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German Pages IX, 433 [437] Year 2020
Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.)
Bachmann Handbuch Leben – Werk – Wirkung 2. Auflage
Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.)
Bachmann-Handbuch Leben – Werk – Wirkung 2., erweiterte Auflage
J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Monika Albrecht, apl. Professorin an der Universität Vechta im Fach Kulturwissenschaften Dirk Göttsche, Professor of German Studies an der School of Cultures, Languages and Area Studies der Universität Nottingham
ISBN 978-3-476-05666-5 ISBN 978-3-476-05667-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: Privatbesitz, Ingeborg Bachmanns Erben J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhalt Vorwort VII
C Andere Werke
A Leben und Werk
1 Leben und Werk im Überblick – eine Chronik Monika Albrecht / Dirk Göttsche 3 2 Editionsgeschichte und Nachlass Monika Albrecht / Dirk Göttsche 24
17 Jugendwerke Dirk Göttsche 175 18 Die Radiofamilie und andere frühe Rundfunkarbeiten Joseph McVeigh 181 19 Hörspiele Joseph McVeigh / Sara Lennox 185 20 Libretti Dirk Göttsche 200 21 Übersetzungen Peter Goßens 209 22 Briefwechsel Silvia Bengesser / Irene Fußl 216 23 Autobiographisches Isolde Schiffermüller 225
B Rezeption und Wirkung
D Kritische Schriften
I Grundlagen
3 Rezeptionsgeschichte Monika Albrecht / Dirk Göttsche / Sara Lennox 31 4 Literarische Rezeption und Wirkung Jonas Nesselhauf / Sara Lennox 50 5 Rezeption in Film und Fernsehen Andrea Kresimon 58 II Das Werk
24 Philosophische Essays und Dissertation Marion Schmaus 229 25 Künstlerische und journalistische Prosa Bettina Bannasch 235 26 Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen Bettina Bannasch 248 27 Musikästhetische Essays Dirk Göttsche 262 III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk
A Lyrik
6 Frühe Gedichte Maria Behre 65 7 Die gestundete Zeit Hans Höller 70 8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld Marion Schmaus 83 9 Späte Gedichte Dirk Göttsche 95 B Erzählprosa
10 Frühe Erzählprosa Jost Schneider 101 11 Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld Jost Schneider 110 12 Das Todesarten-Projekt im Überblick Monika Albrecht / Dirk Göttsche 126 13 Malina Britta Herrmann 130 14 Das Buch Franza Britta Herrmann 145 15 Andere unvollendete Todesarten-Texte Monika Albrecht / Dirk Göttsche 154 16 Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld Jost Schneider 163
A Zeitgeschichte
28 Nationalsozialismus Monika Albrecht 269 29 Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft Monika Albrecht 279 30 Der kulturgeschichtliche Umbruch von 1968 Monika Albrecht 286 31 Österreichthematik Katya Krylova 289 B Bachmann und die Philosophie
32 Existentialphilosophie und Existentialismus Joachim Eberhardt 295 33 Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion Joachim Eberhardt 299 34 Kritische Theorie und Soziologie Marion Schmaus 302 35 Religion Maria Behre 305 36 Bachmanns Utopiebegriff Marion Schmaus 308
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Inhalt
C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
37 Deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts Marion Schmaus 312 38 Europäische Literatur vor 1900 Dirk Göttsche 318 39 Klassische Moderne Dirk Göttsche 326 40 Deutschsprachige Literatur nach 1945 Monika Albrecht 340 41 Bachmann und die ›Weltliteratur‹ ihrer Zeit Monika Albrecht 351 D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
42 Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie Christine Kanz 357 43 Gender- und Körperdiskurs Jonas Nesselhauf 372
44 Bachmann in postkolonialer Sicht Monika Albrecht 378 45 Bachmann in mediengeschichtlicher Sicht Jonas Nesselhauf 383 46 Musik Dirk Göttsche 386 47 Italien Arturo Larcati 399 48 Mehrsprachigkeit Dirk Weissmann 404 Anhang Literatur und Siglen 411 Autorinnen und Autoren 419 Werkregister 422 Personenregister 427
