie als Erlebnis bezeichnet«; die dafür notwendige »Aktivierung des Künstlersubjekts innerhalb der gesellschaftlichen Praxis« (also auch in Organisationen und Institutionen) laufe aber bei beiden auf eine nicht
36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39)
individualistisch konzipierte Arbeit hinaus (Batt 1969, 166). Zudem schien ihm Seghers’ Verteidigung einer »Überhöhung« des für sie zentralen Begriffs von Unmittelbarkeit zu einer »Entwicklungsetappe« zu gehören, »die zu überwinden sie im Begriff stand.« In ihrer späteren Produktion werde dann die »schöpferische Subjektivität [...] ideologisch genauer determiniert« (ebd., 171). Im ebenfalls von Mittenzwei herausgegebenen Band Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, der dem Andenken des kurz zuvor verstorbenen Kurt Batt gewidmet war, fiel Batts Kritik mitunter wieder schärfer aus, obwohl die in den Vorbemerkungen nun erwähnte »internationalistische Sicht« (Mittenzwei 1975, 5) auch in seinem Beitrag erkennbar ist (vgl. Batt 1975, 207 f.). Bis heute hat sich dennoch eine Deutung weitgehend durchgesetzt, in der die 1938/39 im ›Briefwechsel‹ formulierten ästhetischen und literaturtheoretischen Positionen von Seghers und Lukács als unvereinbar angesehen werden. Demnach scheint Seghers’ Forderung nach Offenheit gegenüber unterschiedlichen, nicht von vornherein festgelegten darstellerischen Formen und Arbeitsverfahren die von Lukács erarbeitete Konzeption von Realismus auszuschließen. Das betrifft auch die Frage nach der Funktion von inhaltlichen Elementen, etwa einer von Mythen, Märchen, Sagen und Legenden ausgehenden Phantastik, und die Vorstellung von der Realität als etwas ›Wunderbarem‹, das nicht völlig zu ›entzaubern‹ ist. Mittlerweile mehren sich allerdings die Stimmen, die die Entgegensetzung als »unfruchtbares Mißverständnis« bedauern und Wege der Verständigung suchen (Illés 2001, 109; vgl. Opitz 2004; Imbrigotta 2018, 15 f.; Breyer/Weber 2019). Anna Seghers tendierte nicht zu einer Personalisierung politischer und theoretischer Meinungsverschiedenheiten. Für sie ging es um grundlegende Zusammenhänge sachlicher Probleme. Es ging ihr darum, Unklarheiten zu beseitigen und Irrtümer zu überwinden. Sie untermauerte ihre Forderung nach künstlerischer Freiheit in der Wahl gestalterischer Techniken und Formen, anders als Bloch, nicht mit der ontologischen Vorstellung einer übergreifend diskontinuierlichen, ›brüchigen‹ Realität. Lukács kritisierte bestimmte erkenntnistheoretische Positionen, die seines Erachtens insbesondere methodologischen (Selbst-)Reflexionen über expressionistische Kunst zugrunde lagen, aber auch expressionistischer Praxis. Im Gegensatz zu den meisten anderen an den Debatten Beteiligten, die dies als rezeptionsästhetische Einschränkung oder als produktionsästhetisches Gebot missdeuteten
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(vgl. Batt 1969, 153), erkannte Anna Seghers im ›Briefwechsel‹ die epistemologische, produktionsästhetische und insbesondere wirkungsästhetische Grundausrichtung der Diskussion, die Realismus als Arbeitsund Darstellungsweise (›Methode‹) fasste, nicht aber als Formenkanon (›Stil‹ und ›Techniken‹). Literatur
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IV Poetologische Fragestellungen
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Konstantin Baehrens
37 Sozialistischer Realismus
37 Sozialistischer Realismus Anna Seghers steht als Schriftstellerin, die sich in ihrer politischen Biographie als Sozialistin und in ihrem programmatischen und literarischen Werk als Realistin verstanden hat, notwendigerweise in einem Verhältnis zu dem, was seit den 1930er Jahren als ›sozialistischer Realismus‹ bezeichnet und konzipiert wurde: einer theoretischen Haltung zur Kunst und zur Bestimmung ihres prinzipiell gesellschaftlichen Charakters und zugleich einer konkreten politischen Formvorgabe an Stil, Figurenkonzeption und Struktur literarischer Werke. Der theoretische Zuständigkeitsanspruch des sozialistischen Realismus gilt revolutionären, in der Phase des antikapitalistischen Kampfes angesiedelten wie postrevolutionären Kunstwerken, die nach der Etablierung einer sozialistischen Eigentums- und Staatsordnung entstehen und zu fördern sind bzw. sich dem Geltungsanspruch des politisch-ästhetischen Maßstabes der nachkapitalistischen Gesellschaft zu stellen haben. Seghers ist als Autorin und als Mitglied von KPD und SED in beiden Phasen – im revolutionären Kampf wie in der postrevolutionären Gesellschaft des Realsozialismus – präsent, und sie partizipiert auch in wichtigen Funktionen an der Genese einer sozialistischen Literatur (in der Weimarer Republik als Mitglied des BPRS, im Exil als Herausgeberin und Mitorganisatorin einer sozialistischen Publizistik, in der DDR als langjährige Präsidentin des Schriftstellerverbandes). Trotz dieser prominenten Funktion ist Seghers’ Verhältnis zum sozialistischen Realismus durchaus ambivalent; keineswegs kann sie als – herausragende – Repräsentantin seiner ästhetischen Leitlinien (gleichsam als Staatsdichterin der DDR) verstanden werden, als die sie in der BRD, zumal in der Phase des Kalten Krieges, zum Teil diskreditiert wurde (vgl. N. N. 1965). Umgekehrt lässt sich an Seghers zeigen, dass Begriff und Konzept des sozialistischen Realismus in sich widersprüchlich und keineswegs auf einen allgemeingültigen Nenner zu bringen sind.
Marx und Engels über Literatur und Kunst Die Theorie des sozialistischen Realismus ist Teil der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus, der Staatsdoktrin zunächst der Sowjetunion, später der gesamten realsozialistischen Staatenwelt. Sie erstreckt die Zuständigkeit einer ursprünglich der Kritik der politischen Ökonomie, des Kapitalismus und des bürger-
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lichen Staates dienenden Marx’schen Theorie auf die Sphäre der Kunst. Als wesentliche autoritative Auskunftsquelle gelten Äußerungen, die Marx und Engels im Verlauf ihrer öffentlichen Publizistik wie auch im privaten (Brief-)Austausch getätigt haben. Es handelt sich um periphere, zum Teil den eigenen ästhetischen Vorlieben Ausdruck gebende, nur graduell ins Systematische übergehende Bemerkungen (vgl. Mayer 2004, Sp. 650) über Kunst, vornehmlich über Literatur. Die Beiläufigkeit ist dem Hauptinteresse von Marx’ und Engels’ kritischer Theoriebildung geschuldet, die sich von einem ausgeprägt philosophischen Interesse nach 1848 zugunsten der wissenschaftlichen und zugleich revolutionären Analyse des Kapitalismus verschiebt; zugleich lässt sich an ihr die nachrangige Relevanz ablesen, die Marx und Engels der Kunst im Unterschied zu Ökonomie, Staat, bürgerlicher Gesellschaft beimessen: Anders als Kant (Kritik der Urteilskraft, 1790), Hegel (Vorlesungen über die Ästhetik, 1820– 1829) oder auch Luhmann (Die Kunst der Gesellschaft, 1997) betrachten Marx und Engels die Ästhetik nicht als eigens zu bearbeitendes Gebiet theoretischer Klärung im Rahmen eines philosophischen oder weltanschaulichen Gesamtsystems. Verweise auf literarische Werke finden sich beim frühen Marx gelegentlich zur Untermauerung des eigenen Argumentationsganges, etwa in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844), wenn er aus einer Interpretation zweier Zitate aus Shakespeares Tragödie Timon von Athen (IV, 3) und aus Goethes Faust I (Studierzimmer) eine frühe philosophische Geldtheorie ableitet, Literatur also als »Quelle richtiger Einsicht in Weltverhältnisse« betrachtet (Metscher 2012, Sp. 464). Für die Weiterentwicklung seiner Werttheorie bedarf es dieser Stichwortgeber nicht mehr, auch wenn sich der profunde Kenner und Liebhaber der Weltliteratur Marx noch im Kapital I bei Shakespeare, Balzac oder Heine bedient, um seine Wertformanalyse zu bebildern oder sie rhetorisch-polemisch zu munitionieren – in der Regel in Fußnotenform (z. B. MEW 23, 146, 615, 637). Emphatischer und über solche argumentatorischen Funktionalisierungen hinausgehend fallen Bemerkungen aus, die in Unterscheidung zur Methode der Kritik der politischen Ökonomie der Kunst (wie auch der Religion) praktisch-weltaneignende Potenz zugestehen (vgl. MEW 13, 633; MEW 42, 36) – dass die Kunst hier mit der Religion parallelisiert wird, zeigt gleichwohl ihre beschränkte Gültigkeit an. Die bekannteste einschlägige Äußerung Marx’ entstammt ebenfalls der Kritik der politischen Ökonomie, wenn
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_37
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IV Poetologische Fragestellungen
er in der Entwicklung der Basis-Überbau-Dialektik im Vorwort zu seinem gleichnamigen Buch sagt, die Ideologie, darunter auch die Kunst, sei jene Form, in der die Widersprüche von Produktivkräften und Produktionsmitteln bewusst gemacht und ausgefochten würden (vgl. MEW 13, 9), woraus sich folgern lässt, dass Kunst für Marx eine aus ökonomischen Verhältnissen abgeleitete und daher aus diesen erklärbare Praxis sei – auch wenn Marx andernorts eine von der Ökonomie ungleiche Entwicklung der künstlerischen Produktion konzediert, um die Geltung etwa antiker Literatur über die Existenz ihrer materiellen Voraussetzungen hinaus zu begründen (vgl. MEW 13, 640 f.; MEW 42, 44 f.). Von solchen sehr allgemeinen und beiläufig ergangenen Bestimmungen der Kunst unterscheiden sich Textzeugnisse, die für die spätere Entwicklung einer auf Marx basierenden Kunsttheorie bedeutend werden. 1859 veröffentlicht der politische Mitkämpfer (und theoretische Rivale) Ferdinand Lassalle eine klassizistische Tragödie über den Ritter Franz von Sickingen, der in der Zeit der Reformation im Kampf für eine weitgehende Säkularisation gescheitert war. Lassalles Versuch, im Medium des historischen Dramas die Niederlage der 1848er Revolution zu reflektieren, wird von Marx und Engels in einem knappen Briefwechsel harsch kritisiert (später greift auch Georg Lukács auf diese ›Sickingen-Debatte‹ zurück; vgl. Hinderer 1974); dabei spielen Form- bzw. Gattungsfragen – inwiefern lassen sich moderne bürgerliche Verhältnisse in der Form einer heroischen Rittertragödie überhaupt darstellen? – eine zentrale Rolle. In gleicher Weise argumentiert 1888 auch Friedrich Engels in einem Brief an die britische Autorin Margaret Harkness für einen politisch relevanten Vorrang der künstlerischen Gestaltung gegenüber ihrem sozialistischen Inhalt (»Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen«, MEW 37, 42) – die im späteren Diskurs immer wieder erörterte Frage, welche politische Dimension in der Form eines Kunstwerkes liege, kündigt sich hier bereits an. Schon aus quantitativen Gründen ist diesen insgesamt kursorischen Bemerkungen von Marx und Engels über Literatur jedoch anzusehen, dass die beiden Begründer des modernen Kommunismus ihr ein gegenüber ihren vieltausendseitigen ökonomischen Überlegungen geringeres Gewicht beimessen – dass Ästhetiker und Künstler andere Prioritäten setzen, ist wenig verwunderlich.
Sozialistischer Realismus Mit der Entwicklung der Marx’schen Theorie zur marxistischen Weltanschauung weitet sich zugleich deren Geltungsanspruch über die Bereiche Ökonomie, Politik, Geschichte und Philosophie auch auf Sphären wie Kunst und Literatur aus. Aus Marx’ gelegentlichen Äußerungen über Kunst als Überbauphänomen – als einer elementaren materialistischen Auffassung über Genese und Funktion von Kunst – ergibt sich unter diesen Bedingungen die Frage nach den subjektiven Anforderungen an antikapitalistische Autoren, wie sozialistische Literatur beschaffen sein sollte. Der Weg, der im sozialistischen Realismus münden wird, verläuft keineswegs nach den Gesetzen einer immanenten theoretischen Notwendigkeit – dies zeigen schon alternative Traditionslinien, die sich auf Marx zurückführen lassen: die bekannteren (Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Ernst Bloch) wie auch die unbekannteren (Meyer Schapiro, Max Raphael, Frederick Antal oder Arnold Hauser, vgl. Werckmeister 2012, Sp. 526). Der sozialistische Realismus bedient nicht allein ein theoretisches, sich aus dem Gegenstand und der seiner Erforschung dienenden Disziplinen ergebendes Interesse, sondern ist die programmatische Fassung eines praktischen Bedürfnisses (zunächst) der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, dann des sozialistischen Staates im Sinne einer staatlichen Kunstdoktrin, die in Kunst und Kultur einen Gradmesser für den ökonomischen und politischen Erfolg des Sozialismus und ein Medium der Erziehung sieht (vgl. Jäger 2009). Diese Funktion hat bereits – nach früheren Ansätzen bei Franz Mehring und Georgij Valentinovič Plechanov – Vladimir Il’ič Lenin 1905 in seinem Aufsatz Parteiorganisation und Parteiliteratur formuliert. Er erklärt dort die sozialdemokratische (Partei-)Literatur zum »Teil der allgemeinen proletarischen Sache« (Lenin 1964, 30) und definiert sie – bei Zugeständnis ihrer formalen Eigengesetzlichkeit – als der Parteiorganisation organisatorisch zugehörig, damit auch (im Unterschied zu Marx) als für den politischen Kampf relevant. Eine Aussage über geforderte ästhetische Formen ist damit nicht gefällt, wohl aber über ihre Inhalte, die – ganz in der Tradition der bürgerlichen Geschichtsauffassung – als mit ihren äußeren gesellschaftlichen (hier: ökonomischen) Umständen analog verstanden werden. Nach der Oktoberrevolution und einer ersten Phase des politisch-künstlerischen Avantgardismus findet im Zeichen einer Konsolidierung der jungen Sowjet-
37 Sozialistischer Realismus
union, der im Zeichen von Fünf-Jahres-Plänen stehenden Industrialisierung und dem Beginn der Stalinisierung eine grundlegende Neuorientierung staatlicher Verfügung über die Literatur(-politik) statt. Seit 1931/32 formiert sich die Theorie des dann auch so genannten sozialistischen Realismus als verbindlicher Literaturtheorie und -programmatik. 1934 proklamiert Andrej Ždanov, Mitglied des ZK der KPdSU und Vertrauter Stalins, auf dem in Moskau stattfindenden 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller den zahlreich anwesenden sowjetischen und internationalen Autoren eine optimistische, »wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung« (Ždanov 1974, 47) als Maßstab für die künstlerische Gestaltung. Diese allgemeinen, aber schon den Diskursrahmen späterer literaturpolitischer Formulierungen absteckenden Bestimmungen werden durch die Referate zweier hoher Altbolschewiki, Karl Radeks und Nikolaj Bucharins, substantiiert, die beide wenige Jahre später Opfer des Stalin’schen Terrors werden. Radek wendet sich 1934 in seinen Ausführungen insbesondere gegen die Formexperimente der westlichen avantgardistischen Literatur, namentlich gegen James Joyce (vgl. Radek 1974), den wiederum der deutsche kommunistische Verleger Wieland Herzfelde, Freund und Publikationsgefährte von Anna Seghers, nachdrücklich verteidigt (vgl. Herzfelde 1974). Die autoritativ verfügte, in Form einer Theorie vorgetragene Anforderung an eine sozialistische Literatur, sich als staatsnützlich beim Aufbau des Sozialismus zu erweisen, erfährt in den folgenden Jahren und Jahrzehnten erhebliche praktische repressive Bedeutung, indem sie zunächst in der Sowjetunion, nach 1945 auch in den im sowjetischen Einflussbereich liegenden Staaten zur Zensur literarischer Werke und ideologischer und physischer Drangsalierung ihrer Urheber führt. 1946 eröffnet wiederum Ždanov in der Sowjetunion eine Antiformalismus-Kampagne, der sich 1948 in der SBZ auch die SED anschließt – mit Folgen bis weit in die 1950er Jahre (vgl. Mayer 1999). Die theoretische Sicherheit, mit der sich die staatliche Forderung nach sozialistischem Realismus vorträgt, hat aber keineswegs kohärente oder antizipierbare Urteile (bzw. Verurteilungen) zur Folge, wie sich in der DDR etwa an der wechselnden Rezeption von Dramen wie Heiner und Inge Müllers Produktionsstück Der Lohndrücker (1956), das zunächst zensiert wird, später zum Lehrplanstoff avanciert, oder Peter Hacks’ Komödie Die Sorgen und die Macht (1959–1962), die umgekehrt zunächst repräsentative Inszenierungen und dann harsche Ablehnung durch die Kulturbürokratie
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erfährt, erkennen lässt. Beide Formen der Rezeption – die berechnende Anerkennung wie die ebenso berechnende Unterdrückung – lassen sich aus diesem theoretischen Traditionsbestand begründen. Die gediegenste theoretische Ausformulierung erfährt die Theorie des sozialistischen Realismus bei Georg Lukács. Lukács setzt einen bereits bei Engels artikulierten Gedanken fort, die politische Anerkennung eines literarischen Werks nicht vom expliziten politischen Bekenntnis seines Autors abhängig zu machen, sondern in der Tat als Ästhetiker anhand von Formfragen zu argumentieren. Damit erlangt er Einfluss auf die Literarturtheorie der sozialistischen Staatenwelt, auch über seine politische Verfemung wegen seiner Unterstützung des Ungarn-Aufstandes 1956 hinaus (vgl. Spies 1991). In seinen literaturtheoretischen Interventionen im Kontext des BPRS in den frühen 1930er Jahren in Berlin, in seinen Debattenbeiträgen im sowjetischen Exil und in seinen literarhistorischen Studien der Nachkriegszeit (auszunehmen ist das Spätwerk, etwa Die Eigenart des Ästhetischen, 1963) setzt sich Lukács auf kritische Weise vor allem mit politisch Gleichgesinnten (z. B. Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt) auseinander. Trotz politischer Gemeinsamkeiten wirft er ihnen vor, durch moderne literarische Techniken (Reportage bzw. Dokumentarismus, Montage, Vermischung der literarischen Gattungen) die sozialistische Parteilichkeit durch bloße subjektive Tendenz zu ersetzen. Die zentrale ästhetische Kategorie ist für Lukács die Totalität – im Sinne einer formalen Qualität der Darstellung von Einzelheiten, die in ihrem dialektischen Verhältnis zum Ganzen transparent gemacht werden sollen. Daraus leiten sich weitere Schlüsselbegriffe der Lukács’schen Ästhetik ab: das Typische, die Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Kunst (vgl. Holz/Metscher 2005, 664) und die objektiv fortschrittliche Funktion gelungener Kunst auch bei Autoren, die politisch keineswegs revolutionär gesonnen sind (z. B. Balzac, im 20. Jahrhundert Thomas Mann). Als Index jeder guten Kunst gilt Lukács ihr Humanismus, die sich aus einer künstlerisch adäquaten Gestaltung notwendig ergebe, »unabhängig davon, wie weit dies in den einzelnen schöpferischen Geistern bewußt wird« (Lukács 1985, 222). Seine historische Vorlage findet dieser emphatische Totalitätsgedanke in der Programmatik des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts, seine aktuellen Gewährsleute bei den Autoren des von Lukács sogenannten kritischen Realismus (neben Thomas auch Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger – und nicht Kafka, Döblin, Joyce, Dos Passos).
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IV Poetologische Fragestellungen
Anders als etwa Brecht setzt Lukács mithin nicht auf einen ästhetischen Bruch mit der ästhetischen Tradition, sondern auf ein ästhetisches Kontinuum – eine Vorstellung des Historischen Materialismus als Geschichtsphilosophie der Kontinuität, die im Zeichen der Volksfrontpolitik und des Antifaschismus der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus in Übereinstimmung mit der Linie der Kommunistischen Partei(en) steht (vgl. Spies 1991, 40). ›Realistisch‹ ist diese Konzeption bzw. die von ihr beförderte Literatur, weil sie im Zeichen der Widerspiegelungstheorie (als ästhetisches Spezifikum eines allgemeinen erkenntnistheoretischen Realismus; vgl. Holz/Metscher 2005, 662) in der Mimesis die entscheidende ästhetische Operation sieht; ›sozialistisch‹, weil in der Widerspiegelung nicht nur eine Diagnose der Gegenwart (des Kapitalismus), sondern zugleich die kritische Potenz seiner Überwindung liege (vgl. Spies 1991, 36), die nur die Kunst zu leisten imstande sei. Nicht nur in der Beurteilung der bürgerlichen Literatur, sondern auch in der Explikation des Beurteilungsmaßstabes bezieht sich Lukács hier auf Kunstbegriffe des klassischen Idealismus (etwa Hegels: die Kunst als Form der Selbstreflexion des absoluten Geistes).
Theoretische Äußerungen von Seghers zum sozialistischen Realismus Anna Seghers nimmt, obwohl institutionell durchaus in führender Position, nicht aktiv an der Entwicklung der Theorie des sozialistischen Realismus teil, bezieht sich aber auf Positionen und auf Anforderungen, die dieser an die kommunistischen Schriftsteller richtet. Anders als der genuine Programmatiker Brecht, dessen theoretische Überlegungen insbesondere zum Theater selbst großangelegte literarische Projekte sind (z. B. im Messingkauf), formuliert Seghers ihre ästhetischen Anschauungen eher beiläufig, in sympathisierender Auseinandersetzung mit anderen – klassischen und gegenwärtigen – Autoren oder in offiziellen Reden als Schriftstellerfunktionärin. In einem solchen öffentlichen Rahmen demonstriert Seghers durchaus gelegentlich eine emphatische Übereinstimmung mit der herrschenden Partei- bzw. Staatsdoktrin, wenn sie etwa 1953 schreibt: »Der sozialistische Realismus ist niemals Einengung unseres Schaffens, er ist die denkbar größte Erweiterung. Denn er stellt in der Entwicklung der Kunst den höchsten Punkt dar, indem er für den wichtigsten Inhalt den besten Ausdruck fordert«
(KuW1, 231). Häufiger indes sind distanziertere Äußerungen, die den sozialistischen Realismus nicht als fraglosen Maßstab der Bewertung literarischer Werke feiern, sondern als Kunstkonzeption behandeln, die überhaupt erst einer Klärung bedarf, wenn Seghers etwa am gleichen Ort kritisiert, dass der sozialistische Realismus häufig als bloßes »Rezept«, also als blind zu befolgende äußerliche Vorgabe an die künstlerische Produktion missverstanden werde (KuW1, 229), ihn bei anderer Gelegenheit als bloße »Methode« (KuW1, 256) oder als »oft strapazierte[n] Ausdruck« (KuW1, 144) bezeichnet. In ihrer wichtigen Rede auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress (1956) bezeichnet Seghers, bereits in präsidierender Funktion, den Schematismus als einen »der größten Mängel unserer Literatur« (KuW1, 102) und verwahrt sich gegen den allgegenwärtigen Vorwurf des Formalismus (ebd., 104). Die Rede stellt eine nachdrückliche Modifikation (vgl. Kaufmann 2009, 312) von Seghers’ bisheriger »völlige[n] Übereinstimmung mit der kulturpolitischen Linie der SED« (ebd., 311) dar. Seghers fordert hier gegen eine von ihr diagnostizierte Langeweile und Fadheit der jungen DDR-Literatur eine Literatur »echte[r] Konflikte« (KuW1, 98) und eine Pluralität der Darstellungstechniken und Sujets (vgl. ebd., 92). Damit ist kein grundsätzlicher Einwand gegen den sozialistischen Realismus formuliert, wohl aber ein anders, weiter gefasstes Verständnis seiner ästhetischen Formen. Das Verhältnis zu Lukács – als Person und als Theoretiker – bleibt dabei ambivalent. Seghers teilt seinen Ausgangspunkt, das Gesellschaftlich-Typische im Besonderen anschaulich zu machen (vgl. ebd., 93), spricht sich aber explizit gegen seine klassizistische Verengung der Darstellungsmethoden aus (vgl. KuW4, 99 f.). In der Expressionismusdebatte des Exils tragen Lukács und Seghers diesen Dissens öffentlich aus (vgl. zur literaturpolitischen Dimension Trapp 1981), und zwar in Form eines 1939 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur abgedruckten Austauschs von insgesamt vier Briefen. Ihren Anlass findet diese Korrespondenz in der Auseinandersetzung über die kunstbzw. literaturgeschichtliche Bedeutung und die politische Dimension des Expressionismus, die 1937/38 in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort geführt wird. Wie auch Ernst Blochs und Hanns Eislers gleichzeitig, aber andernorts, nämlich in der Weltbühne, veröffentlichte Einlassungen zur Thematik oder Bertolt Brechts erst aus dem Nachlass publizierte Notizen trägt dieser Briefwechsel wesentlich zur theoretischen Schärfung des zeitgenössischen kommunistischen Diskurses über
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Fragen der Ästhetik bei. Dabei vertritt Lukács den aus seiner ästhetisch-geschichtsphilosophischen Position resultierenden traditionalistischen Standpunkt, der den sozialistischen Realismus als Fortsetzung eines klassischen Literaturkanons begreift. Seghers hingegen fordert auch hier eine Pluralität ästhetischer Formen und beharrt auf der historischen Legitimität experimenteller, antiklassischer Schreibweisen – in zweifellos bewusster Übereinstimmung mit Bloch, der Stilbruch und Montage als adäquaten ästhetischen Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche im Kapitalismus versteht. Entsprechend beruft sich Seghers auf eine literarische Traditionslinie, die neben auch von Lukács reklamierten Autoren (Balzac, Tolstoj, Dostojevskij), antiklassizistische Schriftsteller umfasst: In ihrem Briefwechsel mit Lukács nennt Seghers Kleist, Lenz, Hölderlin, Bürger, Günderode (vgl. Seghers/Lukács 1987, 265), andernorts auch Büchner, E. T. A. Hoffmann, Kafka (vgl. z. B. KuW1, 149) oder das Stalin-Opfer Sergei Tretjakow (vgl. KuW1, 150). Seghers legt es mit diesem Gegenkanon jedoch – anders als Brecht, Bloch und Eisler – nicht auf einen theoretischen Bruch mit Lukács an (womöglich auch wegen einer langjährigen Freundschaft, vor allem aber, weil sie im Unterscheid zu Brecht grundsätzlich ihre ästhetischen Positionen nicht durch polemische Abgrenzungen begründet), aber auf einen Einspruch gegen die ästhetischen Konsequenzen seiner Theorie, auch wo sie ihm in der Sache rechtzugeben bereit ist: Auffällig ist etwa, dass auch Seghers verschiedentlich Thomas Mann positiv als Beispiel für eine Literatur, die aus einem konservativen Bewusstsein zu einer objektiv revolutionären Verteidigung der »menschliche[n] Würde« (KuW1, 96) gelange, heranzieht. Bei allen Gegensätzen ist Seghers durchaus an Lukács’ Anerkennung und das heißt auch an der Vereinbarkeit ihrer Kunst mit den von ihm formulierten Forderungen an sie gelegen. Anders gesagt: Während sich ein Autor wie Brecht ästhetisch über Abgrenzungen definiert, tendiert Seghers zur theoretischen Eingemeindung – anderer und sich selbst.
Der sozialistische Realismus in Seghers’ (Roman-)Werk Misst man Anna Seghers’ Romane an der Erwartung, die Andrej Ždanov 1934 an die sozialistische Literatur adressiert, fällt zumindest in Hinblick auf das Figurenensemble auf, dass Seghers den offiziösen Anforderungen durchaus gerecht wird: Ždanov zählt zum Typen-
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arsenal der geforderten und geförderten sowjetischen Literatur »Arbeiter und Arbeiterinnen, Kollektivbauern und Kollektivbäuerinnen, Parteifunktionäre, Wirtschaftler, Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere« (Ždanov 1974, 47). Sieht man von der agrarischen Bevölkerung ab, tauchen all diese Berufe in Seghers’ in der DDR entstandenen und angesiedelten Romanen auf. Mit diesem Figurenensemble, der damit einhergehenden Thematik und der daraus resultierenden inszenierten Konfliktlage partizipiert Seghers’ Romanwerk an einer typischen sozialistischen Literaturform, nämlich der Produktionsliteratur – im Drama als Produktionsstück (prominent bei Heiner Müller und Peter Hacks), in der erzählenden Literatur als Ankunftsliteratur (Brigitte Reimann) –, zu der es in der westlichen bürgerlichen Literatur kein Pendant gibt. Dass Seghers sich dieser Literaturform anschließt, weil dies ihr genuines politisches und ästhetisches Interesse ist und nicht etwa die pflichtgemäße Erfüllung einer von außen herangetragenen Norm, unterscheidet sie nicht von anderen, dem sozialistischen Realismus zugerechneten (bzw. sich selbst zurechnenden) Autoren: Oft entspricht die Wahl solcher Sujets und solcher positiven Figuren durchaus auch dem subjektiven politischen Vorsatz vieler Autoren und keinem heteronomen Zwang (den es in anderen Fällen zweifelsohne gibt). Schon vor 1945 rückt Seghers klassenbewusste, vielfach aber auch politisch schwankende oder desorientierte Arbeiter ins Zentrum ihrer Werke, darunter auch rückhaltlos positive, wie etwa das vorbildliche Ehepaar Rendel in Der Kopflohn. Daneben stehen in Seghers’ Werk aber auch negativ gezeichnete Figuren, nicht nur Nazis oder Großindustrielle, sondern auch solche, die ein objektives Interesse daran hätten, sich kämpferisch mit den eigenen Lebensverhältnissen zu befassen (etwa die Landbevölkerung im Kopflohn, die insgesamt durch allgemeine gegenseitige Gehässigkeit und ein durch Brutalität gezeichnetes Geschlechterverhältnis charakterisiert wird). Die Wahl positiver Figuren im Sinne Ždanovs ist also keineswegs eine vorrangige oder gar ausschließliche Intention Seghers’, sondern Teil eines erzählerischen Interesses, das der Darstellung eines gesellschaftlichen Querschnittes verpflichtet ist. Die in Hinblick auf Seghers diskutierte Frage ihrer Zugehörigkeit zum sozialistischen Realismus entzündet sich insbesondere an ihrem sogenannten Spät-, also nach 1945 entstandenen Werk. Ob das Früh- und Exilwerk zum sozialistischen Realismus gehöre, ist kein Debattengegenstand, da die modernistischen Erzähltechniken deutliche Anleihen bei der ›westlichen‹,
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von Lukács sowie von Ždanov, Radek und Bucharin 1934 verurteilten Avantgarde macht (Joyce, Döblin, Dos Passos). Für die westliche Rezeption ist Marcel Reich-Ranickis Unterscheidung von Früh- und Spätwerk einschlägig und einflussreich (vgl. Eckhardt 1981; Saechtig 2017, 265); die Unterscheidung von Werkphasen wird dabei anhand des Kriteriums des sozialistischen Realismus durchgeführt und damit einhergehend eine ästhetische Regression diagnostiziert. Über Die Entscheidung heißt es wirkungsmächtig bei Reich-Ranicki: »Während Anna Seghers ebenso aufrichtig wie hartnäckig bemüht war, den von der SED erhofften großen Gegenwartsroman zu schreiben, hatte sie ihre schriftstellerische Selbstkontrolle ganz und gar verloren. In diesem Sinne war der chaotische Roman zu einem unfreiwillig erschütternden Zeitdokument geworden« (Reich-Ranicki 1967, 179). In der Kritik liegt eine argumentativ taktische Konzession, dass Seghers zuvor eine bedeutende Erzählerin gewesen sei; dass sie es nicht mehr sei, könne demnach nur an ihrer Parteilichkeit bzw. einer Unterordnung der Literatur unter diese Parteilichkeit liegen. Jenseits solcher politischer Funktionalisierungen ist für viele der Seghers’schen Romane und Erzählungen ein ausgeprägtes Formbewusstsein zu konstatieren. Der erste Roman, Die Gefährten (1932), antizipiert formal und inhaltlich Schreibweisen und Motive, die auch in den Exil- und den DDR-Romanen eine Rolle spielen: die Technik der Multiperspektivik, das thematische Interesse an unerhörten Gewaltexzessen, denen die Unterdrückten ausgesetzt sind. Der für Seghers’ Romane charakteristische Reichtum des Repertoires gleichberechtigter Figuren (eine Ausnahme bilden Das siebte Kreuz und Transit) korrespondiert in dem »Kollektivroman« (Brandes 1992, 38) Die Gefährten mit einer Montagetechnik, die gleichgesinnten zeitgenössischen Lesern gerade keine klare, auf individuelle Identifikation mit einem positiven Helden abzielende Rezeptionssteuerung anbietet – der BPRSArbeiterkorrespondent Willi Bredel etwa lehnt in einer zeitgenössischen Rezension diese Montagetechnik ab (vgl. Schrade 1993, 37). Der zweite Exilroman Der Weg durch den Februar (1935) modifiziert diese Multiperspektivik, indem er einerseits die erzählte Zeit auf wenige Monate (hingegen in den Gefährten: über zehn Jahre), anderseits den Handlungsort auf ein Land (gegenüber der ganzen Welt) reduziert; eine Konzentration, die im Siebten Kreuz weiter zugespitzt wird. Zumal in den Exilromanen finden sich neben solchen modernen erzählerischen Strukturen auch andere Formen des modernen Romans, die sich nicht in die
sich konstituierende Traditionslinie des sozialistischen Realismus einfinden: etwa die geradezu surrealistische Traumtechnik des gehetzten Flüchtlings Georg Heisler im Siebten Kreuz (vgl. SK, 207) oder die monomanische, an Kafkas Der Process erinnernde Fixierung des individuellen Lebens auf einen bürokratischen Akt in Transit (Tr, 48). Gegenüber den im gesamten ›Frühwerk‹ anzutreffenden Techniken der Figurenerweiterung, der multiplen, aber thematisch aufeinander bezogenen Schauplätze und der Simultaneität von Handlungssträngen stellen die DDR-Romane (ebenso wie der 1949 erschienene Epochenroman Die Tote bleiben jung) keineswegs eine Reduktion der erzählerischen Komplexität dar. Verglichen mit paradigmatischen Romanen des sozialistischen Realismus, etwa Dieter Nolls zweibändigem Werk Die Abenteuer des Werner Holt (1960/63), werden bei Seghers die historischen Ereignisse nicht in einer zentralen Figur als individuelle Lebenserfahrung gebündelt. Stattdessen unternimmt Seghers eine Verallgemeinerung. In der Entscheidung, dem umfangreichsten der späten Romane, den der Aufbau-Lektoratsleiter Günter Caspar in seinem Verlagsgutachten – politisch spiegelbildlich zu Marcel Reich-Ranicki – als »sehr betont ein Werk des sozialistischen Realismus« (E, 669) auffasst und den Kurt Batt zu den »sozialistischen Zeitgeschichtsromane[n]« (Batt 1980, 216–239) zählt, ist der Schauplatz geografisch ein relevanter Weltausschnitt (Nord- und Lateinamerika, Frankreich, BRD, DDR), wie dies schon in den Gefährten der Fall ist. Er repräsentiert die beiden Lager des Kalten Krieges, indem er multiperspektivisch alle Figuren in ihrem Verhältnis zu diesen objektiv vorfindlichen ökonomischen, politischen und militärischen Bedingungen darstellt. Einen ungebrochen positiven Helden im Sinne der offiziellen Literaturdoktrin suchte man in diesem Ensemble vergeblich; Seghers wiederholt hier eigene – in ihrem bisherigen Romanwerk erprobte – Darstellungstechniken, wie das gesellschaftlich Typische ästhetisch individuiert werden kann. Der Romantitel gibt zu verstehen, wie Seghers vorgeht: Die Figuren treffen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges lauter individuelle Entscheidungen, die umgekehrt durchweg auf einen gemeinsamen Anlass (eben die Weltlage des Kalten Krieges) zurückzuführen sind. In der Bewusstseinsform der ›Entscheidung‹ gestaltet Seghers so die Dialektik des Individuellen und des Typischen. Gegenüber dem ›Frühwerk‹ unternimmt Seghers eine nicht in der Form, sondern im Inhalt verankerte Modifikation: Das Ideal, dem die politisch mehr oder weniger bewussten Akteure früherer Romane zustre-
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ben, findet sich nunmehr positiv beheimatet in der existenten Staatlichkeit und Ökonomie der DDR, die auch der erzählerische Mittelpunkt des Romangeschehens ist, insofern alle anderen Schauplätze und Erzählstränge (die Machinationen des US-Geheimdienstes, die Restauration der BRD, die Hoffnungen kommunistischer Franzosen) darauf perspektiviert sind. Zugleich unternimmt Seghers hier eine Subjektivierung des Weltgeschehens auf einen puren individuellen Beschluss zur positiven (Selbst-)Beheimatung: Die alltäglichen Probleme der Rekonstruktion und Neuorganisation einer Ökonomie sind lösbar, sofern sich die Figuren dazu entschließen, bzw. werden perpetuiert, indem sich Figuren nicht zu ihrer Lösung entschließen. Auf ihre Weise demonstriert Seghers so ihren eigenwilligen Beschluss, sich zur DDR zu bekennen. Literatur
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Carsten Jakobi
38 Klassische russische Literatur
38 Klassische russische Literatur Als Gymnasiastin bereits und intensiver noch als Studentin kommt Anna Seghers zunächst mit den Werken Turgenjews, Gogols, Tschechows, Gorkijs, vor allem aber mit denen Tolstojs und Dostojewskijs in Berührung. Bereits als Schülerin liest sie Anna Karenina (vgl. Keßler 1970a, 74). Etliche Werke Dostojewskijs, die Seghers zum ersten Mal in der Zeit des Ersten Weltkrieges kennenlernt (vgl. Brandes 1992, 14), finden sich in der gutsortierten Bibliothek ihres Elternhauses (vgl. Hilzinger 2000, 17). In ihrer eigenen Bibliothek finden sich später allein 36 Bücher des Autors, von denen 24 bis 1925 erschienen waren (vgl. Wagner 2004, 217). Unter dem Eindruck der Oktoberrevolution beginnt Seghers noch in Mainz Russisch zu lernen und verwendet hierzu nicht zuletzt auch die Werke der beiden großen Russen (vgl. Albrecht 2005, 264 f.). Im Studium gehören zu ihrer Lektüre neben den Romanen Tolstojs und dessen Erzählungen Der Tod des Iwan Iljitsch und Hadschi Murat vor allem Dostojewskijs Romane Schuld und Sühne, Der Idiot und besonders Die Brüder Karamasow (AE2, 202), die der jungen Seghers eine »revolutionäre Wirklichkeit« (ebd., 412) zeigen und sich ihrer Generation als faszinierende »Glaubens- und Lebenslehre« (Batt 1973, 25) vermitteln. Nicht ganz uneigennützig ist daher ihr Geschenk an den Ehemann László Radványi zu Ostern 1926: die im Jahr zuvor erschienene Dostojewskij-Biographie von Thurneysen (vgl. Hilzinger 2000, 36). Durch Radványi kommt Seghers zudem in Berührung mit den Diskussionen um Marx und Dostojewskij des Budapester Sonntagskreises um Georg Lukács. In Heidelberg belegt sie ›Russische Literaturgeschichte‹ bei dem Nietzsche-Kenner Nicolai von Bubnoff. Bereits die erste Veröffentlichung Grubetsch (1927) zeigt eine »Atmosphäre des Elends und der Tristheit« (Keßler 1970a, 67), »des Wartens, der Erwartung eines erlösenden Umschwungs« (Batt 1973, 36), die an Dostojewskij erinnert. Die Menschen »der GrubetschWelt [sind] Erniedrigte und Beleidigte des 20. Jahrhunderts« (ebd., 66). Die Literaturwissenschaft in der DDR betont Dostojewskijs Bedeutung für Seghers’ Loslösung von der Bourgeoisie (vgl. Keßler 1970b, 24) oder sieht die Romane der 1920er und 1930er Jahre als sozialistische Forstsetzung der epischen Kunst Tolstojs (vgl. Schmidt 1978, 52). Aktuellere Deutungen erkennen im Frühwerk ein vor allem an Dostojewskij und Kierkegaard orientiertes Grundmuster von Passion und Erlösung (vgl. Hilzinger 2000, 166). Seghers’ Tolstoj-Rezeption ist beeinflusst von den
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1928 aus Anlass des 100. Geburtstages des Dichters herausgegebenen Aufsätzen Lenins über Tolstoj, die für sie, die im gleichen Jahr in die KPD eingetreten war, eine gewisse Verbindlichkeit besaßen, und auf die sie sich 1932 öffentlich beruft, als sie die »Demaskierung des Klassenfeindes« zur Aufgabe des proletarischen Schriftsellers bestimmt (vgl. Kundgebung). In »Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt« (1932) erklärt sie die Tolstoj’schen Postulate von »Besonderheit, Klarheit und Aufrichtigkeit« (Tolstoj 1968, 186) zur Grundlage der künstlerischen Methode: sehen soll der Dichter den Leser lassen, nicht beschreiben, sondern »der Wirklichkeit einen Steckbrief ausstellen« (AE1, 28). Die Zeit der Emigration in den 1930er Jahren ist geprägt von der Auseinandersetzung mit der 1934 verbindlich gewordenen Methode des sozialistischen Realismus und der entsprechenden Diskussion um Georg Lukács, an der Seghers mit zwei Briefen an Lukács teilnimmt, in denen sie »im Ton persönlicher Betroffenheit« (Wolf 1974, 377) die künstlerische Methode Tolstojs erneut für vorbildhaft erklärt (vgl. Batt 1975; Opitz 2004; s. Kap. 32). Die marxistische Literarturwissenschaft sieht denn auch in den nachfolgenden Romanen Die Rettung (1937), Das siebte Kreuz (1942) und Die Toten bleiben jung (1949) die Anwendung einer aus der Auseinandersetzung mit Tolstoj gewonnen Methode realistischer Darstellung.
Tolstoj Eine eingehendere theoretische Auseinandersetzung mit den russischen Klassikern setzt erst im Exil und erst nach der Besetzung Frankreichs, einer erneuten Lektüre von Krieg und Frieden im Jahr 1940 und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ein. Ausgangspunkt dieser Beschäftigung ist Seghers’ Gleichsetzung der napoleonischen Invasion mit der Besetzung großer Teile der UdSSR durch die Wehrmacht. In ihrem Essay »Tolstois irdisches Erbe« (1942; AE1, 97–101) beschreibt Seghers die Zerstörung des Tolstoj’schen Gutes Jasnaja Poljana durch deutsche Soldaten im Jahr 1941. Anlass hierzu war wahrscheinlich der sowjetische Dokumentarfilm Разгром немецких войск под Москвой (Die Niederlage der deutschen Truppen vor Moskau), der im Februar 1942 erschienen war und die deutschen Truppen als Zerstörer russischen Kulturguts zeigte. Als der Held, den Tolstoj in einem »Sicheinfühlen einer genialen Kraft mit allen Kräften des Volkes« (AE1, 98) in seiner Epopöe Krieg und Frieden darstellt, gilt Seghers das russische Volk schlechthin (vgl. ebd.,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_38
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99). Und eben das macht den Dichter zum klassischen Dichter, dass er »für die wichtigsten Vorgänge im Leben seines Volkes den adäquaten Ausdruck findet« (ebd., 115), wie Seghers in ihrem Essay »Volk und Schriftsteller« (1942) konstatiert. Bei diesen »wichtigsten Vorgängen« freilich handelt es sich um soziale Konflikte, und es ist daher »kein Zufall, daß die alten russischen Klassiker Meister der Darstellung sozialer Konflikte, Dichter des Volkes sind, bei denen diese Konflikte am endgültigsten ausgetragen wurden« (ebd., 116). Seine Wirkmacht verdankt das Werk Tolstojs der durch seinen Urheber erreichten »gleichsam geläuterten Wirklichkeit, die einem oft klarer dünkt als die Umwelt, weil sie wie gereinigt ist von belanglosen Nebendingen, die im Alltag Menschen und Vorgänge fast verschütten« (ebd., 436). Durch Tolstoj erst wagt sich die Schriftstellerin auch an größer angelegte Gesellschaftsromane wie Die Gefährten und Die Toten bleiben jung. Sie identifiziert Tolstojs dreistufiges, von der Wirklichkeit, nicht vom Bewusstsein ausgehendes künstlerisches Verfahren (unmittelbares Erlebnis – bewusste Verarbeitung – Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit), das zusammen mit dem vom Künstler eingenommenen »Standort des einfachen Menschen« (ebd., 439) den »Rahmen des nur kritischen Realismus« sprengt (ebd.). Das zeigt sich in Erzählungen wie Hadschi Murat (1904), in der »jeder aus seinem Dasein heraus denkt«, Leinwandmesser (1886), in der das Pferd aus seinem Dasein, aus seiner Pferdeumwelt erklärt wird und vor allem freilich in Krieg und Frieden, worin »jeder Mensch aus seinem Alltag heraus glaubhaft gemacht« wird (ebd., 441). Damit hält Seghers fest, dass der nicht vom Bewusstsein ausgehende Schaffensprozess Tolstojs eine Darstellung ermöglicht hat, die das gesellschaftliche Sein glaubhaft zur Ursache der Bewusstseinsprozesse der handelnden Figuren macht. Marx findet also in Tolstoj seine künstlerische Entsprechung. Auch wenn Seghers einräumt, Tolstoj sei kein Sozialist gewesen, so habe er doch ungeachtet seiner religiösen und philosophischen Prinzipien das Bewusstsein der Menschen geformt. Unbeeinflusst blieb dieses Bewusstsein jedoch von dem, »was schwach darin war: das Nichtwiderstehen dem Übel, das Tolstoianertum« (ebd., 437). Es ist bezeichnend, dass Seghers auf das Spätwerk Tolstojs kaum eingeht. Im Spätwerk nämlich hatte der Schriftsteller sozialistische und anarchistische, jedenfalls aber gewaltsame Ansätze zur Lösung der sozialen Frage durchgespielt und letztlich verworfen. Seghers’ Hauptbezugspunkt bleibt Krieg und Frieden, denn hier wird die Gewalt, derer sich die Russen in ihrem Par-
tisanenkampf gegen Napoleon bedienen und die Tolstoj als Knüppel (dubina) versinnbildlicht, im Angesicht der existentiellen Bedrohung für legitim erklärt, und das dient der Rechtfertigung des antifaschistischen Kampfes weitaus eher als der Pazifismus des Tolstoj’schen Spätwerks.
Von Tolstoj zu Dostojewskij Die christliche Fundierung der Weltbilder Tolstojs und Dostojewskijs bleibt ein Problem. Tolstojs buchstäblich un-orthodoxer Glaubensbegriff konnte allenfalls noch materialistisch umgedeutet werden, nur sein Pazifismus, der zu Gandhi statt zur Revolution geführt hatte, war zu verwerfen. Dostojewskijs Rechtgläubigkeit war da schon schwieriger beizukommen. Im Zusammenhang mit Tolstoj konnte dieses Problem durch die Beschränkung auf die Aneignung von dessen künstlerischer Methode umgangen werden. Im Falle Dostojewskijs, bei dem vor allem das Was der Darstellung im Vordergrund stehen musste, war das nicht ganz so einfach. Peter Keßler meint in seinem Aufsatz »Anna Seghers und die Raskol’nikov-Problematik« daher, die Autorin in Schutz nehmen zu müssen: Nicht das allverzeihende Leiden und Dulden einer Sonja Marmeladowa (Schuld und Sühne) sei Seghers’ Weg gewesen. Für sie als Marxistin und Kommunistin kommt vielmehr die »Schaffung einer gerechten, vermenschlichten Gesellschaftsordnung« durch die »Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung« (Keßler 1968, 656) in Betracht. Zudem zitiert Keßler aus einem von Seghers erhaltenen Brief. Danach hat zwar »keiner [...] das Recht zu einer privaten Rache oder zu Raub. Aber recht hatten z. B. die Partisanen, haben die Leute in Südvietnam, die die Aggressoren verjagen [...] Freilich, Dostojewski war ein Christ (bis zu einem gewissen Grad). Seine Ideologie war – oft – eine christliche Ideologie. Aber bekanntlich hat auch Christus die Wechsler aus dem Tempel gejagt, und dabei wird es auch nicht weich hergegangen sein« (Seghers, zit. nach Kessler 1968). Albrecht beschränkt die Bedeutung von Seghers’ »Dostojewski-Erlebnis« auf dessen Katalysatorfunktion für die Begegnung »des jungen bürgerlichen Menschen [...] mit dem Massenelend der imperialistischen Ära« (Albrecht 1975, 40). Die Brücke von Tolstoj zu Dostojewskij schlägt abermals Napoleon. Seghers widmet sich in ihrem Essay »Fürst Andrej und Raskolnikow« (1944) nach dem militärischen nun dem zweiten Aspekt der napoleo-
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nischen Invasion – dem ideologischen. Der Text konzentriert sich auf die dem Geniekult erwachsene »Alles-ist-erlaubt«- bzw. »Macht und Größe«-Ideologie (AE1, 153, 156) des Übermenschen, die Seghers als die Grundlage auch der nationalsozialistischen Herrenmenschenideologie auffasst. Der Napoleon-Verehrer Andrej Bolkonskij (Krieg und Frieden) wird von der Hingabe an seinen Helden geheilt, als er verwundet auf dem Schlachtfeld von Austerlitz beim Anblick des Himmels eine Ohnmacht und Demut fühlt, die das Machtstreben Napoleons zu kleinlicher Anmaßung relativiert. Im Falle Raskolnikows (Schuld und Sühne) bewirkt dies die durch Sonja vermittelte Reue über das Getane. In beiden Fällen führt Seghers die Abwehr der »Macht und Größe«-Ideologie auf christliche Gedankenvorgänge beider Dichter zurück, die allein aber neueren ethischen Forderungen nicht mehr gerecht werden (vgl. ebd., 156). Entsprechend bieten sich den Raskolnikow-Gestalten ihrer Werke Möglichkeiten zu (christlicher) Einsicht und Umkehr nicht. Damit ist allerdings der Kern der Weltordnung in Schuld und Sühne nachhaltig außer Kraft gesetzt. In zeitlicher Nähe zur Beschäftigung mit Dostojewskij und parallel zur Arbeit an dem Roman Die Toten bleiben jung entsteht 1946 die Erzählung Das Ende. Hier geht die Erscheinung des Peter Freitag (bzw. Peter Niemand), der den ehemaligen KZ-Aufseher Zillich heimsucht, direkt auf Die Brüder Karamasow zurück, denn auch dort quält eine ähnlich diabolische Gestalt den verzweifelnden Iwan. Bei Seghers kommt ihm jedoch nicht die Funktion zu, die Gewissensentscheidung des Helden zu objektivieren. Vielmehr stellt er einen Doppelgänger dar, der »den Tod des sich Sehenden anzeigt« (Bär 2005, 15). Der marxistischen Literaturwissenschaft gilt die Erzählung als Beleg für Seghers’ Abkehr von ihrer früheren, humanistischen Interpretation Dostojewskijs, der nicht zur Rebellion aufgerufen, sondern »das Leid des Menschen selig« (Keßler 1977, 330) gesprochen hatte, und bei dem die Gewissensentscheidung ja eine vor allem metaphysische Angelegenheit war. Mit ihren Essays »Inneres und äußeres Reich« (1946) und »Kulturelle Brücken zu anderen Völkern« (1946/47) bereitet Seghers ihre Heimkehr vor. Der erste Text, der von Tolstojs Schaffensprozess ausgeht, verweigert der Kunst der inneren Emigration ihre Anerkennung, der zweite fordert für Deutschland einen künstlerischen Neubeginn in der geistigen Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und insbesondere der russischen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr greift Seghers den Grundgedanken des noch in Mexi-
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ko entstandenen Essays »Fürst Andrej und Raskolnikow« in ihrem Aufsatz »Die napoleonische MachtIdeologie in den Werken Tolstojs und Dostojewskis« (1948) wieder auf. Wie zuvor benennt Seghers als das zentrale Thema von Krieg und Frieden sowie von Schuld und Sühne »Napoleons Macht und ihre Überwindung« (AE2, 277) und meint damit vor allem aber den »Kampf im Innern des Menschen« (ebd., 281) gegen die »Gedankeninvasion« (ebd., 278). Nach einer Reise in die Sowjetunion erscheint im Folgejahr mit Die Toten bleiben jung (1949) der Roman, der wohl am eindrücklichsten Seghers’ intensive Auseinandersetzung mit Dostojewskij bezeugt. Auch hier steht im Zentrum des Romans ein Mord, an dem aber nun mehrere Personen beteiligt sind, darunter der baltische Emigrant und spätere SS-Offizier Ernst Lieven, dem in seiner Isoliertheit von anderen »Rodion Raskolnikow und Iwan Karamasow zu vertrauten Kameraden« geworden sind, ein »Zyniker, schon durch die Zersetzungsphilosophie Nietzsches hindurchgegangen« (Batt 1973, 201). In der Figur wird die raskolnikowsche Macht-und-Größe-Ideologie nun auch künstlerisch mit der Herrenmenschenideologie der Nazis gleichgesetzt. Nicht die Mörder jedoch sind es, denen die Rassenideologie zum Gewissensproblem wird, sondern die Frauen, so etwa Lievens Frau Elisabeth und auch Anneliese Wenzlow. Die Transformation einer Sonja Marmeladowa in diese Frauenfiguren ist ein Prozess der Emanzipation. Sie sind nicht länger bloß Katalysatoren einer Einsicht der Männer in die eigene Schuld, und sie sind (v. a. Elisabeth) auch nicht schuldunfähig, aber sie verfügen über eine intuitive Fähigkeit zum Gewissen, deren Hervorbringung die philosophisch-intellektuelle Atmosphäre, von der der junge Lieven umgeben war, nicht zulässt. Im Jahr 1949 erscheint zunächst der kleine Essay »Puschkin«, der jedoch keine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Dichter darstellt, abgesehen vielleicht von der Betonung von Puschkins Dissidententum und dem Urteil, im Eugen Onegin sei »keine Spur von dem enthalten, was man das ›innere Reich‹ nennt« (AE1, 320). Der Essay schließt die Phase der intensiven Arbeit an und mit den russischen Klassikern in den 1940er Jahren vorerst ab. Erst der 125. Geburtstag Tolstojs gibt im Jahr 1953 erneuten Anlass, sich der russischen Klassik zu widmen. Seghers bewundert weiterhin Tolstojs »aus der Kenntnis der Menschen geformt[e]« (ebd., 446) Sprache, distanziert sich jedoch auch von ihm. Neben der fehlenden Einsicht in die revolutionäre Notwendigkeit konnte Tolstoj für die eigenen und die Probleme der
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Zeit keine Lösungen aufbieten (ebd., 440, 445). Wie ein schlechter Arzt habe er nur die Symptome, nicht aber die Ursache der Krankheit behandelt. Nach einer erneuten Reise in die UdSSR 1954 erscheint noch im gleichen Jahr, als Brief an Jorge Amado, der Aufsatz »Über die Entstehung von ›Krieg und Frieden‹«. Die Schriftstellerin hatte den Aufenthalt in der Sowjetunion genutzt, um im Tolstoj-Archiv die Entstehungsgeschichte des großen Epos zu recherchieren und für die eigene Arbeit an einem ›Roman [...] russischen, polyphonen Typs‹ nutzbar zu machen, der 1959 unter dem Titel Die Entscheidung erscheint. Seghers war besonders davon beeindruckt, wie Tolstoj, der eigentlich einen Roman über die Dekabristen hatte schreiben wollen, in seinem Bemühen um eine größtmögliche Annäherung an die Realität in der Zeit hatte zurückgehen müssen, so dass er auf diese Weise bis in das Jahr 1805 gelangt war. Hierhin hatte ihn die Intuition ebenso geleitet wie der »Auftrag des russischen Volkes, seinen Befreiungskampf zu gestalten« (AE2, 20). Mit dem seit dem Budapester Aufstand auch in der DDR verfemten Georg Lukács verliert Seghers 1956 allerdings eine wichtige Stütze für die Integration insbesondere Tolstojs in die methodische Konzeption des sozialistischen Realismus, an dessen Vorbild sie jedoch festhält. Vor allem ihre Darstellung des Stahlwerks in Die Entscheidung gründet in der Möglichkeit, Technik poetisch darzustellen, die Tolstoj schon in Anna Karenina durch das Motiv der Eisenbahn eröffnet hatte (AE2, 404 f.; Batt 1973, 235–237).
Woher sie kommen, wohin sie gehen. Dostojewskij Gegen Ende 1956, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, bereitet Seghers eine intensive Arbeit zu Dostojewskij vor. Der Plan der Autorin war ursprünglich, »einen literarischen Brief (ähnlich wie den über Tolstoi) über Dostojewski« (Br2, 55) zu entwerfen. Nach Reisen auf die Güter Tolstojs und Dostojewskijs sowie nach Archivstudien in Leningrad und Moskau veröffentlicht Seghers ihren bis dahin umfangreichsten Essay über einen Künstler. Der Text »Woher sie kommen, wohin sie gehen. Über den Ursprung und die Weiterentwicklung einiger Romangestalten Dostojewskis, besonders über ihre Beziehungen zu den Gestalten Schillers« (1963) entsteht auf der Rückreise von Brasilien. Die komparatistische Studie stellt wie bereits der Essay zur Entstehungsgeschichte von Krieg und Frieden abermals das Ergebnis eigener literaturwissenschaftlicher
Forschung dar. Daneben muss das Herausstellen literarischer Traditionslinien auch als Kommentar zum ›Bitterfelder Weg‹ gelesen werden. Seghers beschreibt darin ihre Begegnung mit Dostojewskij in ihrer Studentenzeit und den besonderen Eindruck insbesondere der Brüder Karamasow. Auch hier muss Seghers mit Verweis auf Lenin die »reaktionären Tendenzen« im Werk Dostojewskijs, dessen »Schwächen, Schwankungen und Brüche« (AE2, 201) ansprechen, und auch Schiller wird ein gelegentliches Abrutschen in »sentimentale Kleinbürgerlichkeit« und »idealistisches Pathos« attestiert. Beide sind verbunden durch ein gebändigtes Rebellentum (ebd., 212), materielle Unsicherheit, gesundheitliche Probleme, einen frühen Tod. Zudem war Dostojewskij mit Schiller sehr eingehend vertraut. Es gibt daher in den Romanen Dostojewskijs manch »Widerspiegelung aus Schillers Werk« (ebd.), vor allem ist der Großinquisitor der Brüder Karamasow eine Vermischung von »Widerspiegelungen aus der eigenen Umgebung mit Widerspiegelungen aus Dichtungen, vor allem Schillers« (ebd., 212). Beider Inquisitoren agieren in der Überzeugung von der Sinnlosigkeit menschlicher Freiheit. An Schillers Freiheitsbegriff misst Seghers nun Dostojewskij selbst, der, wenngleich ein Gegner der Leibeigenschaft, als jemand zu gelten hat, der »orthodox ist, der zur Zarenordnung ja sagt« (ebd., 217), heimgesucht »von gedanklichen Rückfällen in seine rebellische Jugend« (ebd.). Sein Großinquisitor hat zudem im Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Pobedonoszew, mit dem der Autor befreundet war, und der vor allem als Feind westlicher Freiheiten auftrat, ein lebendes Vorbild gehabt (ebd., 223–225). Seghers illustriert in der Verbindung zu dem erzkonservativen Kirchenführer Dostojewskijs innere Zerrissenheit zwischen Rebellion und der Angst vor der dem Menschen durch Gott aufgebürdeten Freiheit. Nach der Zeit in der Verbannung drängt ihn »die Lebensangst, die dauernd bedrohte Sicherheit« (ebd., 225) aus Selbstschutz zum literarischen Widerruf. Die Teufelserscheinung, der Dostojewskij seinen Helden Iwan Karamasow aussetzt, deutet Seghers in Konsequenz als Verkörperung auch der Widersprüchlichkeit des Autors. Dostojewskijs Rehabilitation gründet sich bei Seghers vor allem auch auf dessen Ungesagtes. Für Aljoscha Karamasow habe der Dichter dessen Wandlung zum Revolutionär angedeutet, und bei der durch den Tod des Autors vereitelten Fortführung der Figur wäre es zum Konflikt gekommen »zwischen seiner künstlerischen Wahrheitstreue und den heuchlerisch ortho-
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doxen Warnungen eines Pobedonoscev« (AE2, 242). Ob Dostojewskij in diesem Fall zum Widerruf des Widerrufs willens und fähig gewesen wäre, lässt Seghers als Frage offen. Zu diesem Ungesagten gehört für Seghers auch das durch die Zensur Un- und Umgeschriebene. Mit diesem Essay, der zuerst in Sinn und Form (1/1963, 11–47) erscheint, versucht Seghers, Dostojewskij vorsichtig zu rehabilitieren, ihn als legitime Inspirationsquelle für das eigene Schaffen zu bewahren, denn die Angewiesenheit der Autorin auf Dostojewskij ist groß und liegt zudem offen zutage. In der BRD wird sie sogar (vgl. Baukloh 1963) als Akt des Widerstands aufgefasst. Immerhin hatte sie festgehalten, dass in den Brüdern Karamasow durch Aljoschas Vermittlung der Glaube an den Menschen nie verlorengeht (AE2, 241). In der DDR will man Dostojewskij jedoch als Seghers’ »geistigen Verbündeten im weltweiten Kampf um den sozialen Fortschritt« (Keßler 1970b, 53) und Wegbereiter eines sozialistischen Humanismus (ebd., 55) verstanden wissen. Tatsächlich wird die kritische Grundhaltung des Essays als »klare Stellungnahme gegen das ›totalitäre‹ System in der DDR« (zit. nach Vilar 2003, 182) in Künstlerkreisen durchaus (wohlwollend) zur Kenntnis genommen. Der Staatssicherheit wird zugetragen, sie habe darin »gezeigt, wie man Stellung nehmen kann, ohne Gefahr zu laufen, dass man dafür zur Verantwortung gezogen werden kann« (ebd.). Im selben Jahr erscheint der Essay zusammen mit früheren als separate Publikation unter dem Titel Über Tolstoi. Über Dostojewskij. Die durch den Titel suggerierte Gleichrangigkeit beider Schriftsteller stellt Seghers in ihrem Essay »Bewahrung und Entdeckung« (1963) jedoch in Frage: »Auch Tolstoi hat in gewissen Teilen meines Lebens mehr oder weniger auf mich gewirkt. Ich glaube aber, da hat Pawlow recht: Man muß immer wissen, welche Nahrung – auch geistige Nahrung – das Kind braucht« (AE2, 270 f.). Auch wenn hier von Dostojewskij keine Rede ist – man muss unwillkürlich an ihn denken, wenn Seghers in demselben Text von einem Autor spricht, der ein Problem der Wirklichkeit zwar erkannt, aber ohne Lösung dargestellt hatte, wohingegen in der Gegenwart dasselbe Problem gelöst, aber kaum klar dargestellt wurde (ebd., 268). Auch deswegen liegt hier ein Verweis auf Dostojewskij nahe, weil Seghers in ihrem Dostojewskij-Essay ihre frühe Lektüre des Russen – und Schillers – wie folgt begründet hatte: »Wir stillten unseren Hunger an der Nahrung, nach der uns am meisten verlangte« (ebd., 203).
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Seghers’ Werk, das (abgesehen von Der Ausflug der toten Mädchen (1943) und Transit (1944)) selten autobiographisch ist, ist in diesem Sinne jedoch in hohem Maße ›autobibliographisch‹. Der Essay stellt damit das Bemühen dar, die eigene Dostojewskij-Rezeption zu emanzipieren. Dieses Unterfangen hatte jedoch Grenzen. Immerhin hatte Dostojewskij sich selbst als »Revolutionär aus Konservatismus« (Dostojewski 1963, 22) bezeichnet. Seghers versucht das Reaktionäre an Dostojewskij zu überwinden. Für sie bestand von Beginn an zwischen Iwan und Aljoscha Karamasow kein Gegensatz, »dieser für Dostojewski so wichtige Gegensatz« (AE2, 229), sondern sie ergänzen sich und stehen »beide zusammen, und wir mit ihnen, gegen die Unmenschlichen, Gierigen« (ebd.): »Schon damals in unserer Einbildungskraft [...] hat Aljoscha die Kutte ausgezogen, nicht nur, weil der Starez es wünschte, sondern weil ihn sein Bruder überzeugte« (ebd.). Die atheistische Empörung eines Iwan soll durch die säkularisierte Menschlichkeit Aljoschas nicht zur »Allesist-erlaubt«-Ideologie führen, sondern zur Revolution. Das aber ist mit den Weltordnungen in Dostojewskijs Werken unvereinbar, und Seghers muss diese darum zur Nebensache erklären: Wie auch Tolstoj nicht durch das überzeugt hat, was an ihm »tolstoianisch« gewesen ist, so liegt die dichterische Kraft eines Dostojewskij »nicht in seinem religiösen Idealismus, sondern in seinem Realismus« (ebd., 248). Seghers ist bewusst, dass die Dostojewskij-Rezeption in Deutschland zumindest indirekt das gedankliche Fundament des Nationalsozialismus vorbereitet hatte. In der Heimat des Dichters aber hatte sein Werk zum Ausbruch der Revolution beigetragen. Seghers will daher gleichsam nachträglich in der eigenen eine alternative deutsche Lesart etablieren. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Seghers jedoch bereits selbst in einem inneren Konflikt. 1957 war die Fragment gebliebene Erzählung Der gerechte Richter, 1958 Brot und Salz entstanden, die den Bruch mit der Regierung markierten. Aus diesem Bruch aber entwickelte Seghers eine Haltung, »das persönlich erfahrene Unrecht einzustecken und durch erneute, idealistische Bejahung der humanistischen Ziele des Sozialismus zu relativieren« (Brandes 1992, 27).
Späte Bezüge Noch im Jahr 1963 verfasst Seghers einen kurzen Aufsatz mit dem Titel »Tolstoj aus verschiedenen Aspekten«, der allerdings zwei Jahre später nur in russischer Übersetzung in Moskau erscheint. Hier nun geht Se-
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ghers auch auf Anna Karenina ein, auf den Tod des Iwan Iljitsch sowie die Volkserzählungen und bekennt, dass sie Krieg und Frieden erst in der Zeit des Exils wirklich verstanden habe, denn bis dahin habe die negative Beurteilung Napoleons sie als Rheinländerin abgestoßen. Von Tolstoj ausgehend beklagt Seghers 1965 gegenüber Christa Wolf einen Mangel vieler vor allem jüngerer Schriftsteller in der DDR: »aus falsch aufgefaßter Parteilichkeit« (AE2, 415) machen »sie sich jedes Teilchen der Wirklichkeit zunächst einmal bewußt« (ebd.), anstatt etwas frisch und unmittelbar auf sich wirken zu lassen. Wenn also Tolstoj kein Pate des sozialistischen Realismus sein durfte, dann doch wenigstens dessen Korrektiv, zumal in dem Jahr, in dem der drastische Realismus von Werner Bräunigs Rummelplatz (1965) die Politik auf den Plan gerufen hatte. Seghers warnt vor der »entrealisierenden Furcht vor Abweichung vom unmittelbaren Erlebnis«, vor dem Ausruhen auf dem »Vollbesitz der Methode« (Wolf 1974, 378). Die eigenen – auch und vor allem aus den Werken Tolstojs und Dostojewskijs entwickelten – poetologisch-ästhetischen Positionen bündelt Seghers 1970 in Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Seghers wird sich weiterhin zu den ja ohnehin nicht zu leugnenden Einflüssen Tolstojs, Dostojewskijs und Gogols auf das eigene Werk bekennen, so in ihrem Kurzessay »Traditionsbeziehungen unserer Schriftsteller« (1971; AE2, 351 f.). Gogol tritt dann in der Erzählung Die Reisebegegnung (1972; s. Kap. 26) höchstselbst in Erscheinung. Seghers zeigt ihn in der fiktiven Auseinandersetzung über das Wesen von Kunst und Künstler mit Kafka und E. T. A. Hoffmann. Die Gespräche zeugen nicht zuletzt von der Überwindung der russischen Realisten. Gerade deren Schonungslosigkeit und Wirklichkeitstreue musste für den Schriftsteller in der DDR notwendig zum Problem werden. Hierin aber liegt die sicher größte Annäherung Seghers’ an die beiden Russen: dass sie ihnen in ihrem gebändigten Rebellentum ähnelte. Dieser innere Zwiespalt blieb jedoch ungesagt, Der gerechte Richter unvollendet und (bis 1990) ungedruckt. Christa Wolf ahnte, dass der Konflikt Dostojewskijs mit dem früheren Ich wohl auch Seghers selbst betraf (vgl. Albrecht 2005, 557). Der These einer verschlüsselten Gestaltung dieses Konflikts im Dostojewskij-Essay konnte sie jedoch nicht uneingeschränkt zustimmen (ebd., 558). Wagner spricht diesbezüglich von einer »Forschheit in Andeutungen« (Wagner 2004, 61). Bei dem Versuch, aus der russischen Klassik einen eigenen Realismus zu entwickeln und der selbstgestellten Aufgabe, den Faschismus auszumerzen, ebenso
gerecht zu werden wie den Anforderungen des sozialistischen Realismus, wurde die Spannung zwischen Intuition und Aufgabe, zwischen dem Originaleindruck einerseits und der Realität des real existierenden Sozialismus andererseits, zwischen künstlerischer Entwicklung und vorgegebener Methode und Weltanschauung letztlich übergroß. Für Seghers führte sie zu einem Widerspruch zwischen Leben und Schreiben. Bei Dostojewskij – Seghers selbst hatte das festgestellt – war das noch dasselbe gewesen (vgl. AE2, 225). Im Jahr 1959 noch hatte sie behauptet: »Ich habe den Sozialismus nicht erfunden. Er ist vorhanden, in der Wirklichkeit« (AE2, 400). Diese Prämisse aber stellte Seghers’ Versuch, das Dostojewskij-Thema Gerechtigkeit mit den Mitteln eines Tolstoj zu bewältigen, auf eine harte Probe, als in den 1960er Jahren »die entstandene Realität, die den Namen Sozialismus trug, auf jene Grundwerte bezogen« (Wagner 2004, 234) wurde, die ihr die Dostojewskij-Lektüre der Jugend vermittelt hatte. Nach 1990 mehren sich Deutungen, die Seghers’ Dostojewskij-Aufsatz und den im gleichen Zeitraum entstandenen Gerechten Richter als zaghafte kulturpolitische Devianz auffassen, als »Rehabilitierung des Ich«, als Beschreibung der »Entfremdung der Macht von den ursprünglichen Idealen« (Wagner 2004, 64), als »Zweifel an der Gerechtigkeit der sozialistischen Sache« (Albrecht 2005, 27). Insgesamt aber scheitert die Dichterin mit dem Versuch, die Problematik des Stalinismus durch Dostojewskij-Konstellationen zu verarbeiten (vgl. Wagner 2004, 234), etwa mit Das Vertrauen (1968). Dass sie in ihrer Bezugnahme der napoleonischen Macht-Ideologie auf den Faschismus »jemals Hitler [...] durch Stalin ersetzt hätte, lässt sich weder nachweisen noch glaubhaft machen« (Albrecht 2005, 486). Es wirkt demgegenüber apologetisch, wenn Vilar von Seghers behauptet, ihr »abgespaltenes Ich geht über in manche Gestalten von Das Vertrauen wie das abgespaltene Ich Dostojewskijs in die Figuren von Die Brüder Karamasow ebenfalls übergegangen ist« (Vilar 2003, 176), oder dass Seghers die »eigene quälerisch wirkende Gespaltenheit« (ebd., 175) in ihrem Dostojewskij-Essay in der Verbindung der eigenen Biographie mit der Schillers und Dostojewskijs angedeutet und damit ein »literaturkomparatistisch verhülltes Geständnis abgelegt« (ebd., 181) habe, das sich auf Stalin und Ulbricht beziehen lasse. Inwieweit Seghers den Originaleindruck, den Tolstoj und Dostojewskij in den 1920er Jahren auf sie gemacht hatten, sich und anderen bewahren konnte, kann nicht abschließend beurteilt werden. Auf-
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bewahrt hat sie jedoch einen Satz, den sie (vgl. Albrecht 2005, 461) aus Die Brüder Karamasow übernommen, in Die Rettung (1937) eingebaut, in ihrem Dostojewskij-Essay beleuchtet, und in Die Entscheidung (1959), Das Vertrauen und Die Trennung (1980) leitmotivisch fortgeführt hatte: »Ohne Freude kann der Mensch nicht leben.« Literatur
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Christian-Daniel Strauch
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IV Poetologische Fragestellungen
39 Franz Kafka Persönlich ist Anna Seghers dem Prager Autor Kafka (1883–1924) nie begegnet, obwohl es bei seinem beinahe halbjährigen Aufenthalt in Berlin im Herbst 1923 und am Beginn des folgenden Jahres hätte passieren können, dass Seghers noch vor ihrer Hochzeit die Metropole der Weimarer Republik besucht und über ihre kunst- und literaturinteressierten Freunde oder einfach per Zufall den Kontakt zu dem dort weilenden Schriftsteller aus Böhmen aufgenommen hätte. Trotzdem hat Seghers aller Wahrscheinlichkeit nach die von Max Brod seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre herausgegebenen Texte Kafkas gelesen (vgl. Zehl Romero 2000, 453). Auch ihre Äußerungen aus dem französischen Exil zeugen davon, dass sie bereits mit den Prosawerken Kafkas vertraut war, wenn sie z. B. an einen anderen Prager Autor über die extrem schlimmen Bedingungen in Palmiers schreibt, wobei sie Kafka neben Dante und Dostojewskij nennt, in deren Werken etwas wie die »Hölle auf Erden« dargestellt wird. In einer überspitzten Formulierung will sie die Unerträglichkeit ihrer Lage betonen, wenn sie den Vergleich bringt: »Dante, Dostojewski, Kafka – oh, das waren Bagatellen! Kleine Unannehmlichkeiten, die vorübergingen« (Brief an F. C. Weiskopf; zit. nach Zehl Romero 2000, 365). Kafka gehörte auch in den späteren Jahren für die Schriftstellerin zu den wichtigen, impulsgebenden Autoren. Ihr erscheint der Prager Autor in vielen Grenzsituationen der Exilzeit – sowie später, als sie ihre Auffassung des Realismus, auch deren sozialistische Variante, herausarbeitete – aktuell (s. Kap. 37). Die bereits seit den 1930er Jahren im Exil geführte Realismus-Debatte unter deutschsprachigen Autoren wurde in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt und von der Erzählerin intensiv verfolgt. Mit dem Verständnis der Prosa Kafkas hängt ihre Stellungnahme gegenüber der klassisch-humanistischen Auffassung des Realismus bei Georg Lukács zusammen, mit dem sie trotz gewisser Differenzen über Jahre verbunden blieb und den sie in den stürmischen Revolutionstagen des Jahres 1956 aus Ungarn zu retten suchte (s. Kap. 36). Die Vorliebe der Autorin für Kafka hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie Elemente des Märchens, der Sage und Legende sowie des Mythos oder des Traumes in ihr literarisches Schaffen einbaute und diese zuweilen mit satirischen und grotesken Momenten verband. Ein Interesse an Märchen ist auch bei Kafka festzustellen. In seiner rekonstruierten Bibliothek
(vgl. Blank 2004, 259) befinden sich, neben tschechischen Märchen, wie auch bei Seghers, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In der Erzählung Die Reisebegegnung lässt die Schriftstellerin die Figur des Prager Autors sagen, was für sie selbst am Erbe Grimms wichtig war: »Ich liebe Grimms Märchen. Aus ihrer Sprache lernte ich viel. Ich muß gestehen, den Sinn und den Rhythmus mancher Sätze habe ich mir angeeignet« (SB, 187). In seiner Replik geht Kafka bei Seghers auf chassidische Legenden über, wobei er die magische Macht des Wortes und die Dualität des Volkes mit seiner Sprache hervorhebt: »Wenn du ein Wort von Gott sprichst, gehst du mit all deinen Gliedern in das Wort hinein. – Ich glaube, nicht nur ein einzelner Mensch, ein ganzes Volk kann in ein Wort seiner Sprache hineingehen« (SB, 188). Für Seghers wie für Kafka waren, schon aufgrund ihrer Herkunft, jüdische Legenden von Bedeutung. Bei beiden findet man neben Legendensammlungen auch Bücher über jüdische Traditionen in ihren Bibliotheken (vgl. Zehl Romero 2000, 99 f.; Blank 2004, 235, 273). Seghers lässt ihre Kafka-Figur sogar gestehen, dass seine Geschichten oft mit den chassidischen zusammenhängen. Er erzählt nämlich eine spannende und zugleich tragische Legende von Tod, Sehnsucht und dem Teufel mit dem menschlichen Antlitz. Ähnliche legendenartige Elemente und zugleich kafkaeske Situationen gibt es in einigen Prosatexten, die auf den Prager Autor als Inspirationsquelle verweisen. Obwohl die Autorin die Literaturtexte Kafkas als »schlimme Märchen für Erwachsene« bezeichnete (KuW1, 150), war sie davon fasziniert und ließ sich von ihnen anregen. Sie wünschte sich, wie ihr Sohn Pierre feststellte, dass ihre Bücher die Menschen »menschlicher machten und zu ihrer Veränderung beitrugen«, zugleich aber sollten sie »sie auch zum Träumen bringen« (Radvanyi 2005, 125). Es gibt eine Reihe von Berührungspunkten beider Schriftsteller. Eine der frühen Erzählungen, die erst posthum im Jahre 2000 aus dem literarischen Nachlass mit dem Titel Jans muss sterben herausgegeben wurde, zieht den Leser in eine äußerlich und innerlich unschöne, an Kafkas Milieus erinnernde Atmosphäre, die durch die sozialen und emotionalen Defizite stark berührt, zugleich aber etwas Unerklärliches, beinahe Unheimliches signalisiert, was der Schilderung die Note eines schwer fasslichen Geheimnisses verleiht. Die vom Tode gezeichnete Kindergestalt erscheint als eine über den Alltag herausragende, enigmatische Figur, die einen Kontrast zu der menschlichen Gemeinschaft darstellt, weil diese zu direkten und unmittelbaren Äußerungen von Liebe und Leidenschaft unfähig ist.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_39
39 Franz Kafka
»Jans lag mit eingezogenen Beinen und offenem Mund und runden Augäpfeln, wie ein uralter verschrumpfter Zwerggreis, wie ein böser kleiner Zauberer, mit seinen dürren Fingern unverständliche Zeichen in die Luft malend und rätselhafte dünne Klagelaute pfeifend« (Seghers 2000, 32). Der kranke Junge wird von seinen Eltern zu schnell aufgegeben. Der Vater reagiert auf die Beruhigungsversuche eines Nachbarn, dass der Kleine doch genesen wird, mit den Worten: »Nein, [...] ich glaube nicht, daß er durchkommt« (ebd., 32). Die Mutter wiederum spricht in Anwesenheit des fiebernden Sohnes den Satz aus, nach dem die Erzählung betitelt wurde: »Jans muß sterben« (ebd., 25). Sie möchte die Krankheit des Kindes – ähnlich wie die Familie Samsa die Verwandlung ihres Sohnes – vor anderen verheimlichen. In ihrer inneren Enge verhält sie sich in der existentiellen Grenzsituation wie ein Mensch, der das Wertvolle von dem Wertlosen nicht zu unterscheiden vermag. So heißt es von ihr: »Es war eine Schande, daß Jans, ihr schönes glänzendes Kind, krank war, es war eine Schande, Fremden zu zeigen, daß ihr Glück Flecke und Sprünge bekommen hatte« (ebd., 23). An Kafka erinnert in der Erzählung nicht nur Jans’ geheimnisvolle Krankheit, sondern auch das Ende der Geschichte. Der Vater des vor vielen Jahren verstorbenen Jungen besucht das kleine Grab und tut etwas, was er früher nicht wagte. Den lebenden Sohn vermochte er aus Scheu nicht zu streicheln, nun aber streichelt er seinen Grabstein, denn es ist für ihn »eine brennende Freude«, »ein heftiger Stolz« und »ein wilder Triumph, seine alte Verzweiflung wiedergefunden zu haben« (ebd., 63). Das Thema eines kommunikativen Unvermögens und einer Unfähigkeit, Emotionen direkt zum Ausdruck zu bringen, erstrecken sich – ähnlich wie das Thema der Einsamkeit in der Gemeinschaft – durch das erzählerische Werk von Kafka und von Seghers. Auch das Motiv des absurden Wartens in Sagen von Artemis erinnert auffällig an die Parabel aus dem Kafka’schen Romanfragment Der Process. Im neunten Kapitel, dessen Parabel-Teil 1915 bereits unter dem Titel Vor dem Gesetz in der Prager jüdischen Zeitschrift Selbstwehr erschienen war, wartet ein ›Mann vom Lande‹ über Jahre in einer nervösen, unzufriedenen Passivität auf den Einlass ins Gesetz. Im Warten vergeht sein ganzes Leben. Eine ähnliche Strategie verfolgt in der Parabelgeschichte von Seghers ein Wächter, der sich grenzenlos in die als einfaches Mädchen auftretende Göttin Artemis verliebt und um sie solange wirbt, bis er als alter Mann am Ende seines Lebens steht. Ähnlich wie der ›Mann vom Lande‹ hat er seine ganze Existenz durch Untätigkeit vergeudet.
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Als Pendant zur Türhüter-Parabel aus dem Process ist eine Handlungssequenz im Siebten Kreuz zu verstehen. In beiden Romanen gibt es einen verfolgten Protagonisten, einerseits Georg Heisler und andererseits Josef K., von denen sich jeder in ›seinem‹ Dom befindet, der für beide eine Art Zuflucht und vielleicht sogar die Rettung darstellen soll. Beide fühlen sich dort aber unbehaglich, verfolgt von Kälte und Finsternis und von einer bedrückenden, bedrohlichen Atmosphäre. Dass es sich bei Seghers um eine ausdrückliche intertextuelle Beziehung handelt, zeigt sich u. a. an den weiblichen Figuren, die zu den verfolgten Männern in Beziehung stehen: Beide heißen Leni. Aber während der Seghers’sche Held im weiteren Verlauf der Handlung gerettet wird, wartet auf Josef K. der Tod. Auch im Roman Transit finden sich Kafka-Bezüge, die indirekt mit der kafkaesken Bürokratie, die über Sein oder Nicht-Sein vieler Menschen in der Not entscheidet, verbunden sind. Es ergeben sich so Berührungspunkte zu den Romanfragmenten Das Schloss und Der Process. In den Romanen Das siebte Kreuz und Transit gibt es ähnlich wie bei Kafka Situationen, in denen die Menschen von einer Macht bedroht werden, die nicht konkret zu benennen ist. Unter dem Druck dieser gewaltigen, bedrohenden Macht geraten die Menschen in Grenzsituationen, in denen sie entweder zugrunde gehen, weil die Ausweglosigkeit ihnen keine Chance bietet (bei Kafka), oder aber es zeichnet sich eine Lösung ab (bei Seghers), weil der Weg aus der Misere nicht völlig versperrt ist. Eine verkehrte, auf den Kopf gestellte Welt, in der völlig andere, geradezu umgekehrte Normen und Traditionen herrschen, als es im Alltag des Abendlandes sonst üblich ist, steht im Mittelpunkt der in neun Abschnitte gegliederten Erzählung von Seghers Reise ins Elfte Reich (1939). In dieser absurden literarischen Groteske sind die intertextuellen Bezüge zum Werk des Prager Autors unübersehbar. Bei beiden Schriftstellern erscheint die tödliche Bürokratie als eine der Ursachen der erlebten Absurdität, die sich in Richtung eines phantastischen Realismus bewegt. Eine Gruppe von Flüchtlingen sucht nach einem Land, das ihr das Recht auf Exil gewährt. Zehn angefragte Länder verweigerten bereits die Einreise, als die Menschen auf der Flucht per Zufall erfahren, dass das Elfte Reich noch Ausländer aufnimmt. Hier werden sie mit neuen Lebens- und Gesellschaftsnormen konfrontiert, die erfüllt werden müssen, um dort eine vorübergehende Wahlheimat finden zu können. Die bis dahin gültigen und akzeptierten Werte müssen abgelegt werden, sind geradezu ins Gegenteil verkehrt.
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IV Poetologische Fragestellungen
Gleich zu Beginn der Erzählung erfahren die Flüchtlinge, dass nur diejenigen ins Elfte Reich eingelassen werden, die keinen Reisepass besitzen. Die ›verkehrten‹ Prinzipien in diesem merkwürdigen Land verweisen auf eine kritische Auseinandersetzung mit den bekannten, traditionsbedingten Normen, die für alle möglichen Bereichen des menschlichen Lebens (für Auszeichnungen, Schule oder Hochzeit sowie den Besuch des Präsidenten) gelten. Für das Schaffen von Anna Seghers bedeuteten die Inspiration durch Kafka und ihre intertextuellen Bezüge auf sein Werk eine Bereicherung und Erweiterung der eigenen Poetik, ähnlich der Akzeptanz und Aufnahme von phantastischen und romantischen Elementen. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist die späte Erzählung Reisebegegnung, deren Handlung in Prag situiert wird, wo sich E. T. A. Hoffmann, Nikolai Gogol und Franz Kafka Anfang der 1920er Jahre treffen. Neben der Kategorie der Zeit werden die Fragen der Rezeption, der Interpretation des hinterlassenen Werkes, die Rolle des Phantastischen in den jeweiligen Poetiken sowie die grundsätzlichen Aufgaben der Literatur diskutiert. Kafka, der symbolisch »für alle drei die Rechnung beglich« (SB, 199), erscheint in Seghers’ Erzählung als ein Wahrheitssuchender, ein vom nahen Tod Gezeichneter, den die Vorstellung einer begeisterten Leserschaft erschreckt, die sein Werk nicht versteht oder falsch auslegen könnte. Was Seghers bei Kafka vermisst, legt sie Hoffmann in den Mund: »Ich fürchte, das fehlt Ihnen in Ihren Erzählungen, Kafka, daß man sich irgendwann, irgendwie hoch erheben kann über die Leiden und Qualen in unserem bedrohten Leben« (SB, 193). An einer anderen Stelle folgt ein wieder durch Hoffmann artikulierter Appell der Autorin: »weil Sie für sich selbst keinen Ausweg sehen, sehen Sie auch keinen für andere. Man muß aber nach einem Ausweg suchen, nach einer Bresche in der Mauer« (SB, 198). Diesen Standpunkt vertrat die Autorin im Zusammenhang mit den Prämissen des sozialistischen Realismus bereits zehn Jahre früher, als sie an der Kafka-Konferenz im Schloss Liblice vom 27. bis 28.5.1963 teilnahm. Diese Konferenz galt als Auftakt zur deutlichen Schwächung der parteilichen Barrieren in der tschechoslowakischen Kultur, Kunst und Wissenschaft, die als ›Prager Frühling‹ bezeichnet wurde und mit der Okkupation des Landes durch die ›brüderlichen‹ Armeen im August 1968 ein brutales Ende fand. Den Anlass für die Konferenz bildete der 80. Jahrestag der Geburt Franz Kafkas. Einer der Initiatoren der Konferenz, Eduard Goldstücker, schreibt in seinen Erinnerungen, dass Max Brod als Ehrengast eingeladen
wurde, aber erst später kommen konnte, weil er sich in Israel aufhielt (vgl. Goldstücker 1989, 293). Die Organisatoren waren sehr erfreut, als Anna Seghers aus eigener Initiative ihre Teilnahme anmeldete. »Das war eine unmißverständliche Geste der Mißbilligung der Kulturpolitik der DDR, wo Kafka verdammt wurde«, kommentierte es Goldstücker. »Anna Seghers gehörte demgegenüber zu seinen Bewunderern, und sie bekannte, welchen Einfluß er auf ihr eigenes Werk gehabt hatte« (ebd.). Aus der DDR kamen weiterhin die Literaturwissenschaftler Klaus Hermsdorf und Kurt Krolop, die als Lektoren an der Prager Karlsuniversität gewirkt hatten, außerdem Werner Mittenzwei, Helmut Richter und Ernst Schuman. Anna Seghers hat frühzeitig die Konferenz verlassen, wahrscheinlich weil sie mit dem Verlauf der Tagung nicht zufrieden war. Das bestätigte in einem Gespräch im November 2018 der Prager Konferenzteilnehmer Leoš Houska. In dem 2003 in Prag erschienenen Buch Tance kolem Kafky [Tänze um Kafka] von einem direkten Teilnehmer dieser Konferenz, Alexej Kusák (1929–2017), wird ebenfalls darauf verwiesen, dass Anna Seghers die Kafka-Konferenz frühzeitig verlassen hat. Ob Anna Seghers wusste, wie die Delegierten der DDR über Kafka referieren werden, ist nicht bekannt. Die Verhandlungen und Diskussionen in Liblice offenbarten zwei gegenüberstehende Lager, wobei die DDRTeilnehmer aufgrund der Kulturpolitik ihres Landes eher negativ angesehen wurden. Die einzelnen Konferenz-Beiträge kann man aus heutiger Perspektive als ›Kampfbeiträge‹ lesen, in denen es nicht um die Frage ging, ob Kafka in den Ländern des Ostblocks herausgegeben und gelesen werden sollte, sondern um die Art der Interpretation und um die Rolle von Kafkas Werken im zeitgenössischen Literaturbetrieb. Seghers ist öffentlich mit keiner Stellungnahme aufgetreten. Es ist allerdings denkbar, dass sie sich zum Thema in einzelnen Gesprächen mit den Konferenzteilnehmern geäußert hat. Wenige Monate später erwähnte sie in ihrem Bericht in der Akademie der Künste, dass sie in Liblice die Stellungnahme eines Schriftstellers oder eines Dichters vermisste habe, der deutlich die Bedeutung Kafkas für die moderne/zeitgenössische Literatur zum Ausdruck gebracht hätte. Sie hielt es für einen Fehler, es selbst nicht getan zu haben. Neben ihren anderen öffentlichen Äußerungen zu Kafkas Werk (vgl. KuW1, 150) hat sie den Prager Autor in Reisebegegnung zur literarischen Figur transformiert und sich so mit literarischen Mitteln mit Strategien und Anliegen der zeitgenössischen Literatur auseinandergesetzt; das überschritt den engen Rahmen des sozialistischen Realismus.
39 Franz Kafka Literatur
Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1980. Blank, Herbert: In Kafkas Bibliothek. Prag 2004. Goldstücker, Eduard: Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers. München/Hamburg 1989. Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Nach der Kritischen Ausgabe. Frankfurt a. M. 2001. Kusák, Alexej: Tance kolem Kafky [Tänze um Kafka]. Prag 2003. Radvanyi, Pierre: Jenseits des Stroms. Berlin 2005.
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Seghers, Anna: Jans muss sterben. Erzählung. Mit einer Nachbemerkung von Pierre Radvanyi und einem Nachwort von Christiane Zehl Romero. Berlin 2000. Winnen, Angelika: Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR: produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig. Würzburg 2006, 44. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000.
Viera Glosíková
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IV Poetologische Fragestellungen
40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden Seit früher Jugend liebt Anna Seghers Sagen und Märchen. Mit dem Buch Die schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab ist sie aufgewachsen. Sie sammelt in ihrer Bibliothek zeitlebens viele Bände mit Märchen der Völker der Welt und bekundet selber, dass ihre ersten prägenden literarischen Eindrücke in der Kindheit Sagen waren, die sie von ihrer Mutter hörte. Betrachtet man das Gesamtwerk der Schriftstellerin, so zeigt sich, dass sie in allen Schaffensphasen – im Frühwerk der 1920er Jahre, im Exil in Frankreich und Mexiko ebenso wie im Alterswerk – Märchen und Sagen, Mythen- und Legendenhaftes geschrieben hat. Phantastisches und Mythologisches sind ein grundlegender Bestandteil ihres Erzählens. Die Schriftstellerin erweist sich nicht nur als exzellente Kennerin zahlreicher tradierter Motive von Märchen und Mythen aus der Kunst vieler Kulturkreise (s. Kap. 41), sondern adaptiert sie in ihrer Literatur auf höchst schöpferische Weise. Schon in ihrem allerersten publizierten Text, Die Toten auf der Insel Djal, weht uns der Zauber des Geheimnisvollen, Dunklen, Sagenhaften an. Diese Novelle trägt den Untertitel Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje Seghers. Hier taucht also erstmalig das Pseudonym Seghers in einer Veröffentlichung auf und auch ein wichtiges Detail kommt hier zum ersten Mal vor, das sich immer wieder in ihrem erzählerischen Werk finden wird: Die Welt der Lebenden und der Toten ist nicht grundsätzlich voneinander getrennt; die Einen und die Anderen haben miteinander zu tun, ihre Sphären berühren sich. In dieser frühen Geschichte, 1924 entstanden, können die toten Seeleute, die vor der Insel im wilden Atlantik ums Lebens gekommen sind, so lange keine Ruhe finden, bis sie vom Pfarrer auf seinem Kirchhof beerdigt werden. Und dieser Pfarrer ist, wie sich am Ende herausstellt, der Leibhaftige selbst, eine Inkarnation des Teufels. Anna Seghers beginnt hier die lange Reihe ihres Erzählens von den Lebenden und den Toten. Schon die junge Autorin ist sich dieses Zusammenhangs bewusst. Sie kann sich die Welt in ihrer komplexen Realität nur vorstellen als eine, in der die Toten an der Existenz der Lebenden beteiligt sind. Der Reiz magischer Orte wie jener Kirchhof auf der fiktiven Insel Djal wird sich von da an durch das Werk der Erzählerin ziehen; man findet ihn wieder etwa auf dem Rancho in einem mexikanischen Bergdorf, wo die Ich-Erzählerin im Ausflug der toten Mädchen, noch
krank und geschwächt, unversehens auf die Vision ihrer eigenen Jugend trifft, oder im Heiligen Hain, in dem Jason im Argonautenschiff sich dem Tod überlässt: magische Orte, die eine Dimension jenseits der faktischen, lokalen Koordinaten besitzen. Zwischen Leben und Tod gibt es in der literarischen Welt der Anna Seghers keine strikte Trennung. Fließende Übergänge machen die Handlung jeweils durchlässig für Elemente des Phantastischen, Traumhaften oder Unbewussten. Das ist noch in ihrem großen Epochenroman Die Toten bleiben jung (1947) so, wenn im Augenblick der Erschießung im Antlitz des Sohnes das Gesicht des ermordeten Vaters aufscheint und den brutalen Offizier erschreckt. Auch zwei weitere frühe Erzählungen, Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen und Jans muss sterben, die erst viele Jahre nach dem Tod von Anna Seghers aus dem Nachlass gedruckt wurden, greifen mythische und legendenhafte Motive auf. So beteiligen sich in der Gegenwartsgeschichte Jans muss sterben die Knaben, die im vorigen Jahr bei ihren waghalsigen Unternehmungen ums Leben gekommen waren, wie selbstverständlich an den Spielen ihrer Kameraden. Und jener mittelalterliche Bischof Jehan, der ein Heiler ist und zugleich als Mörder verurteilt wurde, trägt eines Tages die Stigmata in seinen Händen. Er hält sie für ein Zeichen seiner Erwählung, gleich den Wundmalen Christi. Eine andere Gestalt der Erzählung, Chat Chat Rouge, der Rothaarige, der den Bischof immer erneut anstachelt und in sein Schicksal treibt, scheint wiederum niemand anderer als der Teufel zu sein. Der wird zum Versucher, wie er in der Bibel Christus versucht und wie er der jungen Anna Seghers bei Dostojewskij begegnet (s. Kap. 29). Es ist der Einbruch des Geheimnisvollen ins Alltägliche, der die Prosa von Anna Seghers derart besonders macht. Selbst in Erzählungen, die Gegenwartsstoffe zum Inhalt haben, finden sich solche über die bekannte Realität ins Phantastische oder Traumhafte hinausweisende Aspekte. Der Schriftsteller Franz Fühmann, auch er ein Kenner und Erzähler von Sagen und Märchen, zieht Anna Seghers als Beispiel für mythisches Erzählen in ganz heutigen, diesseitigen Stoffen heran. In seinem Essay Das mythische Element in der Literatur schreibt er 1972: »Eine der großen alten Mythenerzählerinnen unter uns ist Anna Seghers« (Fühmann 1975, 218) und bezieht sich dabei konkret auf die Erzählung Das Schilfrohr aus dem Zyklus Die Kraft der Schwachen, die im faschistischen Deutschland spielt. Fühmann sieht bei Seghers den Zugriff auf eine große menschheitliche Erfahrung: die Rettung des
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_40
40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden
Verfolgten, vor den Nazihäschern Geflohenen, den die Natur unmittelbar bei sich aufnimmt, im See, im Uterus (wie Fühmann formuliert), weil er nirgends anders sicher wäre. Darin erkennt er das Mythische in ihrem Erzählen. Immer dort, wo Erfahrung und Erlebtes derart groß und schwer auf dem Einzelnen lasten, dass ein Mensch selber keinen Ausdruck dafür findet, hilft ihm das Mythische, seine kleine Existenz in der großen aufzuheben. Die Sinnfragen »Wozu dies alles?« und »Warum gerade mir?« kann die Kunst im Gewand des Mythos klären helfen (vgl. ebd., 201). Anna Seghers, dem realistischen Erzählen verpflichtet, hat immer eigene Erfahrungen zur Grundlage ihres Schreibens gemacht. Gerade im Exil verdichten sich traumhaft diese Wirklichkeitserfahrungen zu Sagen und Märchen. Mit den beiden 1936 und 1937 entstandenen Erzählungen Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok und Sagen von Artemis greift sie ganz explizit Sagen- und Legendentöne auf, obgleich sie sich mit sehr realen Konflikten des Lebens in der Emigration auseinandersetzt. Im Räuber Woynok, einer märchenhaft angelegten Geschichte eines jungen Räubers, der immer allein raubt und sich der großen, starken Räuberbande von Gruschek nicht anschließen will, geht es immanent um die komplizierte Frage von Individuum und Kollektiv, dem Einzelnen und der Partei unter den Bedingungen der Illegalität. Der Anspruch der Kommunistischen Partei, das Handeln jedes einzelnen ihrer Mitglieder bis in die privaten Entscheidungen hinein zu bestimmen, ist in Zeiten der Illegalität von existentieller Bedeutung. Doch der Einzelne gerät dadurch in einen Konflikt, der ihn in Widerspruch zur Gruppe bringen kann. Ist wirklich immer der zu verurteilen, so fragt die Geschichte unterschwellig, der auf sich selber vertraut und sich nicht in jedem Falle dem großen Ganzen unterordnet? Seghers stellt sich der Frage, ob der Einzelne auch ohne die Gruppe handlungsfähig ist und ob er dieser überhaupt bedarf. Somit wird das Thema des Verrats in seiner gravierendsten Form aufgeworfen: Verrat des Einzelnen an den anderen, die sich auf ihn verlassen. Es geht um das Motiv des Im-Stich-Lassens, das dann im Exilroman Transit erneut aufgegriffen wird. Das berühmte Motto, das Anna Seghers den Sagen vom Räuber Woynock voranstellt, wendet den Blick ganz betont auf die scheinbar schwachen Kräfte eines Einzelnen und die Wirkungsmöglichkeit des Künstlers bzw. der Kunst: »Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? Und wisst ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen, ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes, gar
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mühelos in die Herzen eindringt, an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen?« (SRW, 27). Das impliziert vor allem die Polarität zwischen der subtileren Wirkung von Kunst gegenüber der direkten, rohen Gewalt, mit der man sich oft nur die Fäuste blutig schlägt, ohne die Menschen im Innersten zu erreichen. Kurz darauf entsteht die Erzählung Sagen von Artemis, in der die Autorin die in der griechischen Mythologie verankerte Figur von Artemis, Göttin der Jagd, der Wälder und Auen, zum Ausgangspunkt wählt. Sie erzählt jedoch eine völlig neue Geschichte, von den Jägern, die am Abend in einer Waldschenke beisammensitzen und sich gegenseitig ihre Abenteuer erzählen. Artemis tritt nicht als strahlende Abgesandte des Olymp auf, sondern in Gestalt einer jungen Magd, die still und zurückhaltend alle Arbeit macht, die von ihr verlangt wird. Sie bewegt sich mitten unter den Jägern, die davon träumen, der Göttin einmal im Leben selber zu begegnen. Ein junger Jäger, betört von ihrer anmutigen Gegenwart, erzählt eine Geschichte, nur damit sie zuhört und sich nicht entfernt. Sie bleibt als Dienende unter ihnen, sie ist da: Artemis, die keiner erkennt. Am Ende der geheimnisvollen Geschichte, als das junge Mädchen zum Brunnen geht, um Wasser zu holen, kommt die richtige Magd herein, eine ältere Frau. Und auf einmal ist die Welt draußen wie verstummt. Weit entfernt im Wald hören die Jäger nur noch zwei langgezogene Pfiffe, die ihre Herzen erbeben lassen. Der Wald rauscht, wie ein letztes Zeichen dafür, dass sie bei ihnen gewesen ist – und sie haben sie nicht erkannt: Artemis ist wieder in ihre Wälder eingegangen. Anna Seghers lebt zu dieser Zeit mit ihrer Familie, ihrem Mann Laszlo Radvanyi und den Kindern Peter und Ruth, in Bellevue-Meudon, einem Vorort von Paris. Sie selber möchte nicht erkannt werden als die, die sie ist. Im Schutz des Namens Radvanyi ist die Schriftstellerin relativ sicher vor den Spitzeln der Gestapo. Damit reflektiert die Erzählung von Artemis implizit die Notwendigkeit für die während der Nazi-Herrschaft Bedrohten, sich zu verbergen. Es handelt sich bei beiden Erzählungen demnach thematisch gesehen um Exilliteratur, obwohl der gewählte Stoff auf den ersten Blick gar nicht darauf hindeutet, weil er vordergründig nicht zeitgeschichtlich ist. Es sind Parabeln, die im Gewand archaischer Muster die Problematik der Gegenwart erklären. Ähnlich wie in der Nachkriegszeit Jason, wird Artemis zu einer Projektionsfigur, die über die schwierige Lage der Autorin selbst etwas mitteilt: Als Emigrantin ist sie gezwungen, unauffällig, ja unsichtbar zu bleiben.
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IV Poetologische Fragestellungen
In den Texten der Seghers ist immer wieder die Ebene des Un- und Unterbewussten auffallend, die ein wesentlicher Bestandteil der Wirklichkeit ist. 1940 schreibt Anna Seghers in Paris den kleinen Prosazyklus Drei Bäume, darunter Der Baum des Odysseus. Sie liebte, wie ihr Sohn Pierre Radvanyi in seinen Erinnerungen bezeugt, von den antiken Sagen besonders die rhythmische deutsche Übersetzung des Homer von Johann Heinrich Voß. Die Episode am Ende der Odyssee, als der Held nach zehn Jahren Krieg um Troja und zehn Jahren Irrfahrten aus der Fremde in die Heimat Ithaka zurückkehrt, ist Seghers Anlass, mitten im Exil, als der Zweite Weltkrieg begonnen hat, Europa zu verheeren, darüber nachzudenken, wie die Wiederbegegnung mit der verlorenen Heimat sein und wie ein Wiedersehen zweier vertrauter Menschen wohl verlaufen wird, die sich so lange entbehrt haben, dass sie nicht sicher sein können, einander wiederzuerkennen. So schwingt in dieser kurzen Geschichte schon die Ahnung mit, dass es auch für sie eine Grunderfahrung sein könnte, die Heimat nie oder erst nach unendlich langer Zeit zurückzugewinnen, die Liebsten, die man zurücklassen musste, vielleicht nie mehr wiederzusehen. Anna Seghers erklärt diese Besonderheit ihrer Prosa 1956 in einem Brief an den vertrauten russischen Freund Wladimir Steshenski: »Es gab dabei zwei Linien: Erzählen was mich heute erregt u die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint u wusste nicht, wie« (Br2, 42). Dieses Bekenntnis kann man mit Fug und Recht als den Kern ihrer Poetik bezeichnen. In allen Phasen ihres Schaffens setzt sie sich mit der Verbindung von Real-Zeitgeschichtlichem und Märchenhaft-Mythologischem auseinander. So zeigt sich von den Erzählungen des Frühwerks bis zu ihren letzten Erzählungen als konstruktives Prinzip, Motive aus Märchen und Sagen der Weltliteratur aufzunehmen und damit der Problematik, die sie in ihrer Gegenwart, etwa der Exilsituation, existentiell beschäftigt, eine zusätzliche Bedeutungsebene zu verleihen. Einer der wichtigsten Prosatexte, in denen Anna Seghers Mythen und Sagen verarbeitet, ist die Novelle Das Argonautenschiff. Es ist der erste poetische Text, den sie nach der Rückkehr aus dem Exil in Deutschland schreibt. 1949 wird er in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht, im Erstdruck noch mit dem Untertitel »Sagen von Jason«. In Gestalt der mythologischen Figur, die das Goldene Vlies aus Kolchis raubt und nach Griechenland bringt, wobei ihm seine Geliebte, die Priesterin Medea, hilft, wird sich Anna Seghers der Problematik ihrer eigenen Rückkehr aus
dem Exil und der Wiederbegegnung mit der verlorenen Heimat bewusst. Es ist ein metaphorischer Zugriff auf die zerbombte, kaum wiederzuerkennende Stadt Berlin, denn auch Jason erreicht endlich seine Heimatstadt wieder, die er vor undenkbar langer Zeit verlassen musste: Die Stadt, heißt es, »war zwar zusammengeschossen. Man hat aber doch in den Trümmern irgendwo etwas trinken müssen« (AS, 118). Das Leben muss trotz allem weitergehen. Unwillkürlich reflektiert man dabei das kriegszerstörte Berlin. Anna Seghers wird in den Tagen nach ihrer Ankunft, wie andere Heimkehrer auch, in einem erhalten gebliebenen Seitenflügel des Hotels Adlon untergebracht. Vorstellbar ist, dass der Schriftstellerin ihre Wiederbegegnung mit der Stadt Berlin so unwirklich vorkommt, dass sie tatsächlich die Verfremdung durch die Sage und Legende braucht, um sie für sich fassbar zu machen. In dieser Erzählung benutzt sie die Jason-Figur ganz unmittelbar, um ihre eigene Heimkehr spiegelbildlich zu gestalten und erst dadurch die Bedeutung dieser existentiellen Ausnahmesituation deutlich zu machen, in der die Remigranten damals standen. Anna Seghers trifft im Frühjahr 1947, nach 14-jährigem Exil, wieder in Berlin ein – für ihr Gefühl eine unendlich lange Zeit. Kaum einer kennt sie noch in der alten Heimat. Genauso ergeht es auch dem sagenhaften Jason im Argonautenschiff: »Das Sonderbarste an seiner Erscheinung war: Obwohl er ihnen bestürzend fremd vorkam, hatte doch jeder bei seinem Anblick das Gefühl, schon einmal irgendwo auf ihn gestoßen zu sein, und sei es auch vor langem gewesen, vielleicht als Kind, vielleicht nur auf einen Augenblick« (AS, 118). Nur an der Sprache, die der Fremde spricht, an der Färbung der Mundart, erkennen die Leute, dass er einer von ihnen ist. Auch Anna Seghers drückt in Briefen an Vertraute genau diese Empfindung aus: »Wenn ich einen Augenblick zu mir selbst komme, habe ich so ein Dornröschengefühl: ich hätte alle vergessen und alle hätten mich vergessen« (Br2, 81). Sie fühlte sich wie aus der Zeit gefallen – und braucht deshalb umso mehr diesen mythischen, überzeitlichen Anker, um sich ihrer Lage bewusst zu werden und sie literarisch überhaupt gestalten zu können. Christa Wolf erkennt in den Figuren der Seghers seit der Erzählung Die Toten von der Insel Djal einen markanten, nur ihr eigenen Typus, der sich von zahllosen anderen, vergleichbaren literarischen Figuren abhebt, eben weil er mythologische Tiefe und legendenhafte Überhöhung mit ganz zeitgenössischen Themen verbindet. Sie bezieht darin ebenso Figuren wie Hull aus dem Aufstand der Fischer von St. Barbara oder den
40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden
Koloman Wallisch aus dem Roman Der Weg durch den Februar ein: »Ihre älteste irdische Verkörperung aber scheint der sagenhafte Jason aus dem ›Argonautenschiff‹ zu sein: Gelassen, kühn, frei sind sie, ungerührt durch die Schicksale, die sie heraufbeschwören. Unbeschwert von irdischen Bindungen. Kühl. Nüchtern. Allein. Zum Abenteuer bereit. Gebrannt von der Gier nach Leben: ein Grundtyp, den die Seghers aus archaischen Zeitaltern in die Industriegesellschaft unseres Jahrhunderts herüberholt und der sich in dieser ihm merkwürdig fremden Umwelt auf diejenige Seite schlägt, die ihm Möglichkeit zu leben verspricht.« (Wolf 1983, 364)
Diese Charakterisierung des Jason trifft auf Anna Seghers selber zu: Auch sie, so scheint es in den ersten Äußerungen nach ihrer Rückkehr, ist zum Abenteuer bereit. Sie will sich die fremdgewordene Heimat wieder zugänglich machen, will versuchen, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Die Stadtlandschaft Berlins beschreibt sie ganz ähnlich wie die Stadt, in die Jason zurückkehrt. Sie kommt ihr mit ihren Ruinen und zusammengeschossenen Häuserfassaden hässlich und in ihrer Zerstörung zugleich faszinierend vor: »Eine außerordentlich widerliche, eine außerordentlich attraktive Stadt. Vielleicht eine der verrücktesten in Europa« (Br1, 282). Das Unwirkliche als Eindruck überlagert alles. Allein drei Erzählungen von Anna Seghers tragen bereits im Titel den Genrehinweis auf eine Sage: Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis sowie Sagen von Unirdischen aus dem Zyklus Sonderbare Begegnungen im Spätwerk der 1970er Jahre. Die Autorin kokettiert damit, dass die Leser erstaunt, ja »ein wenig bestürzt« seien über diese besondere Art ihres Erzählens. In einem Brief an die russische Freundin und Germanistin Tamara Motyljowa vom 3. Juli 1973 etwa schreibt sie: »[U]nsere Leser sind gar nicht an diese Art Anna gewöhnt [...]. Nun, alle paar Jahre, nicht nur jetzt, schreibe ich märchenhafte oder sagenhafte Geschichten« (Br2, 241). Es macht ihr sichtlich Freude, ihr Publikum mit dieser Art von phantastischen Geschichten zu konfrontieren. Ihre Auffassung von Realismus in der Kunst drückt Anna Seghers in einer weiteren Erzählung mit phantastischem Inhalt aus. In Die Reisebegegnung (1973) lässt sie Kafka in der Debatte mit Nikolai Gogol und E. T. A. Hoffmann die Überzeugung aussprechen, dass die Kategorien ›wahr‹ und ›wirklich‹ mehr als das Sichtbare und Greifbare bezeichnen: »Sobald die
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Wirklichkeit in Geträumtes übergeht, und Träume gehören zweifellos zur Wirklichkeit – wozu sollten sie denn gehören? –, verstehen die Leser nicht viel« (SB, 180). Kafka beginnt, für seine beiden Kollegen die Geschichte von dem kranken jüdischen Knaben und dem Rabbi nachzuerzählen, die die Stufen des Kleinen und des Großen Lichtes hatten: »wären die beiden zusammengekommen, dann wäre der Messias erschienen« (SB, 190), und wieder hat der Teufel seine Hand im Spiel. Was da erzählt wird, scheinbar eine Legende im Stile Martin Bubers, ist eine Dichtung von Anna Seghers. Sie schließt in ihrem Duktus an die frühe Sage Die Toten von der Insel Djal an. In ihrer Erinnerung an den Studienfreund, den Sinologen Philipp Schaeffer, bekennt sie, dass sie in der Studentenzeit in Heidelberg, angeregt von altchinesischen Märchen und Legenden, von »Dämonen, Geister[n] und wunderbare[n] Dinge[n]« hörte (AE2, 388) und davon tief beeindruckt war. Darüber wollte sie schreiben. Es sind aber nicht nur das Geheimnisvolle und Phantastische – die Spielart fiktionaler Literatur, die mit dem Unmöglichen zu tun hat –, sondern auch der magische Realismus der 1920er und 1930er Jahre, die viele ihrer Formexperimente vor und in der Exilzeit bestimmen. In der Erzählung Ausflug der toten Mädchen wird über verschiedene Erzählperspektiven der fiktionalisierten realistischen Welt vor dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg etwas Wundervolles und Einmaliges, aber auch Unheimlich-Bedrohliches verliehen. Anders als in der phantastischen Literatur wird diese Mischung unvereinbarer Elemente nicht als widersprüchlich empfunden. Seghers’ Verbindung zur lateinamerikanischen Literatur zeigt sich auch darin, dass sie auf das Erzähltalent des kolumbianischen Autors Gabriel García Márquez lange vor dem Erscheinen seines Welterfolgs Hundert Jahre Einsamkeit aufmerksam machte. In ihrem erfolgreichsten Roman, Das siebte Kreuz, verweist Seghers mit dem Symbol des leer gebliebenen, siebten Kreuzes auf das Christentum als einer großen mythischen Erzählung und artikuliert auf diese Weise die Sehnsucht, dass es dem einen Gerechten gelingen möge davonzukommen. Das Kreuz ist in der christlichen Ikonographie das Symbol der Passion Christi. Bleibt es jedoch leer, wird es zu einem Hoffnungszeichen einer besseren Welt, die aus dem religiösen Kontext herausgelöst wird. Wenn Hans Mayer, der die Schriftstellerin seit 1948 persönlich kannte, in seiner Gedenkrede auf sie formuliert: »Alle Welt bei Anna Seghers ist gleichzeitig auch mythische Welt« (Mayer 1985, 242), dann meint
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IV Poetologische Fragestellungen
er damit genau dieses Außergewöhnliche ihrer Prosa: eine die Ebene der realen Darstellung übersteigende zusätzliche Dimension des Phantastischen. Er beruft sich dabei auf Hans Henny Jahnn, der dies als erster gespürt habe und dem Autor ›Seghers‹ im Jahr 1928, gleich zu Beginn der schriftstellerischen Laufbahn, den Kleist-Preis zuerkannte, die damals wichtigste literarische Auszeichnung für einen jungen Schriftsteller. Immer wieder fühlt sich Anna Seghers herausgefordert, dieses besondere Merkmal ihres Werkes zu erklären. Noch 1974 sagt sie in einem Gespräch mit Heinz Plavius: »Zur Wirklichkeit gehört das Äußere, Greifbare und vor allem das Innere im Menschen, sein Denken und Fühlen. Also auch Erfindungen und phantastische Träume. Was sollen Träume anderes sein als Wirklichkeit?« (AE2, 476). Um der Bedeutung dieses Stoffes gerecht zu werden und um interdisziplinäre Rezeptionsmöglichkeiten zu erschließen, hat die Anna-Seghers-Gesellschaft im Jahr 2007 ihre Jahrestagung unter das Thema »Märchen und Sagen – Frischer Wind« gestellt (vgl. Argonautenschiff 2007). Mit dem Motto zu Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok hat Anna Seghers programmatisch auf die Bedeutung »der in ihrem Werk häufig unterschätzten mythisch-legendären Stoffe, Märchen- und Sagenmotive« (Elsner 2007, 7) hingewiesen. In der Fokussierung auf diese Erzählung begann die Tagung mit dem Beitrag von Gerhard Haas zu »Märchen und Märchenmotive als Element der modernen erzählerischen Literatur« (vgl. Haas 2007). Weil die Anwesenheit von Märchenmotiven und Märchenelementen auch ein Phänomen moderner Literatur ist, stellt er Seghers’ Werk in einen Zusammenhang mit Texten von Bachmann und Brecht über Frisch und Hacks bis hin zu Peter Handke. Damit verfolgt er das Ziel, »in das Innere, also in Struktur und atmosphärische Tendenz« bestimmter Texte der Seghers Einblick zu gewinnen (ebd., 51). Auf diesen Beitrag folgen Einzelanalysen und Studien sowie die Diskussion didaktisch-metho-
discher Verfahren, die Erzählungen von Seghers im neuen Jahrtausend in Schule und Hochschule zu lesen und zu interpretieren. Dieses Zusammengehen von literaturwissenschaftlicher Analyse und Textrezeption, das gemeinsame Lesen der Schönsten Sagen vom Räuber Woynok und die Aneignung des Textes in der pädagogischen Praxis über Bild, Film, Theater und Musik sind im Sinne der Autorin ein wichtiger Ansatz, das Stafettenmotiv nicht nur im Werk der Seghers zu erkennen, sondern dieses an die junge Generation weiterzugeben (vgl. Elsner 2007, 8). Literatur
Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008. Diersen, Inge: Jason 1948 – Problematische Heimkehr. In: Argonautenschiff 1 (1992), 107–128. Elsner, Ursula: Editorial. In: Argonautenschiff 16 (2007), 7–8. Fehervary, Helen: Anna Seghers. The Mythic Dimension. University of Michigan 2001. Fischer, Gudrun: »Ach, essen von sieben Tellerchen«. Märchen- und Sagenmotive im Roman ›Das siebte Kreuz‹. In: Argonautenschiff 2 (1993), 132–147. Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock 1975, 147–219. Haas, Erika: Die Legende im Werk von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 16 (2007), 73–85. Haas, Gerhard: Märchen und Märchenmotive als Element der modernen erzählerischen Literatur. In: Argonautenschiff 16 (2007), 50–59. Mayer, Hans: Gedenkrede auf Anna Seghers. In: Ders.: Aufklärung heute. Reden und Vorträge 1977–1984. Frankfurt a. M. 1985, 237–248. Melchert, Monika: Jason und das Mädchen aus Mainz. Eine Erinnerung. In: Dies.: Mit Kafka im Café. Die schönsten Szenen bei Anna Seghers. Berlin 2006, 180–201. Wolf, Christa: Zeitschichten (Nachwort). In: Anna Seghers: Ausgewählte Erzählungen. Hg. und mit einem Nachwort von Christa Wolf. Darmstadt/Neuwied 1983, 363–372.
Monika Melchert
41 China und Chinaerfahrungen
41 China und Chinaerfahrungen In der poetischen Entwicklung von Anna Seghers nimmt der stetige Austausch mit Zeitgenoss/innen und fremden wie fremdsprachigen Kulturen eine wichtige Rolle ein. So auch die Auseinandersetzung mit China, das sie selbst nur einmal, 1951, bereiste. Den für sie wichtigen Dialog stellte sie durch die Begegnung mit chinesischen Freunden wie auch historischen Persönlichkeiten und der Beschäftigung mit der chinesischen Sprache, Literatur und Kunst her. So werden die Ereignisse in China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Thema ihrer Erzählungen und Romane. »Denn, wo ein wesentliches Thema angeschlagen wird, kann es wohl eine zeitlang beschattet werden, aber es muss in den entscheidenden Momenten in aller Klarheit und Schroffheit wieder zu Tage treten. Ein solches Thema ist China« (Seghers 2012a, 231). Gleichzeitig beschäftigt sie sich mit dem Chinesischen in ihren literarästhetischen Verfahrensweisen. So wird ihre Chinaerfahrung für sie zum Auslöser für ästhetische Produktion und Projektion, findet Eingang in die Darstellungsweise und dient der Realitätserkenntnis.
Studium der Sinologie – Entwicklung zur Dichterin Ihr Interesse für China reicht bis in ihre Kindheit zurück. Vermutlich begegnete sie bereits in der Antiquitätenhandlung der Eltern chinesischer Kunst und Literatur. »Ich wünschte mir, als ich noch ein Kind war, hier einmal anzugelangen. Ich hatte ein paar Märchen und Gedichte gelesen, ich hatte ein paar Bilder gesehen, auch Schriftzeichen, die mir vorkamen wie Gedichte und Bilder in einem. Ich fragte mich, was sind das für Menschen, die ihre Gedanken mit Tusche und Pinsel in solchen Schriftbildern ausdrücken können?« (KuW2, 106). Seghers’ Chinaerfahrung geht also seit ihrer frühesten Kinderzeit auf eigene Leseerfahrungen zurück. Mit Studienbeginn 1920 in den Fächern Kunstgeschichte, Sinologie und Geschichte in Heidelberg und Köln ändern sich auch die Lektüren über China, vor allem werden Bücher mit Bezug zur chinesischen Kunst, zur klassischen Literatur und Philosophie angeschafft. »Wir fanden Lehrer, Gelehrte, die leidenschaftlich die Selbständigkeit der Kunst Chinas verteidigten. Sie stritten mit Kunsthistorikern, die in der Antike Europas den einzigen Ursprung künstlerischer Gestaltungskraft erblickten« (ebd.).
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Wie bei anderen Intellektuellen auch wecken die revolutionären Vorgänge in China in Verbindung mit dem Gefühl einer generellen Europamüdigkeit nach dem Ersten Weltkrieg das Interesse der Seghers. Sie liest die Reportagen der amerikanischen (Kriegs-) Journalistin und Publizistin Agnes Smedley, die im Auftrag der Frankfurter Zeitung über das Erstarken der kommunistischen Bewegung und die bürgerkriegsähnlichen Zustände in China berichtet (vgl. Seghers 2012a). Smedleys Einfluss beurteilt Seghers mit: »Sie hat vielen Menschen in Deutschland durch ihre Schilderungen zum erstenmal einen Begriff von dem gegeben, was im modernen China in Wirklichkeit vorging.« (KuW2, 106; vgl. Yü-Dembski 2012). Nach ihrem Umzug nach Berlin 1925 erlauben ihr die Begegnungen mit chinesischen Studierenden, die das Studium in China abbrechen mussten und nach Deutschland immigrierten, weitere Zugänge zu China. Eine enge Freundin wird Hu Lanqi (auch Hu Lan Hsi). Sie war seit den 1920er Jahren politische Aktivistin im linken Flügel der Guomindang (Kuomintang) und bis zum Bruch des Bündnisses mit der Gongchandang (Kommunistische Partei Chinas, KPCh) im Jahr 1927 Soldatin unter Jiang Jieshi (Chiang Kai-shek), der sie danach wie auch andere Mitglieder der KPCh verfolgte. Sie entzog sich dieser Verfolgung durch einen Studienaufenthalt in Berlin (vgl. Li 2010, 67; Du 1996). Etwa zur selben Zeit, 1928, tritt Anna Seghers der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei, 1929 wird die mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Autorin Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Die Freundschaft zur gleichaltrigen Hu Lanqi, deren politische Einstellung sie teilt, deren ›fremden‹ politischen Kontext sie sich aus mehreren, vielschichtigen Gründen aneignet, bleibt empathisch und persönlich. Diese Freundschaft wie auch andere, spätere Kontakte zu Chinesinnen und Chinesen (vgl. Li 2012, 71–72) haben Einfluss auf die bewusste Verzahnung von Weltanschaulichem und Ästhetischem. Zum Zeitpunkt ihrer »Lebensentscheidung« (Albrecht 1975, 165), die »neu eingegangene politische Bindung als künstlerische Verpflichtung anzuerkennen und zu realisieren« (ebd., 163), ist China für Anna Seghers (kunst)historisch, politisch wie auch emotional allgegenwärtig und damit formgebend. Die biographischen Verflechtungen zwischen der Chinawahrnehmung und der Entwicklung von Anna Seghers zur Schriftstellerin zeigen die nachhaltige Bindung an einen politisch motivierten literarischen Auftrag; gleichwohl verläuft dieser Weg nicht kontinuierlich, krisenlos und widerspruchsfrei.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_41
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IV Poetologische Fragestellungen
Für Anna Seghers gehören »Wirklichkeit und Phantasie« zusammen; »beide Elemente, glaube ich, gehören immer zur Kunst« (Roscher 1983, 56). Die ›Grunderlebnisse‹ und ›Originaleindrücke‹ (vgl. Behn 1980, 296) waren in der bildenden Kunst und dem Studium der Sinologie angelegt: »Die ostasiatische Kunst hat schon früh starken Eindruck auf mich gemacht. Während meiner Arbeit am Ostasiatischen Institut kam ich in einen Kreis junger Leute, mit denen ich mich eng befreundete. In einem Punkt waren wir alle derselben Auffassung: Wir waren nämlich gegen die Theorie, daß die Kunst überall ihren Ursprung in der antiken Kunst hätte. [...] Meiner Freundschaft mit diesem Kreis verdanke ich, daß ich noch heute viel und gern über verschiedene Kunstepochen lese und die Kunst besonders liebe, die man fälschlich primitiv nennt.« (Roscher 1975, 54)
Unterstützt durch den ›Kölner Kreis‹ unter dem Einfluss der Kunstwissenschaftler Karl With (1891– 1980), der in asiatischen Kunstwerken den Lebensinhalt unmittelbar wiederfand (vgl. Li 2012, 70), und Alfred Salmony (1890–1958), der den hermeneutischen Blick von Europa auf Asien problematisierte (vgl. ebd.), bildet sich bei Anna Seghers ein Widerstand gegen ein weit verbreitetes eurozentrisches Überlegenheitsgefühl. Diese Erfahrung der Bewertung einer fremden Kultur ist ein entscheidender Schritt in der Entwicklung ihrer eigenen Kunstauffassung, die Kunst und politische Weltanschauung sowie deren wechselseitigen Bezugnahmen ernst nimmt. Die Zusammengehörigkeit von Wirklichkeit und Phantasie gewinnt in Anna Seghers’ Poetik zunehmend an Bedeutung. So heißt es in ihren »Erinnerungen an Philipp Schaeffer« (1975), einem von den Nationalsozialisten 1943 hingerichteten Widerstandskämpfer und Studienfreund aus Heidelberg, der für sie geradezu ein Mentor in der Verbindung von sinologischer Begeisterung und politischer Überzeugung ist (vgl. Li 2010, 173): »In schönen chinesischen Schriftzeichen schrieb mir Schaeffer als Geschenk zum Doktorat eins meiner Lieblingsmärchen auf Seidenpapier. Das Wandbild. Es ist einer alten chinesischen Märchensammlung entnommen. Die Sammlung heißt Liao-Chai-Chi-I (Wunderbare Geschichten aus der Studierstube ›Zuflucht‹). Diese Geschichten, so heißt es im Untertitel, sprechen von allem, worüber der Meister (damit ist Konfuzius gemeint) nicht gesprochen hat. Der Meister hat nicht gesprochen
über Dämonen, Geister und wunderbare Dinge. – Von solchen also handeln die Wunderbaren Geschichten.« (AE2, 388)
Liaozhai Zhiyi ist eine 1740 veröffentlichte Sammlung von chinesischen Geister- und Liebesgeschichten, die der Schriftsteller Pu Songling (1640–1715) zusammenstellte und die, häufig inszeniert durch ungewöhnliche Liebesbeziehungen, auf die Repressionen und Unterdrückung der herrschenden feudalen Gesellschaftsordnung verweisen (vgl. Li 2012, 70). »The boundary between reality and the odd or fantastic is successfully blurred in these supernatural tales. Seghers’s love for demons, spirits and fantastic things, her fascination with folklore, the occult and the metaphysical, anticipates her modernist approach in literary creation and her vindication of modernism« (Zhou 2008, 158). Das Wandbild erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich in das Fresko einer Frau verliebt, am Haarschmuck als ›Jungfrau‹ erkennbar. Der Betrachter tritt daraufhin in die dargestellte Welt und die Geschichte der Wandmalerei ein. Am Ende der Geschichte tritt er durch ein Klopfen an der Wand aus dieser Welt wieder heraus, die gemalte Frau trägt nun den Haarschmuck verheirateter Frauen. Ein begleitender Priester kommentiert diese Verwandlung mit »Gesichte haben ihren Ursprung in denen, die sie sehen. Welche Erklärung kann ich da geben« (Buber 1986, 28). In der ästhetischen Entwicklung der Seghers werden selbstgelebte Erfahrungswelten Teil der faktischen Wirklichkeit und verändern diese. In ihrer »Erlebnisästhetik« (Behn 1980, 296) steht Fantastisches nicht außerhalb des Realen, sondern ist in der »gelebten Wirklichkeit selbst aufzusuchen, als Desidarat formuliert und tatsächlich mit dem erzählerischen Werk eingelöst« (ebd., 297). Erkennbar ist dies in wiederkehrenden Figuren, Motiven und Konstellationen, die Anderes, Sonderbares, Fremdes ersehnen, verkörpern oder sich davon abheben (s. Kap. 40). Noch in der späteren Erzählung Das Schilfrohr (1965) werden »Phantastisches, Mythisches, Märchenhaftes, Träume, Traumatisches« der eigenen Erfahrungswelt »einverleibt« (Behn 1980, 297). Der Gärtnerin Marta, die dem Widerstandskämpfer und Antifaschisten Steiner Unterschlupf gewährt, kommt dessen Lebensgeschichte »wie Märchen und Sagen vor« (KS, 218 f.). Während ihres Studiums der Sinologie beschäftigt sich Anna Seghers mit der chinesischen klassischen Philosophie: »Wir beide, Schaeffer und ich, waren
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nicht für Konfuzius mit seiner feudalistischen Staatsmoral, sondern für Laotse. Wir glaubten zu verstehen, was Laotse verstand unter seinem großen Tao, mit seinem Leitsatz ›Tun durch Nichttun‹« (AE2, 387). In ihrer Nachlassbibliothek finden sich die zentralen Werke der chinesischen klassischen Literatur in deutscher Übersetzung. Während die Ablehnung der Lehre des Konfuzius auch in der 1975 formulierten Retrospektive ihrer Ende der 1920er Jahre sich festigenden politischen Überzeugung entsprach, glaubte sie Laotse verstanden zu haben. Obwohl die Rezeption des Daoismus nicht eindeutig nachzuweisen ist, erkennen Richter (1994) und Li (2010) die daoistische Philosophie des Nicht-Tun wie auch den wechselseitigen Zusammenhang von ›schwach‹ und ›stark‹ in der Tiefenstruktur der Seghers’schen Texte; etwa in der Erzählsammlung Kraft der Schwachen (1965). In den Handlungen der Figuren lässt sich die Dialektik des ›Tun durch Nicht-Tun‹ beobachten und gegenüber einem Handeln ohne Wirkung absetzen. Im Roman Transit etwa zeigt sich der Bezug zur daoistischen Ruhe und Duldsamkeit am Beispiel der Hauptfigur Seidler, dessen Name ›Seide‹ mit der Personenbezeichnung ›ler‹ womöglich auf China verweist (vgl. Li 2010 und 2012). Als die deutschen Soldaten das französische Dorf erobern, in dem Seidler Zuflucht suchte, tut er nichts: »Ich tat das Vernünftigste und das Einfältigste: Ich blieb sitzen« (Tr, 11). In dieser Haltung besinnt er sich: »Ich aber wurde plötzlich ganz ruhig. [...] Meine Angst war völlig verflogen, [...] ich sah die mächtigsten Heere der Welt hinter meinem Gartenzaun aufmarschieren und abziehen, ich sah die frechsten Reiche zerfallen und junge und kühne sich aufrichten, ich sah die Herren der Welt hochkommen und verwesen, nur ich hatte unermesslich viel Zeit zu leben« (Tr, 12). Ein Ziel der Seghers’schen Poetik ist die Unmittelbarkeit der Wirklichkeit. Literarästhetisch gelingt dies über die Figuren in Aktion, in denen diese sich unvermittelt präsentieren und den Leser mit der Wirklichkeit direkt konfrontieren. In der Erzählung Die verlorenen Söhne (1951) wirken neben den daoistischen Kernaussagen auch die vormals abgelehnten konfuzianischen Verhaltensregeln (vgl. Richter 1994, 173 f.; Li 2010, 37). Das Verhalten der Figuren führt die Reziprozität der konfuzianischen Beziehung vor und ist geprägt von ehrfurchtsvoller Liebe, Treue und Unterordnung: vom Vater gegenüber dem Staat, von den Söhnen gegenüber dem Vater und vom jüngeren zum älteren Bruder. Verantwortungsbewusstsein und Selbstbe herrschung als ›Tugenden‹ und Voraussetzung für gesellschaftliche Erneuerung sind zentrale Bestandteile
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der konfuzianischen Lehre und finden in dieser Form Eingang in die Seghers’sche Figurenkonzeption.
China – Vorbild für gesellschaftspolitische Gegenentwürfe Neben dem starken Eindruck des ›phantastischen‹ und ›alten‹ China steht gleichrangig der Eindruck des zeitgenössischen China. »Nicht mehr Kunst und Wissenschaft waren jetzt die ersten Mittler zu dem Land im Fernen Osten, sondern kommunistische Revolutionäre wie die Brüder Liau in den Gefährten« (Albrecht 1975, 237). Die gesellschaftspolitischen Umwälzungen in China können als Folge des Zusammenbruchs des chinesischen Kaiserreiches 1911/12, die viele Intellektuelle der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland und Europa beeindruckte, aufgefasst werden: »China war um diese Zeit zu einem der Brennpunkte des revolutionären Kampfes geworden. Die Klassenauseinandersetzungen traten hier mit einer Schärfe und Unverhülltheit zutage wie in keinem anderen Lande; die ersten Sowjetgebiete waren entstanden, die Rote Armee der Südprovinzen stand in erbitterten Kämpfen mit den Truppen Tschiang Kai-scheks. [...] Die gesellschaftlichen Gegensätze waren in China schärfer ausgeprägt als in den meisten europäischen Ländern, und die Fronten, an denen gekämpft wurde, klarer gezogen. Auf dem chinesischen Volk lastete der doppelte Druck mittelalterlich-feudaler Knechtschaft und der Ausbeutung durch die kapitalistischen Weltmächte, seine für europäische Begriffe unvorstellbare Armut gab der proletarischen Revolution eine besondere Sinnfälligkeit. Zugleich bot sein Aufbruch, der Aufbruch unübersehbarer Millionen, ein Beispiel für die geschichtsbildende Kraft der Unterdrückten, wie es seit der Oktoberrevolution nicht mehr sichtbar geworden war. Hier gerieten Massen in Bewegung, die seit Jahrhunderten in Dumpfheit und Unwissenheit gelebt hatten, und schickten sich an, ihre Menschenrechte zu erobern.« (Albrecht 1975, 237)
Mit dieser Verschiebung ihrer Wahrnehmung Chinas hin zu den sozialpolitischen Umbrüchen erscheint China und Chinesisches in der Oberflächenstruktur ihrer Prosa. So entstehen in dieser Zeit und vor diesem Hintergrund mehrere chinabezogene Werke. Es erscheinen 1932 die Erzählung Die Gefährten, die Reportage 1. Mai Yanshuhpou, der Dialog Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt, die Anekdote Der Führerschein
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und es entsteht die Rundfunkfassung der späteren Anekdote mit gleichem Titel Die Stoppuhr (erschienen zuerst 1933 in Charkov/Kiew, dann 1953 in der Erzählsammlung Der Bienenstock (I), versehen mit der Jahreszahl 1932). 1933 erscheint Der Last-Berg. Dem Chinesischen der Shui Kiang nacherzählt. Albrecht verweist auf Anna Seghers’ Vorhaben, einen Roman über »Leben und Entwicklung der chinesischen Frau« zu schreiben als Bestätigung für den Stellenwert, den die revolutionären Vorgänge in China für Seghers’ Schaffen einnehmen (Albrecht 1975, 236). Zweifellos wird China für Seghers zum Schauplatz für Gegenentwürfe und Umkehrungen bestehender Ordnungen und Machtverhältnisse. In Die Stoppuhr setzen sich chinesische Soldaten gegen die Arroganz und Überheblichkeit der chinesischen Guomindang-Generale, die ein Bündnis mit dem preußischen Militär eingegangen sind, überraschend zur Wehr und drehen die Machtund Kraftverhältnisse um. In Der Führerschein ist es die Entscheidung eines einzelnen, der die Wende bringt, und den Unterdrückern ihre Macht nimmt. Beiden Anekdoten liegt ein von Anna Seghers Chinesinnen und Chinesen zugeschriebener Charakter der Kampfbereitschaft, Härte, Disziplin und Opferbereitschaft bis hin zur Selbstaufgabe zugrunde: »Wenn wir von dem Langen Marsch hörten und lasen, dann sahen wir im Geist unsere jungen Freunde durch Gebirge und Wüsten ziehen, unterrichtend und singend und kämpfend. Wir sahen sie im Krieg gegen Japan, als Partisanen im feindlichen Hinterland; als wir selbst nach Deutschland zurückgekehrt waren und Japan in Ostasien geschlagen war, da sahen wir sie im Kampf gegen Tschiang Kai-schek in der Volksbefreiungsarmee. [...] Wenn sich die Legenden und Sagen aus China einmal durch ihr Zeugnis verwirklicht hatten, so geschah jetzt das Umgekehrte: Die Menschen, die wir in Wirklichkeit kannten, wurden zu sagenhaften Gestalten.« (KuW2, 107)
In der mehrfach umgeschriebenen Anekdote Der LastBerg – aufgenommen auch in die Erzählsammlung Der erste Schritt als Erzählung des oder der Lan-si aus SheLu (Li vermutet hinter dem Figurennamen Seghers’ chinesische Freundin Hu Lanqi) – dient der vermeintliche China-Bezug der Realitätserkenntnis. Vermeintlich, da sich ein chinesischer Originaltext der Geschichte nicht nachweisen lässt und lediglich der Titel bzw. Untertitel den Leser nach China versetzt (vgl. Li 2010, 108). Die Verweise sind allerdings in der bearbeiteten Form in Der erste Schritt deutlicher: Neben dem Na-
men des Ich-Erzählers Lan-si aus She-Lu gibt die erzählte Rahmung mit »Meine Mutter hatte noch eingebundene Füße« (WA II/4, 221) deutliche Hinweise auf den historischen Kontext: Die feudalen Strukturen des ›alten‹ China dienen als Kulisse für die unsoziale, ausbeuterische und menschenverachtende Situation der Arbeiter, die bis zur physischen Auslöschung führt. Ein überladener Träger stolpert über einen fliehenden Hund, bricht zusammen und begräbt sich und den Hund unter den Möbeln des neu in die Stadt ziehenden Herrn Yueh. Der Vorfall provoziert verständnislose Kommentare der umstehenden Schaulustigen; Erkenntnis und Verstehen der hinter dem Vorfall liegenden sozialen Missstände machen jedoch erst eine nichtgestellte Frage deutlich: »Niemand fragte: ›Warum hat er so schwer tragen müssen?‹« (WA II/4, 222), die Anna Seghers nachträglich dem Ich-Erzähler in den Mund legt. Dieser hört dann nicht mehr auf zu fragen. Was sich hier ästhetisch umsetzt, sind ihr Anspruch und »ihre Bemühungen um epische Durchdringung der Welt« (Albrecht 1975, 240), so dass die Textwirklichkeit die reale Wirklichkeit freilegt. »Wenn man schreibt, muß man so schreiben, daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausweg spürt« (KuW2, 11). In »Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt« führt sie dieses Verfahren in einem Gespräch zwischen ihr und einer chinesischen ›Genossin‹ vor. Diskutiert wird die wirksame Darstellung der Feierlichkeiten zum 1. Mai in Shanghai. Die gewählte Form des direkten Dialogs mag den erkenntnisstiftenden Modus der konfuzianischen Meister-Schüler-Gespräche andeuten, zumal die Autorin als ›Meisterin‹ darin ihre poetologischen Erkenntnisverfahren herausarbeitet und explizit formuliert: »Wir dürfen ja nicht in der Beschreibung steckenbleiben. Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern« (KuW2, 15). In der Zeit des mexikanischen Exils (1933–1947) verfolgt Anna Seghers die Ereignisse in China intensiv, veröffentlicht jedoch lediglich eine überarbeitete Fassung der Last-Berg-Anekdote mit dem Titel »LanChi: Der Last(t)raeger. Übertragen von Anna Seghers« (Freies Deutschland, Mexiko 1, 1942/43) und »Chinas Schlachtgesang. Betrachtungen zum Buch von Agnes Smedley« (Freies Deutschland 3, 1944), eine Rezension über Agnes Smedleys Battle Hymn of China (New York 1943), die jedoch vor allem dazu dient, Seghers’ eigene poetologische Auffassungen zu unterstreichen: »[E]s gibt in dem Buch kein Kapitel, keinen Satz, der nicht beherrscht ist von geistiger Un-
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eigennützigkeit, der nicht dem unsichtbaren, weder durch Gewinn noch durch Ruhm belohnbaren, gesellschaftlichen Auftrag dient, das Gesehene uneingeschränkt wiederzugeben, in Kälte und Einfachheit nicht einmal durch eleganten Stil, Gewandtheit, künstlerische Floskeln verkleidet« (Seghers 2012a, 234). In Smedleys Darstellung findet Seghers ihre Perspektive auf die Widerstandskraft der chinesischen Soldaten und die ungebrochene Leidensfähigkeit der chinesischen Bevölkerung gegenüber den japanischen Invasoren wieder. In der Beschreibung des heroischen Verhaltens des Einzelnen und der ›Masse‹, später ›Volk‹, in der Beziehung zueinander, erkennt Seghers eigene ästhetische Grundannahmen: »Das Verhältnis Masse-Individuum wird klar bei der Darstellung solcher Männer wie Chu Teh, das ist der ›Vater‹ der Roten Armee, die er auf ihrem ›Langen Marsch‹ begleitete« (ebd., 237). Zhu De/Chu Teh geht ein in die Figur des Vaters Teh Cheng-li in Die verlorenen Söhne (1953), der aus revolutionärem Pflichtgefühl bereit ist, die Verantwortung für die eigene Familie – nach dem Tod der Mutter sind das die beiden Söhne – aufzugeben und für den ›Klassenkampf‹ zu opfern.
China – Abgrenzung zum kulturpolitischen Kontext der DDR Als dritte Phase der Auseinandersetzung mit China sei hier der Zeitraum nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil 1947 angesetzt. Als erzählerische Erstveröffentlichungen erscheinen Das Argonautenschiff. Sagen von Jason (1949), Die Toten bleiben jung (1949), Die Überbringung des neuen Programms an das Südkomitee (1950) und Die verlorenen Söhne (1951). Gleichzeitig erscheinen diverse Berichte und Reflexionen über den Zusammenhang von Literatur und Politik, dem die Vorgänge in China Nachdrücklichkeit und Deutlichkeit verleihen bzw. die einzige Option sind, unter den kulturpolitischen Bedingungen der DDR non-konforme Auffassungen zu formulieren (einen Überblick über die Erstveröffentlichungen liefert Li 2010, 224 f.). In diese Aufsätze, Vorträge und Kommentare fließt im Unterschied zu den ästhetischen Entwicklungsphasen zuvor die tatsächliche Anschauung des Landes ein. Vom 26. September bis zum 6. November 1951 besucht Anna Seghers Beijing, Shanghai, Hangzhou, Nanjing und Tianjin. Auf ihrer Reise mit einer deutschen Delegation hat sie neben Besichtigungen historischer Stätten und Theater- wie Opernbesuchen Gelegenheit, mit chinesischen Intellektuellen
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und Arbeitnehmern in Industrie und Landwirtschaft zu sprechen. »Denn bei dieser Reise, auf der wir das Land zum erstenmal mit unseren eigenen Augen sahen, war alles zusammengekommen, was wir als Kinder und als Erwachsene liebten« (KuW2, 108). Stellvertretend für diese dritte Phase des China-Themas bei Anna Seghers, die sich im kulturpolitischen Kontext der DDR und im Anschluss an den China-Aufenthalt entfaltete, stehen die »Zwei Briefe über China« (erschienen 1952 in der politisch-kulturellen Zeitschrift Aufbau). Im »Ersten Brief (über Literatur-Fragen)« nimmt Seghers die moderne chinesische Literatur mit ihrem Hauptvertreter Lu Xun (1881–1936) zum Ausgangspunkt und Nachweis ihrer These, dass Literatur in einer sich verändernden Wirklichkeit neue Ausdrucksformen suchen muss. Lu Xun habe dies z. B. mit der neu entworfenen Form des kurzen politischen Essays geleistet (vgl. Seghers 2012b, 240). Es gelingt ihm damit, einer breiten Öffentlichkeit Zugang zu politischen Ereignissen zu verschaffen. »Seit der Bewegung des 4. Mai 1919 versuchten die besten Schriftsteller Chinas, sich in der Sprache der Massen auszudrücken« (ebd., 239). Die Entwicklung einer modernen Literatur hängt vom verantwortungsvollen Umgang mit der Wirksamkeit von Literatur ab, den der Schriftsteller einüben und dessen er sich bewusst sein muss. Im ersten Brief geht Seghers neben Lu Xun auf die Rede von Mao Zedong, gehalten in Yenan im Jahr 1942, ein und zitiert dabei ihre chinesischen Gesprächspartner, die, wie sie berichtet, immer wieder bei der Beantwortung von Fragen, die Künstler an das eigene Schaffen stellen, aus dieser Rede Maos zitieren (vgl. ebd., 240). Seghers’ Rezeption von Maos Reden bringt den Anspruch an sie als Schriftstellerin zum Ausdruck, sich immer wieder selbstkritisch zu reflektieren und zu verändern. »Für wen schreibst du? Und: Wer bist du selbst?« (ebd., 241), fragt sie vor dem Hintergrund der Verantwortung, die Kunstschaffende auf sich nehmen. »Denn jeder künstlerisch ausgedrückte Gedanke wird hier sofort von Millionen ergriffen und bestimmt, bewußt oder unbewußt, ihr Denken und Handeln« (ebd., 240). Zur Veröffentlichung 1953 von Maos »Reden an die Schriftsteller und Künstler im neuen China auf der Beratung in Yenan« schreibt sie das Nachwort, das inhaltlich in weiten Teilen mit dem Ersten Brief übereinstimmt, das sie jedoch für eine kulturpolitische Kritik an der DDR, sowjetische Positionen ungeprüft zu übernehmen (vgl. Li 2010, 180), nutzt: »Wir dürfen nicht – wie man es bei uns noch zu häufig erlebt – die fremde Situation schematisch auf
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IV Poetologische Fragestellungen
unsere Verhältnisse übertragen. Wir müssen ihre Idee anwenden« (Seghers 1953, 82). Der »Zweite Brief (über Theater-Fragen)« reflektiert die chinesische Oper mit ihren farbigen Masken und Symbolen, die gerade durch ihre Gestik, die Kostüme, die Bewegungen und Positionen auf der Bühne die Realität des Lebens einfangen und nachvollziehbar machen. Für Seghers entscheidend ist dabei die Aussage eines chinesischen Freundes: »Alles Drama kommt letzten Endes vom Volk« (Seghers 2012b, 243), dem die dargestellten Szenen durch mündliche Erzählungen vertraut waren. Dass Seghers selbst diese ›narrative‹ Sozialisation nicht durchlebt hat, wird ihr aus den beobachteten Reaktionen auf die Aufführungen bewusst, die sich von ihrer eigenen Wahrnehmung deutlich unterscheiden. Der chinesische Freund erklärt weiter: »Von Ihrem Standpunkt aus dürfen Sie nicht versuchen, unser Theater zu erfassen. Es hat bei uns eine einzigartige Form. Sie beruht auf den Erfahrungen, auf den Träumen, auf dem Leben des Volkes« (ebd., 245). Durch diese Erfahrung der Standpunktverschiebung erhält China für Anna Seghers noch in einer weiteren Weise Relevanz. Der Vergleich mit chinesischen Vorstellungen über die Aufgaben des Schriftstellers und die besondere, je spezifische historische Konstellation ermöglicht ihr die Ausübung von Kritik, die sie indirekt, mit einem Umweg über China, formulieren kann. In die Diskussionen um Sinn und Formen des sozialistischen Realismus, in den ihr eigenes Schreiben nach 1949 eingebettet ist und dem es zu entsprechen gilt, kann sie durch Bezüge zur chinesischen Literatur und Kunst und dem chinesischen Literaturbetrieb unabhängigere, modernere und flexiblere Konzepte einspielen. »She preserved her public influence and was able to contribute to the balance between politics and aesthetics and to endorse a new generation of artists in their pursuit of ›subjective authenticity,‹ a modernist concept that was coined in the 1960s and is often associated with Christa Wolf« (Zhou 2008, 169). So hat ihr das reale China metaphorisch gesprochen einen Raum aufgespannt, in dessen Schutz sie phantastische Welten integrieren und real existierende gestalten kann. Im Vorwort zu Gustav Seitz’ Studienblätter aus China (1953) heißt es am Ende über das Potenzial künstlerischer Kreativität: »Jetzt hat er mit eigenen Augen das Volk gesehen, seine Menschen und ihre Landschaft, seine Erscheinungsformen, die ebenso jung wie alt sind, ebenso einfach wie erhaben, ebenso bescheiden wie stolz durch die kühn erlebte Geschichte. Aus seinen Erfahrungen wird jetzt ein neues Kunst-
werk entstehen, und wir sind dabei. Gelingt es, dann kann eine Kraft von dem Bildnis ausgehen, die auf den Betrachter überspringt, wie das Pferd aus dem Bild heraussprang in dem chinesischen Märchen, das uns als Kinder erstaunte« (KuW2, 109). Als sich Ende der 1950er Jahre die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China verschlechterten und es schließlich zum Zerwürfnis kam, blieb dies nicht ohne Einfluss auf die politische Situation in der DDR. So erklärt sich vielleicht auch, dass im Werk der Anna Seghers nach 1953 abgesehen von philosophischen Elementen wie weiter oben in Das Schilfrohr vermutet bzw. in Reflexionen wie in den »Erinnerungen an Philipp Schaeffer« keine offenkundige Thematisierung Chinas mehr zu finden ist. Erfahren hat sie womöglich von den Verfolgungen früherer chinesischer Freunde in Zusammenhang mit den Vorbereitungen auf die Kulturrevolution Anfang der 1960er Jahre. Obwohl sie der chinesische Germanist Feng Zhi, den sie während ihres China-Aufenthaltes mehrfach gesprochen hat, als »eine nicht nur tapfere kommunistische Kämpferin, sondern auch als eine gute Freundin des chinesischen Volkes« (Feng 1985, 249) würdigt, haftet ihrer china-bezogenen literarischen Produktion wie auch der anschließenden Rezeption in China ein Changieren zwischen selbstgewählter politischer Bindung und kulturpolitischer Vereinnahmung an. Literatur
Albrecht, Friedrich: Die Erzählerin Anna Seghers. 1926– 1933. Berlin 1975. Behn, Manfred: Zur ästhetischen Position von Anna Seghers. In: Anna Seghers: Woher sie kommen, wohin sie gehen. Essays aus vier Jahrzehnten. Hg. von Manfred Behn. Mit einem Vorwort von Frank Benseler. Darmstadt/ Neuwied 1980, 293–302. Buber, Martin: Chinesische Geister- und Liebesgeschichten (1948). Zürich 1986. Du, Wentang: Wer war Hu Lanqi? In: Argonautenschiff 5 (1996): 277–280. Feng, Zhi: Ausgewählte Werke von Feng Zhi, Bd. 2. Chengdu 1985. Li, Weijia: China und China-Erfahrung in Leben und Werk von Anna Seghers. Oxford 2010. Li, Weijia: Von unmittelbarer Aktualität zu sinnbildlicher Gestaltung – Über die Seghers’sche China-Rezeption. In: Argonautenschiff 21 (2012), 67–79. Mehnert, Elke: Schlüssel zur Tür, »hinter der der Weg sich zeigt« (Seghers) – Nationales und Internationales in den Traditionsbeziehungen von Anna Seghers. Potsdam: Pädagogische Hochschule Dissertation B, 1980. Richter, Albrecht: China und »Chinesisches« im Werk von Anna Seghers. Dissertation eingereicht an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz-Zwickau 1994. Roscher, Achim: Wirklichkeit und Phantasie. Fragen an
41 China und Chinaerfahrungen Anna Seghers. In: Ders.: Also fragen Sie mich! Gespräche. Halle/Leipzig 1983, 51–58. Seghers, Anna: Chinas Schlachtgesang. Betrachtungen zum Buch von Agnes Smedley. Teil 1 und 2. Erstveröffentlichung in: Freies Deutschland 3 (1944) 8, 15 ff.; abgedruckt und hier zit. nach: Argonautenschiff 12 (2012), 231–238 (= Seghers 2012a). Seghers, Anna: Zwei Briefe über China. Erstveröffentlichung in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift mit literarischen Beiträgen 8 (1952) 1, 8 ff.; abgedruckt und hier zit. nach: Argonautenschiff 12 (2012), 239–246 (= Seghers 2012b). Seghers, Anna: Nachwort zu Mao Tse-tung: Reden an die Schriftsteller und Künstler im neuen China auf der Beratung in Yenan. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste. Berlin 1953, 85–86.
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Barbara Dengel
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42 Schriftlichkeit und Visualität Der bildhafte Ausdruck, der sich durchgehend in Seghers’ Romanen und Erzählungen erkennen lässt, ist ein zentrales poetologisches Merkmal ihres Œuvres. Die Anregung für die Beschäftigung mit Bildern kam zunächst aus Seghers’ (Netty Reilings) Elternhaus. Die Mutter Hedwig Reiling, geb. Fuld, stammte aus einer wohlhabenden Frankfurter Familie von Antiquitätenhändlern und Juwelieren. Der Vater Isidor Reiling führte mit seinem Bruder Hermann eine angesehene Kunst- und Antiquitätenfirma in Mainz, zu deren breitem Kundenkreis auch Vertreter des hessischen, preußischen und russischen Hofes gehörten (vgl. Schütz 1993, 151–173). In diesem Familienmilieu entwickelte sich die Kreativität des Kindes: »Ich hatte schon als ganz junges Ding eine große Liebe zur Malerei und zur Baukunst. Das hing aber nicht mit Elternhaus und Erziehung zusammen, wie manche denken, sondern mit meiner regen Phantasie. Ich habe, wenn ich ein Bauwerk aus der Römerzeit sah, nicht nur an die Geschichte gedacht, sondern ich erdachte sofort auch Geschichten, ich erlebte diese Geschichten in meiner Phantasie« (Roscher 1984, 142). An der Universität Heidelberg studierte Seghers Philosophie, Soziologie und Geschichte, als einzige Erbin des Familiengeschäfts freilich auch Kunstgeschichte, und machte für zwei Semester ein Praktikum am Ostasiatischen Museum in Köln. 1924 reichte sie bei dem bekannten mittelalterlichen Kunst- und Rembrandt-Forscher Carl Neumann ihre Dissertation Jude und Judentum im Werke Rembrandts ein (s. Kap. 34). In diese Zeit fielen ihre Schreibanfänge: »Mein Studium interessierte mich so sehr, daß es mich ganz absorbierte. Aber meine Phantasie arbeitete und arbeitete, produzierte jedoch nichts. Als ich dann eines Tages zu schreiben anfing, brach’s wie ein Sturzbach aus mir heraus: ich schrieb, studierte, schrieb, studierte – wie ’ne Verrückte, das ging bis zur Erschöpfung. Da merkte ich, daß beides nicht lange durchzuhalten war; ich entschied mich fürs Schreiben« (Roscher 1984, 144). Zieht man den gewaltigen Umfang von Seghers’ literarischer Leistung innerhalb von sechs Jahrzehnten in Betracht – 11 Romane, ca. 60 Erzählungen und eine vergleichbare Zahl von Essays und publizistischen Arbeiten –, so mag die Metapher eines ›Sturzbachs‹ auch für ihr weiteres Schreiben gelten, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch formal in der Sequenzierung von rapide aufeinanderfolgenden Bildern. Scheinbar fehlte es der Phantasie dieser Autorin nie an Bildern, die in immer neuen Zusammenstellungen in
dem jeweiligen Werk und von einem Werk zum nächsten aus ihr ›hervorstürzten‹. In dieser Hinsicht – wenn auch nicht Form und Inhalt betreffend – ist die facettenreiche Potenz der Bildlichkeit in ihren Werken mit dem sich immer verwandelnden Strom von Bildern vergleichbar, der das Werk ihres auch bis ins hohe Alter künstlerisch tätigen Zeitgenossen Picasso kennzeichnet. Seghers überließ der Nachwelt keine poetologische Standortbestimmung. Wir wissen allerdings, dass ihr episches Werk, in dem nicht die psychologische Charakterbeschreibung und der Dialog, sondern das episch Erzählte im Vordergrund steht, von den alten Epen, Sagen und Legenden beeinflusst wurde. Was dem von ihr Erzählten das Gewicht von allumfassender bzw. übertragener Bedeutung verleiht, wird durch die oft mit allegorischen Mitteln angewandten Bilder vermittelt. Zu dieser Eigentümlichkeit ihrer Gestaltungsweise hat sich Seghers nie geäußert. Überhaupt hat sie nur selten zu ihren Werken Stellung genommen. Außerdem enthält ihr Nachlass nur wenige handschriftliche Entwürfe, die uns einen Einblick in die Etappen ihrer Schreibweise und die ursprüngliche Entwicklung der Bilder gewähren könnten. Bis auf die Zeit nach 1945 sind fast alle Manuskripte, die ihre Werke betreffen, entweder wegen polizeilicher Untersuchungen, die schon vor 1933 begannen, vernichtet worden oder während des Exils verlorengegangen. Allerdings ist im Anna-Seghers-Archiv der Akademie der Künste in Berlin ein undatiertes Typoskript ihres Frühwerks Aufstand der Fischer von St. Barbara erhalten. Ein Vergleich der Textgestalt des Typoskripts mit der Erstausgabe von 1928 suggeriert ein besonders rasches Schreibtempo. Das Typoskript enthält Unstimmigkeiten und Fehler in Orthographie, Interpunktion und Grammatik sowie die uneinheitliche Benennung von Schauplätzen und Figuren. Solche Einzelheiten waren beim Schreiben scheinbar von sekundärer Bedeutung. Dagegen legt die sicher gehandhabte Einteilung in Textabschnitte nahe, dass die Sequenzierung schnell aneinandergereihter Bilder bei der Niederschrift bestimmend war. An der Interpunktion fällt vor allem der häufige Gebrauch von Kommata auf, der den Schwung des Schreibtempos förderte. Diese wurden in der Erstausgabe vielfach durch Punkte ersetzt, womit die daraus resultierenden Sätze dem endgültigen Text retardierende Momente verliehen. Im Ganzen deutet die Textgestalt des Typoskripts auf ein Schreibverfahren hin, das sich Seghers früh angeeignet hat und vermutlich weiterhin praktizierte (vgl. Fehervary WA I/1.1, 110–114).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_42
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Das Visuelle in Seghers’ Werken stützt sich weitgehend auf die bildende Kunst, zuweilen auch auf den Film. Sie umfasst Genre-Bilder, Landschaftsdarstellung, architektonische und räumliche Schilderungen sowie physiognomische Charakterisierung. Es geht vor allem um den Einfluss der mittelalterlichen Skulptur und Architektur, der religiösen Gemälde der nördlichen Renaissance, der ostasiatischen Skulptur und Malerei, der mexikanischen Fresken, der holländischen Landschaftsmalerei sowie der Zeichnungen und Stiche von Rembrandt und seinem Zeitgenossen Hercules Seghers, dem Anna Seghers ihr Pseudonym verdankte. Anhand vieler dieser Einflüsse lassen sich die Stellen in Seghers’ Werken erklären, die Szenen und Figuren aus der Hebräischen Bibel und vor allem dem Neuen Testament andeuten. Offenbar war sie weder an den reichhaltigen Kunstrichtungen der italienischen Renaissance und des Barock noch am Klassizismus des bürgerlichen Zeitalters interessiert. Ihre Vorliebe galt eindeutig dem formal Einfachen oder gar ›Primitiven‹. Diesbezüglich bemerkte Walter Benjamin 1938 in seiner Rezension von Die Rettung, dass der Chronik, als die er Seghers’ Roman bezeichnete, »die zeitliche Perspektive fehlt. Ihre Schilderungen rücken in nächste Nähe derjenigen Formen, die vor der Entdeckung der Perspektive liegen. Wenn die Gestalten der Miniaturen oder der frühen Tafelbilder dem Betrachter auf Goldgrund entgegentreten, so [...] grenzen [sie] an einen verklärten Raum, ohne an Genauigkeit einzubüßen« (Benjamin 1972, 534). Benjamins Einsicht in Seghers’ Gestaltungsweise in diesem Roman könnte man auch auf andere ihrer Werke beziehen. Doch ihre Beschäftigung mit der bildenden Kunst beschränkte sich nicht auf ihr Erzählwerk. Es ist auffallend, wie oft sie in der Öffentlichkeit für die Literatur gültige Beispiele aus der Kunstgeschichte heranzog, etwa in ihrem Briefwechsel mit Georg Lukács 1938/39 und in ihren Reden vor dem Schriftstellerverband der DDR als dessen Präsidentin.
Genre-Bilder und Landschaften Für die Anwendung von Genre-Bildern ist die frühe Erzählung Grubetsch exemplarisch. Geschrieben zwei Jahre nach Vollendung der Dissertation über Rembrandt, enthält die Erzählung eine Folge von Bildern, die Rembrandts Bibelzeichnungen hervorrufen. Auch bei Seghers geht es um die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und biblischer Welt, welche die Dissertantin anhand der von Rembrandt abgebildeten Legenden
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um den Priester Heli und die Heimkehr des verlorenen Sohnes seiner »einwillig gestaltete[n] Überwirklichkeit« zuschrieb: »Hier wird kein Mittel angewandt, den biblischen Vorgang von dem realen zu sondern, die biblische Welt deckt sich mit der realen« (Reiling 1981, 38 f.). Es ›deckt sich‹ auch vieles in Seghers’ Erzählung. Bemerkenswert ist der Besuch der Titelfigur Grubetsch in der Wohnung des Ehepaars Martin und Marie. Die sich wandelnde Gruppierung der Figuren beim Abendessen sowie das Arrangement von Tisch, Stühlen und Hintergrund lassen an Rembrandts Darstellungen – darunter eine Zeichnung, zwei Stiche, vier Gemälde – des Abendmahls in Emmaus erinnern. Überhaupt scheint das heruntergekommene Arbeitermilieu in Grubetsch Rembrandts Bibelzeichnungen einzelner Menschengruppen – die meisten davon nicht altertümlich, sondern zeitgenössisch gekleidet – nachgebildet: Der zwölfjährige Jesus im Tempel, Die Synagoge, Die Predigt Christi (La Petite Tombe). Diese und deren Variationen sind u. a. in Seghers’ Dissertation als Tafeln enthalten. Auch das letzte Bild von Grubetsch, das ihn kurz vor seinem Tod von Hofbewohnern umgeben am Schenktisch zeigt, mutet an, als sei es eine abgeleitete Form von Rembrandts Feder- und Bistre-Studie zum Letzten Abendmahl Christi (nach Leonardo), in welcher die dichte Gruppierung und der bewegte Körperausdruck der Figuren kurz vor dem Verrat von Judas zugleich beängstigend und bedrohlich wirken. Ähnliche Genre-Bilder – Begegnungen auf der Straße, Zusammenkünfte in Kneipen, Gespräche in Arbeiter- bzw. Bauernwohnung und Küche – werden vielfach in anderen Werken variiert, besonders ausführlich in den Romanen Die Gefährten, Der Kopflohn, Die Rettung, Die Toten bleiben jung, Die Entscheidung und Das Vertrauen. Seghers’ Vorliebe für Landschaften und breite Himmels- und Meeresszenen ist in fast all ihren Werken spürbar. In Aufstand der Fischer von St. Barbara, der die Szenerie an die nordatlantische Küste verlegt, überwiegen Naturbilder, die gleichzeitig als Handlungsführung, naturalistische Wiedergabe und Seelenmalerei zu verstehen sind. Der Verlauf des Aufstands, ob zögernd oder sicher, wird weniger unmittelbar als übertragen dargestellt durch die jeweilige Wetterlage, den steten Wechsel von Licht und Dunkel sowie die Land- und Seefahrten der Fischer. Oft äußert sich die kollektive Erfahrung oder die Seelenlage des Einzelnen als Navigationsweise oder Schifffahrt. Besonders eklatant wirkt eingangs das Bild von Johann Hulls Fahrt nach St. Barbara auf einem rostigen Küstendampfer, von dem aus er die
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›weiße Narbe‹ im Wasser verfolgt, die seine prekäre Flucht vor der Polizei und damit auch den später gescheiterten Aufstand sowie Hulls endgültige Verhaftung versinnbildlicht. Ein ähnliches Prinzip bestimmt das Schlussbild, hier mit starker Verschiebung der Perspektive: Die Ausfahrt des Dampfers ›Marie Farère‹ wird von den Frauen auf der Mole bis zu dem Strich Horizont, »der die Nähe von der Ferne abschneidet«, verfolgt; dabei merken sie, dass sie »durchnäßt« sind (AdF, 93). Die Anschaulichkeit der Bilder lässt sich auf Seghers’ Vertrautheit mit der holländischen Landschaftsmalerei zurückführen. In Bildern, in denen Strähnen von Regen in der Luft stehen, spürt man den Einfluss von Rembrandts Stich Die drei Bäume sowie den Stichen, die verwitterte Dachstrohhäuser an der Amstel abbilden. Kleine Szenen mit Wasser und Boot erinnern an den Stil Jan van der Heydens bzw. Meindert Hobbemas. Die breiten Meeres- und Wolkenszenen deuten auf Jan van Goyens Gemälde, die Dünenlandschaften auf jene von Jacob van Ruisdael. Die Schilderung des Alltagslebens der Fischer lässt an die holländische Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem des Naturalisten Jozef Israëls denken. Aspekte der Bilder Betzy Akersloot-Bergs hallen in den Frauengruppen und ihren Hauben und schweren Röcken nach. Wosstanie rybakow, Erwin Piscators Verfilmung von Aufstand der Fischer, die Anfang der 1930er Jahre in Odessa und Murmansk gedreht wurde, behält einzelne Figuren und Teile der Handlung bei, erweitert aber das Ganze durch dynamisch-expressive Bilder und einen bewaffneten Kampf, der mit dem Sieg des Aufstands endet. Dagegen bleibt Thomas Langhoffs Fernsehfilm aus dem Jahre 1988 dem leise anhaltenden Rhythmus und der niederländischen Bildlichkeit des Originals treu. Anna Seghers selber hat sich zeitlebens für das Medium Film interessiert. Als junge Autorin war sie mit dem expressionistischen Stummfilm und den Neuerungen der sowjetischen Filme von Wsewolod Pudowkin und Sergej Eisenstein vertraut (s. Kap. 55). In ihrem Frühwerk – vor allem Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen, Jans muß sterben, Grubetsch, Aufstand der Fischer von St. Barbara, Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und Die Gefährten – ist der Einfluss der Filmtechnik besonders ausgeprägt: schnell aufeinanderfolgende Bilder und Sequenzen; verteilte Perspektiven; der mehrfache Blickwechsel; die Sicht des Voyeurs; das technische Verfahren des Jump Cut; der Wechsel von Totalsicht zur Naheinstellung und Detailaufnahme; die Vergegenwärtigung von
Bewusstseinsvorgängen durch bewegte Bilder (vgl. Beicken 2008; Beicken 2009). Seghers, die schon früh mit Filmtheoretikern und Filmemachern, u. a. Béla Balázs, Hans Richter, Berthold Viertel und Friedrich Kohner, bekannt war, entwickelte im Exil selbst Filmprojekte, darunter Entwürfe zu einem Filmexposé des ›Vertrauensposten‹/›Rendel‹-Komplexes. Auch nach 1945 plante sie Filmszenarien und kümmerte sich um die Drehbücher zu ihren eigenen Werken. Am günstigsten erschienen ihr die Pläne des französischen Regisseurs René Allio für die Verfilmung ihres Romans Transit, die allerdings erst acht Jahre nach ihrem Tod fertiggestellt wurde. Seghers’ höchst außergewöhnliches Engagement gegenüber dem Film betrifft ihr Mitte der 1930er Jahre geschriebenes Hörspiel Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 (s. Kap. 56). Sie hatte ein paar Jahre früher Carl Dreyers Stummfilm La Passion de Jeanne d’Arc (1927) gesehen, der den gleichen Prozess von 1431 thematisiert und auf sie starken Eindruck machte. Offenbar hatte sie beim Schreiben Dreyers Stummfilm im Kopf und wollte dem Vorbild entsprechende Worte verleihen. Tatsächlich gleicht der Verlauf der Handlung im Hörspiel Schritt für Schritt der Sequenzierung von Bildern in Dreyers Film, ein Versuch, mit Worten zu verwirklichen, was im Stummfilm durch Gesichter und Körper vermittelt wird (vgl. Fehervary 1996).
Christliche Symbolik In den Topographien der Epikerin Anna Seghers geistert jene »urbildliche Landkarte«, die der junge Georg Lukács, dessen ästhetischen Theorien ihre Werke in vielem verpflichtet sind, in Die Theorie des Romans dem »Weltzeitalter des Epos« zuschrieb: der Lebensweg des Menschen als ein Wesenhaft-Werden, als Weg der Seele (Lukács 1994, 21 f.). Dieses in Seghers’ Werken immer wiederkehrende Thema ist in der Kunst der holländischen Meister vorgebildet, vor allem in den vom Pantheismus durchzogenen Gemälden Ruisdaels sowie den Radierungen von Hercules Seghers, in denen eine winzige Figur in der Ferne zu erblicken ist, die auf einem langen, sich windenden Pfad einsam die Landschaft durchschreitet – am deutlichsten nachgebildet in Seghers’ frühen Erzählung Die Wellblechhütte. Mit diesem Thema eng verbunden ist das häufige Motiv des Märtyrertums. Besonders bemerkenswert ist in diesen Fällen die Anwendung der Ikonographien der Via Dolorosa und der Kreuzigung Christi, die auf Seghers’ Vorliebe für die nördliche Renaissance zu-
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rückführt. Sowohl Aufstand der Fischer von St. Barbara als auch der Roman Der Kopflohn enthalten gegen Ende des Erzählten Bilder, die den letzten Weg von Jesus, die Via Dolorosa, hervorrufen. In Aufstand der Fischer ist es der letzte Gang des gefangenen, von Soldaten durch die Dünen abgeführten Johann Hull, dessen einziger Wunsch – »noch einmal einen schmalen Streifen Meer [zu] sehen« (AdF, 92) – nicht mehr erfüllt wird. Entsprechend düster wirkt das letzte Bild in Der Kopflohn, in dem Gendarmen den von jungen Nazis verprügelten Protagonisten Johann in die Stadt abführen (vgl. Kl, 181 f.). Noch am Ausgang des Dorfes verhöhnen die Dorfbewohner den schwer Verletzten: ein Echo des Soldatenspottes nach Jesus’ Verhör. Als aber der Weg an den äußersten Feldern entlang geht, erkennt erschrocken der Bauer Algeier von seinem Rübenacker aus den Gefangenen und zieht ehrfürchtig den Hut ab: ein Echo der Frauen von Jerusalem, die Jesus auf seinem Weg nach Golgatha beweinten. In Das siebte Kreuz, das auf mehrere Szenen aus der Bibel anspielt, bleibt das siebte der im Konzentrationslager aufgestellten Baumkreuze leer. Das Arrangement der an diesen Kreuzen gebundenen Wiedergefangenen – ihr Anführer Ernst Wallau von seinen Mitleidenden flankiert – gedenkt der Schädelstätte Golgatha, auf der Jesus zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt wurde. Wie die Trauernden auf Golgatha verlieren die Lagerinsassen, die die Tortur ihrer Genossen beschauen müssen, jede Hoffnung. Die Physiognomie Wallaus kurz vor seiner Ermordung, ›blutüberströmt‹ sein Schicksal erwartend, zitiert die mittelalterliche Ikonographie des leidenden Christus. In dem Nachkriegsroman Die Toten bleiben jung erlebt der Arbeiter Hans, der als Soldat der deutschen Armee in der Sowjetunion kämpft, die Hinrichtung eines »widerspenstigen Weibes« (Tbj, 574), das noch bei ihren letzten Schritten die Augen auf den Himmel heftete, nicht als Hoffnung auf das Jenseits sondern als Vorahnung der grauen Dämmerung, die den Schnee des russischen Winters und damit den endgültigen Sieg über die deutschen Angreifer herbeiführen wird. Eines der großartigen Panoramabilder in Seghers’ Œuvre ist die Rheingegend um Mainz am Anfang des Romans Das siebte Kreuz, die sich hinter dem Rücken des Schäfers Ernst, der am Taunushang seine Herde beobachtet, erstreckt – ein geschichtlicher Überblick, der bis in die uralten Zeiten der Kelten und Römer zurückreicht. Desgleichen evoziert im Roman Transit der Blick des Erzählers, der in einem Café sitzend den Alten Hafen von Marseille betrachtet, ein Erinnerungsbild von Völkerflucht und -migration seit den al-
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ten Griechen, Phöniziern und Römern. Die drei karibischen Novellen – Die Hochzeit von Haiti, Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe, Das Licht auf dem Galgen – weisen zahlreiche Panoramen von tropischen Wäldern und dem karibischen Himmel und Meer auf. Zu der Hinrichtung in Das Licht auf dem Galgen des spanisch-jüdischen Jakobiners Sasportas auf dem Galgenberg zu Port Royal in Jamaika kommen – wie zu der Kreuzigung Jesu in den Gemälden der alten Meister – »vornehme Leute« zu Pferd und in Kutschen sowie auch einfache Menschen, in diesem Fall »einige hundert Neger« (LG, 157 f.). Zu diesen sagt Sasportas, als man ihm die Schlinge um den Hals legt, sie sollten es so machen wie die schwarzen Jakobiner in Haiti; hierbei handelt es sich um eine Variation der Worte Jesu auf seinem letzten Gang an die Frauen von Jerusalem, sie sollten nicht über ihn, sondern über sich selbst und ihre Kinder klagen. Auf diese ins Bild gesetzte Nahaufnahme folgt – ähnlich dem Jump-Cut der Filmtechnik – die Großaufnahme des Meerwassers, auf dem der geflüchtete Jakobiner Galloudec in einem kleinen Boot erscheint, von dem aus es ihm zumute ist, als leuchte ein Licht von dem Galgen, an dem Sasportas gehenkt wird. Kennzeichnend für Seghers’ poetologisches Verfahren in den karibischen Novellen ist die Perspektive von unten, das Allegorisieren des Aufstands, das zyklische Prinzip der Serialität und das Entwerfen, Begründen und Tradieren von Zeichen, darunter das Zeichen des Messias, beispielsweise die Hochzeit des Juden Michael Nathan mit dem schwarzen Messias Toussaint Louverture in Die Hochzeit von Haiti (Greiner 1994). Dieses poetologische Verfahren ist zum Teil auch in anderen Werken der Seghers evident, allerdings kommen die Zeichen und Bilder ihrer Erzählungen über den Kolonialismus primär aus den Erfahrungen der Einheimischen. Somit hat das Märtyrerbild des schwarzen Schmiedes Jean Rohan in Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe nichts mit der christlichen Ikonographie der Kreuzigung gemeinsam, er stirbt vielmehr umgeben von den Pflanzen und Tieren des Dschungels, eingebettet in und eins mit der Natur. Das wichtigste Bild eines Bauwerks in Seghers’ Werk ist der romanische Dom in Mainz, den sie in ihrem Roman Das siebte Kreuz während ihres Pariser Exils aus dem Gedächtnis beschrieb. In diesem Bau findet der aus einem KZ geflüchtete Georg Heisler Herberge für eine Nacht. Die Fassade des Doms, seine hohen Türme, die Innenräume Hauptschiff und Nebenschiff, Pfeiler und Gewölbe, Statuen ehemaliger
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Erzbischöfe, Taufstein und Grabplatten sowie das Licht, das zuweilen die bunten Glasfenster erhellt, werden bis ins Detail veranschaulicht. Die Skizze »Zwei Denkmäler«, ihre erste Version 1945 veröffentlicht, die zweite 1965, stellt zwei Kunstgebilde nebeneinander: den Mainzer Dom, dessen standfeste Pfeiler und Türme die Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg überstand, und einen kleinen Gedenkstein im Straßenpflaster für die Frau eines jüdischen Weinhändlers, die am Ende des Ersten Weltkrieges von einer Bombe getötet wurde, als sie ihren Kindern Milch holen wollte. Damit schafft Seghers ein schlagendes Bild von dem Missverhältnis des europäischen Christentums und der Geschichte der europäischen Juden. Ebenso wie die Beschreibung des Mainzer Doms in Das siebte Kreuz erstreckt sich das Bild im ersten Teil des Romans Die Rettung über mehrere Seiten. Hier geht es um einen unterirdischen Raum siebenhundert Meter unter der Erde, in dem infolge eines Steinrutsches sieben Bergwerkarbeiter sieben Tage lang neben den »Toten in ihren Gesteinsmassen« (R, 9) liegen. Die klugen, ermutigenden Worte der Hauptfigur Bentsch an seine Kameraden, die sich dicht an ihn rücken, sein Kummer um den jüngsten Andreas, dessen Kopf mal auf Bentschs Schulter, mal auf seinen Gelenken ruht, und die rituelle Verteilung der letzten Reste von Wasser und Brot – all dies deutet auf die Ikonographien des letzten Abendmahls von Jesus und seinen Jüngern, deren jüngster Johannes dicht an Jesus’ Schulter lehnt. Die Schilderung des gefährdeten, von labilen Steinmassen umgebenen unterirdischen Raums sowie das solidarische Verhalten der Überlebenden lassen zugleich an die Katakomben der frühen Christen denken, in denen sie Zuflucht fanden und ihre Toten begruben. Aus dem frühen Christentum stammen vermutlich auch die in den Stein gehauenen zwölf Apostelfiguren in der Erzählung Der Führer (vgl. WA II/5, 200 f.). Einer nach dem anderen ›treten‹ die Apostel ›aus der Bergwand‹, zwei von ihnen sofort als Petrus und Paulus erkenntlich. Die Steingruppe bildet einen Wallfahrtsort in der Wildnis Äthiopiens während der italienischen Okkupation des Landes in den 1930er Jahren. Drei italienische Geologen müssen ihn umgehen auf dem Weg ins Landinnere, wo sie für ihren privaten Gewinn noch unentdeckte Goldadern zu finden hoffen. Der schöne äthiopische Junge Ato, ihr Führer, den sie mit den Engeln in den Gemälden der alten Meister vergleichen, verleitet sie dazu, tief in die Wildnis zu gehen, wo sie auf einem ›heillos zerklüfteten‹ Bergabhang an Hunger und Erschöpfung verkom-
men. Das apokalyptische Bild, womit die Erzählung schließt, lässt den jungen Ato, jetzt wahrlich einem Engel gleich, gelassen den Übergang von Nacht zu Tag an dem ›unermesslichen‹, von zahlreichen Farben durchzogenen Himmel betrachten.
Figurendarstellung Kennzeichnend für Seghers’ Werk ist nicht die Übersteigerung, sondern die Andeutung. In dieser Hinsicht weicht sie von Lessings Diktum in seinem LaokoonEssay ab, demnach die zeitlich bedingte Dichtung Handlungen bis ins Extreme ausführen könne, während die bildende Kunst statisch sei und Handlungen nur andeutungsweise durch Körper nachahme. Seghers entschied sich offenbar ganz früh für die Gestaltungsweise der bildenden Kunst in der Nachfolge des Horaz und seiner Leitlinie ›ut pictura poesis‹. Ihr Schreiben akzentuiert weder Dialogführung noch psychologische Charakterisierung, sondern den Körperausdruck. Besonders auffallend ist die serielle Konfiguration der Physiognomien. So wie Seghers ihren Figuren immer wieder die gleichen jüdisch-christlichen bzw. christlichen Namen verleiht (u. a. Marie, Anna, Katharina, Johann, Andreas, Thomas, Franz und Martin), so wird die jeweilige Seelenlage der Figuren durch gleichartig wiederkehrende Zeichen – durch Augensprache, Mienen, Körperhaltung und Gesten – dargestellt. Diese tradierten Figuren stammen aus den alten Mythen und Heiligenlegenden und aus den Gemälden und Kirchenportalen, auf denen sie abgebildet sind. Viele von ihnen gehen auf jene steinernen Domfiguren zurück, deren Physiognomien Richard Hamann 1922 in seinem Buch Deutsche Köpfe des Mittelalters, welches die junge Seghers besaß, als zugleich urchristlich (Gesichter von Christus und den Heiligen) und irdisch (Gesichter von Handwerkern, Bauern und Holzknechten) charakterisierte (vgl. Hamann 1922, 2; Fehervary 2009, 92 f.). Die Gleichzeitigkeit des Mythischen und Realen, der Seghers’ Figurendarstellung entspricht, hat sie in Bezug auf Rembrandts späte Christusporträts treffend formuliert: »Die Christusstudie ist gleichzeitig die Studie eines jungen Juden« (Reiling 1981, 31). Für Seghers’ künstlerische Praxis mag gelten, was der junge Georg Lukács über den Gestaltungsprozess der christlichen Kunst schrieb: Für den alten Meister war die Madonna ein künstlerisches, kein begriffliches Problem, denn er bekam sie »fertig gedacht« (Lukács 1977, 112). Auch ist manch eine junge Frau in
42 Schriftlichkeit und Visualität
Seghers’ Werken ›fertig gedacht‹. Sie haben fast durchgehend einen schmächtigen Körper, eine weiche Miene, ein sanftes, gütiges Verhalten und einen leisen Tritt. Zuweilen geht von ihrem Haar eine Ausstrahlung aus, die den Heiligenschein der Madonna hervorruft. Die schon früh verwaiste Titelfigur der mexikanischen Erzählung Crisanta geht nach der Flucht ihres Freundes auf den Strich, bis sie ein Kind gebärt, von wem, weiß sie nicht, und es durch den Straßenverkauf von Obst und Kräutern ernährt. Als sie im letzten Bild der Erzählung ihren Kopf unter das Tuch zu dem Kind steckt, werden das »unvergleichliche, unbegreifliche tiefe und dunkle Blau« (Cr, 69) des Rebozos ihrer Kindheit und gleichzeitig das von den alten Meistern gemalte blaue Gewand der Madonna und die Mutter-Kind-Gebilde der mexikanischen Fresken heraufbeschworen. Auch die junge Kellnerin Marie, eine zentrale Figur des Romans Die Toten bleiben jung, ist »so leicht und dünn wie ein Blatt« (Tbj, 62). Auch sie erwartet ein Kind des von Freikorpsoffizieren ermordeten Spartakisten Erwin, auf dessen Rückkehr sie vergeblich wartet. Wie auch Crisanta, die sich von ihrer Tante Frau González beraten lässt, besucht Marie die Tante Emilie, um bei ihr Rat zu suchen wie einst ihre biblische Vorgängerin bei der älteren Kusine Elisabeth. Als diese Tante sie zu einer Abtreiberin schickt, entschließt sich Marie, gleich ihrer biblischen Vorgängerin, einen älteren Mann, hier den Arbeiter-Witwer Geschke, zu heiraten. Die lange, ergreifende Szene des Heiratsantrags, den nicht der Mann, sondern Marie stellt, ist mit einem Male redendes Bild und mise en scène. Ein besonderes Merkmal von Seghers’ Männergestaltung ist das Verhältnis von Mentor und Jünger oder Lehrer und Schüler. Zuweilen wirkt die Gebärdensprache homoerotisch, z. B. bei dem Außenseiter Grubetsch und den von ihm verführten Hofbewohnern in Grubetsch, in dem Verhältnis Hull/Andreas in Aufstand der Fischer und dem Verhältnis Bentsch/Andreas in Die Rettung – die zwei letzten Beispiele mit Anklang an die Beziehung von Jesus und dem geliebten Jünger Johannes. In späteren Werken ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis maßgebend: in der Erzählung Das Ende der Lehrer Degreif und der Sohn eines Naziverbrechers, für den der Lehrer nun selbst sorgen muss; in Die Toten bleiben jung Martin, der Freund des ermordeten Spartakisten Erwin, und Erwins Sohn Hans; in Die Entscheidung der Schulleiter Karl Waldstein, einst Lehrer der Hauptfiguren Robert Lohse und Richard Hagen, und sein Schüler Thomas Helger, der im nachfolgenden Roman Das Vertrauen zur
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Hauptgestalt wird. Die Tragweite des Tradierens und Weitergebens von Erfahrungen wird am Ende des Romans Die Gefährten anschaulich verbildlicht. In einer polnischen Gefängniszelle bewundert der junge Labiak die Kraft des älteren Janek, der schon einige Jahre im Gefängnis verbracht hat. Als Janek nichts anderes für den jungen Labiak tun kann, als was sein älterer Genosse Solonjenko einst für ihn tat, legt er seine Hand auf Labiaks Kopf, wobei dieser sofort ahnt, dass ›die gleiche Kraft schon in ihm selbst drin war‹. Es ist der Ritus des segnenden Händelegens, das in der jüdisch-christlichen Überlieferung auf die ersten Väter und Propheten der hebräischen Bibel zurückgeht, darunter das Motiv Isaak Jakob segnend, mit dem die junge Seghers durch ihre jüdische Erziehung bekannt war und dessen Federzeichnung von Rembrandt sie in ihre Dissertation aufnahm. Wie so viele Bilder in Anna Seghers’ Repertoire ist ihre Darstellung des segnenden Händelegens keine reine Erfindung. Sie entstand vielmehr aus dem unermesslichen Vorrat an tradierten Bildern, die in dem Bewusstsein und der Phantasie dieser außerordentlich wahrnehmungsstarken Künstlerin schwebten. Literatur
Beicken, Peter: »Erotische Phantasien« und »Bilder im Kopf«. Filmisches in Anna Seghers’ Erzählungen. Teil I: ›Der Bischof‹, ›Jans muß sterben‹ und ›Grubetsch‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 133–148. Beicken, Peter: Erotische Phantasien und Bilder im Kopf. Filmisches in Anna Seghers’ Erzählungen. Teil II: Erzählfilmisches in ›Jans muß sterben‹. In: Argonautenschiff 18 (2009), 103–113. Benjamin, Walter. Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers Roman ›Die Rettung‹ (1938). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. III. Hg. von Hella TiedemannBartels. Frankfurt a. M. 1972. Fehervary, Helen: Die Seelenlandschaft der Netty Reiling, die Stimmen der Jeanne d’Arc und der Chiliasmus des Kommunarden László Radványi. In: Argonautenschiff 5 (1996), 118–136. Fehervary, Helen: Köpfe des Mittelalters. In: Argonautenschiff 18 (2009), 91–95. Greiner, Bernhard: »Kolonien liebt, und tapfer Vergessen der Geist.« Anna Seghers’ zyklisches Erzählen. In: Argonautenschiff 3 (1994), 155–171. Hamann, Richard: Deutsche Köpfe des Mittelalters. Auswahl nach Aufnahmen des kunstgeschichtlichen Seminars mit einer Einleitung von Richard Hamann. Marburg an der Lahn 1922. Lukács, György: Gauguin (1907). In: Ders.: Ifjúkori müvek, 1902–1918. Hg. von Árpád Tímár. Budapest 1977, 111– 115. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 1994.
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IV Poetologische Fragestellungen
Reiling, Netty [Anna Seghers]: Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Leipzig 1981. Roscher, Achim: Im Gespräch mit Anna Seghers. In: Positionen I. Wortmeldungen zur DDR-Literatur. Hg. von Eberhard Günther. Halle/Leipzig 1984, 142–168. Seghers, Anna: Der Kopflohn (1933). Berlin 1995.
Seghers, Anna: Die Rettung (1937). Berlin 1995. Seghers, Anna: Die Toten bleiben jung (1949). Berlin 1991. Schütz, Friedrich: Die Familie Seghers-Reiling und das jüdische Mainz. In: Argonautenschiff 2 (1993), 151–173.
Helen Fehervary
V Themen und Kontexte
43 Heimat und Patriotismus Heimat – die vorpolitische Version der auf (inner- und zwischen-)staatlicher Anerkennung insistierenden Na tion – und Patriotismus bzw. Nationalismus stellen nicht den theoretischen Kernbestand der auf Klassenkampf orientierten politischen Linken dar. Auf einem Höhepunkt des europäischen Nationalismus, im Weltkriegsjahr 1915, formuliert Karl Liebknecht gegen den Gedanken nationaler Verbindlichkeit die griffige Formel: »Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land!« (Liebknecht 1966, 230). In der DDR, die sich nicht zuletzt auf Liebknechts politisches Erbe beruft, finden sich von Gründung an hingegen direkt entgegengesetzte emphatische Bekenntnisse zur (deutschen) Nation, wenn etwa der marxistische Ökonom Jürgen Kuczynski die Kritik an der kapitalistisch rekonstruierten BRD mit einer Forderung nach der nationalen Befreiung der »Kolonie Westdeutschland« (Kuczynski 1950) untermauert oder der spätere DDRAußenminister Otto Winzer die westdeutsche Politik, namentlich die des Bundeskanzlers Adenauer, als »Vaterlandsverrat« (Winzer 1952) tituliert. Der diskursive Rahmen zwischen offensiver theoretischer und praktischer Kritik an der Vorstellung nationaler Verbindlichkeit und deren affirmativer Inanspruchnahme ist mithin denkbar weit gespannt. Dies gilt auch für literarische Bezugnahmen auf Heimat, Nation, Patriotismus/Nationalismus bzw. deren jeweilige politische Funktionalisierungen. Anna Seghers nimmt zu diesen Fragen zeitlebens eine uneinheitliche Haltung ein, am bekanntesten – aber nicht zu generalisieren – sind ihre vielzitierten positiven Bezüge zur Heimat im Exil, sowohl in Reden als auch im literarischen Werk. Es finden sich dort und in ihren Briefen aber auch andere, zuweilen entgegengesetzte Äußerungen, die sich ebenso wie die affirmativen auf verschiedene politische und biographische Konstellationen beziehen lassen. Insgesamt können in Bezug auf das Konzept ›Heimat‹ vier Phasen in Seghers’ Denken und Schreiben unterschieden werden: vor 1933 distanziertes Desinteresse; im Exil ein emphatisches Bekenntnis zu dem weitverbreiteten ExilIdeologem des ›Anderen Deutschland‹ als einer Form des alternativen Patriotismus/Nationalismus; unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Exil eine radikale
praktische Enttäuschung über Deutschland und die Deutschen; schließlich in der DDR der Versuch einer positiven Selbstbeheimatung (vgl. zur Periodisierung Spies 2010).
Heimat und Nation in der marxistischen Tradition Der Gründungstext des modernen Kommunismus, das Manifest der Kommunistischen Partei (1848), endet mit dem vielzitierten Aufruf »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« (Marx/Engels 1972, 493; Herv. im Orig.). Die Aufforderung legitimiert sich durch die im Manifest formulierte Diagnose eines gemeinsamen Interesses aller Arbeitenden und der ausgemachten Notwendigkeit, diesem Interesse auf revolutionärem Wege Geltung zu verschaffen. Dass dies nur durch eine gegen alle bestehenden staatlichen Ordnungen gerichtete gewaltsame Aktion möglich ist, steht für Marx und Engels fest. Die bestehenden Nationalstaaten erscheinen unter dieser Perspektive als Herrschaftsinstrument, und zwar sowohl praktisch (der Staat als organisierte Gewalt der Klassengesellschaft) als auch ideologisch (Unterordnung aller sozialen Gegensätze unter die nationale Gemeinsamkeit). Diese auch sozialtheoretisch relevante Auffassung, die beschädigten materiellen Interessen des Proletariats dementierten jede nationale Verbundenheit mit dem Klassengegner, flankieren Marx und Engels mit ihrer Diagnose der historischen Bewegung des schon zu ihrer Zeit weltweit operierenden Kapitalismus, der selbst jede nationale Beschränktheit aufhebe (vgl. ebd., 466): Der Weltmarkt zerstöre auf produktive Weise die nationale Abgeschlossenheit und schaffe auf diese Weise einen praktischen Internationalismus (wenn etwa das Konzept der Weltliteratur an die Stelle der »vielen nationalen und lokalen Literatur« [ebd.] trete). Marx und Engels verstehen diese Entwicklung ausdrücklich als positive Leistung des Kapitalismus, hinter die die Arbeiterbewegung nicht zurückfallen dürfe (bzw. könne). Der Internationalismus des Manifests ist damit nicht nur theoretischer Natur, sondern zugleich praktische Anleitung. Entsprechend organisiert die Arbeiterbewegung neben den im Rahmen der bestehenden
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_43
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V Themen und Kontexte
Staatenwelt national beschränkten Arbeiterparteien – dies in Anwendung von Marx/Engels’ Feststellung, der Kampf des Proletariats sei zwar nicht dem Inhalt, aber »der Form nach« ein nationaler (ebd., 473) – auch internationale Zusammenschlüsse: die erste, wesentlich von Marx betriebene ›Internationale Arbeiterassoziation‹ (1864–1876), die ›Zweite Internationale‹ sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien in Europa (1889–1914) und die ›Dritte Internationale‹ (›Kommunistische Internationale‹/›Komintern‹) (1919–1943) – letztere ursprünglich als Weltpartei mit nationalen Sektionen organisiert. Den kulturellen Kontext zu dieser Ausrichtung stellt das Kampflied Die Internationale dar (Text: Eugène Pottier, 1871; Vertonung: Pierre Degeyter, 1888; zahlreiche, auch im Deutschen variierende Übersetzungen). Vaterland bzw. Nation erscheinen so als Gegenstand praktischer und theoretischer Kritik. Inwieweit damit auch die vorpolitische, geographisch unspezifische Form der Nation – die ›Heimat‹ – notwendig abzulehnen sei, ist innerhalb der Linken bis heute umstritten (vorsichtig positiv: Weber 2004; kritisch jüngst Ebermann 2019). Auch im akademischen Diskurs ist das Konzept der Nation – als einer erfundenen Entität – nachhaltig in Zweifel gezogen worden (Anderson 1988; Gellner 1995). Ein dezidierter Internationalismus findet sich bei den Gründern der KPD, neben Karl Liebknecht also bei Rosa Luxemburg, vor allem in ihren ›polnischen Schriften‹ (darunter Nationalitätenfrage und Autonomie [2012]), in denen sie sich selbst angesichts des russischen Zarismus gegen den polnischen Nationalismus bzw. eine staatliche Unabhängigkeit Polens stellt, oder in ihrer ›Junius-Broschüre‹ Die Krise der Sozialdemokratie (Luxemburg 2000). In der Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung, zumal in ihrer parteiförmigen Gestalt, spielt dieser Internationalismus aber unabhängig von aller inszenierten Selbstdarstellung keineswegs eine dominante Rolle, vielmehr wird die kritische Stellung zur Nation als Form und Ideologie bürgerlicher Herrschaft vielfach modifiziert. Diese Modifikation stellt sich selbst als Erweiterung des die nationale Frage und die patriotischen bzw. Heimatgefühle auch des Proletariats zu Unrecht vernachlässigenden Internationalismus dar. Bei den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale (mit Ausnahme der russischen Bolschewiki und Minderheitenströmungen) bildet spätestens die Zustimmung zum Ersten Weltkrieg einen signifikanten Markstein der Entwicklung hin zu Parteien, die der Kooperation
mit bürgerlichen Kräften gegenüber der internationalen Klassensolidarität den Vorzug geben. Der deutsche sozialdemokratische ›Burgfrieden‹ (in Frankreich: ›Union sacrée‹) findet seinen radikalsten Ausdruck in der Ideologie des ›Kriegssozialismus‹, also der Vorstellung, die Kriegsökonomie verwirkliche auf nationaler Grundlage eine Politik des Klassenausgleichs (vgl. Sigel 1976) – später fortgesetzt im sogenannten ›Hofgeismarer Kreis‹ der SPD (vgl. Vogt 2006). Die Zustimmung der sozialistischen Parteien zum Krieg und damit ihr Entschluss, die klassenübergreifende Nation über die internationale Solidarität zu stellen, ist einer der wesentlichen Gründe für die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Teil. Dennoch sehen sich auch die Kommunisten von ihrer Konstitution an vom nationalen Gedanken attrahiert. Schon seit 1903 verficht Lenin einen Kurs des nationalen Antiimperialismus, der die unterdrückten Völker als revolutionäres Subjekt dem Proletariat gleichsetzt, ihnen unter der Formel eines »Selbstbestimmungsrechts der Nationen« das »Recht auf freie politische Abtrennung« zuerkennt (Lenin 1960, 152) und dies als spezifisches Programm einer revolutionären Sozialdemokratie (vgl. ebd., 154) bezeichnet. Mit dem Machtantritt der Bolschewiki in Russland stellt sich die theoretische Frage nunmehr als praktische: einerseits im Hinblick auf die unter dem alten Zarenreich und der künftigen Sowjetunion versammelten Nationen, andererseits hinsichtlich des zumindest prinzipiell verfochtenen Internationalismus, der nunmehr mit einer auf das eigene ›nationale‹ Interesse bedachten Außenpolitik harmonisiert werden muss. Die Auseinandersetzungen zwischen Stalin und Trotzki reflektieren diesen Widerspruch. Trotzkis Konzept der ›Permanenten Revolution‹, ursprünglich formuliert im Hinblick auf die Notwendigkeit, dass die demokratische (›bürgerliche‹) Revolution weder durch das russische Bürgertum noch die Bauernschaft, sondern nur durch das (›sozialistische‹) Proletariat durchgeführt und damit auch in eine sozialistische Phase überführt werden könne, entwickelt sich so zu einer Theorie der internationalen Weltrevolution, ohne die eine nationalbegrenzte Revolution wie die russische scheitern müsse. Dagegen vertritt Stalin angesichts des Ausbleibens einer Revolution in Westeuropa das Ziel des (nationalstaatlich organisierten) ›Sozialismus in einem Land‹, das sich in der kommunistischen Bewegung ab der Mitte der 1920er Jahre durchsetzt. In der Sowjetunion geht es einher mit einer zunehmenden Betonung eines (russischen) Sowjetpatriotismus, gip-
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felnd in der Titulierung des deutsch-sowjetischen Krieges 1941–1945 als ›Großer Vaterländischer Krieg‹ und der Ersetzung der Internationale durch die patriotische Hymne der Sowjetunion 1943/44 als sowjetischer Nationalhymne. Parallel zu diesen innersowjetischen Entwicklungen bildet sich auch im westeuropäischen Kommunismus eine Strömung heraus, die die Nation nicht als Kampfbedingung einer internationalen Arbeiterbewegung, sondern als deren autonomes Ziel begreift. Am prominentesten tritt hier 1923 der Deutschlandexperte der Kommunistischen Internationale Karl Radek auf. Nach der Hinrichtung des nationalsozialistischen Freikorpsterroristen Albert Leo Schlageter durch die französische Ruhrbesatzungsarme hält Radek auf dem 3. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale eine Gedenkrede, bezeichnet Schlageter darin als »Märtyrer des deutschen Nationalismus« (Radek 1972, 143) und macht zum Maßstab seiner politischen Beurteilung die Frage, ob die Kommunisten oder die Faschisten eher dazu geeignet seien, »dem deutschen Volke zu dienen«, mit dem Resümee: »Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes« (ebd., 145; vgl. Dupeux 1985, 178–205). Obwohl sich Radek offiziell im Hinblick auf eine praktische Zusammenarbeit des Kommunismus mit dem deutschen Nationalismus nicht durchsetzt: Der Gedanke, die kommunistische Bewegung sei der geeignetere Sachwalter nationaler Interessen und müsse sich nur dessen bewusst werden, um eine vernachlässigte Massenbasis für sich zu gewinnen, schlägt sich 1930 auch in der »Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« der KPD nieder, die sich in leninistisch-›antiimperialistischer‹ Weise gegen den Versailler Vertrag und den YoungPlan positioniert, also in der Niederlage Deutschlands in der zwischenstaatlichen Konkurrenz den entscheidenden Grund für das soziale Elend zu entdecken meint (vgl. [Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands] 1967).
Vor 1933 Für Anna Seghers und ihr literarisches Frühwerk spielen diese taktisch-politischen Erwägungen zunächst keine Rolle. Der in einem anderen biographischen und politischen Kontext verwendete vielzitierte, zugleich individualpsychologisch als auch enkulturationstheoretisch fundierte Ausdruck des durch das »eigene[]
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Volk« geprägten »Originaleindruck[s]«, an dem sich jede spätere Lebenserfahrung messe (KuW1, 195), schlägt sich in Seghers’ ersten Erzählungen und Romanen nicht nieder, jedenfalls nicht in einem positiven Sinne. Wo das Geschehen und die Lebenswelt der Figuren lokal situiert sind, erscheint die Heimat als Zwang, dem die Figuren ausgeliefert sind und unterliegen: so schon in der frühen Erzählung Grubetsch (1927), deren Schauplatz einerseits regional unspezifisch, andererseits binnenfiktional durch das Verhältnis von Fluss und städtisch-proletarischem Elendsviertel ausdefiniert ist. Ein positives Verhältnis zu dieser äußeren Lebenswelt wird klar dementiert; zur Anschauung gebracht werden ein dumpfes Milieu und die in ihm adäquat entfaltete Gewalt. Der zweite Roman, Der Kopflohn (1933), begonnen vor dem Machtantritt der Nazis, geschrieben im Exil, greift diese Perspektive auf und politisiert sie, indem Seghers den enggefassten regionalen Handlungsort in Rheinhessen als Schauplatz aller denkbaren Formen zwischenmenschlicher Drangsalierung zeichnet – in politischer, ökonomischer, moralischer und genderspezifischer Hinsicht (vgl. Spies 2010, 181). Trotz einer an Ernst Bloch geschulten Perspektive auf das Dorf und die Landbevölkerung, die die faschismusdiagnostische Valenz des Romans ausmacht, ließe sich eher von einem Anti-Heimat- als von einem Heimatroman sprechen. Komplementär zu diesen regional situierten Werken weist auch Seghers’ erster Roman Die Gefährten (1932) keinen positiven Heimatbezug auf: Sein Schauplatz ist die Welt, erfahren als Addition nationaler Herrschaft, die ihren Untertanen als Terrorherrschaft gegenübertritt, oder als Exil, in das sich die Verfolgten flüchten und in dem sie neuerliche Unterdrückung durch ihre Asylländer erfahren. Der Gegenentwurf zum repressiven Nationalstaat ist der Internationalismus der Geflüchteten und der heimischen Revolutionäre, die sich in gegenseitiger Solidarität als Gefährten erweisen, die durch kein nationales Band, sondern durch ein geteiltes politisches Anliegen miteinander verknüpft sind. Noch in dem späteren DDR-Roman Die Entscheidung (1959) knüpft Seghers an diese Technik der Verzahnung weltweiter Handlungsorte unter einer gemeinsamen, alle Figuren betreffenden politischen Klammer (hier: der Kalte Krieg) an, obwohl sie nun unter dem Vorzeichen eines positiven Heimatbegriffes stehen, der im Frühwerk keine Rolle spielt. Für die Zeit vor 1933 lässt sich auch biographisch keine besondere Anhänglichkeit von Anna Seghers (bzw. Netty Reiling) an eine Heimat – also ihren Herkunftsort Mainz – erkennen. Aus dem Rückblick be-
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V Themen und Kontexte
zeichnet Seghers ihre frühe Bindung an Mainz als »Eingesperrtsein« (Zehl Romero 2000, 89); ihre Wohnorte – der Studienort Heidelberg, Berlin als Schauplatz der ersten literarischen Erfolge und der politischen Tätigkeit – definieren sich nicht durch ein räumliches Sentiment, sondern durch Arbeitszusammenhänge; die wichtigen Sozialkontakte mit ausländischen Kommilitonen und Kollegen basieren nicht auf nationaler Zusammengehörigkeit.