Vorwort Die erste Auflage des vorliegenden Handbuchs erschien 2002, also vor nunmehr 18 Jahren. Als diese Erstausgabe im Jahr 2013 in einer broschierten Sonderausgabe neu aufgelegt wurde, sah der Verlag leider keine Möglichkeit zur inhaltlichen Aktualisierung. Umso mehr freuen wir uns, dass nun endlich eine aktualisierte und erweiterte Neuausgabe möglich geworden ist, die der erheblichen Erweiterung der verfügbaren Werkausgaben und Quellen, aber auch fast zwei Jahrzehnten ergänzender Forschung und sich wandelnder Erkenntnisinteressen gerecht wird. Seither ist nicht nur unsere eigene kritische Ausgabe von Inge borg Bachmanns Kritischen Schriften (2005) erschienen, sondern die Publikation ihres nachgelassenen Kriegstagebuchs (Bachmann 2010) und ihrer Beiträge zu der Rundfunkserie Die Radiofamilie (Bachmann 2011) hat auch neues Licht auf ihr Frühwerk geworfen. Mit den Bänden »Male Oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit (Bachmann 2017a) und Das Buch Goldmann (Bachmann 2017b) begann vor drei Jahren zudem die auf etwa 30 Bände angelegte Salzburger Bachmann Edition, die im Laufe der nächsten 15 bis 20 Jahre – und unter Einschluss aller bislang noch gesperrten Nachlasstexte – das »Desiderat einer kritischen Gesamtausgabe« (Bartsch 2000, 373) zu erfüllen verspricht. Besonders auffällig ist die Bereicherung der Quellenlage seit der Jahrtausendwende im Bereich der Briefausgaben. Der wissenschaftlichen Edition von Bachmanns Briefwechseln mit Hans Werner Henze (Bachmann/Henze 2004) und Paul Celan (Bachmann/ Celan 2008) ist im Rahmen der Salzburger Bachmann Edition der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger (Bachmann/Enzensberger 2018) gefolgt, dem sich eine ganze Reihe weiterer anschließen werden. Im Bereich der literaturwissenschaftlichen Forschung fällt die seit den 1990er Jahren ungebrochene Reihe der international besetzten Tagungsbände auf, die gemeinsam mit einer schon fast unüberschaubaren Zahl von Monographien und Aufsätzen sowie zahlreichen Qualifikationsarbeiten (Diplom- und Magisterarbei-
ten, Dissertationen, Habilitationen) nicht nur aus dem deutschen Sprachraum ein Interesse an Bachmanns Werk bezeugen, das gegenüber den 1980er und 1990er Jahren nicht nachgelassen hat. Die öffentliche Resonanz der genannten Werk- und Briefeditionen belegt ebenso wie diese lebendige Forschung, dass Ingeborg Bachmann heute – fast 50 Jahre nach ihrem Tod – eine moderne Klassikerin der deutschsprachigen Literatur und zugleich eine Schlüsselfigur im literarischen Leben der Nachkriegsjahrzehnte ist, deren Wirkung bis in die Gegenwart ausstrahlt. Das Bachmann-Bild der Leserinnen und Leser wie der Literaturwissenschaft hat sich seit dem frühen Ruhm der Autorin als »neuer Stern am deutschen Po etenhimmel« (Blöcker 1954) in den 1950er Jahren allerdings erheblich gewandelt, grundlegend vor allem mit Beginn der »Bachmann-Renaissance« (Stephan/Venske/Weigel 1987, 8) im Gefolge der vierbändigen Ausgabe der Werke (1978), der anschließenden feministischen Bachmann-Lektüre der 1980er Jahre und ihrer Ausdifferenzierung und Erweiterung in den 1990er Jahren. Nunmehr vierzig Jahre einer breiten, lebhaften und vielschichtigen Forschung haben die Einschätzung Bachmanns als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der Nachkriegsjahrzehnte auf neuer Grundlage bekräftigt. Bachmanns Werk steht seitdem gleichbedeutend für seine Auseinandersetzung mit der – wie sie es nannte – »Krankheit unserer Zeit« (GuI, 72), mit der sozialen Gewalt der modernen westlichen Gesellschaft, mit dem verborgenen Zusammenhang zwischen patriarchalischer Gesellschaftsstruktur, katastrophischer Geschichte (Nationalsozialismus) und Unterwerfung bzw. Ausgrenzung des anderen (bis hin zum Neokolonialismus). Die fortdauernde Brisanz dieser Problemstellungen und die Reflektiertheit ihrer literarischen Darstellung sichern ihrem Werk zweifellos seine anhaltende Bedeutung. Zugleich ist im Zuge der fortschreitenden Editionsgeschichte und der Erweiterung der Literatur- zu den Kulturwissenschaften deutlich geworden, wie breit
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Vorwort