Die Zeit des Exils 1933 ändert sich nicht nur Anna Seghers’ Wohnort, sondern ihre prinzipielle Perspektive auf die Relevanz von Heimat und Nation – genauer gesagt: Diese avancieren jetzt überhaupt erst zu einem Gesichtspunkt, dem das politische und schriftstellerische Interesse der Autorin gilt, und zwar sehr schnell in einer Weise, die dem Thema regionaler und nationaler Verbundenheit geradezu eine dominante Funktion verleiht. Erst damit tritt Anna Seghers in einen Zusammenhang mit dem politischen Nationaldiskurs der Kommunistischen Parteien. Deren Haltung zur nationalen Frage wird im August 1935 auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale durch ihren Generalsekretär Georgi Dimitroff verbindlich formuliert: »Die Kommunisten, die einer unterdrückten, abhängigen Nation angehören, können nicht mit Erfolg gegen den Chauvinismus in den Reihen ihrer Nation auftreten, wenn sie nicht gleichzeitig praktisch in der Massenbewegung zeigen, daß sie in der Tat für die Befreiung ihrer Nation vom fremdländischen Joch kämpfen« (Dimitroff 1975, 153). Der Kampf um nationale Selbstständigkeit wird so offiziell zum genuinen Ziel des an sich internationalistischen Kommunismus erklärt. Die zugleich vollzogene Wende der Kommunistischen Internationale weg von der Kritik an den sozialdemokratischen und bürgerlich-liberalen Parteien hin zur Volksfront profiliert diese als patriotisches Projekt, an dem sich nahezu alle politischen Gegensätze – außer denen zum Faschismus – relativieren (vgl. kritisch zu dieser Wendung und der Literatur, die unter diesen Vorzeichen entsteht, Schmidt 2002). Vorbereitet, zweifelsohne mit offiziöser Unterstützung durch Stalin, wird diese Wendung durch die taktische Annäherung der Kommunistischen Partei Frankreichs seit 1934 an die Sozialistische Partei, die schließlich 1936 in der Konstituierung in einer ersten europäischen Volksfrontregierung unter Einbeziehung der linksbürgerlichen Radikalen Partei mündet;
parallel bildet sich auch in Spanien eine Volksfrontregierung aus Sozialisten und Linksliberalen mit Unterstützung durch die Kommunisten und zunächst auch durch die Anarchisten und Trotzkisten. In ideologischer Hinsicht beinahe ebenso relevant für die Vorbereitung der Volksfrontpolitik stellt sich der federführend durch internationale kommunistische Autoren organisierte ›Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur‹ dar, der im Juni 1935 – also noch vor dem Komintern-Kongress im August – in Paris stattfindet. Dort hält Seghers die vielbeachtete und vielzierte Rede ›Vaterlandsliebe‹, die repräsentativ für ihre Haltung zur nationalen Frage während der Exilzeit ist. Sie proklamiert als Ziel des Antifaschismus statt einer Abschaffung der Nation den »Aufbau neuer Vaterländer« (KuW1, 66), also die Verallgemeinerung des nationalstaatlichen Prinzips. Begründet wird diese Rehabilitierung damit, dass auch am Beginn der »bürgerlichen Epoche« Patriot und Revolutionär identisch gewesen seien (ebd., 64). In der Gegenwart, zugespitzt durch die exilbedingte Fremdheitserfahrung, beweise sich die nationale Zusammengehörigkeit nicht zuletzt durch die gemeinsame (National-)Sprache, das »Eigentümlichste« (ebd., 65) aller in ihr Kommunizierenden. Diese Auffassung, im Reden über eine zu beurteilende Sache liege eine Unfreiheit des Bewusstseins, da sich diese Beurteilung notwendigerweise im Medium eines national begrenzten Zeichensystems vollziehe, ist keineswegs eine auf Anna Seghers beschränkte Hypostasierung. Sie findet sich geradezu majoritär bei zahlreichen Exilautoren unterschiedlichster politischer Ausrichtung, die ihre Vertreibung aus der nationalen Sprechgemeinschaft als Entwurzelung auffassen, paradigmatisch 1946 bei Alfred Döblin: »Aber wir, die sich mit Haut und Haaren der Sprache verschrieben hatten, was war mit uns? Mit denen, die ihre Sprache nicht loslassen wollten und konnten, weil sie wußten, daß Sprache nicht ›Sprache‹ war, sondern Denken, Fühlen und vieles andere? Sich davon ablösen? Aber das heißt mehr, als sich die Haut abziehen, das heißt sich ausweiden. Selbstmord begehen. So blieb man, wie man war – und war, obwohl man vegetierte, aß, trank und lachte, ein lebender Leichnam.« (Döblin 1977, 433 f.; vgl. Maimann 1981, 31–38; Jakobi 2006, 174–176)
Noch in Transit kommt Seghers auf diese Vorstellung zurück, wenn sie die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem deutschsprachigen Manuskript des toten Exil-
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dichters Weidel jenseits aller kommunizierten Inhalte ausschließlich als Wiederbegegnung mit dem heimischen Idiom beschreibt, das als existentielle Lebensnotwendigkeit beschrieben wird, dem gegenüber das Ich vollkommen unselbstständig und restlos ausdefiniert ist: »Und wie ich Zeile um Zeile las, da spürte ich, daß das meine Sprache war, meine Muttersprache, und sie ging mir ein wie die Milch dem Säugling« (Tr, 25). Als materielle Grundlage dieses Heimatidealismus formuliert Seghers 1935 in ihrer Pariser Rede einen Zusammenhang von Klassenkampf und Heimatbindung. Imaginierter Schauplatz dieser Verbindung ist »die grandiose, höllische, schwefelgelbe Leuna-Fabriklandschaft« (KuW1, 64). Seghers leitet die Zustimmungsfähigkeit der deutschen Nation mithin nicht aus dem Bild sozialer Idylle oder der Naturschönheit ab, sondern aus einem Schauplatz härtester sozialer Kämpfe und lebensfeindlicher Umweltbedingungen. Die mitteldeutsche Industrielandschaft erscheint so zum einen als Ort der ökonomischen Ausnutzung. Aus dieser Feststellung, dass Industriearbeit unter kapitalistischen Vorzeichen Verausgabung von Arbeitskraft zugunsten eines fremden Interesses sei, leitet Seghers indes nicht auf eine für eine Kommunistin naheliegende Weise den Gegensatz ab, der dieser Ausnutzung zugrunde liegt, sondern ein Anrecht der Ausgenutzten auf nationale Anerkennung. Zum anderen steht das Beispiel Leuna für den kommunistischen »mitteldeutschen Aufstand« von 1921 (KuW1, 65), also eine militante Bewegung gegen die kapitalistische Vernutzung von Arbeitskraft. Der Kampf erscheint so als Teilhabe an der Nation und als Verpflichtung zur Vaterlandsliebe: »Doch wer in unseren Fabriken gearbeitet, auf unseren Straßen demonstriert, in unserer Sprache gekämpft hat, der wäre kein Mensch, wenn er sein Land nicht liebte« (ebd.). Die Überzeugung, dass nationale Zugehörigkeit nicht ein gesellschaftliches, sondern ein natürliches Verhältnis sei, dem die antifaschistischen Exilanten Anerkennung als allgemein menschlichem Bedürfnis zu zollen hätten, formuliert Seghers im Laufe des Exils wiederholt, zum Teil unter Benutzung der bereits in der Pariser Rede aufgebotenen Argumente und Bilder. Im mexikanischen Exil erklärt Seghers im November 1941, die Vernachlässigung des nationalen Gefühls sei ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Faschismus in Deutschland, »der diese Leere ausfüllt, der dieses Gefühl auf seine Art ausbeutet« (KuW1, 186). Indem Seghers von ›Leere‹ spricht, impliziert sie, dass dem Individuum und dem Kommunismus etwas Notwendiges fehle, wenn die nationale Frage nicht gleichberech-
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tigt neben der sozialen Frage behandelt werde, denn »Volklosigkeit« gebe es ebenso wenig wie »Weltbürgertum« (ebd., 187). Den Gedanken, dass der Sozialismus besser als faschistische oder andere bürgerliche Bewegungen geeignet sei, »den Zusammenschluß wirklicher Volksgemeinschaften nach frei herausgebildeten eignen Kulturen« (ebd.) zu bewerkstelligen, hat bereits Ernst Bloch vorgetragen. Er schreibt in einem 1935 in Erbschaft dieser Zeit aufgenommen Kapitel, dass »[e]rst der Kommunismus [...] auch echte Nation auf[holt], als Sprach- oder Kultureinheit; erst die internationale Regelung der Gütererzeugung und Güterverteilung legt das Multiversum der Nationen wirklich frei« (Bloch 1935, 64; vgl. Jakobi 2005, 64–66). Stärker als bei Bloch ist bei Seghers ›Heimat‹ auf das Subjekt rückbezogen, das von ihr geprägt und den »Originaleindruck« empfangen habe, »den ersten und darum unnachahmlich tiefen Eindruck von allen Gebieten des Lebens, von allen gesellschaftlichen Zuständen, ein Eindruck, an dem wir unbewußt und für immer vergleichen und messen« (KuW1, 195), wie Seghers im Oktober 1942 in ihrem Essay »Volk und Schriftsteller« formuliert. Gegenüber dieser Verfügung ist das Individuum – in seiner schriftstellerischen oder politischen Existenz – unfrei. Noch im Fehlen einer nationalen Verankerung macht sich für Seghers dieses Verhältnis geltend, wenn sie etwa über die Exilkünstler schreibt, ihre persönliche Identität, künstlerische Ausdruckskraft und Verbindung mit ihren Rezipienten sei bedroht »durch die Verdünnung der Sprache, durch die langsame Übermittlung von vielen Eindrücken, durch die Unterernährung der Wurzeln, die aus dem Heimatboden gezogen waren« (KuW1, 202) – so Seghers 1946 in einer letzten emphatischen Beschwörung der notwendigen Heimatverbundenheit vor ihrer Rückkehr nach Europa. Es ist bezeichnend, dass dieses weitverbreitete Bild der nationalen Verwurzelung im Exil auch Widerspruch erfahren hat. Bertolt Brecht lässt in seinem Dialogroman Flüchtlingsgespräche (entstanden 1940– 1942) den exilierten Metallarbeiter Kalle sagen: »Sonst hör ich immer, man soll verwurzelt sein. Ich bin überzeugt, die einzigen Geschöpfe, die Wurzeln haben, die Bäum, hätten lieber keine, dann könntens auch in einem Flugzeug fliegen« (Brecht 1995a, 256). Die Äußerung steht im Kontext von Brechts grundsätzlicher Kritik am Patriotismus, wenn er Kalles Gesprächspartner, dem exilierten Physiker Ziffel, die skeptische Verwunderung in den Mund legt: »Es ist mir immer merkwürdig vorgekommen, daß man gerade das Land besonders lieben soll, wo man Steuern
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zahlt« (ebd.). Darauf entgegnet Kalle, denkbar prinzipiell: »Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, daß man überhaupt keine richtige Auswahl hat. Das ist so, als wenn man die lieben soll, die man heiratet, und nicht die heiratet, die man liebt. Warum, ich möchte zuerst eine Auswahl haben. [...] Aber jetzt ists, wie wenn einer nichts so sehr schätzt wie den Fensterstock, aus dem er einmal heruntergefallen ist« (ebd.). Solche ideologiekritische Satire korrespondiert mit dem harschen Vorwurf, den Brecht in seinem Journal 1943 namentlich gegen Johannes R. Becher erhebt, dessen Artikel »Deutsche Lehre« »stink[e] von Nationalismus« (Brecht [10.11.1943] 1995b, 181). Allgemeiner, aber im gleichen Kontext kommentiert Brecht einen Artikel über die Judenvernichtung im besetzten Polen: »Ich wünschte wirklich, daß nie mehr gesprochen oder geschrieben werde vom ›deutschen Menschen‹ [...]. Deutschland muß sich nicht als Nation emanzipieren, sondern als Volk, genauer als Arbeiterschaft. Es war nicht ›nie eine Nation‹, sondern es war eine Nation, d. h. es spielte das Spiel der Nation um Weltmachtstellung und entwickelte einen stinkenden Nationalismus« (ebd., [11.11.1943], 181 f.). Mit dieser Gleichsetzung des herrschenden Staatsnationalismus mit dem Projekt eines antifaschistischen Kulturnationalismus ist Brecht im Exil, zumal in seiner kommunistischen Fraktion, vergleichsweise isoliert. Insgesamt steht Seghers mit ihrer Beschwörung der Heimat als antifaschistischer Potenz und als Verpflichtung exemplarisch für die im Exil weiterverbreitete bis hegemoniale Position, die exilierten Antifaschisten seien Repräsentanten eines ›Anderen‹ oder ›Wahren Deutschland‹, das gegenüber dem NS-Regime Tradition, Kultur und Mehrheitsmeinung der Deutschen verkörpere (vgl. Rotermund 1984, 187; Jakobi 2006). Anna Seghers erweitert diesen Kreis 1943 auch auf den KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, den sie anlässlich seiner 10-jährigen nationalsozialistischen KZ-Haft als »Vertreter des Anderen Deutschlands, des werktätigen deutschen Volkes« (KuW3, 155) bezeichnet. Diese Auffassung geht mindestens bis auf die Weimarer Republik zurück: 1929 beschließt Kurt Tucholsky sein ›Bilderbuch‹ Deutschland, Deutschland über alles, eine zusammen mit John Heartfield erstellte satirische Text-Bildmontage über die deutschen gesellschaftlichen Verhältnisse, mit einem »Heimat« betitelten Nachwort. Dort rückt er seine satirische Kritik in den Zusammenhang seiner Heimatliebe, in der er und das von ihm adressierte linke politische Spektrum sich »von niemandem, nicht einmal von jenen, auf deren
Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist« (Tucholsky 2004, 231), übertreffen lasse. In Seghers’ literarischem Exilwerk schlägt sich diese Konzeption auf unterschiedliche Weise nieder. In ihrer poetischen Praxis lässt sich Seghers nicht durch eine nationale Verengung beirren: Die weltliterarischen Einflüsse auf das erzählerische Werk werden durch keine nationale oder nationalsprachliche Grenze beschränkt, wozu sich Seghers auch verschiedentlich bekennt (etwa zu Alessandro Manzonis Vorbild für das Siebte Kreuz). Auch im theoretischen Diskurs bezieht Seghers sich auf die Weltliteratur (etwa die russischen Romanciers des 19. Jahrhunderts oder die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur). So bekennt sich Seghers noch in der DDR einerseits zu der Vorstellung, Schriftsteller seien »tief in ihren eigenen Völkern verwurzelt« (KuW1, 91), und andererseits in einem gleichfalls biologischen Bild zur Veränderung der Literatur durch »Mentorisieren«: »Manche Zweige aus den Literaturen spanischer Sprache sind inzwischen in mein Schreiben hineingewachsen« (KuW1, 29). Ihre Beiträge zum Genre des Deutschlandromans (vgl. zur politischen Relevanz dieser Gattung Winckler 1981) operieren vielfach mit dieser Kategorie: kritisch im Hinblick auf die Repressivität regionaler Abhängigkeit im Kopflohn (1933), unter veränderten Vorzeichen dann in Die Rettung (1937) und vor allem in Das siebte Kreuz (1939). Dort stellen die Heimat und ihre historischen – teils realgeschichtlichen, teils mythologischen – Voraussetzungen den räumlichen und zeitlichen kategorialen Rahmen des Geschehens dar. Die rheinhessische Landschaft bildet die Kulisse eines letztlich gelingenden Fluchtversuchs und einer dadurch bei etlichen Figuren einsetzenden Distanznahme zum nationalsozialistischen Staat. Der von den Nazis restlos durchpolitisierten Nation stellt Seghers eine vorpolitische Heimatkonzeption entgegen, die eine eigentümliche Dialektik der Ausgrenzung und Eingemeindung des politischen Feindes entwickelt. Gegen Ende des Romans, da Georg Heislers Flucht sich einem guten Ende nähert, beobachtet der Flüchtige aus einem Versteck in Frankfurt eine städtische Szene: »Er betrachtete sich die Leute, die da unten vorbeikamen, Leute in Sonntagskleidern, mit Kindern und alten Müttern und wunderlichen Gepäckstücken: ein Motorradfahrer, die Braut im Beisitz, zwei Pimpfe, ein Mann mit einem Faltbootsack, ein SA-Mann mit einem Kind an der Hand, eine junge Frau mit einem Asternstrauß« (SK, 397). Das idyllische sonntägliche Bild umfasst sowohl in ihrer Privatheit aufgehobene Mitmenschen als auch Repräsentanten der herrschenden
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Gewalt, die hier ebenfalls in ihrer Privatheit (»mit einem Kind an der Hand«) auftreten – und nicht zuletzt auch eine Genossin, da die »junge Frau mit einem Asternstrauch« sich als jene Kurierin herausstellen wird, die Heisler Geld und einen gefälschten Pass, also die Mittel zum Überleben, aushändigt. Die Gemeinsamkeit dieser politisch entgegengesetzten Figuren stellt sich dadurch ein, dass sie Heisler als durch eine geteilte Heimat vereint erscheinen, von der er ausgeschlossen ist: Die Beobachtung der Szenerie beginnt mit der Beschreibung: »Georg überwältigte ein Gefühl vollkommener Heimatlosigkeit« (ebd.); dieses Gefühl drückt den Verlust eines früheren Besitzes aus, der als Inbegriff humaner Zugehörigkeit erscheint. In der Erfahrung von Heimat (bzw. Heimatverlust) verlieren die politischen Gegensätze ihre allgemeine Brisanz. In der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (1946) wird dieser Gegensatz in womöglich noch eindringlicherer Weise in der Form eines Bildes zugleich betont wie auch dementiert. Emphatisch beschworen wird die Heimat als Erfahrung subjektiver Zusammengehörigkeit der titelgebenden Mädchen: »Nie hat uns jemand, als noch Zeit dazu war, an diese gemeinsame Fahrt erinnert. Wie viele Aufsätze auch noch geschrieben wurden über die Heimat und die Geschichte der Heimat und die Liebe zur Heimat, nie wurde erwähnt, daß vornehmlich unser Schwarm aneinandergelehnter Mädchen, stromaufwärts im schrägen Nachmittagslicht, zur Heimat gehörte« (AtM, 143 f.). Dass die Heimat, die Stadt Mainz, mittlerweile beträchtliche Schäden erfahren musste, politische durch den Nationalsozialismus und militärische durch den Zweiten Weltkrieg, fasst die Erzählerin im Bild einer zum Zeitpunkt des Erzählten noch nicht, zum Zeitpunkt des Erzählens aber bereits stattgefundenen Zerstörung zusammen: »Kein Loch, kein Brandschaden hafteten dieser vertrauten winkligen, wimmligen Stadt an, so daß sich meine Beunruhigung legte und ich mich daheim fühlte« (AtM, 144; vgl. Spies 2010, 184 f.).
Die Rückkehr nach Deutschland 1947 Mit diesem emphatisch vorgetragenen Bekenntnis zur Heimat kehrt Seghers nach 14-jährigem Exil 1947 nach Deutschland zurück – im Bewusstsein einer ›Heimkehr‹ (vgl. Zehl Romero 2000, 436). Diese Heimkehr stellt sich jedoch als herbe Enttäuschung dar. Seghers’ Vorstellung, dass das ›Andere Deutschland‹ nicht lediglich eine intellektuelle Konstruktion der Emigration ist, sondern eine in Deutschland selbst
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präsente Gegenmacht unter und erst recht nach dem Faschismus, kollidiert mit Erfahrungen, die die Remigrantin macht (oder zu machen meint), sobald sie sich in und über Deutschland orientiert. Noch 1946 bekennt sich Seghers in ihrer Antwort auf einen Brief des Mainzer Kulturdezernenten Michel Oppenheim – selbst Opfer der antisemitischen Verfolgung – zu dem, was sie in ihrem Exilwerk als Heimat beschrieben hat: »Sie koennen sich nicht vorstellen, was fuer Sehnsucht ich nach dem Rhein habe. Dieser Wunsch ist nicht geringer geworden durch alles, was sich daheim zugetragen hat. Er ist sogar hier auf dem Kontinent noch gewachsen« (Br1, 175 f.). Ihre Briefe in den Jahren 1947 und 1948 formulieren – im Gegensatz zur beschworenen Unmittelbarkeit der Heimat – eine praktische Distanzierung, und zwar von den Deutschen, die nicht in der Emigration waren. Diese Distanzierung fällt denkbar drastisch aus, sie gilt der politischen und moralischen Indolenz ihrer neuen bzw. alten Mitbürger: »Die Menschen verstehen jeden Tag weniger, dass sie irgendwie, dass sie auch nur im geringsten Schuld haben sollen an dem Hunger, den sie tatsaechlich haben« (ebd., 241). In verallgemeinerter Form lautet die Diagnose, »dass dieses Volk entsetzlich vom Faschismus zerstoert wurde, moralisch und intellektuell in allen seinen Faehigkeiten und Eigenschaften. [...] Schlechte und Teuflische gibt es ueberall, aber eine so gleichmaessige Senkung nicht nur des moralischen, des politischen usw. Niveaus, sondern des gesamten Intellekts, ist wirklich ein Phaenomen« (ebd., 270 f.). Die subjektive Reflexion macht sich in einem Verlust des Heimatgefühls geltend. So schreibt Seghers an Lore Wolf, die Freundin und Mitarbeiterin aus der Pariser Exilzeit: »Das tiefe kindliche Heimatgefuehl, das wir noch in Bellevue hatten, wo wir uns freuten, wenn ein Baum oder Haus so roch wie daheim, das hab ich nicht mehr. Es gibt zu viel andre Strecken der Welt, die ich lieb gewonnen habe« (ebd., 258) – ein Dementi dessen, was sie wenige Jahre zuvor als den unhintergehbaren »Originaleindruck« (KuW1, 195) bezeichnet hat. Den zahlreichen gleichartigen Briefbelegen aus dieser Zeit steht im literarischen Werk oder überhaupt in den öffentlichen Äußerungen wenig vergleichbar Explizites gegenüber. Auffällig ist, dass im parallel entstandenen Epochenroman Die Toten bleiben jung (1949) die Rede vom ›Vaterland‹ den reaktionären Deutschnationalen vorbehalten bleibt, wogegen sie für das Proletariat bestenfalls leeres Pathos, realistischerweise ein Kampfbegriff des Gegners ist (vgl. Haas 1999, 125 f.). Die Resistenz gegenüber dem Vaterlandsbegriff
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ist hier Zeichen politischen Selbstbewusstseins – eben jener politischen Reife, die Seghers in ihren Briefen aus der Remigrationszeit bei den Deutschen so vermisst.
Die DDR als Heimatprojekt Die vergleichsweise kurze, im Privaten ausgetragene Phase des Heimatverlustes – eingetreten in dem Moment, als sich Seghers der eigenen Projektion stellen muss – findet gleichwohl eine Fortsetzung in ihrem literarischen Spätwerk, das mit der Etablierung in der DDR einsetzt. Heimat erscheint nunmehr nicht mehr als selbstverständlich gegebene Lebenserfahrung, sondern als Resultat der Stellung zum politischen Projekt der DDR. ›Heimat‹ erfährt so gegenüber dem traditionellen Konzept, aus der Wahrnehmung individueller Abhängigkeit von äußeren Lebensverhältnissen sogleich eine notwendige politische Einverständnisverpflichtung abzuleiten, eine Umdeutung bzw. Politisierung. Die heimatliche Verbindlichkeit als Lebenssinn wird nun abhängig gemacht von einer politischen Veränderung. Der angestrebte Sozialismus erscheint dabei im Verhältnis zur traditionalen Heimat in einem ambivalenten Sinne: Er ist einerseits eine antitraditionelle Entwicklung, insofern er einen Bruch mit der Geschichte der Klassengesellschaften darstellt, andererseits ein Moment historischer Kontinuität, da dieser Bruch eine durch den Geschichtsverlauf nahegelegte Folge dieser Geschichte ist. Heimat – eine positive Verortung des Subjekts in regionalen Lebensumständen – ist damit ein Feld subjektiver Verwirklichung wie auch eines politisch-ökonomischen Kampfes um ihre Eroberung. Die späten Romane Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968) demonstrieren diesen Prozess und seine immanente Zuspitzung. Sie entwickeln das Verhältnis von Heimat und Sozialismus in einer Weise, dass Heimatlichkeit nunmehr zum Maßstab der Beurteilung des neuen politisch-ökonomischen Systems wird (vgl. Fischer 2015, 131). Sie reagieren damit auf den Anspruch der jungen DDR, eine neue Gesellschaft zu etablieren, vor der alle früheren Formen nationaler Vergesellschaftung als defizitär erscheinen müssen. Im Detail zeigen sich die daraus resultierenden Widersprüche darin, dass Figuren eine Bindung an eine neue (d. h. zunächst fremde) Heimat aufbauen müssen, die sich der alten Heimat gegenüber als überlegen erweist: so etwa der Ingenieur Ernst Riedl, der zu seiner alten Heimat in Westdeutschland noch ein affektives Verhältnis hat (vgl. ebd., 115 f.), aber dennoch
– im Sinne des Romantitels – eine Entscheidung zugunsten des Stahlwerkes Kossin in der DDR fällt. An die Stelle einer biographisch qua Geburt vorgegebenen Bindung tritt der subjektive Entschluss, eine solche einzugehen. Eben dies lässt sich verallgemeinern in Hinblick darauf, wie Seghers die DDR als Heimat inszeniert: Ihre Zustimmungsfähigkeit wird an Bedingungen geknüpft, die sich nicht von selbst verstehen (im Sinne einer Verpflichtung, die für den traditionellen Patriotismus selbstverständlich ist) und sich daher überhaupt erst legitimieren müssen, zugleich aber die gleiche Verbindlichkeit aufweisen wie eine traditionale Prägung, die sich der subjektiven Stellung zu ihr entzieht. Inwiefern der Sozialismus die hinreichende Bedingung für diese positive Selbstbeheimatung sein kann, verhandelt Die Entscheidung bei aller Differenziertheit – einigen Figuren gelingt der Prozess positiver Übereinstimmung, andere scheitern daran (vgl. ebd., 199 f.) – als entschiedene Frage. In Das Vertrauen radikalisiert Seghers die in der Dialektik freien Entschlusses und dadurch eingegangener Verbindlichkeit angelegte Problematik, indem die subjektiv anerkannte Geltung heimatlicher Verortung historischen Bewährungsproben ausgesetzt wird (v. a. des 17.6.1953), die den sozialistischen Anspruch der DDR in Frage stellen. Obwohl die Parteilichkeit der Autorin nicht in Frage steht: Der Beschluss zur Selbstbeheimatung wird so zum prekären Risiko, das eben nicht die Sicherheit stiftet, welche das vorpolitische Konzept der Heimat verspricht. Literatur
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Carsten Jakobi
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44 Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben Das Scheitern ist ein zentrales Motiv in Seghers’ Gesamtwerk. Ihre erste große Veröffentlichung, Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928), handelt von der brutalen Unterdrückung einer Gruppe von Fischern, die bessere Arbeitsbedingungen verlangen. Ihre letzte Publikation, Drei Frauen aus Haiti (1980), erzählt deren Geschichte über einen Zeitraum von 500 Jahren. Die Protagonistinnen sind jeweils stille Teilnehmerinnen und Zeugeninnen der Niederschlagung von Freiheitsbewegungen. Wiederholt schildert Seghers gescheiterte revolutionäre Bewegungen in Deutschland und in der Welt. Ihre Hauptfiguren sind keine Helden, die große Leistungen vollbringen, für die sie öffentliche Anerkennung bekommen. Rebellische Außenseiter, gesellschaftliche Provokateure oder auch gewöhnliche Menschen, die weder Aufmerksamkeit für ihre Taten erhielten, noch die Früchte ihrer Arbeit zu Gesicht bekommen, werden häufig in den Mittelpunkt gerückt. Seghers war eine engagierte Kommunistin, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Deutschen Demokratischen Republik arbeitete – ein Staat, in dem die Revolution angeblich gesiegt hatte. In diesem historischen Kontext ist das Thema Scheitern eigentlich fehl am Platz. Trotzdem blieb Seghers ihrer emanzipatorischen Grundüberzeugung treu, die Lebensbedingungen zu verbessern und dass dafür einschneidende Veränderungen nötig sind. Für sie bekräftigen auch gescheiterte Aufstände diese Hoffnung. Die Arbeiten von Helen Fehervary und Birgit Maier-Katkin zu Seghers’ Geschichtskonzept erläutern, inwieweit deren Schilderungen erfolgloser revolutionärer Bewegungen und der in sie involvierten Menschen als Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Konzept eines dem historischen Materialismus inhärenten messianischen Potentials verstanden werden können. In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) stellt Benjamin zwei Arten der Geschichtsschreibung einander gegenüber: den Historismus und den historischen Materialismus. Benjamin verbindet Historismus mit triumphalem Faschismus, der den Verlauf der Geschichte als logisch zur Gegenwart führend versteht. Eine historisch-materialistische Interpretation der Vergangenheit hingegen lehnt eine teleologische Geschichtsschreibung ab. Sie betont stattdessen eine dialektische Beziehung zwischen dem Bewusstsein des Historikers und den von ihm be-
schriebenen Ereignissen sowie dem Kontext, in dem diese Ereignisse wahrgenommen werden. Mit der Einsicht, dass Geschichtsschreibung durch die Umstände ihrer Produktion bedingt ist, kann der Historiker die geradlinige historische Perspektive widerlegen, auf die sich die Mächtigen berufen, um ihre Macht zu rechtfertigen. Benjamin zufolge ist die Aufgabe des Historikers erlösend, weil sie die Möglichkeit in sich birgt, die aus der historistischen Geschichtsschreibung ausgeklammerte Vergangenheit zu befreien und wieder sichtbar zu machen. Aber weil die Beziehung des Historikers zur Vergangenheit sich ständig verändert, ist seine Arbeit nie vollendet. Geschichtsschreibung ist daher messianisch, weil sie die Offenbarung der Wahrheit verspricht, aber nie ganz vollbringen kann. Seghers’ Interesse an gescheiterten historischen Ereignissen und den mit ihnen verbundenen Menschen bietet Hoffnung auf Emanzipation, weil sie die positiven Möglichkeiten einer vergangenen, gescheiterten Revolution mit der Gegenwart verbindet. Dass sie ständig aus mehreren Perspektiven erzählt – oft auch aus der Sicht der Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben –, bedeutet, dass deren Geschichten (und die gescheiterten Revolutionen) nicht als einzig gültige Wahrheit anzusehen sind.
Gescheiterte Revolution als ständige Revolution Seghers’ Einsicht, dass Erzähler ihre Aufmerksamkeit auf die ›Ruinen der Geschichte‹ richten müssen – z. B. auf die Momente revolutionären Scheiterns – erfordert eine fortwährende, weltumspannende Dialektik von Revolution und Restauration, als deren Gegenstück. Deshalb stellt sie in ihren Geschichten die Möglichkeit der Revolution so dar, dass sie deren Scheitern in den Vordergrund rückt. Seghers’ Aufstand der Fischer von St. Barbara findet nach einer missglückten Rebellion statt. Ihr Roman Die Gefährten (1932), der das Scheitern der Komintern in Europa und in China beschreibt, beginnt mit dem Satz: »Alles war zu Ende«. Die Toten bleiben jung (1949), Seghers’ Epos über die Fehlschläge der deutschen Linke zwischen 1918 und 1945, beginnt mit der Erschießung des jungen Spartakisten Erwin durch Mitglieder des Freikorps. Die sich dann entfaltende Romanhandlung wird um die mit Erwin verbundenen Personen und die an seiner Ermordung Beteiligten strukturiert. In diesen und anderen Werken erzählt Seghers wie politische Krisen in Schach gehalten und zurückgedrängt werden.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_44
44 Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben
Seghers beschreibt, wie im Laufe der gewaltsamen Unterdrückung revolutionärer Bewegungen der revolutionäre ›Funke‹ von einer Person, Gruppe oder Generation zu einer anderen überspringt. Eine solche »›Staffettenübergabe‹ des revolutionären Gedankenguts« (Schrade 1993, 155) beschreibt, wie die Ursachen und die Grenzen einer solchen ›Übergabe‹ revolutionäres Handeln ermöglichen oder verhindern. Der Roman Die Toten bleiben jung sowie Seghers’ Nachkriegswerke, die in der Karibik spielen, liefern reichhaltiges Material darüber, wie der revolutionäre Impuls sowohl im Zusammenhang von Faschismus und Stalinismus als auch im Kolonialismus und Imperialismus aufrechterhalten wird. So interpretiert etwa Stephen Brockmann den Roman Die Toten bleiben jung, in dem Seghers die Vorgeschichte des neuen Staats – der DDR – darstellt, als ein »masterpiece of modern German literature and a foundational literary work for the young GDR« (Brockmann 2015, 139). Insbesondere schildert Seghers die Stammväter der späteren DDR, Erwin und Hans (Vater und Sohn), als engagierte Kommunisten, die vom Militär getötet werden. Der Roman vermittelt also die Einsicht, dass dieses antifaschistische Erbe als Fundament des neuen deutschen Staats dienen kann. Dennoch sind diejenigen, die Hoffnung auf dieses Erbe setzen, weder revolutionäre Kämpfer noch Parteifunktionäre. Die Geschichte von Erwins Freundin Marie, der Mutter von Hans, wiederholt sich mit Hans’ Frau Emmi, die am Ende des Romans kurz vor der Geburt seines Kindes steht. Seghers’ Verlagerung revolutionärer Hoffnung in die häusliche, mütterliche Sphäre kann als Kritik an einer triumphalen, patriarchalen Geschichtsschreibung gedeutet werden. Der Roman endet mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und evoziert so die Hoffnung, dass die Opfer der deutschen Antifaschisten nicht umsonst gewesen sein mögen. Die Toten bleiben jung legt diese Hoffnung auf eine bessere Zukunft in »an exhausted young woman who no longer wishes to live and who does not even want her own child to be born – and with the unborn child’s grandmother, who has seen all of this happen before« (Brockmann 2015, 142). Durch die Parallelisierung einer neuen staatlichen Ordnung mit dem unsicheren Versprechen auf neues Leben äußert Seghers ihre Skepsis darüber, ob eine post-faschistische, sozialistische Gesellschaft den ›neuen Menschen‹ überhaupt erschaffen kann (vgl. ebd., 142). Julia Hell sieht in Seghers’ Entscheidung, diese Geschichte einer ›Staffelübergabe‹ des revolutionären Wirkens nicht als patrilinearen Prozess dar-
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zustellen, zwei Gründe (vgl. Hell 1997, 69). Erstens befreit diese Perspektive das Konzept der Mutterschaft aus seiner zentralen Rolle in der nationalsozialistischen Rassenideologie und verbindet es nun mit dem politischen Projekt sozialer Gleichstellung (vgl. ebd., 71). Zweitens untergräbt die Verbindung des Revolutionären mit den Herausforderungen der Mutterschaft die Assoziation von Revolution mit Maskulinität (vgl. ebd., 67, 74), wie sie im stalinistischen Mythos des sowjetischen Volkes beschrieben wird, nämlich als ›große Familie‹, die von Vater Stalin, geleitet wird (vgl. Clark 2000, 114). Brockmann und Hell zufolge müssen wir also das revolutionäre Erbe, das Seghers in Die Toten bleiben jung schildert, als etwas Verstecktes, als sehr prekär und schwierig zu handhaben verstehen. Seghers’ Übertragung revolutionärer Hoffnung auf emanzipatorische Bewegungen in der Karibik und in Lateinamerika ist neuerlich aus einer postkolonialen Perspektive kritisch gelesen worden. Ihre Trilogien Karibische Geschichten (1962) und Drei Frauen aus Haiti (1980) zeigen, wie Seghers’ Internationalismus mit einer eurozentristischen Sichtweise zusammenhängt, denn sie war davon überzeugt, dass alle Unterdrückten der Welt am selben Kampf beteiligt sind. Die Unterschiede und geschichtsbedingten Ungleichheiten zwischen Europa und Lateinamerika spielten für sie dabei keine Rolle. Gertraud Gutzmann, Herbert Uerlings, Arlene Teraoka und Vibeke Rützou-Peterson sind sich darin einig, dass Seghers’ Beschreibungen der revolutionären Bestrebungen in der Karibik einen kolonialistischen Diskurs widerspiegeln, obwohl ihre Werke die Vorstellung vermitteln, dass revolutionäre Impulse kulturelle Grenzen überschreiten können. Teraoka z. B. beobachtet, dass Seghers weiße Revolutionäre als rationale, »sexless men of ideals and principles« darstellt, während sie deren schwarze Gegenüber als »men with befuddled minds« oder als »oversexed women« (Teraoka 1996, 22) schildert. Auf diese Weise entdeckt Teraoka ein Paradox in Seghers’ Schreiben (ebd., 23). Obwohl ihre Geschichten auf die Gleichheit aller Menschen zielen, unterstreichen sie »the superiority of the white world and the inferiority of the black« (ebd., 23). Rützou-Peterson analysiert, auf welche Weise kolonialistische Topoi Seghers’ Schilderung der drei Frauen aus Haiti strukturieren. Diese an den emanzipatorischen Aufständen beteiligten Frauen »are the bearers of the revolution, albeit unsuccessful, and they do constitute the links which bind generations of revolutionary struggle to one another« (Rützou-Peterson 1992, 400). Seghers charakterisiert sie inmitten revolutionä-
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rer Misserfolge zwar als Hoffnungsträger, gleichzeitig aber schildert sie sie mit den europäischen Klischees der exotischen, nicht-europäischen Frau, die dem Instinkt und nicht dem Verstand folgt (vgl. ebd., 401). Diese postkolonialen Studien bieten wichtige Einsichten in Seghers’ Abhängigkeit von hegemonialen Narrativen, verweisen aber auch darauf, wie sie die bei Benjamin entlehnte Vorstellung einer andauernden Wirksamkeit verlorener Revolutionen auf die Gegenwart überträgt. Seghers ist offensichtlich bemüht, durch ihre literarischen Texte die Geschichte des Widerstands gegen Eroberung, Sklaverei und neo-koloniale Diktatur in Lateinamerika für ostdeutsche Leser sichtbar zu machen. So tradiert sie revolutionäres Gedankengut. Indem sie Revolutionsbeispiele verarbeitet, die nicht aus der sowjetischen Geschichte stammen, kann sie außerdem die herrschende Version einer modellhaften Revolution – die ›siegreiche‹ sowjetische Revolution – als einziges Modell in Frage stellen (vgl. Janzen 2018, 85).
Die Kraft der Schwachen Seghers’ Projekt, auch in reaktionären Zeiten ein Licht auf revolutionäre Möglichkeiten zu werfen, korrespondiert mit ihrer Aufmerksamkeit für Randfiguren, die in unbemerkter Weise handeln, um die Gesellschaft zu ändern. Es sind nicht aufsehenerregende Leistungen, die sie in den Vordergrund rückt, sondern ›die Schwachen‹. Sie betont die kleinen, privaten Handlungen unbedeutender Menschen. Im Umfeld einer linken literarischen Szene, die den sozialistischen Realismus förderte, mit seinem Auftrag, den ›positiven Helden‹ der Gesellschaft zu schildern, decken Seghers’ ständige Beobachtungen von Individuen ohne Macht die Mängel offizieller Narrative auf, die gerade kein Gesamtbild der Gesellschaft zeigen. Seghers schildert, wie scheinbar unbedeutende Personen in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen eine wichtige Rolle spielen können; dabei kommt es zu Begegnungen zwischen den Hauptfiguren und Vertretern aller Bevölkerungsschichten. Protagonisten dieser narrativen Schlüsselstrategie sind Flüchtlinge aus einem Gefängnis (Der Kopflohn), einem Konzentrationslager (Das siebte Kreuz) oder aus dem besetzten Frankreich (Transit), die sich auf Hilfe der Leute verlassen, denen sie begegnen. Seghers benutzt das Leitmotiv des Fliehenden und dessen Begegnungen mit einer Vielzahl von Menschen in Das siebte Kreuz, um das alltägliche Leben in Nazi-
Deutschland zu zeigen, mit den ihm innewohnenden Gefahren sowie den Möglichkeiten für den antifaschistischen Widerstand. Der Protagonist Georg Heisler repräsentiert »less a determined hero than a channel through which the myriad fragments of humanity as yet unclaimed by National Socialism can assert themselves« (Fehervary 2001, 163). Dass Menschen aus verschiedenen sozio-ökonomische Schichten und in unterschiedlichen politischen Positionen dem Flüchtling Heisler helfen, unterstreicht die nach 1934 veränderte Volksfront-Politik der KPD, die jetzt die Sozialdemokratie mit einschließt (vgl. Bivens 2015, 126). Mit seinem Schwerpunkt auf Frauenschicksale im Dritten Reich formuliert der Roman eine Kritik an der Nazi-Ideologie, die Frauen gegenüber heroischen Männern als unterwürfig konzipiert (vgl. Maier-Katkin 2007, 94). »[B]y depicting disturbing sociopolitical circumstance in daily life, Seghers implicates supposed apolitical women characters with contemporaneous politics and is able to portray life in the Nazi regime ›from the unique perspective of her story‹« (ebd., 99). Für Seghers ist das Warten oder das Nichts-Tun ein Schlüsselelement des von ihr beschriebenen unheroischen Lebens. Dieses Warten ist weder Resignation noch Symptom eines existentiellen Unbehagens, kein ›Warten auf Godot‹ (Leistner 1980, 392). Es impliziert vielmehr die Hoffnung auf Wandlung und bietet ein Modell für Widerstand gegen Unterdrückung. Die verschiedenen Arten des Wartens in Seghers’ Werk beruhen u. a. auf ihrem Interesse an Märchen und Legenden, die von Menschen handeln, die auf einen Erlöser warten, der sie aus einer schwierigen Situation befreien kann (ebd., 389 f.). Es lässt sich eine Entwicklung aufzeigen, wie Warten und Erlösung von kleineren zu größeren politischen Projekten fortschreiten. So fühlen sich die Mietshausbewohner in Grubetsch (1927), die auf irgendeine Änderung ihres schwierigen Lebens warten, von der geheimnisvollen, aber zerstörerischen Titelfigur angezogen. Sie erhoffen sich von ihm, erlöst zu werden. Nach ihrem Eintritt in die kommunistische Partei verknüpft Seghers das Warten viel direkter mit dem politischen Geschehen. Als möglicherweise gefährliche Art des Nichtstuns erscheint das Warten etwa in Die Rettung (1937), wo die arbeitslosen Bergarbeiter auf eine grundlegende Veränderung lediglich hoffen (vgl. Leistner 1980, 392), oder das scheinbar sinnlose Warten auf immer neue Reisedokumente, dem die Flüchtlinge in Transit (1944) ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu diesem Warten ohne Zukunftsperspektive zeigt Seghers aber auch
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ein positives Warten auf eine bessere Welt, das die Pflicht einschließt, anderen Wartenden zu helfen. Solches Handeln kann Individuen zusammenführen und als Fundament für eine neue Gesellschaft dienen (vgl. ebd., 397). Weijia Li hat ein anderes Verständnis von der Rolle des Wartens in Seghers’ Werken, besonders in Transit. Er beschreibt das Warten des Protagonisten als ›Nichts tun‹ im Sinne des Taoismus, den Seghers, Brecht und andere Zeitgenossen studiert hatten. Insbesondere die Hauptfigur des Romans, Seidler, verkörpere das taoistische Konzept wu-wei, eine Überlebensstrategie, die durch Nicht-Agieren charakterisiert ist. Während die gemeinsam in Marseille auf Reisedokumente Wartenden in Verzweiflung und Panik geraten, bleibt Seidler ruhig. Er beteiligt sich nicht an »hectic and purpose-driven actions of the other refugees« (Li 2011, 107), denn er sucht nicht das Entgegenkommen einer wechselhaften Bürokratie, um endlich das Land verlassen zu können. Die, die das tun, sterben. Sie sind Opfer ihrer Zeit. Stattdessen fällt Seidler die Entscheidung, in Frankreich zu bleiben und auf dem Bauernhof eines Bekannten zu arbeiten und, falls nötig, an der Seite des französischen Widerstands zu kämpfen. Damit werde die »flowing nature of things« anerkannt und egoistischen, selbstzerstörerischen »heroischen« Taten eine Absage erteilt (ebd., 110 f.). Schließlich führt Seidlers Entschluss nicht zu handeln zum Bleiben, was wiederum sein Überleben sichert. Das kann als Herausforderung des zerstörerischen Nazi-Regimes gesehen werden. In einer Sammlung von Geschichten, die Seghers 1965 mit dem Titel Die Kraft der Schwachen veröffentlichte, betont die Autorin das Handeln gewöhnlicher Menschen mit bescheidener Stellung und geringer Herkunft. Der Titel der Sammlung bezieht sich auf den Vers im Neuen Testament, in dem Jesus sagt, »denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Korinther, Vers 12). Dadurch verweist Seghers auf diese Botschaft Christi, die gerade in den Machtlosen die Heilsbotschaft verkörpert (vgl. Brandes 2000, 437). Diese Erzählungen von gewöhnlichen Menschen, die keine Verbindungen zu politischen Bewegungen haben, die von sich aus anderen helfen, dienen dazu, Leser an die für revolutionäres Handeln grundlegenden Werte zu erinnern: an »Freundlichkeit, Menschlichkeit und Treue« (ebd., 438). Auf diese Weise bieten die Geschichten einen Gegenpol zu den Taten sozialistischrealistischer Helden und den von Parteifunktionären verbreiteten Mythen, die mit dem stalinistischen Personenkult verbunden sind (ebd., 438).
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Arbeiter und Arbeiterinnen Ursprung und Ziel revolutionärer Hoffnung sind die Solidarität und die Emanzipation des Proletariats. Gleichwohl wurden Arbeiter/innen oder das proletarische Leben in Seghers’ Werk nur selten untersucht. Vor allem nach der deutschen Wiedervereinigung 1989 gab es Bemühungen, Seghers nicht als Sprachrohr der kommunistischen Partei zu lesen (s. Kap. 51). Diese Abwendung der Seghersforschung von einer Beschäftigung mit den offiziellen kommunistischen Diskursen entspricht einer größeren Entwicklung in der Germanistik vor allem in den USA seit den späten 1980er Jahre. Als vorrangige Analysekategorie verlor Klasse (class) ihre Bedeutung (vgl. Schaub 2015, 165 f.). Für Seghers spielt proletarisches Leben eine wichtige Rolle: Von ihren frühesten Erzählungen, die das ›bleierne Dahinleben‹ des Proletariats schildern (Leistner 1980, 391), zu den Romanen über die faschistische Unterdrückung und Vereinnahmung der proletarischen Bewegungen und der Arbeiter/innen Die Gefährten (1932) und Die Rettung bis hin zu Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968), den epischen Werken, die das Leben in einem Stahlwerk der DDR, schildern. Erst in letzterer Zeit im Kontext einer weltweiten immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich wurde das Thema Arbeit aufgegriffen. Erforscht wird, wie Arbeiter/innen eine Quelle für Solidarität sein können, obwohl sie ausgebeutet bleiben. Seghers’ erste Veröffentlichungen, Grubetsch und Die Ziegler (1927) z. B., die die verwahrlosten Zustände des Arbeiterlebens in einem städtischen Umfeld beschreiben, bieten wenig Hoffnung auf Verbesserung des Lebens der Protagonisten. Die Möglichkeiten für eine Veränderung der Zustände beruhen hier auf charismatischen, zerstörerischen Außenseitern (vgl. Schrade 1983, 8). Diese Werke huldigen weder spezifischen Parteianweisungen noch bestimmten politischen Individuen, sondern unterstreichen die Relevanz einer aus einem Kollektiv gebildeten Identität. Seghers’ Beschreibung des Aufstands der Fischer für bessere Arbeitsbedingungen untergräbt die »masculine visions of revolutionary agency that characterized much socialist and communist literature« (Schaub 2015, 167). Diese neue Perspektive wird dadurch erreicht, die Revolte als eine Massenbewegung darzustellen und nicht als ein Projekt, dass von einer politischen Elite geleitet wird (vgl. ebd., 178). Hull, der die Fischer aufwiegelt, ist kein organisierter Anführer, sondern wird als ›unentschlossen‹ und ›konfliktbeladen‹ charakterisiert (vgl. ebd., 176). Die Erzählung
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unterscheidet sich von der Entstehungszeit der Arbeiterliteratur dadurch, dass Frauen sowohl als Lohnarbeiterinnen als auch als Arbeiterinnen in der privaten Sphäre ein entscheidender Anteil an der Bewegung zukommt (vgl. ebd., 184). Obwohl der Aufstand scheitert, zeigt Seghers »how the revolt produced a new collective consciousness and thus a base for future social change« (ebd., 170). Die Rettung behandelt das Problem der Arbeitslosigkeit und zwar aus einer individuellen Perspektive. Der Roman schildert eine Gruppe von Bergarbeitern, die im November 1929 – also während des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft – in einer eingestürzten Mine gefangen sind. In seiner Rezension von 1938 beschreibt Walter Benjamin die zentrale Fragestellung dieses Werkes: Was wird aus der Solidarität, die die Bergarbeiter bilden, um sich in der Mine am Leben zu halten, wenn sie nach ihrer Rettung keine Arbeit haben? Entscheidend ist, dass die Arbeitslosigkeit für die Bergarbeiter einen desorientierenden Zustand markiert, der sie daran hindert, ihre Solidarität weiterhin aufrechtzuerhalten (vgl. Unger 2009, 153). Gleichzeitig führen das Fehlen der Arbeit in der Mine und die daraus entstehenden Mängel dazu, dass Ursula, die Frau des Protagonisten Andreas Bentsch, die Rolle der ›Krisenmanagerin‹ übernimmt, eine Rolle, die ihr Mann vorher in der zusammengestürzten Mine übernommen hatte (vgl. ebd., 158). Seghers zeigt, dass die Arbeitslosigkeit der Männer große Folgen für die Geschlechterrollen hat. Letztendlich hat die ›Rettung‹, auf die sich der Titel bezieht, weder mit der Rettung aus der Mine noch mit der kommunistischen Partei, der einige Arbeiter beigetreten sind, zu tun (vgl. ebd., 164). Die ›Rettung‹, die die Arbeiter brauchen, ist vielmehr eine vor dem Faschismus, der mittlerweile alle Bereiche besetzt hat, in denen die Arbeiter früher ein gemeinsames Miteinander (ihre Solidarität) erlebt hatten. Beispiele dafür sind die Kneipe, die nun von Nazis besucht wird, und die Mine, die unter der neuen nationalsozialistischen Regierung wieder geöffnet worden ist und Arbeit bietet (vgl. ebd., 165). Seghers’ große Romane über die DDR, Die Entscheidung und Das Vertrauen, untersuchen die Rolle der Arbeit im neuen Arbeiterstaat durch die Erfahrungen von Menschen, die am Wiederaufbau eines Stahlwerks in der fiktiven ostdeutschen Stadt Kossin beteiligt sind. In der DDR überwiegend gelobt, wurden die Romane von westdeutschen Rezensenten negativ aufgenommen (vgl. Vilar 2004, 15–22). Marcel Reich-Ranicki z. B. veröffentlichte 1969 einen Verriss von Das Vertrauen, indem er bedauerte, dass Seghers, die Autorin von be-
deutenden Werken wie Das siebte Kreuz und Transit, so eine einfältige, stereotype Geschichte geschrieben habe, die die DDR und Stalin lobt, während sie die Westdeutschen als ehemalige Nazis darstelle (s. Kap. 51). Neuere Untersuchungen von Seghers’ DDR-Romanen weisen nach, wie hier Arbeit bzw. Arbeiter/innen vom Staat instrumentalisiert werden. Die Romane der ›Aufbau-Zeit‹ der DDR entfalten einen Konflikt zwischen dem Bewusstsein der Arbeiter/innen über Können und Wert ihrer Arbeit und den Erwartungen des Staats an die Produktivität der Arbeiter/innen (vgl. Bivens 2018, 75). Die erste Szene in Die Entscheidung, der Moment, in dem ein Parteifunktionär nach Kossin kommt, um anzukündigen, dass das Stahlwerk, ehemals in Privatbesitz, jetzt den Arbeitern gehört, unterstreicht den besonderen Status der DDR als ein Staat, der ein »neue[s] Verhältnis zur Arbeit« herbeiführen wird (E, 11). Dennoch führen die neuen Anforderungen auf erhöhte Produktivität durch Versprechen von Prämien dazu, dass Arbeiter/innen weiterhin von ihrer Arbeit entfremdet bleiben (vgl. Bivens 2018, 75). Der vom Staat angeordnete Produktionswettbewerb verhindert die Möglichkeit einer Entwicklung der Solidarität unter den Arbeitern, obwohl sie nun im Besitz der Produktionsmittel sind. Während Die Entscheidung von den Anfängen des Arbeiterstaats handelt, endet Das Vertrauen mit der Unterdrückung des Arbeiter-Aufstands durch sowjetische Truppen in der DDR am 17. Juni 1953. Bivens sowie Loreto Vilar postulieren, dass dieses Ende Seghers’ Urteil über das Scheitern der Grundprinzipien in der DDR zum Ausdruck bringt. Seghers’ Schilderung vom Tod der Arbeiterin Ella Schanz während des Aufstands symbolisiert die Schwächen der DDR. Ella ist ein treues Mitglied der Partei und ist davon überzeugt, dass sie in einem Leben, in dem sie für das sozialistische Projekt von Nutzen sein kann, Freude und Erfüllung finden wird. Sie nimmt Anteil am Aufstand, jedoch auf der Seite des Staates und nicht auf der der Arbeiter. Der Tod dieser engagierten Frau kann als Kritik am Staat und dessen Praktiken gelesen werden, während Ellas Schwangerschaft als ein Hoffnungszeichen für den sozialistischen Staat gedeutet werden kann (vgl. Vilar 2004, 347 f.).
Erzählstrategien Seghers’ Formen des Erzählens dienen ihrer Selbstverpflichtung, die Geschichten der Ausgegrenzten und der Gesellschaft, in der sie leben und die sie formen,
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sichtbar zu machen. Um Geschichten zu erzählen, die eine soziale Totalität darstellen, die eine kollektive, die Solidarität fördernde Identität anstreben, rekurriert Seghers auf mehrere Erzählstrategien, von der Antike bis zur Moderne. Seghers benutzt weder moderne Topoi eines gequälten Individuums, das mit einer Suche nach dem Selbst beschäftigt ist, noch schreibt sie Bildungsromane, die die innere Entwicklung des Individuums aufzeichnen (vgl. Fehervary 2001, 2). Denn diese Formen reichen nicht aus, um die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft angemessen differenziert zu beschreiben (vgl. Schrade 1993, 48). Um zu betonen, wie Individuen durch ein kommunales Leben geformt und unterstützt werden, benutzte Seghers erzählerische Traditionen, die die Teilnahme einer Gemeinschaft am Geschichtenerzählen widerspiegeln. Zu diesen Traditionen gehören Märchen, Legenden und Geschichten aus der Bibel (vgl. Fehervary 2001, 4). Außerdem verwendet Seghers moderne Techniken wie Montage, um die Gleichzeitigkeit gelebter Erfahrungen in der Moderne zu markieren. Seghers’ Zeitgenossen beachteten ihre Vorliebe für vormoderne Narrative, die nicht allein auf das Individuum gerichtet sind. Siegfried Kracauer (2011) las Die Gefährten als eine zeitgenössische »Märtyrerchronik«. Mit anderen Worten, er verglich Seghers’ Schilderung von Menschen, die in den 1920er und 1930er Jahren in Europa und China ihre Leben riskierten, um eine kommunistische Gesellschaft zu gründen, mit Geschichten gemarterter Heiliger eines katholischen Europas. Wie Märtyrergeschichten, die eine Glaubensgemeinschaft voraussetzen (vgl. Janzen 2018, 54), erzählt Seghers ihre Geschichten von kommunistischen Märtyrern in einer Art und Weise, dass ihre Leser/innen an die Unvermeidlichkeit einer künftigen kommunistischen Weltordnung glauben sollen. Ähnlich sah Walter Benjamin in Seghers’ Roman Die Rettung Bezüge zu »older epic forms, [...] the chronicle or the chapbook« (Fehervary 2001, 150). Diese Formen ermöglichen, Benjamin zufolge, einen Blick auf die Art in der »a [martyr], in Greek: the witness« einem »Volk«, d. h. einer Gemeinschaft von Zuhörern, Geschehnisse berichtet, statt einem einzelnen Leser (ebd., 150). So wie Georg Lukács, der literarturgeschichtliche Modelle als Methode zur Darstellung einer sozialen Totalität benutzt, entwickelt Seghers »ihr eigenes [...] Realitätskonzept anhand historischer Beispiele aus Kunst und Literatur« (Brandes 1992, 8). Jedoch im Gegensatz zu Lukács hat Seghers modernistische Techniken nicht als dekadent abgelehnt, sondern sah in ihnen die Möglichkeit, eine soziale Ganzheit in ih-
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rer Gegenwart darzustellen (vgl. ebd., 8). Moderne Strategien wie Montage und indirekte Rede sowie Bewusstseinsmonologe, die z. B. Aufstand der Fischer von St. Barbara charakterisieren, oder die Kombination von innerem Monolog und Parallelmontage in Das siebte Kreuz veranschaulichen eine »Poetik der Kollektivität«, die es Seghers erlauben, eine Verbindung zwischen der Gruppe und der Einzelperson herzustellen (vgl. Schaub 2015, 167; Brandes 1992, 7 f.). Literatur
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Schaub, Christoph: Aesthetics, Masses, and Gender. Anna Seghers’s ›Revolt of the Fishermen of St. Barbara‹. In: New German Critique 42/1 (2015), 163–188. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart 1993. Teraoka, Arlene: East, West, and Others. The Third World in Postwar German Literature. Lincoln/London 1996. Unger, Thorsten: Narrative der Arbeitslosigkeit in Anna
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Marike Janzen
45 Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen
45 Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen Seghers selbst betrachtete die gegenseitige Beeinflussung von Dichterinnen und Dichtern als eine natürliche Angelegenheit: »Alle Gestalten in der Literatur, in der von Dichtern geschaffenen Welt, haben einen Ursprung – bewußt, halbbewußt, unbewußt – nicht nur in der Wirklichkeit, die den Künstler jeweils umgibt, sondern auch in den Kunstwerken, in den bereits vorhandenen Abbildern vergangener Wirklichkeit. Dadurch helfen Dichter früherer Zeiten den neuen, ihre veränderte, scheinbar vertiefte, erschwerte Umwelt darzustellen, und den Zeitgenossen helfen sie beim Begreifen« (AE1, 205). Das Werk von Anna Seghers steht in vielfältigen Verbindungen zum Schaffen anderer. Das bedeutet, dass Seghers selbst sich in bestimmte Traditionen stellte oder in sie hineingestellt wurde, dass sich andere Künstler/innen von Seghers inspirieren ließen, und dass sie Handlungsstrukturen, Motive, Figuren bzw. Namen aus eigenen Arbeiten in neue Kontexte übernahm.
Selbstgewählte Traditionsbeziehungen Während zahlreiche, mit Lesespuren versehene Bücher in Seghers’ Bibliothek Raum zur Interpretation erlauben (vgl. Bock 2008; Bircken 2008), gab auch die Autorin selbst Auskunft über die sie prägende Lektüre. Anlässlich eines internationalen Schriftstellertreffens in Weimar verwies sie 1965 auf die russische und frühe sowjetische Literatur, an erster Stelle auf Tolstoj, Dostojewskij, Gogol und Puschkin: »Alles zusammen war Revolution, Empörung gegen das Alte und Abgelegte. Alles war rot und heiß vom Großen Oktober« (AE2, 302). Aber auch die sowjetische Gegenwartsliteratur lag ihr am Herzen, wie u. a. aus dem Briefwechsel mit Ilja Ehrenburg, Tamara Motyljowa und Wladimir Steshenski hervorgeht (vgl. Br1, 695, 709, 718). Von den Skandinaviern nennt sie Nexö und Hamsun, von den Amerikanern Dreiser, Lewis, Hemingway und Dos Passos. In Bezug auf die als modern und experimentell empfundene Kompositionsstruktur ihres Romans Das siebte Kreuz wurde wiederholt auf Vorbilder wie Döblins Berlin Alexanderplatz und Dos Passos’ Manhattan Transfer verwiesen; Seghers selbst beruft sich hier auf Manzonis Roman Die Verlobten.
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Von der deutschen Literatur, die sie »erregte«, nennt sie zunächst »die vielfältige junge nach dem ersten Weltkrieg«: Arnold Zweig, Remarque, Brecht, Renn, Becher, Kisch, Weiskopf, dann die »neue Literatur [...], als der Faschismus ihr [...] den Atem nahm« (AE2, 303): Marchwitza, Petersen, Lorbeer, Maria Leitner, und schließlich Bredels Prüfung und Langhoffs Moorsoldaten als Quellentexte für die Darstellung der Konzentrationslager der Nazis. Zu den immer wieder von Seghers genannten Dichter/innen gehören Lessing, Bürger, Goethe, Lenz, Schiller, Hölderlin, E. T. A. Hoffmann, Kleist, Günderode, Heine, Büchner, Fontane, Conrad und Kafka. Besondere Erwähnung finden jene, die an den Unbilden ihrer Zeit zerbrochen sind: »es starb Kleist 1811 durch Selbstmord, es starb Lenz 1792 im Wahnsinn, Hölderlin starb 1843, seit 1804 in Wahnsinn, es starb Bürger 1794 geisteskrank, es starb die Günderode, durch Selbstmord usw. usw.« (Seghers 1974, 174). In ihrer Weimarer Rede von 1965 räumt Seghers auch den französischen Dichtern Stendhal, Balzac, Flaubert und Barbusse, Mallarmé und Aragon einen besonderen Platz ein. Und von großer Bedeutung war für sie von Anfang an die Bibel, deren intensive Lektüre in ihrem gesamten Schaffen aufscheint (vgl. Kuschel 2001). Neben Schriften der Religionsphilosophen Sören Kierkegaard und Martin Buber erwähnt Sigrid Bock auch Bücher in Seghers’ Regalen, die durch blickdichte Umschläge vor den Augen der Besucher verborgen waren, Texte von Kopelew und Solschenizyn sowie Artur Londons L ’aven. Dans l’engrenage du Proces de Prague, »eine bittere Anklageschrift gegen den Stalinismus« (Bock 2008, 15 f.). Darüber hinaus verweist sie auf eine Sammlung von Klassikern, die Netty Reiling und später ihre Kinder geprägt haben: Homers Odyssee, Schwabs Sagen des klassischen Altertums, Bürgers Münchhausen, Defoes Robinson Crusoe, Spyris Heidi, Volkmann-Leanders Träumereien an französischen Kaminen sowie Sagen, Legenden und Märchensammlungen aus aller Welt. Seghers’ Nähe zu Märchen, Mythen, Sagen und Legenden durchzieht ihr gesamtes Schaffen, und ist nicht nur dort zu finden, wo es in Titeln explizit erscheint: Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen; Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen; Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok; Sagen von Artemis: Sagen von Unirdischen (vgl. Bernhardt 2000). »Von den lateinamerikanischen Schriftstellern wusste ich damals rein gar nichts« (AE2, 302), bekann-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_45
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te Seghers 1965, die später Amado und Neruda sehr schätzte. Von Nerudas Poem Der große Gesang übernahm sie »den Glauben an das Irdische« (AE2, 31–35) als Formulierung und weltanschauliche Haltung.
Georg Büchner Seghers’ Weimarer Ansprache (1965) ist ein deutliches Bekenntnis zu den Dichtern des frühen 19. Jahrhunderts: »Doch ich lernte auch viel von Heines Prosa und besonders von Büchner und Kleist. Ihre Werke erschienen mir klar und glatt wie Kieselsteine« (AE2, 303). An Heine liebte sie die Sprache und den rebellischen Geist. Auch ihre Verbundenheit mit Kleist wurzelt »in der menschlichen und poetischen Leidenschaft, in dem angestrengten Bemühen, das berechtigte subjektive Bedürfnis des Individuums nach einem erfüllten Leben rigoros zu entwickeln« (Kessler/Wegner 1976, 299). Seghers’ Affinität zu Büchner, dessen Parteinahme für die Armen und Entrechteten sie teilte, zeigt sich besonders im Frühwerk, strahlt aber auf ihr gesamtes Schaffen aus. Betrachtet man Milieu und Figuration der Erzählung Grubetsch, werden Assoziationen zu Büchners Woyzeck aufgerufen: Zwei Frauen lehnen sich aus dem Fenster, eine von ihnen, Woyzecks Marie, ist fasziniert vom Tambourmajor, die andere Marie, Martins Frau, wird sich mit Grubetsch einlassen und von der ›Heiligen‹ zur ›Hure‹ werden. Eine triebhafte Gier nach Glück treibt sie an, der unbändige Wunsch, Armut und Tristesse zu entkommen. Im Roman Die Rettung heißt dieser Frauentyp Susann Woytschek – wiederum ein deutlicher Verweis auf Büchners Dramenfigur. Verbunden mit Motiven wie ›Eros‹, ›Langeweile‹, ›Sehnsucht‹, ›Einsamkeit‹, ›Angst‹, ›Gewalt‹, ›Tod‹ und ›Nichts‹ (vgl. Ohl 2014/15) verweisen viele Seghers-Erzählungen auf Büchner. Auch spätere Künstler bringen in ihren Adaptionen Seghers mit Büchner in Verbindung. So montiert Heiner Müller in seinem Stück Der Auftrag Elemente aus Büchners Dantons Tod und Seghers’ Das Licht auf dem Galgen, wenn in der Szene »Theater der weißen Revolution« Sasportas und Galloudec die Konfrontation zwischen Robespierre und Danton als Kasperspiel aufführen und sich gegenseitig die Pappköpfe einschlagen (Müller 2002, 24–26). Die Wirtshausmusik aus Alban Bergs Oper Wozzeck klingt in der 9. Sinfonie von Hans Werner Henze/Hans-Ulrich Treichel an, die sich auf Seghers’ Roman Das siebte Kreuz bezieht (vgl. Dümling 2005, 110, 116).
Fjodor Dostojewskij Zu Dostojewskij kam Seghers über ihre Liebe zu Schiller, die sie mit dem russischen Dichter teilte, der u. a. mit den Karamasow-Brüdern auf Franz und Karl Moor in Schillers Drama Die Räuber verweist. Über ihre frühe Wahlverwandtschaft zu beiden Dichtern sagt Seghers: »Schillers Dramen haben auf mich als Schulkind großen Eindruck gemacht, in der Zeit, in der ich begann, das Theater für eine andere Art Wirklichkeit zu halten. Später, als Studentin, als ich meine Umwelt zu begreifen begann, Liebe und Leid und viele Erscheinungen der Gesellschaft, Elend und Hunger und Kämpfe um ein besseres Leben, las ich mit Leidenschaft mehrere Romane von Dostojewskij [...]. Nach Dostojewskijs Romanen stellten wir uns die aufgewühlte Gesellschaft Russlands vor, in der man die Revolution schon grollen hörte [...]. Die Brüder Karamasow haben mich damals unter allen Romanen Dostojewskijs am meisten erregt, vielleicht unter allen Romanen, die ich jemals gelesen habe.« (AE2, 202)
Die mit zahlreichen Anmerkungen versehene Dostojewskij-Erstausgabe in Seghers’ Bibliothek legt nahe, dass dessen »›christlicher Sozialismus‹, der undogmatisch die ›Liebe‹ und die ›Aufmerksamkeit‹ gegenüber ›dem Nächsten‹ fordert [...] das gedankliche Fundament zwischen« beiden Dichtern war (Müller, 2004, 154). Nach Frank Wagner ist Dostojewskij »in seinem tiefen Mitgefühl für die ›Erniedrigten und Beleidigten‹ für die spätere Sozialistin Anna Seghers eine Art Erwecker; für die werdende Schriftstellerin ein unerschrockener, die Abgründe auslotender, die Konflikte scharf erkennender Wegbereiter, der auch sein Erschauern vor dem, was er sah, nicht verbarg« (Wagner 2004, 57). Wagner kommt, wenn er Seghers’ Erzählfragment Der gerechte Richter in diesen Kontext stellt, zu Deutungen, die den auf Walter Janka bezogenen Interpretationsradius weit überschreiten. Für ihn »scheint das Modell Dostojewskij durch. Hier der alte, böse Vertreter der Macht, dort der nicht integrierte, die ursprünglichen Ideale behauptende junge Mann. [...] Dem Einzelnen wird die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Das bedeutet, das eigene Gewissen zum Schweigen zu bringen« (ebd., 64). Bezieht man Seghers’ Dostojewskij-Essays auf ihr Erzählfragment, heißt das: »Die Legende bietet ein Muster für die Gegenwartsgeschichte. Die Hauptfiguren lassen Ähnlichkeiten erkennen. Jedoch sind die Ge-
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wichtungen anders: Dostojewskij betont den Missbrauch der Ideale zu Zwecken der Herrschaft, Seghers die Treue zu den Idealen« (ebd., 67).
Literarische Wahlverwandtschaften und intertextuelle Beziehungen In welcher Weise sich andere Künstler/innen von Seghers’ Erzählkunst und Gesinnung anregen ließen, soll exemplarisch an Bertolt Brecht, Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun und Kerstin Hensel gezeigt werden. Auf Werner Bräunig (Gewöhnliche Leute, 1969), Stefan Schütz (Heloisa und Abaelard, 1978), Christoph Hein (Passage, 1987), Lenka Reinerová (Traumcafé einer Pragerin, 1999), Hans Werner Henze/Hans-Ulrich Treichel (Sinfonie N. 9, 1998), Jan Seghers (alias Matthias Altenburg), der sich nach Anna Seghers benannte, sowie auf Verfilmungen, Hörspielund Bühnenbearbeitungen von Seghers-Texten sei hier nur verwiesen. Außerdem ist die 14. Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft zu nennen, die den intertextuellen Beziehungen gewidmet war (vgl. Argonautenschiff 14/2005). Bertolt Brecht Seghers und Brecht verbindet als Jahrhundert-Gefährten eine intensive Zeitgenossenschaft. Ihre Friedensgeschichten und seine Kalendergeschichten stehen ebenso wie Seghers’ Kurzgeschichte Der Baum des Odysseus und Brechts Gedicht Heimkehr des Odysseus dafür, dass Künstler unabhängig voneinander ähnliche Stoffe aufgriffen und literarisch gestalteten. Das Odysseus-Motiv findet sich auch bei vielen anderen Autoren, die sich mit dem Schicksal des von der Irrfahrt Heimkehrenden identifizierten, u. a. Becher, Fürnberg, Arendt, Kunert, Mickel, Fühmann und Müller (vgl. Bernhardt 1983). Ein gemeinsames Interesse hatten Seghers und Brecht am Jeanne d’Arc-Stoff, aus dem Seghers 1935/36 ein Hörspiel schuf, das man als ihre Antwort auf die Moskauer Schauprozesse lesen kann. Es erlebte in einer Bühnenbearbeitung von Brecht 1952 seine Premiere am Berliner Ensemble, als in Prag der Slánský-Prozeß lief (vgl. Fehervary 1996, 126). Schon vor Seghers hatten Brecht und Elisabeth Hauptmann 1932 mit dem Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe eine moderne Variante des Stoffes geschaffen. Seghers gestaltete mit Jeanne d’Arc auch die Geschichte einer Märtyrerin und knüpfte damit an das Grundmotiv der Gefährten (1932) an, in erster Linie aber ist ihre Jeanne d’Arc »ei-
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ne Widerstandskämpferin, die aus dem Volk stammt und im Volk verankert ist« (Hilzinger 2000, 190). Darüber hinaus betont Seghers den »feministischen Aspekt der Geschichte Jeannes, die Männerkleider anlegt, um dem gewöhnlichen Leben als Tochter, Ehefrau und Mutter zu entkommen« (ebd., 191). Das Sujet ›Frau in Männerkleidern‹ gestaltet Seghers auch in ihrer Erzählung Der sogenannte Rendel (1940), basierend auf der authentischen Geschichte der Maria Einsmann aus Mainz, deren Fall in der Zeit der Weltwirtschaftskrise großes Aufsehen erregte. Zwölf Jahre lang als Mann verkleidet war sie einer Arbeit als Nachtwächter nachgegangen, hatte die Rolle eines Familienvaters übernommen und sich mit einer anderen Frau, der Mutter zweier Kinder, standesamtlich trauen lassen (vgl. Elsner 2011, 144). Interessant ist, wie die Autorin Seghers und der Autor Brecht den Stoff gestalteten. Vergleicht man Seghers’ Der sogenannte Rendel mit Brechts Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen (1933), zeigen sich deutliche Unterschiede in Akzentsetzung, Figurengestaltung und Erzählweise. Während Brecht die sozialökonomischen Verhältnisse fokussiert, die Frau Hausmann veranlassen, die Männerrolle zu übernehmen, macht Seghers die Defizite nacherlebbar, die den Frauen Katharina Rendel und Marie Rölting durch den erzwungenen Geschlechterbzw. Rollentausch entstehen. Die Rendel ist »ein besonderes Weib, eine junge, helle, kräftige Person [...], in ihrer Art unerschöpflich« (WA II/2, 328). Nach dem Tod ihres Mannes »strich sie die letzten Reste von Farbe ab, als gingen Fetzen des alten Katharinengesichtes mit herunter, kam ein neues Gesicht heraus, hart, straff und zweckvoll, kaum mehr das Gesicht einer Frau [...]. Marie, voller Schreck und Bestürzung, aber auch Ergriffenheit, half ihr schon mit, das Haar abzuschneiden, und sie begann, die Kleider des Toten [...] aufzuschütteln« (ebd., 334). Aber als Rendel – in Besitz des Arbeitsplatzes – aus dem Werk nach Hause kam, »jetzt, da sie den ersten, heftigen Ansturm hinter sich hatte [war ihr], als ob ihr etwas Wichtiges fehle [...] auf einmal schlug es über ihr zusammen, wie sie doch allein war, und wie sehr tot der Mann« (ebd., 337). Für eine Nacht versucht sie, auf dem Boot eines Schiffers »das Schwere abzuwerfen und von gewöhnlicher Leichtigkeit zu werden« (ebd., 346), um dann endgültig den Verzicht anzunehmen. Der Unfalltod im Werk offenbart ihre wahre Identität, Arbeitskollegen sind bestürzt und ziehen den Hut vor ihr. Während Seghers’ Erzählperspektive die Hauptfigur nah heranrückt, gibt Brecht der Befindlichkeit
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seiner Protagonistin deutlich weniger Raum. Frau Hausmann zieht sich ungeschickt den Anzug ihres Mannes an, bemüht, »Gang, Sitzen und Essen sowie die Sprechweise eines Mannes einzuüben« (Brecht 1997, 347), und der Erzähler kommentiert, »daß Mut, Körperkraft, Besonnenheit schlechthin von jedem, Mann oder Weib, geliefert werden können, der auf den entsprechenden Erwerb angewiesen ist. In wenigen Tagen wurde die Frau zum Mann, wie der Mann im Laufe der Jahrtausende zum Manne wurde: durch den Produktionsprozeß« (ebd.). Brechts Protagonistin überlebt den Unfall, verlässt das Krankenhaus in Männerkleidern und verschwindet am Ende »im Millionenheer derer, die eines bescheidenen Broterwerbs wegen gezwungen sind, sich ganz oder stückweis oder gegenseitig zum Kauf anzubieten« (ebd., 349). Seghers und Brecht klagen gesellschaftliche Missstände an, beide zeigen, dass eine Frau ›ihren Mann stehen‹ kann, aber nur Seghers macht nacherlebbar, wie schwer dieses Leben der Frau in der Männerverkleidung wird. Heiner Müller Müller verfügte über eine derart souveräne Textkenntnis, dass er, auch wenn er in markierter Intertextualität auf einen Prätext verwies, mehrere Seghers-Texte verarbeitete und auch Versatzstücke aus anderen Kontexten montierte. Explizit bezog er sich auf vier Geschichten aus drei Erzählzyklen: Die Umsiedlerin und Der Traktorist (Friedensgeschichten, 1950) dramatisierte Müller in Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1956/1961) und Die Schlacht/Traktor (1974). Das Duell (Die Kraft der Schwachen, 1965) verarbeitete er in Wolokolamsker Chaussee III (1985). Das Licht auf dem Galgen (Karibische Geschichten, 1961) inspirierte ihn bereits 1958 zu seinem Gedicht Motiv bei A. S., bevor er Seghers’ Erzählung 1979 zur Grundlage seines Dramas Der Auftrag machte. Müllers Bühnenbearbeitungen sind Collagen, seine Umsiedlerin Nieth ist der Anna Nieth in Seghers’ Erzählung nachgebildet, kann aber auch als Fortsetzung der Susann Schüchlin aus dem Kopflohn gesehen werden, die »in Müllers Stück aufrecht, wenn auch zögernd, die Bühne der neuen Zeit betritt« (Fehervary 2003, 136). So betrachtet ergeben sich Verbindungen zwischen der stummen Katrin (Brecht, Mutter Courage), der Bäuerin Susann Schüchlin (Seghers, Der Kopflohn), der Umsiedlerin Nieth (Seghers/Müller) und Ophelia (Müller, Hamletmaschine). Seghers zeigt in der Umsiedlerin, wie sich die gedemütigte Anna Nieth, Kriegswitwe und Mutter zweier Kinder, allmählich ein
menschenwürdiges Leben erkämpft. Müller, der »nach dieser Umsiedlerin greifen [konnte] wie nach einem klassischen Text« (Braun 2001, 25), gestaltet zehn Jahre später in krasser Zuspitzung die Probleme, die durch Bodenreform und Kollektivierung die gesamte Landbevölkerung betreffen. Sein Stück wurde – trotz Seghers’ ausdrücklicher Fürsprache – als »konterrevolutionär« (Müller 1992, 171) abgesetzt und erst 1975 unter dem Titel Die Bauern wieder aufgeführt. In Müllers Montage Schlacht/Traktor wird der Traktorist (bei Seghers Hermann Geschke), dem als Soldat befohlen worden war, Minen zu legen, zum Krüppel und zum Helden, als er nach dem Krieg ein vermintes Feld pflügen muss und ein Bein verliert. In Wolokolamsker Chaussee III setzt Müller Ende der 1980er Jahre Seghers’ Duell fort, indem er nicht nur die Auseinandersetzung zwischen dem Altnazi Winkelfried und dem Antifaschisten Bötcher thematisiert, sondern auch die Konflikte, in die der durch die sozialistische Bildungsreform geförderte Ernst Helwig am 17. Juni 1953 gerät. Dem Sozialdemokraten Geschke aus Seghers’ Roman Die Toten bleiben jung (1949) begegnen wir schon in Müllers Lohndrücker (1958), von Seghers’ Argonautenschiff (1948) ist Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982) inspiriert. Wenn Müller Seghers zu ihrem 80. Geburtstag schrieb, er habe sich viel von ihr genommen, und er könne ihr nichts geben »als diesen gestammelten Ausdruck [s]eines Dankes und [s]einer Bewunderung für ihr großes episches Werk, das länger dauern wird als das Gewölk der Phrasen und das Geschrei der Märkte« (Müller 1996, 11), heißt das auch, er hat den roten Faden der Seghers aufgenommen und das Bewusstsein der Leser für die Tiefendimension ihrer Texte geschärft. Die salopp anmutende Wendung ›sich etwas herausnehmen‹ verweist auf Müllers »Methode, Wirklichkeit, zu der ja auch Dichtungen anderer zählen, als Material zu nutzen« (Opitz 2001, 133 f.). Opitz nennt die Beziehung beider Dichter ein »in den Werken aufgehobenes Gespräch, dessen besondere Kostbarkeit darin gründet, dass die an ihm Beteiligten unterschiedliche Generationserfahrungen in ihren Diskurs einbrachten« (ebd., 140). Müller hat nicht nur Motive, sondern ganze »Themenbereiche, stilistische Vorformulierungen, sprachliche Eigentümlichkeiten, poetische Bilder und ganze szenische Arrangements und epische Konstellationen in seine dramatischen Landschaften übernommen« (Fehervary 1999b, 162). Seghers hatte »entscheidenden Einfluss auf [Müllers] Sprache, seinen Stil, seine Bildlichkeit, seine politische Orientierung sowie die
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›mythische‹ Topographie seiner Werke« (ebd., 160). Über die Textebene hinaus bestehen Verbindungen zur bildenden Kunst, insbesondere zu Rembrandt und Cranach: »Von der ›gotischen Linie‹, die über Brecht und auch Seghers führte, erbte Müller eine Thematik und eine stilistische Haltung, die er selbst ›weiterschreiben‹ konnte« (Fehervary 1999a, 125). Christa Wolf Mit dem Tagebuch Ein Tag im Jahr (2003) knüpft Wolf an Seghers’ Ausflug der toten Mädchen (1946) an, zunächst mit dem Thema Erinnerungsarbeit. So heißt es im Ausflug: »Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute Abend [...] die befohlene Aufgabe machen« (AtM, 151). Das Pflichtbewusstsein, mit dem sich beide Autorinnen ihrer Aufgabe widmen, ist Ausdruck einer besonderen Zeitgenossenschaft, wobei Wolfs besondere Prägung die der Subjektivität und Selbsterkundung ist. Einen indirekten Textbezug in Wolfs Tagebuch, in dem sich mehr als 30 Verweise auf Seghers finden, gibt es im Jahresprotokoll von 1993, dort heißt es: »Ich stehe in der Küchentür, ein Licht fällt herein« (Wolf 2003, 511). Das Licht, das auch in Seghers’ Werken eine große Rolle spielt, beleuchtet bei Wolf einen visionären Moment, in dem sich Familienmitglieder und Gäste an ihrem Küchentisch versammeln, die Autorin »unter ihnen, in wechselnder, alternder Gestalt [...]. Aus vielen Augenpaaren blickten wir über die Zeit hin, einander an. Einige verschlossen sich, unwiderruflich, andere wandten sich ab, in Scham, Fremdheit, Haß, für immer. Neue kamen hinzu, waren willkommen [...] Wie unschuldig wir waren. [...] wie auf nichts gefasst. Verrat an unserem Küchentisch? Wir wollten es nicht glauben« (ebd.). Dem Seghers’schen VerratsMotiv könnte man nachgehen, die ›Im-Stich-Lasser‹ aus Transit kommen in den Sinn. Alles wird – wie in Seghers’ Novelle – im poetischen Zeitraffer gesehen, der Menschen zusammenführt, bei Seghers Schülerinnen und Lehrerinnen auf einem Schulausflug. Freundschaften werden heraufbeschworen und ihr Zugrundegehen betrauert. Ein Ton ist angeschlagen, eine Saite zum Klingen gebracht, und man kann auf verschiedenen Ebenen weiter assoziieren. Allein der Topos ›Küchentisch‹, auch auf Marnets Bauernhof – paradiesisches Pendant zum KZ Westhofen im Roman Das siebte Kreuz – ist es der Ort, an dem Menschen verschiedener Generationen und Weltanschauungen friedlich zusammensitzen: Der Kommunist Franz Marnet, in
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Gedanken mit der Rettung Georg Heislers beschäftigt; die diensteifrigen Brüder Messer, die den Flüchtling ausliefern würden; redliche Bauern, die dem Eifer der jungen SS-Männer mit Spott begegnen, und schließlich die Frauen: Auguste Marnet, die versucht, ihre Familie zusammen zu halten und Tante Anastasia, Schwester bei den Ursulinerinnen, die von allen respektiert wird – wie das alte Fräulein Mees im Ausflug der toten Mädchen, die Lehrerin mit dem mächtigen, unzerstörbaren Kreuz auf dem Busen. Allein in Wolfs Essayband von 1986 finden sich zehn Beiträge zu Seghers. Die dort abgedruckte Hommage – »Sie zaubert. Bezaubert. Wie geht das zu: Zaubern in nüchterner Zeit?« (Wolf 1986, 332) – setzt sie später fort: »Anna Seghers: Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter: Jedem dieser Worte denke man nach« (zit. nach Wagner u. a. 1994, 7). Wie in Seghers’ Reisebegegnung (1973), wo ein Gespräch zwischen Hoffmann, Gogol und Kafka imaginiert wird, treffen in Wolfs Kein Ort. Nirgends (1979) Günderode und Kleist aufeinander. Mit dem Nachdenken über Lebens- und Kunstauffassungen greifen beide Texte kritisch in die kulturpolitische Erbe-Debatte der 1970er Jahre ein. Wolfs Romantiker-Arrangement ist ebenso fiktiv wie das der Barockdichter Dach, Gryphius und Grimmelshausen in Günter Grass’ Novelle Treffen in Teltge (1982) – möglich, dass beide von Seghers inspiriert sind. Seghers’ Reisebegegnung ist eine intertextuelle Fundgrube: Zwanzig Werke der drei Autoren werden erwähnt bzw. ausführlich zitiert, u. a. Hoffmanns Der goldene Topf, Ritter Gluck, Der Sandmann, Gogols Der Mantel, Die Nase, Die Toten Seelen, Kafkas Das Schloss und Der Kübelreiter. Seghers plädiert hier für den freien Umgang des Künstlers mit Raum und Zeit, Phantasie und Traum, Vision und Realität. Wolf nimmt Seghers’ Motiv auf, das schon in deren Briefwechsel mit Georg Lukács (AE1, 70–88) angeklungen war, und führt es weiter bis in die Gegenwart, in der Wolf selbst eine existentielle Krise erlebte. Ihr letzter Roman, Stadt der Engel (2010), ist lesbar »als Jahrhundertbiographie verschiedener Frauen« (Bircken 2010, 352– 355), in die Seghers’ Schicksal eingebettet ist; so ist in Emma unschwer Anna Seghers zu erkennen. In einem Tagtraum erscheint der durch Stasi-Vorwürfe Bedrängten das Gesicht ihrer »Freundin Emma, die ich jetzt gebraucht hätte, aber was sie von mir gefordert hätte, glaubte ich zu wissen: Keine Wirkung zeigen! Das hätte sie gesagt« (Wolf 2010, 187). Ein deutlicher Verweis auf die existentielle Begegnung zwischen beiden Autorinnen nach Wolfs mutigem Auftritt auf dem
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11. Plenum des ZK der SED 1965, als Seghers sie bei einem Gang durch das Museum für ostasiatische Kunst zu beruhigen versuchte (Wolf 2003, 74, 637). Volker Braun In seinem Stück Transit Europa. Der Ausflug der Toten (1984/85; UA 1988) verweist Braun auf Seghers’ Transit und Der Ausflug der toten Mädchen. Für Braun ist Seghers’ Exilroman ein »von mythologischen Motiven gesättigtes Meisterstück [...], rasch, auf der Flucht geschrieben, eine schmerzliche betörende Liebes- und Verlassenheitsgeschichte [...], der rätselhafteste und enthüllendste Text [...]. Unvergesslich ihre bedächtige, ein wenig schleppende Stimme, als sie [...] in der Akademie der Künste jene Passage aus Transit las, in der Seidler zum ersten Mal Marie sieht« (Braun 2001, 25 f.). Der Handlungsverlauf seines Dramas folgt Seghers’ Roman, wird jedoch durch zwei Intermezzi (Der Ausflug der Toten und Das Innerste Afrika) unterbrochen, die auf Texte von Peter Weiss, Walter Benjamin und Arthur Rimbaud rekurrieren und sowohl auf Historisches als auch Aktuelles verweisen. Braun interessiert die bei Seghers »angelegte Modellhaftigkeit des Verhaltens von Menschen in extrem fordernden Übergangssituationen« (Geist 2005, 84). Im stark reduzierten Figurenensemble werden die Namen verfremdet: aus Weidel wird Weiler, aus Seidler Seidel, aus Marie wird Sophie. Wirtin, Doktor und Konsul bleiben namenlos, hinzu kommen Der Schwarze, Der Weiße, Zwei Teerjacken/Staubmäntel/Lehmkittel, Polizist und Jude. Dass die Weiler-Figur mit dem bei Seghers gestalteten Kommunisten Heinz verschmilzt, der sein Bein nicht im Spanischen Bürgerkrieg, sondern bei einem Verkehrsunfall in Paris verloren hat, deutet Peter Geist als »Entmythologisierung der Geschichte des Kommunismus und ihrer Führer« (ebd., 84). Die auf den Untergang der ›Montreal‹ in Seghers’ Transit bezogenen Sätze aus Brauns Drama überspannen in ihrer Hellsichtigkeit globale Phänomene bis zum heutigen Tag: »Sie tanzten auf Deck; sie tanzten schluchzten stampften über die Kontinente. Flüchtlinge und Eroberer, VORWÄRTS MARSCH, AVANTI POPOLO. Die Wahrheit ist: sie sind alle nicht angekommen« (Braun 1992, 107). Kerstin Hensel Kerstin Hensel, eine der ersten Preisträgerinnen des seit 1986 vergebenen Seghers-Preises kann als Beispiel dienen, wie die Autoren-Generation nach Müller,
Wolf und Braun Seghers rezipierte. Im Gespräch mit Eva Kaufmann gab Hensel Einblick in ihre zunächst als fremdbestimmt erlebte Beziehung zu Seghers. Die 1961 Geborene gehört jener Generation an, in deren Schulzeit Seghers’ Werke in der DDR zur Pflichtlektüre zählten. Textauswahl und Art der Vermittlung haben Hensel den Zugang zunächst erschwert. Dass sie dennoch die Dichterin für sich entdeckte, ist jenen frühen Seghers-Erzählungen zu danken, die nicht kanonisiert waren. Hensels Titel UN-Glücke (Hensel 1992, 12) und Die bösen Höfe (Hensel 2001, 27) verweisen auf Seghers’ Erzählung Grubetsch. Ihre Beziehung zu Seghers beschreibt Hensel als ›Wahlverwandtschaft‹, »also: nicht Text und Text treffen aufeinander, sondern Blick und Blick, Haltung und Haltung, Ästhetik und Ästhetik (bei Seghers: das Unsentimentale aber Sensible; der klare Blick, die Hinwendung zum Nicht-Sieger)« (Kaufmann 2005, 92). Im Vergleich zu Christa Wolf differiert »die Art der Wahlverwandtschaft [...]. Entscheidende Unterschiede ergeben sich aus dem historischen Umfeld: Im Falle der jungen Christa Wolf war es das Erlebnis von Faschismus und Krieg und vom hoffnungsvollen Beginn einer Gesellschaft, die die Alternative zu aller vorhergehenden Menschheitsgeschichte sein sollte. Kerstin Hensel [...] wuchs in eben diese Gesellschaft hinein, als die Desillusionierung über sie fortgeschritten war« (ebd., 93). In ihrer Seghers-Affinität orientiert sich Hensel auch an Heiner Müller. Sein Gedicht Motiv bei A. S. paraphrasierend beschreibt sie zum 100. Geburtstag der Dichterin ihre über Jahre gewachsene Beziehung zu ihr (Hensel 2000, 15–19).
Intertextuelle Verweise auf Marienfiguren In Seghers’ gesamtem Schaffen ist ein gehäuftes Auftreten von Figuren namens Marie, Anna und Katharina zu verzeichnen. Bircken stellt diese Vorliebe in familiäre, kunstgeschichtliche, religiöse, kulturelle und gesellschaftspolitische Kontexte und sieht in Seghers’ Umgang mit den Marienfiguren sowohl Submissives (Unterwürfiges) als auch Subversives (Umstürzlerisches) eingeschrieben (vgl. Bircken 1996, 151). Ihr schöpferischer Impuls, Marie und Anna in immer neuen Konstellationen durchzuspielen – und dabei die eigene Identität zu erkunden –, knüpft an Darstellungen aus der bildenden Kunst an, die sich dem Bildgedächtnis der jungen Netty Reiling eingeprägt haben, und grenzt sich zugleich vom Frauenbild vergangener Jahrhunderte ab. Die gegensätzliche Charakterisie-
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rung namensgleicher Figuren im Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) – Marie, die Hure und Marie, die Frau des Fischers Kedennek – zeigt, »dass die Frauen zu ihren Namen nicht durch stereotype Bezeichnungen kommen, sondern dass damit im weiteren Sinne ein kultureller, im engeren Sinne ein religiöser Topos aufgerufen ist« (ebd., 137). Mit Marie Kedennek – und später auch Susann Schüchlin im Kopflohn (1933) – werden ausgemergelte, hochschwangere Frauen dargestellt, die ihre Kinder wie die heilige Maria in ärmsten Verhältnissen gebären. In Seghers’ Texten erfolgt ein Bruch, eine Verfremdung des christlichen Mythos: Das Kind von Marie Kedennek stirbt wenige Tage nach Weihnachten, Susann Schüchlin gebiert ihren Sohn und begeht Selbstmord. Der Abstand zur biblischen Heilsgeschichte könnte größer nicht sein. Diese Frauenfiguren erinnern an Radierungen von Käthe Kollwitz, die sich wie Seghers von den Ausdrucksmitteln des Symbolismus trennte und zu einem expressiven Realismus der Darstellung gelangte. Anna, Marie und Katharina in Grubetsch (1927) sind säkularisierte, in das ›Dickicht der Städte‹ verschlagene Frauen, die in größtmöglichem Kontrast zu ihren biblischen Vorgängerinnen stehen. Von Anna, die neben der üppigen Marie nach Grubetsch Ausschau hält, heißt es: »Diese Jüngere war von beinah wunderbarer Magerkeit. [...] ein ganz klägliches, zerschlissenes Ding« (Gr, 11). In der Erzählung Die Ziegler (1927/28) wird die Konstellation umgekehrt, aber weder die demütig-aufopferungsvolle Marie noch die erotisch-strahlende Anna entkommen ihrem Milieu. Schon in Jans muss sterben (1925) treffen wir – wie in Grubetsch – eine Marie an, der ihr Mann Martin zu wenig ist; nach dem Verlust ihres Sohnes Jans liegen alle Hoffnungen auf dem zweitgeborenen Kind namens Anna. Von der Hure Marie im Aufstand der Fischer von St. Barbara wird gesagt: »Jetzt brachte sie zurück in das heimatliche Dorf ihren mageren, von den Fäusten der Matrosen ausgepreßten Körper, deren Liebe nicht einmal ausgereicht hatte, um Armbänder an ihre braunen, grätendürren Arme zu ziehen« (AtM, 6). Während in Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft (1930) eine aus männlicher Sicht ›aufreizende‹ Marie am Rande des Demonstrationszuges erwähnt wird, begegnet uns in Marie geht in die Versammlung (1932) eine Frau, die sich bewusst entscheidet, ihre eigenen Kinder für diesen Abend der Obhut ihres Ältesten zu überlassen, um sich kämpferisch für eine bessere Zukunft aller Kinder einzusetzen. In Überfahrt (1971) spielt Seghers durch, wie sich Volksfrömmigkeit und Liebesverlangen in der Wahl
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des Namens Marie verbinden. Die Beziehung zwischen der Brasilianerin Maria-Luisa und dem Exilanten Ernst Triebel, der nach Deutschland bzw. in die DDR zurückkehrt, scheitert an der Spaltung der Welt in zwei politische Systeme (vgl. Bircken 1996, 141). Den Um- und Neudeutungen der Seghers’schen Marienfiguren – Marie als Heilige und Hure, Ehefrau und Mutter, Liebende und Kämpfende – widmet sich Malgorzata Dubdrowska, die Seghers Figurendarstellung in eine »für viele Künstler des 20. Jahrhunderts typische ›Säkularisierung‹ des Marienbildes« einordnet (vgl. Dubrowska 2009, 111).
Das siebte Kreuz Eine Fülle von Beziehungen gehen von Seghers’ Roman Das siebte Kreuz aus, zunächst die von der Autorin selbst gestifteten. Neben zahlreichen Märchen- und Sagenmotiven (vgl. Fischer 1993, 132–147) nimmt sie Figuren aus eigenen Werken wieder auf und führt sie weiter. So durchläuft Zillich, dem wir in drei Texten begegnen, eine verhängnisvolle Entwicklung vom verschuldeten Bauern, der im Sommer 1932 zur SA ging (Der Kopflohn, 1933), zum gewissenlosen Mörder im KZ (Das siebte Kreuz, 1939, 1942/43), der sich nach Kriegsende seiner Strafe zu entziehen versucht (Das Ende, 1945). Auch in zwei weiteren Nachkriegserzählungen werden Fäden aus dem Siebten Kreuz aufgenommen: In Die Saboteure (1946) treffen wir die Arbeiter Marnet, Schulz und Bohland sowie den Ingenieur Kreß als aktive Widerstandskämpfer in der Munitionsfabrik Griesheim wieder. Im Zentrum der Prosaskizze Vierzig Jahre der Margarete Wolf (1958), die parallel zur Entscheidung (1959) entstand, steht die Schwester von Ernst Wallau, die eine positive Bilanz der kommunistischen Bewegung zieht, für die ihr Bruder sein Leben geopfert hat (vgl. Elsner 1999, 126). Auch die Romane Das Siebte Kreuz und Transit weisen strukturelle Ähnlichkeiten bis in die Figurengestaltung auf. So überrascht es nicht, dass Christian Petzold in seiner Transit-Verfilmung (2018) dem in Seghers’ Roman namenlosen Erzähler den Namen Georg gibt – liegt es doch nahe, in seinem Schicksal die Fortsetzung des aus dem KZ entflohenen Georg Heisler zu sehen. Dass mehrere Figuren im Siebten Kreuz den Vornamen Georg tragen – davon einer, der mit Heisler verwechselt und zusammengeschlagen, und ein anderer, der gerettet wird – liest sich wiederum wie eine Hommage an den von Seghers von früher Jugend an verehrten Georg Büchner.
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V Themen und Kontexte
Literatur
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Geist, Peter: »Transit Europa. Der Ausflug der Toten«. Seghers’ Antizipation geschichtlicher Sackgassen – neu befragt durch Volker Braun. In: Argonautenschiff 14 (2005), 78–91. Hensel, Kerstin: UN-Glücke. In: Argonautenschiff 1 (1992), 12–13. Hensel, Kerstin: Die Reiche der Welt. Zu Anna Seghers’ 100. Geburtstag. In: Argonautenschiff 9 (2000), 15–19. Hensel, Kerstin: Die bösen Höfe. In: Argonautenschiff 10 (2001), 27–29. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Kaufmann, Eva: Im Gespräch mit Kerstin Hensel. In: Argonautenschiff 14 (2005), 92–100. Kessler, Peter/Wegner, Irene: Ethos und epische Welt: Anna Seghers. In: Schriftsteller und literarisches Erbe. Zum Traditionsverhältnis sozialistischer Autoren. Berlin/Weimar 1976, 284–355. Kuschel, Karl-Joseph: Das leer gebliebene Kreuz – zur Funktion jüdisch-christlicher Motive im Werk von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 10 (2001), 108–128. Müller, Heiner: Zum 80. Geburtstag von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 5 (1996), 11. Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Köln 1992. Müller, Heiner: Die Stücke 3. Frankfurt a. M. 2002. Müller, Siri Anja: Überzeugungen und Gewissen. Betrachtungen über Anna Seghers’ Dostojewskij-Lektüre. In: Argonautenschiff 13 (2004), 146–155. Ohl, Hans Willi: »... klar und glatt wie Kieselsteine«. Der Einfluss von Georg Büchner auf die frühen Erzählungen von Anna Seghers (1924–1932). In: Argonautenschiff 23 (2014/2015), 159–170. Opitz, Antonia: Der Abschied des erfindungsreichen H. M. von der klugen Penelope. In: Alfred Klein/Roland Opitz/ Klaus Petzold (Hg.): Anna Seghers im Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Leipzig 2001, 133–140. Seghers, Anna: Glauben an Irdisches. Essays. Leipzig 1974. Stephan, Alexander: Anna Seghers. ›Das siebte Kreuz‹. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin 1997. Wagner, Frank/Emmerich, Ursula/Radvanyi, Ruth (Hg.): Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. Berlin 1994. Wagner, Frank: Anna Seghers’ Aufsatz zu Dostojewskijs ›Großinquisitor‹ und ihr Erzählungsentwurf ›Der gerechte Richter‹. Gewissensfragen im Sozialismus. In: Argonautenschiff 13 (2004), 57–69. Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Aufsätze, Essays, Gespräche, Reden. Berlin 1986. Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr, 1960–2000. München 2003. Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Berlin 2010.
Ursula Elsner
46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren
46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren Anna Seghers er- und durchlebte innerhalb von sieben Jahrzehnten mehrere politische und soziale Zeitenwechsel vom Wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer Republik und das NS-System bis zur Nachkriegszeit und dem einsetzenden Kalten Krieg sowie die nach 1949 gegründete DDR. In der Weimarer Republik und den beginnenden 1930er Jahren führte sie in Deutschland das Leben einer modernen Frau: Sie lebte mit einem Mann, der häufig abwesend war, war Mutter zweier Kinder (Peter, geb. 1926; Ruth, geb. 1928) sowie gefeierte Autorin und Publizistin. Mit Hilfe der Kinderfrau, Gaya, die sie vor allem dann unterstützte, wenn sie an ihren Texten schrieb und auf Reisen war, sicherte sie sich ihre Unabhängigkeit als berufstätige Frau und Mutter. Das alles gelang ihr in einer nach wie vor patriarchal geprägten Gesellschaft, in der die alten Rollenmuster Bestand hatten, wo sich aber bereits Veränderungen abzeichneten. So galt sie sowohl in der KPD als auch im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, dem sie seit 1929 angehörte, als »Ausnahmefrau« (Zehl-Romero 1993, 37). Sie war somit eine »besonders attraktive Repräsentantin« (ebd., 38) von Partei und Bund, die sie gern auf Reisen schickten, so 1929 nach London auf Einladung des P. E. N. und 1930 zur Konferenz proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nach Charkow. Vor diesem Hintergrund zwischen Erneuerung und dem Festhalten an Bestehendem sind die in ihren Erzählungen und Romanen entwickelten Geschlechterverhältnisse, insbesondere die Gestaltung ihrer Frauenfiguren zu lesen und zu interpretieren. In der feministischen Kritik ist der Autorin wieder und wieder vorgeworfen worden, dass sie eine überwiegend männliche Welt darstellt und dass die Frauenfiguren den männlichen Protagonisten untergeordnet sind (vgl. Swaffar/Wilkinson 1995, 460, 462). Bereits in der zeitgenössischen Kritik wurde die Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara als männlich »aufgrund des spröden, harten Stils der Erzählung« (Hilzinger 2000, 28 f.) beschrieben. Grundlage dieser Einschätzung war es wohl auch, dass die Autorin diesen Text unter dem Pseudonym Seghers – ohne Verwendung des Vornamens Anna – veröffentlicht hat. Diese Auseinandersetzung um die Frau und Autorin Seghers setzte sich bis in die DDR fort. Als Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR (1952–1978) stand
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sie in der Kritik, dass sie in Zeiten der Kultur- und Literaturfeindlichkeit zu zögerlich gewesen sei, ihre Stimme für die Freiheit des Wortes und des Einzelnen zu erheben (vgl. Janka 1989, 386; Reich-Ranicki 1994). Die amerikanischen Germanistinnen Janet Swaffar und Eileen Wilkinson gehen dagegen von einer auch in der DDR männlich geprägten Gesellschaft aus, die enge Grenzen setzte (Swaffar/Wilkinson 1995, 458). Gleichermaßen ist die von Seghers eingenommene und gelebte Vorbildrolle vor allem für die Generation, die in der Nachkriegszeit sozialisiert wurde – wie etwa Christa Wolf –, zu betonen (vgl. Brandes 1992, 11). Bedingt durch das Leben in hierarchisch strukturierten Gesellschaftsformen und im Beharren auf ihre politische Haltung hat sich Seghers bis auf wenige Ausnahmen in ihren politisch-sozialen und kulturellästhetischen Schriften, Essays und Briefen nicht zu Geschlechterverhältnissen und Lebensbedingungen von Frauen und Männern positioniert. Als Ausnahmen gelten lediglich Briefe sowie die kleine Schrift »Frauen und Kinder in der Emigration« (Seghers/ Herzfelde 1985, 112–126), in denen sie auf differenzierte Lebens- und Arbeitsmuster von Frauen und Männern eingeht (s. Kap. 1). Ihre Frauengestalten sind noch nicht aktiv in die Geschichte eingetreten (vgl. Hilzinger 2000, 83). Das heißt, dass Seghers diese weiterhin in eine traditionell binäre Geschlechterordnung hineinstellt. Den Männern als den Rationalen und Wissenden wird der Außenraum des individuellen und kollektiven Kampfes gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung zugewiesen. Die Frauen als die Suchenden, Häuslichen und Unterstützenden werden vielfach im Sinne der aufklärerischen Philosophie von Rousseau als Naturwesen vorgestellt. Die sich im 18. Jahrhundert herausgebildeten Geschlechtscharaktere haben sich tief in das kulturelle Gedächtnis der europäischen Zivilisation eingegraben und gelten somit auch als eine Voraussetzung für das Schreiben von Seghers. Der Blick auf das Gesamtwerk der Autorin zeigt, dass viele ihrer Figuren die Namen von christlichen Heiligen tragen und damit eine »bestimmte Ikonographie tradieren« (Hilzinger 2000, 30). Außerdem wird deutlich, dass Seghers sowohl in der jüdischen als auch der christlichen Tradition fest verankert ist und dieses Wissen ihrer Leser/innen voraussetzen konnte. Mit einer Namenswahl, die im untrennbaren Zusammenhang mit der Identität der Figuren steht, hat sie eine »Typologie weiblicher Lebens- und Verhaltensmuster« (ebd.) entworfen, die jedoch nicht statisch bleibt, sondern erweiter- und modifizierbar ist.
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_46
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Den Gedanken der Autorin folgend, dass die Erlebnisse und Anschauungen eines Autors am klarsten aus seinem Werk erschlossen werden sollen und dieser durch und in seinen Texten erkannt werden will (s. Kap. 1), werden zwei Erzählungen sowie fünf Romane der Exil- und Nachkriegszeit im Hinblick auf die Gestaltung der Frauenfiguren und deren Gemeinsamkeiten und Veränderungen sowie der Ideen der Autorin untersucht.
Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) Seghers schildert in dieser Novelle einen Aufstand, der als Protest gegen die neuen Tarife der ohnehin schon armen Fischer zu verstehen ist. Obwohl dieser Aufstand letztlich scheitert, strahlt die Erzählung an vielen Stellen Hoffnung aus. Der Text vermittelt eine Erwartung im messianischen Sinn, denn er spiegelt die messianischen Bewegungen von Jesus Christus und seinen Jüngern im ersten Jahrhundert (vgl. Fehervary 2001, 104) wider. Johann Hull – »der Fremde von draußen, der Gast« (AdF, 54) –, der zu der Insel St. Barbara kommt, um die Fischer zum Aufstand anzuspornen, ist der charismatische Einzelgänger, der sich durch Strenge und Illusionslosigkeit auszeichnet (vgl. Zehl Romero 1993, 31). Die drei zentralen Frauenfiguren in dieser Erzählung sind unterschiedlich gestaltet und können nicht ohne weiteres als hoffnungsvoll oder optimistisch beschrieben werden. So verkörpert die praktisch orientierte, aber verbitterte und deprimierte Frau Keddenek, deren Mann der Gewalt des Aufstandes zum Opfer fällt, das schwere und harte Leben einer Fischersfrau zur Zeit der Hungersnot. Ihr Charakter und ihre Handlungsgründe bleiben den Leser/innen weitestgehend verborgen. Stattdessen vermittelt sie einen Einblick in das Leben einer – im mehrfachen Sinne – notleidenden Person: Mit der Gestaltung dieser Figur wird einerseits die Not der unterdrückten Fischer evoziert und andererseits die doppelte Unterdrückung einer Frau, die ohne Mann dem Alltag standzuhalten hat. Die nächste unter den Frauen in Aufstand der Fischer ist die Prostituierte Marie, die von verschiedenen Männern im Laufe der Geschichte extrem misshandelt und die gegen Ende der Erzählung aus Rache für ihre Beteiligung am Aufstand von Soldaten vergewaltigt und ermordet wird. In der Figurenanalyse der Marie ist die Nähe zur moralisch positiven Figur Sonja in Dostojewskijs Roman Verbrechen und Strafe (1866) zu sehen (vgl. Fehervary 2001, 108), die einen Alkoholiker zum
Vater hat und schon als Teenager Prostituierte wird, um ihre Familie zu unterstützen. Marie wird in der Erzählung durch ihr gelbes Tuch gekennzeichnet, das sie bis zum bitteren Ende immer bei sich trägt. Aus einem ihr selbst nicht verständlichen Grund bedeutet das Tuch ihr mehr als alles andere. Während der Vergewaltigung hatte Marie, wie der Erzähler es beschreibt, »auf dieses Tuch eine verrückte Hoffnung gesetzt« (AdF, 87). Ihr Wunsch nach einem besseren Leben kommt auch zum Ausdruck als sie im Sterben liegt; hier fungiert das gelbe Tuch als ein Zeichen konventioneller Weiblichkeit, denn es wird gesagt, sie halte es »an sich gedrückt, wie eine Mutter ihr Kind« (ebd.). Die positivste Frauenfigur in der großen Erzählung ist die Nachbarin der Keddeneks, Katarina Nehr, auf die Frau Keddenek wegen ihres jungen Aussehens neidisch ist, und »die wie Lazarus’ und Marthas Schwester Maria im Laufe des Aufstands immer neugieriger und mutiger wird« (Spies WA I/1.1, 124). Tatsächlich steht Katarina bei der letzten Begegnung mit den Soldaten beim gescheiterten Aufstand in vorderster Reihe: Wie ein Zeichen der helleren Zukunft zeigt sie ihr »junges, weißes, neugieriges Gesicht« (AdF, 88). Sogar nach der Verhaftung ihres Mannes hat Katarina beharrlich ihr Leben weitergeführt und wurde vom vorsichtigen Optimismus der anderen Frauen angesteckt, als sie sich deswegen schämt, »soviel Aufhebens aus einer Sache gemacht zu haben, die kurz nachher noch vielen anderen Frauen passiert war, überdies rechneten sie damit, ihre Männer über kurz oder lang zurückzuhaben« (AdF, 61). Trotz des Hungers und der Armut verspürt Katarina kein Selbstmitleid, sondern bleibt stets mutig und gibt ihre Hoffnung nie auf.
Der Ausflug der toten Mädchen (1946) Diese autobiographische Novelle, die Seghers nach einem schweren Unfall im mexikanischen Exil schrieb, basiert auf realen Personen aus dem früheren Leben der Autorin. Wie im Traum erinnert sich die Erzählerin Netty (Seghers’ Vorname) an einen Klassenausflug vor dem Ersten Weltkrieg. Sie sieht die Ereignisse dieses Tages noch vor sich und beschreibt sie, als ob sie gegenwärtig wären, mit einem Kommentar, der einem filmischen Voice-Over ähnelt (vgl. Beicken 2018, 25). Eine weitere Zeitebene der Erzählung ist die Vorhersage der meist tragischen Schicksale, die die am Ausflug teilnehmenden Personen während der NS-Diktatur erleiden werden. Die Erzählweise des Werkes ist komplex und vielschichtig und die Charakterbeschreibungen
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scheinen oft widersprüchlich, weil die Unschuld der Jugend mit den späteren Sünden oder sogar Verbrechen kontrastiert wird. Unter der Vielzahl von Charakteren in der Novelle sind mehrere Mädchen, die in der Nazizeit entweder zu Tätern oder aber auch zu Opfern werden und die – dem Titel entsprechend – später als Folge des Krieges auf verschiedene Arten sterben. Es ist offensichtlich, dass Seghers beim Schreiben dieser Novelle ihr persönliches Trauma zu verarbeiten versuchte, welches sie erlitt, als sie vom Tod ihrer Mutter im Holocaust erfuhr. Auf der einen Seite stehen die jüdischen Figuren wie Leni und die Lehrerin Fräulein Sichel, die zur Zeit des Ausflugs von allen geliebt, die aber Jahrzehnte später von manchen ehemaligen Mitschülerinnen verachtet und letztendlich ins KZ gebracht werden. Auf der anderen Seite gibt es Charaktere wie Marianne oder Nora, die später zu Mitgliedern oder Sympathisantinnen der NSDAP wurden, obwohl sie als Kinder sehr freundlich und fröhlich waren und damals noch keine solch boshaften Seiten von sich zeigten. Indem sie die verschiedenen Lebensphasen der Mädchen miteinander vergleicht, deutet Seghers darauf hin, dass der Mensch von keiner apriorischen Gutoder Bosheit ist, sondern von seinen Lebensumständen und Erfahrungen beeinflusst wird. So behauptet die Erzählerin, dass Marianne sich im Dritten Reich vermutlich dazu entschieden hätte, ihrer ehemaligen besten Schulfreundin Leni und deren Kind bei der Flucht zu helfen, wenn Mariannes tugendhafter Verlobter Otto Fresenius nicht schon im Ersten Weltkrieg gefallen wäre. Obwohl nach diesem Verständnis vom Schicksal der Zufall eine große Rolle spielt, ist diese Sichtweise – entgegen aller Erwartungen – eher als optimistisch denn als pessimistisch zu verstehen. Sie deutet nämlich auf die angeborene Veränderlichkeit des Menschen hin, aus der sich schließen lässt, dass eine Veränderung vom Bösen hin zum Guten unter den richtigen Umständen durchaus möglich ist. Es kommen weitere Figuren im Text vor, die in den 1930er Jahren Selbstmord begehen, weil sie nicht mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zurechtkommen, zum Beispiel die fürsorgliche Gerda, die den Gashahn aufdreht, um zu sterben, nachdem ihr Mann aus Angst vor der Kündigung seiner Arbeitsstelle die Hakenkreuzfahne aus dem Fenster gehängt hatte. Für alle Mädchen in der Erzählung werden die Hoffnungen und Erwartungen der Jugend mit der Zeit vollends zerstört – eine ausweglose Wirklichkeit, die in starkem Kontrast zu ihren einst zuversichtlichen Zukunftsträumen steht. Trotzdem bietet die Geschichte am En-
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de einen Hoffnungsschimmer, als die Erzählerin sich darauf freut, am nächsten Tag über die Erlebnisse des Ausflugtages zu schreiben und endlich die Aufgabe ihrer Lieblingslehrerin zu erledigen. Diese letzte Szene der Erzählung, die wegen der Unerreichbarkeit ihrer Mutter auf der Treppe die Leser/innen fesselt, stellt ein wiederkehrendes Thema von Seghers in den Vordergrund: das Schreiben als Überlebensstrategie in Krisenzeiten, wie es in anderen Texten des Exilwerks zu finden ist (s. Kap. 1).
Das siebte Kreuz (1942) In diesem Roman stellt Seghers erneut einige starke Frauenfiguren dar, die in Zeiten extremer Belastung mutig agieren und – manchmal ohne es überhaupt zu wissen – das Überleben der Hauptfigur Georg Heisler ermöglichen. Georg ist auf der Flucht, nachdem er aus dem Konzentrationslager Westhofen entkommen war. Unterwegs trifft er auf verschiedene Menschen aus seiner Vergangenheit. Doch während ihm von manchen geholfen wird, verweigern ihm andere jegliche Hilfe. Bernhard Spies erläutert, wie Georgs Geschichte – genau wie Fluchtgeschichten überhaupt – von Momenten der Entscheidung geprägt ist: »Auf dem Weg, den der Flüchtige nimmt, werden Dritte in den Gegensatz verwickelt und müssen sich entscheiden, wie sie sich zu ihm verhalten wollen« (Spies WA I/4, 474). Unter diesen Dritten sind einige Frauen, deren Entscheidungen nicht sofort erkennbar sind. Diese Frauen werden nicht alle positiv beschrieben, z. B. Leni, die Georg einmal geliebt hatte und die in der Nazizeit zur Mitläuferin wird. Andererseits lernen wir starke, mutige Frauen wie Elli Mettenheimer kennen, die Georg liebt, aber von ihm verlassen worden ist, nachdem sie schwanger wurde. Nach einer langen, vergeblichen Wartezeit auf Georg konzentriert sich Elli endlich wieder auf ihr eigenes Leben. Von ihrer Mutter hatte sie zwei Ratschläge erhalten: »Die Zeit heilt alles« und »Alle Eisen glühen aus« (SK, 128 und 134); sie sieht deshalb auch im Unglück immer das Gute und handelt nach der Devise »Jetzt erst recht«, um ihre inneren Unsicherheiten zu überwinden (SK, 182 f.). Trotz allem verrät Elli Georg nicht, selbst als ihr klar wird, dass ihre Verbindung zu Georg sie in Gefahr bringen könnte. Sie wird als loyal beschrieben. Am wichtigsten unter den Frauenfiguren für Georg Heislers Schicksal sind Gerda Kress, die in den letzten Tagen vor seiner Flucht gut für Georg sorgt, und Liesel Röder, die gemeinsam mit ihrem Mann Paul ebenfalls
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dabei hilft, Georgs Flucht aus Nazi-Deutschland endlich zu ermöglichen. Liesel wird als borniert und egozentrisch dargestellt, während ihr Mann Paul Röder unpolitisch erscheint und bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Widerstandsbewegung aktiv war. Auf eine unaufdringlich zuversichtliche Weise zeigt Seghers jedoch auf, dass sich auch vermeintlich teilnahmslose Menschen in Krisenzeiten rechtzeitig ändern und den Tatsachen ins Auge sehen können. Liesel ist ein Beispiel für die schon erwähnte Wandlungsfähigkeit des Menschen, an der Seghers festhielt. Liesel Röder ist anfangs nur um ihre eigene Sicherheit besorgt und als Paul von der Gestapo über Georgs Aufenthaltsort verhört wird, fragt sie sich: »Wenn er gesteht, kann er dann heimgehen? Kann er dann einfach sofort heimgehen? Kann dann alles so sein wie es vorher war?« (SK, 390). Dann aber durchlebt sie einen Sinneswandel, als ihr plötzlich klar wird – so klar, wie ihr bislang noch nie etwas war –, dass sie so nicht weitermachen kann, sondern ihre Einstellung grundlegend überdenken muss. Verrat war keine Lösung, und sowieso würde nichts je wieder so sein wie zuvor: »Liesel stockte in ihren Gedanken. Auch ihre Tränen stockten. Eine Ahnung fiel auf ihr Herz, da selbst das Weiterdenken verboten war. Nichts könnte mehr wie vorher sein« (SK, 391). An Stellen wie dieser betont der Roman das Widerstandspotential, das in jedem Menschen steckt (vgl. Spies WA I/4, 461). Die Frauenfiguren des Romans sind kontrastierend angelegt. Dies zeigt sich besonders gut im Bild von den zwei »alte[n] Fräuleins« auf dem Mainzer Markt, als Georg wie ein Bettler vor dem Dom steht: »Die eine drückte ihm mit Gewalt fünf Pfennige in die Hand, die andere schimpfte: ›Du weißt doch, dass das verboten ist.‹« (SK, 99). Solche kleinen oder großen, oft von den weiblichen Figuren ausgeübten Gesten der Solidarität und der Fürsorge verdeutlichen, dass Seghers in ihren Werken eine generelle Hoffnung auf bessere Zeiten, auf den Sieg der Gerechtigkeit und einen zuversichtlichen Blick auf die Zukunft der Menschheit zum Ausdruck bringt. Dabei kommt Frauen eine wichtige Rolle zu.
Transit (1944; 1948) In dem im Jahr 2018 verfilmten Exilroman Transit schildert Seghers die Exilsituation in Marseilles, wo zahlreiche Flüchtende auf Ausreisedokumente warteten, da sich die bürokratischen Prozeduren sehr lange hinziehen. Die Figur Marie sucht vergeblich nach ihrem Mann, dem deutschen Schriftsteller Weidel. Diese Situation spielt auf den Tod des Schriftstellers Ernst
Weiß an, der sich in Paris das Leben genommen hatte, als die Deutschen die Stadt besetzten. Marie kann nicht wissen, dass Weidel tot ist, und auch wenn sie verzweifelt ist, gibt sie die Suche niemals auf. Bis zum Ende hält sie an der Hoffnung fest, dass sie ihren Mann im Durcheinander dieser Stadt voller Exilanten endlich finden wird. Sogar nachdem er hört, dass Maries Schiff zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist, erwähnt der Ich-Erzähler des Romans die nicht endende Suche Maries in den letzten Zeilen des Textes, so als könne er sie noch vor sich sehen: »Sie läuft noch immer die Straßen der Stadt ab, die Plätze und Treppen, Hotels und Cafés und Konsulate auf der Suche nach ihrem Liebsten. Sie sucht rastlos nicht nur in dieser Stadt, sondern in allen Städten Europas, die ich kenne, selbst in den phantastischen Städten fremder Erdteile, die mir unbekannt geblieben sind. Ich werde eher des Wartens müde, als sie des Suchens nach dem unauffindbaren Toten.« (Tr, 280)
Den Leser/innen von Transit wird durch die Beharrlichkeit der Figur nicht nur die Verzweiflung der Lage im Exil zu dieser schrecklichen Zeit bewusst, sondern auch der Drang danach, immer weiter zu machen und niemals aufzugeben. Maries Geschichte endet nicht glücklich, aber als quasi-mythische Figur verkörpert sie einen gewissen Optimismus. In dieser Überhöhung steht ihr Schicksal für das all der Frauen, die den Widrigkeiten des Lebens standhalten und auch unter unvorstellbaren Umständen nicht aufgeben. Die Nebenfigur der Nadine verkörpert einen ganz anderen Flüchtlingstypus als den der Marie. Das Verhältnis zwischen ihr und Weidel unterliegt wechselvollen Zuständen. Es schwankt zwischen Verliebtsein und Überdrüssigkeit, Sympathie und Antipathie. Das hat Folgen für die Erzählstrategie. Der Erzähler ruft Nadine beliebig oft auf und lässt sie wieder verschwinden. Sie wird als eine anziehende und reizvolle Person beschrieben, in die sich der französische Legionär schnell verliebt. Nadine verkauft Hüte in dem Geschäft Les Dames und ist »spöttisch höflich« zu den Kundinnen (Tr, 250). Sie weiß aber sehr gut, wann etwas ernst zu nehmen ist, z. B. wenn es bei einer Angelegenheit um Leben und Tod geht. Nadine hat enge Verbindungen zum französischen Widerstand und daher bringt sie Seidler mit ihrer Cousine Rosalie in Kontakt. Nach anfänglichem Zögern sagt Rosalie letztlich zu, Seidler mit seinem Exitvisum zu helfen – allerdings erst, nachdem sie erfährt, dass er aus einem deutschen Lager geflohen ist (vgl. Tr, 253).
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Beide Brüder Nadines sind in Gefangenschaft, aber sie lässt sich dadurch nicht einschüchtern: »›Jede Familie hat ein paar Männer hinter Stacheldraht. Ihr Ausländer seid alle sonderbar. Ihr wartet nie ab, bis die Sachen von selbst vorbeigehen‹« (Tr, 94). Wie viele andere von Seghers’ weiblichen Charakteren verliert Nadine nicht die Hoffnung, dass sich die politische Situation bessern wird. Sie sieht nicht nur die äußerst schlimmen Zustände ihrer Epoche, sondern auch die Bereitschaft vieler Menschen, anderen aus ihrer verzweifelten Lage zu helfen. Wie Marie verkörpert Nadine eine unermüdliche Hoffnung und einen Geist der Solidarität, die der zutiefst menschlichen Anschauung der Autorin entspricht.
Die Toten bleiben jung (1949) Der Kampf zwischen Kommunisten und Faschisten zwischen den Weltkriegen ist ein Hauptthema in diesem zwischen 1944 und 1947 in Mexiko geschriebenen Roman, in dem die Klassenunterschiede zwischen den einzelnen Charakteren unmissverständlich hervorgehoben werden. Der Roman ist eine Chronik deutscher Geschichte von 1917 bis 1945, die die Entwicklung sowohl der revolutionären Arbeiter als auch der reaktionären Adligen umfasst, in der viele Schicksale exemplarisch und differenziert geschildert werden. Dazu gehört die Aristokratin Elisabeth, die mit ihrem Cousin, dem SS-Offizier Ernst von Lieven verheiratet ist. Obwohl sie in Schuld verstrickt ist, werden ihr durch die Erzählerfigur viele positive Eigenschaften zugeschrieben, z. B. wird sie als »reizend« und als »sanft und spöttisch« charakterisiert (Tbj, 558). Lieven ist erkennbar stolz auf seine selbstbewusste und gesellige Frau. Außerdem blickt sie auf das Positive – sogar im vollen und stickigen Luftschutzkeller denkt sie: »Ich bin mit dem Kind zusammen, das übrige ist mir gleich« (Tbj, 563). In der Desorientierung während ihrer letzten Minuten auf Erden, bevor sie und ihr Sohn auf der Flucht im Schnee erfrieren, betont sie in ihren Schlussgedanken die positiven Aspekte der Natur, was der Erzähler durch die erlebte Rede ausdrückt: »Wie wohltätig war der Schnee! Er donnerte nicht; er machte den Menschen nicht blutig, nur still. Er tat nicht weh« (Tbj, 578). Vergleichbar mit der Szene im Luftschutzkeller ist Elisabeth auch hier nochmals für das Beisammensein mit ihrem Kind explizit dankbar: »Sie dachte: Wir beide, wir sind zusammen!« (Tbj, 578). Neben der Aristokratin Elisabeth lernen die Leser/ innen des Romans Marie kennen, die aus der Arbeiter-
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klasse stammt und den nach dem Spartakusaufstand erschossenen Erwin liebt. Später heiratet sie den verwitweten Sozialisten Geschke und bildet mit ihrem Sohn Hans und den drei Kindern Geschkes eine neue Familie. Auch unter den schwierigen Umständen gibt Marie die Hoffnung nie auf, z. B. denkt sie, dass ihr Sohn lebend aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehren wird – sie weiß nicht, dass er gegen Ende des Krieges an der Ostfront erschossen wurde. Marie versucht Hans’ Geliebte Emmi, die ein Kind von ihm erwartet, zu überzeugen, dass ein gutes Ende noch möglich sei: »[Emmi] hatte seit Monaten keine Nachricht von Hans; ob Marie etwas wüßte. Marie schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte auch längst keine Nachricht mehr. Marie sagte: ›Ich hoffe noch immer, er kommt‹« (Tbj, 644). Auf der letzten Seite des Romans tröstet Marie die junge Frau, als sie ihre Verzweiflung zeigt: »Die Emmi sagte: ›Ich hab von allem genug. Ich will nicht mehr weiterleben.‹ Marie sagte: ›Bis du dein Kind hast, ist vielleicht alles vorbei.‹ [...] ›Es kann auch nicht plötzlich aus sein. Das willst du selbst nicht, dass es auf einmal so ist, als ob es gar nicht gewesen wäre‹« (Tbj, 645). Emmi wird durch Maries positive Einstellung endlich einigermaßen beruhigt und die beiden können – mit dem noch ungeborenen Kind zwischen ihnen – einschlafen. Die zyklische Struktur des Romans, das Ineinandergehen von Untergang und Wiederkehr führt zu Desillusionierungen und Hoffnungen. Diese begründen sich zum großen Teil aus den politischen Überzeugungen der Autorin, parteilich zu schreiben, indem sie die Klassengebundenheit von Denken, Handeln und politischer Moral offenlegt.
Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968) Diese Romane zählen zu Seghers’ sogenannten ›Deutschlandromanen‹ (vgl. Fehervary 2001, 122), die sich mit der wechselvollen Geschichte des Landes vor und nach 1945 beschäftigen. Insbesondere befassen sich diese späteren Werke mit der Gründung und der Entwicklung der DDR. Stil und Inhalt dieser Romane sind deutlich von den früheren zu unterscheiden, wobei es nicht immer offenkundig ist, inwiefern Seghers beabsichtigte, den real existierenden Sozialismus mit ihren Darstellungen zu kritisieren. Jedenfalls erscheinen mehrere Frauenfiguren in beiden Romanen, die jeweils auf ihre eigene Art eigenständig sind und beispielhaft für ein unabhängiges, selbständiges Denken stehen.
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In der Entscheidung lernen wir die Katholikin Katharina kennen, die sanftmütige Frau des Sozialisten Riedl, von der es heißt, dass sie »von Natur fröhlich und kräftig« ist (E, 509). Sie will ihren religiösen Glauben für den säkularen Staat im Osten Deutschlands nicht aufgeben und bleibt daher noch eine Zeit lang im Westen, während ihr Mann als Ingenieur in einem Stahlwerk in der fiktiven DDR-Stadt Kossin arbeitet. Katharina stirbt bei der Geburt ihrer Tochter, als sie die endgültige Entscheidung trifft, die innerdeutsche Grenze zu Fuß zu überqueren. Mit dieser tragischen zwischenmenschlichen Situation entwirft Seghers kein romantisch geschöntes Bild des Sozialismus, sondern illustriert die schweren Folgen der Teilung Deutschlands. »Seghers has moved the locus of insight from characters in her early novels who gain ideological consciousness in mortal struggle against repression to characters who discover ideological limits in the face of creaturely involvements« (Robinson 2017, 126). Trotzdem versucht Katharina immer ein ›Licht der Hoffnung‹ für den launischen und düsteren Riedl zu sein. Sie schreibt ihm Briefe, in denen sie ein künftiges gutes Leben im Westen schildert, und ihn zu überzeugen versucht; »[e]in Licht sei immer da in all der Dunkelheit und Verwirrung« (E, 155). Ihr Optimismus wird von Riedl nie richtig verstanden, und das Paar bleibt ewig getrennt – was als Parabel auf das geteilte Deutschland verstanden werden kann. Regelrecht als Quell der Hoffnung und als Heilige fungiert die idealisiert dargestellte Krankenschwester Celia, die sich während des spanischen Bürgerkriegs in einer Höhle um den Schriftsteller Herbert Melzer und zwei weitere verwundete Partisanen, Richard Hagen und Robert Lohse, kümmert. Melzer schreibt im Präsens über die vergangene Erfahrung: »Aus der Dunkelheit taucht das Gesicht Celias auf, das ihm schöner vorkommt als alle Gesichter von Frauen, die er jemals gesehen hat« (E, 332). Für die drei Partisanen ist die Hoffnung, die Celia ausstrahlt, »the gift that keeps them focused on the ultimate prize« (Robinson 2017, 137). Melzer beschreibt in seinem Roman zuerst ein glückliches, bürgerliches Weiterleben für Celia, aber in einer späteren Fassung – wie es in Das Vertrauen weiter ausgeführt wird (vgl. V, 401 f.; V, 409–413) – ändert er ihr Schicksal, damit die Geschichte besser ihre Treue zur Partei widerspiegelt: In dieser Version stirbt sie, während sie einen Auftrag für die Kommunisten ausführt. Durch die Figur Celia zeigt Seghers, dass Frauen, die auf unterschiedliche Weise aufgrund ihrer Überzeugungen sterben, keineswegs schwache Opfer sind und nicht nur zur Unterstützung
der Männer dienen, sondern selbst einen unbeugsamen Kampfgeist besitzen und ihre eigenen Geschichten verdienen. Das Vertrauen ist eine Fortsetzung des Romans Die Entscheidung, dessen thematischer Mittelpunkt die Staatskrise der DDR im Jahre 1953 ist, die ausgelöst wurde durch den Tod Stalins im März und den Arbeiteraufstand am 17. Juni. Auf den ersten Seiten des Buches listet Seghers die fast sechzig ›Hauptpersonen des Romans‹ auf, von denen etwa zwanzig Prozent Frauenfiguren sind. Die tragische Geschichte Katharina Riedls aus der Entscheidung wird gleich zu Beginn wiedergegeben. Unter den Frauenfiguren gibt es aber auch mehrere, die Optimismus und Hoffnung verkörpern, zum Beispiel Lene Nohl – später Lene Lohse –, die »Jahr um Jahr auf ihren Mann« wartet (V, 29), oder Lina Sachse, die im Rohrwerk in Kossin arbeitet und eine Zeit lang mit dem Maschinenschlosser Thomas Helger liiert ist. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Lina eine Trümmerfrau in ihrer zerbombten Heimatstadt, nachdem sie mit Ausnahme einer Schwester ihre ganze Familie verloren hatte. Sie las damals gern und oft: »Nur einen hellen Punkt gab es in der Öde. Das Kerzenfunzelchen, bei dem sie abends lange las, seitdem ihr ein paar zerfetzte Bücher irgendwo in die Hände gefallen waren« (V, 39). Mit dieser Figur wird Seghers dem Bildungs- und Politikkonzept der 1950er Jahre gerecht. Indem Lina mehr Bildung auf einer Betriebsschule erwirbt, gewinnt sie Einblicke in politische Verhältnisse und kann diese auch aussprechen. Gemäß des Zeitgeistes der 1950er Jahre setzt sie ihre Hoffnungen auf Stalin. An einer Stelle schaut sie sich dessen Bild an und denkt »jetzt ist alles in Ordnung« (V, 40). Sie ist daher nach dem Tod Stalins verzweifelt und am Boden zerstört, und behauptet bei der Trauerfeier: »›Wir haben den teuersten Menschen verloren, den wir besitzen.‹« (V, 134). Die Glorifizierung des sowjetischen Herrschers wird allerdings nicht unkritisch und unkommentiert dargelegt, denn die unterschiedlichen Reaktionen der Figuren auf seinen Tod deuten auf eine bestimmte Ambivalenz und Unsicherheit über die Zukunft hin. Hunter Bivens diskutiert die Rolle Stalins im historischen Kontext des Romans: »[I]t is precisely the novel’s vagueness that renders it a proper historical novel for the early 1950s for the East German present of 1968, which still lacked a public language to work through the history of socialism. If there is a historical sign of the efficacy of socialism, Seghers does not see it in Stalin.« (Bivens 2018, 77)
46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren
Der Roman Das Vertrauen handelt von der engen Verbindung zwischen den Idealen des Sozialismus und einer bestimmten Art von Hoffnung darauf, dass die Gesellschaft sich verbessern kann und wird. Dass Bücher und das Lesen für Lina jede finstere Lage erhellen, auch wenn man sich mit der in den Büchern ausgedrückten Ideologie nicht vollständig identifiziert, passt zur Hauptthematik des Romans und ist ein bei Seghers häufig anzutreffendes Motiv. Der Roman des Schriftstellers Herbert Melzer über den spanischen Bürgerkrieg, von dem die Leser/innen durch Die Entscheidung schon etwas wissen, wird in Das Vertrauen als Zeichen der Hoffnung präsentiert. Stephen Brockmann erklärt die optimistische Funktion von Melzers Roman im Leben der anderen Figuren: »Literature [...] gives readers insight into the ways that human beings can, over time, gradually transform themselves« (Brockmann 2018, 64). Obwohl es sich bei Melzers Buch um eine Fiktionalisierung der Vergangenheit handelt – was sich z. B. darin zeigt, dass Robert Lohse in dem Buch erschossen wird –, ist es für Lohse selbst, als er das Buch nach Melzers Tod liest, dennoch eine Widerspiegelung des echten Lebens: »Wahrhaftig, in diesem Buch knistert und rauscht die Wirklichkeit. [...] Viel stärker als die wirkliche Wirklichkeit« (V, 402). Die Frauenfigur Helen Wilcox stellt beim Lesen des Romans ähnliche Überlegungen an: »Die wichtigen Menschen in diesem Buch sind vielleicht tot. Und auch wenn sie leben. Ich würde nie einen treffen. Ich hänge aber durch das Buch enger mit ihnen zusammen als mit den Menschen, die ich kenne oder vielleicht noch kennen werde« (V, 415). Literatur und literarische Erzählungen ermutigen sie und die anderen Figuren, nicht nur an die aktuelle Wirklichkeit, sondern auch an die künftigen Möglichkeiten der Menschheit zu denken.
Fazit Seghers betont in ihren Werken, dass Hoffnung und Optimismus weniger von aktuellen soziopolitischen Umständen als vielmehr von individuellen Wahrnehmungen und Perspektiven bestimmt werden. Die vielen Frauen in ihren Geschichten, die trotz ihrer harten Schicksale noch hoffnungsvoll sind, wissen, dass auch die schlimmsten Lebensumstände vergänglich sind. Eine positive, zukunftsorientierte Einstellung, die oft als sozialistisch oder revolutionär zu verstehen ist, verhindert auch in Krisenzeiten die totale Verzweiflung und erlaubt, weiter zu kämpfen. Seghers selbst brachte diese Einstellung zum Ausdruck, als sie er-
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klärte, warum sie schrieb und wie sie versuchte, die äußeren Einflüsse von sich fernzuhalten, um Krisen zu widerstehen: »Im Gegenteil, die Arbeit half mir über schwere Zeiten hinweg« (zit. nach Roos/Hassauer-Roos 1977, 157 f.). Die den Erzählungen und Romanen von Seghers zugrunde liegende Auffassung der Geschlechterverhältnisse und die Gestaltung der Frauenfiguren hat zwei wesentliche Voraussetzungen: zum einen die kulturphilosophischen Ansichten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nach denen das Modell für den Menschen der Mann ist, und zum anderen das patriarchal ausgerichtete Männerbild der kommunistischen Bewegung in der einseitigen Fokussierung auf den Mann. Die in den abendländischen Gesellschaften tradierten, reduzierten Vorstellungen von Frauen werden als grundierendes Moment herangezogen; das lässt sich in der Anlage der Figuren nachweisen, die den Namen Marie tragen und in den widersprüchlichen Präfigurationen von ›Hure‹ und ›Heilige‹ das Werk der Autorin durchziehen. Mit Blick auf das Gesamtwerk sind Veränderungen in der Gestaltung festzustellen. In der mit dem KleistPreis prämierten Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara überwiegt die Identifizierung des Erzählers mit dem männlichen Anführertypus. Zehl-Romero stellt fest, dass dieser Grundtypus des ruhelosen und rebellischen jungen Mannes in Seghers Werk immer wiederkehrt. »Er erfuhr jenes Herauswühlen [Herv. im Orig.], das sie an den Charakteren Dostojeskijs bewundert hatte und als Ausgangspunkt für Neues betrachtete« (Zehl-Romero 1993, 30 f.). Somit wurde Seghers ihrem Grundsatz gerecht, dass am Beginn einer neuen Kunstepoche die Entdeckung eines neuen Stoffes stehen müsse (s. Kap. 1). Während in den frühen Erzählungen – so in der Zieglerin – Frauen Opfer gesellschaftlicher Umstände sind, wandelt sich diese Situation mit dem Beginn des Exils. In den entsprechenden Texten erfolgt die Verlagerung des proletarischen Kampfes auf den politischen Kampf gegen den Faschismus. Somit kommt der Gestaltung des Alltags eine weit größere Bedeutung zu (vgl. Zehl Romero 1993, 60). Frauen sind aufgrund ihrer vermeintlich ›natürlichen Veranlagung‹ die Häuslichen und die Gefährtinnen, die den Männern Kraft und Hoffnung für ihren Kampf geben. Daraus resultiert die Vielzahl der mutigen und unterstützenden Frauenfiguren, an die immer wieder das Moment der Hoffnung gebunden ist. Das setzt sich sowohl in den ›Deutschlandromanen‹ als auch in ihrem Spätwerk – etwa im Erzählband Kraft der Schwachen – fort.
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V Themen und Kontexte
Seghers’ Frauenfiguren jedoch auf diesen Typ festlegen zu wollen, ist zu einseitig und vereinfacht unzulässig. Der Kraft ihrer Frauenfiguren, deren Mütterlichkeit und Familiensinn sowie die Möglichkeit, mit ihnen einen utopischen Willen direkt gestalten zu können, liegen die persönlichen Erfahrungen der Autorin Seghers zugrunde, in ausweglosen Situationen Hoffnung zu vermitteln sowie ungeahnte Kräfte zu mobilisieren. Ihre Auffassungen von einer menschlichen Welt, die sich Zerstörungen widersetzt und Engagement und Solidarität zum Grundprinzip erhebt, führt in den Texten zu intendierten, aber zunehmend nicht mehr realisierbaren Hoffnungen. Der unlösbare Widerspruch zwischen den entworfenen Ideen und der gelebten Realität liegt den Figuren zugrunde. Den Gedanken von Sonja Hilzinger (2000, 77) aufnehmend, dass sich durch Seghers’ Werk eine fortwährende Auseinandersetzung mit Krisen und Verlusten als lebensgeschichtliche Spur zieht, sind weitere Untersuchungen zu den Geschlechterverhältnissen in ihrem Werk erforderlich. Literatur
Beicken, Peter: Who Is the Narrator? Anna Seghers’s ›The Excursion of the Dead Girls‹: Narrative Mode and Cinematic Depiction. In: Kristy R. Boney/Jennifer Marston William (Hg.): Dimensions of Storytelling in German Literature and Beyond: ›For once telling it all from the beginning‹. Rochester NY 2018, 24–42. Bivens, Hunter: Aufbauzeit oder flaue Zeit? Anna Seghers’s GDR Novels. In: Kristy R. Boney/Jennifer Marston William (Hg.): Dimensions of Storytelling in German Litera-
ture and Beyond: ›For once telling it all from the beginning‹. Rochester NY 2018, 70–81. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Brockmann, Stephen: Anna Seghers and the Struggle to Tell Stories about the Nazi Past in the Early German Democratic Republic. In: Kristy R. Boney/Jennifer Marston William (Hg.): Dimensions of Storytelling in German Literature and Beyond: ›For once telling it all from the beginning‹. Rochester NY 2018, 55–69. Fehervary, Helen: Anna Seghers: The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Janka, Walter: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek bei Hamburg 1989. Reich-Ranicki im Gespräch mit Ulrich Greiner: »Ja, ich habe daran geglaubt«. In: Die Zeit, 10.6.1994. Robinson, Benjamin. Troubled Faces: The Melancholy Passion of Anna Seghers’s Die Entscheidung. In: Imaginations: Journal of Cross-Cultural Image Studies | Revue D’études Interculturelles De L ’ image 8/2 (2017), 126–141. Roos, Peter/Hassauer-Roos, Friederike J.: Gespräch mit Anna Seghers. In: Peter Roos/Friederike J. Hassauer-Roos (Hg.): Anna Seghers. Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977, 152–160. Seghers, Anna: Das Vertrauen. Berlin/Weimar 1968. Seghers, Anna: Die Toten bleiben jung. Berlin/Weimar 1953. Seghers, Anna/Herzfelde, Wieland: Ein Briefwechsel 1939– 1946. Hg. von Ursula Emmerich und Erika Pick. Berlin/ Weimar 1985. Swaffar, Janet/Wilkinson, Eileen: Aesthetics and Gender: Anna Seghers as a Case Study. In: Monatshefte 87/4 (Winter 1995), 457–472. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1993.
Jennifer Marston William
47 Topographien von Flucht und Exil
47 Topographien von Flucht und Exil Anna Seghers verbrachte insgesamt vierzehn Jahre im Exil, davon acht in Frankreich, sechs in Mexiko. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 wurde sie vorübergehend verhaftet und flüchtete über die Schweiz nach Paris. Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 auf Paris marschierte, flüchtete sie mit ihren zwei Kindern auf der Route d’Orléans in Richtung Süden. Sie wurden von Soldaten der deutschen Wehrmacht nach Paris zurück genötigt, wo sie während des Sommers immer wieder wechselnd geheime Unterkunft bei Freunden und Bekannten fanden. Im September überquerten sie illegal die Grenze, die den besetzten Teil Frankreichs von der »freien Zone« (Vichy France) trennte. Sie ließen sich in Pamiers unweit des französischen Konzentrationslagers Le Vernet nieder, in dem Seghers’ Mann László Radványi schon seit mehreren Monaten interniert war. Von Pamiers reiste Seghers öfter nach Marseille, um die benötigten Visen und andere Reisepapiere zu erlangen. Im März 1941 schließlich gelang der Familie Radványi die Flucht aus Europa an Bord des Frachters Capitaine Paul Lemerle, der über Oran und Casablanca in Richtung Martinique fuhr. (Die gefährliche, von deutschen U-Booten und Minen bedrohte Überfahrt über den Atlantik beschrieb der Anthropologe und Mitpassagier Claude Lévi-Strauss in seinem Buch Tristes Tropiques, dt. Traurige Tropen.) Nach Internierungen in Martinique und auf Ellis Island im Hafen von New York erreichten Seghers und ihre Familie am 31. Juni dann den Hafen von Veracruz in Mexiko, wo ihnen fortan Aufenthalt gewährt wurde. Flucht und Exil waren ein wichtiger Bestandteil in Seghers’ Leben. Allerdings hat sie ihre eigenen Erfahrungen nur ganz selten, lediglich in ihrer Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, literarisch beschrieben. Trotz ihres außerordentlich erlebnisreichen, von großen politischen Umwälzungen sowie auch persönlichen Veränderungen bestimmten Lebens kümmerte sich Seghers als Autorin kaum um ihre eigene Biographie. Sie verstand ihr Schreiben vielmehr als den Versuch, durch episches Erzählen das – infolge der Unterdrückung von revolutionären Aufständen – oft tragische Schicksal der politischen Flüchtlinge und Exilanten ihres Jahrhunderts sowie der früherer Zeiten zu gestalten. Um solche Schicksale geht es u. a. in Aufstand der Fischer von St. Barbara, Die Gefährten, Der Weg durch den Februar, Karibische Geschichten, Der Führer und Drei Frauen aus Haiti, die politische Umwälzungen seit dem 16. Jahrhundert in Haiti, Guade-
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loupe, Jamaika, Äthiopien, China und Europa behandeln. Auch in ihren Essays und publizistischen Schriften, in denen Seghers auf ihr bekannte oder andere von ihr miterlebte Flucht- und Exilerfahrungen hinwies, geht es viel weniger um ein Ich als ein Wir. Jedoch haben ihre persönlichen Exil-Erfahrungen, vor allem als Frau und Mutter, indirekt auf einige Werke gewirkt. Was ihren Alltag in Paris bestimmte, geht aus Seghers’ Brief vom Februar 1937 an Willi Bredel in Moskau hervor: »Du bekommst, weil du ein berühmter Mann bist, auch deine Knöpfe von weiblichen Personen angenäht und deine Kinder ernährt, gekleidet und erzogen und deine Briefe getippt, all das machen für mich keine, das musst du unoffiziell und freundschaftlich auch bedenken« (WA V/I, 37). Gerade von diesen alltäglichen Beschäftigungen handelt Seghers’ wahrscheinlich 1938 geschriebener, erst posthum erschienener Bericht »Frauen und Kinder in der Emigration« (vgl. Seghers 1993). Zu der Beschreibung des neuen, fremden Lebens in diesem Bericht hat Silvia Schlenstedt folgende Aspekte herausgestellt: die Emigration als Lebensbruch; das »Herausgeschleudertwerden aus dem bisherigen Dasein« als zugleich »die Chance, Neues zu gewinnen«; das »Sich-Freimachen von einem Besitz, der zum Ballast werden kann«, und von »kleinbürgerlichen Gewohnheiten, die als lähmend erscheinen«; und »die Frage, ob und wie es gelingen kann,« den Kindern die eigene Kultur und Sprache mit der des neuen Landes »zu vermitteln« (vgl. Schlenstedt 1993). Die ersten drei dieser Aspekte bestimmen das Leben der Heldin der Erzählung Agathe Schweigert, die ihr Kurzwarengeschäft im Rheinland schließt, um ihrem Sohn zu folgen, der in Spanien bei den Republikanern kämpft. Nach seinem Tod und dem Sieg der Nationalisten flüchtet Agathe mit den spanischen Genossen nach Übersee. In einer Frauenbaracke auf den Antillen – wieder einmal mit Näharbeit für andere beschäftigt, hier einem Kind einen Knopf annähend – begegnet sie der Erzählerin, der sie ihre Geschichte erzählt. In der Erzählung Post ins gelobte Land findet sich Frau Grünbaum, die nach einem Pogrom in ihrer polnischen Heimat und dem Verlust ihrer drei Kinder mit den Überlebenden ihrer Familie nach Paris kommt, auch im Ort ihres Exils allmählich zurecht. Sie ist zunächst »benommen von der Wildnis der Stadt«, fühlt sich aber bald »hier an dem äußersten Punkt der ihr bekannten Welt fast so gut wie daheim« (PgL, 218). In diesen wie auch anderen Werken wird ein wesentliches Kennzeichen des Exils reflektiert, das Seghers 1939 als die Verflechtung des »gewöhnlichen« und »gefährlichen Lebens« beschrieb (KuW4, 138).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_47
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Die berühmteste Fluchtgeschichte in Seghers’ Œuvre – ja, in der deutschen Literatur überhaupt – behandelt ihr im Pariser Exil geschriebener, antifaschistischer Roman Das siebte Kreuz. Im Herbst 1937 brechen sieben politische Häftlinge aus dem Konzentrationslager Westhofen (eigentlich Osthofen) am linken Rheinufer südlich von Mainz aus. Beutler wird sofort gefangen, Pelzer wenige Stunden später. Der Zirkusartist Belloni wird auf dem Dach des Hotel Savoy in Frankfurt von Polizisten in die Enge getrieben; in einem letzten Gleitflug stürzt er in den Hof zu Tode. Der Arbeiterführer Ernst Wallau, dessen Passion ungefähr der von Jesus gleichkommt, wird durch den Verrat eines schwachen Genossen von der Gestapo gefasst; durch sein standhaftes Verhalten vor und nach dem Ausbruch sowie durch sein Schweigen beim Verhör und unter der Folter wird er zum Inbegriff des heroischen Widerständlers und Märtyrers, dessen Mord »am Tag des Gerichts schwer zu Buche stehen« wird (SK, 353). Füllgrabe, der nach der mehrtägigen Flucht keinen Ausweg mehr sieht, stellt sich verzweifelt und erschöpft freiwillig der Polizei. Der Bauer Aldinger war bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1933 Bürgermeister des hessischen Dorfes Unterbuchenbach. Trotz seines hohen Alters gelingt es ihm, alle Polizeiposten zu vermeiden und die lange Strecke vom linken Rheinufer zurückzulegen, bis er das von ihm ersehnte ›Früher‹ erreicht. Die Geschichte von Moses auf dem Berg Nebo in Betrachtung des Gelobten Landes wachrufend, stirbt Aldinger auf einem kleinen Hügel vor dem Tal seines Dorfes, auf das er im Moment seines Todes noch einen Blick werfen kann. Auch das siebte der im Lager Westhofen zur Tortur der Wiedergefangenen errichteten Baumkreuze bleibt leer. Dieses siebte ›Kreuz‹ war für Georg Heisler bestimmt, dessen Flucht glücklich endet dank der Solidarität und Tapferkeit des kommunistischen Untergrunds und der gerechten Haltung von Menschen, die ihm bewusst oder auch unbewusst zu seinem Ziele verhelfen. Am Ende des Romans befindet sich Heisler an dem abgemachten Treffpunkt am Rheinufer, wo ihn der Kapitän eines Schleppkahns erwartet, der ›alles riskiert‹, um ihn ins Ausland zu retten.
Fluchtwege und Schauplätze des Exils Die Topographie der Flucht ist in fast allen Werken der Seghers erkennbar, von ihrer ersten Veröffentlichung Die Toten auf der Insel Djal bis zu ihrer letzten Drei Frauen aus Haiti. Diese Topographie umfasst ein
breites geographisches Terrain, das sich von verschiedenen Schauplätzen in Europa bis nach Lateinamerika und in die Karibik sowie nach Afrika und China ausweitet. Dafür gab es mehrere Anstöße. Erstens: Seghers’ Bekanntschaft während ihres Studiums in Heidelberg mit politischen Flüchtlingen aus Osteuropa, die ihr von den revolutionären Umwälzungen in ihren Ländern erzählten. Darunter befanden sich Karl Mannheim und ihr späterer Mann László Radványi, die zum Budapester Sonntagskreis um Georg Lukács und Béla Balázs gehörten, in der Ungarischen Räterepublik aktiv waren und während des Weissen Terrors, der dem Sturz der Republik folgte, über Wien nach Heidelberg flüchteten. Zweitens: Seghers’ Interesse für den Lebensweg des Menschen, ob reines Abenteuer oder auch Flucht, als den Weg der menschlichen Seele. Diesen Gedanken fand sie in den frühen Schriften von Georg Lukács und als Studentin der Kunstgeschichte, Sinologie und Philosophie in dem chinesischen Tao, in den Schriften von Sören Kierkegaard, den Bildern der nördlichen Renaissance und den Radierungen von Rembrandt und Hercules Seghers. Drittens: Seghers’ Vorliebe seit ihrer Kindheit für alte Sagen, Epen und Legenden, die sowohl ihre Erzählweise wie auch manche Themen in ihren Werken beeinflussten. Wichtige Impulse für ihr Schreiben kamen aus der Bibel, besonders aus den Schriften des Neuen Testaments, in dem die Lebenswege der ersten, d. h. der jüdischen Christen aufgezeichnet sind. Diese frühen Christen waren fast alle stets auf der Flucht: in den Evangelien bereits Jesus nach der Verhaftung seines Vorläufers Johannes des Täufers sowie Jesus’ Jünger und seine Anhänger nach seinem Märtyrertod; daraufhin die charismatischen Figuren in der Apostelgeschichte von Lukas. Die Gefahren, Qualen und in manchen Fällen den Märtyrertod, den die Apostel tapfer erlitten, während sie ihre Aufträge ausführten, sind bekannt. Ebenso auffällig sind die mit ihnen kompositorisch oft ähnlichen Handlungen in Seghers’ Werken. Genau wie damals in der Bibel wird auch bei Seghers der Fluchtweg des Menschen zur Passion. Dieser Weg kennzeichnet bereits Seghers’ Frühwerk: die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (erst posthum veröffentlicht), Die Toten auf der Insel Djal und Aufstand der Fischer von St. Barbara. Die Flucht als Passion gilt umso mehr für Seghers’ ersten Roman Die Gefährten, der die Folgen der revolutionären Aufstände in Ostund Südeuropa um 1919 – in Ungarn, Italien, Polen, Bulgarien und China – festhält, indem er die Fluchtwege der Revolutionäre aufzeichnet, die quer durch
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Europa nach Berlin, Moskau, Bologna, Heidelberg. Brüssel, Paris und London führen. Die Geschichten von politischen Flüchtlingen, die im Exilwerk zu Märtyrern werden – z. B. in Der Kopflohn, Der letzte Weg des Koloman Wallisch und Das siebte Kreuz – handeln vom antifaschistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland bzw. den europäischen Faschismus überhaupt. Obwohl die Fluchtthematik in einigen Werken nicht Teil des Hauptgeschehens ist (zunächst in Grubetsch und Bauern von Hruschowo, später in Das Obdach, Crisanta und Überfahrt), spielen seit Ende der 1940er Jahre die Erfahrungen von politischen Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern wieder eine wichtige Rolle (z. B. Post ins gelobte Land, Der erste Schritt, Die verlorenen Söhne, Vierzig Jahre der Margarete Wolf, Wiederbegegnung, Das Schilfrohr, Der Prophet). Eine durchgehende Struktur der Flucht kennzeichnet merkwürdigerweise sogar die Erzählungen Das Ende und Steinzeit, in denen die Fluchtwege der Hauptgestalten – der eine ein brutaler KZAufseher, der andere amerikanischer Soldat bzw. Bombenschütze im Vietnamkrieg, daraufhin Luftpirat – nicht in die Freiheit, sondern in den finsteren Bereich der ›Hölle‹ führen. Als besonders eindringlich erweist sich die ausgleichende Kraft der Natur in den Erzählungen der Karibik. In Die Hochzeit von Haiti flüchtet der jüdische Juwelier Michael Nathan in den Urwald und schließt sich dem Aufstand der Schwarzen unter der Führung von Toussaint Louverture an. Nachdem der schwarze Schmied Jean Rohan in Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe auf der Flucht ermordet wurde, wird sein Körper, nun eins mit der Natur, vom Urwald empfangen. Als der Aufstand auf Jamaika in Das Licht auf dem Galgen niedergeschlagen wird, rettet sich Galloudec, der dritte vom Konvent in Paris beauftragte Jakobiner, aufs Meer. Auch der mutigen Toaliina in Das Versteck (in Drei Frauen aus Haiti) kommt »bei aller Gefahr« das Meer, »mit dem sie von klein auf vertraut war«, zu Hilfe: »Sie wußte, ihre Flucht war geglückt« (DFH, 334). Seghers’ großer Exilroman Transit, dessen Stoff zum Teil auf ihrer eigenen Erfahrung 1940/41 in Marseille beruht, stellt die topographische Breite und Vielgestaltigkeit der Fluchtthematik einmalig dar. Am Anfang des Romans wird von der Flucht des IchErzählers aus einem deutschen Konzentrationslager und aus französischen Arbeitslagern rückblickend berichtet. Als die deutsche Armee Nordfrankreich besetzt, flüchtet er aus Paris in die ›freie Zone‹ im Süden. Während seines Aufenthalts in Marseille, der
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den Hauptteil der Handlung bildet, erfährt er von den diversen, unter schwierigen Umständen von Gefahren bedrohten Fluchtwegen anderer. Es sind Flüchtlinge aus verschiedenen europäischen Städten und Ländern, die in die Hafenstadt kommen, in der – oft vergeblichen – Hoffnung mit Reisepapieren ihre Flucht auf dem Seeweg fortsetzen zu können und in sichere Länder zu gelangen. Dabei gewinnt die Thematik der Flucht die Bedeutung von Migration und Exil. An einer prägnanten Stelle im Roman, als das Flüchtlingsgerede den Erzähler im Café umgibt, von dem aus er den alten Hafen von Marseille betrachtet, wird die Flucht in die Diaspora mythisch erhöht und verbildlicht: »Wunderbarer uralter Hafentratsch, [...] phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, [...] auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. Mütter, die ihre Kinder, Kinder, die ihre Mutter verloren hatten. Reste aufgeriebener Armeen, geflohene Sklaven, aus allen Ländern, verjagte Menschenhaufen, die neue Länder entdecken wollen, aus denen sie wieder verjagt werden; immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod.« (Tr, 88 f.)
So wie in diesem Roman und in Seghers’ Œuvre überhaupt hat kein anderer Schriftsteller ihrer Generation die Allgegenwart und Tragweite der Flucht in der Geschichte der Menschheit gewürdigt. In der Tat befindet sich die Erzählerin Anna Seghers am Ende einer langen Reihe von bekannten oder auch anonymen Autoren, die seit dem Altertum die Flucht in den Untergrund, ins Exil und in die Diaspora zum literarischen Mythos der Menschheit erhoben haben, sei es in der Bibel oder der Odyssee oder in den Werken verbannter Autoren von Dante bis Dostojewskij. Zugleich scheint Seghers’ Erzählwerk viele der aus aller Welt kommenden Geschichten vorwegzunehmen, die im Laufe der massiven Welle von Flucht und Migration des 21. Jahrhunderts entstanden sind und weiter erzählt werden (vgl. Fehervary 2019). Literatur
Fehervary, Helen: Zur Topographie der Flucht in den Romanen und Erzählungen von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 25 (2017), 47–56. Fehervary, Helen: Topographies of Escape, Flight, and Migration in Seghers’s Prose. In: Helen Fehervary/Christiane Zehl Romero/Amy Kepple Strawser (Hg.): Anna Seghers – The Challenge of History. Leiden/Boston 2019, 9–23.
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Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen. Frankfurt a. M. 1978. Schlenstedt, Silvia: Überlegungen zu Anna Seghers »Frauen und Kinder in der Emigration«. In: Argonautenschiff 2 (1993), 123–131.
Seghers, Anna: Frauen und Kinder in der Emigration. In: Argonautenschiff 2 (1993), 319–327.
Helen Fehervary
48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand
48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand Begriffe wie Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität und Widerstand sind bei einer Autorin wie Anna Seghers Kernbestandteile ihrer Selbstverständigung als Humanistin, schaffender Künstlerin und Zeitgenossin. Ihr Sohn Pierre Radvanyi hat darauf verwiesen, für seine Mutter als »sozialistische Schriftstellerin« sei es »unumgänglich« gewesen, sich für »Wesentliches« einzusetzen, »für Solidarität, für Gerechtigkeit«, und im Nachsatz fügt er hinzu: »und so wurde sie eine entschlossene Gegnerin des Nationalsozialismus« (Sternburg 2010, 6). Die antifaschistische Haltung als politisches Engagement und Widerstand fügte sich aus sozialistischer Literatureinschätzung in der DDR ein in Themen wie »die Erhebung gegen Ungerechtigkeit, die Solidarität mit Unterdrückten und Verfolgten, die Abkehr von einer verhängnisvollen Vergangenheit und der Aufbruch in eine Welt, die ›von Grund auf anders‹ ist« (Neugebauer 1988, 11). Dass eine historische »Erhebung« epochal für sie war, hat Seghers 1967 zum fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution in Russland betont. Als Siebzehnjährige konnte sie 1917 »von alleine gar nicht daraus klug« werden, da sie erst später das Ereignis als Studentin, seit 1920 in Heidelberg, von politisch engagierten Studenten »erklärt« bekam (KuW3, 32). Darunter war der aus dem Baltikum stammende Mitstudent und Sinologe Philipp Schaeffer, der Seghers mit seinem »Gerechtigkeitsempfinden« beeindruckte und mit vielen Zeitfragen vertraut machte (Zehl Romero 1993, 18). Schaeffer machte sie auch mit anderen Studenten bekannt, die aus politischen Gründen im Exil lebten, darunter Seghers’ späterer Ehemann Laszlo Radvanyi, der während der ungarischen Räterepublik in der kommunistischen Studentenbewegung tätig war und zum Budapester Sonntagskreis gehörte, dessen Mitglieder zumeist emigrieren mussten (Hilzinger 2000, 20–24). Es ist die Oktoberrevolution, die Seghers einen ihr eigenes Empfinden bestätigenden »neuen, starken, unerhörten Begriff von Gerechtigkeit« vermittelte. Dazu kam auch der Sinn für »Gerechtigkeit [...] zwischen hoch und niedrig, zwischen arm und reich, zwischen schlecht und gut usw.« (KuW3, 29, 36). Hier fokussiert Seghers auf Gerechtigkeit als Kriterium für die ethische Bewertung sozialer Gegensätze und Widersprüche. Gegenüber Schaeffer beweist Seghers soziales Mitgefühl, indem sie den darbenden Mitstudenten zu ihren Eltern nach Mainz schickte, »um ihn herauszufut-
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tern« (KuW4, 131). Verglichen mit ihren nachträglichen Reflexionen zur Oktoberrevolution zeigt Seghers’ Freundschaftsgeste eine Form menschlicher Solidarität, Solidarität verstanden als »Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit« und als »Zusammengehörigkeitsgefühl« (Mejdřická 2016, 26 f.). Die Linie, die von Seghers’ Sinn für Gerechtigkeit bis zum politischen Engagement, zur sozialen Solidarität und zum entschlossenen Widerstand führt, ist in ihrem erzählerischen Frühwerk noch verdeckt von ihrem Bemühen, »ihren unbefriedigten Erlebnishunger durch Phantasieabenteuer zu ersetzen« (Batt 1973, 16), was sie in ihrer autobiografischsten Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen (1946) als ihre »Lust auf absonderliche, ausschweifende Unternehmungen« (AtM, 122) charakterisiert hat. Das Phantastische beherrscht die von Seghers lange vergessene, »Sage« genannte Ersterzählung Die Toten auf der Insel Djal (1924), die als eine Darstellung des Verwirrspiels zwischen Toten und Untoten vielschichtig angelegt ist, wobei die Rebellion gegen Gott als Neigung zu »Protest« und »Widerstand« gedeutet worden ist (Bock 2008, 214). Auflehnung gegen Kirche und gesellschaftliche Konvention bestimmt eine erst posthum veröffentlichte Erzählung, Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924), in der ein Abtrünniger nach dem Lustmord an einer Dirne in einem Straflager landet, aber daraus entfliehen kann. Der wunderschönen, opferbereiten Catharina verfallen und betroffen durch ihren Tod aufgrund einer Krankheit, die seiner früheren Heilkraft widersteht, wandelt sich der Bischof und macht sich mit den Armen der Stadt solidarisch, bevor er als Greis verstirbt. Ebenfalls erst posthum veröffentlicht ist Jans muss sterben, eine Studie auswegloser Armutsverhältnisse und unerbittlicher Unglücksthematik. Dieses tragische Schicksal eines unangepassten kranken Jungen nimmt Seghers’ nächste bedeutende Erzählung vorweg.
Charismatische Figuren im Frühwerk In Grubetsch (1927) steht im Mittelpunkt ein »böser Hof«, der eine Gruppe »verworfener Menschen« gefangen hält und sie ihr eigenes »Zugrundegehen« herbeisehnen lässt (Beicken WA II/1, 298). In vielen Zügen ist Seghers’ Bild von Grubetsch inspiriert von Rembrandts Christus-Darstellungen vor allem in Hinterhöfen (vgl. Fehervary 2001, 44), eine Thematik, mit der die Autorin durch ihre Dissertation Jude und
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_48
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V Themen und Kontexte
Judentum im Werke Rembrandts (1924; Reiling 1981) eng vertraut war (s. Kap. 34). Grubetsch ist jedoch nicht nur Imitatio Christi, sondern er ist auch teuflisch und bringt Unglücke und ungewöhnliche Tode. Als Flößer und Abenteurer ist Grubetsch auch der Freie gegenüber den dem Milieu Verhafteten. Der prahlerische Sebald schließt sich Grubetsch einmal aus Abenteuerlust an, siecht nach der Rückkehr geschlechtskrank dahin und wird noch auf dem Sterbebett von seiner Frau mit ihrem neuen Geliebten Paul betrogen. In dieser Welt des Bösartigen zeichnet sich Grubetsch auch als sadistischer Voyeur aus. Als durchs Schlüsselloch spionierender Liebestöter weidet er sich an der in verzweifelter Liebe zu ihm sich verzehrenden und daran sterbenden Katharina, was er so kommentiert: »Schrecklich war das, und doch war’s so gut, beinah’ so gut wie Hochzeit« (Gr, 36). Verkörpert Grubetsch das Böse und Asoziale, so wendet er sich liebevoll dem kleinen furchtsamen Sebald zu, den seine verwitwete Mutter und ihr neuer Mann hassen und malträtieren. Diesem Kleinen schenkt er einen schönen Perlmuttknopf. Der Junge schaut durch die beiden Löcher im Knopf, die wie »zwei Eingänge« den Zugang zu einem glitzernden Raum eröffnen, in dessen Ecke Grubetsch sitzt als »der Herr im Hause« (Gr, 62). Es ist eine kindlich-zutrauliche Vision des »Herrn«, ein Moment der ChristusÄhnlichkeit von Grubetsch. Aber diese Erlösungsvision bricht jäh ab, als Mutter und Paul zurückkommen und die Misshandlungen fortsetzen, bis der Kleine für immer verschwindet. Und auch Grubetsch wird von Paul im Beisein der anderen ermordet. Der schimmernde Knopf ist im Dunkel der Hoffnungslosigkeit in einer Welt der sozialen Außenseiter und Armen eine Ikone für mögliches menschliches Mitgefühl und humane Solidarisierung. In ihrer »Selbstanzeige« (1931) hat Seghers betont, dass man so schreiben muss, »daß man hinter der Verzweiflung die Möglichkeit und hinter dem Untergang den Ausweg spürt« (KuW2, 11). In dieser »Selbstanzeige« geht Seghers, Mitglied der KPD seit 1928 und ab 1929 auch dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller zugehörend, aufgrund vehementer Kritik in kommunistischen Parteiorganen (vgl. Beicken WA II/1, 328 f.) mit sich ins Gericht. Sie kritisierte nicht nur Grubetsch, sondern auch die Titelerzählung des 1930 erschienenen Erzählbandes Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen, die sie als eine Art Experiment ansah, indem sie fragte: »Was geht in einer Viererreihe während einer Demonstration vor? Was begibt sich mit diesen vier verschiedenen,
einander völlig fremden Menschen?« (KuW2, 11). Ihre Darstellung dieser Problematik, die sie zu »bearbeiten« versprach, wurde mit der Aburteilung »kleinbürgerlicher Verworrenheiten« quittiert, wie denn schon ihr zusammen mit Grubetsch preisgekrönter Aufstand der Fischer von St. Barbara von der Parteikritik als »weibliche Verschwommenheit« abgetan wurde (Beicken WA II/1, 328). Gerade der Aufstand, der die Abenteurerfigur des Grubetsch in dem Agitator Hull in politische Aktion wendet, bringt für Seghers neue Sehweisen der Aspekte Gerechtigkeit, Solidarität und Engagement, zu dem auch in der Revolte und dem Streik der ausgebeuteten Fischer das Element kämpferischen Widerstandes hinzukommt. Schon im Eingangsabschnitt des Werkes verkündet Seghers die unabwendbare Niederschlagung des Aufstandes, wobei sie Hoffnung auf einen später erneuerten Aufstand gibt. Hull ist jedoch kein organisierender Revolutionär im Sinne geschichtlicher Praktiken, sondern ein menschlich konfliktreicher und keiner politischen Parteidisziplin folgender Einzelgänger, der seinem Charisma vertrauend sich spontan und aktionistisch einsetzt. Eine engere Verbindung zu den von ihm agitierten Fischern fehlt. Groß jedoch ist sein Einfluss auf den jungen Andreas, der dem spontanen Aktionismus folgend ein ausgelaufenes Schiff durch Sabotage zur Umkehr zwingt unter dem tragischen Verlust mehrerer Kameraden. Während der Aufstand niedergeschossen und Hull verhaftet und deportiert wird, wird Andreas von den ihn verfolgenden Soldaten erschossen. Am Ende haben die Fischer nichts gewonnen und müssen zu den alten Bedingungen ausfahren. Seghers zeigt einen Aufstand, dessen revolutionäre Impulse vergeblich bleiben trotz der Hoffnung auf Zukünftiges. Vom Parteistandpunkt wurde die »mit dem Proletariat sympathisierende Problemstellung« zwar anerkannt, aber in dem Buch noch »kein Bestandteil der proletarisch-revolutionären Literatur« gesehen (Sauer 1978, 64). Neuartig ist die Darstellung weiblicher Existenz in der in avantgardistischer Erzählweise vielperspektivisch operierenden Geschichte Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft. Unter den typisierten Figuren ihrer Viererreihe (der Mann, der Fremde, der Kleine) ist die Frau eine verwitwete und abgehärmte Arbeiterfrau mit drei Kindern, die sich in der rigorosen Abnabelung von ihrer traditionellen Mutterrolle im »Durchbeißen aller Nabelschnüre« (WaB, 185) neu zu bestimmen sucht. Das bezeugt ihr Entschluss, sich in der Demonstration gegen die bevorstehende Hinrichtung von Sacco und Vanzetti einzureihen. Im Protest gegen den
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Justizmord an den beiden Anarchisten findet die Frau zum politischen Engagement, zur Solidarisierung und zum »Eintritt in die Geschichte« (vgl. Beicken 1981). Zentral ist für die weltweit solidarisierten Demonstrierenden ihr Gerechtigkeitssinn, der gegen die ›Klassenjustiz‹ der etablierten Machtsysteme protestiert. Jedoch ist die Suche nach neuer, selbstbestimmter Identität für die Frau sehr konfliktreich. Sie muss überholte Vorstellungen von der Vormacht der Männer – »Niemals würde sie einen dieser leuchtenden Gedanken denken, wie sie die Männer ausdenken« (WaB, 177) – und überkommene Rückbesinnungen auf ihre Mutterpflichten überwinden, um ihr Engagement für eine geschichtswichtige Aktion und Solidarisierung zu legitimieren. Von ihr bleibt, dass »ihr Körper in den Platz hineingeknetet« und ihr Gesicht »gegen die vergoldeten Stäbe des Gittertores gepreßt« wird (WaB, 188) Wieder stellt Seghers eine vergebliche Aktion dar, aber das Opfer der Frau, wie das ihrer Mitdemonstranten, bleibt ein dringlicher Appell, an der Veränderung des Geschichtsverlaufs aktiv mitzuwirken. Und die Kinder der Frau? Bei aller Sympathie für den Zugewinn an Aktionsspielraum der ›abgenabelten‹ Frau erfahren wir nichts über die familiären Folgen dieser Opferung. In der Kurzprosa Marie geht in die Versammlung (1932) hat Seghers für die Dreiheit der Frauenrolle als Mutter, politisch Engagierte und sich Solidarisierende eine Lösung dargestellt, die verschiedene Fragen aufwirft. Denn Marie überantwortet die Betreuung der beiden kleineren Kinder ihrem Sohn Paul, der »auch noch ein Kind« ist, aber in ihrem Sinne »alles regelt« und auf den »Verlaß« ist: »Ein kleiner Genosse«, weshalb Marie sich einredet: »Man darf nicht bei den Kindern hocken, man muß arbeiten, nicht für drei Kinder [...] für drei Millionen Kinder« (WA II/1, 189 f.). Zwar bedenkt sie, »man müsste mehr daheim sein, sich um alles kümmern« (WA II/1, 190). Doch statt wie die vielen anderen auf dem Heimweg zu sein, eilt sie nach Dienstschluss zur Versammlung, wie sie versprochen hat. Programmatisch lässt Seghers Marie den Sprung von der Sorge für die eigenen Kinder zur Solidarisierung mit Millionen Kindern vollziehen. Als sie einen Jungen im Abendgewühl für ihren eigenen Paul hält, bis sie der Verwechslung gewahr wird, verspürt Marie momentan einen »Stich im Herzen«, was aber gleich durch ein besonderes Entscheidungs- und Existenzerlebnis verdrängt wird: »Auf einmal ist ihr so leicht, als ob wunders was gutes passiert sei« (ebd.). Dem fremden Jungen gibt sie die für ihre Kinder gekauften Bananen. Nach Seghers soll die sozialistische Solidarisierung offensichtlich als ganz selbstverständlich verlaufen.
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Die Darstellung großer Entscheidungsmomente im Leben Einzelner im Hinblick auf Engagement, Solidarisierung und Widerstand wird ein wichtiges Muster für Seghers angesichts des aufkommenden Faschismus. So etwa in der von ihr in der »Selbstanzeige« bevorzugten Erzählung Bauern von Hruschowo, wo im Gegensatz zu der auch von der Autorin favorisierten Verelendungsgeschichte Die Ziegler über Darben und »Hunger des Kleinbürgers« die Bewohner eines dumpfen kleinen Dorfes nach dem Ersten Weltkrieg um einen lebenswichtigen Wald kämpfen. Unterstützt von der Partei im Karpathenrußland solidarisieren sie sich und leisten feindlichen Staatsregimen Widerstand. In »legendenhafter Überhöhung« wird der Anführer dieser Holzbauern zur sagenhaften Arbeiterfigur, indem er sich wie auf einer Pilgerschaft in die ferne Sowjetunion mit seiner Sense durch Verdingung auf Feldern sein Ziel »ermäht« (Beicken WA II/1, 308–310). Eine Vielzahl von Figuren finden in kritischen Entscheidungssituationen zu sich selbst und entschlossen zur Geschichtstat, etwa der chinesische Chauffeur Wu Pei Li in der Anekdote »Der Führerschein« (1932). Japanische Besatzer zwingen ihn, einige ihrer Offiziere und Zivilisten durch die unter der Besetzung leidende Stadt zu fahren, wobei er begreift, dass er im Sinne der Partei und seines geschundenen Volkes den »Auftrag« hat, den Wagen mit sich und den feindlichen Insassen »in einem kühnen, dem Gedächtnis der Masse für immer eingebrannten Bogen, in den Yangtse« zu steuern (WA II/1, 192). Auch hier wird das richtige Tun problemlos bewältigt. Das trifft auch auf eine weitere Anekdote zu, »Die Stoppuhr« (1932), die allerdings nicht eine Einzelfigur in den Mittelpunkt stellt, sondern Massen von Soldaten, die dem Regime Chiang Kai-sheks und den ihm dienenden deutschen Militärberatern nach Drangsalierung und Brutalisierung geschlossen wie auf Befehl den Rücken kehren und zur »Kerntruppe« der roten Opposition werden (WA II/1, 202). Historisch gab es solches Desertieren, aber Seghers’ pointierte Darstellung verbindet Parteilichkeit mit erzählerischer Überhöhung.
Romane der 1930er Jahre Seghers’ erster Roman, mit dem sie die von ihr kritisierte Erzählung Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft zu verbessern beabsichtigte, ist Die Gefährten (1932), ein Werk, das wegen seines dezentralisierenden epischen Verfahrens, das sich der »sinnlichen Unmittelbarkeit« verschreibt, vom herkömmlichen
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V Themen und Kontexte
Roman abweicht (Albrecht 1975, 233, 192) und wegen seiner Leidensdarstellung von Siegfried Kracauer 1932 als »Märtyrerchronik« bezeichnet wurde (zit. nach Hilzinger 2000, 165). Ziel dieses simultan erzählten, viele Schicksale und Schauplätze vergegenwärtigenden Werkes war die Darstellung des Lebens und Sterbens einer Reihe von Revolutionären. Es sind vor allem Männer, die in Ungarn, Polen, Italien, Bulgarien und China als überzeugte Kommunisten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis etwa 1931 kämpfen, wobei die meisten dieser Aufbegehrenden, die an »Brennpunkte des Klassenkampfes« (Albrecht 1975, 249) gelangen, Opfer der Gewalt terroristischer Unrechtsregime werden. Während unter den Kämpfenden Arbeiter und Bauern sind, stehen ihnen die aus dem Bürgertum stammenden Intellektuellen gegenüber, oft als Emigranten, die aber wie der ungarische Hochschullehrer Steiner im Exil die Verbindung zur revolutionären Bewegung und zur kommunistischen Partei verlieren. Bevor sie ins Exil gezwungen wird, verfolgt Seghers das Modell der Vergewisserung, dass trotz der Niederlagen der revolutionären Kämpfe die Bemühungen um Geschichtsveränderung im Zeichen »internationaler Solidarität« (Wolf 1987, 266) unentwegt weitergeführt werden müssen. Was Seghers in ihrem nächsten Roman Der Kopflohn (1933) beschäftigte, war die Frage, wie der Faschismus im deutschen Volk Fuß fassen konnte (vgl. Schrade 1993, 40). Nun schon im Exil griff Seghers zu einem Schauplatz in ländlicher Gegend. Ein Leipziger Arbeitsloser, der von der Polizei steckbrieflich gesucht wird, findet im Sommer 1932 Zuflucht bei Verwandten in einem rheinhessischen Dorf, das keine idyllische Welt darstellt, sondern vom unverkennbaren Verlust menschlicher Werte anfällig ist für das faschistische Werben um die Landbevölkerung. Die zunehmende Enthumanisierung wird deutlich in der Brutalisierung, mit der der Bauer Schüchlin seine geistig behinderte Frau quält und in den Tod treibt, während ein anderer Bauer, Zillich, die Gegend mit seinem SA-Sturm terrorisiert. Auf die im Steckbrief ausgeschriebene Belohnung reagieren die Dorfbewohner unterschiedlich. Manche, denen das Geld in der Zeit der Weltwirtschaftskrise sehr willkommen wäre, handeln aber »instinktiv solidarisch« (Neugebauer 1988, 51), eine Solidarität, die einer »säkularisierten Nächstenliebe« (Hilzinger 2000, 167) zu entstammen scheint. Der Gesuchte wird zunächst nicht preisgeben, bis Nutznießer sich die Belohnung sichern. In Der Kopflohn behandelt Seghers die Thematik einer schwindenden Gerechtigkeitssuche und So-
lidarität in einer vorwiegend großstadtfernen faschisierenden Dorfwelt. Die Exilkurzprosa Das Viereck (WA II/2, 15 f.) exemplifiziert am Beispiel des Erlebens der jungen Marie den wichtigen Aspekt des Erbes eines politischen Engagements. Das Bild des Kommunistenführers Ernst Thälmann als Redner auf einer Demonstration, an der Vater und Tochter fasziniert teilgenommen hatten, hat die Mutter nach dem Tod ihres Mannes aus Anpassung an das Nazi-Regime abgehängt. Jedoch hält die kleine Tochter an der Erinnerung des politischen Erbes des Vaters insgeheim fest und widersetzt sich dem Gesinnungswandel der Mutter, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Widerstand gegen den Faschismus wird eines der Hauptthemen von Seghers’ Schreiben im Exil. 1934 besucht die Autorin Österreich und recherchiert Ereignisse der Niederschlagung des Aufstandes der sozialdemokratischen Schutzbündler durch das faschistische Dollfuß-Regime. Das Muster einer gescheiterten Rebellion verfolgt Seghers erneut in der konfliktreich gestalteten Erzählung Der letzte Weg des Koloman Wallisch (1934) und in dem Roman Der Weg durch den Februar (1935), wo die Volksfrontthematik als Zusammengehen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten anklingt. Simultan- und Episodentechnik ergeben ein intensiviertes Ereignisbild. Mit der separat veröffentlichten Episode »Aufstellen eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kamptschik« knüpft Seghers an ihre Visionen weiblicher Selbstfindung an. Denn die Frau dieser Episode, junge Mutter eines Kleinkindes, deren Mann sie im Stich gelassen hat, wird in ihrer alltäglichen Ordnung von Schutzbündlern überrumpelt, die zur Verteidigung des Karl-Marx-Hofes ein Maschinengewehr im Fenster ihres Wohnzimmers aufstellen, wogegen sich die Frau anfangs wehrt, bis sie begreift, dass etwas Unerhörtes geschieht. Als die Schießerei losgeht und der das Maschinengewehr bedienende Schutzbündler seine öligen Hände abwischen muss, reicht ihm die Frau ihre Schürze. Deutlich führt Seghers die junge Therese zum Entscheidungsmoment, zur Absage an ihren Mann, was sich lapidar so findet, »ihr Mann war ihr Mann, sie war sie« (Kamptschik 1970, 23). Auch vom kleinlichen Besitzdenken ihres Milieus löst sich die nun aktivierte Frau; denn als das Maschinengewehr balanciert werden muss, wirft sie ein ledernes Kissen dazu und schleppt eine Matratze herbei. Gewiss, die Frau ist ›nur‹ in Hilfestellung, aber doch selbstbewusst in Solidarität mit den im Widerstand Kämpfenden.
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Im Roman Die Rettung (1937), einer »Chronik der deutschen Arbeitslosen« (Benjamin 1938, 530), verwendet Seghers ein historisches Grubenunglück in Schlesien, bei dem sieben Bergleute gerettet wurden, um in der Zeitspanne von 1929 bis 1933 das Thema der großen sozialen Krise, der massiven Arbeitslosigkeit und den Aufstieg der Nationalsozialisten abzuhandeln. Der Bergarbeiter Bentsch, der sich als Führer der Verschütteten Untertage bewährte, wird nach der Rettung wie die anderen arbeitslos und von wachsender Leere erfasst. Seinen zu ihm aufblickenden Kameraden kann er keine neue Hoffnung geben. Sein Charisma als umsichtiger Führer geht verloren. Demoralisiert verliert Bentsch als entmutigter Familienvater auch im Privaten an Selbstwert und Stellung. Durch die Belehrungen des jungen, bald verhafteten Kommunisten Lorenz, der ihn, den ehemals parteilosen Katholiken, dazu bringt, seine Orientierungslosigkeit zu überwinden, solidarisiert sich Bentsch mit dem Abwehrkampf der Arbeiter und engagiert sich illegal gegen den Aufstieg und die Machtübernahme der Nazis.
Kollektive und individuelle Solidari sierungen Im Kontext der Werke zu Konzentrationslagern und Nazigewalt von anderen sozialistischen Schriftstellern und aufgrund von Zeitungsartikeln und Erlebnisberichten von entflohenen Häftlingen und Reisenden (vgl. Neugebauer 1988, 87) schuf Seghers ihren großen Deutschland- und Gesellschaftsroman Das siebte Kreuz, den sie den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands widmete. Das Werk wird auch als »Heimatroman« angesehen, wobei Seghers den vom Faschismus okkupierten und missbrauchten Begriff »Heimat« für ein entfaschisiertes Heimatbild reklamiert (Hilzinger 2000, 178). Der Roman spielt in der Seghers wohlvertrauten Rhein-Maingegend, signifikant vertreten mit einer Szene im Dom ihrer Heimatstadt Mainz. Sie schafft einen Modellfall, wie Widerstand in einer nahezu gleichgeschalteten Nation über Reste der in den Untergrund gedrängten Antifaschisten hinaus in einem breiten Spektrum des Volkes sich zu zeigen und zu aktivieren vermag. Mit Georg Heisler hat Seghers einen menschlich, politisch und im Privaten oft nicht zuverlässigen Helden dargestellt, dem es als einzigem von insgesamt sieben ausgebrochenen KZ-Insassen gelingt, durch Hilfe vieler anderer auf einem Schleppkahn nach Holland zu entkommen.
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Für jeden der Entflohenen war eine Platane im KZ gekappt und durch ein Querbrett in ein Kreuz verwandelt worden, um die Wiedereingefangenen daran zu hängen, womit sich Seghers auf ein ihr erzähltes Bestrafungsbeispiel bezog. Die Tatsache, dass das siebte Kreuz leer bleibt, gibt den verbliebenen Insassen Hoffnung und bestätigt ihnen das Unangreifbare und Unverletzbare im Innersten eines jeden Menschen. Mit der säkularisierten religiösen Symbolik etwa des Kreuzes vergegenwärtigt Seghers besonders wichtige Konzepte ihres sozialistischen Humanismus wie Gerechtigkeitssinn, Engagement, Solidarität und Widerstand in Schilderungen von vielen Einzelleben als auch im Gesellschaftsganzen. Seghers stellt den Widerstand nicht als Selbstverständlichkeit dar, sondern der Eine, Heisler, der Hilfe braucht und sie durch die verinnerlichte Stimme seines Gefährten und Lehrers Wallau in Notlagen oft im Innern findet, bringt die Anderen, denen er begegnet, in Entscheidungssituationen, in denen sie gefordert werden, das Richtige zu tun. Gebrauchtwerden ist in der Lage, geteilte Werte zu aktivieren, Verschüttetes wiederzuerwecken. Ein Beispiel dafür ist ein früherer Freund von Heisler, Paul Röder, dem es mit seiner Familie recht gut geht mit Hitler an der Macht. Er hat seine Arbeit in einer Munitionsfabrik, Vergünstigungen und Zulagen. Vergessen sind die Tage der Arbeitslosigkeit und seines linken Beteiligtseins. Derselbe Röder bleibt aber seinem alten Freund treu, nachdem ihm Heisler gestanden hat, einer der KZ-Flüchtlinge zu sein. Menschliche Solidarität bewegt Röder bei seiner Suche nach möglichen Verstecken für seinen Schorsch, und die Dialektform des Vornamens drückt die unverkennbare Nähe im Heimatlichen aus. Röder ist es schließlich, der Heisler zu helfen weiß und auch nach Vorladung zur Gestapo den Kameraden nicht verrät. Röder erneuert Beziehungen zu Leuten im Untergrund, die sich bislang still verhalten haben. Heisler wird an den Chemiker Dr. Kreß, einen früheren Weggefährten, vermittelt, den seine Frau unterstützt, die das Gebrauchtwerden wie eine herbeigesehnte Bewährungsprobe empfindet. Als Kreß und seine Frau wie verabredet Heisler in Sicherheit gebracht haben, erleben sie ein ganz neues Einverständnis. Gebrauchtwerden und Hilfe-Geben führt nicht nur zu menschlicher Solidarisierung, sondern im Sich-Bewähren intensivierten sich Selbstfindung und Ich-Stärkung. Gegenüber diesen Reaktivierungen ehemaliger linker Aktivisten steht die wichtige Wandlung des Gärtnerlehrlings Fritz Helwig als Beispiel, wie ein Hitlerjunge dem Naziregime abtrünnig ge-
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macht werden kann durch den Einfluss des Gärtners Gültscher, einem Altkommunisten, wobei dieser Fritz von dem brutalen Nazi-Schergen Zillich so angewidert ist, dass er sich von den Naziidealen lossagt (vgl. WA I/4, 351). Nach dem Krieg hat Seghers Zillich in der Erzählung Das Ende (1945) als Unbelehrbaren und Reuelosen sich das Leben nehmen lassen. Franz Marnet, eine andere Figur aus Das Siebte Kreuz, erscheint in der Erzählung Die Saboteure (1948). Mit zwei Kollegen manipuliert er die Zündungen an Handgranaten, die vorzeitig explodieren und damit ihre Bediener töten. Von den an der Sabotage und Widerstandsaktion Beteiligten wird einer identifiziert und hingerichtet, der zweite ist im Feld gefallen, während Marnet selbst vermisst ist. Die großen Motive Gerechtigkeit, Engagement, Solidarisierung und vor allem Widerstand im Siebten Kreuz stehen in Verbindung zu den wichtigen »zwei Linien«, die Tamara Motyljowa 1953 in einer Aussage von Seghers überlieferte: »Erzählen, was mich heute erregt, und die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint und wußte nicht wie« (zit. nach Sauer 1978, 90). Märchenhaftes sowie Sagen- und Legendenhaftes bestimmt Seghers’ Erzählen von Anfang an, obwohl sie zunehmend »die Richtung auf die Realität« genommen hat, wie sie 1938 in ihrer Briefdebatte mit Georg Lukács formuliert (KuW1, 181). Ihrem doppelten Bestreben treu schreibt Seghers im Exil Erzählungen und kleinere Zyklen, die das Märchen- bzw. Sagenhafte manifestieren, z. B. Sagen von Artemis (1938) und Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok (1938). Letztere Erzählung spielt in der vertrauten Karpatenlandschaft und stellt einen Grubetsch-ähnlichen Einzelgänger dar, der im Sinne des vorangestellten Mottos zu den Träumen und der Sehnsucht nach Märchen seine Unabhängigkeit zu finden und seine Abenteuerlust auszuleben sucht, obwohl er auch seinem Wunsch nach Gemeinschaft folgt und sich mit den anderen im Rhythmus der Jahreszeiten verbindet. Brecht war angetan von Woynok, der querliegt und sich in seiner Eigenart behauptet, und lobte, Seghers habe »die Befreiung« vom »Auftrag erkennen lassen« (Sauer 1978, 89). Gemeint ist wohl die Unabhängigkeit von Direktiven durch die Partei und ein parteiliches Schreiben, was schon weitgehend im Siebten Kreuz erkennbar ist, wo es auch Reservate des Individuums gibt, die nicht in kommunistischer Ideologie und Parteilichkeit aufgehen. Christa Wolf hat nachdrücklich als »Grundstoff« von Seghers »die sozialen Zustände und Kämpfe dieses Jahrhunderts« (Wolf 1987, 265) bestimmt. Ange-
sichts der »Chroniken von Märtyrern« hat Wolf infrage gestellt, dass diese Werke »schlicht als kommunistische Propagandaschriften« (ebd., 330) zu verstehen seien, und stattdessen betont, dass Seghers »die Solidarität der Menschen untereinander« und »die Sehnsucht nach einem vernünftigen, menschenwürdigen Leben« (ebd.) betrieb. Die menschliche Solidarität steht im Fokus der chronikalischen Erzählung Das Obdach (zunächst Das Asyl betitelt), die Seghers 1940 im besetzten Paris unter Lebensgefahr verfasste (Schlenstedt WA II/2, 388). Hauptfigur ist Louise Meunier, Mutter dreier Kinder, die einen von der Gestapo gesuchten deutschen Waisen, dessen Mutter verstorben und dessen Vater von den Nazis beseitigt wurde, beherbergt. Gegenüber ihrem Mann, dem sie nicht zutraut, einen Fremden aufzunehmen, greift die Frau zu einer Notlüge, gibt den Jungen als Kind ihrer Kusine aus. Louise Meunier handelt wohl nicht in einem »spontanen Mitgefühl« (ebd.), sondern Seghers macht aus der Entscheidungssituation, in der die Frau dem scharfen Blick des Jungen begegnet, eine Herausforderung für diese Mutter und Hausfrau. Es »wuchs mit gewaltigem Ruck das Mass des Selbstverständlichen, und mit dem Mass ihre Kraft« (Od, 101 f.). Erst als die Besatzer sich breitmachen, so dass der Alltag des Herrn Meunier und sein gewohntes »Leben zerstoert« (Od, 105) wird, findet er Gefallen an dem Jungen, von dem ihm seine Frau erzählt hatte und den er jetzt aufzunehmen bereit ist. Wie nebenbei sagt Frau Meunier, dass er den Jungen ja bereits aufgenommen habe. Was bei der Mutter in der Anekdote »Marie geht in die Versammlung« als parteiliches Programm einer Solidarisierung anmutete, die Ausdehnung der Sorge um die eigenen Kinder auf Millionen Kinder, ist in diesem Beispiel aus dem besetzten Paris eine Geschichte mit dem brisanten Grundkonflikt zwischen dem »gewöhnlichen und dem gefährlichen Leben« (Wolf 1987, 269). Mit Louise Meunier schafft Seghers eine besondere Frauenfigur, die sich ebenfalls von patriarchalischer Bevormundung befreit und sich nicht auf mütterliche Instinkte reduzieren lässt. Vielmehr gewinnt sie in einer Zeit des Defaitismus und der Kollaboration die Kraft, wie selbstverständlich das Ethos menschlicher Solidarität zu verwirklichen. Wie Seghers 1957 in einem Brief schreibt, versuchte sie, »die Ursache und den Sinn und das Zustandekommen des Widerstandes im französischen Volk klarzumachen« (zit. nach Hilzinger 2000, 117). Bemerkenswert ist, wie die unscheinbare Hausfrau dem Jungen im besetzten Paris unter Lebensgefahr solidarische Hilfe gewährt.
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Auf der Flucht und im Exil Im Stichlassen und menschliche Solidarität sind zentral für Seghers’ Roman Transit, 1944 in englischer Sprache erschienen, 1948 erstmals auf Deutsch publiziert. Das Werk spiegelt in vielem ihre eigene Situation im besetzten Frankreich, ist aber fiktional signifikant verändert: ihre eigene Flucht aus Paris über die Demarkationslinie in den Süden, wo sie für sich, ihre Kinder und ihren internierten Mann im nahen Marseille die Auswanderung nach Mexiko betreiben konnte, vor allem Visen, Transitvisen und Schiffspassagen. Die verwirrende, frustrierende, gar »tödliche Bürokratie« der Ämter und Konsulate brachte Seghers die Darstellungen von Kafkas labyrinthischer Behördenwelt nahe, und trotz der Verschiebung des Erlebniskontextes ins Fiktive ist Transit der »persönlichste Roman der Seghers«, der als Grundsituation eine vertrackte Liebesgeschichte aus Racines Tragödie Andromaque verwendet: »Zwei Männer kämpfen um eine Frau, aber diese Frau liebt in Wirklichkeit einen dritten Mann, der schon tot ist« (Batt 1973, 156–157, 159). Seghers hat einen Ich-Erzähler geschaffen, einen Namenlosen, der vorgibt, in einer Pizzeria in Marseille im Winter 1940/41 einer/einem Unbekannten seine Geschichte zu erzählen. Sehr konstruiert wirkt diese Erzählerfigur. Denn der parteilose Monteur, der spontan auf einen SA-Mann eingeschlagen hatte, landete im KZ, aus dem er 1937 nach Frankreich entkam, wo er zu Kriegsbeginn in Rouen interniert wird. Als die Wehrmacht Frankreich überrollt, entkommt er mit einer kleinen Gruppe dem Arbeitslager, begibt sich ins besetzte Paris, wo er sich mit gefälschten Papieren Seidler nennt und bei französischen Freunden unterkommt. Durch verschiedene Zufälle gelangt er in den Besitz der Hinterlassenschaft des Schriftstellers Weidel (als Vorbild dient der emigrierte Autor Ernst Weiß), der sich in Paris das Leben genommen hat. Obwohl ein »Bücherfeind« (Walter 1984, 57) hat der Ich-Erzähler einen Bildungshorizont (vgl. Schrade 1993, 69), der weit über das Niveau dieses leseunwilligen Arbeiters hinausreicht und zeigt, wie sehr es sich um eine Erzählmaske handelt. Seidler verschlingt das letzte Manuskript des Schriftstellers und ist »verzaubert« davon: »eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen« (Tr, 26). Es ist eine Vorausdeutung auf das, was es in Transit an verwirrenden Verwicklungen gibt, so dass der Ich-Erzähler »einmal alles von Anfang an erzählen« (Tr, 7) will: »Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird« (Tr, 215). Trotz Maske und schillernder Identität gelingt dem Ich-Erzähler die Bewältigung von
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Erlebtem durch Erzählen, durch Mitteilung und dadurch, sich anderen anzuvertrauen, was ein Zeichen von solidarischer Verständigung und als Zuhören »ein Akt der Solidarität ist« (Hilzinger 2000, 182). Schon in Paris erscheint es dem Ich-Erzähler opportun, die Identität Weidels anzunehmen. In Marseille setzt er bei den Konsulaten und in der chaotischen Transit-Welt, die viele der Visen-Suchenden zur Verzweiflung und manche Transitäre in den Tod treibt, dieses Verwirrspiel fort. Der Ich-Erzähler lässt sich zeitweilig auf eine Freundin ein, Nadine, obwohl ihn eine rätselhafte Frau fasziniert, in die er sich rückhaltlos verliebt. Es ist Weidels Frau Marie, die ihrem Mann mit einem Arzt durchgebrannt ist, wegen der Papiere und Visen jedoch besessen und zombiehaft ihren Mann in den Cafés und der Stadt sucht, besonders nachdem Seidler auf den Konsulaten als Weidel in Erscheinung getreten ist. Von Marie, die ihm oft über den Weg läuft, glaubt er, sie sei ihm »als Beute in irgendeinem Kriegszug« (Tr, 178) zugefallen. Es ist eine verhexte Liebe, denn er will von der nach dem Phantom ihres Mannes Suchenden Besitz ergreifen. Es kommt auch zu Annäherungen zwischen den beiden, so dass er selbstgewiss meint, er könne bei ihrer gemeinsamen Abfahrt mit dem Arzt auf dem Schiff, »Marie ihrem Begleiter abjagen« (Tr, 264). Doch als Seidler Weidel für tot erklärt, hält Marie an der Gewissheit fest, ihren Mann dennoch wiederzufinden. Da gibt der Ich-Erzähler auf und begreift, dass Marie die unerreichbare Geliebte bleiben wird, denn: »Der Tote war uneinholbar« (Tr, 268). Das Erzählen einer tragisch unmöglichen Liebe führt den Ich-Erzähler zur Resignation, während es für Marie und den Arzt eine Todesfahrt wird, da die ›Montreal‹ unterwegs sinkt. Geläutert von seiner ihn verzehrenden Liebesbesessenheit, gewinnt der Ich-Erzähler eine Vorstellung seiner »eigenen Unversehrbarkeit« (WA I/5, 273). Diese Erfahrung führt ihn auch dazu zu bleiben und sich am Ende in den Bergen der Résistance anzuschließen, ein Schluss, den die Autorin wohl erst in letzter Minute in diesem Sinne änderte (Hilzinger 2000, 180). In dem Prozess seines menschlichen Zu-Sich-Selber-Kommens dient eine alltäglichere Liebesgeschichte, die zu Nadine, als Kontrastfolie zu der Marie-Besessenheit des Ich-Erzählers. Nadine ist schön, frei und anschmiegsam in ihren Beziehungen zu Liebhabern. Nachdem sie zunächst fallengelassen wurde, kommt es doch zu mehreren Wiederbegegnungen und zum Zusammensein mit dem Ich-Erzähler. Nadine erweist sich als liebevolle und hilfreiche Geliebte, die verständnisvoll dem geplagten Liebhaber beisteht und
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V Themen und Kontexte
ihm auch durch die Vermittlung an ihre Kusine Rosalie Zugang zu wichtigen offiziellen Papieren verschafft. Diese pragmatische Form alltäglicher Liebe im gewöhnlichen Leben erweist sich als fast unmerkliche menschliche Solidarisierung im Unterschied zu der mythisch unmöglichen Liebe zu Marie. Im Gegensatz zu typisch Unzuverlässigen wie etwa Paul und Achselroth, erfährt Seidler in der Beziehung zu Nadine Entscheidendes im Zwischenmenschlichen: Verständnis, Verbundenheit und Unterstützung. In der Hinwendung zu dem kranken Knaben von Binnets Geliebter Claudine und zu dem im Spanischen Bürgerkrieg kriegsversehrten Heinz sucht Seidler Nähe und Gemeinschaft mit denen, die Anerkennung und Zuwendung benötigen. Indem er dem Gebrauchtwerden entspricht, sich gegen Indifferenz und Im-Stich-Lassen wendet, findet er zur menschlichen Solidarität und zur geschichtlichen Aktionsbereitschaft. Transit ist eine Art Bildungsroman, der eine sehr individuelle Hoffnung gibt: Im Chaos der Emigration und des Krieges kann der Einzelne auch ohne vorgegebene politische Weltanschauung den rechten Weg finden zur Selbstverwirklichung und zum Eintreten für die Gemeinschaft im Widerstand gegen drohende Gefahren. Ist Transit ein erzählerisches Denkmal der von Seghers prekär erlebten Situation der Flucht aus Marseille nach Mexiko ins Exil, so wendet sich ihre Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen zurück an ihre Jugend vor dem Ersten Weltkrieg, wobei das Schreiben der Erzählung als ein von ihrer Lehrerin erteilter Auftrag für einen Schulaufsatz fingiert ist. Es ist ein »Requiem« für die Schulkameradinnen, die während der Nazizeit und des Zweiten Weltkrieges ihr Leben verloren und zugleich auch für ihren 1940 verstorbenen Vater Isidor Reiling und die Mutter Hedwig Reiling, die 1942 aus Mainz nach Piaski, Polen, deportiert wurde und entweder dort im Ghetto umkam oder weitertransportiert und in einem von Deutschen eingerichteten Konzentrationslager ermordet wurde (vgl. Beicken 2018, 28). Diese Rahmenerzählung zeigt Seghers im mexikanischen Exil in unwirtlicher Landschaft, die sich einem traumartig geschilderten Erleben des Schulausflugs auf dem Rhein öffnet, wobei die Autorin in der Gegenwartsperspektive ihrer jugendlichen Persona, Netty gerufen, immer wieder interveniert. Denn die späteren Schicksale der Mädchen werden aus wissender Geschichtsperspektive kommentiert, positiv beurteilt bzw. negativ verurteilt, je nachdem die jeweilig Betroffene sich als aufrichtige und widerständige Person oder als das Naziregime unterstützende Opportunistin bzw. Mitläuferin erweist.
Zwei Figuren, die Nettys liebste Freundinnen waren, ragen aus dem Ensemble der vierzehn Mädchen heraus: die rechtschaffene Leni, die ihren Bruder im Ersten Weltkrieg verliert und im Dritten Reich mit ihrem Mann Fritz zum Widerstand findet und die in einem Frauen-KZ verhungert. Ihre engste Freundin ist Marianne, ein Mädchen von märchenhafter Schönheit, das mit einem Jungen, der als Märchenprinz erscheint, liiert ist, ihn aber in den ersten Kriegsmonaten 1914 verliert. Seghers schildert das lähmende Trauma der Marianne, die dadurch gezeichnet ist, dass sie ihr Selbst verliert und Frau eines üblen Nazis wird. Die Erzählerin beklagt, dass diese Marianne sich weigert, der Tochter ihrer früheren Lieblingsfreundin Leni zu helfen, als Freundinnen der im KZ verhungerten Mutter Geld sammeln, um ihr verwaistes Kind – der Vater Fritz ist auch umgebracht worden – zu entfernten Verwandten in Sicherheit zu schicken. In der Erzählung kommt Marianne bei einem Bombenangriff auf Mainz um, während das von ihr verleugnete Kind Leni in einem Nazi-Erziehungsheim auf dem Lande überlebt. Seghers findet eine anrührende, erschütternde Darstellung, wie die jugendliche Netty, zu Hause angekommen, nicht die Treppen zu ihrer wartenden Mutter emporsteigen kann, während sie in Verleugnung des Todes ihres Vaters die Kindheitserinnerung hat, dass er, noch mit Nachbarn schwatzend, gleich heimkehren werde. Beide, Mutter und Vater, sind in der erinnerten Kindheit noch nicht tot, wie es später Gewissheit wurde. In einem künstlerischen Akt der Selbstidentifikation fusioniert Seghers ihr frühes mit ihrem Exil-Ich und kehrt in einer filmischen Überblendung nach Mexiko, dem Exilland zurück, in eine weniger unwirtliche Situation. Als darstellende und aus dem Off kommentierende Erzählerin hält sie Gericht über die Verfehlungen ihres Heimatlandes und preist diejenigen, die gegen den Nazismus unter Einsatz ihres Lebens kämpften. Zwar gedenkt sie dem Tod ihrer Eltern, aber ähnlich wie in einer dem jüdischen Familiensinn gewidmeten Erzählung, Post ins Gelobte Land (1946) berührt sie mit dem Fokus auf eine einzelne jüdische Familie die Bedeutung der Shoa.
Deutschlandromane – Texte nach dem Zweiten Weltkrieg Aus dem Exil bringt Seghers 1947 Die Toten bleiben jung, ein breites ereignisreiches Geschichtsbild der Zeit von 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in umfänglicher Romanform, was als »Bebildern von
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Wissen« (Bernhard Greiner) kritisiert worden ist, während aus gegenteiliger Perspektive »Gehalt und künstlerische Struktur gerade dieses Buches nicht ausgelotet« (Sigrid Bock) seien (zit. nach Schrade 1993, 79). Indem Seghers den Mord an dem Spartakisten Erwin durch die Weißen Garden nach den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht modelliert, betont sie das proletarische Fußvolk und die bald eskalierende Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts, das Erstarken des Faschismus, das Nazireich und den verhängnisvollen Zweiten Weltkrieg. Gleichfalls zeichnet sie in Marie, die von einer Tante zur Abtreibung überredet wird, sich aber in letzter Minute entscheidet, den Sohn ihres ermordeten Geliebten auszutragen, eine weibliche Figur, die zu sich kommt und ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität und Widerstand findet. So bewegend und eindrucksvoll viele der Figuren und ihre Schicksale sind, greift Seghers oft auf bewährte Muster zurück. So wiederholt sie aus der Anekdote »Der Führerschein« die im Parteiauftrag solidarisch vollzogene Autofahrt in den Fluss. Bei dem Chauffeur Becker, der seinem Herrn Klemm lange gedient hat, schlägt Jahre später – ohne jede Beziehung zu einem Klassenbewusstsein – Loyalität in Hass um. Als Individualtäter fährt Becker den Wagen mitsamt seinem nun verhassten Herrn in den Rhein (Tbj, 213). Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1947 fand sich Seghers in der zwei Jahre später begründeten DDR in einer neuen Situation, was die sozialistische Wirklichkeit betraf, die Ungewohntes in Darstellung und Thematik abverlangte. Außerdem schuf sie viele Erzählungen und Zyklen, die sich mit Mexiko, der Karibik und anderen Weltteilen auseinandersetzen. In den karibischen Geschichten befasst sich Seghers vor allem mit großen historischen Umwälzungen. Gegen krasse Unterdrückung wehren sich Sklavenaufstände auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit und menschenverbindender Solidarität. Es sind Darstellungen außereuropäischer revolutionärer Befreiungsversuche, deren Darstellungen nicht als »eurozentrisch« (Gutzmann 1988) abgetan werden können. Auch der späte kleine Zyklus Drei Frauen aus Haiti (1978–1980) zeigt »ein Triptychon vom Leid der Frauen in der von Männern beherrschten Welt und Geschichte« (Hilzinger 2000, 161). Die mittlere Erzählung Der Schlüssel hat den erfolgreichen Sklavenaufstand auf Haiti zum Thema, obwohl im Getümmel des Aufstands nur ein Einziger erkennt, dass eine Frau in einem Wandgefängnis eingesperrt ist, die er nach Auftreiben des Schlüssels befreit. Die beiden
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werden ein Paar und später werden sie zur Strafarbeit nach Frankreich deportiert, wo sie den Tod ihres Anführers Toussaint Louverture beklagen. Dem Gefängnisbefreier wird der Schlüssel ins Grab mitgegeben als Mahnung »bis zur Auferstehung aller Sklaven der Welt« (DFH, 345). Seghers’ Konzeptionen wie Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität und Widerstand erscheinen in diesen revolutionären Kontexten modifiziert bzw. intensiviert. Zu ihren wichtigen DDR-Werken gehört der vielsträngige Roman Die Entscheidung (1959), der den Zeitraum von 1947 bis 1951 behandelt, wobei drei der Hauptfiguren Spanienkämpfer sind, die sich wie alle anderen vor die Entscheidung für den sozialistischen Osten gegen den kapitalistischen Westen gestellt sehen. Seghers geht es dabei um den »Rückbezug auf den Nationalsozialismus und dessen tendenzieller Restauration im Westen bzw. auf das antifaschistische Erbe im Osten« (Hilzinger 2000, 187). Der Roman und das Nachfolgewerk Das Vertrauen (1968), das die Zeit zwischen Stalins Tod im März und den Ereignissen um den 17. Juni 1953 behandelt, sind »offiziell als hervorragende Beiträge zur Darstellung des ›Übergangs zum Sozialismus‹ gefeiert« (Stephan WA I/7, 650) worden, obwohl die westdeutschen Kritiken beider Romane im Gefolge der Ideologiekonflikte des Kalten Krieges vorhersehbar negativ ausfielen (ebd., 693–702). Beide Werke konfrontieren den Osten mit dem Westen und machen deutlich, dass im entwickelnden Sozialismus die gerechtere Gesellschaft zu finden ist, nachdem das deutsche Volk »entsetzlich vom Faschismus zerstört wurde, moralisch und intellektuell« (ebd., 653). Seghers führt die Notwendigkeit individueller Entscheidung vor, um aus den Trümmern der Geschichte eines »zerstörten Landes eine neue, bessere Welt zu bauen« (ebd., 702). Die sozialistische Welt im späteren Roman verdient bei aller Kritik eine Würdigung der Thematik, wie durch Vertrauensbekundung wieder Gerechtigkeit und Solidarität und im Sinne antifaschistischer Tradition auch der Widerstand gegen Gefahren aus dem Westen den Sozialismus bewahren sollen. Auch die als DDR-Schullektüre beliebte Erzählung Das Schilfrohr aus dem Erzählzyklus Die Kraft der Schwachen (1965), ein säkularisiertes Bibelwort, zeigt bewährte Muster. Die alleinstehende Marta Emrich ist eine Ordnung haltende Hausfrau im Sinne der Nazi-Ideologie. Kurt Steiner, ein hilfsbedürftiger Widerständler, fordert die ans Regime Angepasste heraus. Sie gewährt ihm zögerlich Unterschlupf, hört seinen Erklärungen zu, freundet sich mit seiner Welt-
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V Themen und Kontexte
sicht an und lässt sich auf ihn ein, was formelhaft so erscheint: »Und frisch und gut war ihr Bett« (KS, 219). Um Steiner vor Razzien der Feldpolizei zu schützen, bringt ihn Marta dazu, im nahen See untergetaucht durch ein Schilfrohr atmend zu überleben. Nach Kriegsende kommt Steiner mit russischen Offizieren vorbei, schenkt Marta ein Esspaket und verschwindet nach Berlin, wo er in der neuen Verwaltung arbeitet. Einmal noch besucht er seine Retterin, stellt ihr seine Frau vor und bringt ihr kostbaren Bohnenkaffee. Marta sucht später Kurt in Berlin auf, aber er hat sich in den Westen abgesetzt, ein Verräter am Sozialismus. Marta beginnt gerade erst, Sozialistisches zu studieren, nimmt einen Umsiedler als Mann und wird in den Augen der anderen so eingeschätzt: »Die ist ordentlich« (KS, 226). Die Entwicklung Martas von einer Mitläuferin im Dritten Reich zur Sozialistin verfährt unbezweifelbar geradlinig und ohne die bei Seghers faszinierende Widersprüchlichkeit ihrer Figuren. Das Verhalten und die klischeeverdächtigen Formulierungen machen Martas Ankunft im Sozialismus eindimensional. Die Frage der Gerechtigkeit wurde für Seghers besonders drängend nach dem Prozess gegen Walter Janka im Jahre 1956, dem sie wie andere bleich und stumm beiwohnte, obwohl sie in einer privaten Unterredung mit Walter Ulbricht zugunsten des Angeklagten zu vermitteln suchte. In dem zum Zyklus Die Kraft der Schwachen gehörenden Novellenversuch Der gerechte Richter geht es Seghers um Macht und Rechtsprechung, denn der junge Richter Jan soll auf höhere Weisung einen Angeklagten verurteilen, gegen den er nichts Gravierendes finden kann. Beide werden inhaftiert und kommen erst nach Jahren wieder frei. Seghers ließ diesen Text für später liegen, ohne dass es zu einer Fertigstellung kam. Der vorläufige Schluss wirkt unbefriedigend und »hausbacken« (Zehl Romero, zit. nach WA II/5, 453). Die Konzepte Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität und Widerstand sind konstituierend für Seghers Denken und Schreiben seit den 1920er Jahren. Dabei trachtete Seghers von früh an mit ihrem Schreiben nicht ihren vier Grundkonzepten zu dienen, sondern sich auch auf gesellschaftliche Praxis zu beziehen, definierte sie doch ihre künstlerische Tätigkeit, »einem Stück Wirklichkeit einen Steckbrief ausstellen« und »beschreibend zu verändern« (KuW2, 13, 15). Das führte zu ihrem Schreiben als Solidarisierung (vgl. Franzen 2018). In den Werken bis zum Exil und darüber hinaus dienen diese Vorstellungen als programmatische Leitlinien für die oft verschiedenartige Poli-
tisierung der Figuren, die im Sinne eines sozialistischen Humanismus ihre Selbstfindung betreiben, während auch die Bestrebung erkennbar ist, sich in die von der Partei gelenkten Aktionen einzubinden. In den Exilwerken stehen vor allem menschliche und klassenmäßige Solidarität und antifaschistischer Widerstand im Vordergrund. In der Zeit nach dem Exil, in der DDR ergeben sich bei Seghers, wie punktuell gezeigt wurde, viele Rückgriffe auf Muster, die auf die sich entwickelnde reale sozialistische Gesellschaft vordatiert sind. Literatur
Albrecht, Friedrich: Die Erzählerin Anna Seghers 1926– 1932. Berlin 1975. Batt, Kurt: Anna Seghers: Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 1973. Beicken, Peter: Eintritt in die Geschichte: Anna Seghers’ Frauen als Avantgarde. In: Die Horen 26/2 (1981), 79–91. Beicken, Peter: Who is the Narrator? Anna Seghers’s ›The Excursion of the Dead Girls‹: Narrative Mode and Cinematic Depiction. In: Kristy R. Boney/Jennifer Marston William (Hg.): Dimensions of Storytelling in German Literature and Beyond: »For once, telling it all from the beginning«. Rochester/New York 2018, 24–42. Benjamin, Walter. Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen. Zu Anna Seghers Roman ›Die Rettung‹ (1938). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. III. Hg. von Hella TiedemannBartels. Frankfurt a. M. 1972, 530–538. Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008. Fehervary, Helen: Anna Seghers. The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001. Gutzmann, Gertraut: Eurozentrisches Welt- und Menschenbild in Anna Seghers’ Karibischen Geschichten. In: Annegret Pelz (Hg.): Frauen, Literatur, Politik. Hamburg 1988, 189–204. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Janzen, Marike: Writing to Change the World: Anna Seghers, Authorship, and International Solidarity in the Twentieth Century. Rochester NY 2018. Mejdřická, Lenka: Solidarität im Leben und Werk von Anna Seghers und Lenka Reinerová. In: Viera Glosíková/Sina Meißgeier/Ilse Nagelschmidt (Hg.): »Mir hat immer die menschliche Solidarität geholfen«. Die jüdischen Autorinnen Lenka Reinerová und Anna Seghers. Berlin 2016, 25–32. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Berlin 1988. Reiling, Netty [Anna Seghers]: Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Leipzig 1981. Sauer, Klaus. Anna Seghers. München 1978. Schrade, Andreas: Anna Seghers. Stuttgart/Weimar 1993. Seghers, Anna: Aufstellen eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kamptschik. Erzählungen. Nachwort Christa Wolf. Neuwied/Berlin 1970. Seghers, Anna: Die Toten bleiben jung. Roman. Berlin 1973.
48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand Sternburg, Wilhelm von: Anna Seghers. Ein biografischer Essay. Ingelheim 2010. Walter, Hans-Albert: Anna Seghers’ Metamorphosen. Transit. Erkundungsversuche in einem Labyrinth. Frankfurt a. M. 1984. Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Essays und Auf-
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sätze, Reden und Gespräche 1959–1985. Darmstadt/Neuwied 1987. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Reinbek bei Hamburg 1993.