Bachmanns Werk im Sinne von Textformen, Diskursen und Bezugsfeldern angelegt ist. Der alte Streit in der Literaturkritik der 1960er und 1970er Jahre, ob Bachmann denn nun ›eigentlich‹ Lyrikerin oder Erzählerin sei, stellte aus heutiger Sicht die Tatsache auf den Kopf, dass in ihrem Werk von der Lyrik über Hörspiele und Libretti, Erzählungen und Romane bis hin zu Essays, von der Dissertation und den Frankfurter Vorlesungen über journalistische Prosa und Radioskripte bis zu Drehbuchentwürfen, autobiographischen Aufzeichnungen und anderen Formen vielfältige Gattungen vertreten sind, die in ihrer Entstehung, aber auch in der Rezeption jeweils eigene Anschlussmöglichkeiten eröffnen – von der Literaturwissenschaft über Philosophie, Psychologie und Kulturtheorie bis zu den Musik- und Medienwissenschaften. Das anhaltende Interesse an der als widersprüchlich wahrgenommenen Persönlichkeit der Autorin und die Faszination durch den »Mythos Bachmann« (Hemecker/ Mittermayer 2011) kommen hinzu. Zusammen mit dem thematischen und literarischen Profil des Werks mögen diese Faktoren die Beobachtung erklären, dass ihr Werk immer wieder auch zum Kristallisationspunkt aktueller literaturwissenschaftlicher Methodendiskussion und literaturkritischer Debatten geworden ist: in den 1980er Jahren zunächst im Umkreis des Feminismus, um die Jahrtausendwende dann auch im Kontext postkolonialer Forschung. Neue wissenschaftliche Erkenntnisinteressen und aktuelle gesellschaftliche Debatten können sich z. B. an Bachmanns Auseinandersetzung mit Fragen der Interkulturalität und europäischen Identitätsbildung entzünden, oder an den ethischen Problemen im Spannungsfeld von Privatleben, sozialem Miteinander und medialer Öffentlichkeit, die Bachmann thematisiert – Stichworte wären ›Briefgeheimnis‹ und ›Diskretion‹ –, die im digitalen Zeitalter sozialer Medien aber ganz neue Virulenz entfalten (die Edition nachgelassener Lebenszeugnisse wie Krankheitsaufzeichnungen und Gedichtentwürfe aus deren Umfeld hat bereits entsprechende Debatten ausgelöst; vgl. Larcati/Schiffermüller 2010; s. Kap. 2). Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands gibt das Handbuch einen umfassenden Überblick über Bachmanns Werk sowie seine literatur- und kulturgeschichtlichen Kontexte. Es wendet sich sowohl an LiteraturwissenschaftlerInnen und Studierende als auch an die interessierte Leserschaft. Nach einem einleitenden und aufgrund der verbesserten Quellenlage gegenüber 2002 erheblich erweiterten Überblick über Leben und Werk sowie über Editionsgeschichte, Rezeption und Wirkung erschließt
das Handbuch in seinem zweiten Teil die einzelnen Werke und Werkgruppen. Im dritten Teil werden ergänzend übergreifende Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk aufgearbeitet sowie weiterführende literatur- und kulturwissenschaftliche Lektüremöglichkeiten aufgezeigt (Zeitgeschichte, Philosophie, Psychologie, literarische Bezüge, kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven, Musik und Mehrsprachigkeit). Für die Neuauflage wurden die Kapitel aus der ersten Auflage des Handbuchs gründlich aktualisiert und durch neue Beiträge ergänzt. Neu hinzugekommen sind einesteils Werkkomplexe, die vor 20 Jahren noch nicht durch Editionen erschlossen oder sogar gesperrt waren – insbesondere die immer wichtiger werdenden Briefwechsel und die neu aus dem Nachlass edierten autobiographischen Texte –, andernteils Themen, die uns einer deutlicheren Profilierung wert schienen und/oder Bachmanns Relevanz in neuen kultur- und medienwissenschaftlichen Kontexten herausstellen. Hier sind die neuen Kapitel zur Rezeption Ingeborg Bachmanns in Film und Fernsehen, zu Bachmann in mediengeschichtlicher Sicht, zum Genderund Körperdiskurs in ihrem Werk, zu Österreich, Italien und ihrer Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit und Interkulturalität zu nennen. Ein geplanter Artikel zur Kunst in Bachmanns Werk, der das überaus produktive Feld der Forschungen zu Bachmanns Auseinandersetzung mit der Musik hätte ergänzen sollen, kam mangels einschlägiger kunstgeschichtlicher und auf die Autorin bezogener Doppelkompetenz leider nicht zustande. Ein Handbuch dieser Art ist immer das Resultat