Peter Beicken
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V Themen und Kontexte
49 Verhältnis zum Judentum »Anna Seghers: Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter. Jedem dieser Worte denke man nach. So viele einander widersprechende, scheinbar einander ausschließende Identitäten, so viele tiefe, schmerzliche Bindungen, so viele Angriffsflächen, so viele Herausforderungen und Bewährungszwänge, so viele Möglichkeiten, verletzt zu werden, ausgesetzt zu sein, bedroht bis zur Todesgefahr« (Wolf 1994, 7). Die in der Aufzählung Christa Wolfs enthaltene Pluralität im Hinblick auf Anna Seghers’ Rollen enthält keine Hierarchie, sondern verdeutlicht die familiärprivaten, künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Bereiche, in denen diese agierte. Zugleich ist damit eine Vielfalt angedeutet, die einseitige Identitätszuschreibungen aufhebt und stattdessen auf Widersprüche ebenso hinweist wie auf Mehrdeutigkeiten. Es lässt sich über drei der Zuordnungen zudem eine Verbindung zu einem der Autoren herstellen, der für Seghers während des Exils zum Begleiter im Geiste werden sollte: Heinrich Heine, auch er war Deutscher, Jude und Schriftsteller. Da Anna Seghers bereits in Jugendjahren zur Lektüre Heines inspiriert worden war, u. a. von Hermann Wendel, dem Lebensgefährten ihrer Tante Clementine Cramer, vermachte Isidor Reiling seiner Tochter bei deren Flucht aus Deutschland 1933 einen Brief Heines an dessen Mutter Betty aus dem Jahre 1848, der der Tochter nicht nur zur Zuversicht, sondern vor allem als finanzielle Absicherung dienen sollte. Heute befindet sich ein Duplikat dieses Briefes im Anna-Seghers-Museum in Adlershof und erinnert in doppelter Weise an die Exilerfahrungen der beiden Autoren, erlebt zu unterschiedlichen Zeiten, jedoch verbunden durch die schmerzliche und kritische Auseinandersetzung mit Deutschland, welche für Seghers andere Herausforderungen bereit hielt als für Heine (vgl. Hilzinger 1998). Darüber hinaus existiert ein weiterer Anknüpfungspunkt hinsichtlich der beiden Schriftsteller. Mit den zeitgenössischen und ab Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Rezeptionstendenzen sowie den zahlreichen Forschungsarbeiten, die sich mit Heines Judentum in affirmativer, pejorativer oder differenzierter Weise auseinandersetzten, können die bisherigen Veröffentlichungen zu Seghers’ ›Judentum‹ noch nicht mithalten, aber auch anhand dieser werden, wie zu Heine, unterschiedliche Positionen evident. Die von Lydia Fritzlar für Heine beanspruchte »Entwicklung des modernen Schriftstellerselbstverständnisses des politisch engagierten Autors« (Fritzlar
2013, 278) im Exil erlaubt ebenfalls Bezüge zu Seghers, insbesondere im Hinblick auf die konstatierte »säkulare[] Perspektive des Schriftstellers auf das Phänomen der jüdischen Diaspora« (ebd.). Zu befragen sind dabei zum einen die Termini, die hinsichtlich einer Bejahung oder Verneinung des ›Judentums‹ verwendet werden, zum anderen die Konnotationen der Begriffe Judentum und jüdische Identität selbst. Die Komplexität des Terminus Judentum resultiert aus der über 4500-jährigen Geschichte und den verschiedenen Zuordnungen, die mit dieser verbunden sind: »The fact is that Judaism is too large and comprehensive a force in history to be defined by a single term or encompassed from one point of view« (Kohler 1906). ›Jüdisch‹ wird je nach Zeitkontext mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten versehen, als religiöse oder religiös-politische Bezeichnung, als politische Zugehörigkeit, als ethnische Identität, als kulturelles Erbe oder als biologische Kategorie (vgl. Gilman/Zipes 1997, XVII). Michael A. Meyer hat den »fluktuierenden Charakter« (Meyer 2015, 21) jüdischer Identitäten hervorgehoben und auf Veränderbarkeiten dieser, resultierend aus den gesellschaftlichen Dynamiken, hingewiesen. Als verfolgte Jüdin während des Nationalsozialismus beruhte die Zuschreibung für Seghers auf einer rassistischen Terminologie, die jedoch keine Aussagen über ihr eigenes Selbstverständnis enthielt und wie sich dieses seit den Studienjahren in Heidelberg und nach dem Austritt aus der Israelitischen Religionsgemeinschaft 1932 in Mainz entwickelte. Aus der lebensbedrohlichen Verfolgungssituation und der von außen unternommenen Stigmatisierung eine Verpflichtung der Schriftstellerin ableiten zu wollen, sich der Darstellung des Holocaust zu verschreiben, wie Haller-Nevermann es 1997 in ihrer Monographie forderte, unterstützt letztlich eine Kategorisierung Seghers’ als Jüdin, die nicht selbst-, sondern fremdbestimmt bleibt und moralische Maßstäbe zur Grundlage der Werkbeurteilung erhebt. Zu berücksichtigen ist für Seghers weiterhin, dass das biographische und werkgeschichtliche Forschungs interesse hinsichtlich der jüdischen Thematik mit neuen Schwerpunktsetzungen innerhalb der Exilforschung Ende der 1980er Jahre, einer verstärkten Aufmerksamkeit für Publikationen der Holocaust- und Erinnerungsliteratur Anfang der 1990er Jahre sowie neuen Befragungen der DDR-Literatur nach 1989 zusammenfiel bzw. von diesen beeinflusst und hervorgebracht wurde (vgl. Haas 2001). Ergeben sich aus diesen Forschungsintentionen durchaus bereichernde Perspektiven auf ihr Gesamtwerk, insbesondere auf
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_49
49 Verhältnis zum Judentum
bisher nur marginal behandelte Texte wie die Erzählung Post ins gelobte Land, ist eine Verschiebung der literaturwissenschaftlichen Einordnung Seghers’ zur deutsch-jüdischen oder jüdischen Schriftstellerin dennoch mit Vorsicht zu behandeln, um nicht in die bereits genannte Identitätsfalle zu tappen oder dem politischen Selbstverständnis der Schriftstellerin aufgrund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen seit 1989 weniger Bedeutung einzuräumen bzw. dieses als verfehlt zu beurteilen. Die innerhalb der Forschungsliteratur zu beobachtenden Positionen gegenüber Seghers’ Werk, die von dem Vorwurf der unzureichenden und »fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt[en]« (Graf 2016, 142) Beschäftigung mit dem Holocaust bis zu einer Verteidigung ihrer Schreibens als »one of the first [authors] of her generation to write about the Holocaust« (Fehervary 2017, 386) reichen, belegen die problematische und bisweilen polemisch geführte Auseinandersetzung mit der Thematik.
Biographischer Kontext Betrachtet man die Kinder- und Jugendjahre der als Netty Reiling geborenen Anna Seghers sind die jüdischen Bezüge offensichtlich. Aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus, umgeben von einer weit verzweigten Familie, die sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits in der Umgebung von Mainz und Frankfurt am Main seit dem 18. Jahrhundert angesiedelt war, bildeten die Errungenschaften der Emanzipation den Ausgangspunkt für die Vermittlung jüdischer Tradition und deutscher Kultur (vgl. Zehl Romero 2000, 11–52; Ohl 2007). Die Familie gehörte der neoorthodox ausgerichteten Israelitischen Religionsgesellschaft an, die sich in den 1860er Jahren in Mainz unter der Leitung des Rabbiners Marcus Lehmann herausbildete und neben der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main, unter dem Rabbiner Samson Raphael Hirsch, eine der wichtigsten neoorthodoxen Gemeinden in den deutschen Staaten war. Lehmann war zugleich Herausgeber und wichtigster Beiträger der 1860 begründeten Zeitschrift Der Israelit, neben der Monatsschrift Jeschurun maßgebendes Organ der Strömung, in der u. a. auch Erzählungen desselben erschienen, in denen er gesellschaftliche, pädagogische und kulturelle Fragen der neo-orthodoxen Bewegung thematisierte. Die Familie erwarb sich durch das vom Großvater David Reiling 1859 begründete Manufakturwarengeschäft, welches anfangs als Spezerei und Weinhandel
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geführt und das nach dem Tod des Begründers von dessen Frau Esther Jeanette Reiling, geborene Schmalkalden, bis 1892 weitergeleitet wurde, und ihrer Verankerung im Judentum eine angesehene und bedeutende Position innerhalb der jüdischen Gemeinde. Dies setzen die beiden Söhne Hermann und Isidor Reiling, der Vater von Seghers, fort. Sie gaben dem Geschäft ab 1894 als »Kunst- und Antiquitätenhandlung« eine neue Ausrichtung. Neben Ämtern in jüdischen Organisationen übernahm Hermann Reiling darüber hinaus eine Position in der »Beratungskommission für die Erhaltung des Mainzer Doms« (Zehl Romero 2000, 21). Das Engagement der männlichen und weiblichen Familienmitglieder in jüdischen Vereinen geht auf das Gebot der Wohltätigkeit (hebr. Zedaka) in der jüdischen Tradition zurück und beruht u. a. auf den von den Vereinen gesammelten Unterstützungsleistungen für bedürftige Gemeindemitglieder, insbesondere der Armen-, Witwen- und Waisenfürsorge. Auch die Mutter von Netty Reiling, Hedwig Reiling, geborene Fuld, übernahm Aufgaben innerhalb des Gemeindenetzwerks, so wurde sie bei der Gründung des Jüdischen Frauenbundes in Mainz 1918 in den Vorstand gewählt (vgl. Bock 2008, 43–45). Die Sensibilität für soziale Fragen und die Bedeutung von Wohltätigkeit erfährt Netty Reiling in den Jugendjahren somit durch ihr familiäres Umfeld. Dies konnte durchaus mit gesellschaftspolitischen Forderungen einhergehen, wie am Beispiel ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, Clementine Cramer, ersichtlich wird. Diese war Frauenrechtlerin und wirkte aktiv auf dem politischen Feld, u. a. federführend bei der Gründung des Israelitischen Frauenvereins zur Förderung der gemeinnützigen Bestrebungen für die Gesamtinteressen der jüdischen Frauenwelt (vgl. Zehl Romero 2000, 29). Dass die jüdische Religion und die Zugehörigkeit zur Israelitischen Religionsgemeinschaft für Reiling in den 1920er Jahren keine Optionen mehr boten, hat jedoch nicht die Abkehr von der Familie und über sie tradierte soziale Grundsätze zur Folge. Im Gegensatz zur Religion steht jedoch das Bestreben der Autorin, über das »bequeme, zunehmend an das deutsche Bürgertum angepaßte und letztlich als beschränkt erfahrene Leben, das Emanzipation und gesetzliche Gleichberechtigung den deutschen Jüdinnen und Juden ihresgleichen gebracht hatte« (ebd., 51), hinauszugehen, womit sie sich durchaus in Gesellschaft bedeutender deutsch-jüdischer Intellektueller und Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand. Daraus sowie aus ihrer parteipolitischen Tätigkeit jedoch eine umfassende »Negation jedweder jüdischen
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V Themen und Kontexte
Erfahrungswelt« abzuleiten und diese zum »Bestandteil ihres Selbstkonzeptes« zu erheben (Haller-Nevermann 1997b, 308), steht einer differenzierten und offenen Auseinandersetzung mit Seghers’ Biographie und Werk entgegen (vgl. Argonautenschiff 6, 1997, das einen Überblick zum Thema gibt). Der Verlust des Vaters, der an den Folgen der repressiven judenfeindlichen Maßnahmen im Zuge der ›Arisierung‹ des von ihm und seinem Bruder geleiteten Geschäfts an einem Schlaganfall starb, und die Ermordung enger Familienangehöriger durch die Nationalsozialisten bedeuteten für Seghers eine tiefe biographische Zäsur. Vor allem die gescheiterte Rettung der Mutter und deren Ermordung im Ghetto Piaski 1942 stellen – dies vermitteln die überlieferten Briefe, die sie während des späten Exils und Ende der 1940er Jahre an unterschiedliche Adressaten verfasste –, einen unwiederbringlichen Verlust, tiefen Schmerz und anhaltende Trauer dar: »Manchmal lese ich die fünf, sechs Briefe, die ich von meiner Mutter erhalten habe, und jedes Mal verfalle ich in einen unbeschreibbaren Zustand der Wut und der Trauer, aber es ist nichts gewonnen, ihn aufrechtzuerhalten« (Seghers, zit. nach Stephan 1993, 152).
Werkgeschichtliche Bezüge: Die Disser tation Im Reclam Verlag Leipzig wurde 1981 erstmals die Dissertation von Netty Reiling publiziert, die sie im Herbst 1924 an der Universität Heidelberg bei dem Kunsthistoriker Carl Neumann unter dem Titel Jude und Judentum im Werke Rembrandts eingereicht hatte (s. Kap. 34). Der schmale Band umfasst neben dem Text selbst ein einleitendes Vorwort von Christa Wolf und ein sehr ausführliches Abbildungsverzeichnis, über welches die von Reiling analysierten Bilder Rembrandts aufgerufen werden können. Der methodische Zugriff besteht in der Nachzeichnung der sozialen Umgebung des Künstlers und seines Verhältnisses zum Judentum, um darüber die Aspekte der künstlerischen Gestaltung differenziert aufzeigen zu können: »[A]nstatt alle jüdischen Stoffgebiete im Rembrandtwerk gleichermaßen als Ausfluß seiner jüdischen Umwelt anzusehen, müßte gefragt werden, wieweit sich diese mit der uns bekannten jüdischen Realität zur Zeit Rembrandts überhaupt decken könnte« (Reiling 1981, 28). Auf der Grundlage eines historischen Exkurses, durch den die heterogene Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden – be-
stehend aus den eher wohlhabenderen Sephardim, zu dessen Vertretern Rembrandt in Kontakt stand, und den sichtlich ärmeren, aus Mittel- und Osteuropa geflohenen Aschkenasim – akzentuiert wird, verdeutlicht Reiling zwei wesentliche Aussagen: Zum einen, dass Rembrandt keine reale Abbildung des »wirklichen Juden« (ebd., 30) unternahm, sondern nur seine Vorstellung vom Judentum auf die gemalten Figuren übertrug. Zum anderen führt sie anhand ausführlicher Bildbeschreibungen aus, dass der Rückgriff auf biblische jüdische Figuren ihm vorwiegend dazu diente, »seine christlichen Themen« (ebd., 48) umzusetzen. Durchbrochen wird dies für Reiling erst in einer späteren Schaffensphase Rembrandts, der sie ab 1645 eine Tendenz zur »strengen Realität« (ebd., 58) zuschreibt. Kann die Arbeit als Vorgriff auf das eigene Schreiben gelesen werden, indem Reiling die »Aneignung, Entstehung und Durcharbeitung eines ›Stoffes‹« (Bircken 2006, 342) am Beispiel Rembrandts problematisiert, verweist die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Dispositionen und deren Widerspiegelung, aber auch Umdeutung im künstlerischen Werk sowie die »Bewußtmachung von Wirklichkeit« (Seghers/Lukács 1976, 269) auf ein zentrales Thema der Seghers’schen Konzeption: die Abbildung gesellschaftlicher Prozesse, um deren Strukturen zu durchdringen und offenzulegen, welche sie später als methodische Form der Darstellung bestimmen wird (s. Kap. 37). Worauf Reiling mit ihrer Arbeit gleichzeitig aufmerksam macht, ist die im Hinblick auf die jüdischen Existenzformen nicht allein für die Frühe Neuzeit bestehende Differenz zwischen den realen Lebensverhältnissen und den in ihnen agierenden und reagierenden, bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur geduldeten Vertretern einer jüdischen Minderheit, die in sich selbst wiederum eine Pluralität aufweist, weshalb keineswegs von einem homogenen Judentum gesprochen werden kann, und deren durch die christliche Mehrheitsgesellschaft intendierte, in mehrfachem Sinne verstandene Darstellung. Das der Dissertation zugrundeliegende Quellenmaterial belegt diese Komplexität, da sich in diesem unterschiedliche Perspektiven spiegeln. So rekurriert Reiling mit Standardwerken der jüdischen Geschichtsschreibung, wie jenen von Heinrich Graetz und Moritz Meyer Kayserling publizierten Arbeiten, sowie Artikeln aus der Jewish Encyclopedia (1901–1906) auf dezidiert jüdische wissenschaftshistorische Kontexte im Umfeld der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Wissenschaft des Judentums. Die Vertrautheit mit diesen Schriften und anderen Werken zur jüdischen Er-
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zähltradition oder zum Chassidismus dokumentiert die Zusammensetzung ihrer Bibliothek, für die etliche Bände aus diesen Bereichen verzeichnet sind (vgl. Zehl Romero 2000, 99–102). Zugleich greift sie in der Promotionsschrift auf nicht unproblematische Arbeiten wie Johann Jacob Schudts Jüdische Merckwürdigkeiten (1714) zurück, welche durch judenfeindliche Polemiken geprägt ist. Mit diesem Rekurs auf Schudt veranschaulicht sie die Gefahr kulturell-hegemonial vermittelter Bilder, die nicht Ausdruck der gesellschaftlichen Realität, sondern deren durch spezifische religiöse oder ideengeschichtliche Konzepte geleitete Abbildungen sind. Für die Rekonstruktion der jüdischen Geschichte bedeutet dies, die hegemoniale Perspektive christlicher Autoritäten zu befragen und die dadurch entstandenen Verschiebungen und pejorativen Zuschreibungen aufzudecken. Im konkreten Fall ihrer Dissertation transportieren die von ihr gebrauchten Termini Jude und Judentum somit zum einen eine reale, historisch verankerte, in sich heterogene Lebenswelt, zum anderen eine von der historischen Realität stark abweichende künstlerische Gestaltung derselben durch einen christlichen Künstler.
Das publizistische Werk Die werkgeschichtliche Befragung nach Themen, Motiven, Figurationen oder Erinnerungsfiguren, die in Verbindung zur jüdischen Tradition stehen oder jüdische Identitätskonzepte diskutieren, erweist sich für Seghers als nur bedingt ergiebig (vgl. Bircken 2006). Zum einen, da die Suche nach spezifischen Topoi verengte Lesarten produzieren kann, zum anderen, da weiterreichende und abseits des engeren literarischen Werkes liegende Publikationen, bspw. während der Exiljahre veröffentlichte publizistische Texte (gegebenenfalls auch unter Pseudonym), damit aus dem Blick geraten können. Im Folgenden werden anhand ausgewählter literarischer und publizistischer Texte Themenfelder in Seghers’ Werk aufgezeigt, die in Verbindung zu jüdischen Fragen stehen. Dabei geht es weniger um ein lückenloses Auflisten und Erschließen von Werken als vielmehr um das Eruieren gesellschaftlicher Bezüge, historischer Zusammenhänge und literarischer Darstellungsweisen, die Seghers aufruft, um heterogene Perspektiven zu gestalten, die von ihren sozialgeschichtlichen Bezugnahmen und Analysen nicht zu trennen sind. Bisher nur marginal betrachtet wurden zwei Texte der Schriftstellerin, in denen sie zu Beginn des Exils
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(1933) bzw. nach ihrer Rückkehr nach Deutschland/in die SBZ (1947) Fragen der Ausgrenzung und Kontinuität antisemitischer Vorurteile thematisiert. Trotz der nicht abschließend geklärten Verfasserschaft des Textes Der Skalp, der unter dem Namen Anna Brand 1933 im ersten Heft der Neuen Deutschen Blätter veröffentlicht wurde, zu deren Redaktionskreis Seghers zählte, und für den Alexander Stephan überzeugend Seghers’ Autorschaft anhand produktionsästhetischer Belege nachgewiesen hat (vgl. Stephan 1997), sei hier auf diesen verwiesen. Die Situierung des Textes in der Rubrik »Die Stimme aus Deutschland« impliziert eine thematische Gebundenheit, die in der Verhandlung antisemitischer Haltungen der Bevölkerung besteht. Als Kurzgeschichte konzipiert, wird der Kampf zwischen einem jüdischen Jungen und einem »blonde[n] Bürschchen« (Brand 1997, 105) beschrieben. Der von der Erzählinstanz geschilderte »ungleiche[] Kampf, obwohl beide [...] etwa gleich alt und gleich stark sind« (ebd.), resultiert aus der Parteilichkeit der die Jungen umgebenden Zuschauer. Während der nichtjüdische Junge von den Zuschauenden durch Anfeuerungen motiviert und bestärkt wird, kann der jüdische Junge weder auf das geringste Hilfsangebot noch auf den Schutz seitens der Menge hoffen, so dass allein die körperliche Verteidigung bleibt, um bestehen zu können. Der titelgebende Skalp, welcher von dem nichtjüdischen Kind ›errungen‹ wird und zu einem Erschrecken seinerseits führt, steht sowohl für die körperliche als auch die seelische Verletzung, die der jüdische Junge erfährt. Mittels der detailliert geschilderten Textsequenz verdeutlicht Seghers die ausbleibende Solidarität der Erwachsenen für den Jungen, über die auf den fortschreitenden Ausgrenzungsprozess der jüdischen Bevölkerung verwiesen wird, dem sich im alltäglichen Verlauf niemand entgegenstellt. In dem 1948 in der Zeitschrift Aufbau veröffentlichten Artikel »Passagier[e] der Luftbrücke« unternimmt die Autorin die Beschreibung eines Lagers von Displaced Persons (DP) in Berlin anlässlich der Auflösung von drei DP-Camps im amerikanischen und französischen Sektor der Stadt im Zuge der ›Berliner Luftbrücke‹. Wie Klaus Schulte (2002) stichhaltig herausgearbeitet hat, bezieht sich Seghers in ihrer Metaphorik ambivalent auf den zeitgenössischen Kontext, indem sie das DP-Camp als »Luftinsel« (KuW3, 42) charakterisiert, dessen Bewohner, im Gegensatz zu den Bewohnern des westlich-alliierten Sektors, nicht durch die ›Luftbrücke‹ versorgt, sondern aus der Stadt verbannt werden: »Was diesen Menschen bevorsteht, ist nicht besonders grausam oder gemein. Sie waren
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nur überflüssig geworden. Das UNRRA-Lager hat nichts mehr in einem Sektor zu suchen, der darauf besteht, durch die Luft ernährt zu werden. Die Nazis pferchten Überflüssige in Viehwagons und transportierten sie in Vernichtungslager. Man bringt sie jetzt in Flugzeugen in ein bayerisches Auffanglager« (KuW3, 44). Anhand des umstrittenen und in der zeitgenössischen Presse allein abwertend beschriebenen DP-Lagers als Ort der »Schieber und Schwarzhändler« (KuW3, 42) problematisiert Seghers die Nachkriegssituation der Displaced Persons, die unter schwierigsten Bedingungen eine Rückkehr in die ›Normalität‹ versuchten, und präzisiert die Kontinuität gesellschaftlicher Strukturen und die damit einhergehende Ausgrenzung der Überlebenden. In dem »überaus anspielungsreichen Gelegenheitstext« (Schulte 2002, 197) versucht sie, sich von den diffamierenden, öffentlich verwendeten Termini abzugrenzen. Aufgrund der redaktionellen Eingriffe, mit denen die Distanzierungen Seghers’ teilweise aufgehoben und dadurch Missdeutungen provoziert wurden, sowie der nur indirekt zu erkennenden »differenzierenden Kommunikationsabsicht« (ebd., 201) der Autorin gelingt dieses Vorhaben nicht umfassend. Jedoch setzt Seghers anhand der Schilderung von drei »Gegenbildern« (ebd., 205) – der geglückten Flucht einiger DPs nach Palästina, der Vorstellung der Theatergruppe des DP-Lagers und dem einfühlsamen Porträt einer Lehrerin – den in der Nachkriegsbevölkerung aller Sektoren verbreiteten, durch die Presse unterstützten Anfeindungen gegenüber den DPs Handlungen der Selbstermächtigung entgegen. Über diese deckt sie zugleich die eigentliche Problematik auf: »Die Wirklichkeit war aber nirgendwo klarer und bitterer [als im Schwarzhandel; U. S.]. Außer im Krieg war nirgendwo der Kontakt zwischen den Menschen so entmenschlicht« (KuW3, 42). In dem auf wirtschaftlichen Profit angelegten Zusammentreffen beider Seiten offenbaren sich nicht allein der »ökonomische Ausnahmezustand« (Schulte 2002, 208), sondern die tradierten gesellschaftlichen Gegensätze und deren tiefe Verankerung. Die festgestellte Unmenschlichkeit ist zwar eine Folge des Krieges, aber ebenso ein aus dem wirtschaftlichen System des Kapitalismus erwachsener Zustand, der auf »das eigene gesellschaftliche Negative« (ebd., 208) hindeutet. Der von Seghers zu Beginn des Artikels konstatierte fehlende Brückenschlag zu den Bewohnern der »Luftinsel« (KuW3, 42) belegt die anhaltende Trennung, die aus der Erfahrungsdifferenz resultiert und die aufgrund einer fehlenden Humanität und Solidarität sowie einer Problematisierung der gesellschaftspoliti-
schen Bedingungen, insbesondere dem Umstand der ausgebliebenen Repatriierung der Überlebenden, nicht aufgehoben werden kann: »Sie wären keine heimatlosen Personen geworden, wenn man sie in das Land gelassen hätte, nach dem sie verlangten. Wenn sie einen anderen Boden unter den Füßen haben, [als den der Luftinsel], dann werden sie entscheiden können, zu welcher Seite sie zählen, statt zwischen den Ländern und zwischen den Klassen und zwischen den Märkten herumzuschwirren« (KuW3, 45). Die andauernde Heimatlosigkeit, die für Seghers auf mehreren Ebenen virulent ist, korrespondiert mit einer Bindungslosigkeit, aus der notwendigerweise Handlungsweisen erwachsen, die das eigene Überleben ins Zentrum rücken. Dass Seghers sich mit diesem Artikel einer Erinnerung an den Holocaust verschreibt und diese als wichtige Aufgabe für die Nachkriegsgesellschaft begreift, wird an den Textsequenzen offenbar, in denen die Ermordung von Familienangehörigen der Überlebenden in den »Vernichtungslager[n]« (KuW3, 44) explizit thematisiert wird. Evident wird in dem vorgestellten Artikel Seghers’ Solidarität mit den Überlebenden des Holocaust und ihr Bestreben, die deutsche Bevölkerung für die traumatischen Erfahrungen dieser zu sensibilisieren und ihre Empathie einzufordern. Zudem weist sie in ihrem Protestschreiben an die Redaktion der Zeitschrift Aufbau, bezüglich der unternommenen Entstellungen des Textes, auf ihre eigene öffentliche Erinnerungsarbeit hin: »Sollen sie [die Kritiker; U. S.] die Novellen lesen, die im Aufbau-Verlag erschienen sind [...]. Sollen sie auch mal die ›Tägliche Rundschau‹ lesen, meinen Artikel über den Wroclawer Friedenskongress, über das Ghetto in Warschau usw.« (Seghers, zit. nach Schulte 2002, 222). Dieser Appell an ihre zeitgenössischen Kritiker kann ebenso als zukünftige Aufgabe der Forschung begriffen werden. Sowohl im Hinblick auf die während der Exiljahre von Seghers veröffentlichten publizistischen Artikel, vornehmlich ihre Arbeiten für die Exilzeitschrift Freies Deutschland (1941–1946), als auch für die verstreut existierenden, in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfassten Beiträge gilt es, diese in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren und auf ihre Themenfelder hin zu befragen (vgl. Schiller 1998). Die in der Exilzeitschrift diskutierten Fragen zu Antisemitismus, zur Entschädigung und der jüdischen Staatsgründung wurden von Seghers nicht selbst explizit behandelt, beeinflussten aber eigene Arbeiten und legen eine Beteiligung an diesen Debatten innerhalb des Umkreises der Zeitschrift und des Heinrich Heine Klubs nah. Die wiederkehrende Thematisierung der
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Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden lässt sich an den Artikeln unterschiedlicher Autoren ablesen, die ab 1942 in der Zeitschrift erschienen sind, seit 1944 in großem Umfang. Seghers war aufgrund dieser Berichte sowie Beiträgen in der Wochenzeitung Demokratische Post, die sie regelmäßig bezog, nicht allein über die Konzentrations- und Vernichtungslager informiert, sondern beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie die gewaltsame Ermordung von Millionen Menschen erfasst, begriffen und verarbeitet werden kann – sowohl seitens des Einzelnen als auch der Schriftsteller und des Lesepublikums. Bereits in den beiden Anfang der 1940er Jahre veröffentlichten Aufsätzen im Freien Deutschland »Deutschland und wir« (1941) und »Volk und Schriftsteller« (1942) verweist sie innerhalb ihrer Überlegungen zur Aufgabe der Schriftsteller im Exil und ihres Verhältnisses zum deutschen Lesepublikum auf die erzieherische und aufklärerische Aufgabe der Ersteren sowie auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen ›Standort‹ zwischen beiden. In den Artikeln erwähnt Seghers das Wissen der deutschen Bevölkerung um »Pogrom[e] [...], Mord, Brandstiftungen, [die] raffinierten Quälereien Schwacher und Unschuldiger« (KuW1, 188), »die Konzentrationslager, die Vertierung der eigenen Söhne« (KuW1, 196). In ihrer gegen die faschistische, in biologistischen Termini gründenden Vereinnahmung gerichteten Definition des Begriffes »Volk« – das sie als eine »geschichtlich werdende Gemeinschaft« versteht, »die Individuen und Gruppen in sich aufnimmt« (Schiller 1998, 178) –, spielt der Gedanke der gesellschaftlichen Beteiligung und Mitarbeit eine zentrale Rolle. Weist sie diese Aufgabe vor allem den Schriftstellern zu, lässt sie sich auch auf den Emanzipationsprozess im 19. Jahrhundert übertragen. Das von ihr kategorisierte »echte Volksganze«, das nicht »naturhaft« sei, sondern »durch gemeinsam erlebte gesellschaftliche Vorgänge, durch [...] Arbeit, [...] Kultur, [...] Sprache« (KuW1, 193) hervorgebracht werde, impliziert, ohne dass sie dies als Beispiel für Deutschland jedoch für die Sowjetunion anführt, ebenfalls den Beitrag jüdischer Schriftsteller zur jeweiligen Kultur. Kulturelle, gesellschaftliche, aber auch politische Zugehörigkeit wird von ihr somit über den aktiven Beitrag, die Mitarbeit, bestimmt und über die Identifikation eines gemeinsamen sozialen Standpunkts. Weiterhin verweisen die von ihr verfassten Briefe in den 1940er Jahren auf die umfassende Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dessen Folgen, zum einen auf der privaten, zum anderen auf der gesellschaftlichen Ebene, die vom Wissen um das »Abschlachten
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der Juden« (Br1, 161) geleitet wird. Die von Theodor Plievier übernommene, in einem Brief an Jürgen Kuczynski 1945 formulierte Aussage, »dass es jetzt von jedem Menschen allein [abhänge], ob er mit dem schrecklichen Erbe seiner historischen Vergangenheit brechen kann und will« (Br1, 162), verdeutlicht die von Seghers betriebene Zeitdiagnose, in der insbesondere die »schwersten und dunkelsten Fragen« (ebd.) nicht verwischt, sondern von ihr durchgearbeitet werden. Darauf deutet die genannte Lektüreliste hin, in der neben dem in Fortsetzungen erschienenen Roman Stalingrad von Plievier in der Zeitschrift Internationale Literatur vor allem Georg Lukács’ »Maidanek-Artikel« (Br1, 161) »Schicksalswende« hervorgehoben wird, der 1944 abgedruckt wurde. Lukács’ Akzentuierung der »Rassentheorie als ideologisches Instrument« (Lukács 1956, 139) des Nationalsozialismus und seine Einordnung des im Sommer 1944 befreiten Konzentrationslagers Lublin-Majdanek, das die »größten Greuel[] der bisherigen Menschheitsgeschichte« (ebd., 135) darstellt, als »Augenblick der echten Schicksalswende« für die deutsche Bevölkerung im Sinne des »Erkennens« (ebd., 149) der verübten Verbrechen, enthält wesentliche Eckpunkte für Seghers’ eigene Überlegungen zu einer »Entfaschisierung des deutschen Volkes« (Schiller 1998, 170). Grundlegender Bestandteil dieser ist die von der Autorin auch nach ihrer Rückkehr formulierte Forderung, dass sich die deutsche Bevölkerung »ihrer eigenen ideologischen Beteiligung am rassistischen Vernichtungskrieg bewußt« (Peitsch 1998, 121) werde. Neben dem Konzept der Scham, auf welches nicht allein Seghers dabei rekurrierte und über das die »moralische Wendung [zum Gedanken] menschlicher Gleichheit« (ebd., 123) vollzogen werden sollte, bildete der Rückbezug auf eine Tradition der »Gegenwerte« (ebd., 122), die Schriftsteller wie Lessing, Heine, Büchner und eine »progressive Geschichte« (Schiller 1998, 171) Deutschlands für sie verkörperten, einen signifikanten Aspekt. Die Berichterstattung und vermehrten Informationen über den Massenmord in den Vernichtungslagern bedeuteten, dies verdeutlichen die überlieferten Briefe und Aufsätze, für Anna Seghers eine Erschütterung und Suche nach Bewältigungsstrategien.
Das erzählerische Werk Mehrfach wurde in der Forschungsliteratur hervorgehoben, dass sich in den beiden großen Exilromanen – Das siebte Kreuz (1939; 1943) und Transit (1944) – die Darstellungen der Verfolgung, Bedrohung und
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Flucht jüdischer Protagonisten in die anderen Handlungsstränge einreihen bzw. sich diesen unterordnen, aber nicht das wesentliche Thema des jeweiligen Werkes bilden. Während die Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung im Siebten Kreuz anhand von zwei Figuren dargelegt wird, schildert Seghers am Beispiel unterschiedlicher jüdischer Protagonist/innen in dem Roman Transit die Flucht- und Verfolgungssituation in der Stadt Marseille. Die Hafenstadt wird dabei zum ausweglosen Übergangsort, zum Transitraum, der ein Bleiben ebenso wenig möglich macht wie ein Weiterreisen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen. Die Vermittlung des transitären Zustands erstreckt sich auf alle Flüchtlinge, die sich in Cafés, am Hafen, in Hotels, in Konsulaten und Wartesälen aufhalten, deren Tage durch die Jagd nach gültigen Papieren und Visa bestimmt sind, die sich in kafkaesk beschriebenen Warteräumen mit Gerichtsdienern wiederfinden. Nicht selten enden die vergeblichen Rettungsversuche, namentlich der jüdischen Figuren, mit dem Tod der Protagonist/innen. Trotz der Einreihung der jüdischen Flüchtlinge in das breite Figurenensemble verdeutlicht Seghers dennoch anhand ihrer differenten Lebensentwürfe die gesellschaftliche Vielschichtigkeit der Existenzweisen. Über die fragmentarische Nachzeichnung ausgewählter Lebensläufe seitens des Ich-Erzählers wird das Selbstverständnis dieser Figuren thematisiert, das durch die erzwungene rassistische Kategorisierung als Jude oder Jüdin erschüttert und neu befragt werden muss, zugleich jedoch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Verortungen seit dem Emanzipationsprozess anzeigt. Die die jüdische Geschichte prägenden Erfahrungen von Ausweisung, Verfolgung, Flucht, Pogromen, Ermordung, aber auch Neubeginn in Form verschiedener Facetten jüdischen Lebens von der Orthodoxie bis zur Akkulturation bündelt Seghers in »kurzen Geschichten« (Winckler 2010, 202) der »abgeschiedene[n] Seelen« (Tr, 112): »Die Hunde erschreckten hier oben ein halbes Dutzend kleiner jüdischer Kinder. Die drängten sich um ihre Eltern und ihre Großmutter, eine gelbe, starre Frau, die so alt war, als sei sie nicht durch Hitler, sondern durch das Edikt der Kaiserin Marie Theresia aus Wien vertrieben worden« (Tr, 131). »Der Konsul aber war doch noch exakter, seine Karte war doch noch exakter. Stellte sich also heraus, daß mein Heimatort, den ich nie mehr wiedergesehen habe, sich stark vergrößert hat, so daß er nach zwanzig Jahren doch eine eigene Gemeinde bildete, und zwar
noch im Staate Litauen. Mir [als Juden] nützen also die polnischen Ausweise nichts mehr, ich brauche die Anerkennung der Litauer. [...] Ich brauche jetzt also neue Staatsbürgerschaftsnachweise, dazu brauche ich irgendwelche Geburtsnachweise aus einer Gemeinde, die nicht mehr besteht.« (Tr, 207 f.)
Im bereits angeführten Schreiben von 1947 an die Redaktion der Zeitschrift Aufbau ebenfalls von Seghers angesprochen sind die von ihr unmittelbar nach dem Kriegsende zuerst im Aurora Verlag (1946), dann im neu gegründeten Aufbau Verlag veröffentlichten Erzählungen Der Ausflug der toten Mädchen (entst. 1943/44) und Post ins gelobte Land (entst. 1945). Neben der Dissertation bilden die beiden Erzählungen, wie wiederholt in der Forschungsliteratur hervorgehoben wurde, »[the] only three pieces of writing in which Seghers explicitly adressed the theme of Jewishness« (Einhorn 1997a, 663). In Rekurs auf Zehl Romero von Hilzinger und Haas als »Trauerarbeit« charakterisiert, versteht Hilzinger diese als »Vergangenheitsbewältigung und als Gedächtnis und Gedenken« (Hilzinger 1990, 1576); Haas versteht den Text Post ins gelobte Land als »eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Überlebenschancen jüdischer Existenz« (Haas 1995, 139). Als singulär im Werk der Schriftstellerin enthält der frühere Text autobiographische Bezüge, die sich aus den geographischen Bezügen – dem Exilland Mexiko und der Geburtsstadt Mainz –, dem Verweis auf den 1943 erfahrenen Verkehrsunfall, hauptsächlich aber aus dem Mädchennamen Netty ergeben. In der Erzählung überlagern sich Gegenwart und Vergangenheit, die Erinnerungen an die Jugendzeit werden mit aktuellen Ereignissen verknüpft, anhand derer die Handlungsweisen der ehemaligen Mitschülerinnen während des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges dargelegt und befragt werden. Die Thematik von Vertrauen und Verrat, die Seghers’ Gesamtwerk in besonderer Weise kennzeichnet, wird mithilfe der unterschiedlich ausgerichteten Freundschaften verhandelt. Die gesellschaftliche Ausgrenzung der ehemaligen jüdischen Klassenkameradin Sophie, insbesondere aber der »Lieblingslehrerin« (AtM, 129) Fräulein Sichel, ihre Deportation und Ermordung bilden ein zentrales Element des Textes. Daneben steht der Versuch, den Abschied von den Eltern und die Trauer um sie zu formulieren, besonders um die Mutter, die in der Erinnerung als »vergnügt und aufrecht« aufscheint, »bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qual-
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vollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war« (AtM, 149). Gerade in der fragmentarischen Beschreibung, der nicht ausformulierten, sondern nur angedeuteten Darstellung der Deportation liegt ein Spezifikum des Erzählens. Die elliptischen Textsequenzen verdeutlichen die Erinnerungsarbeit, die nicht abgeschlossen, sondern durch den Prozess der Verarbeitung, Bearbeitung und vor allem Trauer gekennzeichnet ist. Bereits hier wird die Frage des Schreibens über die Vernichtung deutlich, der Seghers anhand der Erinnerungsebenen begegnet, die sich ineinanderschieben und allein durch das Schreiben selbst, den »Auftrag«, »die befohlene Aufgabe« (AtM, 151), bearbeitet werden können. Das Wissen um die Begrenztheit dieses Verfahrens, die Schwierigkeit der Abbildung und die Erfahrungsdifferenz, die Seghers’ von den Überlebenden des Holocaust trennt, sowie die Gefahr der emotionalen Überwältigung waren eventuell entscheidende Gründe, die für die Schriftstellerin größere Schreibprojekte über den Holocaust unmöglich machten. Angesichts der in der Erzählung gewählten einfühlsamen Darstellungsweise ist jedoch nicht von jüdischer Selbstverleugnung auszugehen, wie Haller-Nevermann (1997a) konstatiert. Mit Barbara Einhorn kann vielmehr von einem »subtext« gesprochen werden, der einigen Texten, u. a. der Erzählung Das Ende, inhärent ist: »Once again, [her work] never explicitly included the Holocaust, but the Holocaust reverbreated clearly as unspoken subtext« (Einhorn 1997a, 666). Fehervary begreift die Texte als »Seghers’ indisputable statement about the Holocaust« (Fehervary 2017, 387) und sieht insbesondere in den unterschiedlichen Erzählverfahren die Vielschichtigkeit ihres Schreibens über diesen angezeigt. In der Erzählung Post ins gelobte Land zeichnet Seghers am Beispiel der Familie Grünbaum-Levi über vier Generationen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Formen jüdischer Existenzweisen nach: Von der orthodoxen Lebenswelt über zionistische Bekundungen bis zur umfassenden Akkulturation, exemplifiziert an zentralen Orten der jüdisch-europäischen Geschichte (Polen, Wien, Paris) sowie dem charakteristischen Ort des ›gelobten Landes‹ Jerusalem. Bereits der Beginn der Erzählung verzahnt die Familiengeschichte mit der jüdischen Geschichtsschreibung, indem mit der kurz rekapitulierten Auslöschung eines Teils der Familie Grünbaum auf die Pogrome im Königreich Polen durch die Kosaken in den 1890er Jahren verwiesen, über diese jedoch auch auf die 1648 erfolgten Pogrome unter der Führung Bohdan Chmielnicki, die in die Ge-
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schichtsschreibung der mittel- und osteuropäischen Juden als prägendes historisches Ereignis eingegangen sind, angespielt wird. Für Nathan Levi, den Schwiegersohn des alten Grünbaum, der in Paris eine neue Zuflucht findet, in der orthodoxen Lebenswelt verankert bleibt und an dessen Lebensende die Alijah nach Jerusalem steht, reihen sich die nachfolgenden Ereignisse von Verfolgung und Mord unter den Nationalsozialisten in die jüdische Geschichte als wiederholendes Moment ein: »Das Land ihrer Väter war genau so wie alle Länder der Welt von Unruhe aufgewühlt und von den düsteren Nachrichten, die wie Schwärme von Todesvögeln dem Krieg vorauszogen. Was Hitler beging, war nur ein Nachspiel von alten berühmten Untaten, die ihnen geläufiger waren als alles, was heute geschah, und ihnen traumhaft und zeitlos vorkam. [...] Wenn ihre eigene Erinnerung versagte, fanden sie immer noch in der Bibel Vergleiche mit ungeheurem Gemetzel, mit Einkerkerungen und Hinrichtungen und auch mit unwahrscheinlichen Heldentaten.« (PgL, 235)
Für seinen Sohn Jakob/Jacques Levi dagegen bilden die Errungenschaften der Emanzipation und die damit einhergehende rechtliche Gleichstellung, symbolisch zusammengefasst in der wiederholten Benennung des 14. Juli als Feiertag »für alle Völker« (PgL, 222), die Grundlage seines Selbstverständnisses als Franzose. Für diesen bedeutet die Zugehörigkeit zum Judentum allein eine religiöse Bindung, die immer mehr verblasst, angezeigt durch die zunehmende Distanzierung gegenüber dem Sederfest: »Sie merkten gar nicht daheim, daß der Kleine am Seder-Abend nur notgedrungen die für den Jüngsten bestimmten Worte aus der Hagada vorlas, weil ihn sein Vater verliebt betrachtete, und weil er selbst sanft und höflich wie sein Vater war« (PgL, 223). Daniel Hoffmann hat in seiner profunden Analyse der Erzählung zum einen die von Seghers vermittelten »kenntnisreich[en] und sensibl[en] [...] Einblick[e] in unterschiedliche jüdische Lebensformen im 20. Jahrhundert« (Hoffmann 2013, 221) betont, zum anderen im Zusammenhang mit den beiden Figuren Nathan und Jakob Levi auf die »fehlerhaften Darstellungen des Judentums« (ebd., 221) verwiesen, die er u. a. in den durch den Erzählerkommentar zugeschriebenen problematischen Zuordnungen zum Judentum sieht: »Seghers’ Formulierungen suggerieren hier, dass das Judentum, weil es nicht lehrbar sei und aus uralten Glaubenssätzen bestehe, unzeitgemäß sei und allein von
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Träumern wie Nathan Levi gelebt werde« (ebd., 225). Seine Lesart der Erzählung steht trotz dieser Kritik im Gegensatz zu anderen Forschungsbeiträgen, die den Text als »Abgesang auf die nationalen wie die eschatologischen Zukunftshoffnungen des Judentums« (Haas 1995, 148) verstehen. Während der Augenarzt Jacques Levi geraume Zeit vor der Okkupation der Stadt Paris durch die deutsche Wehrmacht krankheitsbedingt stirbt, der Vater Nathan Levi bis zu seinem Tod die durch den Sohn vorgeschriebene und durch die Schwiegertochter versendete Post im ›Gelobten Land‹ empfängt, gelingen der Schwiegertochter und dem Enkel die Flucht aus dem besetzten Frankreich nicht, sie werden »irgendwohin verschleppt« (PgL, 243). Der Tod der Protagonisten am Ende der Erzählung und damit die Auslöschung der Familie, die am Beginn des Textes bereits angedeutet wird, ist weniger als eine allgemeine Absage an das Judentum zu lesen als vielmehr als Reaktion auf den Holocaust, vor dessen Hintergrund ein hoffnungsgeleitetes Ende unmöglich ist (vgl. Hoffmann 2013, 221). Seghers’ Auseinandersetzung mit dem Judentum und den unterschiedlichen jüdischen Existenzformen ist weitaus vielschichtiger und komplexer als zum Teil in der Forschungsliteratur bisher verhandelt. Auch hier lässt sich eine Parallele zu Heinrich Heine erkennen, der vor dem Hintergrund entscheidender biographischer und politischer Ereignisse sowohl historisch jüdische Stoffe als auch zeitgenössische Entwicklungen des Emanzipationsprozesses thematisierte und Letztere mit kritischen Kommentierungen begleitete, insbesondere im Hinblick auf die von der christlichen Mehrheitsgesellschaft geforderte Assimilation. Die von Seghers unternommenen öffentlichen Stellungnahmen zum Holocaust sind in ihrem Umfang gering, aber dennoch vorhanden, ebenso wie die publizistischen und literarischen Texte, in denen Bezugnahmen sowohl auf das Judentum als auch den Holocaust eingewoben sind. Literatur
Bircken, Magrid: Auf dem Weg zu Anna Seghers. In: Willi Jasper [u. a.] (Hg.): Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Wiesbaden 2006, 335–352. Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008. Brand, Anna: Der Skalp. In: Argonautenschiff 6 (1997), 105. Einhorn, Barbara: 1947. Anna Seghers returns to Germany from exile and makes her home in East Berlin. In: Sander Gilman/Jack Zipes (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. New Haven 1997, 662–670 (= Einhorn 1997a). Einhorn, Barbara: Jüdische Identität und Frauenfiguren im
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Ulrike Schneider
VI Rezeption und Wirkung
50 Ostdeutsche Rezeption – DDR Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil 1947 strebte Anna Seghers eine gesamtdeutsche und internationale Rezeption an. Indes entwickelten sich unter der Teilung Deutschlands und den Verhältnissen des Kalten Krieges zwei, in Ost und West geteilte Wirkungstraditionen. Die DDR-Rezeption war die quantitativ umfangreichere, bedingt durch die kulturpolitisch codierte Repräsentation von Autorin und Werk. Die zunehmende Verflechtung von Rezeption und Repräsentation führte dazu, dass Seghers bereits zu Lebzeiten zu einer Ikone für die staatlich propagierte Verbindung von Geist und Macht wurde, was widersprüchliche Auswirkungen auf die Rezeption hatte. Das in der DDR übermächtige Autorenbild der Seghers war an die faktische Existenz des Staates gebunden und erfuhr nach 1989/90 eine Revision. Das eröffnete in der Rezeption des Gesamtwerkes neue Zugänge.
Neubeginn 1947 – die (Wieder-)Entdeckung einer antifaschistischen deutschen Autorin von internationalem Rang Zu Beginn der Seghers-Rezeption standen sowohl ihre (Wieder-)Entdeckung als auch die Rolle, die ihr Werk zukünftig in Deutschland spielen sollte, im Vordergrund. Diese doppelte Blickrichtung, die zugleich auf die Vergangenheit im Sinne von Tradierungsbestrebungen und Repräsentation sowie auf Erwartungen an künftiges Handeln und Schreiben verwies, wurde fortan beibehalten (s. Kap. 1). Über ihren ›Auftrag‹, der sie letztlich zur Rückkehr aus Mexiko bewogen hatte, äußerte sich Seghers dahingehend, dass sie »als deutsche Schriftstellerin die unabweisliche Pflicht verspüre, am deutschen und europäischen Wiederaufbau mitzuarbeiten« (Lüd. 1947). Sie sprach über die »Notwendigkeit, sich über die heutige deutsche Wirklichkeit Klarheit zu verschaffen, die deutsche Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen« (ebd.). Ihre Absicht, sich dem Volksbildungswesen und den Universitäten zur Verfügung zu stellen, bestätigte die Rolle der zurückgekehrten antifaschistischen Intellektuellen als ›Künstler-Erzieher‹. Dies wurde später als Entschlossenheit gewertet, »ihre irregeleiteten, zweifelnden [...] Landsleute von
der furchtbaren Last der Vergangenheit zu befreien, sie aufzuklären, umzuerziehen und zu erziehen« (Neugebauer 1970, 125). Trotz der Exilromane Die Toten bleiben jung und Transit sowie der Novellensammlung Der Ausflug der toten Mädchen wurde die frühe Rezeption von dem weltberühmten, bereits seit 1946 in Deutschland erhältlichen und für diese Periode monolithischen Roman Das siebte Kreuz dominiert. Seine rasche Integration in die ostdeutsche Literaturlandschaft erklärt sich durch seinen positiven Bezug auf Deutschland und die Deutschen; es hatte sich einmal mehr als »das richtige Buch zur rechten Zeit« erwiesen (Zehl Romero 2003, 11). Gelobt wird im Neuen Deutschland die »ausgereifte Kunst der Autorin«, ein »spezifisch deutsches Buch« geschaffen zu haben, da »nur eine deutsche Dichterin [...] diese von Deutschen hervorgerufenen und von Deutschen begangenen und erlittenen Erlebnisse der vergangenen Jahre gestalten« konnte (Borchard 1946). »Wer Anna Seghers ist, brauchen wir unseren Lesern kaum zu sagen. Die ältere Generation kennt und schätzt sie seit ihrem Erstlingswerk, dem Aufstand der Fischer von St. Barbara. Die Jugend ist von ihrem Siebten Kreuz, das zu den wenigen wirklich großen Erscheinungen des deutschen Nachkriegsbüchermarktes gehört, aufs tiefste beeindruckt und hat gelegentlich [seiner] Veröffentlichung vom Leben und Schaffen der Dichterin erfahren.« (Lüd. 1947)
In den frühen Zeitungsartikeln wurden Ankündigungen von Veröffentlichungen zumeist mit Vor- oder Teilabdrucken von Originaltexten sowie mit Hinweisen auf Seghers’ frühere Werke und auf ihr politisches Engagement, etwa den Widerstand während des Exils, verbunden. Darüber hinaus wurde vor allem in der Tagespresse fortan auf Seghers’ gegenwärtiges öffentliches Auftreten, etwa im Zusammenhang mit der Friedensbewegung und ihr Eintreten für den Dialog zwischen den Völkern sowie das gemeinsame Erbe Europas verwiesen. Noch drei Jahrzehnte später heißt es, Das siebte Kreuz habe die »drohende Kluft zwischen den Generationen« verhindert und den »Zugang zu den geschichtlichen Erfahrungen des Volkes« für die heranwachsende Generation gewährleistet, um diese »an ihre Verantwortung zu gemahnen« (Wagner 1980,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_50
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42). Seit der Rückkehr aus dem Exil wurden zwei Hauptaspekte der Seghers-Rezeption deutlich: das antifaschistische Engagement und die moralische Überlegenheit seiner Befürworter. Das Presseecho auf öffentliche Veranstaltungen mit Anna Seghers hatte in den Anfangsjahren vor allem zwei Funktionen. Es förderte die Rezeption ihrer Werke unter antifaschistischer Perspektive und unter dem Gesichtspunkt der sozialistischen Umgestaltung. Weiterhin diente es ihrer Verortung im Kreis der Kulturschaffenden, jener Heimkehrer also, deren »moralischer Vorsprung« für den gesellschaftlichen Umbau der SBZ konstitutiv war (vgl. Winckler 1992, 144). Berichtet wurde u. a. über Dichterlesungen, wie jene zum Jahrestag der Bücherverbrennung, um den nationalsozialistischen Versuch aufzuzeigen, Autor/innen wie Anna Seghers aus der deutschen Literatur auszulöschen (vgl. m. 1947). Die Printmedien verwiesen ihrerseits auf Rundfunksendungen von Die Rettung, Sagen vom Räuber Woynock oder das Hörspiel Der Proceß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 sowie auf eine eigens für das Radio konzipierte Literatursendung mit dem Titel Soeben erschienen, in der Seghers neben Brecht, Kisch u. a. im Mittelpunkt stand. Das »zwanglos lockere Nebeneinander von Kritik und Leseprobe« galt als »geschickte Form, das Interesse der Hörer zu fesseln« und als »Spiegel des kulturellen Lebens« für jene, die sich Bücher nicht leisten konnten (E. L. 1948). Einerseits profitierte die Seghers-Rezeption von solchen wechselseitigen Verweisen in verschiedenen Medien und kulturellen Vermittlungsinstanzen, andererseits unterstützte die Omnipräsenz von Anna Seghers den Ausbau einer symbolischen Macht der Literatur und der Schriftsteller. So war beispielsweise Anna Seghers’ Empfang durch den Kulturbund im Mai 1947 der erste offizielle Anlass für eine öffentliche Berichterstattung. Neben ihrer Wiedereinführung in das politische und kulturelle Leben Berlins begann auch ihre komplexe Repräsentation als Teil der kulturpolitischen Initiative zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, was der kulturellen Ausgestaltung des antifaschistischen Gründungsmythos der DDR diente. Begriffe wie ›Erneuerung‹ oder ›Neubeginn‹ beziehen sich auf Zukünftiges, stehen aber auch in der Tradition der Volksfront der 1930er Jahre, die der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands für sich reklamierte. Er berief sich auf Vorbilder einer bürgerlich-humanistischen Literatur und auf eine ›fortschrittliche nationale Kulturtradition‹, die zwischen 1933 und 1945 ausschließlich außerhalb Deutschlands gepflegt werden konnte.
Der Rückgriff auf die ›Kulturnation‹ Deutschland implizierte somit eine ›neue Literatur‹, die zunächst aus bereits älteren, im Exil verfassten Werken bestand, die aber erst seit kurzem in Deutschland erhältlich waren. Das wurde vor allem von sowjetischer Seite gefördert. Mit der Spaltung der deutschen Literatur, besiegelt durch die Staatsgründungen 1949, wurde Anna Seghers zwangsläufig zur Repräsentantin der DDR-Literatur, die bis dato durch die Werke der anti-nationalsozialistischen Exilliteratur und deren »respektheischende Repräsentanten« geprägt war (Emmerich 2007, 82). Thematisch vor allem mit der Darstellung des Nationalsozialismus und dessen Ursachen beschäftigt, hatten die meisten der repräsentativen Schriftsteller ihren schöpferischen Zenit bereits überschritten. Dies sollte ihrer Literatur später den Vorwurf einbringen, auf die junge Literatur der SBZ/DDR als »retardierendes Moment« gewirkt zu haben (ebd., 83). Auch Anna Seghers gehörte dieser um 1900 geborenen Schriftstellergeneration an, die aufgrund ähnlicher kommunistischer und antifaschistischer Erfahrungen ein Netzwerk von Weggefährten bildete und jene repräsentative ›Intelligenz‹ der jungen DDR stellte, die sich die nachwachsende Generation zum Vorbild nehmen sollte. Obwohl Seghers’ Erzählkunst in der DDR-Literatur durchaus schulebildend wirkte, wurde bereits ab 1948 auch eine gewisse Ungeduld gegenüber ›den Meistern‹ erkennbar, die sich nicht, wie gefordert, der ›neuen Wirklichkeit‹ zuwendeten. Neben Kritik an der relativ homogenen deutschen Nachkriegsliteratur wurden sowohl Forderungen nach neuen Büchern der etablierten Autoren gestellt, als auch die notwendige Förderung junger Schriftsteller reklamiert (vgl. Böttcher 1948). Während der Aufbau Verlag zu Beginn der 1950er Jahre ihre erste Werkausgabe in zehn Bänden vorbereitete, sah sich Seghers mit der Erwartung konfrontiert, dass sie »bald einen Roman über den antifaschistisch-demokratischen Aufbau und das Ringen um ein einheitliches, demokratisches Deutschland vorlegen möge« (Wagner 1980, 66). Seghers’ grundsätzliche Bereitschaft, ihre Arbeit auf die neue Wirklichkeit auszurichten und die Darstellung aktueller Vorgänge als gesellschaftliche Notwendigkeit für ihr weiteres Schaffen anzusehen, wurde vorausgesetzt (vgl. Rilla 1950, 44). Hinsichtlich Sujet und Gestaltung sollte sich die DDR-Literatur am sowjetischen Vorbild orientieren, was auch zu ästhetischen Auseinandersetzungen wie jener im Zuge der ›Formalismusdebatte‹ führte (s. Kap. 36). Der anlässlich ihres 50. Geburtstages von der Deutschen Akademie der Künste in Auftrag gegebene und
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von Paul Rilla verfasste Aufsatz »Die Erzählerin Anna Seghers« markiert, gemeinsam mit den Reaktionen zum kurz zuvor erschienen Roman Die Toten bleiben jung, den Beginn der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Seghers’ Gesamtwerk in der DDR. Später häufig (auch in Westdeutschland) wiedergedruckt, manifestierte dieser Beitrag nicht nur die normative, tradierende Betrachtung des Früh- und Exilwerkes, sondern legte auch dessen Stellenwert für die angestrebte (Um-)Erziehung der Rezipienten fest. Die bei Seghers verhandelten gesellschaftlichen Kämpfe sollten als Orientierung für die neuen, den sozialistischen Aufbau betreffenden Herausforderungen dienen. Ihre literarische Bewältigung sollte eine vorbildliche Wirkung entfalten, insbesondere auf junge Schriftsteller, die das »Hervortreten der positiven Gestalt des neuen Zeitalters« aus Büchern zu bewältigen hatten (Rilla 1950, 43 f.).
Zwischen Traditionsbildung und Gegenwartsorientierung Die öffentliche, vor allem die wissenschaftliche und kritische Rezeption verlief entlang zwei unterschiedlicher Linien: der literarischen und persönlichen Entwicklung von Anna Seghers bis 1945 einerseits und der Erwartungen an die neu erscheinenden Werke andererseits. Diese beiden Blickrichtungen schlossen sowohl politisch-ideologische als auch ästhetische Bewertungskriterien ein: die Orientierung auf den ›neuen Leser‹ durch den ›Künstler-Erzieher‹ stand im Vordergrund. Als Konsequenz bildete sich eine breite öffentliche Seghers-Rezeption heraus, die den Anforderungen entsprach. Neben dieser erfolgreichen Linie der Rezeption sind auch blinde Flecke bzw. ideologisch bedingte Schwerpunktsetzungen zu konstatieren. So wurden etwa Seghers’ frühe Erzählungen von 1926 bis 1930 hauptsächlich hinsichtlich ihres ideologisch-politischen Gehaltes betrachtet, d. h. man rekonstruierte die literarische Entwicklung der Autorin als ›Kurs auf die Realität‹ (vgl. Wagner 1975; Neugebauer 1970; Hinckel 1956). Das Frühwerk wurde mit Nachsicht einer politisch noch unmündigen Autorin zugeschrieben und mit »dem Stempel einer gewissen Erdachtheit, des Gekünstelten« versehen; »zu sehr geprägt von ästhetischer Überformung«, lautete das Urteil (vgl. Schrade 1993, 23–25; Hinckel 1956, 7 f.). Zwar waren schon die frühen Sujets, vom Standpunkt eines sozialistischen Schriftstellers aus, auf die Wirklichkeit gerichtet, aber erst durch die ›marxis-
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tisch-leninistische Parteilichkeit‹ wurde ein Qualitätssprung erreicht, der »die realistische Begabung weiter ausbildete« (Hinckel 1956, 8), wie an ihren folgenden Werken und ihrer engagierten Publizistik zu erkennen sei (vgl. Albrecht 1965 und 1970; Diersen 1965). Auch ihre frühen Exilromane wie Der Kopflohn und Der Weg durch den Februar wurden als »Vorübungen« gewertet, die zum großen Roman Das siebte Kreuz hinführten (Rilla 1950, 27). Ihre literarische Entwicklung wurde allgemein in ein enges Verhältnis zur ›Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers‹ (vgl. Bock 2008) gesetzt. Die Loslösung von ihrer »Herkunft aus der bürgerlichen Intelligenz« mit der Hinwendung zum »Kampf der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, der sie seit 1928 angehört«, sowie der Beitritt zum Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller 1929 wurden als »Grundlage der literarischen Fruchtbarkeit« begriffen (Hinckel 1956, 4). Die Bedeutung des Bundes wurde mit dessen Orientierung auf eine proletarisch-revolutionäre Front und das Vorbild der Sowjetunion im literarischen, analog zu der des Thälmann’schen Zentralkomittees im politischen Bereich herausgestellt (vgl. Neugebauer 1970, 56–59). Veränderungen bei der Gestaltung des proletarischen Revolutionärs vom »anarchistisch gefärbten Rebellen [Grubetsch], dem es primär um seine Selbstverwirklichung« geht, hin zur »kommunistischen Bewußtheit und Moral«, wie in Die Gefährten ausgeführt, wurde als Veränderung des politisch-weltanschaulichen Blickes der Autorin gewertet (Albrecht 1970, 389). Gemeinsam ist diesen Perspektiven auf das Frühwerk, dass Seghers’ Hineinwachsen in die Arbeiterbewegung sie befähigt habe, ihre literarische Konzeption mit den konkreten sozialen Gegebenheiten des Klassenkampfes in Übereinstimmung zu bringen. Seghers selbst relativierte später, ihr damaliger Weg sei dem anderer Freunde und Genossen, die im Bund Gemeinschaft fanden und wie sie darin heimisch wurden, nicht unähnlich gewesen (vgl. Roscher, 1983, 56–58). Ihre Herkunft aus dem gebildeten mittleren Bürgertum war, in ihrer begrifflichen Unschärfe und bei aller Kritik, nicht nur hinsichtlich des Loslösungsprozesses sinnstiftend, sondern stellte zudem einen intellektuellen Mehrwert sowohl für die kommunistischen Literaturdebatten der 1920er und 1930er Jahre als auch für die Tradierung der späteren sozialistischen Literatur dar. Wiederholt wurde auf Anna Seghers’ literarische Prägung durch deutsche, französische und russische Vertreter des Kritischen Realismus verwiesen (vgl. Albrecht u. a. 1974). Deren Erbe habe sie, als eine aus dem
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Bürgertum stammende Schriftstellerin, die den Weg zum Proletariat gefunden hatte, fortgeführt und weiterentwickelt. Das war auf der Basis eines »realistischen Gleichgewichts« zu erreichen, »das die europäische Tradition in derselben weiten Spannung mit den neuen traditionsbildenden Kräften des Sozialismus kreuzt; des Sozialismus, der ein Vorgang unserer gesamten Entwicklung, also auch unserer literarischen Entwicklung ist« (Rilla 1950, 10). Der jüdische Aspekt von Seghers’ Herkunft wurde, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt, etwa wenn vom Elternhaus Reiling oder dem mit »über Rembrandt« bezeichneten Promotionsthema die Rede war (vgl. Albrecht u. a. 1974; Hinckel 1956). Rembrandts Darstellungen von Juden wurden in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Klassenunterschiedes innerhalb der jüdischen Bevölkerung subsumiert und Seghers’ Interesse an der Transformation sozialer Probleme lediglich der Kunst zugeordnet (vgl. Neugebauer, 1970). Erst 1981 wurde Seghers’ Dissertation Jude und Judentum im Werke Rembrandts mit einem Vorwort von Christa Wolf bei Reclam veröffentlicht (s. Kap. 34). Das Exilwerk wurde bereits vor 1950 im Zusammenhang mit Seghers’ antifaschistischem und prosowjetischem Engagement rezipiert und damit zum wesentlichen Teil ihres öffentlichen Ansehens (vgl. Wagner 1975). Ihr »konsequentes Auftreten auf Kongressen« – wie dem I. Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris oder dem II. Internationalen Schriftstellerkongreß 1937 in Madrid, die »die Sammlung und den ideologischen Klärungsprozeß der Hitlergegner förderten« (Albrecht u. a. 1974, 307) –, ihre Tätigkeiten im Rahmen ausländischer Zentren und Organisationen der deutschen antifaschistischen Kunst und Literatur nach 1933 – wie dem Schutzverband deutscher Schriftsteller in Paris, dem Bertolt-Brecht-Club in Prag oder dem Umfeld des Freie[n] Deutschland in Mexiko – wurden in das Gründungsnarrativ der DDR als der ›politischen Organisation von Werktätigen unter der Führung der Arbeiterklasse‹ aufgenommen (vgl. Ulbricht 1966, 187–194). Ihre Exilaktivitäten in Mexiko galten als Teil »der durch das Moskauer NKFD geführten »Aktionseinheit im Kampf gegen Hitler« (ebd., 377–379); als Beispiel für kommunistische Vermittlungsarbeit im kulturellen und politischen Bereich besaßen sie dann große Bedeutung im Zuge der sich entwickelnden Exilforschung (vgl. Kießling 1980). Die kulturpolitischen und literaturhistorischen Festschreibungen führten einerseits zu offenen Stellen in der Rezeption ihrer Werke bis 1945 und trugen an-
dererseits zu der Erwartungshaltung bei, die sich in der sozialistischen Gegenwart an Seghers und ihre Neuveröffentlichungen richtete. Während Das siebte Kreuz jeweils das ›richtige Buch zur rechten Zeit‹ war, wurden z. B. gegenüber dem Exilroman Die Toten bleiben jung Vorbehalte geäußert, die dessen Historizität in Sujet und Entstehungszeitpunkt außer Acht ließen (vgl. Bock 1998). Im Falle des Romans Transit war Seghers selbst hinsichtlich des richtigen Zeitpunktes seiner Veröffentlichung unsicher; trotz mehrfacher Ankündigungen wurde der Text erst 1951 im Rahmen der Gesammelten Werke im Aufbau Verlag veröffentlicht. Erzählungen wie Das Argonautenschiff (1949) oder die Sammlung Der Bienenstock (1953) standen die Kritiker bei Erscheinen eher ratlos gegenüber; deshalb fanden sie in der Öffentlichkeit nur wenig Resonanz. Mitte der 1950er Jahre war die Nachfrage nach ›antifaschistischer Abrechnungsliteratur‹ zugunsten neuer Bücher »über den gewaltigen Aufbau« und das »Schaffen und Leben der Werktätigen« (vgl. Böttcher 1948; sog. Nachterstedter Brief 1955) größtenteils erschöpft. Der immer drängenderen Forderung nach einem DDR-Sujet kam Seghers mit den Romanen Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968) zwar nach, die Romane erschienen nach langer Bearbeitungsdauer jedoch so spät, dass auch sie bei Veröffentlichung bereits anachronistisch wirkten, denn ihre Handlung führte nur bis 1953. Gleichwohl zeigt eine Studie zur Seghers-Rezeption 1965–1975, dass die kritische Resonanz auf einen neuen Seghers-Roman im Vergleich zu den Veröffentlichungen ihrer Erzählungen weit umfangreicher ausfiel. Dieser Umstand wurde als vom Genre abhängig, aber auch mit der geringeren Zugänglichkeit der Kurzprosa erklärt (vgl. Bergner/ Wejwoda 1981, 283).
Vom schwierigen Umgang mit einem ›lebenden Denkmal‹ Das kulturpolitische Interesse daran, dass Anna Seghers ab 1947 in der SBZ und ab 1949 in der DDR – und in deren Sinne – wirken möge, führte zunächst zu einer zügigen und überdurchschnittlichen Verbreitung ihrer Bücher in Ostdeutschland; dies wurde durch umfangreiche, auch betriebliche Bibliotheksgründungen und die Mitwirkung der Massenmedien verstärkt. Mit Zeitschriften für Kulturpolitik, Kunst und Unterhaltung, verschiedenen Tageszeitungen sowie dem durch den Kulturbund gegründeten Aufbau Verlag standen ihr in der SBZ zahlreiche Medien zur Verfügung. Frühe Vor-
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und Teilabdrucke ihrer Texte, etwa in Sonntag oder Neues Deutschland, fungierten häufig als Ankündigungen nachfolgender Buchveröffentlichungen – in der Regel durch den Aufbau Verlag, der bis 1990 etwa 3,3 Millionen Bücher allein von Anna Seghers drucken ließ (vgl. Zehl Romero 2003, 56 f.; Wurm 1995). Im ›Leseland DDR‹ waren die Schriftstellerin und ihr Werk omnipräsent. Seghers’ Bücher, allen voran Das siebte Kreuz, standen als Pflichtlektüre in den Lehrplänen der Schulen und auf den Programmen zur politischen Bildung, was durch viele zusätzliche Materialien zu Leben und Werk der Autorin unterstützt wurde (vgl. Gysi 1953; Hinckel 1956; Jonas 1996; Ulbricht 1966; Albrecht u. a. 1974). Einige ihrer Bücher wurden verfilmt oder für Rundfunk und Theater adaptiert (vgl. Nehring 1993; Zehl Romero 2003, 296–298; Elsner 2018; s. Kap 55). In den Geisteswissenschaften und beim literarischen Fachpublikum nahm die Beschäftigung mit Anna Seghers breiten Raum ein. Allein die begleitende Bibliographie zur Jubiläumspublikation Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag vermittelt mit ihren 1005 Einträgen eine Vorstellung vom Umfang der Seghers-Rezeption bis 1975 (vgl. Batt 1975; Bergner/Wejwoda 1981; Diersen 1965; Rilla 1950; Wagner 1980). Ihre Romane und Erzählungen inspirierten sowohl bildende Künstler (vgl. Berger 1994) als auch andere Schriftsteller wie Heiner Müller, Werner Bräunig, Volker Braun, Sarah Kirsch und insbesondere Christa Wolf, die neue Impulse zur Interpretation gab (vgl. Reichelt 1983; Schuhmann 1994; Müller 1996; detailliert dazu s. Kap. 45). Ab den 1950er Jahren ist das wachsende akademische Interesse in literarischen und kulturpolitischen Fachzeitschriften wie Sinn und Form, Neue deutsche Literatur und Weimarer Beiträge zu beobachten. Hier erschienen neben Originaltexten auch Gespräche mit der Autorin (vgl. Roscher 1983) sowie Würdigungen ihres Werks. Seghers’ Präsenz und die ihr zugedachte repräsentative wie privilegierte Rolle boten zwar »die Resonanz [...], die sich ein Schriftsteller wünscht« (KuW1, 154), führten aber zu einer gewissen Homogenität der offiziellen Lesarten, was im Westen stark kritisiert wurde (vgl. Bergner/Wejwoda 1981; Degemann 1985; Elsner 2003). Die Skepsis gegenüber der DDR-Rezeption richtetet sich auf das dort etablierte ›Denkmal Anna Seghers‹ (s. Kap. 51). Im Zuge einer einsetzenden westdeutschen Seghers-Rezeption während der 1970er Jahre, vor allem im Rahmen der Exil- und Frauenforschung, begann auch in der DDR eine kritische Auseinandersetzung mit dem offiziell propagierten Seghers-Bild. Dort war
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Seghers, so Klaus Sauer 1978, »in den Rang jener Klassizität erhoben worden, die von kritischen Einwänden fast nicht mehr erreicht« werde. Zudem wurde ihrem Werk rückblickend »ein Maß an Kontinuität und Repräsentanz für die Entstehung und Entfaltung einer sozialistischen deutschen Nationalliteratur« bescheinigt, das ohne Beispiel war. Kontrastierend, aber ebenso wenig angemessen, erschien zum Ende dieser Dekade »das Bild einer überlebten, durch den sozialistischen Realismus ihrer schöpferischen Kraft beraubten Schriftstellerin«, das die »lange auf Abgrenzung fixierte« bundesdeutsche Literaturkritik aufgrund ihrer nach 1945 geschriebenen Erzählungen und Romane gezeichnet hatte (Sauer 1978, 7). Das Sprechen über die Rezeption im jeweils anderen Teil Deutschlands setzte somit keineswegs erst infolge der ›Wende‹ ein, stellte sich hinsichtlich der teilweise noch heute vorherrschenden Beurteilung der DDR-Rezeption gleichwohl als nachhaltig heraus. So hob u. a. Andreas Schrade 1993 hervor, Seghers’ Werk sei vor allem als »Affirmation des politischen Programms der SED gedeutet« und sie selbst »nach einigen anfänglichen Reibereien [...] rasch in die Reihe der repräsentativen sozialistischen Schriftsteller gestellt« worden. Die im Gegensatz zur westdeutschen noch nicht systematisch erfasste ostdeutsche Rezeption sei »sehr eindeutig und folglich leicht zu klassifizieren« (Schrade 1993, VIII). Von Beginn an war die Seghers-Rezeption in der DDR von Erwartungen an die Autorin, ihre öffentliche Positionierung und an die neu erscheinenden Werke geprägt. Rekurrierend auf den antifaschistischen Gründungsmythos und das staatliche Selbstverständnis als ›Kulturnation‹ (vgl. Winckler 1992) diente die Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als wichtiger Faktor einer Umerziehung der Menschen für den Frieden und den Sozialismus. Den Schriftstellern wurde in diesem Prozess die Rolle der ›Künstler-Erzieher‹ zugewiesen. Anna Seghers unterstützte diese Politik, weil aus ihrer Sicht der Enttrümmerung der Städte die ›Enttrümmerung der Menschen‹ in Deutschland zu folgen habe, was die Schriftsteller maßgeblich unterstützen sollten (vgl. KuW1, 90–115). Der Erwartungshaltung, »einen Roman über die neuen Menschen in unserer Republik und ihre Probleme« zu schreiben, wollte die Autorin gerecht werden (vgl. Hinckel 1956, 30). Tatsächlich aber entsprechen Seghers’ nach 1947 geschriebene, inhaltlich und kompositorisch komplexe Texte häufig gerade nicht den damaligen Erwartungen der Kulturpolitik, der Kritiker und Leser. Denn neben ihrer »vordergründig affirmative[n] Einstel-
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lung zu dem Neuen, das sie in der DDR sah und sehen wollte«, verstand sich Seghers auch »als erzählerische Avantgarde« und wollte »bei aller Um- und Vorsicht Kontroverses zur Sprache bringen« (Zehl Romero 2003, 131). Ihr erster in der DDR veröffentlichter Roman Die Toten bleiben jung (1949) wurde als nicht ganz zeitgemäß bewertet. Die Rezeption ihrer Erzählungen verlief häufig nicht zu Seghers’ Zufriedenheit, sondern entlang offizieller Lesarten, die sich am Geschichtsund Menschenbild der sozialistischen Gesellschaftsordnung orientierten und Seghers’ Repräsentativität re-manifestierten. Gleichwohl sind durchaus kritische Interpretationsansätze zu erkennen. Trotz der postulierten Eindeutigkeit unterliegt die Errichtung des ›Denkmals Seghers‹ vielschichtigen Bedingungen, denn es hatte nicht nur affirmative, sondern in Grenzen auch subvertierende Auswirkungen sowohl auf die Schriftstellerin als auch auf ihre Rezipient/innen. Neben Seghers’ öffentlichkeitswirksamer Verortung im historischen Kreis der politisch engagierten Intellektuellen und Kulturschaffenden war man zeit ihres Lebens bemüht, die Nähe der Dichterin zu ihren Leser/ innen, die tiefe Verbundenheit zwischen der ›Patriarchin der DDR-Literatur‹ – wie sie abwertend von westlicher Seite tituliert wurde – und den Arbeitern zu demonstrieren (vgl. Elsner 2003; Neugebauer 1970; Simon/Dietz 1976). Eine Auswahl Briefe an Leser (1970) betonte Seghers’ Nähe und Aufgeschlossenheit für ihr Lesepublikum. Vorwiegend Schüler/innen und (auch ausländische) Studierende stellten hier Fragen, die meist die Entstehung ihrer Werke betrafen. Die teils detaillierten Antworten ergänzten künstlerisch-theoretische Positionen, die von der ab 1970 veröffentlichten Sammlung Über Kunstwerk und Wirklichkeit begleitet wurden (s. Kap. 35). Ein Beispiel für die über 180 Namenspatenschaften in der DDR ist die für das VEB Röhrenwerk »Anna Seghers« in Neuhaus, die 1952 verliehen wurde. Dies suggeriert eine enge Verbindung der Werktätigen mit den ›Geistesarbeitern‹. Die dazu entstandene Publikation Kraft und wirkliches Blau (1976) spiegelt »Ergebnisse einer Partnerschaft zwischen Schriftsteller und Arbeiterklasse« wider (Simon/Dietz 1976, 5). Offiziell erfreute sich Seghers »der Liebe und Verehrung [der] Arbeiter und Bauern, [der] Lehrer und Wissenschaftler, [der] Frauen und [der] Jugend, die in ihrem Werk – sichtbar von aller Welt – gültige und überzeugende Gestalt gefunden haben« (Neugebauer 1970, 195). Auf persönlicher Ebene war eine Ikone geschaffen worden: »die heißt ›die Anna‹, und sie ist, wie jede Legendenperson, mit ihrem Urbild nur teilweise identisch, und
[...] aus den Bedürfnissen derer gemacht, die die Legende schaffen« (Wolf 1975, 19). Auf Kritik von außen reagierten die selbsternannten »Seghers-Jünger«, die die offizielle Kulturpolitik nach außen vertraten, indem sie »im Osten den Wall nur noch enger um [die] Schutzheilige [zogen]. Sie sollte, sie musste unantastbar werden« (Quilitzsch 1992, 66). In dieser Gemengelage zwischen selbst- und fremdbestimmtem Lesen gab es wiederum nicht wenige, die »nichts von ihr wissen wollten«, Distanz hielten zu einer Autorin, »deren Gesicht, deren Aufsätze und Reden [ihnen] jeden zweiten Tag in der Zeitung begegnete« (Lange-Müller 2000). Andere verwiesen in späteren Jahren auf eine Verflechtung von Respekt und Indifferenz gegenüber der zu Repräsentationszwecken vereinnahmten Anna Seghers, was zunächst produktive, pluralistische Seghers-Lektüren verhinderte. Festzuhalten ist, dass die (öffentliche) Rezeption einige blinde Flecken aufwies, während bestimme Aspekte überbetont wurden (vgl. Schubert 1995). Im Laufe der Jahre wurde das Seghers-Bild starrer, während sich die Lehrenden und Lernenden weiter entwickelten. Viele, die mit der politisch-ideologischen Bewertung ihres Werkes bereits seit der Schulzeit konfrontiert worden waren, lehnten das kanonisierte Autorenbild ab und suchten eigene Wege. So las Katja Lange-Müller (1951) »freiwillig die frühen Erzählungen und sogar das als Schulstoff verpönte Das siebte Kreuz erst nach dem Exilroman Transit, der ihr von ihrer kommunistischen Großmutter empfohlen worden war« (Lange-Müller 2000).
Die Autorin mit den Leser/innen im Bunde Einige Verwunderung bewirkten sowohl Seghers’ Interesse für karibische (seit 1949) und mexikanische (seit 1951) Stoffe sowie ihre erzählerischen Experimente im Bereich des Phantastischen. Die Reaktionen, vor allem auf den Erzählband Sonderbare Begegnungen (1973), lassen einerseits die Grenzen der konservativen Seghers-Rezeption erkennen, andererseits die Emanzipationsbestrebungen, die sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Seghers und ihrem Werk herausbildeten (vgl. Bergner/Wejwoda 1981, 324–329). Gerade die späten Erzählungen, die Kurzprosa überhaupt, hatten die größte Resonanz im Kreise der (jüngeren) Kulturschaffenden. Dank der Zugänglichkeit ihrer theoretisch und poetologisch orientierten Arbeiten und im direkten Dialog mit der Autorin entstand eine differenziertere Beschäftigung mit Seghers’ Werk, die als Grundlage für die weitere Forschung dient. Be-
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stimmend waren die Arbeiten von Sigrid Bock und Christa Wolf, die sich seit den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre bereits um ›neue Wege‹ zu Seghers bemühten. Außerdem hatte nun eine jüngere Generation Literatur- und Kulturschaffender das Wort. Auf den Generationskonflikt verwies bereits 1980 Frank Wagner, dessen Monographie das Ziel hatte, den »unzähligen Spuren ihres [A. S.] langen, tätigen Lebens, den Zeichen ihres Wirkens als Kommunistin, als Vorkämpferin der internationalen antifaschistischen Bewegung, als Streiterin für den Weltfrieden« (Wagner 1980, 79) nachzugehen. Seghers gehöre »nun schon zu einer alten Generation kommunistischer Künstler, jüngere sind herangewachsen, sie bringen neue Erfahrungen, Ansichten und Sehweisen ein. Nicht wenige sehen in Anna Seghers ihre Lehrerin oder sind von ihrer Haltung tief beeindruckt. Manche betonen, anders sehen und schreiben zu müssen als die Ältere« (ebd.). Seghers selbst maß der Kritik der Intellektuellen untereinander große Bedeutung bei und legte Wert auf die Bestärkung und Förderung junger Autoren. In deren Reihen fand wiederum ein »außerordentlich differenzierter [und genreunabhängiger] Rezeptionsvorgang Seghers’scher Werke« statt, von Bekenntnissen zum Vorbild bis hin zu »nachweisbaren Spuren Seghers’scher Gestaltungsmittel« (Reichelt 1983, 3). Rezeptionsangebote und Lesarten ihrer Werke durch andere Autor/innen führten zu Veränderungen im Rezeptionsverhalten. So erkannte z. B. Christa Wolf, die sich seit 1959 mit Person und Werk der Seghers essayistisch auseinandersetzte, ihr eigenes Schreiben als von dieser Autorin beeinflusst (vgl. Wolf 1975). Dramatiker wie Heiner Müller, Stefan Schütz oder Werner Bräunig konfrontierten das Publikum seit den späten 1960er Jahren vermehrt mit Texten, die deutliche Seghers-Bezüge aufwiesen; so etwa Bräunigs Gewöhnliche Leute (1969), Schütz’ Heloisa und Abaelard (1976), Müllers Motiv bei A. S. (1958) und Der Auftrag (1979). Auch diese Werke eröffneten neue Zugänge zum Seghers’schen Œuvre (vgl. Reichelt 1983, 1–3). Als in den 1970er Jahren das Konzept des ›KünstlerErziehers‹ und die Leitlinien des ›Bitterfelder Weges‹ verblassten und eine Phase der Liberalisierung der Literaturprozesse in der DDR einsetzte, die von den Verteidigungsversuchen der Autonomie der Kunst seitens der Schriftsteller getragen und mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker verbunden war, wurde auch die Sicht auf den Leser als »Mündel« (zit. nach Emmerich 2007, 43–48) revidiert. Nun erweiterte sich seine Rolle so, dass er als mündiger Leser sinnstiftend am literarischen Kunstwerk mitwirken
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konnte (oder sollte). Die gesellschaftliche Rezeption wandelte sich von einer gnoseologisch-didaktischen zu einer eher kommunikativen Orientierung. Das bedeutete, Seghers’ Werke nicht mehr hinsichtlich ihres didaktischen Gehaltes zu lesen und zu verstehen, sondern offene Fragen innerhalb der Rezeption zu diskutieren (vgl. Bergner/Wejwoda 1981). Bis zum Beginn der 1980er Jahre wurden diese Angebote jedoch nicht oder nicht ausreichend angenommen, wie Bergner und Wejwoda in ihrer detailreichen und kritischen Studie zur Seghers-Rezeption in der DDR während der 1960er und 1970er Jahre zeigen konnten. Die Literaturdebatten um Die Kraft der Schwachen, Das wirkliche Blau, Das Vertrauen und Sonderbare Begegnungen konkretisieren diesen Widerspruch und führten zu der Erkenntnis, dass die Rezeptionsmöglichkeiten zunächst aufgrund der Repräsentationsfunktion von Anna Seghers – das ›übermächtige Autorenbild‹ und das in seinem Entwicklungsprozess kontinuierlich nachvollzogene Werk – verengt waren. Allein die herausragende Stellung der Autorin in der DDR prädestinierte die grundsätzlich positive Aufnahme von Neuerscheinungen durch die Kritik, da sie zunächst stets als »erneuter Beweis ihrer künstlerischen Meisterschaft« galten (Bergner/Wejwoda 1981, 244). Gleichzeitig wurde die überwiegend positive Wirkung des jeweiligen Werkes wiederum in die Repräsentation integriert, was zu einer gewissen Nachsicht, eventuell sogar Nachlässigkeit, bei der kritischen Auseinandersetzung führte. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich neue Lesegewohnheiten nicht von heute auf morgen durchsetzen; zumal mussten damals in Ost und West entstehende rezeptionsästhetische Ansätze sowie die durch Literaturtheorie und -didaktik verkündete sogenannte ›Kommunikative Wende‹ erst die Bildungsinstitutionen passieren, um ihre Wirkung für die ›Freiheit des Lesers‹ entfalten zu können. Neben dem Recht darauf, müssen der Mut und die Fähigkeit zu individuellen Lesarten zunächst trainiert werden (vgl. Elsner 2007, Anm. 12; Jonas 1996). Die Erhebung von Seghers zum Denkmal wurde in den ersten Jahren nach der Rückkehr angelegt und bezog sich neben ihrem Autorenbild auch auf ihre Stellvertreterfunktion für die verschiedenen Komponenten des kulturellen Erbes, in das sie integriert war und wofür sie als Repräsentantin instrumentalisiert wurde. Ihre spätere ›Unantastbarkeit‹ entwickelte sich beinahe zwangsläufig, sollten nicht wichtige Aspekte des Gründungsmythos und damit der Anspruch der Einheit von Geist und Macht gefährdet werden. Die Publikation Anna Seghers zum 80. Geburtstag – Autorenpor-
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trait mit dem Titelzusatz »Empfehlendes bio-bibliographisches Verzeichnis mit Veranstaltungsmaterialien« verstärkt den Eindruck des Monumentalen und der Kontrolle, die über das ›Denkmal‹ ausgeübt wurde. Neben Daten zu Leben und Werk sowie Leseproben literarischer und publizistischer Texte finden sich dort (in roter Schrift) genaue Anweisungen für drei Arten von Veranstaltungen. Auf Hinweise zu Methodik und Ablauf folgen Lesungen von Original- und Sekundärtexten. Die vollständige Orchestrierung der Veranstaltungen zeigt sich anhand vorformulierter Moderationen bis hin zur Festlegung der Begleitmusik (vgl. Schnabel 1980). Seghers’ literarisches Werk sowie ihr schriftstellerisches Ausscheren aus kulturpolitischen Erwartungshaltungen bot Gelegenheit zu differenzierten Rezeptionshaltungen und führte zur Revision konservativer Rezeptionsweisen früherer Werke. Das Rezeptionsumfeld hingegen bestimmte weiterhin die Schwerpunkte der Bewertung von Autorin und Werk. Obwohl, soweit bekannt, Anna Seghers keine tiefgreifende Zensur-Erfahrungen bei ihren Buchveröffentlichungen in der DDR gemacht hat, nutzte sie das ›Sprechen in Andeutungen‹ zur künstlerischen Selbstbestimmung; das ersparte ihr, radikal aus den offiziellen Zuschreibungen auszubrechen (vgl. Bock, 1991; Hilzinger 1997).
Denkmalpflege, Denkmalsturz und ›neue Wege‹ vor und nach 1989 Nach Seghers’ Tod 1983 und dem Staatsbegräbnis in Ost-Berlin wurden ihr Erbe und ihr Andenken als Teil des Staatserbes weiterhin gepflegt. Der literarische Nachlass wurde der Akademie der Künste übergeben, und 1985 wurde das Anna-Seghers-Archiv gegründet (s. Kap. 59). Dessen damaliger Standort, die bis heute im Originalzustand belassene und zur Gedenkstätte umgewandelte Dichterwohnung in Berlin-Adlershof, manifestierte einerseits das ›Denkmal Anna Seghers‹, denn man beließ die Autorin »als Standbild auf dem Podest, auf das sie die DDR gestellt hatte und wo es leicht verstaubte« (Zehl Romero 2003, 325). Andererseits verstand sich die Forschungs- und Archivstelle als »Ort der Berührung mit Literaturgeschichte und Geschichte« sowie als »lebendige Begegnungsstätte« (M. Berger 1992, 208). Hier wurde, entsprechend der testamentarischen Verfügung, im April 1987 zum ersten Mal das Anna-Seghers-Stipendium durch die Akademie der Künste der DDR vergeben, das seither all-
jährlich an junge Autor/innen verliehen wird (seit 1995 als Anna Seghers-Preis durch die gleichnamige Stiftung). Die wohl konfliktreichsten Debatten um Anna Seghers entwickelten sich im Umfeld ihres 90. Geburtstages, wobei diese weniger auf ihr literarisches Werk, als vielmehr auf sie selbst und ihre Rolle in der nun nicht mehr existierenden DDR abzielten. Christel Berger beschreibt (bezugnehmend auf Hölderlins »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«) die Situation wie folgt: »Gefahr: Eine Dichterin wird kaum mehr durch ihre Werke wahrgenommen, sondern allein [ihre Handlungen] bewegen die Gemüter, viele Leser verbinden ihre Enttäuschung mit der DDR unvermittelt mit der Dichterin, die als Repräsentantin dieses Staates galt. [...] Literatur, die sich zur Tradition einer Anna Seghers bekennt, wird in Frage gestellt, Werte, die jahrzehntelang beschworen und teilweise verinnerlicht wurden, scheinen unbrauchbar, antifaschistisches Denken und Handeln in der DDR plötzlich scheinbar nur verordnet, nicht gelebt, nicht erworben. Plötzlich war der Traum von der Kraft und Solidarität der Schwachen nur noch eine von Anfang an betrügerische Taktik, kein Experiment, dessen Scheitern einer differenzierten Untersuchung bedarf.« (C. Berger 1992, 23)
Unbestreitbar markieren die Ereignisse um 1990 eine Zäsur in der Wirkungsgeschichte von Anna Seghers, obwohl von einem Abbruch der ostdeutschen Tradition nicht wirklich die Rede sein kann. Der Denkmalsturz schien spätestens mit dem Erscheinen der Memoiren von Walter Janka (1989) und Seghers’ eigener, bis dahin unveröffentlichter Novelle Der gerechte Richter (1990) besiegelt. So verglich u. a. die Schriftstellerin Ruth Rehmann Seghers’ Schweigen mit jenem der Schriftsteller im ›Dritten Reich‹, das Seghers selbst einst aus dem mexikanischen Exil scharf verurteilt hatte: »[Ich habe sie] von ihrem Podest heruntergezerrt, was mir, die sie auf dieses Podest erhoben hatte, am meisten wehtat« (Rehmann 1992, 14). Die Berliner Zeitung stellte zum 90. Geburtstag die 1975 verliehene Ehrenbürgerschaft Berlins infrage. Stephan Hermlin äußerte seine bittere Erleichterung darüber, dass Anna Seghers »diesen Tag nicht erlebt hat und nicht, dass ihr Werk ähnlich wie 1933 auf den öffentlichen Scheiterhaufen kam« (Hermlin 1991, 8). Erik Neutsch evozierte das Bild eines Museums, in welches eilig die Handwerker gerufen würden, um mit dem Scheitern des Sozialismus zugleich das von Anna Se-
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ghers erstrebte gesellschaftliche Bild »aus der Galerie der nicht nur deutschen Literatur- und Geistestradition zu entfernen« (Neutsch 1992, 18). Noch in der DDR begonnene Projekte anlässlich des bevorstehenden Jubiläums wurden aufgrund der Ereignisse erst wesentlich später, in veränderter Form oder gar nicht realisiert (vgl. Berger-Fiedler 1993; Wagner 1995). Im März 1990 fand die letzte Seghers gewidmete Konferenz des Kulturbundes (in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Künste und der Gesellschaft für Germanistik) statt. Hier wurde einerseits festgestellt, der Versuch, Seghers’ Werk zu retten, sei zu diesem Zeitpunkt »sinnlos«, andererseits deuteten sich bereits »neue Wege« einer Rezeption an (Langermann 1990). Auch angesichts der Tatsache, dass plötzlich zwei deutsche Seghers-Traditionen zusammentrafen, die sich nicht länger nur aufeinander beziehen, sondern zueinander verhalten mussten, wurden diese ›neuen Wege‹ notwendig und sogleich auch beschritten. Die Gründung der AnnaSeghers-Gesellschaft 1991 als Ausdruck »streitbarer Teilnahme an den Umbrüchen seit 1989« und als Ort, »der Menschen unterschiedlicher Auffassung, Herkunft, Lebensalter zum Gespräch« zusammenführt, sowie die Herausgabe des Jahrbuches Argonautenschiff seit 1992 legen Zeugnis davon ab (s. Kap. 59). Der Vergleich mit der öffentlichen Resonanz auf Anna Seghers’ 100. Geburtstag in Ost und West beweist, dass die zu Beginn der 1990er Jahre eröffneten Forschungsperspektiven durchaus genutzt worden sind, was die große Anzahl von Artikeln und Rezensionen bezeugt. Nun findet die »Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter« (Wolf 1994, 7) in ganz Deutschland Beachtung und stößt auf positive Resonanz. Neben der bislang umfangreichsten Biographie, die anstelle eines »paradigmatischen, kommunistischen Lebens- oder Irrlauf[es]«, ein »widersprüchliches, facettenreiches« Bild der Autorin schaffen will (Zehl Romero 2000, 9), erschienen die ersten von 25 Bänden einer neuen, von Helen Fehervary und Bernhard Spies betreuten Werkausgabe beim Aufbau Verlag. Mittlerweile sind Vorbehalte abgebaut worden und die Seghers-Forschung folgt differenzierten Ansätzen. Literatur
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Anja Jungfer
51 Westdeutsche Rezeption – BRD
51 Westdeutsche Rezeption – BRD Im Jahre 1947 kehrte die Exilantin Anna Seghers nach Deutschland zurück. Nach sieben Jahren hatte sie nun die Möglichkeit, die deutsche Nachkriegswirklichkeit mit all ihren Problemen hautnah zu erleben. Ihre Entscheidung, auf das relativ bequeme Leben in Mexiko zu verzichten und in das zertrümmerte Deutschland zurückzukehren, wie auch ihre dadurch artikulierte Bereitschaft, sich am Wiederaufbau des Landes und der Gesellschaft zu beteiligen, wurden sowohl im Westen wie auch im Osten Deutschlands viel gelobt und fanden gesellschaftliche Anerkennung. Zu diesem Zeitpunkt war Anna Seghers schon international berühmt. Dazu trug wesentlich ihr im Exil geschriebener Roman Das siebte Kreuz bei, für den sie am 20.7.1947 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. In seiner Laudatio hob Kurt Heyd das große dichterische Vermögen der Schriftstellerin und ihr soziales Engagement hervor und betonte damit zugleich ihre Nähe zum Namensgeber des Preises: »Der Kampf für das Recht und die gesunde Vernunft erfüllt das Leben von Anna Seghers [...]. Die Anerkennung ward ihr nicht versagt, aber auch nicht die Anfeindung, denn sie setzte ihr großes schöpferisches und dichterisches Talent für jene Menschen ein, für die auch ihr und unser Landsmann Georg Büchner in den wenigen kurzen Jahren seines Lebens als Dichter und Revolutionär gestritten hatte: für die sozial Entrechteten. [...] aber das ist keine soziale oder gar sozialistische Tendenzliteratur mit simplen aufdringlichen schwarz-weißen Gegensätzlichkeiten, sondern alle ihre Figuren tragen den Stempel großer dichterischer Gestaltungskraft.« (Heyd 1947)
In seiner Rede wies Heyd darauf hin, dass man die Werke von Anna Seghers, die schon damals als eine überzeugte Anhängerin der kommunistischen Idee galt, auf keinen Fall in eine Reihe mit der sozialistischen Tendenzliteratur stellen sollte, da sie sich durch ihr ästhetisches Potenzial von dieser deutlich abhebt. Wie sich jedoch später erweisen sollte, ging die Rezeption dieser Werke in die entgegengesetzte Richtung. Noch in demselben Jahr, im Oktober 1947, fand der erste ‒ trotz der Teilung in vier Besatzungszonen ‒ gesamtdeutsche Schriftstellerkongress statt, auf dem Anna Seghers eine Rede hielt. Sie hob hervor, dass die deutschen Schriftsteller, von ihrer politischen Gesinnung abgesehen, eine gemeinsame Mission zu erfüllen haben, die darin besteht, mit ihren Werken zum geisti-
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gen Wiederaufbau der deutschen Gesellschaft beizutragen. Der Schriftstellerkongress, dessen Ziel es war, der Spaltung der deutschen Literatur vorzubeugen, endete jedoch mit einem Eklat und ersten Anzeichen der kulturellen Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland (vgl. Koller 2012). Diese Spaltung hatte auch Konsequenzen für die Rezeption des literarischen Schaffens von Anna Seghers. In Westdeutschland wurde ihr Werk als unerwünscht eingestuft, besonders die Texte seit 1950, als die Autorin die mexikanische Staatsbürgerschaft aufgab, ihren Wohnsitz im amerikanischen Sektor verließ und nach Ost-Berlin umzog. Seghers’ Entscheidung für die DDR und den Sozialismus galt in Westdeutschland als unverzeihlich und beeinflusste maßgeblich die dortige Literaturkritik. Charakteristisch für die westdeutsche Rezeption war die nun erfolgte Teilung des Œuvres der Schriftstellerin in Früh- und Spätwerk, womit das vor und nach 1947 Geschriebene gemeint war. Während das Frühwerk Anerkennung fand, wurde alles, was Seghers in der DDR verfasste, als minderwertig, politisch und daher unlesbar eingestuft. Ihre Texte wurden je nach dem gerade herrschenden ›Ostzonen-Bild‹ interpretiert und bewertet. Eine wichtige Rolle bei der Lesart ihrer Romane und Erzählungen in der BRD spielte auch die dort gerade herrschende politische Stimmung. Ein gutes Beispiel dafür ist die janusköpfige Rezeptionsgeschichte des Romans Das siebte Kreuz.
Die Kontroverse um den Roman Das siebte Kreuz Der berühmteste Roman von Anna Seghers erschien erstmals in deutscher Sprache im Jahr 1942, im mexikanischen Verlag El Libro Libre. In Deutschland erschien der Roman erst 1946 im Aufbau Verlag. In den deutschen Kinos wurde die US-amerikanische Verfilmung des Romans aus dem Jahre 1944 (Regie: Fred Zinnemann) gezeigt. Jedoch bereits 1947 verboten die amerikanischen und englischen Besatzungsmächte die Vorführung. Man befürchtete, dass der im Film dargestellte Widerstand die deutsche Bevölkerung beeinflussen und ihren Widerstandswillen gegen die Besatzungsmächte wecken könnte (vgl. Häntzschel/ Hummel/Zedler 2009, 261). Trotzdem durfte der mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Roman 1948 in den Westzonen erscheinen. Das Interesse der westdeutschen Verlage für das Buch und die Autorin verschwand jedoch nach der Gründung der beiden deutschen Staaten. Der Roman wurde zum Politikum,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_51
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weil die dort vermittelten Inhalte, insbesondere die Darstellung des kommunistischen, antifaschistischen Widerstands, nicht in das westdeutsche politische Konzept und dessen Auslegung der neuesten Geschichte passten. Die antitotalitäre Grundhaltung in der Bundesrepublik bezog sich in erster Linie auf das kommunistische Regime und nicht auf die NS-Vergangenheit. Entsprechend fungierte der Anti-Kommunismus als wichtiger, identitätsstiftender Faktor für die westdeutsche Gesellschaft (vgl. Rüdiger 2012). Die NS-Diktatur und die SED-Diktatur wurden im öffentlichen westdeutschen Diskurs gleichgestellt, während die nationalsozialistische Vergangenheit mit all ihren Aspekten in der Öffentlichkeit bis Ende der 1950er Jahre kaum diskutiert wurde (vgl. Wolfrum 2008). Dies hatte zur Folge, dass in der BRD auch an den kommunistischen, antifaschistischen Widerstand nur ungern erinnert wurde. Während in der DDR der kommunistische Widerstand gegen die Hitler-Diktatur einen wichtigen Bestandteil des Gründungsmythos bildete und als solcher glorifiziert wurde, fand er in der BRD kaum Beachtung. Wenn hier vom antifaschistischen Widerstand die Rede war, dann galt als Paradebeispiel das Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli (vgl. Vatter 2009, 50). Als 1962 Das siebte Kreuz im Luchterhand Verlag publiziert werden sollte, entbrannte eine Kontroverse. Wichtig war dabei, dass die Entscheidung, den weltbekannten Roman einer inzwischen prominenten DDR-Autorin in einem westdeutschen Verlag zu publizieren, ein Jahr nach dem Mauerbau getroffen wurde. Einer der Protagonisten dieses öffentlich ausgetragenen Streits war Peter Jokostra, ein in der BRD relativ wenig bekannter Schriftsteller, der noch vor dem Mauerbau aus der DDR geflohen war. In seinem offenen Brief an den Verleger Eduard Reifferscheid forderte er, auf die Veröffentlichung des Romans zu verzichten, da die Autorin »die Umwandlung des unsichtbaren eisernen Vorhangs in eine sichtbare massive und von Maschinengewehren geschützte Mauer schweigend hinnahm und als Mitglied ihrer Partei, der SED, sogar billigte und forcierte« (Jokostra 1962). Für solche systemkonformen Schriftsteller, die der Parteipolitik kritiklos gegenüberstehen und da, wo Menschenrechte verletzt werden, schweigen statt zu widersprechen, sollte es jenseits der Mauer keinen Platz geben. Durch Marcel Reich-Ranicki gewann der Streit eine zusätzliche Dimension. In seinem als Antwort auf Jokostras Brief verfassten Zeit-Artikel vom 10.8.1962 stellte er die Frage: »Wann ist ein DDRSchriftsteller noch, wann nicht mehr publikations-
würdig für die Bundesrepublik?« (Reich-Ranicki 1962). Damit war ein wichtiger Aspekt des deutschdeutschen Literaturaustauschs benannt. Laut ReichRanicki, der alle von Jokostra gegen Anna Seghers angeführten Argumente ‒ zum Teil auch ironisch ‒ entkräftete und entschieden für die Veröffentlichung des zur Diskussion stehenden Romans plädierte, sollten die Werke der DDR-Literatur den westdeutschen Lesern nicht vorenthalten werden. Nicht nur die herausragenden, sondern gerade die als misslungen eingeschätzten Texte sollten, seiner Meinung nach, in der BRD gedruckt werden. Denn so konnte dem westdeutschen Lesepublikum veranschaulicht werden, was für einen zerstörerischen Einfluss die kommunistische Diktatur auf die einst talentierten Autoren hatte. Zur Bekräftigung seiner These verwies der Literaturkritiker auf Anna Seghers: »1959 erschien drüben Anna Seghers’ Roman Die Entscheidung. Ich halte dieses Buch – und das habe ich damals geschrieben – für ein ›erschütterndes Dokument der Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs des Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit‹. Warum sollte man einen Verleger daran hindern, den hiesigen Lesern zu zeigen, was aus Anna Seghers, die einst Meisterwerke deutscher Prosa schrieb, in der DDR geworden ist? [...] Warum sollte den Lesern der Bundesrepublik verheimlicht werden, dass die Seghers auf ein derartiges Niveau gesunken ist? Wer sich der Veröffentlichung dieses Romans hier widersetzt, hilft im Grunde, die Niederlage der dortigen Literatur zu tarnen.« (Reich-Ranicki 1962)
Somit sollte dem westdeutschen Publikum vorgeführt werden, welchen Preis die Schriftsteller für das Leben in einem totalitären Staat bezahlen. Wie aus der Argumentation Reich-Ranickis hervorgeht, teilt er Seghers’ Werk in zwei Phasen ein: das, was die Autorin vor ihrem Umzug in die DDR schrieb, und das, was danach entstand. In diesem Sinne ist der Roman Das siebte Kreuz kein kompromittierendes Zeugnis ihres Abstiegs, sondern ein Meisterwerk gesamtdeutscher Prosa. Darüber hinaus sollte der Roman als »ein Roman gegen die Diktatur schlechthin« (ebd.) gelesen werden, also nicht nur gegen den Nationalsozialismus, sondern auch gegen alle anderen Diktaturen. Die damit begonnene Entpolitisierung des Romans hatte zur Folge, dass seine Bedeutung als literarische Gestaltung des antifaschistischen Widerstands (vgl. Degemann 1985, 135) kaum noch beachtet wurde. Reich-Ranicki, für den der Roman 1959 noch »ein Kampfbuch gegen
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den Faschismus« (Reich-Ranicki 1959) war, löste ihn nun aus dem wichtigen geschichtlichen Kontext und passte somit seine neue Interpretation dem offiziellen westdeutschen Diskurs an. Das siebte Kreuz erschien trotz der Kontroverse wie geplant zur Frankfurter Buchmesse 1962 und wurde in zahlreichen Rezensionen besprochen. Die meisten Rezensenten wiederholten die schon aus der Pressedebatte bekannten Argumente und bezeichneten den Roman, Reich-Ranicki zitierend, als Anna Seghers’ »letzte literarische Leistung« (vgl. z. B. Westfälische Nachrichten 1962; Brandt 1962). Oft wurde Das siebte Kreuz mit dem Roman Die Entscheidung verglichen, um darauf hinzuweisen, welche Kluft zwischen diesen zwei Werken bestehe, wenn es um die künstlerische Qualität geht. Dies sollte ein Beweis dafür sein, »wie sehr ein Schriftsteller zur künstlerischen Impotenz verurteilt ist, wenn er es sich mit Erfolg verbietet, über all das nachzudenken, was der kommunistischen Idee zuwiderläuft« (1963). Die Publikation von Das siebte Kreuz diente somit als Vergleichsbasis für die in der DDR verfassten Texte von Seghers und belegte die These von der angeblichen künstlerischen Impotenz der Schriftstellerin. Diese Aufteilung des Gesamtwerkes in das Früh- und Spätwerk lieferte außerdem die Folie, eine systemkonforme DDR-Vorzeigeschriftstellerin gleichzeitig »in die erste Klasse der deutschen Gegenwartsliteratur« (o. N. 1963) einzuordnen. In dieser aus der Kulturzeitschrift Das Schönste stammenden Rezension wurde diese Taktik auf den Punkt gebracht: »In einem Akt ›der angewandten Schizophrenie‹ dividieren sie diese Person und ihr Werk in zwei Hälften; eine lebende, irrende und literarische irrelevante Hälfte und eine, die, schon historisch, in die Annalen unserer Literaturgeschichte eingegangen, also so gut wie gestorben ist. Dem so gut wie gestorbenen Teil wird alle geziemende Ehre pietätvoll erwiesen, und der lebendig verbliebene Rest bekommt einen Tritt. Hinweg mit ihm!« (o. N. 1963)
Die 1962 entbrannte Kontroverse um Anna Seghers und ihren Roman wurde somit durch drei Denkansätze dominiert: Am Beispiel der Autorin wurde auf den Zusammenbruch des Talents hingewiesen, was als Folge der Entscheidung für das Leben in der DDR gedeutet wurde. Da die in der DDR lebenden Schriftsteller – allen voran Anna Seghers – im Dienste der Partei stehen und mit ihren Werken deren Programm unterstützen, verdient die unter solchen Bedingungen entstandene Literatur in der BRD keine Anerkennung.
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Durch die vorgenommene Zweiteilung des Œuvres der Schriftstellerin konnte die Kohärenz in der Beurteilung des zur Debatte stehenden Romans gewährleistet werden; dank der ahistorischen Lesart wurde der thematische Schwerpunkt des Romans verlagert und das unbequeme Motiv des kommunistischen Widerstands marginalisiert.
Anna Seghers und Marcel Reich-Ranicki Die westdeutsche Rezeption der literarischen Texte von Anna Seghers war stark von Marcel Reich-Ranicki beeinflusst. Die Aussagen des Literaturkritikers wurden von Journalisten und Rezensenten als ausschlaggebend betrachtet und in zahlreichen westdeutschen Rezensionen zitiert bzw. paraphrasiert. Reich-Ranicki bezeichnete sich zwar als Bewunderer des Talents von Anna Seghers (vgl. Reich-Ranicki 1993, 32), was ihn jedoch nicht daran hinderte, gleichzeitig Verrisse ihrer Romane und Erzählungen in der westdeutschen Presse zu veröffentlichen. Reich-Ranicki sah in Anna Seghers in erster Linie die Kommunistin und hat ihr Werk durch das Prisma ihrer politischen Anschauung gelesen. Seghers’ Einstellung zur kommunistischen Idee resultiere jedoch nicht aus »sachliche[n], makellos rationalistische[n] Motiven«, wie etwa bei Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher, sondern aus »vorwiegend emotionale[n]« (Reich-Ranicki 1963). Dies habe wiederum Konsequenzen für ihre schriftstellerische Tätigkeit: »Fideistisch ist das geistige Fundament ihres Werkes, zumal ihre Konzeption des Helden« (ebd.). Diese These versuchte Reich-Ranicki in seinem 1963 publizierten Artikel zu belegen. Die dort genannten Erzählungen und Romane der Autorin – Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928), Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft (1930), Die Gefährten (1932), Der Kopflohn (1933), Der Weg durch den Februar (1935), Die Rettung (1937) – dienten dem Kritiker als Beweise dafür, dass ein Kompromiss zwischen Kunst und Politik nicht möglich ist, denn da, wo sich ein Künstler in den Dienst des Staates stellt, sind nicht sein Talent, sondern Wirkung und Überzeugungskraft der von ihm behandelten Themen ausschlaggebend. In den Werken von Anna Seghers wimmelt es von Gestalten, die, so der Kritiker, »somnambul marschieren« (ebd.) und die nicht richtig wissen, warum sie sich aufopfern. Trotzdem zweifeln sie nie an der Richtigkeit ihrer (politischen) Entscheidungen. Es sind vorwiegend ungebildete Menschen, die eher nach dem Ge-
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fühl als nach der Vernunft handeln, und deren Entscheidungen daher dem westdeutschen Leser nicht nachvollziehbar sind: »Seit die Autorin zur Kommunistischen Partei gehört, wirkt in ihren Werken [das] mysteriöse, rational nicht erfassbare Element, dem das Individuum ausgeliefert ist [...]. Es treibt den Menschen zu außergewöhnlichen Taten, befähigt ihn, unvorstellbare Leiden zu ertragen und schließlich für seine Überzeugungen zu sterben.« (Reich-Ranicki 1963)
Dass Seghers die Notwendigkeit solch einer Aufopferung nicht hinterfragte, war für Reich-Ranicki ein Beweis dafür, dass der Kommunismus für die Schriftstellerin zu einer »atheistischen Religion« (ebd.) geworden war, deren Grundsätze sie kritiklos und ohne Reflexion hinnahm. Der Kritiker diagnostizierte in den thematisierten Romanen eine gewisse Inkohärenz, denn unnachvollziehbare, grausam niedergeschlagene Revolten, das Märtyrertum der Protagonisten sowie die Niederlagen der Kommunisten sollen paradoxerweise dazu beitragen, den »Leser von der Unbesiegbarkeit der kommunistischen Idee« zu überzeugen (ebd.). Darüber hinaus bezeichnete er Seghers’ Werke als »hastig geschrieben«, »völlig chaotisch« oder gar als »misslungen« (ebd.). Diese Rhetorik diskreditierte die Schriftstellerin und ihr Werk beim westdeutschen Publikum. Zwar bemerkte Reich-Ranicki zum Schluss, dass die in den 1930er Jahren verfassten Romane, obwohl misslungen, doch davon zeugen, dass die Autorin »eine sensible Prosadichterin ist«, und er wies auf ihre Bemühungen hin, die »Errungenschaften der modernen westlichen Kunst« (ebd.) durchaus zu nutzen. Gleichwohl sah er in ihr eher eine Parteiaktivistin als eine Dichterin. Auch die späteren, in den 1950er und 1960er Jahren publizierten Texte von Anna Seghers gerieten ins Visier von Reich-Ranicki. 1966 in der Zeit rezensierte er den Roman Die Entscheidung sowie den Erzählungsband Die Kraft der Schwachen. Die Entscheidung bezeichnete er als einen »schwere[n] Schlag« (Reich-Ranicki 1993, 32) für die Leser. Von einer Autorin, die in der DDR inzwischen »den absoluten Denkmalschutz [genießt]« (ebd.) hätte man nämlich mehr erwartet, als lediglich einen, wie es scheint, nach dem Diktat der Parteiführung niedergeschriebenen Text, in welchem es keine Spur vom schriftstellerischen Talent der Autorin mehr gebe: »während Anna Seghers ebenso aufrichtig wie hartnäckig bemüht war, den von der SED erhofften großen Gegenwartsroman zu schreiben, hat-
te sie ihre schriftstellerische Selbstkontrolle ganz und gar verloren« (ebd.). Noch gnadenloser war die Kritik, die Reich-Ranic ki im Zusammenhang mit dem 1969 erschienenen Roman Das Vertrauen formulierte. »[D]ies Produkt von Anna Seghers ist nicht nur langweilig und geschmacklos und vollkommen missraten, es ist auch noch töricht und verlogen, und vor allem, obszön« (Reich-Ranicki 1993, 39). Das, was den Zorn des Kritikers entfachte, war vor allem eine naive Schwarzweißmalerei in Bezug auf die Ausgestaltung der Protagonisten und eine klischeehafte Darstellung der ostund westdeutschen Gesellschaft. Er bemerkte, dass alle im Roman auftretenden DDR-Bürger bereits im Dritten Reich als überzeugte Kommunisten Freiheitsund Widerstandskämpfer galten, während die BRDBürger mehr oder weniger in das nationalsozialistische System involviert waren. Solch ein Roman, der allem Anschein nach, auf den Grundsätzen der SEDPropaganda basierte, zeugte in den Augen des Kritikers »von absoluter Verachtung der Leser, die hier buchstäblich wie Schwachsinnige behandelt werden« (ebd., 40). Das intellektuelle Niveau des Werkes verglich Reich-Ranicki mit den Artikeln »in FDJ-Zeitungen aus der Provinz« (ebd., 41). Von der »intellektuellen Armseligkeit und sprachlichen Ohnmacht« (ebd., 42) der Autorin zeugten darüber hinaus der im Roman dargestellte Stalin-Kult – den der Kritiker als eine obszöne Liebe der Schriftstellerin zu »dem gütigen Vater der Nationen« (ebd., 41) deutete – wie auch die gehorsame Verfolgung der SED-Richtlinien in Bezug auf die literarische Umsetzung des ›real existierenden Sozialismus‹ und der Zeit des ›Hitlerfaschismus‹. Das Vertrauen stellte somit für Reich-Ranicki einen weiteren Beweis für den zerstörerischen Einfluss der SEDDiktatur auf die einst talentierte Autorin dar und bot erneut Anlass »zur Trauer um die große Erzählerin Anna Seghers« (ebd., 42). Nicht ohne Bedeutung für die westdeutsche Rezeption der Werke von Anna Seghers ist die Tatsache, dass Reich-Ranicki seine Buchbesprechungen deutlich vor der Veröffentlichung der darin thematisierten Romane und Erzählungen in der BRD publiziert hatte. Als im Jahre 1977 in der BRD der Roman Das Vertrauen erschien, haftete ihm bereits ein schlechter Ruf an und er wurde nun von der westdeutschen Kritik beinahe einstimmig abgelehnt. Er galt als wirklichkeitsfern, verlogen und verfälscht. Schuld daran war zum Beispiel die von der Schriftstellerin vorgenommene linientreue Darstellung der Ereignisse des 17. Juni. Schon die Titel der Rezensionen, die Ende
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1960er Jahre in der BRD erschienen, lassen die Grundtendenz in der Wahrnehmung dieses Romans deutlich erkennen: »Das Vertrauen. Trilogie der Entscheidung für das Regime der DDR« (Sellenthin 1969); »Die Staatsautorin« (Arnold 1969); »Eine gigantische Puppenstube. Anna Seghers’ neuer Roman liest sich wie eine unfreiwillige Parodie« (Zehm 1969); »Sozialistische Staatsidylle« (Schonauer 1970); »Auf der Parteilinie« (Skriver 1969). Als unverzeihlich galt in der BRD die Tatsache, dass sich Anna Seghers für den Sozialismus entschied, diesen in ihren Werken unterstützte und dem Publikum daher statt ernstzunehmender Literatur lediglich »niveaulose Glaubensbekenntnisse« (Kill 1975) lieferte. Die Veröffentlichung der Taschenbuch-Kassette mit Werken von Anna Seghers im Jahre 1977, in welcher sich auch die beiden Romane Die Entscheidung und Das Vertrauen befanden, führte in der BRD weder zur Revision des bisherigen Bildes der Schriftstellerin noch zur erneuten Diskussion über ihr Werk. In den relativ wenigen, dieser Werkausgabe gewidmeten Rezensionen wurden größtenteils die zuvor formulierten Meinungen und Urteile wiederholt (vgl. Degemann 1985, 161 f.). Die westdeutschen Pressereaktionen auf den Roman Das Vertrauen kann man aus heutiger Perspektive als »den absoluten Tiefpunkt in der westdeutschen Seghers-Rezeption« und »den literarischen Rufmord« an der Autorin bezeichnen (ebd., 154).
Zunehmende Anerkennung seit den 1960er Jahren Die Rezeption und Auseinandersetzung mit Seghers’ Gesamtwerk in den 1960er Jahren weist jedoch bereits eine gewisse Janusköpfigkeit auf. Während die westdeutsche Literaturkritik die beiden zuvor genannten Romane entschieden abgelehnt hatte, wurden die Erzählungen, die 1964 in einer zweibändigen Ausgabe bei Luchterhand erschienen, wohlwollend aufgenommen. Vor allem der erste Band mit Erzählungen aus den Jahren 1926 bis 1945 fand in den Rezensionen ein positives Echo. Besonders gelobt wurden die thematischen Schwerpunkte, wie z. B. Not und das menschliche Leiden, Engagement für die Unterdrückten sowie die Suche nach Gerechtigkeit (vgl. Degemann 1985, 168). Ähnlich positiv waren auch die Reaktionen auf den ein Jahr später erschienenen Erzählband Die Kraft der Schwachen. Auch diesmal hoben die Rezensenten Seghers’ Einfühlsamkeit in die Situation der schwachen und gedemütigten Menschen hervor (vgl. ebd., 169).
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Entsprechend der früher in der BRD vorgenommenen Aufteilung von Seghers’ Œuvre gehören diese nicht im Exil, sondern in der DDR entstanden Erzählungen eigentlich zu ihrem als misslungen eingestuften Spätwerk. Trotzdem fanden sie eine positive Aufnahme, mit Ausnahme einer Erzählung, deren Handlung in der DDR situiert ist. Gemeint ist die Erzählung Das Duell, in welcher die Rezensenten »eine flach und propagandistisch aufgemachte Geschichte, die sicherlich nicht den geringsten literarischen Wert hat« (ebd.) sahen. Die in der DDR angesiedelten Texte, die die dortigen Gesellschaftsverhältnisse thematisierten wurden als Beweis dafür gelesen, dass die Autorin, die in Westdeutschland als Sprachrohr der Partei galt, das Medium Literatur für politische Zwecke instrumentalisiere. Jegliche Bezüge auf den Kommunismus wurden daher als unerwünscht und unangebracht abgewertet. Zu einem weiteren wichtigen Aspekt in der westdeutschen Rezeption des literarischen Schaffens von Anna Seghers gehört die Tendenz einer ahistorischen Lesart ihrer Texte. Ein Beispiel dafür, ist die westdeutsche Rezeption des Romans Transit, der 1963 in der BRD erschien. In diesem Anfang der 1940er Jahre geschriebenen, wohl persönlichsten Roman von Anna Seghers wird die Geschichte eines KZ-Flüchtlings namens Seidel erzählt, der in Marseille angekommen, sich wie die anderen Flüchtlinge bemüht, alle nötigen Dokumente zu erlangen, die ihm eine Weiterreise gestatten. Man wird hier mit einer Welt konfrontiert, die von der depressiven Stimmung der um ihre Zukunft bangenden Figuren geprägt ist. Zu dem politisch-historischen Hintergrund des Romans gehören nationalsozialistische Konzentrationslager, Exil und Faschismus als dessen Ursache wie auch die Hafenstadt Marseille als ein wichtiges Zentrum des deutschen Exils (s. Kap. 12). In der westdeutschen Rezeption wird dieser historische Kontext jedoch marginalisiert bzw. ganz ignoriert. Vielmehr wurde der Roman als eine literarische Schilderung der Entfremdung eines Menschen gelesen und das Exil als Existenzmetapher gedeutet (vgl. Degemann 1985, 181). In den die Erscheinung des Romans begleitenden Rezensionen wurde auch von einem allegorischen Text gesprochen (vgl. Baukloh 1964), in welchem die Autorin keine reale Welt darstellt, sondern lediglich ihre »poetische Vision« (o. N. 1983a) präsentiert. Seghers ginge es demnach nicht darum, die historischen und politischen Entwicklungen der Jahre 1933 bis 1945 literarisch umzusetzen, sondern Schicksale zu zeigen, die universell für die Existenzkrise und Ratlosigkeit des Einzelnen angesichts der undurchschaubaren Lebensumstände
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stünden. Es wird also weder nach dem Einfluss bestimmter historischer Umstände auf den Menschen noch nach den Bezügen zwischen Geschichte und Gegenwart gefragt.
Anna Seghers und die Stadt Mainz – ein kompliziertes Verhältnis Die Tatsache, dass ausgerechnet die aus Mainz kommende, international anerkannte Schriftstellerin sich freiwillig für das Leben im ›real existierenden Sozialismus‹ entschied und in der DDR den Ruf der wichtigsten Staatsautorin genoss, prägte jahrelang die Einstellung der Mainzer Stadtverwaltung und der dortigen Politiker zu Anna Seghers. Heute jedoch ist in Mainz der Name Anna Seghers präsent. Nach ihr wurden öffentliche Plätze und Institutionen (Anna-Seghers-Platz, Integrierte Gesamtschule Anna Seghers, Öffentliche Bücherei Anna Seghers) benannt. Es werden auch Stadtführungen auf den Spuren von Anna Seghers – ›dem Mainzer Mädchen‹, wie es nun im Internet heißt – angeboten. Auf dem Führungsprogramm befinden sich sowohl Orte, die mit Seghers’ Biographie in Zusammenhang stehen, als auch solche, die in ihren Werken vorkommen. Die Schriftstellerin verbarg nämlich nie ihre Sympathie für ihre Heimatstadt und setzte ihr in ihren Romanen und Erzählungen zahlreiche Denkmäler: »Ich habe versucht, in vielen meinen Büchern festzuhalten, was ich hier erfuhr und erlebte. Es ist kein Zufall, dass mein Roman Das siebte Kreuz in der Gegend von Mainz spielt, kein Zufall, dass der Flüchtling Georg Heisler sich eine Nacht im Mainzer Dom versteckt, kein Zufall, dass ihm auf einem Rheinschiff die Flucht gelingt.« (o. N. 1975)
In der Stadt werden heutzutage Events veranstaltet, die Seghers’ literarisches Werk einer breiten Öffentlichkeit in Erinnerung rufen sollen, wie z. B. die im April 2018 organisierte Reihe von kulturellen Veranstaltungen mit dem Thema ›Mainz liest Seghers‹. Eine solch positive Resonanz war jedoch nicht immer der Fall. Wenn man die Geschichte der Beziehungen der Stadt Mainz zu Anna Seghers zurückverfolgt, dann sieht man, dass dies ein durchaus problematisches Verhältnis war. Auf die Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz musste Seghers bis 1981 warten. Schuld an dieser Verzögerung war die damalige politische Situation. Da Seghers in der BRD als Verfechterin der DDR-Politik
und somit als Gegnerin der Demokratie galt, hätte solch eine Geste in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren als eine öffentliche Anerkennung ihrer politischen Gesinnung gedeutet werden können, was die Stadt Mainz in Verruf gebracht hätte. Deswegen wurde der 1970 von Anton Maria Keim, dem damaligen Bürgermeister der Stadt Mainz, gestellte Antrag auf die Ehrung der Schriftstellerin von den meisten Fraktionen des lokalen Parlaments abgelehnt. Auch die 1977 getroffene Entscheidung des Senats der Johannes-Gutenberg-Universität, Anna Seghers die Ehrenbürgerschaft der Universität zu verleihen, sorgte für eine heftige Kontroverse, welche die Mainzer Bürger/innen in der Allgemeinen Zeitung verfolgen konnten. Es erhoben sich viele kritische Stimmen, die von dem Universitätspräsidenten Peter Schneider die Aufhebung der Senatsentscheidung verlangten. Zu den entschiedenen Gegnern dieser Entscheidung gehörte der Presseverleger Walter Zech, der in seinem zehnseitigen Brief an Peter Schneider, sich als Sprachrohr der lokalen Bevölkerung verstehend, deren Empörung und Befürchtung Ausdruck gab: »Viele Mainzer sind der Ansicht, dass Sie mit der Protegierung und Durchsetzung der Ehrenbürgerverleihung an Anna Seghers aktiv mit dazu beitragen, dass dem Kommunismus ein Stück des Weges geebnet wird, die westliche Welt im Sinne des nie aufgegebenen Zieles der Weltrevolution zur Erreichung der Diktatur des Proletariats zu bezwingen.« (Asta 1978)
Trotz vieler negativer Stimmen beharrte die Universität auf ihrer Entscheidung. Die Ernennung Seghers’ zur Ehrenbürgerin der Universität erfolgte wie geplant und eröffnete ein neues Kapitel in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrem Werk. Die in Mainz seit Ende 1970er Jahre stattfindenden Tagungen, Literaturtage und Ausstellungen trugen zur Popularisierung der Schriftstellerin in der Stadt bei. In seinem Glückwunschtelegramm an Anna Seghers hat der Oberbürgermeister Jockel Fuchs die in der Stadt herrschende Stimmung mit folgenden Worten zusammengefasst: »Die Bürger Ihrer Geburtsstadt sind stolz auf das Mädchen Netty Reiling, aus dem die bedeutendste Autorin der zeitgenössischen deutschen Literatur geworden ist« (o. N. 1980). Mit der offiziellen Anerkennung von Anna Seghers als Ehrenbürgerin der Stadt 1981 sollte die 1933 durch die Nazis vorgenommene Ausbürgerung der Schriftstellerin symbolisch wiedergutgemacht werden (vgl. Degemann 1985, 210‒220).
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Nach dem Tod von Anna Seghers
Fazit
Als Anna Seghers am 1.6.1983 starb, erschienen in beinahe allen führenden Zeitungen der BRD Nachrufe, in denen die Autoren versuchten, eine Bilanz zu ziehen, wobei sie das komplizierte Verhältnis der westdeutschen Literaturkritik zu Anna Seghers Revue passieren ließen. Einige Nachrufe standen in deutlicher Opposition dazu, was bisher über die Autorin und ihr Werk in der westdeutschen Presse zu lesen war. Im Spiegel erschien aus diesem Anlass ein kurzer Text, in welchem ein unbekannter Autor, im Gegensatz zu der ahistorischen Betrachtung von Seghers’ Werken, die Bezüge zum Nationalsozialismus und zum kommunistischen antifaschistischen Widerstand hervorhebt: »Die Helden ihrer antifaschistischen Romane sind Helden des Widerstands in einer mörderischen Maschinerie« (o. N. 1983b). Die Kontroverse in Mainz um die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Anna Seghers wurde nun im Rückblick als eine »unrühmliche politische Querele« (ebd.) bezeichnet. Auch der in der Zeit erschienene Nachruf auf Anna Seghers zeichnet sich durch eine neue Rhetorik aus. In seinem Nachruf würdigt Michaelis die Schriftstellerin anerkennend als »eine der großen Gestalten der Literatur in diesem Jahrhundert, die in der ganzen Welt bekannteste Autorin deutscher Sprache« (Michaelis 1983). Auch hier werden die Etappen der Seghers-Rezeption zusammengefasst und neu gewertet. Die Protestwelle gegen die westdeutsche Veröffentlichung des Romans Das siebte Kreuz in den 1960er Jahren wird als »beschämend« bezeichnet und lediglich auf die »Boykott-Aufrufe der ›Springer-Presse‹« (ebd.) reduziert. Die Reaktionen der Mainzer Öffentlichkeit auf die angekündigte Verleihung der Ehrenbürgerwürde an die Schriftstellerin wurden nun als »kleinkarierte Proteste der CDU« (ebd.) kritisiert. Außerdem äußert Michaelis die Hoffnung auf eine neue Einschätzung der Werke von Anna Seghers, die von den politischen Ansichten der Schriftstellerin absehen und den literarischen sowie ästhetischen Wert ihrer Kunst ins Zentrum stellen wird (vgl. ebd.). Diese Tendenz hängt wohl auch mit der in der westdeutschen Literaturwissenschaft seit Mitte 1970er Jahre erfolgten geänderten Sicht auf die DDR-Literatur zusammen, die mit einer Hinwendung zur politisch engagierten Literatur verbunden ist (vgl. Behn 1977).
Mit Blick auf die Rezeption ihres Werkes kann man Anna Seghers – in einer vielleicht etwas gewagten These – als Opfer der deutschen Teilung bezeichnen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges spaltet sich die Rezeption von Seghers’ literarischem Werk: In Westdeutschland war die Rezeption stark politisiert und durch eine deutlich spürbare Abneigung oder gar Feindseligkeit der Autorin gegenüber geprägt (vgl. Schrade 1993, VIII). Besonders in den 1950er bis 1970er Jahren stand die politische Gesinnung der Autorin und nicht ihr Werk im Zentrum des Interesses. Die westdeutsche Literaturkritik tendierte größtenteils dazu, am Beispiel von Anna Seghers die These zu bestätigen, dass in einem durch das kommunistische Regime geprägten Staat keine ernstzunehmende und wertvolle Literatur entstehen kann. Seghers’ Entscheidung für Ost-Berlin als Wohn- und Wirkungsort wurde ihr in Westdeutschland immer wieder zur Last gelegt. Sie wurde als Selbstvernichtungsakt einer einst begabten Schriftstellerin gedeutet, wodurch Seghers ihre große Chance verspielte, denn »sie hätte, wäre sie nach dem Krieg im Westen geblieben die große Dame der deutschen Literatur werden können« (Wolfgang 1983). Literatur
Arnold, Heinz Ludwig: Die Staatsautorin. Zu Anna Seghers’ Roman ›Das Vertrauen‹. In: Frankfurter Rundschau v. 4.10.1969. Asta der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Hg.): Briefe eines Verlegers und die Freiheit der Universität. Dokumentation über die Auseinandersetzung anläßlich der Ehrung Anna Seghers im Rahmen der 500-Jahr-Feier der Universität. Mainz 1978; zit. nach Christa Degemann: Anna Seghers in der westdeutschen Literaturkritik 1946– 1983. Köln 1985, 217. Baukloh, Friedhelm: [ohne Titel]. In: Rheinischer Merkur, 4.12.1964. Behn, Manfred: DDR-Literatur in der Bundesrepublik Deutschland. Die Rezeption der epischen DDR-Literatur in der BRD 1961–1975. Meisenheim 1977. Brandt, Sabine: Vor der Abdankung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1962. Degemann, Christa: Anna Seghers in der westdeutschen Literaturkritik 1946–1983. Köln 1985. Häntzschel, Günter/Hummel, Adrian/Zedler, Jörg: Deutschsprachige Buchkultur der 1950er Jahre. Fiktionale Literatur in Quellen, Analysen und Interpretationen. Wiesbaden 2009. Heyd, Kurt: Rede auf Anna Seghers am 20.7.1947 anlässlich der Büchnerpreisverleihung 1947; zit. nach Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin/New York 2006, 108. Jokostra, Peter: Offener Brief an einen Verleger, 1.8.1962; zit.
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VI Rezeption und Wirkung
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Elżbieta Tomasi-Kapral
52 Rezeption in den USA
52 Rezeption in den USA Als Anna Seghers 1928 für die Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara den Kleist-Preis verliehen bekam, wurde die englischsprachige Literaturwelt auf die junge Schriftstellerin aufmerksam. Die in Deutschland lebende Literaturkritikerin Gabriele Reuter bescheinigte in der wichtigsten amerikanischen Zeitung, The New York Times, Seghers’ durch Sachlichkeit und Nüchternheit gekennzeichnetem Stil eine wegweisende Funktion für die neuere deutsche Literatur (vgl. Reuter 1929, BR 4,5). Für Reuter war Seghers’ Prosa ein Paradebeispiel der in der englischsprachigen Literaturwelt noch relativ unbekannten Literatur der Neuen Sachlichkeit. Aufstand der Fischer von St. Barbara wurde 1929 in Großbritannien und 1930 in den USA in einer von Kritikern gelobten, leicht gekürzten Übersetzung von Margaret Goldsmith veröffentlicht; englischsprachige Kritiker zählten Seghers daraufhin zu den vielversprechendsten jüngeren deutschen Autoren. In Übereinstimmung mit Gabriele Reuter hebt die Übersetzerin in der Einführung die für neue Richtungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wegweisende Knappheit des Segher’schen Stils hervor (vgl. Goldsmith 1930, 5). Diese Überlegungen zu Seghers’ Schreibweise übernahmen auch andere englischsprachige Kritiker, so wurde Seghers z. B. in einer in der Zeitung Manchester Guardian veröffentlichten Rezension für ihre Kargheit und Zurückhaltung gelobt. Ihre Erzählung wurde positiv mit den Werken des irischen Schriftstellers J. M. Synge (1871–1909) verglichen, der ebenfalls über hungernde Fischer und ihre Familien geschrieben hatte (vgl. N. PA.F. 1929). In der Londoner Literaturzeitschrift The Bookman, die auch in den USA Verbreitung fand, wurde der Aufstand der Fischer als ein Meisterwerk begrüßt, mit dem englischsprachigen Lesern die Lektion erteilt werden kann, dass ernsthafte Literatur ruhig auch andere Themen als die Liebesprobleme wohlhabender Bürger zum Inhalt haben darf. Der Rezensent Horace Shipp hob die Modernität von Seghers’ Schreibstil hervor, der Objektivität mit Subjektivität auf oft schwer durchschaubare, aber künstlerisch ergiebige Weise verbindet (Shipp 1929, 222). Auch die New York Times sparte nicht mit Lob für Seghers’ Erzählung, die mit Émile Zolas Roman Germinal (1894) verglichen wurde. Während aber Zola mit einem ganzen Orchester auf allen Instrumenten gespielt habe, begnüge sich Seghers mit gedämmten Streichinstrumenten. Gerade diese schriftstellerische Zurückhaltung wurde gelobt. In der Zeitung The Minneapolis Star wurde die
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junge Schriftstellerin als »großartiges literarisches Talent« begrüßt, deren zukünftige Werke von allen Lesern entgegengefiebert werden würden, »die gute Literatur lieben« (o. N. 1930). So hatte Seghers in der englischsprachigen Welt nach Erscheinen ihrer Erzählung einen erfolgreichen literarischen Anfang. Dass ihre Werke 1933 von der Nazi-Regierung auf eine Verbotsliste für deutsche Bibliotheken gesetzt wurden, nahm die englischsprachige Literaturwelt mit Ablehnung zur Kenntnis. Der angesehene amerikanische Intellektuelle Clifton Fadiman schrieb 1933 in der in Boston erscheinenden Literaturzeitschrift The Living Age, dass die Liste der in Deutschland verbotenen Autoren einer Liste derer gleichkomme, die überhaupt Rang und Bedeutung in der Gegenwartsliteratur haben. Fadiman listet Seghers zusammen mit anderen, ebenfalls auf der Verbotsliste stehenden deutschen Autoren wie Ludwig Renn und B. Traven auf, die ihm als vielversprechende Stimmen für die Zukunft deutschsprachiger Literatur gelten. »Jeder Student der deutschen Literatur [...] müsste, nach der Überprüfung dieser Verbotsliste, zum Schluss kommen, dass die literarische Kultur in Deutschland einen tödlichen Stoß erlitten hat. Wenn diese Männer fehlen, bleibt wenig übrig« (Fadiman 1933, 432). Dass Seghers von einem der angesehensten Literaturkritiker Amerikas in einer Liste mit den Schriftstellern Tucholsky, Kisch, Kerr und Holitscher genannt wird, zeigt die Bedeutung, die sie schon damals in der englischsprachigen Kritik einnahm – zu einer Zeit, in der davon ausgegangen wurde, dass bedeutende Schriftsteller männlichen Geschlechts zu sein haben. Als Mitglied der Kommunistischen Partei durfte Seghers nach dem Nazi-Überfall auf Frankreich nicht in die USA einreisen, obwohl sie wie viele andere Exilschriftsteller durchaus gewillt war, in die USA einzureisen. So schrieb sie im Februar 1940 an ihren sich in Amerika aufhaltenden Freund F. C. Weiskopf: »Es gibt für uns nur einen einzigen Ausweg: nach Amerika zu gehen. [...] Auf jeden Fall wollen wir in die Vereinigten Staaten und nicht in ein anderes amerikanisches Land« (zit. nach Flohr/Jakobi 2018, 157). Seghers schickte Weiskopf auch eine Kopie des Manuskripts für ihren in Paris geschriebenen Roman Das siebte Kreuz und bat ihn darum, sich um eine Publikationsmöglichkeit zu bemühen. Im Juni 1941, als Seghers auf Ellis Island im New Yorker Hafen festsaß, waren die USA noch nicht in den Krieg gegen Nazi-Deutschland eingetreten und die Sowjetunion wurde nicht als Verbündete Amerikas, sondern als Gefahr für die Demokratie angesehen. Die amerikanische Staatspolizei FBI
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_52
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(Federal Bureau of Investigation) hatte einen anonymen Brief bekommen, in dem Seghers und ihr Ehemann Laszlo Radvanyi als getarnte kommunistische Agenten denunziert wurden. So war Seghers nach einem vorübergehenden Aufenthalt auf Ellis Island gezwungen, zusammen mit ihrer Familie nach Mexiko weiterzureisen, wo sie bis 1946 blieb. Schon auf Ellis Island hatte Seghers aber einen Vertrag mit dem in Boston ansässigen amerikanischen Verlag Little, Brown and Company für eine englischsprachige Veröffentlichung ihres Romans Das siebte Kreuz unterzeichnet.
The Seventh Cross (1942) Die Veröffentlichung dieses Romans machte Seghers in den USA schlagartig berühmt. Ab diesem Zeitpunkt war sie nicht mehr nur eine vielversprechende junge Schriftstellerin und Repräsentantin eines neuen Stils in der deutschen Literatur, sondern die Autorin des eindringlichsten und spannendsten literarischen Berichtes über Nazi-Deutschland sowie eine prominente Gegnerin des Nazi-Regimes, gegen das seit nunmehr einigen Monaten auch die USA erbittert kämpften. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans war äußerst günstig für den Verkaufserfolg. Im Juni 1942 schrieb Weiskopf nach Mexiko an Seghers: »Jetzt ist Dein Weg geebnet, und Deine finanziellen Sorgen sind für lange Zeit verjagt. Freue Dich, mein Volk, Manna ist herniedergeströmt. [...] Und keine Sorgen mehr um die nächsten Bücher. Und sicherlich mehr als 100.000 Leser. Herz, was begehrst du mehr?« (zit. nach Stephan 1997, 211). Der Roman erschien im September 1942, im ersten vollen Jahr des amerikanischen Krieges gegen Nazi-Deutschland, in einer gekürzten, aber handwerklich gelungenen Übersetzung von James A. Galston. Noch dazu wurde Das siebte Kreuz Dank der Vermittlung Erich Maria Remarques zusammen mit einem anderen Buch (They Were Expendable von W. L. White) vom wichtigsten amerikanischen Bücherklub, dem Book-of-the-Month Club, mit etwa einer halben Million Mitgliedern als Buch des Monats Oktober 1942 ausgezeichnet. Wohl mehr als 500.000 Exemplare des Romans wurden daraufhin in den USA verkauft. Zu diesem Zeitpunkt eckte auch Seghers’ Mitgliedschaft in der KPD nicht mehr so stark an, da die USA und die Sowjetunion jetzt Verbündete waren. Trotzdem wurde Seghers in Mexiko weiterhin vom FBI und dessen Direktor J. Edgar Hoover, als Kommunistin verdächtigt. Das FBI vermutete sogar irrtümlicherweise, dass Seghers möglicherweise eine stalinistische
Agentin sei, und dass sich der Schlüssel für geheime Botschaften in den gedruckten Exemplaren ihres Bestsellers verstecke. Man glaubte auch, dass Seghers mit den Tantiemen für ihren Roman die Kommunisten in Mexiko unterstützen wollte. So schnüffelte das FBI ihr weiter nach, wenn auch ohne Ergebnis. Diese Überwachung stand dem Verkauf des Romans Das siebte Kreuz nicht im Wege. Im Gegenteil, der Roman wurde ein überwältigender Erfolg. Louis Kronenberger, der den Roman für die New York Times rezensierte, lobte Seghers’ unbedingten Realismus (vgl. Kronenberger 1942, BR1). Die Zeitschrift Newsweek pries Das siebte Kreuz gar als besten deutschen Roman seit Erich Maria Remarques internationalem Bestseller Im Westen nichts Neues – wohl der populärste deutsche Roman in den USA überhaupt (vgl. o. N. 1942a). In der angesehenen Zeitschrift Harper’s Magazine bezeichnete der Journalist John Chamberlain Das siebte Kreuz als »die beste bis jetzt vom Gethsemane Europas gekommene Belletristik«; er verglich Seghers’ Roman mit den sozialkritischen realistischen Werken von John Dos Passos’ (vgl. Chamberlain 1942). In Pittsburgh hielt der liberale Rabbiner Solomon Benet Freehof eine Vorlesung über das Buch in der größten Synagoge der Stadt, Rodef Shalom, und lobte Seghers aufgrund ihrer differenzierten Darstellung des deutschen Volkes. Zwar sei ganz Deutschland unter Hitler zu einem großen Konzentrationslager geworden, doch Seghers mache klar, dass ein Teil des deutschen Volkes von den Nazis unberührt bleibe: »Das deutsche Volk ist gefoltert worden, seine Seele teilweise verbrannt und vernichtet, aber das siebte Teil bleibt unzerstört« (Freehof 1943). »Wird dieses siebte Teil zu Deutschlands Erlösung führen?« fragte der Rabbiner eindringlich. Die biblische Hoffnung (Prediger 11,2) auf ein zukünftiges besseres Deutschland wäre im durch deutsche Bomben zerstörten England momentan zwar undenkbar, räumte Freehof ein, aber in einem noch unzerstörten Amerika sollte die Vorstellung eines zukünftigen besseren Deutschlands nach dem Ende des Krieges doch möglich sein. Freehofs Ausführungen belegen, dass Seghers’ Roman in den USA schon im Januar 1943, als sich die Schlacht um Stalingrad ihrem Ende näherte, in Verbindung mit Diskussionen zur Behandlung Deutschlands in der Nachkriegszeit gebracht wurde. Schon einen Monat vorher, im Dezember 1942, hatte die in Brooklyn erscheinende deutschsprachige Zeitung Solidarität geurteilt, dass Seghers in ihrem Roman »das andere Deutschland« zeigt, »das sich nie restlos ergeben« hat. »[K]einer von uns [...] kann sich etwas
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Besseres wünschen als die Massenverbreitung eines Buches«, urteilte das Blatt, »das von einer Frau geschrieben wurde, die Deutschland kennt wie Anna Seghers, und die gleichzeitig genug Urteilsfähigkeit und den nötigen Einblick in gesellschaftliche Zustände hat, um mehr zu tun als Hass gegen die Nazis anzuschüren« (o. N. 1942b). Schließlich zeigt Seghers in ihrem Roman »die Konzentrationslager, die ja wohl der beste Beweis gegen die Unsinnigkeit sind, die man immer wieder hört: dass Deutschland hundertprozentig mit den Nazis identisch sei« (ebd.). The Seventh Cross wurde auch für kämpfende Soldaten in einer handlichen Ausgabe für amerikanische Truppen herausgegeben und gewann so zusätzliche Leser unter den Soldaten und Offizieren, die 1945 in Deutschland einmarschierten. Das siebte Kreuz wurde mit eindringlichen Bildern von William Sharp (einem aus Österreich stammenden Illustrator, der als Leon Schleifer geboren worden war) in zahlreichen amerikanischen Zeitungen als spannende serielle Bildgeschichte (Comic/Graphic Novel) gedruckt und durch King Features Syndicate verbreitet. So erreichte die Geschichte Millionen zusätzliche amerikanische Zeitungsleser. Im August 1943 gab das amerikanische Filmstudio Metro-Goldwyn-Mayer die für das folgende Jahr geplante Umsetzung eines von Pandro S. Berman produzierten Filmes zum Buch bekannt, mit dem Schauspieler Spencer Tracy in der Hauptrolle. Zuvor hatte der ursprünglich aus Österreich stammende Theater- und Filmproduzent Otto Preminger vorübergehend die Rechte für eine mögliche BroadwayTheateraufführung des Romanstoffs gekauft. Als dieser Plan misslang, kaufte MGM die Filmrechte zum Roman. Der vom ebenfalls in Österreich geborenen Regisseur Fred Zinnemann gedrehte Film The Seventh Cross feierte im Juli 1944 Premiere, mit zwei der wichtigsten amerikanischen Schauspieler, Hume Cronyn und Jessica Tandy in Nebenrollen als Paul und Liesel Roeder, Spencer Tracy in der Hauptrolle sowie auch mit der im Vorspann nicht namentlich erwähnten Schauspielerin Helene Weigel – der Frau Bertolt Brechts – in einer kleinen, aber eindringlichen Rolle als giftige Nazi-Nachbarin. Dies blieb Weigels einzige Rolle in einem Hollywood-Film. Groteskerweise warb MGM unter anderem damit für den Film, dass ein wie Spencer Tracy aussehender Body-Double durch verschiedene amerikanische Großstädte geschickt wurde, und zwar ausgerechnet mit dem Hinweis an die Öffentlichkeit, dass, wer ihn sieht und anzeigt, 500 $ als Belohnung bekommt. Dass dadurch das amerikanische Filmpublikum angehalten wurde, bildlich gesprochen
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die Arbeit der Nazi-Schergen in Seghers’ Roman zu übernehmen, wurde übersehen. Zinnemanns Film wurde besonders wegen der Leistungen der Schauspieler gelobt. Auch der Rezensent der New York Times, Bosley Crowther, hob die Schauspieler hervor und pries den Streifen als »fesselnde Adaptation von Seghers’ mächtigem Roman« (Crowther 1944, 18). Im Gegensatz zum liberalen Pittsburgher Rabbiner Freehof jedoch äußerte Crowther Bedenken gegenüber der Darstellung des deutschen Volkes. In einer Epoche äußerster kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und den USA – schließlich rückte der amerikanische Einmarsch in Nazi-Deutschland gerade in dieser Zeit nahe –, schaffe der Film Crowthers Meinung nach bedauernswerterweise »eine menschliche Sympathie für die Mitglieder eines Volkes, mit dem wir auf Kriegsfuß stehen, und er tendiert dazu, Deutschlands nationale Verbrechen« lediglich einigen unverbesserlichen Nazis aufzubürden. »Offenbar kann dieser Film den Wunsch steigern, einen ›sanften‹ Frieden‹« (ebd.) mit Deutschland zu schließen und dem Gedanken einer Kollektivschuld des deutschen Volkes entgegenwirken. Zehn Monate vorher, im Dezember 1943, als die Verfilmung von Seghers’ Roman noch nicht begonnen hatte, hatte ein anderer Journalist in der New York Times, Fred Stanley, den Produzenten des Filmes mit einer ganz anderen Meinung zum deutschen Volk und dessen Zustand zitiert: Der Streifen werde zeigen, so Berman, »dass es noch Gutes – und einige gute Deutsche – in Deutschland gibt« (Stanley 1943, X3). Solche Filme würden seiner Meinung nach gerade nach dem Ende des Krieges besonders wichtig sein. Für Stanley war Bermans Einstellung bezeichnend für Hollywoods Absichten in der schon absehbaren Nachkriegszeit, in der die Filmindustrie eine bisher nie gekannte Rolle in der Beeinflussung des Publikums einnehmen wird.
Transit (1944) Seghers war wegen ihres Erfolgs in den USA 1943 so berühmt, dass über ihren Unfall in Mexico-Stadt am 24. Juni, als sie von einem Auto angefahren wurde, sofort in der New York Times berichtet wurde, und zwar mit Details über den Unfallort sowie der erlittenen Verletzungen und mit Zitaten von Seghers’ Mann Laszlo Radvanyi, der in der Zeitung bekannt gab, dass Seghers kurz vorher einen neuen Roman fertiggeschrieben hatte: Transit (vgl. o. N. 1943a). Zwei Wochen später konn-
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te die Zeitung bekannt geben – und zwar auf der ersten Seite – dass sich der Zustand der Schriftstellerin kontinuierlich verbessere, da Seghers jetzt ihre Verwandten wiedererkenne (vgl. o. N. 1943b). Ende August, als die Verfilmung des Romans Das siebte Kreuz so gut wie abgeschlossen war, konnte die New York Times schließlich berichten, dass Seghers bald wieder das mexikanische Krankenhaus verlassen würde (vgl. 1943b). Wenn man bedenkt, dass im Sommer 1943 sowohl in Asien als auch in Europa der Zweite Weltkrieg – z. B. mit der Schlacht am Kursker Bogen, dem alliierten Einmarsch in Sizilien oder mit dem sogenannten Island Hopping im Pazifik – auf einem Höhepunkt stand, muss man zu dem Schluss kommen, dass Seghers, die mitten im Krieg solche Nachrichten verdient hatte, wenigstens zu diesem Zeitpunkt, auf der Höhe ihres nordamerikanischen Ruhms, in Amerika eine der wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerpersönlichkeiten überhaupt war. Als Transit 1944 veröffentlicht wurde, begann man in den USA Bedenken zu äußern. Der Roman war den meisten Rezensenten nicht optimistisch genug. William du Bois führte den Kampf mit einer vernichtenden Besprechung in der New York Times an, in der er Transit als den langweiligsten Misserfolg bezeichnete (vgl. du Bois 1944, 7). Das Grundproblem des Romans war für ihn seine Düsterheit und Bewegungslosigkeit. Zwar räumte du Bois ein, dass diese Bewegungslosigkeit möglicherweise geradezu die Botschaft des Romans sein könnte, aber für ihn war sie trotzdem ein gravierender literarischer Fehler, denn seiner Meinung nach war es schlicht und einfach unmöglich, einen fesselnden Roman um einen Zustand der Bewegungslosigkeit herum aufzubauen. Im Nachhinein wollte du Bois bereits im erfolgreicheren Roman Das siebte Kreuz eine spezifisch deutsche Neigung zum Pessimismus erkennen, die nun in Transit fröhliche Urständ feiere. Zwar lobte Andrew Khinoy in der Zeitung Philadelphia Inquirer den neuen Roman als ironische, herzzerreißende Studie über Flüchtlinge. Er behauptete sogar, dass Transit dem Vorgängerroman durchaus ebenbürtig sei (vgl. Khinoy 1944). Mit diesem Lob blieb Khinoy aber in der Minderheit. In der kommunistischen Zeitung The Daily Worker räumte Samuel Putnam ein, dass Transit zwar kein zweites Siebtes Kreuz sei, stellte aber die verärgerte Frage, wie viele Meisterwerke wie Das siebte Kreuz man von einer einzigen Autorin in nur einer Lebensspanne erwarten dürfe (vgl. Putnam 1944, 11). So wurde Transit auch von einem literarischen Freund Seghers’ als verloren aufgegeben. In der Folgezeit wurden zwar zwei Novellen, die sich mit der Nazi-
Zeit und dem Holocaust auseinandersetzten – Der Ausflug der toten Mädchen und Das Ende, jeweils 1945 im Yale Review und 1946 in der weit verbreiteten, hochangesehenen Saturday Evening Post – noch in den USA in englischer Übersetzung veröffentlicht, aber Seghers’ Ruf in Amerika war im Niedergang.
Zurück in Deutschland 1946 verließ Seghers Nordamerika und kehrte 1947 nach Deutschland zurück. Ihre Entscheidung, in der Sowjetzone und später in der 1949 gegründeten DDR zu arbeiten, besiegelte ihr literarisches Schicksal in den USA auf lange Zeit in äußerst negativer Weise. Seghers’ Roman Die Toten bleiben jung wurde 1950 zwar noch in englischer Übersetzung veröffentlicht, aber kaum beachtet – abgesehen von einigen Verrissen. Frank Brookhouser schrieb 1950 in The Philadelphia Inquirer, dass der Roman zwar als großer Überblick zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts angelegt sei, die Leser des Siebten Kreuzes aber zwangsläufig enttäuschen müsse, weil sich keinerlei Interesse, geschweige denn Zuneigung für die Figuren im Roman entwickeln lasse (vgl. Brookhouser 1950). Der Rezensent der Los Angeles Times, Milton Merlin, stellte fest, dass der Roman Die Toten bleiben jung bei weitem nicht die gleiche Wirkung hat wie Das siebte Kreuz, aber er räumte ein, dass der neue Roman den Weg beschreibt, der zur Nazi-Diktatur geführt hat (vgl. Merlin 1950). Seghers’ spätere, in der DDR geschriebene Romane wurden gar nicht erst ins Englische übersetzt und blieben in den USA unbekannt. In den 1950er und 1960er Jahren herrschte auch in der US-amerikanischen Literaturkritik der Kalte Krieg und man nahm an, dass es in der DDR und unter Kommunisten gar keine eigenständige Literatur geben könne, da jegliche unter diesen Bedingungen geschriebene Literatur nur Parteipropaganda dienen sollte. Sogar die eigene amerikanische linke oder sozialkritische Literatur der 1920er und 1930er Jahre – z. B. von Autoren wie Sinclair Lewis oder Theodore Dreiser – wurde in dieser Zeit des New Criticism, der wahrhafte Literatur als rein persönlich und keineswegs als gesellschaftlich oder gar politisch einschätzte, als minderwertig angesehen (vgl. North 2017; Brockmann 2018). Auch Germanisten in den USA interessierten sich weder für die DDR-Literatur im Allgemeinen noch für Seghers im Besonderen. Dieser Zustand eines andauernden literarischen Kalten Krieges änderte sich erst im Laufe der 1970er
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und 1980er Jahre, als eine jüngere, sozialkritische Akademikergeneration unter dem Eindruck der neuen sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre auch in der Literatur einen Blick jenseits des Eisernen Vorhangs wagte. Die erste in Amerika geschriebene Dissertation über Seghers wurde von Ingeborg Margarethe Koppy (1921–2006) an der Florida State University vorgelegt, und schon in den ersten Sätzen der Einführung erklärte die Verfasserin das mit jeder wissenschaftlichen Studie zur DDR-Literatur in den USA zwangsläufig zusammenhängende Grundproblem: »Die Literaturkritiker der westlichen Welt neigen dazu, die Arbeiten ostdeutscher Autoren zu übersehen oder zu verdammen. Sie behaupten, das Werk solcher Autoren könne kaum als Literatur betrachtet werden« (Koppy 1973, 2). Es war Koppys Absicht – wie auch die Absicht von einigen anderen in den 1970er und 1980er Jahren vorgelegten wissenschaftlichen Arbeiten zu Seghers und zur DDR-Literatur – solchen Vorurteilen entgegenzuarbeiten und zu einem besseren Verständnis sowohl der DDR-Literatur als auch der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt beizutragen. In den 1970er und 1980er Jahren gehörte die feministische Literaturkritik wie auch die wissenschaftliche Erforschung der DDR-Literatur zu den spannendsten Zweigen der US-Germanistik und die Werke von Seghers erlangten Bedeutung für dieses Unternehmen, wenngleich die damalige Literaturkritik annahm, dass sich erst die Schriftstellergeneration nach Seghers wirklich von politischen Zwängen emanzipiert habe. Noch immer neigt man in der englischsprachigen Welt dazu, die Werke der frühen DDR-Jahre ›schief anzusehen‹. Inzwischen gibt es aber in den USA mit Peter Beicken, Helen Fehervary, Christiane Zehl Romero, Ute Brandes, Robert Cohen und einigen anderen Literaturwissenschaftlern viel akademische Aufmerksamkeit für Seghers, und jedes Jahr werden auf Konferenzen in den USA Vorträge zu Seghers und ihren Werken gehalten. Wichtige Werke – z. B. Das siebte Kreuz, Transit und Der Ausflug der toten Mädchen – wurden und werden inzwischen neu übersetzt und dem Publikum zugänglich gemacht. Wenigstens in der englischsprachigen Literaturwissenschaft neigt sich also der lange Kalte Krieg der deutschen Literatur gegenüber seinem Ende zu, und man zählt in den USA und anderen englischsprachigen Ländern Seghers zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller/innen des 20. Jahrhunderts. Jedoch sind etliche bedeutende Werke immer noch nicht ins Englische übersetzt worden, etwa Die Gefährten sowie die meisten Romane und Ge-
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schichten, die Seghers in der DDR schrieb. Man kennt z. B. Heiner Müllers Theaterstück Der Auftrag (1979) [»The Mission« bzw. »The Task«], aber nicht die Seghers-Novelle Das Licht auf dem Galgen, auf der Müllers Stück basiert. Es bleibt also noch viel zu tun, bis Seghers in der englischsprachigen Welt genauso präsent ist wie etwa Brecht, Thomas Mann oder Kafka. Literatur
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Stephen Brockmann
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Rezeptionsphasen
Die Rezeption von Anna Seghers in Frankreich erstreckt sich auf nunmehr 90 Jahre, von etwa 1929 bis heute. Sie durchlief dabei sehr unterschiedliche Phasen, von begeisterter Aufnahme ihres Frühwerks über Unterdrückung und Verbot bis hin zu neu erwachendem Interesse. Dieses findet in den letzten beiden Jahrzehnten einen besonderen Ausdruck in einer speziellen Form künstlerischer Fernwirkung: Schriftsteller und Theaterleute unterschiedlicher Couleur verarbeiten Aspekte ihres Werks und ihrer Person in verschiedenartigen künstlerischen Produktionen. Die Rezeption ihres Werkes wurde als solche bis jetzt kaum erforscht. Allerdings gibt es Arbeiten zur Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich. An erster Stelle ist hier die großangelegte Studie von Karin R. Gürttler (2001 und 2004), die die Rezeption von Seghers’ Werk mitbehandelt und rekontextualisiert, mit einem Ausblick auf die 1990er Jahre zu nennen. Über den Kontext, in dem Übersetzungen von literarischen Werken aus der DDR bis zum Mauerfall in Frankreich verbreitet wurden, informieren auch der Aufsatz von Nicole Bary (1999) sowie der Artikel von Catherine Fabre-Renault (2012). Speziell zur Seghers-Rezeption gibt es erste Forschungsansätze von Hélène Roussel (2019). Für die Verbreitung ihres Werks ist festzuhalten: Nach 1945 hat sich kein größerer Verlag für Anna Seghers interessiert, abgesehen von Gallimard und Albin Michel, die jeweils ein bzw. zwei Werke von ihr herausbrachten. In erster Linie wurden ihre Werke von kleine(re)n Verlagen sowie von Zeitschriften und Zeitungen verlegt. Kein Verlag hat sich bereitgefunden – auch kein kommunistischer –, ihr Werk systematisch zu edieren, wie es für Brecht bei L ’Arche schon ab 1954 zutraf (ab dem ersten, triumphalen Gastspiel des Berliner Ensembles in Paris). Bis in die 1990er Jahre wurden vorliegende Übersetzungen nur spärlich neu verlegt, so dass sie oft jahrelang nicht mehr verfügbar waren, bevor eine neue Ausgabe herauskam. Ein solcher Zustand besserte sich erst, als Autrement, ein neuer Verlag, 1995 anfing, schon vergriffene Übersetzungen von Seghers neu zu publizieren. Insgesamt haben in Seghers’ Fall keine fortgesetzten Bemühungen französischer Verlage stattgefunden, ihr Werk dauerhaft bekannt zu machen.
Die auffallende Unregelmäßigkeit des Erscheinens von Seghers-Werken in Frankreich hängt vor allem mit den Wandlungen der historischen Konjunktur zusammen. Dadurch wird ihre Verbreitung und Rezeption in sehr unterschiedliche Phasen unterteilt. Die erste fängt kurz nach der Verleihung des Kleist-Preises (Dezember 1928) an, vor Erscheinen von Aufstand der Fischer von St. Barbara in französischer Übersetzung (1931) und erstreckt sich bis zum Zweiten Weltkrieg. Den Anfang machten, noch vor dem Erscheinen von Übersetzungen, zwei Literaturkritiker, die die deutsche Ausgabe in profilierten Zeitschriften besprachen: Marcel Brion im Februar 1929 in Les Nouvelles littéraires, einer jungen, dynamischen Wochenschrift (Auflage 125.000 Exemplare ab 1925) und Jean-Édouard Spenlé im August 1929 im Mercure de France, der ältesten Literaturzeitschrift. Von beiden Kritikern äußerte sich Brion, der spätere Leiter der Sparte ›Fremdsprachige Literatur‹ in Le Monde, am lobendsten über Seghers’ Erzählung (vgl. Roussel 2019). Zwei Jahre danach erschien La Révolte des pêcheurs (von Romana Altdorf übersetzt und mit einem Vorwort des Germanisten Félix Bertaux) beim Verlag Rieder in einer vom ›Geist von Locarno‹ geprägten Rezeptionskonjunktur. Die Erzählung wurde von einem breiten Pressespektrum anerkennend als mit dem ›Prix Goncourt allemand‹ ausgezeichnet begrüßt (vgl. ebd.). Rieder gab die links-pazifistische Zeitschrift Europe heraus, in der Anna Seghers vorgestellt wurde, und zwar in der Nummer vom 15. Mai 1931, in der auch ihre Erzählung Sur le chemin de l’ambassade américaine zu lesen war. Ihr nächstes Werk, Der Weg durch den Februar, erschien in Frankreich, als sie schon dort im Exil lebte und sehr aktiv am propagandistischen Kampf antifaschistischer Intellektueller gegen das Hitlerregime teilnahm. Dieser Roman, ein Beitrag zu diesem Kampf, kam 1935 im Original in Paris bei Éditions du Carrefour heraus – einem Verlag, über den Willi Münzenberg seit 1933 verfügte. Anfang 1936 erschien Der Weg durch den Februar in der Übersetzung von Jeanne Stern, die noch mehrere Werke von Seghers übersetzen sollte (s. Kap. 58), bei Éditions Sociales Internationales, einem Verlag der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). In der Aufstiegsphase der Volksfrontbewegung war die Rezeptionskonjunktur besonders günstig für diesen ›Roman des barricades de Vienne‹ und er erhielt positive Rezensionen, auch über die Anhängerschaft der Front populaire hinaus. Außerdem bekam er für die Protagonisten der sozialen Kämpfe in Frankreich
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_53
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einen starken Aktualitätsbezug. Jedoch konnte dieser Roman nur kurz rezipiert werden, da kommunistische Verlage von Ministerpräsident Daladier nach dem Hitler-Stalin-Pakt verboten wurden. Vor dem Kriegsausbruch erschienen in Frankreich noch zwei wichtige Texte von Seghers: Gleich nach dem Ersten internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935 wurde ihre Rede Vaterlandsliebe in Barbusse’ Zeitschrift Monde in Auszügen abgedruckt. Eine vollständige Übersetzung erschien aber erst 2005 im Protokollband des Kongresses. Und noch im August 1938 veröffentlichte Seghers in Europe, fiktional als ›Tagebuchseiten‹ bezeichnet, Erfahrungen der ersten Exiljahre unter dem Titel Six jours, six années. Pages de journal. Während des Vichy-Regimes und der Besatzung wurde in Frankreich die Veröffentlichung von Anna Seghers’ Werk gänzlich unterbrochen (vgl. Liste Otto 1940). Erst 1947, als sie aus Mexiko nach Berlin zurückkehrte, fing eine neue Rezeptionsphase ihres Werkes in Europa an. Im Nachkriegsfrankreich war die Rezeptionskonjunktur günstig, denn ein antifaschistischer Grundkonsens verband engagierte Autor/innen wie Anna Seghers mit den französischen Anhängern der Résistance und den Linksintellektuellen im Allgemeinen (vgl. Gürttler 2001, 98), und zwar zu einer Zeit, als die Résistance zu einem nationalen Mythos erhoben wurde. Damals erschienen Seghers’ große, antifaschistische Romane: 1947 La Septième croix, Transit und die Erzählung La Fin sowie 1951 beide Bände von Les morts restent jeunes. Auch eine Erzählung mit mythischen Motiven Les Légendes d’Artémis wurde 1949 publiziert. Dabei ist zu beachten, dass nur zwei dieser Werke bei Verlagen mit einer sehr breiten Leserschaft erschienen: Das siebte Kreuz bei Gallimard und Die Toten bleiben jung bei Albin Michel. Transit und Das Ende wurden von viel kleineren, politisch engagierten Verlagen herausgebracht: dem KPF-Verlag La Bibliothèque Française und dem Résistance-Verlag Pierre Seghers (zufällige Namensgleichheit). Beachtenswert ist auch, wer unter welchen Umständen diese Werke übersetzt hatte. Fernand Delmas, ein mit der Familie befreundeter Deutschlehrer, hatte noch während der Besatzung Das siebte Kreuz übersetzt; er hielt ein Exemplar des Manuskripts in seiner Wohnung versteckt und war gerade zum Zeitpunkt der Befreiung mit der Übersetzung fertig geworden, so dass sie 1947 bei Gallimard erscheinen konnte. Acht Monate später, im Juli 1948, kam die Verfilmung des Romans durch Fred Zinnemann in Frankreich in die Kinos und erreichte über 130.000 Besucher.
Jeanne Stern, eine französische, kommunistische Lehrerin, hatte für La Bibliothèque Française Transit übersetzt, für Pierre Seghers La Fin und Les légendes d’Artémis. Sie und ihr Mann, der deutsche exilierte Journalist Kurt Stern, waren schon in Paris mit Seghers befreundet. Im September 1940 hatte Jeanne Stern der Autorin und den Kindern zur Flucht ins unbesetzte Frankreich verholfen (vgl. Stern 1975), außerdem teilten die Sterns später das Exil in Mexiko mit den Seghers. Raymond Henry, der Übersetzer von Les morts restent jeunes, kam aus ganz anderen Kreisen: Mit eigentlichem Namen Baron Harry d’Erlanger stammte er aus einer geadelten deutsch-jüdischen Bankiersfamilie. Als außenpolitischer Journalist wurde er zum Deutschlandspezialisten und übersetzte vorwiegend historische Bücher über den Krieg und das Dritte Reich sowie einiges an Belletristik, darunter Seghers’ Roman. Les morts restent jeunes wurde in Frankreich als ein Erklärungsversuch der deutschen Tragödie im 20. Jahrhundert aufgenommen und bekam lobende Kritik (vgl. Gürttler 2001, 112). Die günstige Rezeptionskonjunktur der Nachkriegszeit dauerte für Seghers, trotz des Kalten Krieges, bis in die 1950er Jahre – obwohl ihr, als Präsidiumsmitglied des Weltfriedensrates, die französischen Behörden das Visum nach Frankreich mehrere Jahre lang verweigerten. So edierte noch 1956 der Verlag EFR die Erzählsammlung La Ruche (übersetzt von Joël Lefebvre). Zusätzlich zu den Bucherscheinungen wurden Texte in Periodika abgedruckt. Abgesehen von der Erzählung Die Stiefel (1948 übersetzt von dem Widerstandskämpfer Antoine Wiss-Verdier) für Documents (einer 1945 von einem Jesuiten gegründeten Informationszeitschrift über Deutschland), erschienen die Seghers’schen Texte in der kommunistischen Presse: L ’ homme et son nom (1953/1954) in der KPF-Kulturzeitschrift La Nouvelle critique (übersetzt von André Gisselbrecht, Joël Lefebvre und Édouard Pfrimmer, drei Germanisten der neuen Generation). La Fin wurde von Mai bis Juni 1954 in den Lettres françaises in Fortsetzungen abgedruckt sowie 1956 Les noces de Haïti (ebenfalls von Joël Lefebvre übertragen). Dieser übersetzte auch den Essay »Problèmes actuels de la littérature allemande« für die Sondernummer der Nouvelle Critique über die DDR (März-April 1956), die außerdem Kurztexte von Seghers brachte: La visite und Une affiche (beide übersetzt von der Linguistin Laurence Lentin). Von 1946 bis 1956 erhielt die kommunistische Partei bei den Wahlen über 25 % der Stimmen und ihre
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Ausstrahlung war stark, insbesondere in kommunistisch regierten Städten, was für DDR-Autor/innen wie Anna Seghers ein wichtiges Leserpotential darstellte. Jedoch wurde diese Partei in den 1950er Jahren, durch die Vertiefung des Kalten Krieges, zunehmend isoliert. Dazu trugen die Niederschlagung des Budapester Aufstands (1956), der die Linksintellektuellen spaltete, und der Mauerbau 1961 bei. Hinzu kam, dass die Annäherung der Bundesrepublik und Frankreichs, die 1963 zum Elysée-Vertrag führte, die DDR außen vor ließ, zumal die Bundesrepublik am Alleinvertretungsanspruch festhielt und Druck auf ihre Partner in diesem Sinne ausübte. Alle diese Faktoren schwächten die Wirkung der DDR-Literatur in Frankreich ab. Gegen Seghers (und gegen Brecht) richteten sich in den 1960er Jahren Boykott-Aufrufe der Springer-Presse sowie pauschal abwertende Urteile westdeutscher Autoren und Literaturkritiker (vgl. Gürttler 2001, 117). 1962 entfachte sich eine Kontroverse um die SeghersAusgabe bei Luchterhand. Wahrscheinlich strahlte dieser Streit um Seghers auch nach Frankreich aus. Dafür spricht die lange Periode, in der in Frankreich kein neuer Text von ihr erschien: 17 Jahre bei nichtkommunistischen Verlagen, 12 immerhin auch bei den kommunistischen und 15 Jahre in Periodika.
Rezeption seit 1968 Eine neue Phase der Rezeption von Seghers’ Werk in Frankreich leitete 1968 das Erscheinen des Erzählzyklus La force des faibles ein. Er kam bei Albin Michel heraus, der 1951 Les Morts restent jeunes ediert hatte. Was auf positive Resonanz stieß, denn eine neue Generation tauchte auf, geprägt nicht mehr durch den Kalten Krieg, sondern durch die Studentenbewegung und die sozialen Kämpfe von 1968, die einen Wandel der Mentalitäten bewirkten und das Kulturleben beeinflussten. An vom Reformgeist belebten Universitäten setzten neue, linke Dozenten, Forscher und Studenten in Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten ihr Interesse für Bereiche durch, die dort bisher ignoriert wurden (vgl. Roussel 2000, 183). So wurden Forscherteams zum deutschen Exil gegründet: in Paris von Gilbert Badia und in Aix-en-Provence von Jacques Grandjonc. Zur DDR-Literatur entstanden Arbeitsgruppen und eine Zeitschrift Connaissance de la RDA (1975 von Badia gegründet). In den 1970er Jahren wurden Kooperationsverträge zwischen französischen und DDRUniversitäten geschlossen. Ab Ende der 1970er Jahre entstanden einige Dissertationen über Anna Seghers,
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so die von Mohamed Ben Zineb Les Romans et les récits d’Anna Seghers: problèmes du réalisme socialiste en littérature (1979) und die von Alloua Cheniguel Essai sur l’exil et l’écriture dans l’œuvre d’Anna Seghers (1933– 1942), betreut von Gilbert Badia (1984). Die Dissertation von Marie-Laure Canteloube Anna Seghers et la France erschien mit einem Vorwort von Anne Saint Sauveur-Henn 2012 bei L ’Harmattan. Bei mehreren Dissertationen bildete Seghers ein Teilthema, so z. B. bei Brigitte Krulic Les interprétations du national-socialisme dans le roman allemand après 1945: Ernst Wiechert, Anna Seghers, Wolfgang Koeppen (1984). Unter den französischen Seghers-Studien sei die von Thomas Aron über den Ausflug der toten Mädchen besonders hervorgehoben. In französischen politischen Kreisen zeigte sich ein verstärktes Interesse für die DDR, zumal in der Bundesrepublik die Hallstein-Doktrin Ende der 1960er Jahre hinter Willy Brandts Ostpolitik zurücktrat. Der Verbreitung und Rezeption von Seghers’ Werk kam ein solcher Klimawandel zugute, sowohl in der Bundesrepublik, wo sie wieder diskutiert – und nicht mehr tabuisiert – wurde (vgl. Gürttler 2001, 117), als auch in Frankreich. Hier bemühte sich am intensivsten Claude Prévost, ein kommunistischer Germanist, Übersetzer und Literaturkritiker, um die Rezeption von Seghers’ Werk. In den 1970er Jahren übersetzte er für L ’Arche Aufstand der Fischer von St. Barbara neu (1971) und Karibische Geschichten (1972). In der Nummer RDA – arts et littérature, anlässlich der offiziellen Anerkennung der DDR durch Frankreich, brachte Europe 1973 den ersten Teil seiner Übersetzung von Sagen von Unirdischen heraus. 1977 legte er eine repräsentative Anthologie aus Seghers’ bisher übersetzten Werken auf: Der sehr umfangreiche Band Œuvres enthielt Aufstand der Fischer von St. Barbara, acht Erzählungen aus dem Bienenstock, Die Toten bleiben jung, Karibische Geschichten und zwei Erzählungen aus Die Kraft der Schwachen. Prévosts Vorwort fügte Seghers’ Lebenslauf in ihre Zeit ein, führte die französischen Leser/innen durch die Etappen ihres Lebenswerks und endete mit einer Hommage an die kurz davor 75 gewordene Autorin. Ebenfalls 1977 erschien, aus Seghers’ neueren Werken, der Band Ce bleu, exactement (übersetzt von Hélène Roussel), der Das wirkliche Blau, Der Treffpunkt und Die Reisebegegnung enthielt – ein Band, den Claude Prévost in seinem Buch Littératures du dépaysement (1979) als »La réalité du fantastique« vorstellte. Bei Gallimard vergriffen, wurde La septième croix 1971 im KPF-Hauptorgan L ’Humanité in Fortsetzungen abgedruckt und Les morts restent jeunes (ebenfalls ver-
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griffen) 1977 bei EFR neu aufgelegt. All dies zeigt, dass es in den 1970er Jahren Bemühungen gab, sowohl französischen Leser/innen Zugang zu neuen Texten von Seghers zu geben, als auch schon übersetzte Texte länger verfügbar zu halten. Karin R. Gürttler fragt sich, ob die erhöhte Verbreitung von Seghers’ Werken in den 1970er Jahren zu einer stärkeren Rezeption in Frankreich geführt hat und bezweifelt es aufgrund der Nachrufe auf die Schriftstellerin (vgl. Gürttler 2001, 117 f.). Sie zitiert u. a. den Artikel von Denis Fernández-Recatalá, der im Juni 1983 in Révolution, der Wochenschrift der KPF, unter dem Titel »De loin, de trop loin« erschien: »Das Ableben von Anna Seghers hat, abgesehen von einigen Ausnahmen, eine selbstgefällige Gleichgültigkeit hervorgerufen. Über diese schleichende Analphabetisierung, die sich in der Pariser Szene breit macht, wäre viel zu sagen. Anna Seghers schrieb uns von weit her, von zu weit her, so scheint es, als dass ihre Stimme noch bis zu uns dringen konnte« (Fernández-Recatalá 1983). Die diagnostizierte Entfernung zwischen der Autorin und den französischen Leser/innen hatte aber außerliterarische Ursachen. Die Ausbürgerung von Wolf Biermann am 16. November 1976 hatte in den Kulturkreisen der DDR einen starken Protest und den Anfang eines Exodus ausgelöst. Die französische Öffentlichkeit, einschließlich der Kommunisten, reagierte mit starker Ablehnung auf die Verhärtung der DDR-Kulturpolitik. Zum offenen Brief, der die Staatsführung bat, Biermanns Ausbürgerung zurückzunehmen, erklärte Seghers nur, sie habe ihn nicht unterzeichnet und die DDR sei seit ihrer Gründung das Land, in dem sie leben und arbeiten wolle. Als noch amtierende Präsidentin des Schriftstellerverbandes sorgte sie jedoch dafür, dass möglichst keine Sanktionen gegen die Unterzeichner verhängt wurden und schützte sie, so gut sie konnte. Dies wurde in Frankreich nicht wahrgenommen, sondern nur ihr Schweigen zu Biermanns Ausbürgerung. Ihre Distanzierung von den Unterzeichnern wurde als Desolidarisierung empfunden, was bei vielen ihrer Freunde Befremdung verursachte (vgl. Gürttler 2001, 118 f.). Das Interesse französischer Leser/innen galt in den 1980er Jahren und bis in die 1990er immer mehr den profiliertesten Regime-Kritikern und Dissidenten unter den DDR-Autoren, bei denen Erklärungsmuster für den Zusammenbruch des Landes gesucht wurden. Jedoch wurden in den 1980er Jahren zwei längst vergriffene antifaschistische Romane von Seghers neu verlegt. La septième croix kam 1985 bei Gallimard als Taschenbuch heraus und Transit 1986, mit einem Vor-
wort von Christa Wolf, bei Alinéa, einem jungen Verlag in Aix-en-Provence, in dem der Schriftsteller und Übersetzer Alain Lance die Verbreitung von DDR-Literatur förderte. Im Kontext von René Allios Verfilmung des Romans (1991) legte Alinéa Transit 1990 erneut auf. In der neu errichteten Reihe Literatur des expandierenden Verlags Autrement wurden u. a. Neuausgaben vergriffener Übersetzungen von Anna Seghers ediert, so Les morts restent jeunes (1. Bd. 1995, 2. Bd. 2008), Transit (1995) mit dem Nachwort von Christa Wolf, Ce bleu, exactement (1997), von Hélène Roussel 2008 neu übersetzt und mit Nachwort versehen, und La Fin (1999 und 2000). Pierre Radvanyi, Seghers’ Sohn, entdeckte 2000 im Nachlass seiner Mutter eine ihrer frühesten Erzählungen, Jans muss sterben, die im Kontext des 100sten Geburtstags der Autorin bei Aufbau erschien. Autrement publizierte sie 2001 mit einem Vorwort von Pierre Radvanyi (übersetzt und mit einem Nachwort von Hélène Roussel). Außerdem kam 1993 L ’excursion des jeunes filles qui ne sont plus (übersetzt von Joël Lefebvre) bei Ombres in Toulouse heraus. 1997 erschien die Erzählung (vorgelesen von der Schauspielerin Ariane Ascaride) bei Éditions des femmes als Hörbuch, das 2017 neu publiziert wurde. Zu ihrem 100. Geburtstag wurde Seghers zum Schwerpunkt einer Nummer von Europe gewählt. In den 2010er Jahren setzten sich Neuausgaben älterer Übersetzungen und die Übersetzung weiterer Werke fort. Jeanne Sterns Übertragung vom Weg durch den Februar, die seit 1939 nicht mehr verfügbar war, erschien 2010 in Brüssel beim Verlag Aden neu (mit einem Vorwort von Lionel Richard, einem bekannten Literaturforscher und -kritiker). Für die Übersetzung zweier weiterer Seghers-Werke zeichneten neue Übersetzer: Bruno Meur für ihren letzten Erzählzyklus Trois femmes d’Haïti (2014) und 2018 zusammen mit Claire Mercier für Traversée [Überfahrt]. Beide Bände erschienen (jeweils mit einem Nachwort von Hélène Roussel) im Verlag Le Temps des Cerises, einer Gründung von 33 Schriftstellern mit dem Ziel, ›einen Ausdrucksraum abseits der eingefahrenen Bahnen des vorherrschenden Denkens zu eröffnen‹. Dort erschien 2014 auch der Originaltext von Pierre Radvanyis Erinnerungsbuch Au-delà du fleuve, avec Anna Seghers, den 2005 Aufbau in deutscher Fassung herausgebracht hatte. 2018 wurde bei Autrement Transit neu aufgelegt, anlässlich des französischen Kinostarts von Christian Petzolds Transit-Film. Anfang 2020 ist La septième croix, neu übersetzt von Françoise Toraille, beim Verlag Métailié erschienen. Trotz Phasen nachteiliger Re-
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zeptionskonjunktur hat sich also Seghers’ Werk auf dem französischen Büchermarkt (vgl. Gürttler 2001, 430) immer wieder behaupten können. Bei Betrachtung ihrer in Frankreich verlegten Werke ist klar, dass vor allem ihre antifaschistischen Romane rezipiert wurden, in geringerem Umfang auch ihre sonstige Erzählprosa, aber nicht die Werke, welche hauptsächlich auf die DDR eingehen: Romane wie Die Entscheidung und Das Vertrauen wurden weder in Frankreich noch anderswo im Westen übersetzt. Dafür kamen in Frankreich auch Texte mit antikolonialistischem Tenor (Karibische Geschichten, Das wirkliche Blau) sowie mit legendärer bzw. mythischer Thematik (Sagen von Artemis, Sagen von Unirdischen, Die Reisebegegnung) heraus.
Mediale Adaptionen Auch in anderen französischen Medien ist Seghers’ Werk immer wieder präsent gewesen, so im Kino und im Rundfunk. Mehrere Filmadaptionen wurden gezeigt: zuerst 1936 Piscators Aufstand der Fischer, dann 1948 Fred Zinnemanns The Seventh Cross, 1991 René Allios Transit-Film und zuletzt Christian Petzolds Film von 2018, dessen freie Transit-Adaption Anerkennung in der französischen Presse fand. Petzold wurde mehrmals im Rundfunk interviewt, u. a. von der Journalistin Laure Adler, die 2008 bei France Culture Transit adaptiert hatte, in Fortsetzungen inszeniert von Jacques Taroni. Dazu schrieb Laure Adler: »Schon seit über zwanzig Jahren lässt mich dieser Text nicht los. Transit, im Notstand geschrieben und in der Absicht, Zeugnis abzulegen, ist eines der wichtigsten Werke [...], um die Situation dieser antifaschistischen deutschen Exilierten zu verstehen, die beim Aufkommen des Faschismus geglaubt haben, Frankreich sei noch ein Land der Menschenrechte« (Adler 2008). Im November 2012 brachte dann France Culture einen Zyklus von vier Sendungen, unter dem Titel: Anna Seghers – une littérature en résistance et des légendes en contrebande, eine von Ariane Ascaride und Hélène Roussel konzipierte Montage von Seghers’ Texten. In der Seghers-Rezeption in Frankreich spielt derzeit Transit die Hauptrolle, vor allem wegen der aktuellen Flüchtlingsproblematik; das Buch ist geradezu zu einem Klassiker geworden. Darauf hat sich die Stadt Marseille besonnen, als sie 2013 zur Europäischen Kulturhauptstadt wurde. Zu den üblichen Stadtrundgängen mit Lektüren von Exilliteratur ka-
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men dabei ein Erinnerungsparcours, eine Ausstellung und ein Buch hinzu, genannt Ici même – Marseille 1940–1944, in denen Marksteine der Stadtgeschichte während des Vichy-Regimes, des NS-Terrors und des antifaschistischen Widerstands in die Stadttopographie wiedereingefügt wurden. Zwei Stationen des Parcours bezogen sich auf Anna Seghers in Marseille 1941. So war am Quai des Belges ein längeres Zitat aus Transit auf dem Boden zu lesen, in Anlehnung an die Stolpersteine – eine neuartige Rezeption des Romans für Einwohner und Besucher. Auch im Theater wurden in Frankreich ab den 1970er Jahren öfters Seghers’ Texte adaptiert bzw. dramatisiert, ein Zeichen, dass Theaterleute das dramatische Potenzial dieser Texte wahrnehmen und nutzen konnten. Als erste adaptierte und spielte Agathe Alexis, unter dem Titel La force des faibles (1977), Wiedersehen und Aufstellen eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kampschik (inszeniert von Alain-Alexis Barsacq). Zu Anna Seghers war sie dank des Regisseurs Bernard Sobel gekommen, der am Berliner Ensemble gearbeitet hatte. Von ihr inspiriert adaptierte und inszenierte Jacques Lassalle den Ausflug der toten Mädchen unter dem Titel Remagen (1978). Gespielt wurde das Stück bei den Theaterfestspielen von Avignon am 22. Juli und dem Festival d’Automne am 10. Oktober 1978 im Théâtre Gérard-Philipe in Saint-Denis. Davon ließen sich wiederum Theaterleute inspirieren, wie Guy Pierre Couleau mit Netty (1998). Hervé Loichemol, der Direktor der Comédie de Genève, adaptierte die Erzählung neu, übersetzt von Tina Becker, und inszenierte sie 2014 in Colmar, zur Hundertjahrfeier des Kriegsanfangs 1914. Vorgetragen wurde die Adaption als Monolog von der deutschen Sopranistin Caroline Melzer. Bis heute versuchen sich junge Theaterleute an diesem Text: So adaptierte Maxime Chazalet im April 2019 Hélène Roussels Übersetzung vom Ausflug der toten Mädchen unter dem Titel Malgré tout, il y avait cette clarté im Théâtre de la Commune in Aubervilliers. Weitere Texte von Seghers erfuhren weit über Paris hinaus Theateradaptionen: La Révolte des pêcheurs de Sainte-Barbara durch Frédéric Magnin 1992 in Valenton sowie Serge und Christiane Brozille 2004 in Romans-sur-Isère; 2006 adaptierte Alain Neddam Transit, das in Marseille von Studierenden einer Schauspielschule gespielt wurde. Auch bei szenischen Lesungen wurden Seghers-Texte vorgetragen, so Jans va mourir von Françoise Lepoix und Frédéric Leidgens (2008–2009) in vier Pariser Sälen und in der SeghersGedenkstätte in Berlin. L ’excursion des jeunes filles qui
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ne sont plus wurde von Hélène Mathon und Elsa Bouchain im Pariser Club La Java 2014 vorgelesen. Zur direkten Rezeption durch Theateradaptionen kommt eine indirekte hinzu, da Seghers-Texte von anderen Autoren verarbeitet bzw. als Vorlage ihrer Stücke benutzt wurden. In Frankreich findet eine solche indirekte Rezeption vor allem durch Heiner Müllers Stück Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution (1979) statt, das Seghers’ Erzählung Das Licht auf dem Galgen (1961) zur Vorlage nimmt. Ab 1982 wurde dieses Stück, La Mission, mehrmals in Frankreich inszeniert, gleich zweimal von Matthias Langhoff, der seit längerem öfters in diesem Land arbeitet. Am 13. Juli 1989 wurde seine Inszenierung, die auf den Verrat an der Revolution fokussierte, aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution in Avignon uraufgeführt. Im Oktober 2017 inszenierte Langhoff das Stück neu und zwar mit einer bolivianischen Theatergruppe in Aubervilliers, auf Spanisch mit französischen Übertiteln, diesmal vom Standpunkt der Sklaven aus. Dabei bezog er das Stück explizit auf Anna Seghers zurück, indem er Müllers Gedicht Motiv bei A. S. vortragen ließ; durch diese Inszenierung wurden die Rezeptions- und Zeitebenen vervielfältigt. Auch Die Umsiedlerin, ein durch Seghers’ gleichnamige Erzählung inspiriertes Stück Müllers, wurde in Frankreich 2007 von Irène Bonnaud und Maurice Taszman übersetzt und 2016 in einer Inszenierung von Bernard Bloch in Paris uraufgeführt. Brechts Adaption von Seghers’ Hörspiel von 1937, Der Prozess von Jeanne d’Arc zu Rouen 1431, wurde 1979 von Claude Yersin ins Französische übersetzt. Eine Montage aus Brechts Stück, Seghers’ Hörspiel und Péguys Stück Jeanne d’Arc in Domrémy wurde 1993 in Saint-Denis von Jean-Claude Fall inszeniert. Bis heute liegt keine vollständige Übersetzung von Seghers’ Hörspiel auf Französisch vor. Ein kreativer Aspekt von Seghers’ Rezeption in Frankreich besteht in der Transformation ihrer Person zur literarischen Figur, die mit der Suche von Autoren nach neuen Stoffen und Gestaltungsmöglichkeiten zusammenhängt. Einen Ansatz dazu lieferte die Theaterregisseurin und Schauspielerin Françoise Lepoix mit ihrer Bühnenmontage Portrait Anna Seghers (Paris 2011–2013), die ihre Seghers-Lektüren, selbstgeführte Interviews und ihr Berliner Tagebuch kombinierte. Im heutigen Berlin begab sie sich auf die Suche nach Anna Seghers, inszenierte und spielte ihr eigenes Verhältnis zu ihr und verkörperte sie tendenziell. Auch Schriftsteller haben Seghers zu einer literarischen Figur gemacht. Dies trifft für Hans Christoph
Buch zu, der in seinem Text In Kafkas Schloss. Eine Münchausiade Seghers bei der legendären Kafka-Konferenz von 1963 im Schloss Liblice bei Prag den Konferenzteilnehmern aus Ost und West sowie Figuren der Weltliteratur begegnen lässt, wie Kafka und Münchhausen. Die französische Übersetzung von Nicole Casanova Au château de Kafka. Une fantasmagorie (1999) erschien bei Grasset. Im ›nicht-fiktionalen‹ Roman von Adrien Bosc Capitaine (2018) tritt Seghers als literarische Figur auf ihrer Flucht aus Europa auf. Der Roman schildert die Überfahrt des Frachters Capitaine Paul Lemerle 1941 von Marseille nach Martinique, mit europäischen Flüchtlingen an Bord, u. a. André Breton, Claude Lévi-Strauss, Wifredo Lam, Gertrud Krull und Anna Seghers mit Familie. Seghers’ Figur, der ein ganzes Kapitel gewidmet ist, speist sich aus Schilderungen aus Pierre Radvanyis Seghers-Buch, Erinnerungen von Victor Serge aus seinen Carnets 1936–1947 sowie aus Transit entnommenen Szenen. So belebt Anna Seghers auch als Person die Fantasie von Schriftstellern, Theaterleuten, Zuschauern und Lesern bis heute. Liste der französischen Übersetzungen der Werke von Anna Seghers
Ce bleu, exactement, traduit par Hélène Roussel, Paris: Éditeurs Français Réunis, 1977 [enthält 3 Erzählungen: Ce bleu, exactement, La Rencontre insolite, Le lieu du rendezvous [Das wirkliche Blau, Die Reisebegegnung, Der Treffpunkt]]. Ce bleu, exactement [Das wirkliche Blau], nouvelle traduction et postface d’Hélène Roussel, Paris: Autrement, 1997, 2008 [enthält nur die Übersetzung von Das wirkliche Blau]. Histoires des Caraïbes [Karibische Geschichten], traduites par Claude Prévost, L ’Arche, 1972. Jans va mourir [Jans muss sterben], traduction et postface d’Hélène Roussel, Paris: Autrement, 2001. L ’amour de la patrie [Auszüge aus Vaterlandsliebe]. In: Monde, Nr. 342, 27.6.1935, 10. Vollständige Übersetzung von Vaterlandsliebe in: Teroni, Sandra und Wolfgang Klein: Pour la défense de la culture. Les textes du Congrès international des écrivains, Paris, juin 1935, Éditions Universitaires de Dijon, 2005. L ’excursion des jeunes filles qui ne sont plus [Der Ausflug der toten Mädchen], traduit par Joël Lefebvre. In: La Ruche, Éditeurs Français Réunis, 1956. Abdruck in: Thomas Aron: L ’ inscription de l’histoire: à propos de L ’excursion des jeunes filles qui ne sont plus, d’Anna Seghers, Les Belles Lettres, 1984. Neuausgabe: Toulouse: Ombres, 1993. Livre audio, unter dem Titel: L ’excursion des jeunes filles..., Paris: Éditions des femmes, 1997, 2017. L ’ homme et son nom [Der Mann und sein Name], traduit par A.Gisselbrecht, J. Lefebvre, E. Pfrimmer. In: La Nouvelle critique, Nr. 50, Dezember 1953 und Nr. 51, Januar 1954, 243–288.
53 Rezeption in Frankreich La Fin [Das Ende], traduction J. Stern, Paris: Pierre Seghers, , Nr. 40, 1947. Zweisprachige Ausgabe: Das Ende. Erzählung / La Fin. Conte. Konstanz: Weller, 1948. Fortsetzungsdruck in: Lettres françaises, 13. Mai-17. Juni 1954. Neue Übersetzung von Joël Lefebvre. In: La Ruche, Paris: Éditeurs Français Réunis, 1956. Neuausgabe Paris: Autrement, 1999–2000. La Force des faibles [Die Kraft der Schwachen], nouvelles traduites par Jeanne Stern, Paris: Albin Michel, 1968. La Révolte des pêcheurs [Aufstand der Fischer von St. Barbara], roman traduit de l’allemand par Romana Altdorf, préface de Félix Bertaux. Paris: Rieder, 1931. Neue Ausgabe: La Révolte des pêcheurs de Sainte Barbara, nouvelle traduction de Claude Prévost, Paris: L ’Arche, 1971. La Ruche [Der Bienenstock], nouvelles traduites de l’allemand par Joël Lefebvre, Paris: Éditeurs Français Réunis, 1956. La septième croix [Das siebte Kreuz], traduit par F. Delmas. Paris: Gallimard, November 1947. Abdruck in Fortsetzungen, in: L ’Humanité ab 4. Mai 1971. Neudruck als Taschenbuch in der »Folio«-Reihe von Gallimard 1985. Neue Übersetzung von Françoise Toraille. Paris: Métailié, 2020. La Visite [Der Besuch] und L ’affiche [Das Plakat], traduction de Laurence Lentin. [2 Kurztexte als Hommage an Wilhelm Pieck]. In: La Nouvelle Critique, Sondernummer Découverte de l’Allemagne démocratique, Nr. 73–74 von März-April 1956, 397–401. Le Chemin de février [Der Weg durch den Februar], traduit de l’allemand par Jeanne Stern. Paris: Éditions sociales internationales, 1936. Neue Ausgabe: Le Chemin de février, traduit de l’allemand par Jeanne Stern, Préface de Lionel Richard, Bruxelles: Éditions Aden, 2010. Deutsche Originalausgabe: Der Weg durch den Februar, Paris: Éditions du Carrefour, 1935. Le Refuge [Das Obdach], traduit et présenté par Hélène Roussel. In: Les Annales de la Société des amis de Louis Aragon et Elsa Triolet, Paris : Éditions Aden, Nr. 12 von 2010, 335–343. Légendes d’Artémis [Sagen von Artemis], traduit par Jeanne Stern. Paris: Pierre Seghers, , 1949. Unter dem Titel »Les Légendes d’Artémis«, neue Übersetzung von Joël Lefebvre. In: La Ruche. Paris: Éditeurs Français Réunis, 1956. Légendes d’outre-terre [1. Teil von Sagen von Unirdischen], traduction Claude Prévost. In: Europe. Revue littéraire mensuelle [Sondernummer: RDA – arts et littérature], Nr. 531/532, Juli/August 1973, 84–99. Les Bottes [Die Stiefel], nouvelle traduite par Antoine WissVerdier. In: Documents, Nr. 6, 1948, 454. Les morts restent jeunes [Die Toten bleiben jung], traduit de l’allemand par Raymond Henry. Paris: Albin Michel, 2 Bände: 1951. Neuausgabe, Paris: Éditeurs Français Réunis, 1977. Neuausgabe Bd. 1: La Révolution confisquée, préface de Brigitte Krulic, Paris: Autrement, 1995; Bd. 2: La mise au pas, postface de Brigitte Krulic, Paris: Autrement, 2008. Les noces de Haïti [Die Hochzeit von Haiti], traduction de Joël Lefebvre [Fortsetzungsdruck]. In: Les Lettres françaises, 28. Juni-2. August 1956. Œuvres [Werke], Hg. Claude Prévost, Livre Club Diderot, 1977.
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»Problèmes actuels de la littérature allemande«, traduction de Joël Lefebvre. In: La Nouvelle Critique, Sondernummer Découverte de l’Allemagne démocratique, Nr. 73–74 von März-April 1956, 219–239. [Auszüge aus Anna Seghers’ Bericht: Die große Veränderung und unsere Literatur, beim 4. Deutschen Schriftstellerkongress, Berlin: Aufbau, 1956]. »Six jours, six années – pages de journal«. In: Europe. Revue mensuelle, Nr. 188 vom 15. August 1938, 542–547. [Deutsche Übersetzung unter dem Titel: »Sechs Tage, sechs Jahre«. In: neue deutsche literatur 32 (1984) 9, 5–9.] »Sur le chemin de l’ambassade américaine« [Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft]. In: Europe. Revue mensuelle, Nr. 101, 15.5.1931, 52–73. Transit, traduit de l’allemand par Jeanne Stern. Paris: La Bibliothèque française, 1947. Neuausgabe bei Alinéa, 1986 und 1990. Neuausgabe Autrement, mit Nachwort von Christa Wolf, 1995. Neuausgabe mit Vorwort von Nicole Bary, Nachwort von Christa Wolf, Le Livre de poche, 2004. Neuausgabe Autrement, mit Vorwort von Nicole Bary, Nachwort von Christa Wolf, 2018. Traversée [Überfahrt], traduit par Bruno Meur et Claire Mercier, postface d’Hélène Roussel, Paris: Le Temps des cerises, 2018. Trois femmes d’Haïti [Drei Frauen aus Haiti], traduit par Bruno Meur, postface d’Hélène Roussel, Paris: Le Temps des cerises, 2014.
Literatur
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VI Rezeption und Wirkung
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Hélène Roussel
54 Rezeption in der Sowjetunion
54 Rezeption in der Sowjetunion Anna Seghers wurde in der Sowjetunion intensiv rezipiert, d. h. ihre Werke wurden in der Regel zügig übersetzt, in hohen Auflagen publiziert und wohlwollend rezensiert. Außerdem sind ihrem Schaffen zahlreiche wissenschaftliche Studien gewidmet. Was die Verfügbarkeit ihres Werkes und dessen Wahrnehmung betrifft, stellte Seghers eine Ausnahmeautorin dar. Darin liegt eine ideologische Vereinnahmung, die sie zugelassen und mitgetragen hat, um den Preis, dass sie im Moment der Systemkritik als nicht glaubwürdig und damit zugleich als nicht mehr lesenswert galt und für eine neue Generation Ende der 1980er Jahre vom Horizont verschwand. Zudem geriet mit der Konzentration auf sein ideologisches Potenzial allzu oft die ästhetische Qualität ihres Werkes aus dem Blick. Das biographische Verhältnis von Seghers zur Sowjetunion war das einer Besucherin und unterschied sich damit von dem zu Frankreich und Mexiko. Zu Schulzeiten begeisterte sie sich für die russischen Klassiker (Fjodor Dostojewskij, Nikolai Gogol, Lew Tolstoj), rezipierte in den 1930er Jahren die sowjetrussische Literatur (Fjodor Gladkow, Maxim Gorkij, Alexandra Kollontai). Frank Wagner spricht von Dostojewskij als ihrem »Mentor« (Wagner 2004, 57). Später stand sie mit Autor/innen aus der Sowjetunion in Briefkontakt, war mit einigen befreundet (Ilja Ehrenburg), mit anderen in langjähriger Zusammenarbeit verbunden. Zu ihren Vertrauten gehörten die russischen Germanist/innen Tamara Motylowa, Wladimir Steschenski und Lew Kopelew. Mit Ehrenburg verkehrte sie auf Französisch, mit Kopelew, Motylowa und Steschenski auf Deutsch. Briefkontakte zu Autoren wie Konstantin Fedin, Konstantin Simonow, Michail Scholochow u. a. behielten dagegen den »Hauch des Halbamtlichen«; ihnen war nicht zuletzt aufgrund von Seghers’ Position im DDR-Kulturbetrieb eine »innerliche Distanz eigen« (Sedelnik 2004, 34).
Reisen in die Sowjetunion Zum ersten Mal besuchte Seghers 1930 die Sowjetunion, um im ukrainischen Charkiw an der II. Internationalen Konferenz des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller teilzunehmen. Erst 1948 kam sie erneut in die UdSSR, dieses Mal nach Moskau, dann regelmäßiger, lernte Russisch, referierte auf Kongressen, war Mitglied in Preiskomitees, besuchte Freund/innen (vgl. Zehl Romero 2003, 156–159). Erika Haas spricht
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von einem »sympathetischen, ›parteilichen‹ Vorverständnis« und einer »affektiv getönte[n] Beziehung zum Mutterland der Revolution« (Haas 2004, 70 f.), womit auch eine unkritische Verklärung und Idealisierung gemeint sein dürften, die nicht zuletzt einer mystifizierenden Lesart von Dostojewskij und Tolstoj entsprangen. Insofern blieb die Sowjetunion selbst in Zeiten der Kritik das ›Gelobte Land‹. In diesem Sinne liest denn auch Simone Bischoff das Verhältnis als ein »parareligiös« geprägtes und die UdSSR als »eschatologischen Bezugspunkt« (Bischoff 2009, 145). In den Briefen heißt es verschiedentlich: »Ich habe Heimweh nach Euch« (Br2, 12). Das von ihr häufig gebrauchte ›Euch‹ steht in diesem Kontext weniger für einen bestimmten Personenkreis, sondern vielmehr für ein sowjetisches Idealkollektiv, zu dem sie gehören wollte. Kritik an der UdSSR übte Seghers wenn überhaupt, dann verhalten in Untertönen und Randnotizen (Br2, 196). Während Ehrenburgs Roman Tauwetter (Ottepel, 1954) der Epoche den Namen gab, sah sie auch nach 1956 keinen Anlass, ihr Verhältnis zur Stalin-Zeit grundsätzlich zu hinterfragen. Damit unterschied sie sich von osteuropäischen Autor/innen wie etwa Wisława Szymborska oder Jaroslav Seifert und bewahrte ihre apologetische Haltung gegenüber der Sowjetunion. Gleichwohl ist die UdSSR in ihrer Prosa selten Handlungsort (vgl. Haas 2004, 71). Umgekehrt wurden ihre Werke ins Russische übersetzt und in einer Auflagenhöhe von ca. vier Millionen gedruckt (vgl. Belobratow 2004, 54). Den Rahmen bilden vor allem zwei Faktoren, die die Aufnahme ausländischer Schriftsteller/innen allgemein erleichtert haben. Erstens das von Gorkij 1934 propagierte Konzept einer ›Weltliteratur‹ (vsemirnaja literatura) und zweitens das Selbstverständnis der Sowjetunion als Übersetzernation. Zwischen 1918 und 1980 wurden mehr als 200 ausländische Autor/innen jeweils in Millionenhöhe gedruckt (vgl. Friedberg 1997, 5), darunter auch Seghers. Katerina Clark zitierend, beschreibt Samantha Sherry die »Übersetzungen als eine Möglichkeit an der ›Weltliteratur‹ teilzuhaben, indem man das Beste von anderen Nationen aneignet und es in einem neuen, am Marxismus orientierten Kanon weiterentwickelt und als seine Vollendung preist‹« (Sherry 2015, 23). Durch diese Translationspolitik konnte eine Monatszeitschrift wie Internacional’naja literatura (Internationale Literatur) noch in den 1930er Jahren vergleichsweise unabhängig von ideologischen Vorgaben zeitgenössische Autor/innen aus dem Ausland übersetzen; freilich mussten diese mit der Sowjetunion sympathisieren; auch hier ist Seghers mit meh-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_54
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VI Rezeption und Wirkung
reren Titeln vertreten. In den 1950er Jahren übernahm Inostrannaja literatura (Literatur aus dem Ausland) diese Rolle, wobei anfangs vor allem zeitgenössische DDR-Autor/innen wie Seghers gedruckt wurden; später folgten amerikanische Beatniks und die westliche Postmoderne, ab 1964 bundesdeutsche Schriftsteller/ innen (vgl. Menzel 2011, 152 f.).
Werke in russischer Übersetzung Die Hochzeit der Seghers-Rezeption fällt in die 1950er bis 1980er Jahre (vgl. Volgina 1989, 82–104). 1929 lag indes mit Aufstand der Fischer bereits das erste Werk auf Russisch in der Zeitschrift Prožektor (Projektor) vor; Erst- und Zweitauflage des Romans folgten schon 1930. Während die späteren Romane und Novellen jeweils ca. zwei Jahre nach Erscheinen auf Russisch veröffentlicht wurden, musste Transit (1943) achtzehn Jahre auf sein Erscheinen in der Sowjetunion warten, da der Roman als dekadent und pessimistisch galt (vgl. Kopelew 1988, 268). In die Jahre 1982–1983 fällt dann die Publikation der Gesammelten Werke auf Russisch in sechs Bänden mit einem Vorwort von Motylowa (Motylëva 1982, 5–28). Die frühe Rezeption von Seghers’ Werken in der Sowjetunion war ideologisch determiniert und wurde aus diesen Gründen einmal kurzzeitig unterbrochen. So wurde der Vorabdruck von Das siebte Kreuz 1939 in der Moskauer deutschsprachigen Zeitschrift Internationale Literatur entgegen der Ankündigung ›Fortsetzung folgt‹ nach Erscheinen der Anfangskapitel im Sommer eingestellt. Dies hing mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes im August desselben Jahres zusammen. In der sowjetischen Sekundärliteratur heißt es noch in den 1970er Jahren schwammig, die Fortsetzung sei wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges nicht erschienen (vgl. Motylëva 1970, 26; Motylëva 1984, 178 f.). Die vollständige russische Übersetzung konnte erst 1949 publiziert werden, wiewohl die Übersetzung von Wera Stanewitsch schon 1939 abgeschlossen war und einige Kapitel bereits 1941 in den Nummern 7–8 und 9–10 der Zeitschrift Oktjabr’ (Oktober) gedruckt wurden. Später wurde Das siebte Kreuz in seiner Wirkung mit Die junge Garde (Molodaja gvardija, 1945) von Alexander Fadeew verglichen. Beide Romane leisteten, so die sowjetische Kritik, einen Beitrag zur Erziehung der Jugend (Motylëva 1970, 6). Zwischen 1929 und 1988 lassen sich in der UdSSR ca. 180 Veröffentlichungen von Seghers und mehr als 370 Arbeiten über sie ausmachen, darunter Rezensio-
nen, Einträge in Literaturgeschichten bzw. Lexika (Volgina 1989, 82–104). Bis 1990 erschienen fünf Monographien und dreizehn Dissertationen zu ihrem Leben und Werk, viele davon allerdings »ideologiekonforme Pflichtschreiben« (vgl. Belobratow 2004, 46). Zu ihrem 75. Geburtstag attestierten Kritiker/innen Anna Seghers, der »Altersgenossin des Jahrhunderts«, Experimentierfreudigkeit und ideologische Standhaftigkeit; Das siebte Kreuz wurde als »Gipfel proletarischer Solidarität« bezeichnet (Kagan 1975, 182). Sie sei eine »deutsche Nationalschriftstellerin« heißt es unter Verwendung des russischen Maskulinums (nacional’nyj nemeckij pisatel’) – wohl um ihre Autorität zu steigern (vgl. Kagan 1975, 187). In den 1980er Jahren wird sie mit dem russischen Wort für Schriftstellerin (pisatel’nica) angesprochen (vgl. Volkov 1987, 3).
Zentrale Vermittler 1987 kam die 79-seitige Broschüre Das Schaffen von Anna Seghers (Tvorčestvo Anny Zegers) in einer Auflagenhöhe von 90.000 heraus und diente als Handreichung für Lehrer/innen. Der Verfasser, Jewgeni Wolkow, ruft zwar das »Vokabular und Themeninventar des sozialistischen Realismus und der ideologisierten Wissenschaft« auf (Belobratow 2004, 51), verweist aber auch auf den Kafka-Anklang in Seghers’ Transit (vgl. Volkov 1987, 48 f.), den er in diesem Sinne als eine »Roman-Beichte« liest (ebd., 52). Bereits 1966 versuchte Natalja Lejtes eine andere Annäherung an Seghers’ Werk. Auf 103 Seiten, publiziert in der Uralstadt Perm, lieferte sie subtile Textanalysen, dabei innerhalb der Grenzen des Offiziösen bleibend (vgl. Belobratow 2004, 50). Ohne die sonst übliche biographische Rahmung, stellt sie Seghers als poeta epicus vor. »Seele ihrer Romane« sei die »Bewegung«, keine ereignishafte von A nach B, vielmehr ginge es ihr um die »Gesetzmäßigkeit von Bewegung«, um deren potentielle Energie (Lejtes 1966, 5). Seghers’ Romanwelt identifiziert sie als »vielbelebt, vielschichtig, vielstimmig« (ebd., 6). In Bezug auf Transit heißt es schließlich unumwunden, es handele sich um ein »Buch darüber, dass der ›Mensch kein Blatt ist‹, er kann und soll selbst entscheiden, wohin und mit wem gehen« (ebd., 75). Dass Lejtes die biographische Rahmung vernachlässigen konnte, ist Tamara Motylowa zu verdanken. Sie hatte Seghers schon 1930 in Charkiw als Dolmetscherin kennengelernt. Die 1910 geborene, in Moskau lebende Germanistin war eine zentrale Figur für die sowjetische
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Seghers-Vermittlung. Allein drei ihrer Bücher widmen sich ihr (Motylëva 1953; 1970; 1984), hinzu kommen ca. 40 Artikel, Rezensionen u. ä. Motylowas 1984 in Moskau erschienene Seghers-Studie wurde für den Berliner Aufbau Verlag 1987 überarbeitet und ins Deutsche übersetzt, allerdings nicht mehr gedruckt (vgl. Barck 1993, 206 f.). Zwischen Motylowa, wie Seghers Jüdin und Kommunistin, und Seghers herrschte eine große Nähe, selbst wenn sie nicht wie bei Lenka Reinerová oder Kopelew zum ›Du‹ führte. Motylowa half Seghers bei Übersetzungsfragen, diskutierte mit ihr über Literatur, klärte Veröffentlichungsrechte, recherchierte für sie. Ihr Zugriff auf Werk und Person war nicht zuletzt deshalb stark von Persönlichem geleitet, atmete eine Vertrautheit, die heute überausgestellt wirken mag (vgl. Belobratow 2004, 48–50). Motylowa begann zumeist mit der Schilderung des Zusammentreffens in Charkiw, betonte wiederholt Seghers’ Bescheidenheit, ihr Interesse für das Alltägliche, schließlich das »junge anmutige Gesicht«, ihre Kontaktfähigkeit (Motylëva 1970, 14; Motylëva 1975, 209; Motylëva 1984, 4 f.). Der stellenweise undistanzierte Zugang zur Schriftstellerin, unzählige rhetorische Fragen und fehlender methodischer Tiefgang verhinderten indes eine kritische Werklektüre und Einordnung der Texte in die europäische Moderne. 1984 nannte Motylowa Seghers noch »einen der ältesten Meister der sozialistischen Weltliteratur« (Motylëva 1984, 3). Lew Kopelew, Jahrgang 1912, betitelt Seghers 1966 wiederum als ihren »lieben Transitmann« (Br2, 175). Kopelew, der sie auch schon in Charkiw kennengelernt hatte, wurde 1954 aus mehrjähriger sowjetischer Lagerhaft entlassen und war danach wesentlich an der Lancierung von Transit in der UdSSR beteiligt; für ihn stellte Seghers’ Roman eine literarische Entdeckung dar (vgl. Kopelew 2004, 248). In seinem Vorwort »Sieg über Angst und Einsamkeit« zur Ausgabe von 1961 lobt er den Text als sozialistisch-realistisch, allerdings nicht im »sowjetisch-kanonischen« oder schablonenhaften Sinne (Kopelew 1988, 271); vielmehr verweist er u. a. auf die Vorbilder Balzac und Racine (Kopelev 1961, 16) und bescheinigt dem Roman wiederholt einen »lebendigen Lyrismus« (ebd., 16), eine »subjektivlyrische Weltsicht« (ebd., 14). Bewusst überdidaktisch streicht Kopelew sozialistische Textmerkmale heraus (Parteilichkeit, Heldentum, Geschichtsoptimismus), betont indes vor allem Seghers’ Mut, in der Tradition der großen Realisten und gleichzeitig zeitgemäß zu schreiben (ebd., 17 f.), um am Ende für ein anderes Verständnis von sozialistisch-realistischer Literatur zu plädieren. Seghers eröffnete ihm 1960, es gebe gerade
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deshalb »viele Leute, die [das Buch] nicht leiden können« (Br2, 84). Später kreist das Gespräch mehrmals um das Verhältnis von Transit zu Kafka. 1966, drei Jahre nach der Kafka-Konferenz in Liblice, verwarf sie jedoch Kopelews These, sie polemisiere mit Kafka (Br2, 178), obwohl sie bereits 1960 ihm gegenüber Paul Rilla erwähnte, der 1950 in Die Erzählerin Anna Seghers einen ähnlichen atmosphärischen Vergleich zu Kafka zog. Kopelew beschrieb den Kafka-Dialog mit Seghers rückblickend: »Wenn ich Kafka erwähnt hätte, hätten sie mir den ›Transit‹-Roman nicht durchgelassen« (Kopelew 2004, 252). Nachträglich rekapitulierte Kopelew außerdem die unüberbrückbaren politischen Spannungen, die sich nicht zuletzt aus seinem dissidentischen Engagement ergaben. Nachdem 1975 Kopelews Aufbewahren für alle Zeit! erschienen war, in dem er das sowjetische Lagersystem kritisierte, brach Seghers den Kontakt ab (ebd., 255). Die Aufmerksamkeit für Seghers in der Sowjetunion ist seit Mitte der 1980er Jahre gesunken und in postsowjetischer Zeit nahezu erloschen, von einigen Forschungen aus der Moskauer Germanistik (u. a. Nina Pawlowa) abgesehen. Der Sankt Petersburger Germanist Alexander Belobratow hat dazu bemerkt, dass der Tenor der in den 1930er Jahren erschienen Rezensionen (u. a. Iwan Asimow, Naum Berkowski, Anna Zaprowskaja) die sowjetische Rezeption mehr als sechzig Jahre lang dominiert und für spätere Zeiten beschädigt hat: belehrend im Ton, mitunter vulgär-soziologisch in der Anlage, den proletarisch-revolutionären Aspekt der Werke und ihre sozialistische Fortschrittlichkeit über Gebühr betonend. Nicht zuletzt wegen dieser Vorformatierung der Wahrnehmung sei eine tiefergehende Untersuchung ihrer Poetik ausgeblieben (vgl. Belobratow 2004, 49). Belobratow macht mithin auf eine Ambivalenz aufmerksam, die die Rezeption der Literatur des östlichen Europa insgesamt prägte, wo die Literaturszenen in ›offizielle‹ und ›inoffizielle‹ Produktion (Samizdat- und Exilliteratur) gespalten waren: Die ›Parallelkultur‹ galt in den 1980er Jahren geradezu automatisch als ästhetisch wertvoller, während die in Staatsverlagen erschienenen Werke oftmals unbesehen als reine IdeologieLautsprecher abqualifiziert wurden (vgl. Havel 2007, 249). Diesen Effekt demonstriert Belobratow anhand von Wladimir Admonis 1975 erschienener Studie Poetik und Wirklichkeit (Poėtika i dejstvitel’nost’), in der sich Admoni Proust (4 S.), Thomas Mann (8 S.), Musil (15 S.), Hemingway (5 S.), Camus (5 S.) und Seghers (7 S.) widmete und Das siebte Kreuz mit Hemingways For Whom the Bell Tolls (1940) und Camus’ La Peste
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VI Rezeption und Wirkung
(1947) verglich. Obzwar Admoni die Romane durchgängig als moderne »Kartierungen der Epoche« und ihrer »Kollisionen« zu differenzieren sucht (Admoni 1975, 207, 212, 239), fällt er bei Seghers Klischees der eingeschliffenen sowjetischen Rezeption anheim (vgl. ebd., 249–255). Das wiederum erwies sich mit Blick auf Leser/innen als fatal, denen die Autorin ohnehin als linientreu bekannt war, was dem schon sinkenden Leseinteresse an der ›offiziellen‹ Seghers weiteren Vorschub leistete (Belobratow 2004, 51 f.). Literatur
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Alfrun Kliems
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55 Verfilmungen Am 26.11.1924 sah Anna Seghers, damals noch Netty Reiling, während einer Paris-Reise mit ihren Eltern in dem kleinen Kino Gaumont in Montmartre den amerikanischen Stummfilm Scaramouche von Rex Ingram, der in der Zeit der Französischen Revolution spielt (vgl. Seghers 2003, 9). Sie vertraute ihrem Tagebuch lediglich die Tatsache an, dass sie ihn gesehen hatte. Was sie von dem Film hielt, wissen wir nicht. Als sie nach ihrer Heirat mit Laszlo Radvanyi (1925) in Berlin lebte, wurde das neue Medium Film für sie immer wichtiger (vgl. Zehl Romero 2008, 53–55). Für die politische Linke der Weimarer Republik, zu der Anna Seghers gehörte, spielte der Film als Massenmedium eine zentrale Rolle. Ein Beispiel dafür ist Bertolt Brecht, der – zusammen mit dem Regisseur Slátan Dudow – 1932 den Film Kuhle Wampe realisierte. Seghers war in dieser Zeit stark beeindruckt von sowjetrussischen Filmen, wie Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein (1925), Die letzten Tage von St. Petersburg von Wsewolod Pudowkin (1927) oder Der Weg ins Leben von Nikolai Ekk (1931). Mitverantwortlich dafür war auch der Einfluss des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs, dessen Arbeiten sie über ihren Mann kennengelernt hatte. Balázs hatte 1924 ein Standardwerk über die Ästhetik der Großaufnahme verfasst (Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films), lebte seit 1926 in Berlin und galt als Autorität in Sachen Filmkritik. 1928 sah Seghers den Stummfilm La Passion de Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer, der einen großen Einfluss auf ihr Werk haben sollte, wie sie mehrfach betonte. Es ging ihr vor allem um die »Seelenmalerei« (Carl Neumann), die »innere Handlung, die nur an den Gesichtern zu sehen ist«, wie Balázs es formulierte (zit. nach Fehervary 1996, 120). 1937 griff sie selbst in ihrem Hörspiel Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 diesen thematischen Faden wieder auf (vgl. Zehl Romero 2008, 56).
Aufstand der Fischer (1934) Die erste Verfilmung eines ihrer Texte stammt von Erwin Piscator. Er war 1931 in die Sowjetunion gegangen und arbeitete dort unter zum Teil äußerst widrigen Bedingungen drei Jahre lang an der filmischen Umsetzung des Stoffes. Der Film sollte ursprünglich in Deutsch und Russisch gedreht und mit deutschen Schauspieler/innen besetzt werden. Vorgesehen wa-
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ren u. a. Lotte Lenya, Lotte Loebinger, Alexander Granach und Paul Wegener. Da sich der Beginn der Dreharbeiten allerdings stark verzögerte, zerschlug sich dieser Plan, die Schauspieler/innen aus Deutschland hatten andere Verpflichtungen. Das ursprüngliche Ziel Piscators bestand darin, den Stoff im Kampf gegen den drohenden Nationalsozialismus einzusetzen. Dieser war aber längst an der Macht, als der Film endlich im Jahr 1934 uraufgeführt werden konnte. Die Frage war nun, wie man den herrschenden Nationalsozialismus bekämpfen konnte. Aus der Sicht Piscators war dies nur durch die Bildung einer Einheitsfront möglich. Er griff deshalb radikal in den Schluss des Textes von Seghers ein, in dem der Aufstand der Fischer scheitert. Stattdessen inszenierte er eine »offene Feldschlacht, die mit dem Sieg der Aufständischen endet« und die die »Kraft der Einheitsfront« demonstrieren soll (Diezel 2008, 76). Der Film wurde unter dem Titel Aufstand der Fischer am 5.10.1934 offiziell uraufgeführt. Schon im Mai 1934 war ein Artikel in der sowjetischen Zeitschrift Kino erschienen, in dem der Autor Ossip Brik kein gutes Haar an dem Film ließ. Unter anderem kritisierte er das »Fehlen einer dramatisch anwachsenden Spannung«, das »durchgängige[...] Pathos« sowie die weit »auseinanderklaffende[n] Stilrichtungen« (zit. nach ebd., 76). Stalin selbst schloss sich diesem Verdikt an und dekretierte: »ohne Aufklärung, düster, absichtlich kalt« (ebd.). Ernst Ottwalt, der 1936 zum Opfer der Stalin’schen ›Säuberungen‹ werden sollte, verteidigte den Film. Piscator habe es gewagt, »statt des Anlasses die Ursache, statt der äußerlichen, oberflächlichen Spannung der Handlung ihre innere Gesetzmäßigkeit darzustellen« (zit. nach ebd., 77). Und auch Béla Balázs sah zwar »kein vollendetes Meisterwerk«, aber »einen großen Meister, einen großen Regisseur« sowie einen »großen Reichtum in der Vielfarbigkeit und Nuancierung der einzelnen Charaktere«, vor allem der Frauengestalten Marie und Frau Kedennek (zit. nach ebd., 77 f.). Unter den Bedingungen der zunehmenden Stalinisierung der Sowjetunion sowie des dogmatischen Kurses des sozialistischen Realismus war dem Film kein großer Erfolg beschieden (vgl. Fehervary 2008, 81). Piscator musste 1936 die Sowjetunion verlassen. Seghers hat viel später in der DDR wohl nur Teile des Films sehen können; Äußerungen von ihr dazu sind nicht überliefert. Im DDRFernsehen wurde eine synchronisierte Version mehrmals im Spätprogramm gesendet. Seine erfolgreiche westdeutsche Erstaufführung erlebte der Film 1960 in Oberhausen. Die Kritiker lobten z. B. die »absolute
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_55
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Meisterschaft in den Massenszenen« (zit. nach Nehring 1993, 221).
Das siebte Kreuz (1944) Nach dem großen Erfolg, den der Roman Das siebte Kreuz in den USA hatte (s. Kap. 10), zeigte Hollywood umgehend großes Interesse an einer Verfilmung des Stoffes. So konnte Seghers’ Agent Maxim Lieber am 12.3.1943 einen Vertrag mit der Produktionsfirma Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) über 100.000 USDollar abschließen. 67.500 US-Dollar davon sollten an die Autorin gehen (vgl. Stephan 1997, 227). Auch nach Abzug der Steuern verschaffte dieser Betrag Anna Seghers und ihrer Familie in der schwierigen Zeit des Exils in Mexiko ein finanzielles Polster. Als Regisseur wurde der damals noch relativ unbekannte Österreicher Fred Zinnemann verpflichtet. Er war 1929 in die USA gekommen und wurde später berühmt, z. B. mit dem Film High Noon. Der Kameramann hieß Karl Freund, ein Emigrant, der in Deutschland schon mit Friedrich Murnau (Nosferatu) und Fritz Lang (Metropolis) gearbeitet hatte; die Drehbuchautorin war Helen Deutsch. Die Hauptrolle des Georg Heisler übernahm Spencer Tracy, damals der Starschauspieler bei MGM. Auch die weiteren wichtigen Rollen wurden mit in den USA bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt, die deutschen Emigranten (z. B. Helene Weigel) mussten sich mit Nebenrollen bescheiden. Die Produktionskosten des Films waren für damalige Verhältnisse relativ gering (ca. eine Million Dollar), denn alle Szenen wurden im Studio gedreht, was die filmischen Möglichkeiten des Regisseurs drastisch einschränkte. Im September 1944 startete der Film in den amerikanischen Kinos, nachdem es eine selbst für amerikanische Verhältnisse ungewöhnliche Werbekampagne gegeben hatte. In sieben großen Städten der USA wurde eine ›Man Hunt‹ (Menschenjagd) inszeniert, bei der ein Double von Spencer Tracy an sieben Kreuzen vorbeiging; die erste Person, die ihn erkannte, erhielt eine Kriegsanleihe von 500 Dollar. Trotz dieses Aufwandes war der Film finanziell kein großer Erfolg, immerhin wurden die Produktionskosten eingespielt. Das Drehbuch von Helen Deutsch konzentrierte sich auf die Fluchtgeschichte Georg Heislers, nahm parallele Handlungsstränge sowie auch einige Figuren heraus und fügte gleichzeitig andere Personen ein (vgl. Berkessel 2016, 21). Obwohl zentrale Themen des Romans auch im Film eine wichtige Rolle spielen (z. B. die
Notwendigkeit von Solidarität), gibt es doch im Einzelnen eine Fülle von Unterschieden, die der Grundkonzeption des Films geschuldet sind (vgl. Elsner 2008, 167–169). Filmästhetisch bewegt sich Fred Zinnemann auf der Höhe seiner Zeit. Vor allem durch die Kameraführung Karl Freunds (unterschiedliche Größen bei der Kameraeinstellung, Wechsel von der Totale ins Detail), das Verfahren der Perspektivierung (Froschund Vogelperspektive), die Licht- und Raumeffekte sowie die Geräusche und die Musik gelingt es, die Gefühle der handelnden Personen zum Ausdruck zu bringen sowie Stimmungen und Atmosphäre zu vermitteln (Angst, Isolation, Enge, Gefahr, Verzweiflung etc.). Ein wesentlicher Unterschied zwischen Roman und Film besteht in der jeweiligen grundsätzlichen Aussage. Im Roman geht es im Kern um eine klar umrissene historische Situation: der Kampf zwischen Nationalsozialismus und Antifaschismus. Zinnemann bestätigt, dass für ihn der menschliche Aspekt im Vordergrund stand, nicht etwa der politische (vgl. Zinnemann 1993, 211). Zwar vermeidet auch Seghers eine direkte politische Zuordnung der Personen, aber es ist doch grundsätzlich erkennbar, dass zentrale Figuren zur kommunistischen Bewegung gehören (z. B. Heisler, Marnet und Wallau). Der »Volksfrontcharakter« (Berkessel 2016, 22) des Romans wird dadurch deutlich, dass der unpolitische Paul Röder die Flucht Heislers entscheidend befördert. Der Film jedoch entpolitisiert und enthistorisiert den Roman weitgehend, indem er die Handlung als gleichsam ewigen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen zeigt. The Seventh Cross stieß 1944 weltweit auf großes Interesse. Das hatte nicht nur mit den filmischen Qualitäten zu tun, sondern auch mit dem politisch-historischen Kontext. Die US-Truppen waren nach der Landung in der Normandie im Juni 1944 auf dem Vormarsch, eine Niederlage Deutschlands und eine amerikanische Besetzung des Landes waren absehbar. Dies führte dazu, dass Mitglieder der Streitkräfte durch Szenen aus dem Film auf den Einsatz in Europa vorbereitet wurden. Zudem entbrannte in den USA eine Diskussion darüber, ob der Film, der in realistischer Weise nicht nur ›böse‹, sondern auch ›gute‹ Deutsche zeigt, »Stimmung für einen ›weichen Frieden‹« (Stephan 1997, 239) mit Deutschland mache. In der DDR gab es in den 1960er Jahren zwei Versuche, den Stoff neu zu verfilmen, die beide scheiterten. In der BRD wurde der Film mehrfach im Fernsehen ausgestrahlt (ARD: 1986; ZDF: 1972 und 1983 sowie in einigen dritten Programmen), RTL plus zeigte 1990 sogar eine (heftig kritisierte) kolorierte Fassung.
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Anna Seghers, die weder am Drehbuch noch an der Produktion beteiligt war, fand den Zinnemann-Film grundsätzlich gelungen, übte aber Kritik im Detail. In einem Brief an den Regisseur vom September 1945 resümierte sie: »Denn Sie haben eine so schoene und anstaendige Arbeit damit gemacht, daß ich mich schaeme, weil ich sozusagen Wert auf meine Einwaende lege. Ich hoffe, Sie sehen in dieser Offenheit soviel Freundschaftlichkeit, wie ich meine« (Br1, 167).
Gescheiterte Filmprojekte in der DDR In der DDR wurden zwischen 1968 und 1988 elf Texte von Anna Seghers verfilmt. Nicht alles, was geplant war, ließ sich auch realisieren. Die Autorin begleitete den Entstehungsprozess eines Filmes sehr kritisch und genau, lehnte – teilweise mit harschen Worten – auch Regisseure und Drehbücher ab und war für die Verantwortlichen bei der Deutschen Film AG (DEFA) und dem Deutschen Fernsehfunk (DFF) insgesamt eine anspruchsvolle und kritische Partnerin (vgl. Zehl Romero 2003, 296–298). Das erste Projekt scheiterte schon 1962. Die geplante Verfilmung ihrer Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen kam nicht zustande, obwohl der von ihr geschätzte Stephan Hermlin das Drehbuch schreiben sollte. Mitte der 1970er Jahre, als Seghers in besonderer Weise unzufrieden mit der Behandlung ihrer Texte durch DEFA und DFF war, empfahl ihr der Literaturwissenschaftler Kurt Batt, Kontakt mit dem westdeutschen Regisseur Volker Schlöndorff aufzunehmen und verwies in diesem Zusammenhang auf dessen Film Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach (1971). Anna Seghers legte daraufhin 1976 Schlöndorff den Stoff Der Ausflug der toten Mädchen ans Herz: »Denken Sie nach, ob Sie einen Anreiz zur Verfilmung sehen. Sie kennen ja sowohl Mexiko wie den Ort am Rhein, an dem sie spielt. [...] Dass das Thema zur Verfilmung sehr schwierig ist, weiß ich. Ich weiß aber auch, daß es schön sein könnte« (Br2, 280). Doch die Zusammenarbeit kam nicht zustande. Auch die Verfilmung des Romans Die Entscheidung wurde nicht realisiert, weil Seghers offensichtlich mit den ihr vorgelegten Drehbüchern unzufrieden war. Anfragen zu möglichen Verfilmungen von märchen- und legendenhaften Stoffen lehnte sie grundsätzlich ab. Als ihr eine Verfilmung von Die schönsten Sagen vom Räuber Woynock angeboten wurde, schrieb sie: »Kommt nicht in Betracht. [...] Denn ich will keinerlei Parallelen zur heutigen Zeit gezogen haben. Märchen sollen Märchen bleiben« (Br2, 508).
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Die Toten bleiben jung (1968) Der Roman aus dem Jahr 1949 bildete die Vorlage zum ersten in der DDR realisierten Kinofilm nach einem Seghers-Text. Regie führte Joachim Kunert, der noch drei weitere Filme nach Werken von Seghers realisierte. Bekannt geworden war er 1965 durch seine sehr erfolgreiche Verfilmung des Romans Die Abenteuer des Werner Holt von Dieter Noll, die auch international gewürdigt wurde. Dem Film-Projekt Die Toten bleiben jung waren harte Verhandlungen und intensive Bedenken von Seiten der Autorin vorausgegangen, wie man einem Brief von Anna Seghers aus dem Jahr 1967 an den damaligen Chefdramaturgen der DEFA, Walter Janka, entnehmen konnte: »Du weisst, dass keinerlei rechtliche Vereinbarungen zur Übernahme und Ausarbeitung dieses Stoffes existieren. Diese Vereinbarungen müssten auf jeden Fall mein Mitspracherecht enthalten. [...] Ich möchte durchaus nicht, dass wieder eine Situation entsteht, in der eine wichtige Arbeit halb oder ein Viertel gemacht und dann liegen gelassen wird« (Br2, 181). Den ersten Entwurf mit Vorschlägen für mögliche Veränderungen des Films gegenüber dem Buch hatte schon im Juli 1966 der Schriftsteller Rolf Schneider vorgelegt. Seghers war damit in weiten Teilen nicht zufrieden. Als auch ein zweiter Entwurf, der diesmal von Kunert und Schneider stammte, auf den Widerstand von Seghers stieß, gab Schneider seinen Auftrag zurück, ohne deshalb mit Anna Seghers zu brechen (vgl. Schneider 1975, 251–253). Nun wurde Christa Wolf an der Arbeit am Drehbuch beteiligt, aber auch sie wusste, dass die Umsetzung des Stoffes nicht leicht werden würde (vgl. Wallace 1996, 85 f.). Mit dem Ergebnis war Anna Seghers am Ende einverstanden: »Mit Joachim Kunert zusammen macht sie [Christa Wolf; H. W. O.] das Drehbuch zu meinem Roman Die Toten bleiben jung. Ich finde, dass sie sehr gut und strikt gearbeitet hat« (Br2, 191). Der Film wurde am 14.11.1968, kurz nach dem Jahrestag der Novemberrevolution (9.11.1918) uraufgeführt. Die DEFA war insgesamt sehr zufrieden. Mit dieser Verfilmung sei das »Verstehen der Vergangenheit« vertieft worden (vgl. Wallace 1996, 84). Man bedankte sich bei Anna Seghers für die Mitarbeit und hoffte auf weitere Verfilmungen. Sowohl im Osten als auch im Westen gab es aber auch kritische Stimmen. Sie bezogen sich vor allem darauf, dass es die Verantwortlichen nicht gewagt hätten, sich stärker von der literarischen Vorlage zu entfernen, denn aus dramaturgischen Gründen sei es notwendig gewesen, einige der vielen Handlungs-
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stränge zu kappen (vgl. ebd., 75). Das Fernsehen der DDR zeigte den Film am 9.9.1973, in der Bundesrepublik wurde er am 16.11.1973 im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) in einer gekürzten Version ausgestrahlt.
Das Duell (1970) Nach dieser – aus der Sicht von Anna Seghers – erfolgreichen Zusammenarbeit mit Joachim Kunert als Regisseur wurden drei weitere Projekte mit ihm realisiert. Die folgenden drei Filme waren allesamt Teil der Erzähl-Sammlung Die Kraft der Schwachen (1965). Das Duell war die sechste von neun Erzählungen. Der DEFA-Film kam zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR heraus und war Teil des vierteiligen Episodenfilms Aus unserer Zeit. Dazu gehörten noch die Filme Die zwei Söhne von Helmut Nitzschke nach einer Geschichte von Bertolt Brecht, der Film Gewöhnliche Leute von Rainer Simon nach Werner Bräunig sowie der Film Der Computer sagt nein von Kurt Maetzig. Bei dem Seghers-Film hatte wiederum Joachim Kunert die Regie übernommen. Seghers beteiligte sich selbst intensiv an dem Projekt. Sie schrieb einen umfangreichen Kommentar für die Filmemacher und warnte vor Übertreibung der visuellen Mittel: »Je knapper und einfacher, desto besser« (zit. nach Brandes WA II/5, 461). Doch da der Film eher wie ein »Lehrstück« angelegt war, wurde er »zu keinem rechten Erfolg« (Brandes WA II/5, 462).
Die große Reise der Agathe Schweigert (1972) Ganz anders erging es den beiden nächsten Filmen, sie wurden große Erfolge und sowohl vom Publikum als auch von der DDR-Kritik sehr gelobt. Die große Reise der Agathe Schweigert (Regie: Joachim Kunert) wurde am 16.11.1972 im Fernsehen der DDR ausgestrahlt. Hans Müncheberg, der Verfasser des Drehbuchs, arbeitete im Vorfeld eng mit Anna Seghers zusammen. Er beschreibt diese Zusammenarbeit als sehr produktiv: »Als Wahrerin ihres ursprünglichen literarischen Anliegens half sie mit kritischen Hinweisen und vielen praktischen Vorschlägen, die Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen« (Müncheberg 1993, 235). Positive Wirkung erzielte vor allem die Hauptdarstellerin Helga Göring, die die Titelfigur sehr überzeugend verkörperte. Doch es gab auch Kritik. Da Agathe auf der Suche nach ihrem Sohn diverse euro-
päische Städte und Landschaften, z. B. in Frankreich und Spanien, bereist, sprach ein Kritiker von einem »Kameratourismus durch Europa«, der davon ablenke, dass die Stärke des Films »in der Genauigkeit des Milieus in Deutschland« liege (Nehring 1993, 225). Der Text sowie der Film wurden in den Kanon der Schulen der DDR aufgenommen. Von allen SeghersVerfilmungen im DDR-Fernsehen wurde Die große Reise der Agathe Schweigert am häufigsten wiederholt.
Das Schilfrohr (1974) Aufgrund des großen Erfolges bei Agathe Schweigert kam es beim nächsten Film, Das Schilfrohr, wieder zu einer Zusammenarbeit von Seghers, Kunert und Müncheberg. Marta Emrich, gespielt von Walfriede Schmitt, rettet 1945, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem antifaschistischen Flüchtling Kurt Steiner (gespielt von Klaus-Peter Thiele) das Leben, indem sie ihn bei sich aufnimmt. Die Ausstrahlung erfolgte am 6.10.1974, am Vorabend des Jahrestags der Gründung der DDR vor 25 Jahren. Auch bei dieser Verfilmung bestand Seghers auf ihren Kriterien für die filmische Umsetzung ihrer Texte: Knappheit, keine Übertreibungen, kein Pathos, kein Heroismus, Schlichtheit, Einfachheit. Diesmal legte sie außerdem Wert auf die Sprache. So kritisierte sie das Buch Münchebergs mit folgenden Worten: »Ich weiß ja nicht, ob und wie lange Sie in der Partei sind, aber mir scheint, bei Ihnen ist in der Sprache noch ein Stück Parteischule hängengeblieben. Ich bin doch viel länger dabei, aber mir ist das mit der Sprache nicht passiert« (Seghers, zit. nach Müncheberg 1993, 236). Ein besonderer Effekt bei diesem Film war, dass der Original-Text durch eine Stimme aus dem Off (Lotte Loebinger) gesprochen wurde, wodurch ein »Rest von Geheimnis« erhalten blieb, der »weder realistisch abgefilmt oder ›gesprochen‹ werden kann« (Agde 2008, 97). Obwohl Anna Seghers den Film grundsätzlich positiv beurteilte, konnte sie sich doch einer kleinen Spitze nicht enthalten, indem sie generell von einem »DDR-Provinzialismus« sprach, der in allen bisherigen Verfilmungen ihrer Texte erkennbar sei (Seghers, zit. nach Nehring 1993, 226).
Das Licht auf dem Galgen (1976) Es war u. a. diese Kritik, die beim nächsten Film, Das Licht auf dem Galgen, dafür sorgte, dass der Kinofilm in einer Koproduktion mit Bulgarien und Kuba ent-
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stand. Regie führte der junge Regisseur Helmut Nitzschke, dem als erfahrener Berater Wolfgang Kohlhaase zur Seite stand. Die Besetzungsliste enthielt bis in die Nebenrollen die Namen von damals prominenten Schauspielerinnen und Schauspielern, wie Alexander Lang, Erwin Geschonnek, Jürgen Holtz und Amza Pelea. Im Jahr 1793 werden die drei Franzosen Debuisson, Sasportas und Galloudec auf die von den Engländern regierte Insel Jamaika geschickt. Sie sollen im Auftrag der französischen Regierung unter den englischen Sklaven einen Aufstand entfachen. Seghers setzte – auch aufgrund des Sujets – große Hoffnungen in den Film und rechnete mit stärkerer internationaler Beachtung. Zwar hatte sie noch am Rohdrehbuch heftige Kritik geübt und nannte es »primitiv«, »kitschig« und »klischeehaft« (zit. nach Brandes WA II/5, 464), aber den fertigen Film hielt sie für durchaus gelungen. Am 4.5.1976 wurde er uraufgeführt. Die Reaktion war für alle enttäuschend. Kritisiert wurde u. a. die »Unentschiedenheit zwischen Charakterstück und Aktionsdrama«, die Charaktere seien »theatralische Sprachröhren«, die Schauspieler würden »von Drehbuch und Regie allein gelassen«, die »chronikartige Einfachheit« des Erzählstils von Anna Seghers habe »keine filmisch adäquate Lösung« gefunden (zit. nach Nehring 1993, 227). Brandes vermutet, der Film sei im Spätherbst 1976, zur Zeit der Proteste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, vor allem deshalb zurückgezogen worden, weil er »zu radikal« gewesen sei und die Zeit im nachrevolutionären Frankreich zu sehr die reale politische Situation im November 1976 widerspiegele, z. B. den Verrat an der Revolution, den Tod der Gerechten und den Sieg der Restauration (vgl. Brandes WA II/5, 464 f.).
Jozia, Tochter der Delegierten (1977) Auch der nächste Film, Jozia, Tochter der Delegierten, war als deutsch-polnische Co-Produktion wieder kein reiner DDR-Film. Es geht darin um die Vorstellungen und die Angstträume, die ein kleines Mädchen namens Jozia (gespielt von Monika Alwasiak) mit der politischen Arbeit seiner Mutter verbindet. Anna Seghers schätzte die Arbeit des polnischen Regisseurs Wojciech Fiwek wegen dessen außergewöhnlicher Bildsprache und der Montagetechnik. Die Vorarbeiten zu dem Film hatten schon 1975 mit einem ersten Drehbuch begonnen. Seghers wehrte sich gegen eine Idealisierung des Mädchens, sie wollte keine
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»Engelsgestalt« (zit. nach Brandes WA II/4, 447). Da es ein Fernsehfilm für Kinder werden sollte, korrespondierte Seghers mit einer Schulklasse, um deren Gedanken über die Figur Jozia herauszufinden und in den Film einfließen zu lassen (vgl. Brandes WA II/4, 447). Die Erstausstrahlung erfolgte am 22.5.1977. Eine nachhaltige Wirkung ist nicht bekannt. Agde hielt die Stoffauswahl von Anfang an für problematisch, die Vorlage sei als Filmgeschichte »wenig geeignet« (Agde 2008, 227).
Fluchtweg nach Marseille (1977) In der DDR war es vor allem Frank Beyer, der sich bemühte, den Roman Transit zu verfilmen, doch aus rechtlichen Gründen ist es dazu nie gekommen (vgl. Nehring 1993, 231). In der BRD begann man sich in den 1970er Jahren für den Stoff zu interessieren. Hier entstanden keine reinen Spielfilm-Inszenierungen, sondern Mischformen aus Dokumentar- und Spielfilmelementen, die die Möglichkeit boten, auf den Kontext des Romans einzugehen, aber auch Aktualisierungen aufzunehmen, die den Stoff für die heutige Situation nutzbar machen sollten. Ein Beispiel für diese Arbeitsweise ist der zweiteilige Film der aus Finnland stammenden deutschen Regisseurin Ingemo Engström und des Regisseurs Gerhard Theuring mit dem Untertitel »Bilder aus einem ARBEITSJOURNAL (1977) zu dem Roman TRANSIT (1941) von Anna Seghers«. Schon mit dem an Bertolt Brecht erinnernden Begriff »Arbeitsjournal« beschreiben sie ihre Methode. Ausgehend von der Realität des Jahres 1977 nähern sie sich in einem Arbeitsprozess der Zeit der Handlung des Romans (1941) sowie dem Schauplatz Marseille an. Hierzu nutzen sie bestimmte Methoden: Spielszenen (mit Rüdiger Vogler, Katharina Thalbach u. a.), Berichte von Zeitzeugen (z. B. Ruth Fabian, Peter Gingold, Alfred Kantorowicz, Ernst Erich Noth sowie Ida und Vladimir Pozner), FilmarchivAufnahmen (z. B. von der Bücherverbrennung 1933) sowie Textstellen aus dem Roman. Dazu setzten sie Musik des spanischen Cellisten Pablo Casals ein. Dieser »Filmessay« (Peter W. Jansen) wurde am 12.10.1977 im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ausgestrahlt und von der westlichen Kritik wegen seines modernen filmischen Ansatzes sehr positiv aufgenommen; 1977 bekam er in Mannheim den Josef von Sternberg-Preis. Seghers selbst stand in brieflichem Kontakt mit Ingemo Engström und begrüßte diese Art der Verarbeitung ihres Stoffes. In einem Brief
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schrieb sie 1979, dass ihr der Film »interessant und gut gelungen vorkam«, obwohl er »nicht eigentlich den Inhalt des Buches wiedergibt, sondern [...] die Entstehung des Inhalts« (Br2, 294).
Das Obdach (1981) In dem Fernsehfilm Das Obdach (Regie: Ursula Schmenger und Hannes Wlasinger) geht es erneut um das Schicksal eines Kindes. Der Junge, Sohn von deutschen Emigranten, hat während der Besetzung Frankreichs Unterschlupf in einer französischen Arbeiterfamilie gefunden (s. Kap. 11). Im August 1978 hatte die Drehbuchautorin Heide Reinhold, die schon das Drehbuch zu dem Film Jozia – Tochter der Delegierten verfasst hatte, Anna Seghers ein erstes ›Treatment‹ zur filmischen Umsetzung der gleichnamigen Erzählung aus dem Erzählzyklus Der Bienenstock zugeschickt. Sie schlug vor, auch diesen Film mit Wojciech Fiwek als Regisseur zu realisieren (vgl. ASA 3361). Anna Seghers antwortete im September 1978, der Film Jozia – Die Tochter der Delegierten habe ihr sehr gut gefallen und sie hoffe, dass dies auch bei dem Film Das Obdach so sein werde (ebd.). Ein Jahr später, im Oktober 1979, teilte das Fernsehen der DDR Anna Seghers mit, dass nun ein ›Szenarium‹ von 60 Seiten vorliege, »das unseren jungen Zuschauern ein künstlerisches Erlebnis über einen speziellen Abschnitt der jüngeren Geschichte vermitteln kann« (ASA 173). Der Film solle 1980 unter der Regie von Ursula Schmenger entstehen, und man bittet um ihre Zustimmung. Diese wurde offenbar erteilt, und das Fernsehen der DDR sendete den Film schließlich am 15.11.1981.
Der Mann und sein Name (1983) Seit dem Januar 1969 gab es Kontakte zwischen Seghers und dem DFF bezüglich einer Verfilmung des Stoffes. Als Regisseur war damals Egon Günther im Gespräch (vgl. Br2, 200). Im Juni 1969 wurde der Vertrag abgeschlossen. Am 29.5.1983, drei Tage vor Seghers’ Tod, wurde der Film Der Mann und sein Name im Fernsehen der DDR ausgestrahlt. Regie führte Vera Loebner, für den jungen Schauspieler Ulrich Mühe war es der Beginn einer großen Karriere. Aufgrund ihrer Krankheit konnte Anna Seghers an diesem Projekt nicht mehr mitarbeiten. Es ist die Geschichte des Walter Retzlow, eines ehemaligen SS-Mannes, der an die
Papiere eines ermordeten Antifaschisten gerät, eine neue Identität annimmt und zum Mitglied der SED wird. Seghers’ Erfassen der »inneren Zerstörung der Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit« spiegele »sich in den einprägsamen visuellen Elementen des Films« (Brandes WA II/4, 449). Allerdings seien die Aussagen – in der Erzählung und im Film – »zu einseitig determiniert in gut und böse [...], als daß die Verdrängung von Schuld und ihre Folgen wirklich zur erregenden künstlerischen Aussage reifen konnten« (Nehring 1993, 228).
Überfahrt (1984) Schon 1972 hatte Anna Seghers grundsätzlich einer Verfilmung von Überfahrt zugestimmt (vgl. Br2, 226). Ihr Vorschlag war, Egon Günther, Frank Beyer oder Ulrich Thein die Regie zu übertragen. Doch die Pläne zerschlugen sich zunächst. Als Alfried Nehring die Autorin 1979 besuchte, um mit ihr Einzelheiten der Verfilmung zu besprechen, hat sie sich kaum noch an den Text erinnert und ihm die Erlaubnis gegeben, »sich so weit als möglich von der Erzählung zu entfernen« (Nehring 1993, 228). Das war angesichts ihrer sonstigen Haltung eher unüblich. Der Regisseur des Films war schließlich Ernst Bornemann und die Erstausstrahlung im DFF erfolgte am 30.9.1984 als Koproduktion mit dem kubanischen Fernsehen. Ernst Triebel (Jan Spitzer), ein junger Arzt, trifft in Brasilien kurz vor seiner Heimreise in die DDR, seine Jugendliebe Maria Luisa (Maribel Rodriguez). Auf der Überfahrt nach Europa erzählt er dem Ingenieur Franz Hammer (Walter Plathe) seine Liebesgeschichte. Der Film wurde wegen seines Realismus’ gelobt, so wurden z. B. große Teile des Films auf einem Frachter gedreht. Allerdings monierte die Kritik auch die »Auslassung ganzer Handlungsstränge« sowie »rhetorische und spannungslose Dialoge« (Agde 2008, 97).
Der Kopflohn (1984) In dem gleichnamigen Roman zeigt Seghers am Beispiel eines rheinhessischen Dorfes, wie es den Nationalsozialisten gelungen ist, »mit ihrer Ideologie und ihren Versprechungen in die ›Köpfe und Herzen‹ der Landbevölkerung einzudringen« (Berkessel 2017, 72). Wie später in dem Roman Das siebte Kreuz müssen sich die Menschen entscheiden, ob sie einen Flüchtling
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verraten und damit eine Belohnung kassieren oder ob sie ihn decken. Rüdiger Diezemann, Redakteur des Südwestfunks in Mainz, war in den 1980er Jahren von der Lektüre des Romans so angetan, dass er daraus einen Film machen wollte. Er setzte sich telefonisch mit Anna Seghers in Verbindung, die ihn in dieser Absicht bestärkte und ihm sogar ein Exemplar ihrer Dissertation schickte. Diezemann, der vom Dokumentarfilm kam, drehte daraufhin einen Film, den er in den Spielszenen mit Laiendarstellern besetzte und diese zugleich mit der Rahmenhandlung durch eine Erzählerstimme verknüpfte. Dazwischen montierte er dokumentarisches Material. Gedreht wurde in Meisenheim am Glan, das für Diezemann mit dem fiktiven Ort Billingen im Roman vergleichbar war. Die Erstausstrahlung des Films erfolgte im Südwestfunk am 14.3.1985. Die Reaktionen auf den Film waren widersprüchlich. Einerseits wurde kritisiert, dass man überhaupt ein Werk einer »kommunistische[n] Schriftstellerin« (SWR-Archiv, 20.3.1985) ins Fernsehen brachte, andererseits lobte man die »sensible Rekonstruktion und die »teilweise außerordentlichen Bilder« (ebd., 15.3.1985).
Anna Seghers in Marseille (1985) Der Film von Norbert Beilharz, der »nach Motiven des Romans Transit« entstand, wie es im Untertitel heißt, stellt eine Mischform dar. Er wurde am 19.11.1985, explizit zum 85. Geburtstag von Anna Seghers, im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) in der Reihe »Schauplätze der Literatur« ausgestrahlt und am 16.11.2000 wiederholt. In der Ankündigung des Senders wird er als »Ballade« (ZDF Presse Journal 1985, 19) bezeichnet, denn der Hauptdarsteller, Manfred Zapatka, erzählt die Geschichte – wie im Roman – in der Ich-Form als Rückblende. Als zweite Person taucht Marie auf, gesprochen und verkörpert von Gisela Stein. Alle anderen Personen kommen nur als »Stimmen« vor. Dies seien »Stimmen der Verzweiflung, und Hoffnung, die [...] einen bitteren Geschmack hinterlassen: den der Entwurzelung und Heimatlosigkeit« (ebd.). Seinen dokumentarischen Charakter erhält der Film zum einen dadurch, dass an Originalschauplätzen in Marseille gedreht wurde: in Konsulaten, Cafés und Hotels. Zum anderen tritt Pierre Radvanyi, der Sohn von Anna Seghers, in dem Film auf und berichtet über die private Situation der Familie in Marseille.
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Das wirkliche Blau (1986) Wäre es nach Anna Seghers gegangen, hätte man den Film Das wirkliche Blau als Koproduktion mit einer mexikanischen Filmgesellschaft umgesetzt. Doch die finanziellen Möglichkeiten der DDR ließen das nicht zu, Dreharbeiten in Mexiko waren nicht möglich. Deshalb siedelte die Regisseurin Christa Mühl die Geschichte nicht in Mexiko an, sondern in einem undefinierten »fremden Land« (vgl. Nehring 1993, 229). Der Töpfer Benito (Henry Hübchen) hat durch den Zweiten Weltkrieg die Bezugsquelle für seine berühmte blaue Farbe verloren. In einer Art Roadmovie macht er sich auf, um sein wahres Blau wieder zu finden und damit die Existenz seiner Familie zu retten. Agde lobte die genaue filmische Arbeit: das Setzen von Licht und Gegenlicht, von Blick und Gegenblick, den Rhythmus der Innenszenen, die Fahrt durch das Land und die Glaubwürdigkeit des Entwicklungsprozesses von Benito (vgl. Agde 2008, 229). Ein anderer Kritiker hingegen meinte, Benito finde nur ein »unwirkliches Blau«, und er stellt die Frage, inwieweit der poetische Stoff für eine dramatische Fabel überhaupt geeignet sei (vgl. Nehring 1993, 229). Erwähnenswert ist die Musik von Jürgen Ecke, die in ihrer Eindringlichkeit und Prägnanz immer wieder starke Akzente im Handlungsablauf setzt. Die Erstausstrahlung des Films im Fernsehen der DDR erfolgte am 5.10.1986.
Aufstand der Fischer von St. Barbara (1988) Kurz vor dem Ende der DDR kam es zu einer weiteren Verfilmung des Textes Aufstand der Fischer von St. Barbara. In gewisser Weise teilte sie das Schicksal des Piscator-Films von 1934. Auch hier verhinderten die Zeitumstände eine größere öffentliche Wirkung, die »dem Anspruch und der Tragweite der jeweiligen Version entsprochen hätte« (Fehervary 2008, 81). Der Regisseur Thomas Langhoff hielt sich eng an die literarische Vorlage und versuchte, den sprachlichen Duktus mit filmischen Mitteln umzusetzen. Der Hektik und Dynamik bei Piscator setzte er ein »gemäßigtes Tempo« entgegen, Lautstärke, Rede und »Gebrüll« wurden ersetzt durch »Windstille«, und die an Eisenstein geschulten Massenszenen verwandeln sich in »langsame[...], besonnen ›lautlose[...]‹ Passagen« (Fehervary 2008, 84). Langhoff war – anders als Piscator – nicht an der revolutionären Massenaktion interessiert, sondern an den Auswirkungen
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VI Rezeption und Wirkung
des gescheiterten Aufstandes auf die einzelnen Menschen. Diese Haltung verbindet ihn mit Seghers’ mutmaßlichen Intentionen. Der Film von Langhoff wurde am 20.11.1988 im Fernsehen der DDR ausgestrahlt. Ziemlich genau ein Jahr später probten die Bürgerinnen und Bürger der DDR den Aufstand, der zum Zusammenbruch des Staates DDR führte. Langhoff kommentierte dies im Jahre 1991 so: »Die Menschen sind frei, wenn sie keine Angst haben« (zit. nach Fehervary 2008, 87). Die Berliner Zeitung Der Tagesspiegel kommentierte: »Aber vielleicht lag gerade im Scheitern [des Aufstandes; H. W. O.] die mutmachende Botschaft der Dichterin: sie wußte etwas von der Kraft der Schwachen« (zit. nach Nehring 1993, 230).
Transit (1991) Schon seit 1974 wusste Anna Seghers, dass sich eine Produktionsfirma in Frankfurt a. M. dafür interessierte, als französisch-deutsche Koproduktion den Roman Transit durch den französischen Regisseur René Allio verfilmen zu lassen. Zur Bekräftigung dieses Vorhabens hatte sich Allio 1975 direkt an Seghers gewandt. Bei ihren Erkundigungen über Allio bezog sie auch ihren Sohn Pierre und ihren Enkel Jean mit ein. Schließlich stand sie dem Projekt aufgeschlossen gegenüber, zum einen da Allio einen sehr guten Ruf als Regisseur hatte, zum anderen kam er aus Marseille und kannte sich dort bestens aus. Obwohl es noch andere Interessenten gab (Bernard Eisenschitz in Paris und Frank Beyer in Berlin), entschied sich Anna Seghers schließlich 1979, Allio die Filmrechte zu erteilen. Es sollte allerdings noch bis zum 25.8.1991 dauern, bis – acht Jahre nach Seghers’ Tod – der Film im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden konnte (vgl. Br2, 530). Es war vielleicht der erste Seghers-Film, dem man nicht mehr den Vorwurf des ›Provinziellen‹ machen konnte, es wurde »ein sehenswerter, ein europäischer Film« (Nehring 1993, 230). Für die Hauptrolle hatte Allio den jungen deutschen Schauspieler Sebastian Koch ausgesucht, es war eine seiner ersten großen Rollen. Marie wurde von Claudia Messner verkörpert und den Doktor spielte Rüdiger Vogler. Die Kritik nahm den Film positiv auf, Marseille erscheine hier als »Babylon, in dem die Menschen ihren Ängsten und Zweifeln, ihren Hoffnungen und Illusionen nachjagen«, lediglich »das absurde Spiel zwischen Traum und Realität« sei im Film schwer umzusetzen (Nehring 1993, 231).
Katharina oder: Die Kunst, Arbeit zu finden (1995) Unter dem Titel Der sogenannte Rendel veröffentlichte die Baseler National-Zeitung 1940 eine Erzählung von Anna Seghers. Diese beruhte auf einer Begebenheit, die sich 1931 in Mainz zugetragen hatte und mit der sich Seghers nachweislich seit 1933 beschäftigt hatte. Eine Frau mit zwei Kindern, Maria Einsmann, hatte sich nach dem Tod ihres Mannes mit dessen Papieren und Kleidern einen Arbeitsplatz verschafft. Seghers wollte damals den Stoff auch verfilmen lassen und traf sich zu diesem Zweck mit dem Filmemacher Hans Richter sowie dem Drehbuchautor Friedrich (Frederick) Kohner. Es sind drei unterschiedliche Entwürfe zu einem Filmexposé erhalten (vgl. Schlenstedt WA II/2, 406). Der Film, der den Titel Hier gibt’s keine Katharina tragen sollte, kam allerdings nicht zustande. 1989 kam die Mainzer Filmemacherin Barbara Trottnow bei einer Ausstellung über Hans Richter in Frankfurt a. M. mit dem Stoff und dem Originaldrehbuch der Katharina-Geschichte in Berührung. Gleichzeitig stieß sie auf die wahre Geschichte der Maria Einsmann und entdeckte außerdem Parallelen zum Leben von Anna Seghers, die im Exil ebenfalls die Hauptlast bei der Erziehung der beiden Kinder Ruth und Pierre sowie der Bewältigung des Alltags trug. Im Hinblick auf die veränderte Lebenssituation von Frauen nach 1989/90 in Arbeit und Familie entstand daraus ein Film, der, weitgehend an Original-Schauplätzen in Mainz und der Region gedreht, 1995 fertig gestellt und am 10.7.1996 im ZDF gezeigt wurde (vgl. Trottnow 2008, 150). Drei Ebenen prägen den kunstvoll-komplexen Film: die dokumentarische, die semi-dokumentarische sowie die fiktive. Auf der dokumentarisch-historischen Ebene erzählen die Kinder von Anna Seghers, Ruth und Pierre Radvanyi, vom Alltag des Exils. Dokumentarisch-aktuell erscheint das Schicksal einer realen Frau aus Thüringen, Gudrun Selent, die über die Schwierigkeiten berichtet, als alleinerziehende Mutter das Leben zu bewältigen. Auf der semi-dokumentarischen Ebene geht der Film auf das Schicksal von Maria Einsmann zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 ein und auf der fiktiven Ebene behandelt Trottnow den Katharina-Stoff der Seghers Erzählung aus dem Jahr 1940. Trottnow bedient sich in diesem Film – ganz im Sinne ihres Vorbilds Heinrich Breloer – des Genres der »Doku-Fiktion« (Ursula Elsner, zit. nach Trottnow 2008, 154), vermeidet allerdings fiktive Nachinszenie-
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rungen (Re-Enactment) und gestaltet die Übergänge so, dass die verschiedenen Ebenen glaubwürdig miteinander verbunden werden.
Der gerechte Richter (2000) Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers verfilmte der Regisseur Torsten C. Fischer nach einem Drehbuch von Peter Steinbach den Text von Anna Seghers, der schon 1957/58 entstanden war, aber erst im Jahr 1990 veröffentlicht wurde (s. Kap. 29). Vor dem Hintergrund des Prozesses um Walter Janka 1957 (s. Kap. 1) geht es in der Erzählung von Seghers um einen jungen Richter, der sich weigert, einen angeblichen Hochverräter zu verurteilen. Daraufhin wird er selbst verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Der Film, der das Geschehen in die frühen 1950er Jahre verlagert, wurde am 16.11.2000 im Südwestrundfunk (SWR) ausgestrahlt. Die Kritik sah in dem Film eine mutige Parabel, die trotz zeitgeschichtlicher Bezüge zur damaligen DDR ein Gleichnis auf alle politischen Systeme sei. Es gehe in dem Film um Macht und Willkür, aber auch um Gerechtigkeit und Wahrheit. Gelobt wurde auch die filmische Umsetzung. In ruhigen Einstellungen und langsamen Kamerafahrten werde – auch durch spärliche Lichteinfälle – eine düstere, bedrückende und bedrohliche Atmosphäre geschaffen.
Transit (2018) In einem Interview berichtete der deutsche Regisseur Christian Petzold, dass er sich immer wieder mit seinem 2014 verstorbenen Kollegen Harun Farocki über den Roman von Anna Seghers ausgetauscht habe. Beide seien sie an der Thematik der »verlorene[n] Heimat« (Petzold 2018, 7) interessiert gewesen, die sie in diesem Roman verkörpert sahen. In einem ersten »Treatment« hatten sie sich noch gemeinsam an einer filmischen Umsetzung versucht. Der Film, der schließlich nach dem Tod Farockis entstand, trägt den Untertitel »Frei nach dem Roman von Anna Seghers«. Obwohl Filme im Verhältnis zu ihren literarischen Vorlagen eigenständige Kunstwerke sind, ist es doch legitim, auf drei entscheidende Unterschiede zwischen Roman und Film hinzuweisen. Dabei geht es zum einen um das Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Petzold, der zunächst einen rein historischen Film drehen wollte, erkannte, dass er die aktuel-
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le Problematik der weltweiten Fluchtbewegungen nicht ausblenden kann. Er ließ deshalb die Handlung, die im Roman im Jahr 1940 angesiedelt ist, im heutigen Marseille spielen, in einem »Transitraum zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart« (ebd.). Dieser zunächst irritierende Ansatz wurde von der Kritik überwiegend gelobt als »Verfremdungseffekt«, mit dem Petzold das »Vergangene vergegenwärtigt und die Gegenwart historisiert« (Kothenschulte 2018). Der zweite Aspekt betrifft die Rolle des Erzählers. Im Roman ist es ein namenloser Ich-Erzähler, der aus seiner Perspektive über die Ereignisse berichtet. Vorbild für Petzold war hier der Film Barry Lyndon von Stanley Kubrick, in dem der Erzähler seine Figur betrachte und über sie berichte (vgl. Petzold 2018, 9). Im Film Transit heißt die von Franz Rogowski gespielte Hauptfigur Georg, vielleicht eine Reminiszenz an Georg Heisler aus dem Roman Das siebte Kreuz. Der eigentliche Erzähler, das erfahren wir erst relativ spät im Film, ist der von Matthias Brandt gespielte Barkeeper des Mont Ventoux, der Kneipe, in der sich die Flüchtlinge häufig zu Pizza und Rosé treffen. Der dritte Unterschied zwischen Roman und Film betrifft den Schluss. Sowohl bei Seghers als auch bei Petzold bleibt die Hauptfigur am Ende in Marseille und verzichtet auf die (mögliche) Flucht. Die Motive sind allerdings sehr unterschiedlich. Im Roman schließt sich der Erzähler dem politischen Kampf gegen die Nationalsozialisten an. Diese Option fehlt im Film. Er reduziert den Schluss im Wesentlichen auf die Liebesgeschichte zwischen Georg und Marie (Paula Beer). Georg will auf sie warten, »bis Marie aus dem Reich der Toten zurückkommt« (Petzold 2018, 11). Der Film lief im Februar 2018 auf der 68. Berlinale, ging allerdings bei der Preisverleihung leer aus. Im Kino war er durchaus erfolgreich, wurde auf vielen Festivals gezeigt, und Petzold erhielt unter Bezug auf den Film im Jahr 2018 den Julius-Campe-Preis. Literatur
Agde, Günter: Kleine Geschichten groß erzählen: Respektvoll, unentschlossen, gut gemeint – Novellen von Anna Seghers in Verfilmungen des DDR-Fernsehens. In: Argonautenschiff 17 (2008), 89–101. Beicken, Peter: ›The Seventh Cross‹ and Fred Zinnemann’s Cinematic Adaption. In: Helen Fehervary/Christiane Zehl Romero/Amy Kepple Strawser (Hg.): Anna Seghers – The Challenge of History. Leiden/Boston 2019, 78–93. Berkessel, Hans: ›Das siebte Kreuz‹ als Anti-Nazi-Film? Fred Zinnemanns Hollywood-Verfilmung zwischen spannender Fluchtgeschichte und realistischer Gesellschaftsanalyse. In: Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945: informationen 84 (2016), 19–23.
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VI Rezeption und Wirkung
Berkessel, Hans: ›Der Kopflohn‹. Not, Gewalt und Flucht am Vorabend der NS-Diktatur. In: Argonautenschiff 25 (2017), 71–81. Diezel, Peter: Erwin Piscators Film ›Aufstand der Fischer‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 68–79. Elsner, Ursula: ›The Seventh Cross‹: »Der beste aller Antinazi-Filme« – Fred Zinnemanns Verfilmung des Romans ›Das siebte Kreuz‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 163– 173. Fehervary, Helen: Die Seelenlandschaft der Netty Reiling, die Stimmen der Jeanne d’Arc und der Chiliasmus des Kommunarden Laszló Radványi. In: Argonautenschiff 5 (1996), 118–136. Fehervary, Helen: Landschaften eines Aufstands – und wie sie sich bewegen! Erwin Piscators und Thomas Langhoffs Verfilmungen von Anna Seghers’ ›Aufstand der Fischer von St. Barbara‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 80–88. Kothenschule, Daniel: Gespielte Wahrheit. In: Frankfurter Rundschau, 5.5.2018. Müncheberg, Hans: Adaptieren heißt nicht nur: anpassen ... Ein Arbeitsbericht. In: Argonautenschiff 2 (1993), 233– 237. Nehring, Alfried: Dafür sind Kinos da. Anna Seghers und der Film. In: Argonautenschiff 2 (1993), 218–232. Petzold, Christian: Interview. In: ›Transit‹. Ein Film von Christian Petzold. Frei nach dem Roman von Anna Seghers. Programmheft. Berlin 2018, 7–14.
Schneider, Rolf: Nachdenken über A. S. In: Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Hg. von Kurt Batt. Berlin/Weimar 1975, 245–253. Seghers, Anna: Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Tagebuch 1924/1925. Berlin/Weimar 2003. Stephan, Alexander: Anna Seghers: ›Das siebte Kreuz‹. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin 1997. SWR-Archiv, Briefwechsel zu ›Der Kopflohn‹ (in Kopien an H. W. O.). Trottnow, Barbara: Katharina oder: Die Kunst, Arbeit zu finden. Film nach Anna Seghers: ›Der sogenannte Rendel‹. In: Argonautenschiff 17 (2008), 149–162. Wallace, Ian: »Andre Lösung Quatsch«. Anna Seghers und der Film ›Die Toten bleiben jung‹. In: Argonautenschiff 5 (1996), 74–86. ZDF Presse Journal, 25.10.1985. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers und »ihre« Filme. In: Argonautenschiff 17 (2008), 53–67. Zinnemann, Fred: »... eine Art von Zivilcourage, die ich sehr bewundere.« Fred Zinnemann über seinen Film ›The Seventh Cross‹. Ein Gespräch mit Alexander Stephan. In: Argonautenschiff 2 (1993), 211–217.
Hans-Willi Ohl
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56 Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a. Das Hörspiel Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 war eine Auftragsarbeit des Flämischen Rundfunks in Antwerpen, die 1937 gesendet wurde; erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Internationale Literatur 5 (1937), 74–90. Anna Seghers greift einen literarisch vielbeachteten historischen Stoff in aktualisierender Absicht auf. Jeanne d’Arc, die französische Nationalheilige, wird präsentiert als Widerstands- und Märtyrerfigur; Hilzinger (2012) spricht von einem »Beispiel für antifaschistischen Patriotismus«. Ob Seghers Die Heilige Johanna der Schlachthöfe (1932) von Brecht und Elisabeth Hauptmann kannte, die 1932 im Radio gesendet wurde, ist nicht überliefert (vgl. Hilzinger 2012, 56 f.). Das Buch Procès de condamnation de Jeanne d’Arc: d’après les textes authentique des procèsverbaux officiels (1884) befindet sich in Anna Seghers’ Privatbibliothek. Anders als viele der Heldenlegenden, die sich um das junge Mädchen aus Domrémy ranken, ist das Hörspiel (51:35) ganz auf den Inquisitionsprozess in Rouen 1431 fokussiert, in dem die Angeklagte am Ende zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wird. In den einzelnen, nicht eigens untergliederten Szenen tritt die kleine Jeanne gewitzt und rebellisch auf: »Ich stehe für alles ein, was ich tue« (Seghers 1985, 90). Selbstbewusst trotzt sie der männlichen Übermacht, den Wächtern und den kirchlichen Richtern, deren Legitimität sie nicht anerkennt. Von den Stimmen im Volk wird sie bewundert. Johanna hatte durch die Befreiung Orleans’ 1429 den 100-jährigen Krieg zwischen England und Frankreich zugunsten ihrer Landsleute entschieden und Karl VII. in Reims zur Krönung verholfen. Während Schiller in seiner ›romantischen Tragödie‹ Die Jungfrau von Orleans (1801) die Gewissensqualen seiner Protagonistin in Szene setzt, um sie am Ende als Nationalheldin zu verklären, damit gleichsam ihre Heiligsprechung am 16. Mai 1920 vorwegnehmend (eine Rehabilitation hatte bereits 1456 stattgefunden), hält sich Anna Seghers streng an die Prozessakten und -protokolle, die im Dokumenten-Anhang der Leipziger Reclam-Ausgabe ihres Textes auszugsweise abgedruckt sind (vgl. Seghers 1985, 113–150). Hier wird auch durch viele Film-Stills ein Bezug zu dem Stummfilm La Passion de Jeanne d’Arc (1928) von Carl Theodor Dreyer hergestellt, den Seghers kannte und schätzte. Ihr Hörspiel lässt sich als späteres ›Drehbuch‹ zum Stummfilm lesen (vgl. Elsner 2011, 139). Der mit ausdrucksstarken Bildern – oft Nahaufnahmen der Personen und ihrer Gesichter – arbeiten-
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de Stummfilm folgt einer expressionistischen Ästhetik mit typisierten Figuren. Der Leidensweg von Jeanne d’Arc (gespielt von Maria Falconetti) rückt die Protagonistin in die Nähe zur Passion Christi. Diese Lesart nimmt auch Seghers auf. In ihrem Hörspiel sind allerdings die Stimmen der Heiligen, die Johanna zu ihrem außerordentlichen Handeln ermächtigen, von untergeordneter Bedeutung. Seghers rückt die Gewissensfreiheit ihrer Titelheldin in den Vordergrund, was sie zur Widerstandsfigur prädestiniert. Deshalb nennt Seghers ihr Hörspiel eine »optimistische Tragödie« (Hilzinger 2012, 62) – ein zwar widersprüchliches, aber für den sozialistischen Realismus wichtiges Genre –, weil trotz der Verurteilung die Moralität Jeannes ihr unerschütterliches, selbstloses Handeln, Vorbildfunktion besitzt. Seghers’ im Hörspiel re-inszenierter Prozess übt außerdem Kritik an der Institution der Kirche, deren angemaßter Autorität und intriganten Verstrickungen in politische Angelegenheiten. Auch der Krieg als ganzer wird kritisiert (vgl. Seghers 1985, 42). Insofern kann Jeanne d’Arc als Modell (nicht als Allegorie) für antifaschistischen Widerstand fungieren. Aktuell und mit den Mitteln des Rundfunks wendet sich Anna Seghers gegen die politischen Prozesse in Deutschland (vgl. Fehervary 1996, 125). Von heute aus kann das Hörspiel auch als Kommentar zu den Moskauer Schauprozessen (1936–1938) verstanden werden (vgl. ebd., 126), was jedoch Hilzinger aus biografischer Sicht, also im Hinblick auf den Entstehungskontext bezweifelt, da »man den ›Verratsschock‹ erst nach dem im August 1939 geschlossenen Nichtangriffsvertrag zwischen Hitler und Stalin annehmen« (Hilzinger 2012, 60 f.) kann. Seghers’ Hörspiel ist jenem Teil der Exilliteratur zuzuordnen, der deutsche Verhältnisse an historischen Stoffen thematisiert (vgl. Kerekes 1986). Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 passt zum Engagement der Autorin, das sie bereits in ihrer Rede »Vaterlandsliebe« auf dem ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris formulierte (vgl. KuW1, 63–68). Außerdem kann das Hörspiel als Hommage an das Exilland Frankreich gelesen werden, was aus Seghers’ späterer Rede auf dem zweiten deutschen Schriftstellerkongress 1950 in Berlin hervorgeht (vgl. KuW1, 76–84). Neben den Beschuldigungen, an einem Feiertag vor Paris gekämpft und den Tod des Franqué verschuldet (vgl. Seghers 1985, 59) sowie bei einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis das eigene Leben aufs Spiel gesetzt zu haben (Selbstmord ist eine Todsünde), wird Jeanne
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_56
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immer wieder vorgeworfen, dass sie Männerkleider trägt. Ihren Anklägern, die auch ihre Richter sind, entgegnet sie: »Was fragt Ihr nur immer nach dem Kleid? Das ist gar nichts. Das unwichtigste von allem« (ebd., 38). Im historischen Prozess war das einer der wichtigsten, zumindest notorisch wiederkehrenden Anklagepunkte. Im Hörspiel rechtfertigt sich Jeanne folgendermaßen: »Ich bat euch doch, bringt mich in ein Frauengefängnis. [...] Wer unter Männern lebt, muß Männerkleider anziehen. Diese englischen Soldaten haben mich beschimpft und an die Brust gegriffen« (ebd., 99). Mit der historischen Figur der Jeanne d’Arc rückt Anna Seghers eine starke Frau in den Mittelpunkt, was in ihrem Werk selten passiert. Das Motiv der Frau in Männerkleidern findet sich auch in der kurzen Erzählung Der sogenannte Rendel (1940), die auf einen authentischen Fall aus Mainz zurückgeht. In Seghers’ literarischer Bearbeitung übernimmt die Protagonistin Katharina Rendel die Rolle ihres verstorbenen Gatten. Sie arbeitet als Nachtwächter und zieht mit Maria zusammen, die sich als Gattin und Mutter der zwei Kinder ausgibt (vgl. Stephan 1993, 47; Stephan diskutiert den ›Fall Rendel‹ ausführlich: 56– 124). Dieser aus finanzieller Not entstandene Kleidertausch wird am Ende der Erzählung zurückgenommen, die Geschlechterrollen werden normalisiert. Gleichwohl: »Mitte der dreißiger Jahre zeigte Seghers [...] eine Vorliebe für ungewöhnliche, ja außergewöhnliche Frauen, die sich unter Männern in der Verkleidung zu erkennen geben« (Fehervary 1996, 123). Neben diesen innerhalb des Werks von Anna Seghers auffälligen Bezügen sind die weitere Rezeption des Hörspiels und seine theatralen Bearbeitungen wichtig. 1950 sendet der Ost-Berliner-Rundfunk eine Adaption unter der Regie von Herwart Grosse mit Margarethe Saalbach in der Hauptrolle, die bis 1953 achtmal wiederholt wird. 1959 produziert der NDR in Hamburg das Hörspiel mit Ella Büschi als Johanna (Regie: Hans Lietzau); Wiederholung am 28.11.2007. Bertolt Brecht und Benno Besson haben bereits 1952 das Hörspiel von Anna Seghers für das Berliner Ensemble im Deutschen Theater bearbeitet. Die Textvorlage wird jetzt in vierzehn Szenen mit ausführlichen Szenenüberschriften gegliedert. Zusätzlich werden kommentierende Volksszenen aufgenommen, wodurch sich das Setting und der Bedeutungsgehalt des Hörspiels verschiebt, nämlich auf einen »volkstümlichen Materialismus« (Spies 2012, 70) hin. In einem Brief an Brecht, verfasst nach der Aufführung der Jeanne d’Arc als Theaterstück, wünscht Anna Seghers, das Widerstandspotential ihrer Hauptfigur stärker he-
rauszustellen, also eine allzu große mitleidende Identifikation mit der Märtyrerin zu unterbrechen bzw. zu stören, durch V-Effekte etwa (vgl. Elsner 2011; Abdruck des Briefs: 145–148). Außerdem bittet Seghers darum, in der Inszenierung nachdrücklicher darauf hinzuweisen, dass dieser Prozess der Jeanne d’Arc nach historischen Dokumenten zusammengestellt wurde, ähnlich etwa wie Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod (1835). Damit unterstreicht sie die politische Wirkungsabsicht ihres Hörspiels. 1961 findet eine westdeutsche Uraufführung der Brecht-Bearbeitung in der Inszenierung von Peter Palitzsch statt, womit der Intendant der Städtischen Bühnen Ulm den Boykott bundesdeutscher Schauspielhäuser durchbricht, der seit dem Mauerbau über Stücke aus der DDR verhängt worden war (vgl. Brecht Premiere: Prozess in Ulm, 1961). Ob das 1967 von Palitzsch inszenierte Fernsehspiel (nach der Brecht-Bearbeitung von 1952) einen vergleichbaren kultur-politischen Eklat auslöste, ist nicht belegt. (Ich danke der ASG für die freundliche Bereitstellung des Materials zum Thema Hörspiele u. a. mediale Adaptionen.)
Kurzhörspiele Zwei weitere kurze Hörspiele von Anna Seghers sind nachgewiesen. Ein ganz langweiliges Zimmer (1938) vom Flämischen Rundfunk, Antwerpen gesendet und später in Neue Deutsche Literatur 21/1973 abgedruckt; es knüpft an die beiden Dialogstücke Die Entdeckung Amerikas. Gespräch mit einem kleinen Jungen, wörtlich nachgeschrieben (1931) und Wer war das eigentlich? Gespräch mit einem Kind über Lenin (1932) an (vgl. Hilzinger 2012, 63). Ein ganz langweiliges Zimmer, dieses »Hörspiel für Kinder« (Seghers 1973, 19), schildert eine Alltagsszene vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Mutter fordert ihren Sohn auf, sich selbst eine Geschichte zum Einschlafen zu erzählen. Da widerfährt dem Buben etwas Merkwürdiges: Nacheinander fordern ein fremder Junge von einer griechischen Insel, ein schwarzer Baumwollarbeiter aus Amerika, eine alte verhutzelte Bäuerin aus der Umgebung, zwei Bergarbeiter aus Schweden und dem Kaukasus sowie ein Flößer den Protagonisten auf, die Dinge aus seinem Alltag zurückzugeben, die sie unter Mühen hergestellt haben, die von ihm aber nicht geachtet werden. Am Ende ist der Bub froh, dass er ›seine Sachen‹ – einen Schwamm, sein Hemd, das Betttuch, die Nägel und das Holz – behalten darf. Mit diesem Hörspiel vermittelt Seghers den Kindern einen Einblick in den Pro-
56 Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a.
duktionskreislauf. So lernen sie den Wert der Dinge kennen und bekommen eine Vorstellung von den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen; das schließt auch die Kritik am Kolonialismus ein. Der Text ist als Spielvorlage für Schulklassen und Pioniergruppen gedacht (vgl. ebd., 19). Das Kurzhörspiel Die Stiefel (1949?) wurde nach Kriegsende geschrieben und ist eine Episode aus dem Roman Die Toten bleiben jung (vgl. Hilzinger 2000, 192 f.). Die Szene – ein Familiengespräch – spielt auf einem Bauernhof in Deutschland kurz nach dem Einmarsch der Russen. Der Sohn Hans, der im Krieg einen Arm verloren hat, erzählt seiner Mutter, dass er während der Besetzung von Odessa einen russischen Saboteur nicht verraten hat. Da man den Gesuchten nicht finden konnte, hat man eine bestimmte Anzahl unschuldiger Personen der Zivilbevölkerung erschossen. »Es war Befehl« (Seghers 1969, 13). Dieses Hörspiel behandelt ein moralisches Dilemma, in das man durch den Krieg geworfen wird (s. Kap. 15). Anna Seghers hat dieses Thema wiederholt behandelt; vgl. Der Mann und sein Name (1952) oder auch später in Der gerechte Richter (geschrieben 1957/58; s. Kap. 29). Diese Problematik war bereits in das Hörspiel Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 eingeflossen (vgl. Elsner 2011, 143). Literatur
Brecht Premiere: Prozess in Ulm. In: Der Spiegel 38, 13.9.1961, https://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-43366360.html (19.1.2019). Elsner, Ursula: »Unter keinen Umständen darf der Henker so
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überwiegen...«. Jeanne d’Arc als Figur des Widerstands. In: Argonautenschiff 20 (2011), 135–150. Fehervary, Helen: Die Seelenlandschaft der Netty Reiling, die Stimmen der Jeanne d’Arc und der Chiliasmus des Kommunarden László Radványi. In: Argonautenschiff 5 (1996), 118–136. Hilzinger, Sonja: Anna Seghers. Stuttgart 2000. Hilzinger, Sonja: Gegen die Besatzer im eigenen Land. Ein Beispiel für antifaschistischen Patriotismus. Anna Seghers’ Hörspiel ›Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431‹. In: Dies. (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Auf den Schlachthöfen der Geschichte: Jeanne d’Arc und ihre modernen Gefährtinnen bei Bertolt Brecht, Anna Seghers, Sarah Kane und Stieg Larsson. Berlin 2012, 53–64. Kerekes, Gabor: Anna Seghers’ Hörspiel ›Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431‹. In: Germanistisches Jahrbuch DDR-UVR 5 (1986), 45–56. Seghers, Anna: Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431. Ein Hörspiel (1937). Leipzig 31985. Seghers, Anna: Ein ganz langweiliges Zimmer (1938). In: Neue Deutsche Literatur 21/5 (1973), 18–25. Seghers, Anna: Die Stiefel (1949?). In: Neue Deutsche Literatur 17/5 (1969), 10–13. Spies, Bernhard: Die Bestellung eines neuen Volks. Brechts Bearbeitung von Seghers’ Hörspiel ›Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431‹. In: Sonja Hilzinger (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Auf den Schlachthöfen der Geschichte: Jeanne d’Arc und ihre modernen Gefährtinnen bei Bertolt Brecht, Anna Seghers, Sarah Kane und Stieg Larsson. Berlin 2012, 65–76. Stephan, Alexander: Etwas Böses ist geschehen. Das Mädchen hat wieder Männerkleidung angezogen. Frauentexte von Anna Seghers aus der Zeit des Exils. In: Ders.: Anna Seghers im Exil. Bonn 1993, 42–55.
Carola Hilmes
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VI Rezeption und Wirkung
57 Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze Anna Seghers und die Musik – das ist kein weites Feld. Gedichte, die hätten vertont werden können, hat sie keine geschrieben, Dramen, die als Vorlage einer Oper hätten dienen können, ebenfalls nicht. Und auch die Romane haben in der Musikgeschichte mit einer Ausnahme keine Spuren hinterlassen. In den Jahren 2009–2013 arbeitete der Schweizer Komponist Marc Kilchenmann an einer Anna Seghers- Tetralogie nach dem Roman Das siebte Kreuz. Die vier kurzen Stücke für (Travers-)Flöte und Streichquartett wurden im Jahr 2013 in Deutschland und der Schweiz in Kombination mit Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer erstaufgeführt (vgl. http://www.marc kilchenmann.ch). Das Verhältnis von Romanvorlage und Musik erläutert Kilchenmann in einem Interview: »Die entstandenen vier kammermusikalischen Stücke wollen nicht den Roman adaptieren, sondern versuchen, die von Seghers gestalten sozialen Kontrapunkte abzubilden. Damit meine ich zum einen, wie kunstvoll Anna Seghers die verschiedenen Lebenswege zeitgleich ablaufen lässt, zum anderen, wie sie die einzelnen Figuren zeichnet« (Kilchenmann 2013). Eine weitere Komposition, die auf demselben Roman basiert, ist Hans Werner Henzes Sinfonia N. 9 für gemischten Chor und Orchester. Sie nimmt eine Sonderstellung im Œuvre des Komponisten ein, nicht nur, weil die Zahl neun in der deutschen Sinfonik eine bedeutungsschwangere Zahl ist, sondern auch, weil der Komponist selbst das Werk als »summa summarum [s]eines Schaffens« (Henze 1997, o. S.) bezeichnet hat. Die knapp einstündige siebensätzige Sinfonie wurde im Rahmen der Berliner Festwochen am 11.9.1997 von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Ingo Metzmacher uraufgeführt und bisher dreimal auf CD eingespielt (EMI 5565 132; NYP 0103; WER 6722 2). Ihre Entstehungsgeschichte reicht zurück bis ins Jahr 1987. Der erste Hinweis findet sich in der Autobiographie Henzes, in der er am Ende desselben Jahres notiert: »9. symph: 7. Kreuz« (Henze 1996, 556). Da arbeitete er gerade an seiner siebten Sinfonie und hatte seine achte noch nicht einmal angefangen. Am 5.1.1995 nahm er die Arbeit am Particell auf, am 30.3.1997 schloss er die Reinschrift der Partitur ab. Henzes Sinfonie steht zum einen in der Tradition der großen Chorsinfonien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (Ludwig van Beethoven, Felix Men-
delssohn Bartholdy, Gustav Mahler), unterscheidet sich von diesen aber dadurch, dass Henze keine Solostimmen einsetzt bzw. der Chor in allen Sätzen präsent ist. Zum anderen wird die Sinfonie in eine Reihe mit antifaschistischen Kompositionen wie Hanns Eislers Deutsche Sinfonie sowie Werken von Paul Dessau und Luigi Nono (vgl. Hanheide 1998) gestellt. Dass der Antifaschismus »der entscheidende Anknüpfungspunkt« (Vennefrohne 2005, 258) an die Romanvorlage ist, darauf verweisen die Widmungen bei Seghers (»Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet«; SK, 5) und Henze (»Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet«; Henze 2000, o. S.). Während Seghers den Roman allerdings während ihres Pariser Exils in den Jahren 1937–1939 schreibt, setzt sich Henze in einer Zeit des politischen Umbruchs mit seiner Vergangenheit auseinander, verarbeitet aber durchaus Persönliches: »Meine frühen und trüben Erfahrungen mit dem eigenen Land wollen und müssen in dieser Chorsinfonie ausgesprochen und geschildert werden« (Henze 1996, 592). Den Text für die Sinfonie entnahm Hans-Ulrich Treichel, Henzes Librettist von Opern wie Das verratene Meer, Venus und Adonis und Gogo No Eiko, dem Roman allerdings nicht direkt. »Die sieben Texte [...] beziehen sich allesamt auf Anna Seghers’ Roman und auf das, wovon dieser Roman handelt, ohne ihn doch wortwörtlich zu zitieren« (Treichel 1997, o. S.). Dass die Sinfonie aus sieben Sätze bestehen sollte, stand bereits vor der Arbeit am Text fest (vgl. Vennefrohne 2005, 224), nicht nur weil die Zahl Sieben für den Roman sowohl inhaltlich (sieben Kreuze) als auch formal (sieben Kapitel) von großer Bedeutung ist, sondern auch weil sie »metrisch, rhythmisch und formal für Henzes Spätwerk bedeutsam« (Müller-Wieland 2002, 91) ist. Die sieben Abschnitte folgen nicht der Chronologie der Handlung des Romans, sondern stellen Szenen bzw. Situationen dar, Treichel spricht auch von ›Stationen‹. Die Satzüberschriften (1. ›Die Flucht‹, 2. ›Bei den Toten‹, 3. ›Bericht der Verfolger‹, 4. ›Die Platane‹, 5. ›Der Sturz‹, 6. ›Die Nacht im Dom‹, 7. ›Die Rettung‹) lassen aber gleichwohl eine Tendenz bzw. eine Richtung erkennen: von der Flucht zur Rettung. In allen sieben Sätzen der Sinfonie übernimmt der Chor die Rolle des artikulierten Ichs, nur im vierten und sechsten Satz wechselt er zu einem ›Wir‹. Dass der gemischte Chor von individualisierten Einzelschicksalen singt, erläutert Henze in einem Interview: »Es geht mir um die Identifikation mit den Personen. Jeder kennt doch Zustände von Verfolgtwerden, das
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_57
57 Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze
gehört sozusagen zum seelischen Haushalt« (zit. nach Schulz 2009, 7). Das Ich ist allerdings kein konsistentes. Der erste Satz (›Die Flucht‹) exponiert das Thema Flucht aus der Perspektive eines Flüchtenden. Nach einleitenden, syntaktisch zusammenhangslosen Gedanken erinnert sich der Flüchtende an gemeinsame Zeiten mit seinen Verfolgern, bevor die Flucht weitergeht. Hervorgerufen werden diese Erinnerungen durch die Musik aus einem Wirtshaus, die an Alban Bergs Wozzeck denken lässt. Im zweiten, langsamen Satz (›Bei den Toten‹) berichtet der Flüchtende in einer träumerischen Sequenz vom Besuch im »Schattenreich« (Treichel 1997, o. S.) und den Toten, deren Gesichter »weiß wie Papier und in Fetzen« (Treichel 2009, 17) waren. »Die VierteltonGlissandi der Singstimmen am Ende des Satzes, die das Wehklagen in Töne setzen, verleihen der Musik etwas Sinistres und Amorphes, als sei sie in eine Art Verwesungszustand übergegangen« (Schulz 2009, 9). Im Kontrast dazu steht der dritte, mit knapp zwei Minuten kürzeste Satz (›Bericht der Verfolger‹) der Sinfonie, in dem die Verfolger staccatoartig von Verhaftungen berichten und die Musik der Schlaginstrumente an die »Geräusche einer (Polizei-)Büromaschine erinnern« (Henze 2000, 51) sollen. Der vierte, zweigeteilte Satz (›Die Platane‹) stellt die Männer- den Frauenstimmen gegenüber. Diese verkörpern den Baum, singen von dessen Schönheit, während die Männer mit Äxten heranrücken, um ihn zu fällen. Das Orchester bäumt sich dagegen auf und erstirbt schließlich. Im fünften Satz (›Der Sturz‹) spricht ein genau zu identifizierendes Ich. Der Artist Belloni springt im Anschluss an eine Verfolgungsjagd mit den Worten: »ich, Belloni, der verwundete Adler, / öffne die Schwingen und fliege noch einmal / über mein einziges Land« (Treichel 2009, 19), vom Dach eines Hauses. Unmittelbar danach beginnt ein mit ›gran canto‹ überschriebener Streicherhymnus, der die Flucht überhöht, ja die Rettung des letzten Satzes vorwegnimmt. Der sechste Satz (›Die Nacht im Dom‹) ist mit über 400 Takten der umfangreichste einer 1036 Takte umfassenden Sinfonie. Der ›Flüchtende‹ des ersten Satzes tritt in eine Art Dialog mit den ›Toten‹ und den ›Heiligen‹, die von einem zwölfstimmigen Kammerchor gesungen werden. Der vom ›Flüchtenden‹ angesprochene Christus aber bleibt
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stumm. Ein orchestrales Klagelied beendet diesen Satz. Der abschließende siebte Satz (›Die Rettung‹), in dem kein artikuliertes Ich mehr spricht, vielmehr »ein Zustand erschöpfter Befreiung« (Schulz 2009, 11) geschildert wird, ist ein ›Andante cantabile‹ ohne Schlaginstrumente. Die fehlende Bereitschaft zur Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus war einer der Gründe, warum Henze in den 1950er Jahren nach Italien zog; mit seiner Neunten hat er 1997 ein musikalisches antifaschistisches Manifest geschrieben. Literatur
Hanheide, Stefan: Hans Werner Henzes ›Sinfonia N. 9‹ und die Geschichte antifaschistischer Komposition. In: Sabine Giesbrecht/Stefan Hanheide (Hg.): Hans Werner Henze. Politisch-humanitäres Engagement als künstlerische Perspektive. Osnabrück 1998, 19–54. Henze, Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt a. M. 1996. Henze, Hans Werner: [Zur Uraufführung der ›Sinfonia N. 9‹]. In: Programmheft der 47. Berliner Festwochen 1997 vom 11. September 1997, o. S. Henze, Hans Werner: Sinfonia N. 9 [Studienpartitur]. Mainz u. a. 2000. Kilchenmann, Marc: Anna Seghers’ ›Das siebte Kreuz‹ konzertant. Ein Gespräch mit dem Schweizer Komponisten Marc Kilchenmann. In: Neues Deutschland, 28.5.2013. Müller-Wieland, Jan: Henzes »Enkel« – im Fokus des Widerständigen. Ansichten zu Henzes 9. Sinfonie. In: HansKlaus Jungheinrich (Hg.): Im Laufe der Zeit. Kontinuität und Veränderung bei Hans Werner Henze. Symposion, 8. und 9. September 2001, Alte Oper Frankfurt am Main. Mainz 2002, 89–98. Schulz, Thomas: »Eine deutsche Wirklichkeit«. Zu Hans Werner Henzes ›Sinfonia N. 9‹. In: Booklet zur Aufnahme von Henzes ›Sinfonia N. 9‹, Wergo 6722 2. Mainz 2009, 3–11. Treichel, Hans-Ulrich: Notiz zum Text. In: Programmheft der 47. Berliner Festwochen 1997 vom 11. September 1997, o. S. Treichel, Hans-Ulrich: [Text zu Hans Werner Henzes ›Sinfonia N. 9‹]. In: Booklet zur Aufnahme von Henzes ›Sinfonia N. 9‹, Wergo 6722 2. Mainz 2009, 16–22. Vennefrohne, Benedikt: Die Sinfonien Hans Werner Henzes. Entstehungsgeschichtliche und werkanalytische Untersuchungen zu einer Sinfonie-Ästhetik Henzes. Hildesheim/Zürich/New York 2005.
Bernd Zegowitz
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VI Rezeption und Wirkung
58 Übersetzungen Die Übersetzungen der Werke von Anna Seghers wurden bisher nicht systematisch erforscht bzw. katalogisiert. Grundlage dieser ersten Bestandsaufnahme ist zum einen eine umfangreiche Liste der im Anna-Seghers-Museum in Berlin-Adlershof vorhandenen übersetzten Einzel-Ausgaben, die dort teilweise in verschiedenen Auflagen vorliegen. Zum anderen führt der Aufbau Verlag, in dem die Werke von Anna Seghers seit 1946 erscheinen, Listen mit Lizenz-Übersetzungen, die sich aber nur auf die drei Texte Aufstand der Fischer von St. Barbara, Das siebte Kreuz und Transit konzentrieren. Die Erfassung endet zudem im Jahr 2014. Ergänzt wurden diese Materialien deshalb durch weitere Recherchen. Diese Unterlagen erlauben einige Thesen über die Art und den Umfang der breiten und andauernden internationalen Rezeption der Werke von Seghers.
Ein Überblick Die Werke von Seghers sind bisher in 42 Sprachen übertragen worden. Die Tatsache, dass die Texte selbst in scheinbar so weit entfernten Kulturkreisen wie China, Japan, Korea, der Mongolei und Vietnam auf Interesse stoßen, zeigt die universelle Bedeutung ihrer Themen und Aussagen. So sind die ersten Übersetzungen schon ab 1929 entstanden (Aufstand der Fischer von St. Barbara), die neueste Übersetzung ist 2020 in Frankreich (Das siebte Kreuz) erschienen. Bei der Betrachtung der Übersetzungen und der vorhandenen Ausgaben nach 1945 liegen die ehemaligen sozialistischen Länder auf den vorderen Plätzen. Es dominiert die Sowjetunion, genauer gesagt die RFSSR (Russland), gefolgt von der ČSSR, Polen und Ungarn. Zu diesem Kreis gehören weiterhin Länder wie China, Vietnam, Kuba, die Mongolische Volksrepublik, Jugoslawien und Albanien, in denen allerdings – im Vergleich zu den Ländern des ehemaligen Warschauer Vertrags – nur wenige Titel erschienen sind. China z. B. blickt auf eine Seghers-Rezeption zurück, die bis in das Jahr 1944 (erste Übersetzung des Romans Das siebte Kreuz) reicht (vgl. Zhang Fan 2011, 306). Schaut man nach Westeuropa und nach Amerika, so scheint man zunächst vor allem in Italien, Frankreich und den Niederlanden am Werk von Seghers besonders interessiert gewesen zu sein. Die USA und Kanada stehen erst an vierter Stelle, wenngleich insbesondere die englischen Übersetzungen eine große Wirkung
entfalteten, weil sie teilweise als Grundlage für weitere Übersetzungen z. B. in den skandinavischen Ländern verwendet wurden. Von den südamerikanischen Ländern sind Mexiko, Argentinien und Brasilien vertreten. In Bezug auf weitere Länder ragt Japan heraus. Dort wurden allerdings auch viele Werke von japanischen Verlagen im deutschen Original veröffentlicht. Bei den übersetzten Werken liegt der Roman Das siebte Kreuz mit weitem Abstand an der Spitze. Zwischen 1942 und 2020 wurde der Roman in mehr als 30 Sprachen übersetzt und in ca. 40 Ländern publiziert. Es folgen die Romane Transit, Die Toten bleiben jung, Aufstand der Fischer von St. Barbara, Die Rettung, Der Kopflohn, Die Entscheidung, Das Vertrauen, Der Weg durch den Februar und Die Gefährten. Viele der Erzählungen von Anna Seghers erschienen in diversen Anthologien und Erzählbänden. Die zwischen 1945 und 2017 am häufigsten übersetzte Erzählung ist der in Mexiko entstandene Text Der Ausflug der toten Mädchen. Die Betrachtung der zeitlichen Phasen, in denen Seghers’ Werke im Ausland erschienen sind, zeigt folgende Ergebnisse. Vor 1950 ist die Zahl der Übersetzungen überschaubar, ab 1951 geht sie jedoch nach oben. In diesem Jahrzehnt (1951–1960) finden sich die meisten Übersetzungen und Ausgaben. Dies betrifft vor allem die Länder des Warschauer Vertrages, neben den schon genannten sind hier noch Übersetzungen in Bulgarien, Rumänien sowie den ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien, Estland, Georgien, Lettland, Moldawien, Tadschikistan sowie der Ukraine zu erfassen. Ab den 1960er und 1970er sowie den 1980er Jahren nimmt das Interesse ab. Die größte Veränderung erfolgt dann in den 1990er Jahren nach der Auflösung des Warschauer Vertrags. Für Russland zog 2004 der Literaturwissenschaftler Alexander W. Belobratow eine ernüchternde Bilanz. Nach seiner Einschätzung »sind nach 1990 der Name und die Bücher von Anna Seghers aus dem literarischen und kulturellen Umgang in Russland fast vollständig verschwunden« (Belobratow 2004, 46). Der Schwerpunkt der übersetzten Werke von Seghers verlagerte sich nach 1990 von den Ländern im Osten Europas nach Mittel- und Südeuropa (inkl. Türkei) bzw. in die USA.
Aufstand der Fischer von St. Barbara 1928 erschien im Kiepenheuer Verlag in Potsdam Seghers’ erster Roman Aufstand der Fischer von St. Barbara. Insgesamt war die internationale Resonanz auf
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_58
58 Übersetzungen
den Text sehr groß und so entstanden zwischen 1929 und 1937 Übersetzungen in zehn Sprachen (vgl. WA I/1.1, 159). Die englische Fassung (The Revolt of the Fishermen) stammte von der Amerikanerin Margaret Goldsmith. Das Buch erschien im Herbst 1929 im Londoner Verlag Elkin Matthews & Marrot. Im Vorwort schrieb die Übersetzerin, dass sie unter Rücksichtnahme auf den englischen Geschmack einige Änderungen vorgenommen habe. So hatte sie z. B. das Lied der Dirne Marie komplett gestrichen: »it might offend English taste« (zit. nach Fehervary WA, I/1.1, 141). Die amerikanische Ausgabe kam ein weiteres Jahr später (1930) bei Longmans, Green & Company in New York heraus. Ebenfalls 1929 erschien eine Übersetzung des Romans ins Niederländische im Verlag De Baanbreker in Den Haag. Autor war der Schriftsteller und Journalist Nico Rost, der seit den 1920er Jahre mit Anna Seghers gut bekannt war. Rost übertrug zwei weitere wichtige Werke von Anna Seghers ins Niederländische: Das siebte Kreuz sowie Transit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der Text wieder an Interesse und es sind zahlreiche Neuübersetzungen bzw. Ausgaben vor allem zwischen 1945 (Argentinien) und 1981 (Russland) entstanden (vgl. Fehervary WA I/1.1, 144).
Das siebte Kreuz Das am häufigsten übersetzte Buch, Das siebte Kreuz, erschien in der englischen Fassung bereits vor dem deutschen Original. The Seventh Cross, übersetzt von James A. Galston, kam am 23. September 1942 bei Little, Brown & Co. in Boston heraus. Galston hatte den Text erheblich gekürzt und viele politische Anspielungen, z. B. auf die Mitgliedschaft Georg Heislers und Franz Marnets in der Kommunistischen Partei, getilgt. Seghers kommentierte die Übersetzung so: »mir scheint die Übersetzung zufriedenstellend zu sein. Zu einigen Dingen hätte ich mein Einverständnis nicht gegeben, wenn ich sie im voraus gekannt hätte. Aber aus irgendeinem Grund war der Verlag der Meinung, daß es nicht nötig sei, mit mir Rücksprache zu halten« (zit. nach Stephan 1997, 332). 1987 (Monthly Review Press, New York) und 2004 (David R. Godine Publishers, Boston) erschienen Neuauflagen mit einem Vorwort von Kurt Vonnegut und einem Nachwort von Dorothy Rosenberg. Galston blieb der Seghers-Übersetzer in den USA. 1944 kam Transit heraus, 1950 Die Toten bleiben jung. Zusammen mit Minna E. Lieber,
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der Frau von Seghers’ amerikanischem Verleger Maxim Lieber, übersetzte er außerdem die Erzählung Ausflug der toten Mädchen unter dem Titel The School Excursion. Sie erschien noch vor der deutschen Erstausgabe 1945 in der Zeitschrift The Yale Review (vgl. American Imago 2017, 383). In den 1940er Jahren kamen in rascher Folge weitere Übersetzungen des Romans auf den Markt. So hatte der Schwede Nils Homberg die Übersetzung nach dem Englischen angefertigt, also die Änderungen von Galston übernommen. Diese Übersetzung stieß in Schweden auf großes Interesse, zumal Anna Seghers 1947 bei ihrer Rückkehr nach Deutschland den Weg über Stockholm genommen hatte. Eine neue Übersetzung durch Lars W. Frej erschien im Jahr 1978. Auch Sigurd Hoel hatte 1947 bei der norwegischen Ausgabe den Text von Galston zugrunde gelegt. Ulla Brandt wiederum hatte für die dänische Ausgabe (1946) die unvollständige schwedische Übersetzung von Homberg verwendet. Für die französische Übersetzung (La septième croix) zeichnete Fernand Delmas verantwortlich. Seghers hatte Delmas im Juni 1940 eine Kopie des Manuskripts ihres Romans Das siebte Kreuz zur Aufbewahrung gegeben, als die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzte. Er hatte es hinter der Fußleiste seines Arbeitszimmers versteckt und während der Zeit der deutschen Besatzung auf eigene Initiative ins Französische übersetzt (Radvanyi 2005, 39, 53, 112). Der Roman kam 1947 bei Gallimard heraus. Seghers sah die Übersetzung und vor allem die Werbung durch den Verlag in einem Brief an Vladimir Pozner vom 23. März 1971 kritisch: »Der alte Delmas ist inzwischen gestorben, Du kennst vielleicht seinen Sohn, der, glaube ich, mit übersetzt hat. Gallimard hat ganz und gar nichts für das Buch getan, so dass viele überhaupt nicht wissen, dass es bei Euch [d. h. in Frankreich; H.-W. O.] erschienen ist« (WA V/2, 215). Seghers wünschte sich Claude Prévost als Übersetzer. Der hatte 1971 Aufstand der Fischer von St. Barbara (La révolte des pêcheurs de Sainte-Barbara) ins Französische übertragen. Zu einer Neuübersetzung des Romans Das siebte Kreuz ist es aber nicht gekommen. Noch 1985 erschien bei Gallimard eine Neuauflage in der Übersetzung von Delmas. Prévost hat 1972 die Karibischen Geschichten (Histoire des Caraïbes) übersetzt und 1977 die Werke (Œuvres) herausgegeben. Dort enthalten sind folgende Titel: Aufstand der Fischer von St. Barbara, acht Erzählungen aus Der Bienenstock, Die Toten bleiben jung (Les morts restent jeunes), Karibische Geschichten sowie zwei Erzählungen aus Die Kraft der Schwachen (La force des faibles). Die Übersetzungen
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VI Rezeption und Wirkung
stammen von Claude Prévost, Joël Lefebvre, Raymond Henry und Jeanne Stern (s. Kap. 53). Russland bot zwischen den 1950er und 1980er Jahren einen großen Absatzmarkt für die Texte von Seghers. Hier gab es die meisten Ausgaben ihrer Bücher in Auflagen, die im Einzelfall in die Hunderttausende gingen, insgesamt kann man sicher von Millionen verkaufter Bücher sprechen. In keinem Land haben so viele Einzelpersonen Texte von Seghers übersetzt. Die erste vollständige Ausgabe von Das siebte Kreuz (Sedmoy krest) kam in Russland im Jahr 1949 in der Übersetzung von Vera Stanewitsch heraus. Es gab über 40 weitere Übersetzerinnen und Übersetzer ihrer Werke, Vera Stanewitsch allerdings ist diejenige mit den meisten Übertragungen. Zwischen 1935 und 1961 übersetzte sie neben vielen Erzählungen fünf der großen Romane von Seghers: Der Weg durch den Februar, Die Rettung, Das siebte Kreuz, Die Toten bleiben jung (mit Natalia Kasatkina) und Die Entscheidung (mit Maria Abkina und Rosa Rosental). Auch Polen spielte zwischen 1950 und 1980 in der Seghers-Rezeption eine wichtige Rolle. Dies lag nicht zuletzt an der Übersetzerin Maria Wołczacka, die oft in Kooperation mit Janina Marecka viele Seghers-Titel ins Polnische übertrug. Wołczackas Übersetzung des Romans Das siebte Kreuz erlebte bis 1984 viele Neuauflagen. Die Übersetzerin übertrug u. a. Die Rettung (1950), Der Ausflug der toten Mädchen (1953), Erzählungen (1955), Die Entscheidung (1961), Die Kraft der Schwachen (1966) und Steinzeit. Wiederbegegnung (1981). In der ČSSR war das Werk von Seghers ebenfalls weit verbreitet. Das ist vor allem dem Schriftsteller und Übersetzer Rudolf Vápenik zu verdanken. Wie auch Nico Rost, Fernand Delmas und Jeanne Stern war er mit Anna Seghers befreundet bzw. gut bekannt. 1949 brachte sein Verlag Das siebte Kreuz heraus, das mehrere Auflagen erfuhr. 1950 folgten Transit, 1954 Der Bienenstock, 1976 Überfahrt und 1980 kam schließlich ein Band mit Erzählungen heraus. Wie in der ČSSR wurde auch in Ungarn das Werk von Seghers insgesamt mit großem Interesse aufgenommen. Schon 1949 übersetzte die Schriftstellerin und Übersetzerin Zsuzsa Thury den Roman Das siebte Kreuz ins Ungarische. Bis in die 1980er Jahre erlebte er viele Auflagen. 1955 brachte Zsusza Thury noch einen weiteren Band mit Erzählungen (Das Obdach, Die verlorenen Söhne, Die Tochter der Delegierten) heraus. Bereits vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 erschien eine Übersetzung des Romans ins Hebräische. 1945, als Palästina noch britisches Mandats-
gebiet war, brachte der Dachverband der sozialistisch ausgerichteten Kibbuz-Bewegung, Hakibbutz Ha’Artzi, das Buch heraus. Der Übersetzer des Romans Das siebte Kreuz war Mordechai Yavorovsky, der später den Nachnamen Lipson annahm. Im Jahr 1986 wurde der Roman von Zvi Arad neu übersetzt.
Transit Vor der deutschen Ausgabe erschienen hier drei Übersetzungen (auf Englisch, Spanisch und Französisch). 1944 kam der Roman in der Übersetzung von James A. Galston in Boston bei Little, Brown & Co. heraus. Ein Jahr danach folgte die Ausgabe für Großbritannien bei Eyre & Spottiswoode in London unter dem abweichenden Titel Transit Visa. Des Weiteren erschien ebenfalls in diesem Jahr in Mexiko (Editorial Nuevo Mundo) eine spanische Ausgabe. Die Übersetzung stammte von Angela Selke und Antonio Sanchez Barbudo (vgl. Roussel/Schulte 2007). Im April 1947 schließlich kam der Roman in der französischen Übersetzung von Jeanne Stern bei La Bibliothèque Française in Paris heraus. Jeanne Stern hatte zuvor schon 1936 Der Weg durch den Februar (Paris: Éditions sociales internationales) übersetzt. 1948 kam die Erzählung Das Ende (Konstanz: Curt Weller) hinzu, 1949 erschienen die Sagen von Artemis (Paris: Pierre Seghers) und 1968 Die Kraft der Schwachen (Paris: Éditions Albin Michel). Ergänzend seien noch die folgenden Transit-Übersetzungen aus den 1950er und 1960er Jahren genannt: Polen 1951 (Übersetzung: Wanda Jelicka), Italien 1953 (Mario Ramous), Russland 1961 (Liliana Lungin) und Ungarn 1963 (László Gyurko).
Übersetzungen nach 2000 In Frankreich trat die Germanistin Hélène Roussel 2001 durch ihre Übersetzung des im Nachlass aufgefundenen Frühwerks von Anna Seghers Jans muß sterben hervor. 2010 übersetzte sie Das Obdach, 2014 schrieb sie ein Nachwort zu Bruno Meurs Übersetzung der Drei Frauen aus Haiti sowie 2018 ein weiteres zu Bruno Meurs und Claire Merciers Übertragung von Überfahrt. 2020 erfolgte in Frankreich eine Neuübersetzung des Romans Das siebte Kreuz durch Françoise Barthélemy-Toraille. Der Schotte Douglas Irving veröffentlichte 2016 die erste englische Übersetzung des Romans Überfahrt bei Diálogos Books in
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New Orleans/USA unter dem Titel Crossing. A Love Story. 2019 ist vom gleichen Autor die Übersetzung von Drei Frauen aus Haiti (Three Women from Haiti) erschienen. 2013 legte die Übersetzerin Margot Bettauer Dembo eine neue englische Transit-Übersetzung im Verlag New York Review Books (New York) vor. Im Mai 2018 folgte im gleichen Verlag Das siebte Kreuz. Die Ausgabe für Großbritannien kam zeitgleich im Verlag Virago Press in London heraus. 2017 beschäftigte sich die Zeitschrift American Imago in einer Ausgabe mit den Texten von Seghers. Der Band enthält drei Neuübersetzungen von Helen Fehervary und Amy Kepple Strawser, die unter der Überschrift Three Tales from Dark Times zusammengefasst wurden. Es handelt sich um die erstmals 1946 im Aurora Verlag (New York) auf Deutsch erschienenen Texte Der Ausflug der toten Mädchen (The Excursion of the Dead Girls), Post ins gelobte Land (Post to the Promised Land) und Das Ende (The End). Während Der Ausflug der toten Mädchen (Yale Review/1945) und Das Ende (The Saturday Evening Post/1946) in Übersetzungen vorlagen, wird die Erzählung Post ins gelobte Land hier erstmals auf Englisch präsentiert (American Imago 2017, 281–382). 2019 erschienen drei weitere Erstübersetzungen ins Englische: die Erzählungen Das Obdach (Shelter) von Helen Fehervary und Das Schilfrohr (The Reed) von Amy Kepple Strawser sowie das erste Kapitel des Romans Die Gefährten (The Wayfarers) von Hunter Bivens (vgl. Fehervary 2019). Weitere wichtige Übersetzungen einzelner Romane sollen hier in einer kurzen Auswahl vorgestellt werden. Im Mittelpunkt steht das Früh- und Exilwerk von Anna Seghers. Aufstand der Fischer von St. Barbara erschien 2014 in Katalonien (Übersetzung: Adam Majó) und 2016 in Italien (Carlo Enrico Paolo Quaglia). Das siebte Kreuz kam 2007 in Spanien (Manuel Olasagasi Mujica), 2008 in Griechenland (Areti Kontogiorgi) und 2015 in Italien (Alessandra Petrelli) neu heraus. Transit wurde 2005 in Spanien (Carlos Fortea Gil), 2006 in Griechenland (Giōrgos Depastas), 2012 in den
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Niederlanden (Elly Schippers), 2013 in Israel (Dan Tamir), 2014 in Südkorea (Jae-hwang Lee) und 2016 in der Türkei (Ahmet Arpad) publiziert. Die späteren Romane finden demgegenüber weniger Beachtung. Die Toten bleiben jung kam 2010 in Italien (Federico Brambilla/Davide Rossi) und 2017 in der Türkei (Sevinç Altincekic) heraus, Überfahrt erschien 2013 in Brasilien (Daniel Martineschen). Für die beiden DDR-Romane Die Entscheidung (1959) und Das Vertrauen (1968) sind nach dem Jahr 2000 keine Übersetzungen nachweisbar. Literatur
American Imago. Psychoanalysis and the Human Sciences. Exile and Memory 74 (2017), 3. Belobratow, Alexander W.: Sonderbare Begegnungen. Anna Seghers’ Werk in Russland vor und nach 1989. In: Argonautenschiff 13 (2004), 45–56. Fehervary, Helen/Zehl Romero, Christiane/Kepple Strawser, Amy: Introduction. In: Helen Fehervary/Christiane Zehl Romero/Amy Kepple Strawser (Hg.): Anna Seghers – The Challenge of History. Leiden/Boston 2019, 1–6. Gürttler, Karin R.: Die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich II: Dokumentation. Bern 2004. Radvanyi, Pierre: Jenseits des Stroms: Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Berlin 2005. Roussel, Hélène/Schulte, Klaus: Exil, Textverfahren und Übersetzungsstrategie. ›Der Ausflug der toten Mädchen‹ von Anna Seghers im Prisma verschiedener Übertragungen, vornehmlich ins Französische. In: Exilforschung 25 (2007), 90–111. Rutschi Herrmann, Elizabeth/Huttenmaier Spitz, Edna (Hg.): German Women Writers of the Twentieth Century. Oxford [u. a.] 1978, 37–52. Stephan, Alexander: Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Berlin 1997. Vápenik, Rudolf: Zeitweise Begegnungen. Ein Übersetzer erlebt Anna Seghers. In: Sinn und Form 2 (1985), 269–277. Wołczacka, Maria: Meine Begegnung mit Anna Seghers. In: Kurt Batt (Hg.): Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Berlin/Weimar 1975, 159–163. Zhang Fan: Zu chinesischen Übersetzungen der Werke von Anna Seghers. In: Literaturstraße. Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur 12 (2011), 305–319.
Hans-Willi Ohl
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59 Anna-Seghers-Gesellschaft Die »Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V.« wurde am 5.10.1991 in Berlin gegründet. Ihr Zustandekommen verdankte sie dem Sohn und der Tochter der Autorin sowie engagierten Menschen im Osten und im Westen Deutschlands, die in den Turbulenzen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses dafür sorgen wollten, dass Leben und Werk von Seghers im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent bleiben und nicht in Vergessenheit geraten sollten. Sigrid Bock, eine der Initiatorinnen der Gesellschaft, formulierte das Anliegen so: »Und das Hauptziel der Anstrengungen: Ein neues differenziertes vielfältiges Seghers-Bild mit Pro und Contra sollte entstehen. Nicht preisen, nicht verurteilen, sondern verstehen [...], wie Anna Seghers gelebt hatte, wie sie zu ihrem Werk kam, warum sie dieses tat und schrieb und dieses nicht« (Bock 2011, 272). Die Gründung einer Gesellschaft war im Kontext der damaligen kulturpolitischen Debatten insgesamt und der um Seghers im Besonderen deshalb nicht nur ein Akt der »Vereinsgeschichte«, sondern auch der »Zeitgeschichte« (Berkessel 2011, 284). Nach 1989 war bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung von Seghers eine neue Situation entstanden. Während ihr Werk zuvor in der DDR zum literarischen Kanon gehörte und in der BRD zumindest in großen Teilen präsent war, war nun eine Absetzbewegung zu beobachten. Ostdeutsche Betriebe legten ihren Namen ab, der Berliner Senat erwog, ihr die Ehrenbürgerschaft zu entziehen, und ihre Texte wurden aus den schulischen Lehrplänen gestrichen (vgl. Elsner 2001). Die Auseinandersetzung um Seghers und ihre Rolle in der DDR verschärfte sich zudem mit dem Essay Schwierigkeiten mit der Wahrheit von Walter Janka, veröffentlicht im Oktober 1989 (s. Kap. 29). Janka und Seghers kannten sich aus dem gemeinsamen Exil in Mexiko, Janka leitete den Verlag El Libro Libre, wo Anfang 1943 Seghers’ weltbekannter Roman Das siebte Kreuz erschien. 1947 kehrte Janka nach Deutschland zurück und wurde 1952 Leiter des Aufbau Verlags. 1956, nach dem Aufstand in Ungarn, wurde er verhaftet, die Anklage lautete auf »konterrevolutionäre Verschwörung gegen die Regierung Ulbricht« (zit. nach Rohrwasser 1989, 119). In dem Schauprozess im Juli 1957 in Ost-Berlin warf man ihm vor, er habe das ›Haupt der Konterrevolution‹, Georg Lukács, nach Ost-Berlin schmuggeln wollen. Er wurde zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft verurteilt. Zur Rolle von Seghers schrieb Janka 32 Jahre nach seinem Prozess:
»Anna Seghers, die Janka aufgefordert hatte, den bedeutendsten Autor des Verlags zu suchen, ihm wenn möglich zu helfen, damit der siebzigjährige Freund nicht ein Opfer der Aufständischen in Ungarn würde, blieb stumm. [...] Gerade sie hätte sich der Mitverantwortung nicht entziehen dürfen. Schon deshalb nicht, weil sie die namhafteste Frau war, die es sich leisten könnte, ihre Stimme der Wahrheit zu leihen. Ein wenig Mut hätte ihrem Ruf nicht geschadet und ihre Position nicht gefährdet. Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder auch nur belästigen zu lassen. All das wusste sie. Trotzdem blieb sie stumm.« (Janka 1989, 91)
Diese Äußerungen irritierten sowohl im Westen als auch im Osten des Landes viele Leserinnen und Leser, die vor allem aufgrund solcher Romane wie Das siebte Kreuz oder Transit ein positives Bild der Autorin hatten. Es verunsicherte vor allem ihre Kinder, Ruth und Pierre Radvanyi, die von diesen Vorwürfen überrascht waren und nun begannen, selbst zu recherchieren, was sich damals, im Jahr 1957, zugetragen hatte. Vor allem Ruth Radvanyi war schockiert und fand zum Beispiel heraus, dass ihre Mutter zweimal bei dem damaligen Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht war, um sich für Janka zu verwenden, allerdings ohne Erfolg (vgl. Berger 1992, 154). Auf einer internationalen Konferenz, ausgerichtet von der Akademie der Künste, versuchte man im März 1990 unter dem Titel »Erfahrungen austauschen und Rat schaffen. Die Erzählerin Anna Seghers« zu eruieren, was an den Vorwürfen Jankas wahr sein könnte. Der Schriftsteller Erich Loest, der selbst sieben Jahre im Gefängnis in Bautzen inhaftiert war, setzte sich im gleichen Jahr in der Wochenzeitung Sonntag für Anna Seghers ein, indem er Jankas Vorwurf relativierte und eindeutig Partei für die Dichterin ergriff (vgl. Loest 1992). Vor diesem Hintergrund entschlossen sich die Kinder von Seghers, Ruth und Pierre Radvanyi, Schriftsteller/innen, Literaturwissenschaftler/innen und Lehrer/ innen sowie zahlreiche an der Literatur interessierte Menschen aus Ost und West, eine Gesellschaft zu gründen, die versuchen wollte, ein ausgewogenes Bild der Schriftstellerin zu vermitteln. Besonders wichtig war den Gründungsmitgliedern die Mitwirkung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. So finden sich viele Autorinnen und Autoren auf der ersten Mitgliederliste der Gesellschaft vom 1.10.1992 wieder: u. a. Peter Härtling, Stephan Hermlin, Walter Jens, Lew Kopelew, Heiner Müller, Jens Sparschuh und Christa Wolf. Auch Hermann Kant, der nicht unumstrittene Vorsit-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 C. Hilmes / I. Nagelschmidt, Anna Seghers-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05665-8_59
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zende des Schriftstellerverbandes der DDR und in dieser Funktion Nachfolger von Seghers, wurde angefragt. Er wollte aber nur eintreten, wenn seine Teilnahme andere nicht davon abhielt, Mitglied zu werden. Als sich genau dies abzeichnete, verzichtete er schließlich (vgl. Berger 2011, 280). Von Anfang an war klar, dass die Städte Mainz und Berlin eine wichtige Rolle spielen sollten, Mainz als Geburtsstadt und Berlin als Stadt, in der Seghers den Großteil ihres Lebens verbracht hatte und wo sie auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt ist. Auch das Amtsgericht Charlottenburg hatte in einem Schreiben vom November 1991 festgestellt, dass die beiden Städte im Namen der Gesellschaft »wesentliche Stationen im Leben von Anna Seghers« und »auch als Kulminationspunkte der Gesellschaftsgründung zu betrachten« sind (Dokumente 2011, 264). Folgerichtig sollten die Jahresversammlungen der Gesellschaft abwechselnd in Berlin und Mainz stattfinden. Ausnahmen bildeten fünf Tagungen in Potsdam, drei Tagungen im thüringischen Meiningen, die auf Einladung der dortigen Anna-Seghers-Bibliothek stattfanden, sowie eine Tagung im Maison Heinrich Heine in Paris zum zwanzigjährigen Jubiläum der Gesellschaft und aus Anlass des 75. Jahrestages des I. Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris. Ein wesentlicher Aspekt der Gründung der AnnaSeghers-Gesellschaft hängt zusammen mit der unterschiedlichen Rezeption der Autorin im Osten und im Westen Deutschlands in der Zeit des Kalten Krieges. Während Seghers in der DDR allgemein als führende Schriftstellerin anerkannt wurde, feindete man sie im Westen Deutschlands als Emigrantin und Kommunistin politisch an. Ihre Werke sind in der DDR kontinuierlich in hohen Auflagen erschienen; dagegen dauerte es in der BRD bis 1962, ehe der Roman Das siebte Kreuz im Luchterhand Verlag erscheinen konnte. Mit der Auflösung der DDR und dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland ergab sich die Chance, sowohl im Osten als auch im Westen einen neuen Blick auf Leben und Werk von Seghers zu werfen und damit hergebrachte Schemata zu überwinden. Die Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft, so hat es eines der West-Gründungsmitglieder formuliert, bot somit »die Möglichkeit, an der historischen Zäsur des Jahres 1989 nicht nur als Beobachter, sondern im Mikrokosmos einer literarischen Gesellschaft auch gestaltend teilzunehmen, die sich [...] als einzige mit der Gründung in Berlin und Mainz den Spagat zwischen Ost- und Westdeutschland zutraute«
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(Berkessel 2011, 284). Die ostdeutsche Sicht brachten in der Gründungsphase vor allem Christel Berger, Marianne Berger, Renate Graßnick, Sigrid Bock, Ruth Radvanyi und Frank Wagner ein. Im Westen sind die Namen von Hans Berkessel, Günter Eifler, Sonja Hilzinger, Anton Maria Keim, Dietger Pforte, Barbara Prinsen-Eggert, Erwin Rotermund und Peter Schneider zu nennen, die bei der Gründung der Gesellschaft Pate standen. Hans Berkessel weist noch auf zwei weitere Personen hin, die als »Wegbereiter einer Rezeptionssituation [im Westen gelten können], in der Anna Seghers und ihr Werk überhaupt in Mainz wahrgenommen werden konnten« (Berkessel 2011, 288). Da ist zum einen Lore Wolf aus Frankfurt. Sie war eine Freundin von Anna Seghers und hatte im Pariser Exil wesentliche Teile des Romans Das siebte Kreuz mit der Schreibmaschine ins Reine geschrieben. In vielfältiger Weise (z. B. durch den Besuch von Schulen) hat sie sich für Anna Seghers eingesetzt und über das Thema ›Widerstand gegen den Faschismus‹ gesprochen. Die andere Person ist Walter Heist. Der von ihm herausgegebene Band Anna Seghers aus Mainz (1973) plädierte in entschiedener Form für eine Anerkennung: »Mainz wäre eine arme Stadt, wenn es diesen Beitrag zu seinem Bild nicht annehmen würde. Dazu gehört auch, daß es die Entscheidung des Menschen, der es schuf, anerkennt: Anna Seghers aus Mainz« (Heist 1973, 8). Berkessel fasste die Situation 30 Jahre nach Gründung der Gesellschaft so zusammen: »So lässt sich in der Rückschau eine Bilanz ziehen, die jedenfalls deutlich positiver ausfällt als die des Einigungsprozesses insgesamt« (Berkessel 2011, 286).
Jahrestagungen der Gesellschaft Schon früh kristallisierten sich die Schwerpunkte der Aktivitäten der Gesellschaft heraus. Grundlage der Arbeit war die Satzung der Gesellschaft, in der es u. a. heißt: »[Die Gesellschaft] soll sich vor allem dem Studium und der Verbreitung des Werkes von Anna Seghers, der Pflege ihres Nachlasses und der Erinnerung an ihr Leben widmen. [Sie soll] ein Zentrum der Diskussion sein, von dem Anstöße und Anregungen ausgehen sollen für Forschung und öffentliche Auseinandersetzungen mit den Romanen und Erzählungen, den theoretischen und publizistischen Arbeiten, der Biographie der Autorin« (Satzung 1992, 227). Auf der Gründungsversammlung am 5.10.1991 wurde die Literaturwissenschaftlerin Christel Berger
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zur ersten Vorsitzenden der Anna-Seghers-Gesellschaft gewählt, sie amtierte bis 1993. Ihr folgten Martin Straub, Barbara Prinsen-Eggert, Ursula Elsner und Hans-Willi Ohl. Sigrid Bock berichtete auf der ersten Jahreshauptversammlung im Dezember 1991 von mittlerweile 99 Mitgliedern (heute hat die Gesellschaft ca. 200), die nicht nur aus Berlin und Mainz, sondern auch aus Frankreich, Mexiko, Spanien, Dänemark, Japan und den USA angereist waren. Der internationale Aspekt spielt bis heute in der Anna-Seghers-Gesellschaft, deren Mitglieder mittlerweile aus 20 verschiedenen Ländern kommen, eine wesentliche Rolle. Diese erste Tagung begann am 6.12.1991 mit einer Lesung von Seghers-Texten durch F. C. Delius, Stephan Hermlin, Walter Jens, Waltraud Lewin und Günther Rücker. Im wissenschaftlichen Kolloquium wurden Texte von Seghers (Der gerechte Richter, Der Ausflug der toten Mädchen) analysiert. Die Tagung endete mit dem 1990 von Horst Schäfer (Mainz) gedrehten Fernsehfilm Schatten über Anna Seghers. Mit diesem Veranstaltungsformat hatte sich ein »Modell für spätere Zusammenkünfte herausgebildet« (Bock 2011, 270), das bis heute den formalen Rahmen für die Jahrestagungen der Anna-Seghers-Gesellschaft bildet. Eine besondere Rolle in der Anna-Seghers-Gesellschaft spielen auch die beiden nach Anna Seghers benannten Schulen in Berlin und Mainz. Lehrerinnen und Lehrer bringen dort das Werk von Anna Seghers im Unterricht jüngeren Generationen nahe und halten es so lebendig. Für die jeweiligen Jahrestagungen der Gesellschaft werden an den Schulen Beiträge vorbereitet, die oft szenisch in das Thema der Tagung einführen. Betrachtet man die Themen der Tagungen von 1991–2019, so wird deutlich, wie vielfältig die Bezüge zu Leben und Werk der Autorin sind: Dazu gehören die wichtigen biografischen Aspekte, die vor allem deshalb für ein Gesamtbild der Autorin von Bedeutung sind, da sie zu Lebzeiten selbst selten darüber sprach. Seghers betonte stets, dass das literarische Werk für sich selbst sprechen müsse. Das Interesse am Biographischen zeigte sich in Tagungsthemen wie »Anna Seghers in den sechziger Jahren« (1993), »Kindheitsmuster: Werk, Biographie, Autobiographie« (1994), »Aspekte jüdischer Erfahrungen im 20. Jahrhundert« (1996), »Zwischen Rückkehr und Heimkehr. Das Jahr 1947« (1997), »Anna Seghers-Bilder. Biographische Aspekte« (2002) sowie »Arbeitsund Freundschaftsbeziehungen im Leben und Werk von Anna Seghers I/II« (2013–2014). Auf der anderen Seite ging und geht es auf den Tagungen darum, das umfangreiche Werk von Seghers
(Romane, Erzählungen, Hörspiele, Essays, Briefe) sowie Literaturverfilmungen immer wieder neu zu entdecken und zu betrachten. Die für Anna Seghers wichtigen Bezüge zur russisch-sowjetischen Literatur und zu China wurden auf den Tagungen 2003 und 2011 herausgearbeitet. Da sich Anna Seghers, die in Kunstgeschichte promoviert worden war, für zahlreiche Kunstsparten, wie Malerei, Bildende Kunst und Film, sehr interessierte, beschäftigten sich mehrere Tagungen mit diesen Themen. Zu »Anna Seghers und die Bildende Kunst« (2008) erschien ein eigener Band, in dem sowohl Porträts von Anna Seghers als auch Illustrationen zu ihren Werken zusammengestellt wurden. Die von Roland R. Berger für den Band ausgewählten Grafiken und Bilder stammen z. B. von Fritz Cremer, Bernhard Heisig, Heinz Hellmis, Harald Kretzschmar, Günther Lück, Leopoldo Méndez, Armin Münch, Pjotr Pinkisewitsch, Frank Ruddigkeit, Herbert Sandberg, Gustav Seitz, Elizabeth Shaw und Willi Sitte (vgl. Anna-Seghers-Gesellschaft 2008). Auch einzelne Werke von Seghers standen im Mittelpunkt, wie z. B. die späten Romane Die Entscheidung und Das Vertrauen (2012) sowie »75 Jahre – Anna Seghers: Das siebte Kreuz« (2017). Von Bedeutung war der Blick auf die Beziehungen zu anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie zu deren Werk. Hier lassen sich die Tagungen »Literarische Wahlverwandtschaften – Intertextuelle Beziehungen (Anna Seghers – Bertolt Brecht – Christa Wolf – Heiner Müller – Volker Braun – Kerstin Hensel – Hans Ulrich Treichel – Hans Werner Henze« (2004) und »Anna Seghers und Bertolt Brecht im Kontext literarischer Debatten« (2018) anführen. Genannt werden soll noch die einzige Tagung, die im Ausland stattfand. 2010 ging es im Maison Heinrich Heine in Paris um die besondere Beziehung zu ihrem ersten Emigrationsland: »Anna Seghers und Frankreich als Ort von Exil und Widerstand«.
Argonautenschiff Schon bei dem Treffen der Initiativgruppe am 15.9.1991 wurde der Plan diskutiert, eine regelmäßige Publikation herauszugeben, ein »1-Jahres-Heft mit literaturtheoretischen Arbeiten der Mitglieder der A-S-Ges« (Dokumente 2011, 258). Daraus entstand das Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft mit dem Namen Argonautenschiff, von dem bis 2019 27 Bände erschienen sind. Das Vorbild für das Format lieferte die DDR-Zeitschrift Sinn und Form. Der blaue Umschlag ist eine Reminiszenz an die Erzählung Das wirkliche Blau von An-
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na Seghers, der Titel Argonautenschiff erinnert an ihre gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1949. Das Signet gestaltete der Grafiker Roland Berger nach einer Idee von Sigrid Bock. Die Anfangsbuchstaben des Namens von Anna Seghers wurden »in ein Schiff verwandelt, das auf den Wellen segelt« (Bock 2011, 274). Die Zeitschrift erschien von 1992 bis 2012 im Aufbau Verlag, Berlin, seit 2013 wird sie im Verlag für Berlin-Brandenburg bzw. ab 2017 im Quintus-Verlag, einem Imprint des Verlags für Berlin-Brandenburg, herausgegeben. Inhaltlich sollte das Argonautenschiff eine große Vielfalt an Texten bieten: »Literarische Arbeiten, Erzählungen, Skizzen, wissenschaftliche Abhandlungen, Informationen, Lebenserinnerungen, Briefe, Gespräche und Interviews, Schülerarbeiten und eine Dokumentation jeder Hauptversammlung mit ihren Vorträgen waren geplant – ein buntes Kaleidoskop« (Bock 2011, 271). Schon im ersten Argonautenschiff 1992 wurde dieser Vorsatz umgesetzt. Die erste Rubrik, »Meinungen«, dokumentiert Texte von Erich Loest, Heiner Müller, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries, Kerstin Hensel, Ruth Rehmann, Erik Neutsch und Peter Härtling. Es folgen weitere »Texte über Anna Seghers« von Hans Mayer, Peter Schneider, Inge Diersen, Kyung-Boon Lee, Lutz Winkler und ein Gespräch von Christel Berger mit Ruth Radvanyi. Die vierte Abteilung besteht aus »Literarischen Texten«, beigesteuert von Fritz Rudolf Fries, Jens Sparschuh, Christoph Hein und Kerstin Hensel. Texte und Briefe von Anna Seghers selbst sowie »Berichte und Informationen«, z. B. zur Anna-Seghers-Gedenkstätte sowie dem Anna-Seghers-Archiv, runden den Band ab. In der Ausgabe des Argonautenschiffs von 1996 wurde erstmals die Verleihung des Anna Seghers-Preises vom Vorjahr dokumentiert. Im nächsten Jahr wurden die Reden der Jurorin (Kerstin Hensel) und des Jurors (Omar Saavedra Santis) zusammen mit einem Auszug aus einem Werk der Preisträger Michael Kleeberg und Miguel Vitagliano abgedruckt. Erstmals im Jahrbuch 9/2000 konnte man die Begrüßungsansprache des damaligen Vorsitzenden der Stiftung, Dietger Pforte, lesen. Pforte war bis zum Jahr 2016 der Vorsitzende der Anna Seghers-Stiftung, die seither von Moritz Malsch geleitet wird.
Anna Seghers-Preis In ihrem Testament hatte Anna Seghers verfügt, dass die Tantiemen aus dem Verkauf ihrer Bücher zur Förderung des literarischen Nachwuchses verwendet
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werden sollen. Zu gleichen Teilen ging der Preis an Autorinnen und Autoren aus der DDR, später dem deutschsprachigen Raum allgemein sowie dem lateinamerikanischen Raum. Damit wollte Seghers ihre Dankbarkeit gegenüber dem Exilland Mexiko zum Ausdruck bringen, das sie und ihre Familie in einer schwierigen Zeit aufgenommen hatte. In der DDR wurde vor diesem Hintergrund seit 1986 ein ›Anna-Seghers-Stipendium‹ verliehen. Vergeben wurde diese Auszeichnung bis 1994 zunächst von der Akademie der Künste in Berlin, später von den Kindern von Anna Seghers, Ruth und Pierre Radvanyi. Im Jahr 1995 wurde die Anna Seghers-Stiftung gegründet, die seither das Stiftungsvermögen verwaltet und bis heute – in der Regel jährlich – den Anna Seghers-Preis verleiht. Die Höhe der Dotierung orientiert sich jeweils an der Ertragssituation der Stiftung und liegt derzeit (2020) bei 12.500,- €. Die Tantiemen für die Werke von Seghers speisen sich hauptsächlich aus zwei Quellen. Über die Rechte an den Texten von Anna Seghers, wozu auch die Auslandslizenzen für Übersetzungen gehören, verfügt der Aufbau Verlag in Berlin. Seit Jahren liegen drei Texte an der Spitze der Verkaufszahlen: Das siebte Kreuz, Transit sowie Der Ausflug der toten Mädchen. Die Rechte für alle weiteren Formen der Verwertung von Seghers-Texten liegen bei der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH. Dies betrifft z. B. die Bereiche Theater, Film oder Hörbücher. Der Vorstand der Stiftung besteht aus einer Vertreterin/einem Vertreter der Akademie der Künste, einem Mitglied der Familie Radvanyi sowie der/dem Vorsitzenden der Anna-Seghers-Gesellschaft. Hinzugewählt werden drei weitere Mitglieder. Er bestimmt in Bezug auf die Preisverleihung Jurorinnen bzw. Juroren, die in eigener Verantwortung die Preise vergeben. Sie wissen, »dass es Anna Seghers’ Wunsch war, mit Mitteln der Kunst zur Entstehung einer gerechteren menschlichen Gesellschaft beizutragen, in der gegenseitige Toleranz und Hilfsbereitschaft der Menschen aller Kulturen im Mittelpunkt stehen« (Pforte 2011, 18). Das Verfahren knüpft bewusst an die Tradition der Verleihung des Kleist-Preises in der Weimarer Republik an. Damals, 1928, hatte der Schriftsteller und vorherige Preisträger Hans Henny Jahnn diesen Preis an die junge und noch weitgehend unbekannte Autorin Anna Seghers für die beiden Texte Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara verliehen und ihr damit zum literarischen Durchbruch verholfen. Der Preis wird im Rahmen der Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft abwechselnd in Berlin
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und Mainz verliehen. Auf allen Preis-Urkunden steht das berühmte Zitat von Anna Seghers: »Und habt ihr denn etwa keine Träume, wilde und zarte, im Schlaf zwischen zwei harten Tagen? Und wißt ihr vielleicht, warum zuweilen ein altes Märchen, ein kleines Lied, ja nur der Takt eines Liedes, gar mühelos in die Herzen eindringt, an denen wir unsere Fäuste blutig klopfen? Ja mühelos rührt der Pfiff eines Vogels an den Grund des Herzens und dadurch auch an die Wurzeln der Handlungen« (SRW, 27).
Museum, Bibliothek und Archiv Das Anna-Seghers-Museum, bis 2018 Anna-SeghersGedenkstätte, befindet sich in der ehemaligen Wohnung in Berlin-Adlershof, in der die Schriftstellerin zusammen mit ihrem Mann, Laszlo Radvanyi, von 1955 bis zu ihrem Tod 1983 gelebt hat. Die Straße hieß früher Volkswohlstraße, heute heißt sie Anna-Seghers-Straße. Hier umgab sich Anna Seghers mit den Büchern und Gegenständen, die ihr wichtig waren und die sie zum Schreiben brauchte (vgl. Bellin 2015). Ein wesentlicher Bestandteil des Anna-SeghersMuseums ist die Bibliothek der Autorin (vgl. Bircken 2008). Ursprünglich befand sich in der Wohnung auch die Bibliothek von Laszlo Radvanyi, nach dessen Tod jedoch wurden seine Bücher als Schenkung der Humboldt-Universität Berlin übergeben. Die Bibliothek von Seghers umfasst ca. 10.000 katalogisierte Bände, das Verzeichnis befindet sich auf der Homepage des Archivs der Akademie der Künste. Zum Grundbestand gehören einige wenige Bücher der Mutter Hedwig Reiling, aber auch eigene Bücher aus der Mainzer Zeit, gekennzeichnet mit dem Exlibris ›Netty Reiling‹. Die zweite Abteilung besteht aus den Büchern, die nach der Heirat und dem Umzug nach Berlin angeschafft wurden. Als die Familie ins französische Exil, nach Paris, gehen musste, blieben alle diese Bücher zunächst in Deutschland zurück. Den Eltern von Seghers gelang es allerdings, sie dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen und die Bücher nach Paris zu schicken. Dort wuchs die Bibliothek weiter an. Als die deutsche Wehrmacht 1940 Paris besetzte und die Emigranten erneut zur Flucht zwang, drohte abermals der Verlust der teils sehr wertvollen Sammlung. Doch wieder hatte Seghers Glück, denn die Bücher und Manuskripte wurden in einem Kellerraum des Hauses in Meudon aufbewahrt und überstanden den Krieg unversehrt. Nach 1945 konnte der Sohn Pierre Radvanyi die Bücher endgültig retten und sie 1955 in
die Wohnung nach Adlershof schicken. So weist der Bestand zwar insgesamt Lücken auf, aber angesichts der durch Flucht und Exil geprägten Lebensumstände der Autorin und ihrer Familie ist die Zahl der geretteten Bücher doch beeindruckend. Wenn man sich den Bestand im Detail ansieht, fallen bestimmte Schwerpunkte auf. So ist die deutschsprachige Literatur prominent vertreten: Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Büchner und Heine. Insbesondere dessen Ausgaben sind es, die hier herausragen, z. B. eine wertvolle Hoffmann-und-Campe-Ausgabe aus dem Jahr 1837. Heine hat darüber hinaus noch eine andere wichtige Bedeutung für Seghers. 1933, als sie nach Frankreich fliehen musste, schenkte ihr der Vater Isidor Reiling das Autograph eines Briefes von Heine, den dieser im Mai 1848 von seiner neuen Wohnung bei Paris aus an seine Mutter Betty geschrieben hatte. Darin heißt es u. a.: »Bis jetzt hat mich das Unglück immer verfolgt in jeder Wohnungsänderung. Vor der Hand jedoch geht es mir noch leidlich. [...] Dieses Jahr ist kein Zuckerjahr und es geht der ganzen Welt sehr bitter« (zit. nach Bircken 2008, 319). Seghers sollte diesen kostbaren Schatz als Notreserve aufbewahren, sie hat ihn aber nie verkauft, in allen Exilstationen bei sich gehabt und ihn schließlich auch als Erinnerung an die Eltern in Adlershof in ihrem Arbeitszimmer aufgehängt. Heute befindet sich das Original in der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, im Museum hängt eine Kopie. Ein wesentlicher Bestandteil der Bibliothek ist die umfangreiche ›russische‹ Abteilung, also vor allem Dostojewskij und Tolstoj. Lebenslang hat sich Seghers mit diesen beiden Autoren beschäftigt und auch diverse Aufsätze und Essays über sie publiziert (s. Kap. 38). Allein von und über Dostojewskij finden sich in ihrer Bibliothek 40 Titel, darunter eine Werkausgabe von 1907, herausgegeben von Moeller van den Bruck und Dmitrij Mereshkowskij. Seghers hat Ende der 1920er Jahre privat Russisch-Unterricht genommen, um diese Werke in der Originalsprache lesen zu können, besonders Lew Tolstojs Krieg und Frieden. Viele Bücher von ihm und Dostojewskij besaß sie in deutscher und russischer Sprache. Seghers hatte in Heidelberg und Köln Kunstgeschichte studiert und 1924 ihre Doktorarbeit über das Thema Jude und Judentum im Werk Rembrandts geschrieben (s. Kap. 34). Insoweit verwundert es nicht, dass Bücher zu diesen Themen einen breiten Raum in der Bibliothek einnehmen. Ein Beispiel hierfür ist eine Ausgabe von Fritz Lugts mit dem Titel Rembrandt in Amsterdam, die 1920 im Verlag Bruno Cassirer er-
59 Anna-Seghers-Gesellschaft
schienen ist. Neben der niederländischen Malerei (hierzu gehört z. B. ein Band von John Rowlands über Hercules Segers/1980) finden sich Bände zu einzelnen Künstlern, wie z. B. Velázquez und Michelangelo, aber auch die Sammelbände Die Frührenaissance der italienischen Malerei (1909) oder Deutsche Köpfe des Mittelalters (1922). Seghers ist zwar in einem jüdisch geprägten Elternhaus aufgewachsen, aber 1932 aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten. In ihrem Werk sind viele religiöse Konnotationen und Anspielungen zu finden und das spiegelt sich auch in der Bibliothek wider (s. Kap. 49). Da findet sich z. B. eine Bibel aus dem Jahr 1916, mehrere Ausgaben des Talmud, die Erzählungen der Haggada sowie die große, zehnbändige Ausgabe Encyclopaedia Judaica: Das Judentum in Geschichte und Gegenwart (1928 ff.). Aus dem Jahr 1947 stammt das Buch von Romano Guardini über Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk. Ihre Beschäftigung mit der christlichen Ikonographie zeigt das Buch Kunst und Heilige (1922) von M. Liefmann und auch Altfranzösische Marienlegenden (1913) interessierten sie. Außerdem besaß Seghers eine vielbändige Sammlung von Märchen der Völker der Welt, u. a. eine kostbar gebundene Ausgabe der Märchen aus Tausendundeiner Nacht mit zahlreichen Gebrauchsspuren. Eine wichtige Rolle spielte für sie das Thema Literatur und Geschichte Frankreichs. Schon als junge Frau las sie Originalausgaben von Victor Hugo aus dem Jahr 1840. Die Bibliothek enthält Bände von Balzac aus dem Jahr 1855, Voltaire, Zola, Maupassant, Merimée und Barbusse sind vertreten. Aber auch Adolphe Thiers’ Geschichte der französischen Revolution (1844/45), Procès de condamnation de Jeanne d’Arc: d’après les textes authentique des procès-verbaux officiels (1884) sowie eine zehnbändige Napoleon-Ausgabe (1910) mit dem Exlibris von Netty Reiling finden sich im Bestand dieser Bibliothek. Auch die moderne französische Literatur der 1960er Jahre gehört zum Bestand, z. B. viele Werke des Nouveau Roman im Original. Ebenfalls sind die modernen lateinamerikanischen Romane vertreten, etwa von Gabriel García Márquez, die in der DDR erschienen. Bis 1991 befand sich in der Wohnung in Adlershof auch das Anna-Seghers-Archiv (ASA). Seghers hatte in ihrem Testament ihren gesamten Nachlass (Manuskripte, Dokumente, Briefe) der Akademie der Künste der DDR übergeben. Auf dieser Basis wurde 1985 durch einen Vertrag mit Seghers’ Tochter Ruth Radvanyi das Anna-Seghers-Archiv in Adlershof gegründet. Nach der Vereinigung der Akademien Ost und
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West kam der literarische Nachlass von Anna Seghers in das Archivgebäude der Akademie am Robert-KochPlatz in Berlin. Das Anna-Seghers-Museum ist insgesamt ein ungewöhnliches Literaturmuseum, da es keine museale, sondern eine sehr persönliche Atmosphäre ausstrahlt mit dem hölzernen Namensschild Seghers-Radvanyi, dem braunen Holländer-Kachelofen, der alten Schreibmaschine, dem Radio-Apparat, den Möbeln aus den 1950er Jahren sowie den vielen persönlichen Gegenständen (kleine Keramiken, Figuren, Tiere und die Bücher der Bibliothek). Unter den ca. 1000 Besuchern jährlich aus dem In- und Ausland sind insbesondere viele Gruppen aus Schulen und Universitäten, die sich mit dem Werk der Schriftstellerin beschäftigen und vor Ort die Begegnung mit ihrer Person und ihrer Literatur vertiefen können – eine Art ›Literaturgeschichte zum Anfassen‹. Mehr als zwanzig Jahre lang fand zudem im größten Raum der Wohnung ein ›Literarischer Salon bei Anna Seghers‹ statt, bei dem monatlich Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem ganzen Land ihre neuen Werke vorstellten. »Näher als hier, von den Büchern abgesehen, kann man ihr nirgendwo sein« (Bellin 2015, 231). Literatur
Anna-Seghers-Gesellschaft (Hg.): »... daß ich fast mehr mit bildender Kunst gelebt habe als mit Literatur«. Anna Seghers in der bildenden Kunst. Berlin 2008. Bellin, Klaus: Museum im Mietshaus. Die Wohnung der Anna Seghers (2008). In: Ders.: Bankett für Dichter. Feuilletons zur Literatur. Berlin 2015, 225–231. Berger, Christel: Gespräch mit Dr. med. Ruth Radvanyi, Tochter von Anna Seghers. In: Argonautenschiff 1 (1992), 150–156. Berger, Christel: Damals, als wir Anna Seghers mit der Gründung einer Gesellschaft »retten« wollten. Gemischte Erinnerungen. In: Argonautenschiff 20 (2011), 277–283. Berger, Marianne: Die Anna-Seghers Gedenkstätte in Berlin-Adlershof. In: Argonautenschiff 1 (1992), 207–208. Berkessel, Hans: Rückblende 1990/91 – Meine Erinnerungen an die Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. In: Argonautenschiff 20 (2011), 284–292. Bircken, Margrid: »Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang bis zu Ende«. In: Ines Sonder/Karin Bürger/ Ursula Wallmeier (Hg.): »Wie würde ich ohne Bücher leben und arbeiten können?« Privatbibliotheken jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2008, 309–331. Bock, Sigrid: Wie Anna Seghers wieder zur großen deutschen Erzählerin wurde. Meine Erinnerungen an die Gründung der Anna-Seghers-Gesellschaft vor zwanzig Jahren. In: Argonautenschiff 20 (2011), 266–276. Dokumente von der Gründungsversammlung der AnnaSeghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. am 5. Oktober 1991. In: Argonautenschiff 20 (2011), 257–265.
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VI Rezeption und Wirkung
Elsner, Ursula: Die Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. Umgang mit Texten von Anna Seghers in der Schule. In: Der Deutschunterricht 53/3 (2001), 92–95. Heist, Walter: Anna Seghers und ihre Entscheidung. In: Anna Seghers aus Mainz. Mainz 1973, 5–9. Janka, Walter: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek bei Hamburg 1989. Loest, Erich: Plädoyer für eine Tote (1990). In: Argonautenschiff 1 (1992), 3–5.
Pforte, Dietger: Begrüßung. In: Argonautenschiff 20 (2011), 17–19. Rohrwasser, Michael: Wer ist Walter Janka? Eine biographische Notiz. In: Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek bei Hamburg 1989, 115–122. Satzung der »Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V.«. In: Argonautenschiff 1 (1992), 227–231.
Hans-Willi Ohl
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Zeittafel
Quellen: Sonja Hilzinger: Anna Seghers. Stuttgart: Reclam 2000; Frank Wagner u. a. (Hg.): Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. Berlin: Aufbau 22000; Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993; Anna-Seghers-Gesellschaft, http://www.annaseghers.de/biographie_mainz.php (4.5.2020). 1900 Geburt von Netty Reiling am 19. November in
Mainz. Sie ist das einzige Kind von Hedwig Reiling (geb. Fuld), die aus einer angesehenen Frankfurter Kaufmannsfamilie stammt, und Isidor Reiling, der zusammen mit seinem älteren Bruder Hermann seit 1898 eine Kunst- und Antiquitätenhandlung betreibt. Die Familie ist Teil der orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft. 1907 Besuch der Privatschule von Elsa Goertz. 1910 Aufnahme in die Höhere Mädchenschule in der Petersstraße. 1914 Während des Ersten Weltkrieges leisten Netty und ihre Mitschülerinnen Kriegshilfsdienste. 1917 Für das Abitur Fortsetzung der Schulausbildung an der Großherzoglichen Studienanstalt. 1920 Reifezeugnis am 5. Februar. Beginn des Studiums an der Badischen Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg am 20. April. Studienschwerpunkte sind Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie. Netty Reiling besucht außerdem Kurse zur Allgemeinen Geschichte im 19. Jahrhundert sowie zur Sozialtheorie des Marxismus und beschäftigt sich intensiv mit Sprachen. In Heidelberg lernt sie László Radványi, einen ungarischen Emigranten und Kommunisten, kennen. 1921 Studienaufenthalt an der Universität Köln; kunstgeschichtliche Studien am Museum für ostasiatische Kunst. 1922 Zum Wintersemester Rückkehr nach Heidelberg. 1924 Promotion am 4. November in Heidelberg bei
dem Kunsthistoriker Carl Neumann über Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Die erste literarische Veröffentlichung, Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, erscheint in der Weihnachtsbeilage der »Frankfurter Zeitung und Handelsblatt« unter dem Pseudonym Antje Seghers. 1925 Heirat mit László Radványi am 10. August. Radványi ist in der Bildungsarbeit der KPD aktiv. Umzug des Paares nach Berlin, wo Radványi später Leiter der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) wird. 1926 Geburt des Sohnes Peter am 29. April. 1927 Grubetsch erscheint in Fortsetzungen in der »Frankfurter Zeitung und Handelsblatt«. 1928 Geburt der Tochter Ruth am 28. Mai; Aufstand der Fischer von St. Barbara erscheint im Kiepenheuer Verlag. Kleist-Preis (auf Vorschlag Hans Henny Jahnns) für Grubetsch und Aufstand der Fischer von St. Barbara. Annahme des Autorinnennamens Anna Seghers. Gründung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS), dem Anna Seghers beitritt. Außerdem Beitritt zur KPD. 1929 Auf Einladung des P. E. N. Clubs Reise nach London. 1930 Auf dem Weg zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen. Erste Reise in die Sowjetunion. Teilnahme an der II. Konferenz ProletarischRevolutionärer Schriftsteller in Charkow (6.–15. November). 1932 Die Gefährten. Teilnahme am Antikriegskongress in Amsterdam. 1933 Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932 erscheint im Querido Verlag Amsterdam. Hitler wird am 30. Januar zum Reichskanzler ernannt. Anna Seghers flieht in die Schweiz. Zusammentreffen mit der Familie in Frankreich, wo sie in Bellevue bei Paris bis 1940 eine Wohnung findet. Zusammen mit Wieland
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Herzfelde, Oskar Maria Graf und Jan Petersen Redaktion der Exilzeitschrift »Neue deutsche Blätter« (Prag 1933–1935). Beteiligung an der Neugründung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris. 1934 Reise nach Österreich. Die Reportage-Erzählung Der letzte Weg des Koloman Wallisch erscheint in den »Neuen Deutschen Blättern«. In der Sowjetunion entsteht mit Erwin Piscators Verfilmung des Aufstands der Fischer von St. Barbara die erste Verfilmung eines Werkes von Anna Seghers. 1935 Der Weg durch den Februar. Teilnahme am I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris (21.–25. Juni), wo Anna Seghers über »Vaterlandsliebe« spricht. Im November Gründung der Freien Deutschen Hochschule in Paris, deren Leiter Johann Schmidt (László Radványi) wird. 1937 Die Rettung. Teilnahme am II. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Valencia und Madrid (4.–7. Juli). Im flämischen Rundfunk (Antwerpen) Uraufführung des Hörspiels Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431, Abdruck in der Zeitschrift »Internationale Literatur« in Moskau. 1938 Teilnahme am außerordentlichen (III.) Internationalen Schriftstellerkongress in Paris. Zwischen Juni 1938 und März 1939 Briefwechsel über Fragen des Realismus mit Georg Lukács. 1939 Beginn des Zweiten Weltkrieges. Einstellung des Vorabdruckes des antifaschistischen Romans Das siebte Kreuz in der Zeitschrift »Internationale Literatur. Deutsche Blätter«. Die Radványis gelten den Behörden als unter »nationalem Gesichtspunkt Verdächtige«. 1940 Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok; Sagen von Artemis erscheint bei Meshdunarodnaja Kniga Moskau. Johann Schmidt (László Radványi) wird interniert und kommt ins südfranzösische Lager Le Vernet. Deutscher Angriff auf Belgien, die Niederlande und Frankreich. Anna Seghers verbirgt sich mit ihren Kindern nach einer gescheiterten Flucht vor der deutschen Wehrmacht im besetzten Paris. Mit Hilfe von Jeanne Stern gelingt im September ein zweiter Fluchtversuch in den unbesetzten Süden Frankreichs. Winter in Pamiers, wo Anna Seghers die Ausreise nach Übersee und die Entlassung ihres Mannes aus dem Lager vorbereitet. Aufenthalt in Marseille. Tod des Vaters. 1941 Flucht der Familie aus Marseille am 24. März mit dem Frachtdampfer »Capitaine Paul Lemerle«.
Ankunft auf Ellis Island in New York am 16. Juni, wo Anna Seghers vom Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion erfährt. Weiterreise über Kuba und Veracruz nach Mexico City. Im mexikanischen Exil Beteiligung an antifaschistischen Aktivitäten der Freien Deutschen. Anna Seghers wird Mitbegründerin und Präsidentin des am 21. November eröffneten Heinrich Heine-Klubs; Mitarbeit an der Zeitschrift »Freies Deutschland«, die ab Oktober erscheint. Johann Schmidt (László Radványi) wird Professor an der Arbeiter-Universität Mexiko, später (1944) auch an der National-Universität. 1942 Erstveröffentlichung von Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland auf Englisch in den USA. Es erscheinen Ausgaben im Book-of-theMonth Club für die Streitkräfte und eine Zeitungsversion als Graphic Novel, die zum großen Erfolg des Buches in Amerika beitragen. Fast gleichzeitig erscheint eine deutsche Ausgabe bei El Libro Libre, dem Verlag der Freien Deutschen in Mexiko. Im März Deportation der Mutter nach Piaski bei Lublin (Polen). Todesdatum unbestätigt. 1943 Abschluss von Transit. Im Mai erfährt Anna Seghers von der Deportation der Mutter. Schwerer Verkehrsunfall am 25. Juni und langer Krankenhausaufenthalt. Arbeit an Der Ausflug der toten Mädchen. 1944 Transit erscheint zuerst in Spanisch, Englisch und Französisch. Das siebte Kreuz wird von Fred Zinnemann in Hollywood verfilmt. 1945 Kapitulation Deutschlands. Sohn Peter geht zum Studium nach Paris. 1946 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen erscheint im Aurora Verlag, New York. Das siebte Kreuz erscheint erstmalig in Deutschland. Tochter Ruth geht zum Studium nach Paris. Abschiedsabend des Heinrich-Heine-Klubs. Im März erhält Anna Seghers die mexikanische Staatsbürgerschaft. 1947 Abreise aus Mexiko im Januar und Rückkehr nach Deutschland. Verleihung des Georg-Büchner-Preises am 20. Juli. Teilnahme am I. Deutschen Schriftstellerkongress (4.–8. Oktober), wo Anna Seghers über »Die Schriftsteller und die geistige Freiheit« spricht. Die Publikation der Exilwerke in Deutschland beginnt (Aufbau Verlag Berlin). 1948 Sowjetmenschen. Lebensbeschreibungen nach ihren Berichten erscheint in Berlin. Bei Weller, Konstanz, erscheinen die erste deutschsprachige Ausgabe von Transit sowie, in einer deutsch-französischen Ausgabe, die Erzählung Das Ende (Über-
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setzung: Jeanne Stern). Im April/Mai Reise in die Sowjetunion. Im August zum Weltkongress der Intellektuellen in Wroclaw (Breslau). 1949 Die Hochzeit von Haiti. Zwei Novellen; Die Toten bleiben jung. Teilnahme am Weltfriedenskongress in Paris (20.–25. April), an die sich in den späteren Jahren zahlreiche Reisen für die Friedensbewegung anschließen. 1950 Die Linie. Drei Erzählungen. Mitglied des Weltfriedensrates und Mitarbeit am »Stockholmer Appell« zur Ächtung aller Atomwaffen; in der Folgezeit Teilnahme an Kongressen in Paris, Warschau und Helsinki. Berufung zum Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste durch den Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Im Juni II. Deutscher Schriftstellerkongress, den Anna Seghers mit dem Beitrag »Den Toten zum Gedenken« eröffnet. 1951 Crisanta und Die Kinder. Beginn der Edition Gesammelte Werke in Einzelausgaben im AufbauVerlag. Reise nach China im September/Oktober; Nationalpreis der DDR, Stalin-Friedenspreis. 1952 Der Mann und sein Name. Vorsitzende des deutschen Schriftstellerverbandes (bis 1978), der 1973 in Schriftstellerverband der DDR umbenannt wurde. Rückkehr ihres Mannes aus Mexiko nach Berlin. III. deutscher Schriftstellerkongress (22.– 25. Mai); Seghers wird zur Vorsitzenden gewählt. 1953 Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden erscheint; darin Das Argonautenschiff, Die Rückkehr, Der erste Schritt, Friedensgeschichten und Frieden der Welt. Teilnahme am Deutschen Friedenstag in Weimar. 1954 Reise in die Sowjetunion, Teilnahme am II. sowjetischen Schriftstellerkongress in Moskau. Mehrwöchige Studien im Tolstoi-Archiv. 1955 Krankenhausaufenthalt. Reisen nach Wien und zur Erholung in die Hohe Tatra. Im Juni Teilnahme am Weltfriedenstreffen in Helsinki. 1956 IV. Schriftstellerkongress im Januar, Vortrag zum »Anteil der Literatur bei der Bewußtseinsbildung des Volkes«. Im Frühjahr Reise in die Sowjetunion. Im Herbst Aufstand in Ungarn und sowjetische Intervention. Beteiligung an einem Versuch, Georg Lukács zu helfen. Im Dezember Inhaftierung von Walter Janka, dem Leiter des Aufbau Verlages, dem die Teilnahme an einer staatsfeindlichen Verbindung vorgeworfen wird. Anna Seghers veranlasst zur Entlastung Jankas eine Resolution Berliner Schriftsteller und spricht beim I. Sekretär der SED, Walter Ulbricht, vor.
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1957 Prozess gegen Walter Janka, Gustav Just, Wolf-
gang Harich u. a.
1958 Brot und Salz. Drei Erzählungen. 1959 Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Uni-
versität Jena; Nationalpreis der DDR. Die Entscheidung. 1960 Vaterländischer Verdienstorden in Gold. Zum 60. Geburtstag erscheint Anna Seghers. Briefe ihrer Freunde. 1961 Das Licht auf dem Galgen. V. Deutscher Schriftstellerkongress (25.–27. Mai), wo Seghers über »Breite und Tiefe in der Literatur« spricht. Reise nach Brasilien. 1962 Das siebte Kreuz wird vom Luchterhand Verlag (Neuwied/Berlin) nach öffentlicher Polemik in der Bundesrepublik veröffentlicht. Lesereise nach Frankreich und in die Bundesrepublik Deutschland. Karibische Geschichten. 1963 Über Tolstoi. Über Dostojewski (Essays). Der Luchterhand Verlag beginnt mit der ersten, siebenbändigen Ausgabe Ausgewählte Werke für die Bundesrepublik Deutschland. Delegiertenkonferenz des Schriftstellerverbandes, wo Seghers über »Bewahrung und Entdeckung« spricht. Teilnahme an der Kafka-Konferenz in Liblice/Tschechoslowakei (27./28. Mai). Zweite Brasilienreise. 1965 Die Kraft der Schwachen. Internationales Schriftstellertreffen in Berlin und Weimar (14.–22. Mai). Ansprache in Weimar. 1966 Rede auf der I. Jahreskonferenz des Schriftstellerverbandes zum Thema »Die Aufgabe des Schriftstellers heute. Offene Fragen«. 1967 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko. Im Mai Teilnahme am 4. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller, wo Seghers über »Das Licht des Oktober« spricht. Im Dezember Krankenhausaufenthalt. 1968 Das Vertrauen. DEFA-Spielfilm Die Toten bleiben jung. Es folgen weitere Verfilmungen von Das Duell, Das wirkliche Blau, Aufstand der Fischer von St. Barbara und Transit. 1969 Glaube an Irdisches. Essays aus vier Jahrzehnten. Hg. und mit einem Vorwort von Christa Wolf. Begrüßungsworte auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongress (28.–30. Mai): »Sein und Zukunft unserer Republik waren und sind unser Ziel.« 1970 Briefe an Leser; Über Kunst und Wirklichkeit. 1971 Nationalpreis der DDR. Überfahrt. Eine Liebesgeschichte. 1973 Sonderbare Begegnungen. Begrüßungsrede auf dem VII. Deutschen Schriftstellerkongress zum
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Thema »Der sozialistische Standpunkt läßt am weitesten blicken«. 1975 Kulturpreis des Weltfriedensrates; Ehrenbürgerin von Berlin (Ost). Der Aufbau Verlag beginnt seine zweite Edition der Gesammelten Werke in Einzelausgaben (14 Bände) mit allen veröffentlichten Erzählungen und mit ausgewählten Essays. 1977 Steinzeit. Wiederbegegnungen. Schwere Krankheit; Ehrenbürgerschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Luchterhand ediert Werke in zehn Bänden.
1978 Tod des Ehemannes am 3. Juli. Ehrenpräsiden-
tin des Schriftstellerverbandes der DDR nach Rücktritt vom Vorsitz. 1980 Drei Frauen aus Haiti. 1981 Ehrenbürgerschaft der Stadt Mainz. 1982 Krankenhausaufenthalt. 1983 Tod am 1. Juni in Berlin. Staatsakt in der Akademie der Künste. Beisetzung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Stephanie Bremerich
Siglenverzeichnis: Ausgaben und Werke Werkausgaben GA Anna Seghers: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin/Weimar: Aufbau Verlag (aus dieser Ausgabe wird in den jeweiligen Kapiteln unter genauer Angabe der Auflage zitiert) Bd. 1: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Die Gefährten Bd. 2: Der Kopflohn. Der Weg durch den Februar Bd. 3: Die Rettung Bd. 4: Das siebte Kreuz Bd. 5: Transit Bd. 6: Die Toten bleiben jung Bd. 7: Die Entscheidung Bd. 8: Das Vertrauen Bd. 9: Erzählungen 1926–1944 Bd. 10: Erzählungen 1945–1951 Bd. 11: Erzählungen 1952–1962 Bd. 12: Erzählungen 1963–1977 Bd. 13: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927–1953 Bd. 14: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954–1979 AE1 Anna Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927– 1953. Berlin/Weimar 21984 [GA 13] AE2 Anna Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954– 1979. Berlin/Weimar 21984 [GA 14] WA Anna Seghers: Werkausgabe. Hg. von Helen Fehervary und Bernhard Spies. Berlin: Aufbau 2000 ff. WA I/1.1 Aufstand der Fischer von St. Barbara. Hg. von Helen Fehervary (Mitarbeit Jennifer William), 2002 WA I/4 Das siebte Kreuz. Hg. von Bernhard Spies, 2000 WA I/5 Transit. Hg. von Silvia Schlenstedt, 2001 WA I/7 Die Entscheidung. Hg. von Alexander Stephan (Mitarbeit Birgit Klein), 2003 WA II/1 Erzählungen 1924–1932. Hg. von Peter Beicken, 2014 WA II/2 Erzählungen 1933–1947. Hg. von Silvia Schlenstedt, 2011 WA II/3 Erzählungen 1948–1949. Hg. von Robert Cohen, 2012 WA II/4 Erzählungen 1950–1957. Hg. von Ute Brandes, 2009 WA II/5 Erzählungen 1958–1966. Hg. von Ute Brandes, 2007 WA II/6 Erzählungen 1967–1980. Hg. von Eva Kaufmann, 2005 Br1 Briefe 1924–1952 (= WA V/1). Hg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, 2008 Br2 Briefe 1953–1983 (= WA V/2). Hg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, 2010
KuW1 Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 1: Die Tendenz in der reinen Kunst. Bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1970. KuW2 Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 2: Erlebnis und Gestaltung. Bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1971. KuW3 Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 3: Für den Frieden der Welt. Bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1971. KuW4 Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 4: Ergänzungsband. Bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1979. Siglen der Einzelwerke AdF Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928), in: WA I/1.1 AS Das Argonautenschiff (1949), in: WA II/3, 118–134 AtM Der Ausflug der toten Mädchen (1946), in: WA II/2, 121–151 Bst Der Bienenstock. Ausgew. Erzählungen in zwei Bänden. Berlin 1953 Cr Crisanta (1951), in: WA II/4, 43–69 DE Das Ende (1946), in: WA II/2, 153–211 DFH Drei Frauen aus Haiti (1981), in: WA II/6, 325–363 DwB Das wirkliche Blau (1967), in: WA II/6, 5–90 E Die Entscheidung (1959), in: WA I/7 Gf Die Gefährten (1932), in: GA 1 Gr Grubetsch (1927), in: WA II/1, 11–71 HH Die Hochzeit von Haiti (1949), in: WA II/3, 5–58 Ki Die Kinder des zweiten Weltkrieges (1951), in: WA II/4, 201–202 Kl Der Kopflohn (1933), in: GA 2 KS Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965), in: WA II/5, 163–335 LG Das Licht auf dem Galgen (1961), in: WA II/5, 43–162 MsN Der Mann und sein Name (1952), in: WA II/4, 101– 199 Od Das Obdach (1941), in: WA II/2, 99–106 PgL Post ins Gelobte Land (1946), in: WA II/2, 213–244 R Die Rettung (1937), in: GA 3 SB Sonderbare Begegnungen (1973), in: WA II/6, 91–203 SG Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), in: WA II/3, 59–117 SK Das siebte Kreuz (1943), in: WA I/4 SRW Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok (1938), in: WA II/2, 27–46 Stz Steinzeit (1975), in: WA II/6, 205–253 SvA Sagen von Artemis (1938), in: WA II/2, 53–79
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Anhang
Tbj Die Toten bleiben jung (1949), in: GA 6 Tr Transit (1948); in: WA I/5 Üf Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971), in: GA 12 V Das Vertrauen (1968), in: GA 8 WaB Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft (1930), in: WA II/1, 165–188 Wb Wiederbegegnung (1977), in: WA II/6, 255–323 WdF Der Weg durch den Februar (1935), in: GA 2 Werke außerhalb der Gesamtausgaben Reiling, Netty [Anna Seghers]: Jude und Judentum im Werk Rembrandts (1981). Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Lizenzausg. d. Aufbau Verlags, Berlin/Weimar. Leipzig 31990. Seghers, Anna: Frieden der Welt. Ansprachen und Aufsätze 1947–1953. Berlin 1953. Seghers, Anna: Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in 2 Bänden. Berlin 1953. Seghers, Anna: Der Bienenstock. Gesammelte Erzählungen in 3 Bänden. Berlin 1963 (erweitert, ohne Rahmen) Seghers, Anna: Über Tolstoi. Über Dostojewskij. Berlin 1963. Seghers, Anna: Glauben an Irdisches. Essays. Hg. von Christa Wolf. Leipzig 1969. Seghers, Anna: Woher sie kommen, wohin sie gehen. Essays aus vier Jahrzehnten. Hg. von Manfred Behn. Mit einem Vorwort von Frank Benseler. Darmstadt/Neuwied 1980.
Seghers, Anna: Der gerechte Richter. Eine Novelle. Mit einem Nachwort von Günther Rücker. Berlin/Weimar 1990. Seghers, Anna: Jans muß sterben. Hg. von Christiane Zehl Romero. Berlin 2000. Seghers, Anna: Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Hg. von Christiane Zehl Romero. Berlin 2003. Seghers, Anna/Sharp, William: Das siebte Kreuz. Mit Originalillustrationen von 1942. Berlin 2015. Briefwechsel und Gespräche Seghers, Anna: Briefe ihrer Freunde. Berlin 1960. Seghers, Anna: Briefe an Leser. Berlin 1970. Seghers, Anna/Lukács, Georg: Ein Briefwechsel. In: Georg Lukács: Werke, Bd. 4. Probleme des Realismus I. Essays über Realismus. Bielefeld 1971, 345–376. Seghers, Anna/Herzfelde, Wieland: Ein Briefwechsel 1939– 1946. Hg. von Ursula Emmerich und Erika Pick. Berlin/ Weimar 1985. Seghers, Anna: Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947. Hg. von Christel Berger. Berlin 2000. Seghers, Anna/Wolf, Christa: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays aus vier Jahrzehnten. Hg. von Angela Drescher. Berlin 2003. Seghers, Anna/Roscher, Achim: Mit einer Flügeltür ins Freie fliegen. Gespräche. Berlin 2019.
Auswahlbibliographie (In dieser Übersicht sind vor allem Monographien verzeichnet.) Albrecht, Friedrich: Die Erzählerin Anna Seghers 1926– 1932. Berlin 1965; 2., durchges. Aufl. Berlin 1975. Albrecht, Friedrich: Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers 1965–2004. Bern 2005. Albrecht, Friedrich: Kennst du Anna Seghers? Das abenteuerliche Leben der Dichterin Anna Seghers. Weimar 2007. Anna Seghers – Mainzer Weltliteratur. Hg. v. d. Stadt Mainz 1981. Anna-Seghers-Gesellschaft (Hg.): »... daß ich fast mehr mit bildender Kunst gelebt habe als mit Literatur«. Anna Seghers in der bildenden Kunst. Berlin 2008. Atkins, Robert/Kane, Martin (Hg.): Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976–1990. Amsterdam/Atlanta 1997. Aufsätze über Anna Seghers und ihr Werk. Zum 60. Geburtstag der Dichterin. Hg. v. d. Deutschen Akademie der Künste. Berlin 1960. Bangerter, Lowell A.: The Bourgeois Proletarian. A Study of Anna Seghers. Bonn1980. Batt, Kurt (Hg.): Über Anna Seghers. Ein Almanach zum 75. Geburtstag. Berlin/Weimar 1975. Batt, Kurt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Leipzig 21980. Bernstorff, Wiebke von: Fluchtorte. Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers. Göttingen 2006. Bischoff, Simone: »Gottes Reich hat begonnen«. Der Einfluß chiliastischer Hoffnung auf die DDR-Romane von Anna Seghers. Frankfurt a. M. [u. a.] 2009. Bivens, Hunter: Epic and Exile: Novels of the German Popular Front, 1933–1945. Evanston 2015. Bock, Sigrid: Erziehungsfunktion und Romanexperiment. Anna Seghers ›Die Toten bleiben jung‹. In: Dies./Manfred Hahn (Hg.): Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933–1945. Analysen. Berlin/Weimar 1979, 394–431. Bock, Sigrid: Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008. Boney, Kristy R./William, Jennifer (Hg.): Dimensions of Storytelling in German Literature and Beyond. Rochester 2018. Braese, Stephan: Fünfzig Jahre ›danach‹. Zum Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 14: Rückblick und Perspektiven. München 1996, 133–149. Brandes, Ute: Anna Seghers. Berlin 1992. Breyer, Till/Weber, Philipp: Transit des Europäischen. Poetik
und Politik bei Anna Seghers. In: Wolfgang Johann/IuliaKarin Patrut/Reto Rössler (Hg.): Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Poetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne. Bielefeld 2019, 149–164. Brockmann, Stephen: From Nacism to Socialism. Anna Segher’s ›Der Mann und sein Name‹. In: German Studies Review 37 (2014), 297–316. Brockmann, Stephen: The Writers’ State. Constructing East German Literature, 1945–1959. New York 2015. Buthge, Werner: Anna Seghers: Werk, Wirkungsabsicht, Wirkungsmöglichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1982. Canteloube, Marie-Laure: Anna Seghers et la France. Paris 2012. Danzer, Doris: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Bindungen (1918–1960). Göttingen 2012. Degemann, Christa: Anna Seghers in der westdeutschen Literaturkritik 1946 bis 1983. Eine literatursoziologische Analyse. Köln 1985. Díaz Pérez, Olivia C.: Mexiko als antitotalitärer Mythos. Das Werk von Anna Seghers zwischen Nationalsozialismus, mexikanischem Exil und Wirklichkeit der DDR. Tübingen 2016. Diersch, Manfred/Orłowski, Hubert: Annäherung und Distanz. DDR-Literatur in der polnischen Literaturkritik. Halle/Leipzig 1983. Diersen, Inge: Seghers-Studien. Interpretation von Werken aus den Jahren 1926–1935. Ein Beitrag zu Entwicklung der modernen deutschen Epik. Berlin 1965. Dubrowska, Małgorzata: »Und ich brauch doch so schrecklich Freude«. Frauentopoi im Werk von Anna Seghers. Lublin 2009. Ehsan, Sara: »Den Schritt hinauswagen!« – Konzeptualisierung des Widerstands im Exil in Anna Seghers’ ›Transit‹. München 2013. Eifler, Günter/Keim, Anton Maria (Red.): Anna Seghers – Mainzer Weltliteratur. Beiträge aus Anlaß des 80. Geburtstages. Mainz 1981. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausg. Berlin 2000. Fauth, Dieter: Anna Seghers – eine jüdische Kommunistin gegen das NS-Regime – im Licht ihrer Freundinnen. Zell a. M. 2019. Fehervary, Helen: Anna Seghers. The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001. Fehevary, Helen/Zehl Romero, Christiane/Kepple Strawser,
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Anhang
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Auswahlbibliographie Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. Berlin 2003. Mommsen-Wilkinson, E. J.: Reception as a Representation: The Multiple Mirrors of Anna Seghers’ Works. Austin, Univ. of Texas, Diss. 1992. Ndiaye, Seynabou: »Wer schreibt, handelt.« Exilliteratur und politisches Engagement bei Anna Seghers und Mongo Beti. Frankfurt a. M. [u. a.] 2009. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Ihr Leben und Werk. Berlin 1970. Neugebauer, Heinz: Anna Seghers. Leben und Werk. Mit Abbildungen. Berlin 61978. Ohlsen, Birgit: »Heimat« im Exilwerk von Anna Seghers. Berlin 2017. Opitz, Michael/Hofmann, Michael (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart/Weimar 2009. Peitsch, Helmut: Die Vorgeschichte der ›Brecht-LukácsDebatte‹. Die ›Spesen‹ zu Brechts ›Sieg‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39/1 (2014), 89–121. Peitsch, Helmut u. a. (Hg.): Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext. Berlin 2018. Pérez Alvarez, Bernardo Enrique: Die Konstitution interkultureller Texte: eine Interpretation einiger Schriften von Anna Seghers und B. Traven. Frankfurt a. M. [u. a.] 2004. Pichler, Georg: »...das war etwas Entscheidendes«. Anna Seghers und der II. Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in Valencia und Madrid. In: http://www.kfsr.info/2017/02/das-war-etwasentscheidendes-anna-seghers-und-der-ii-internationaleschriftstellerkongress-zur-verteidigung-der-kultur-invalencia-und-madrid-von-georg-pichler/ (4.4.2019). Pizer, John David: Negritude in East German literature. Anna Seghers, Heiner Müller, and the Haitian revolution. In: The Comparatist 35 (2011), 19–39. Pröll, Fiona: Der innerdeutsche Vergleich in Anna Seghers’ Die Rückkehr. Gut und Böse im Dienst der sozialistischen Propaganda. Berlin 2017. Radvanyi, Pierre: Jenseits des Stroms: Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Berlin 2006. Reichelt, Kristina: Zur Anna Seghers-Rezeption in der DDRLiteratur. An ausgewählten Beispielen. Halle 1983. Reich-Ranicki, Marcel: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. München 1993. Richter, Albrecht: China und »Chinesisches« im Werk von Anna Seghers. Dissertation eingereicht an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz-Zwickau 1994. Richter, Albrecht: China und »Chinesisches« im Werk von Anna Seghers. Chemnitz/Zwickau, Diss. 1994. Rilla, Paul: Die Erzählerin Anna Seghers. Berlin 1950. Rohrwasser, Michael: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart 1991. Roos, Peter/Hassauer-Roos, Friderike J. (Hg.): Anna Seghers Materialienbuch. Darmstadt/Neuwied 1977. Rühle, Jürgen: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus (1960) in der Epoche Lenins und Stalins. Mit einem Vorwort von Manès Sperber. Köln 1988. Rüther, Günther: »Greif zur Feder, Kumpel«. Schriftsteller,
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Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. Berlin 1994. Wagner, Frank: »... der Kurs auf die Realität«. Das epische Werk von Anna Seghers (1939–1943). Berlin 1975. Wagner, Frank: Anna Seghers. Berlin/Leipzig 1980. Wallace, Ian (Hg.): Anna Seghers in Perspective. Amsterdam, Atlanta (GA) 1998. Walter, Hans-Albert: Anna Seghers’ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. Wilhelmer, Lars: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld 2015. Winckler, Lutz: Eine Chronik des Exils. Erinnerungsarbeit in Anna Seghers ›Transit‹. In: Exilforschung 28 (2010), 194– 210. Winnen, Angelika: Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig. Würzburg 2006. Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze. Reden und Gespräche. 1959–1985. Darmstadt/Neuwied 1987. Wünschmann, Anita: Anna Seghers. Jüdin, Kommunistin, Weltbürgerin – die große Erzählerin des 20. Jahrhunderts. Berlin 2004. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Reinbek bei Hamburg 1993. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000. Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie 1947–1983. Berlin 2003. Zhang, Chunjie: Composing Modernist Connections in China and Europe. Milton 2019.
Saskia Fuckert / Kilian Thomas Argonautenschiff: Schwerpunktthemen (1992–2020) 1/1992 Anna Seghers in den Auseinandersetzungen der Zeit 2/1993 Schreibweisen und neue Lesarten. Anna Seghers: Neue Fragen an ihr Werk 3/1994 Anna Seghers in den sechziger Jahren 4/1995 Kindheitsmuster: Werk, Biographie, Autobiographie 5/1996 Anna Seghers: Frauenbilder 6/1997 Aspekte jüdischer Erfahrungen im 20. Jahrhundert
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Zwischen Rückkehr und Heimkehr. Das Jahr 1947 8/1999 Deutschlandbilder der fünfziger Jahre in Ost und West 9/2000 Literarische und gesellschaftliche Utopien 10/2001 Anna Seghers. Erzählen und Handeln – Schreiben im 20. Jahrhundert 11/2002 Aneignung des Fremden und Darstellung des Eigenen 12/2003 Anna Seghers – Bilder. Biographische Aspekte 13/2004 Anna Seghers und die russisch-sowjetische Literatur 14/2005 Literarische Wahlverwandtschaften – Intertextuelle Beziehungen (Anna Seghers – Bertolt Brecht – Christa Wolf – Heiner Müller – Volker Braun – Kerstin Hensel – Hans Ulrich Treichel – Hans Werner Henze) 15/2006 Literatur und Arbeit 16/2007 Märchen, Sagen, Mythen und Legenden im Werk von Anna Seghers 17/2008 Anna Seghers und der Film 18/2009 Anna Seghers und die bildende Kunst 19/2010 Anna Seghers: Deutschland und wir 20/2011 Anna Seghers und Frankreich als Ort von Exil und Widerstand 21/2012 Das China-Bild in der Literatur des 20. Jahrhunderts 22/2013 Anna Seghers im Kontext der ost- und westdeutschen Literatur der 50er und 60er Jahre 23/2014/15 Amitié – Barátság – Druschba. Freundschaftsund Arbeitsbeziehungen in Leben und Werk von Anna Seghers. I und II 24/2016 Spanien im Herzen – Anna Seghers und der Spanische Bürgerkrieg 1936/37 25/2017 »Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend« – Zum Motiv von Flucht und Exil im Werk von Anna Seghers 26/2018 75 Jahre – Anna Seghers: Das siebte Kreuz 27/2019 Anna Seghers und Bertolt Brecht im Kontext literarischer Debatten 28/2020 Begegnungen mit Anna Seghers Auf der Homepage der Anna-Seghers-Gesellschaft können die Inhaltsverzeichnisse der einzelnen Jahrbücher abgerufen werden. Außerdem ist dort eine differenzierte Auswahlbibliographie (seit 1992) zu finden: http://www.annaseghers.de/bibliographie.php (4.5.2020).
Saskia Fuckert / Kilian Thomas
Autorinnen und Autoren Konstantin Baehrens, Moses Mendelssohn Zentrum
für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam (IV.36 Briefwechsel mit Georg Lukács (1938/39)). Bettina Bannasch, Prof. Dr., Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg (II.10 Das siebte Kreuz (1939 Teildruck; 1942/43), The Seventh Cross (1942)). Peter Beicken, Prof. Dr., Department of Germanic Studies, University of Maryland (V.48 Engagement, Gerechtigkeit, Solidarität, Widerstand). Withold Bonner, Dr., Fakultät für Informationstechnologie und Kommunikationswissenschaften (ITC), Universität Tampere (II.5 Die Gefährten (1932); II.6 Der Kopflohn (1933)). Stephanie Bremerich, Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (IV.34 Kunsthistorische Dissertation zu Rembrandt (1924); Anhang: Zeittafel). Stephen Brockmann, Prof. Dr., Department of Modern Languages, Carnegie Mellon University (VI.52 Rezeption in den USA). Katrin Dautel, Dr., Department of German, University of Malta (II.14 Das Argonautenschiff (1949)). Yvonne Delhey, Dr., Duitse Taal en Cultuur, Radboud Universiteit (III.32 Essays und Zeitschriften projekte). Barbara Dengel, M. A., Seminar für Deutsche Philologie, Abteilung Interkulturelle Germanistik, Georg-August-Universität Göttingen (IV.41 China und Chinaerfahrungen). Ursula Elsner, Dr., Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz (V.45 Traditionsbezüge, literarische Wahlverwandtschaften, intertextuelle Beziehungen). Helen Fehervary, Prof. Dr., Germanic Languages and Literatures, The Ohio State University (IV.42 Schriftlichkeit und Visualität; V.47 Topographien von Flucht und Exil). Viera Glosíková, Doz. habil. PhDr., Katedra germanistiky Pedagogická fakulta, Karls-Universität Prag (IV.39 Franz Kafka).
Carola Hilmes, Prof. Dr., Institut für deutsche Litera-
tur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Vorwort; II.29 Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990), zus. mit G. Rohowski; VI.56 Hörspiele: Jeanne d’Arc u. a.). Leonhard Herrmann, PD Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (II.13 Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen (1946): Der Ausflug der toten Mädchen, Post ins gelobte Land, Das Ende). Carsten Jakobi, Dr., Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (IV.37 Sozialistischer Realismus; V.43 Heimat und Patriotismus). Marike Janzen, Prof. Dr., Humanities Program, University of Kansas (V.44 Revolutionäres Scheitern, unheroisches Leben). Anja Jungfer, M. A., Universität Potsdam; Anna-Seghers-Museum der Akademie der Künste, Berlin (VI.50 Ostdeutsche Rezeption – DDR). Jadwiga Kita-Huber, Prof. Dr., Instytut Filologii Germanskiej, Uniwersytet Jagiellonski Krakau (II.9 Sagen und Legenden (1938–1940): Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok, Sagen von Artemis, Die drei Bäume). Alfrun Kliems, Prof. Dr., Institut für Slawistik, Humboldt-Universität zu Berlin (VI.54 Rezeption in der Sowjetunion). Caroline Köhler, Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (II.22 Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen (1965)). Vesna Kondrič Horvat, Prof. Dr., Filozofska Fakulteta, Univerza v Mariboru, Slowenien (II.8 Die Rettung (1937). Katrin Löffler, Dr. habil., Projektmitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (II.26 Sonderbare Begegnungen (1973): Sagen von Unirdischen, Der Treffpunkt, Eine Reisebegegnung; II.27
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Anhang
Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen (1977)). Katrin Max, PD Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (IV.35 Über Kunstwerk und Wirklichkeit). Katharina Meiser, Dr., Fakultät für Germanistik, Universität des Saarlands (III.30 Vorträge und Reden). Sina Meißgeier, M. A., Department of German Studies, University of Arizona (I.1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten, zus. mit I. Nagelschmidt). Monika Melchert, Dr., Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz (IV.40 Märchen und Mythen, Sagen und Legenden). Ilse Nagelschmidt, Prof. Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (Vorwort; I.1 Ein Leben zwischen den Zeiten und den Orten, zus. mit S. Meißgeier). Hans-Willi Ohl, Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz (VI.55 Verfilmungen; VI.58 Übersetzungen; VI.59 Anna-Seghers-Gesellschaft). Inga Probst, Dr., DAAD-Lektorin, Instytut Lingwistyki Stosowanej, Uniwersytet Warszawski (II.18 Der Mann und sein Name (1952)). Gabriele Rohowski, Dr., Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt am Main (II.29 Schriften aus dem Nachlass: Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St. Anne in Rouen (1924; 2003), Jans muß sterben (1925; 2000), Der gerechte Richter (1957; 1990), zus. mit C. Hilmes). Hélène Roussel, Maître de conférences honoraire, Université Paris 8 (VI.53 Rezeption in Frankreich). Jyoti Sabharwal, Dr., Department of Germanic and Romance Studies, University of Delhi (II.2 Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928)). Lehel Sata, Dr., Institut für Germanistik, Universität Pécs (II.25 Überfahrt. Eine Liebesgeschichte (1971)). Corinna Schlicht, PD Dr., Institut für Germanistik / Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Duisburg-Essen (II.1 Grubetsch (1927); II.4 Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen (1930)). Nadine Schmidt, Dr., Institut für Germanistik / Literaturdidaktik II, Universität Siegen (II.19 Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden (1953)). Ulrike Schneider, Dr., Philosophische Fakultät – Institut für Jüdische Studien und Religionswissen-
schaft, Universität Potsdam (V.49 Verhältnis zum Judentum). Kathrin Schödel, Dr., Department of German, University of Malta, (II.28 Drei Frauen aus Haiti (1980): Das Versteck, Der Schlüssel, Die Trennung). Hannelore Scholz-Lübbering, Prof. Dr., Berlin (III.31 Reden auf den Internationalen Schriftstellerkongressen 1935 und 1937). Jörg Schuster, PD Dr., Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a. M. (II.12 Transit (engl. 1944; dt. 1948)). Christian-Daniel Strauch, Dr., Philologische Fakultät – Institut für Slavistik, Universität Leipzig (IV.38 Klassische russische Literatur). Elżbieta Tomasi-Kapral, Dr., Instytut Filologii Germańskiej, Wydział Filologiczny Uniwersytet Łódzki (VI.51 Westdeutsche Rezeption – BRD). Herbert Uerlings, Prof. Dr., FB II Germanistik – Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier (II.21 Karibische Geschichten (1962): Die Hochzeit von Haiti (1948), Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe (1949), Das Licht auf dem Galgen (1960)). Loreto Vilar, Prof. Dr., Departament de Llengües i Literatures Modernes i d’Estudis Anglesos, Facultat de Filologia, Universitat de Barcelona (II.15 Die Toten bleiben jung (1949); II.20 Die Entscheidung (1959); II.24 Das Vertrauen (1968)). Martina Wernli, Dr., Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a. M. (II.16 Crisanta. Mexikanische Novelle (1951); II.23 Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko (1967)). Markus Wiegandt, Dr., Institut für Germanistik, Universität Leipzig (II.17 Kleine Erzählsammlungen der 1950er Jahre: Friedensgeschichten (1950/53), Die Kinder (1951)). Jennifer Marston William, Dr., School of Languages and Cultures, Purdue University, USA (V.46 Geschlechterverhältnisse und die Rolle der Frauenfiguren). Monika Wolting, Prof. Dr., Instytut Filologii Germańskiej, Uniwersytet Wrocławski (II.7 Der Weg durch den Februar (1935), II.11 Das Obdach (1941)). Bernd Zegowitz, Prof. Dr., Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a. M. (VI.57 Musik: 9. Sinfonie von Hans Werner Henze). Christiane Zehl Romero, Prof. Dr., Tufts University, Medford MA, USA (III.33 Briefe und Korrespondenzen).
Personenregister A Abrassimow, Pjotr Andrejewitsch 28 Abusch, Alexander 17, 83, 196 Adenauer, Konrad 181, 275 Adler, Laure 363 Adorno, Theodor W. 97, 236 Akersloot-Berg, Betzy 268 Alexis, Agathe 363 Alexis, Jacques Stéphen 129 Allio, René 87, 268, 363, 378 Alpári, Pál 210 Alpári, Tilda 210 Alwasiak, Monika 375 Amado, Jorge 29, 202–204, 207, 246, 292 Amado, Zélia 29, 149 André, Etkar 196 Anissimow, Iwan 16 Antal, Frederick 236 Aragon, Louis 291 d’Arc, Jeanne 293, 364, 381–382 Arendt, Erich 293 Arendt, Hannah 5 Arnim, Achim von 108, 231 Azevedo, Aluísio 149 B Bach, Johann Sebastian 384 Bachmann, Ingeborg 58, 258 Balázs, Béla 44–45, 268, 308, 371 Balk, Theo 34, 189, 210 Balzac, Honoré de 12, 102, 181, 187, 235, 237, 291, 369, 395 Barbusse, Henri 188, 291, 395 Barnes, Harry Elmer 196 Barsacq, Alain-Alexis 363 Batt, Kurt 203, 240, 373 Baumgart, Hans 57 Becher, Johannes R. 10, 24–25, 60, 69, 100, 105, 109, 121, 173, 182, 187, 195, 200, 280, 291, 293, 347 Becker, Jurek 31 Beer, Paula 379 Beethoven, Ludwig van 384 Beicken, Peter 357 Beilharz, Norbert 377 Beimler, Hans 74, 190 Benjamin, Walter 52, 65, 68, 84, 130,
203, 232, 236, 267, 284, 286, 288– 289, 296 Benn, Gottfried 73, 228, 232 Berg, Alban 292, 385 Berger, Christel 31, 342, 391, 393 Berger, Marianne 391 Berger, Roland R. 392–393 Berkessel, Hans 391 Berman, Pandro S. 355 Besson, Benno 382 Beyer, Frank 375–376, 378 Bhabha, Homi 151 Biermann, Wolf 31, 160, 166, 174, 226, 362, 375 Biha, Otto 48, 187 Bloch, Bernard 364 Bloch, Ernst 14, 102, 130, 231, 233, 236, 238–239, 277, 279 Bloch, Jean-Richard 187–188 Blumenberg, Hans 150 Bobrowski, Johannes 30 Bock, Sigrid 203, 291, 341, 390–393 Bode, Wilhelm von 219 Böll, Heinrich 86, 209 Bonnaud, Irène 364 Bonus, Ephraim 218 Borchert, Wolfgang 113 Bornemann, Ernst 376 Bosc, Adrien 364 Bosques, Gilberto 17 Brandes, Ute 357 Brandt, Matthias 379 Brandt, Willy 361 Braun, Anja 81 Braun, Volker 31, 87, 293, 296, 339 Bräunig, Werner 248, 293, 339, 341, 374 Brecht, Bertolt 7, 9, 12, 22, 28, 34, 50, 60, 67–69, 71, 75, 109, 187–188, 195, 202–203, 232, 237–239, 258, 279– 280, 287, 291, 293–294, 316, 336, 338, 347, 355, 357, 359, 361, 364, 371, 374–375, 381–382 Bredel, Willi 10, 51, 56, 173, 186, 189, 195, 200, 240, 291, 307 Breloer, Heinrich 378 Brentano, Bettina 108 Brentano, Clemens 231
Breton, André 364 Brik, Ossip 371 Brod, Max 250, 252 Brookhouser, Frank 356 Brozille, Christiane 363 Brozille, Serge 363 Bruyn, Günter de 31, 158 Buber, Bronislaw 203–204 Buber, Martin 217, 257, 291 Bubnoff, Nicolai von 243 Buch, Hans Christoph 127, 167–168, 364 Bucharin, Nikolaj 237, 239 Büchner, Georg 14, 27, 30, 40, 131, 186–187, 195, 225–226, 231, 239, 291–292, 297, 327, 382, 394 Bürger, Gottfried August 14, 186–187, 231–232, 239, 291 Busch, Ernst 189 Büschi, Ella 382 C Calvino, Italo 65 Camus, Albert 369 Cárdenas, Lázaro 17 Carlos, Juan 164 Carpentier, Alejo 129 Casals, Pablo 375 Caspar, Günter 149, 240 Certeaus, Michel de 87 Cervantes, Miguel de 4 Césaire, Aimé 127, 129 Chamberlain, John 354 Chazalet, Maxime 363 Chiang Kai-shek (auch Jiang Jieshi) 259, 261–262, 313 Chmielnicki, Bohdan 329 Chodziesner, Ludwig 7 Chruschtschow, Nikita 182 Chu Teh siehe Zhu De Cohen, Robert 357 Conrad, Joseph 149, 291 Couleau, Guy Pierre 363 Cowley, Malcolm 189 Cramer, Clementine 322–323 Cramer, Sally David 206 Cranach, Lucas 295 Cremer, Fritz 392
412
Anhang
Cronyn, Hume 355 Crowther, Bosley 355 D Dach, Simon 295 Daladier, Édouard 360 Dante, Alighieri 17, 250, 309 Defoe, Daniel 291 Degeyter, Pierre 276 Delius, Friedrich Christian 392 Delmas, Fernand 34 Dessau, Paul 384 Deutsch, Helen 75, 372 Dickens, Charles 4 Diersen, Inge 393 Diezemann, Rüdiger 377 Dimitroff, Georgi 278 Döblin, Alfred 9, 52, 55, 230, 237, 240, 278, 291 Dollfuß, Engelbert 15 Dos Passos, John 51–52, 56, 61, 83, 101–102, 186, 237, 240, 291, 354 Dostojewskij, Fjodor M. 4–6, 11, 17, 29, 40, 102, 143, 183, 186, 196, 208, 222, 239, 243–250, 254, 291–292, 300, 309, 367, 394 Dovifat, Emil 192 Dreiser, Theodore 291 Dreyer, Carl 268, 371, 381 du Bois, William 356 Dudow, Slátan 12, 371 Duvalier, Jean-Claude 167 Dwinger, Edwing Erich 190 Dymschitz, Alexander 113, 209 E Ecke, Jürgen 377 Egon, Friedrich 189 Ehrenburg, Ilja 24, 29, 188, 204, 207, 291, 367 Eich, Günter 71 Eifler, Günter 391 Einsmann, Maria 293, 378 Einstein, Albert 7 Eisenschitz, Bernard 378 Eisenstein, Sergei 51–52, 56, 268, 371 Eisler, Hanns 7, 232, 238–239, 384 Ekk, Nikolai 371 El Greco 230 Elsner, Ursula 392 Engels, Friedrich 235–237, 275–276 Engström, Ingemo 87, 375 Erpenbeck, Fritz 101, 195 Euripides 98 F Fabian, Ruth 375 Fadejew, Alexander 202, 368 Fadiman, Clifton 353 Falconetti, Maria 381
Farocki, Harun 379 Fedin, Konstantin 367 Fehervary, Helen 357 Feng Zhi 264 Feuchtwanger, Lion 14, 55, 67, 87, 186, 188, 195, 200, 237 Feustel-Paech, Uta 70 Fichte, Hubert 127 Fischer, Ernst 230, 232 Fischer, Torsten C. 174, 379 Fiwek, Wojciech 375–376 Flaubert, Gustave 12, 102, 291 Flick, Friedrich 121 Fontane, Theodor 4, 25, 102, 291 Forster, Georg 232 Fraenger, Wilhelm 218 Francke, Renate 203 Franco, Francisco 162–164 Fränger, Wilhelm 6 Freehof, Solomon Benet 354–355 Frei, Bruno 14, 20, 80, 196 Friedländer, Erika 203, 206, 211 Fries, Fritz Rudolf 393 Frisch, Max 258 Fuchs, Jochel 350 Fühmann, Franz 31, 293 Fuld, Harry 206 Fürnberg, Louis 293 G Gabor, Andor 187 Galston, James A. 74, 83, 354 Gandhi, Mahatma 244 García Lorca, Federico 149 Gattai, Zélia 203–204, 207 George, Stefan 5 Geschonnek, Erwin 375 Gide, Andrè 188 Gierig, Frank 174 Gingold, Peter 375 Ginzburg, Natalia 65 Girnus, Wilhelm 4, 8, 189 Gladkow, Fjodor 193, 367 Glaser, Georg K. 69 Glissant, Édouard 129 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 83, 116, 149, 168, 186, 231, 235, 291, 394 Gogol, Nikolai 32, 156–157, 186, 243, 248, 252, 257, 291, 295, 367 Goldsmith, Margaret 353 Goldstücker, Eduard 252 Göring, Helga 374 Gorkij, Maxim 4, 27, 223, 231, 243, 367 Goyen, Jan van 268 Graf, Oskar Maria 13, 60 Granach, Alexander 371 Grass, Günter 295 Graßnick, Renate 391 Grimm, Jacob und Wilhelm 250
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel 295 Gropius, Walter 7 Grosse, Herwart 382 Grossmann, Walter 93 Gryphius, Andreas 295 Guèhenno, Jean 188 Guerrero, Xavier 140, 210 Günderrode, Karoline von 14, 186– 187, 195, 225, 231, 239, 291, 295 Gundolf, Friedrich 5 Günther, Egon 376 Günther, Hans 24, 195 H Hacks, Peter 101, 237, 239, 258 Hager, Kurt 208 Hallstein, Walter 361 Halpern, Olga 193 Hamann, Richard 270 Hamburger, Käte 5 Hamsun, Knut 291 Handke, Peter 258 Harich, Wolfgang 25, 133 Harkness, Margaret 236 Härtling, Peter 390, 393 Hauptmann, Elisabeth 293, 381 Hauser, Arnold 236 Heartfield, John 280 Hebel, Johann Peter 135 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 235, 238 Heiduczek, Werner 28, 158 Hein, Christoph 28, 31, 293, 393 Heine, Betty 322, 394 Heine, Heinrich 4, 27, 30, 195–196, 200, 235, 291–292, 322, 327, 330, 394 Heintke, Andre 81 Heisig, Bernhard 392 Heist, Walter 391 Hellmis, Heinz 392 Hemingway, Ernest 291, 369 Hennicke, André 174 Hensel, Kerstin 293, 296, 393 Henze, Hans Werner 292–293, 384 Herder, Johann Gottfried 230 Hermlin, Stephan 31, 212, 373, 390, 392–393 Hermsdorf, Klaus 252 Herwegh, Georg 27 Herzfelde, Wieland 13, 17, 92–93, 194, 199, 201, 203, 237 Herzl, Theodor 90 Hesse, Hermann 50, 201, 207 Heyd, Kurt 44, 345 Heyden, Jan van der 268 Heym, Stefan 28 Hildagoy Costilla, Miguel 105 Hildebrand, Ruth 212 Hilzinger, Sonja 53, 391
Personenregister Hirsch, Samson Raphael 323 Hitler, Adolf 16, 19, 63, 127, 155, 181, 206, 248, 315, 346, 359–360, 368 Hobbemas, Meindert 268 Hoffmann, E. T. A. 32–33, 116, 156– 157, 162, 186, 230, 239, 248, 252, 257, 291, 295 Hölderlin, Friedrich 4, 14, 186–187, 223, 225, 231–232, 239, 291 Holitscher, Arthur 353 Holtz, Jürgen 375 Homer 291 Honecker, Erich 30, 153, 160, 341 Hoover, J. Edgar 354 Hoppe, Rolf 375 Horaz 270 Hotz, Michaela 81 Houben, H. H. 166 Houska, Leoš 252 Hübchen, Henry 377 Huch, Ricarda 5, 23, 102 Hugo, Victor 395 Hu Lanqi 259, 262 I Imbrigotta, Kristopher 230 Ingram, Rex 371 Israel, Menasse ben 218 Israël, Jozef 268 Ivens, Joris 45 J Jahnn, Ellinor 201 Jahnn, Hans Henny 9, 40, 44, 52, 97, 199, 207, 258, 393 Jakob ben Ahron Sasportas 130 Janka, Walter 25, 34, 83, 101, 133, 172–174, 209, 212, 226, 292, 320, 342, 373, 379, 390 Jarmatz, Klaus 232 Jaspers, Karl 5, 39 Jens, Walter 390, 392 Jiang Jieshi siehe Chiang Kai-shek Johnson, Uwe 28 Jokostra, Peter 346 Joyce, James 52, 61, 237, 240 Juárez Garcia, Benito 105, 140 Jünger, Ernst 190 Junghans, Carl 45 Justynya, Else 17 K Kafka, Franz 9, 17–18, 30, 32, 85, 108– 109, 156–158, 172–173, 186, 225– 226, 232, 237, 248, 250–252, 257, 291, 295, 317, 357, 364, 369 Kafka, Lev 369 Kahle, Hans 189 Kahlo, Frida 32 Kane, Martin 52
Kant, Hermann 390 Kant, Immanuel 235 Kantorowicz, Alfred 232, 375 Kantorowicz, Friedel 14 Karl VII. 381 Karl der Kühne 70 Kaschnitz, Marie Luise 97 Keim, Anton Maria 350, 391 Kerr, Alfred 353 Kersten, Kurt 199 Keun, Irmgard 13, 87 Khinoy, Andrew 356 Kierkegaard, Søren 6, 11, 39, 243, 291, 308 Kilchenmann, Marc 384 Kipling, Rudyard 68 Kirchberg, Eberhard 115 Kirsch, Sarah 31, 339 Kisch, Egon Erwin 8, 10, 14, 19–20, 23, 27, 34, 50, 60, 187, 189, 194, 209, 291, 336, 353 Kisch, Gisela 14, 23, 27, 34, 209 Kleeberg, Michael 393 Kleist, Heinrich von 14, 30, 56, 127– 128, 132, 167, 186–187, 195, 223, 225, 231–232, 239, 291–292, 295, 394 Klüger, Ruth 75 Koch, Sebastian 378 Kohlhaase, Wolfgang 375 Kohner, Frederick 378 Kohner, Friedrich 268 Kollontai, Alexandra 367 Kollwitz, Käthe 297 Kolmar, Gertrud 7, 9 Kolumbus, Christoph 166 Konfuzius 50, 260–261 Kopelew, Lew 140, 209, 291, 367, 369, 390 Koplowitz, Oskar 56 Koppy, Ingeborg Margarethe 357 Korngold, Ralph 130 Kracauer, Siegfried 289, 314 Kretzschmar, Harald 392 Krolop, Kurt 252 Kronenberger, Louis 354 Krull, Gertrud 364 Kubrick, Stanley 379 Kuczynski, Jürgen 27, 105, 202, 208, 275, 327 Kuczynski, Marguerite 208 Kunert, Günter 293 Kunert, Joachim 102, 373–374 Kunze, Reiner 160 Kurella, Alfred 187–188, 228 Kusák, Alexej 252 L Laatz, Gesine 115 Lagerlöf, Selma 4 Lam, Wifredo 364
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Landshoff, Fritz H. 47, 55, 204 Lang, Alexander 375 Langgässer, Elisabeth 23, 101 Langhoff, Matthias 364 Langhoff, Thomas 45–46, 268, 377–378 Langhoff, Wolfgang 23, 291 Laotse 50, 53, 261 Lasker-Schüler, Else 6, 8–9 Lassalle, Ferdinand 236 Lassalle, Jacques 363 Lee, Kyung-Boon 393 Lehmann, John 67 Lehmann, Marcus 323 Leidgens, Frédéric 363 Leitner, Maria 291 Le May, Curtis Emerson 162 Lenau, Nikolaus 4 Lenin, Wladimir Iljitsch 68, 131, 193, 236, 243, 246, 276 Lenya, Lotte 371 Lenz, Jakob Michael Reinhold 14, 30, 186–187, 225, 231, 239, 291 Leonardo da Vinci 267 Leonhard, Rudolf 14 Lepoix, Françoise 363–364 Lessing, Gotthold Ephraim 230, 232, 270, 291, 327, 394 Lesznai, Anna 195 Lévi-Strauss, Claude 307, 364 Lewin, Waltraud 392 Lewis, C. S. 291 Lieber, Maxim 204, 372 Liebknecht, Karl 222, 275–276, 319 Lietzau, Hans 382 Lindemann, Prof. Dr. 139 Loebinger, Lotte 371, 374 Loebner, Vera 115, 376 Loest, Erich 25, 28, 390, 393 Loichemol, Hervé 363 London, Artur 291 Lorbeer, Hans 291 Lotman, Juri M. 150 Lück, Günther 392 Ludwig der Elfte 70 Ludwig, Emil 196 Luhmann, Niklas 235 Lukács, Georg 5, 11, 14–15, 25, 51, 63, 68–69, 73, 83–84, 93, 96, 123, 158, 173, 186–187, 195, 202, 204, 207, 209–210, 212, 221–225, 228–233, 236–239, 243, 246, 250, 267, 289, 295, 308, 316, 327, 390 Lukács, Gertrud 207 Lunqui, Hu 24 Luxemburg, Rosa 222, 276, 319 Lu Xun 263 M Machado, Antonio 149 Maetzig, Kurt 374
414
Anhang
Magnin, Frédéric 363 Mahler, Gustav 384 Mallarmé, Stéphane 291 Malraux, André 50, 188 Malsch, Moritz 393 Mann, Heinrich 55, 188, 237 Mann, Klaus 56, 87, 228 Mann, Thomas 68, 103, 188, 207, 222, 229, 237, 239, 357, 369 Mannheim, Karl 308 Manzoni, Alessandro 280, 291 Mao Zedong 263 Marc, Franz 230 Marchwitza, Hans 10, 63, 187, 189, 291 Marcuse, Herbert 236 Marcuse, Ludwig 14 Márquez, Gabriel Garcia 257, 395 Marx, Karl 5, 124, 130, 230, 235–236, 243–244, 275–276 Mathon, Hélène 364 Maupassant, Guy de 181, 395 Mayer, Hans 33, 92–93, 257, 393 Mayer (Amann), Ursula 212 Mehring, Franz 236 Melzer, Caroline 363 Mendelssohn Bartholdy, Felix 384 Méndez, Leopoldo 392 Mérimée, Prosper 395 Merker, Paul 19, 25, 113 Merlin, Milton 356 Messner, Clauda 378 Metzmacher, Ingo 384 Michaelis, Rolf 351 Michelangelo, Buonarroti 395 Mickel, Karl 293 Mittenzwei, Werner 232–233, 252 Morelos, José Maria 105 Motyljowa, Tamara 153, 201, 203, 208–209, 257, 291, 367–369 Mühe, Ulrich 25, 115, 376 Mühl, Christa 377 Mühsam, Erich 186, 190 Müller, Heiner 26, 31–32, 68, 97, 109, 127, 129–132, 137–138, 237, 239, 292–294, 296, 339, 341, 357, 364, 390, 393 Müller, Inge 237 Münch, Armin 392 Müncheberg, Hans 374 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von 364 Münzenberg, Willi 196 Musil, Robert 188, 369 N Napoleon Bonaparte 127, 166, 244– 245, 248 Naumann, Konrad 31 Neddam, Alain 363
Negrin, Juan 189 Nehring, Alfried 376 Neruda, Pablo 24, 29, 204, 292 Neugebauer, Heinz 203 Neumann, Carl 6, 218–219, 266, 324, 371 Neutsch, Erik 342, 393 Nexö, Martin Andersen 188, 291 Nietzsche, Friedrich 243, 245 Nitzschke, Helmut 374–375 Nizan, Paul 188 Noll, Dieter 240, 373 Nono, Luigi 384 Norwid, Cyprian Kamil 149 Noth, Ernst Erich 375 Novalis 140 O Ohl, Hans-Willi 392 Oppenheim, Michel 281 Ossietzky, Carl von 12, 186, 190 Osten, Maria 189 Ottwalt, Ernst 237, 371 P Palitzsch, Peter 382 Panzer, Friedrich 5 Péguy, Charles 364 Pelea, Amza 375 Petersen, Jan 13, 291 Petzold, Christian 87, 297, 362–363, 379 Pforte, Dietger 391, 393 Picasso, Pablo 197, 266 Pieck, Wilhelm 24, 182, 222 Pinkisewitsch, Pjotr 392 Pinthus, Kurt (Pseudonym Paulus Potter) 44 Piscator, Erwin 7, 45–46, 268, 363, 371, 377 Plathe, Walter 376 Plavius, Heinz 258 Plechanov, Georgij Valentinovič 236 Plenzdorf, Ulrich 226 Plievier, Theodor 327 Porset, Clara 23, 202–203, 210 Potter, Paulus siehe Pinthus, Kurt Pottier, Eugène 276 Pozner, Ida 375 Pozner, Vladimir 375 Preminger, Otto 355 Prinsen-Eggert, Barbara 391–392 Proust, Marcel 369 Pudowkin, Wsewolod 268, 371 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 181, 183, 245, 291 Pu Songling 260 Putnam, Samuel 356
R Racine, Jean 181, 369 Radek, Karl 237, 239, 277 Radványi, Jean 378 Radványi, László (auch Johann Schmidt) 5–7, 13, 16–18, 34, 39, 42, 50, 193–195, 199–200, 203, 205, 243, 255, 307–308, 311, 354–355, 371, 394 Radványi, Pierre 8, 14, 17, 21–22, 26, 33–35, 171, 189, 199–201, 206, 250, 255–256, 299, 311, 362, 364, 377– 378, 390, 393–394 Radványi, Ruth 8, 25, 31, 34–35, 199, 201, 206, 255, 299, 378, 390–391, 393, 395 Ranke, Hermann 5 Raphael, Max 236 Regler, Gustav 55, 189 Rehmann, Ruth 342, 393 Reich-Ranicki, Marcel 208, 240, 346– 348 Reifferscheid, Eduard 346 Reiling, David 323 Reiling, Esther Jeanette 323 Reiling, Hedwig 3, 22, 206, 266, 318, 323, 394 Reiling, Hermann 266, 323 Reiling, Isidor 3, 206, 266, 318, 322– 323, 394 Reimann, Brigitte 239 Reinerová, Lenka 27, 210, 293, 369 Reinhold, Heide 376 Reitz, Edgar 57 Remarque, Erich Maria 291, 354 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 6, 33, 102, 217–219, 225, 267–268, 270–271, 295, 308, 311–312, 324, 338 Renn, Ludwig 7, 10, 12, 186–187, 189– 190, 291, 353 Reuter, Gabriele 353 Richter, Hans 45, 268, 378 Richter, Helmut 252 Richter, Trude 24 Riekert, Heinrich 5 Rilke, Rainer Maria 12 Rilla, Paul 203, 369 Rimbaud, Arthur 296 Rivera, Diego 32, 102, 210 Robespierre, Maximilien de 128 Rodin, Auguste 12 Rodriguez, Maribel 376 Rogowski, Franz 379 Römer, Ernst 19 Rotermund, Erwin 391 Roth, Joseph 55 Roumain, Jacques 129 Rousseau, Jean-Jacques 4, 299 Rücker, Günther 173, 392
Personenregister Ruddigkeit, Frank 392 Rühle-Gerstel, Alice 87 Ruisdael, Jacob van 268 S Saalbach, Margarethe 382 Sacco, Ferdinando 47, 51 Salmony, Alfred 260 Sandberg, Herbert 392 Santis, Omar Saavedra 393 Schaeffer, Philipp 5, 34, 257, 260, 264, 311 Schäfer, Horst 392 Schapiro, Meyer 236 Scharrer, Adam 55, 57 Schenk von Stauffenberg, Claus 346 Schiller, Friedrich 4, 29, 42, 246–248, 291–292, 381, 394 Schlaffer, Hannelore 173 Schlageter, Albert Leo 277 Schleifer, Leon 75 Schlesinger, Klaus 226 Schlöndorff, Volker 373 Schmenger, Ursula 81, 376 Schmidt, Johann siehe Radványi, László Schmitt, Walfriede 374 Schneider, Peter 350, 391, 393 Schneider, Rolf 373 Scholochow, Michail 367 Schönstedt, Walter 56 Schroeder, Max 93 Schudt, Johann Jacob 325 Schulz, Katharina 8 Schulz, Max Walter 30 Schuman, Ernst 252 Schütz, Stefan 293, 341 Schü Yin 11 Schwab, Gustav 254, 291 Seghers, Hercules 6, 267, 308, 395 Seghers, Jan 293 Seifert, Jaroslav 367 Seitz, Gustav 264, 392 Selent, Gudrun 378 Serge, Victor 364 Shakespeare, William 181, 235 Sharp, William 75, 355 Shaw, Elizabeth 392 Shdanow, Andrei Alexandrowitsch 57 Shipp, Horace 353 Sickingen, Franz von 236 Simon, Rainer 374 Simonov, Konstantin 367 Sitte, Willi 392 Slánský, Rudolf 113 Smedley, Agnes 50, 259, 262–263 Sobel, Bernard 363 Solschenizyn, Alexander Issajewitsch 291
Sparschuh, Jens 390, 393 Spira, Steffie 27, 212 Spitzer, Jan 376 Spyri, Johanna 291 Stade, Martin 226 Stalin, Josef 10, 16, 45, 155, 182, 207, 248, 276, 278, 285, 288, 304, 319, 348, 360, 367–368, 371 Stanley, Fred 355 Steffin, Magarete 12 Stein, Gisela 377 Steinbach, Peter 379 Stendhal 4, 12, 187, 291 Stern, Jeanne 14, 17, 27, 55, 212, 360 Stern, Kurt 27, 189, 212, 360 Steshenski, Wladimir 8, 109, 201, 203, 208, 256, 291, 367 Storm, Theodor 90 Straub, Martin 392 Synge, J. M. 353 Szondi, Lily 203, 206 Szymborska, Wisława 367 T Tandy, Jessica 355 Taroni, Jacques 363 Taszman, Maurice 364 Thalbach, Katharina 375 Thälmann, Ernst 12–13, 222, 280, 314 Thein, Ulrich 376 Theuring, Gerhard 87, 375 Thiele, Klaus-Peter 374 Thiers, Adolf 395 Tieck, Ludwig 116 Tjulpanow, Sergej 154, 209 Toller, Ernst 55 Tolstoj, Leo N. 5, 8, 11, 25, 102, 121, 143, 181, 183, 186, 196, 208, 222– 223, 231, 239, 243–248, 291, 367, 394 Toussaint Louverture, François- Dominique 127, 166, 309 Tracy, Spencer 75, 355, 372 Traven, B. 353 Treichel, Hans-Ulrich 292–293, 384 Treichel, Käthe 375 Tretjakow, Sergei 239 Trottnow, Barbara 378 Trotzki, Leo 45, 68, 276 Tschechow, Anton Pawlowitsch 181, 243 Tse-tung, Mao 24 Tucholsky, Kurt 280 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 243 U Uhland, Ludwig 27 Uhse, Bodo 17, 19–20, 57, 83, 86, 173, 189, 196
415
Ulbricht, Walter 24–25, 35, 101, 113, 153, 160, 173, 212, 222, 248, 320, 341, 390 V Vaillaud-Couturier, Paul 45 Vansittart, Robert Gilbert 196 Vanzetti, Bartolomeo 47, 51 Vápenik, Rudolf 108, 210 Velázquez, Diego Rodríguez de Silva y 395 Viertel, Berthold 74–75, 268 Vitagliano, Miguel 393 Vogler, Rüdiger 375, 378 Volkmann-Leander, Richard 291 Voltaire 395 Voß, Johann Heinrich 256 W Wagner, Frank 341, 391 Walsinger, Hannes 81 Waterstradt, Berta 22, 27, 212 Weber, Max 5 Wegener, Paul 371 Weigel, Helene 5, 22, 27, 34, 75, 212, 355, 372 Weinert, Erich 189 Weiskopf, Franz Carl 17–19, 24, 56, 83, 85, 187, 194, 201–204, 291, 353– 354 Weiss, Peter 209, 296 Weiß, Ernst 85, 302, 317 Weller, Curt 23, 86, 204 Wendel, Herrmann 322 Wendt, Erich 212, 222 White, W. L. 354 Wieland, Christoph Martin 116 Wilde, Oscar 4 Winkler, Lutz 393 Winzer, Otto 275 Wirth, Irene 203, 211 With, Karl 211, 260 Wlasinger, Hannes 376 Wolf, Christa 20, 28, 30–31, 42, 68, 86, 93, 100, 140, 158, 173, 198–199, 209, 212, 217, 219, 221, 225, 248, 256, 264, 293, 295–296, 299, 316, 322, 324, 338–339, 341, 362, 373, 390 Wolf, Friedrich 45, 50, 60, 62 Wolf, Gerhard 31 Wolf, Lore 14, 201, 203, 211–212, 281, 391 Wolkow, Jewgeni 368 Z Zapatka, Manfred 377 Ždanov, Andrej 237, 239 Zech, Walter 350 Zehl Romero, Christiane 357
416
Anhang
Zhu De (auch Chu Teh) 263 Zinnemann, Fred 75, 345, 355, 360, 363, 372–373
Zinner, Hedda 195 Ziwek, Wojciech 111 Zola, Émile 353, 395
Zweig, Arnold 9, 55, 202, 291