vereinter Kräfte und gemeinsamer Anstrengung – vor allem auch unserer Autorinnen und Autoren, denen wir hiermit für ihre so konstruktive Mitarbeit und ihre Geduld mit dem mehrstufigen Redaktionsprozess herzlich danken möchten. Wir freuen uns sehr, dass mit einer Ausnahme alle Autorinnen und Autoren der ersten Auflage die Überarbeitung und Aktualisierung ihrer Beiträge für die Neuauflage übernommen haben; nur Sara Lennox hat ihre Artikel aus verständlichen Gründen nicht selbst aktualisiert. Unser Dank gilt ebenso den neuen Autorinnen und Autoren, deren frische Perspektiven das Spektrum der Beiträge erweitern und zugleich noch deutlicher als zuvor internationalisieren. Wie schon in der Erstauflage gilt unser Dank darüber hinaus dem Team im MetzlerVerlag, das die Neuauflage wiederum vertrauensvoll unterstützt und die Buchproduktion professional durchgeführt hat. Den Erben Ingeborg Bachmanns und diversen Archiven danken wir nochmals für die
Vorwort
schon 2002 erteilte Genehmigung einiger weniger Zitate aus Briefen und Nachlasstexten, deren Quellen trotz verbesserter Editionslage weiterhin unpubliziert sind. Namentlich sind hier die Österreichische Nationalbibliothek (Wien), das Deutsche Literaturarchiv (Marbach am Neckar), das Archiv der Akademie der Künste (Berlin), das Literaturarchiv Monacensia (München), das Archiv des Südwestdeutschen Rundfunks (Stuttgart), die Verlagsarchive Suhrkamp und Piper, das Heinrich Böll Archiv (Köln) und das Uwe Johnson Archiv (Frankfurt a. M./Rostock) zu nennen. Unser Dank geht auch an Hans Höller und die »Ingeborg Bachmann Forschungsstelle« im Literaturarchiv der Universität Salzburg für so manchen wertvollen Hinweis. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die am häufigsten verwendeten Ausgaben der Werke Ingeborg Bachmanns in abgekürzter Form mit Hilfe von Siglen zitiert werden, die im Anhang erläutert sind (vgl. Siglenverzeichnis). Alle anderen Ausgaben (darunter auch die neue Salzburger Ausgabe, da sie auf eine Bandnummerierung verzichtet) werden wie die übrige Literatur mit Autornamen und Publikationsjahr zitiert; die entsprechenden Literaturangaben finden sich jeweils am Ende der Kapitel. Quellen
Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München/Zürich 2005. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2010. Bachmann, Ingeborg: Die Radiofamilie. Hg. und mit einem Nachwort von Joseph McVeigh. Berlin 2011. Bachmann, Ingeborg: »Male Oscuro.« Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salz-
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burger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017a. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017b. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004.
Literatur
Bartsch, Kurt: [Sammelrezension] Ingeborg Bachmann: »Ich weiß keine bessere Welt« (2000); Albrecht/Göttsche (Hg.): »Über die Zeit schreiben« 2 (Würzburg 2000); Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann (Wien 1999). In: Sprachkunst 31 (2000), 371–380. Blöcker, Günter: ›Lyrischer Schichtwechsel‹. In: Süddeutsche Zeitung, 13.–14.11.1954. Hemecker, Wilhelm/Mittermayer, Manfred (Hg.): Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Wien 2011. Larcati, Arturo/Schiffermüller, Isolde (Hg.): Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz. Darmstadt 2010. Stephan, Inge/Venske, Regula/Weigel Sigrid (1987): Die Literatur von Frauen vor der Frauenliteratur. Vorbemerkung. In: Dies.: Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts. Frankfurt a. M. 1987, 7–9.
Monika Albrecht / Dirk Göttsche
I Grundlagen
A Leben und Werk 1 Leben und Werk im Überblick – eine Chronik Kindheit und Jugend in Klagenfurt (1926– 1945) 1926 Am 25.6.1926 wird Ingeborg Bachmann als erstes Kind von Olga Bachmann (geb. Haas 1901–1998) und Matthias Bachmann (1895–1973) in Klagenfurt geboren. Ihre Mutter stammt aus Niederösterreich, dem östlichsten, an ›Böhmen‹ und Ungarn grenzenden Bundesland, wo ihre Familie eine Strickwarenerzeugung betrieb, ihr Vater, ein protestantischer Volksschullehrer, der an beiden Weltkriegen als Offizier teilnimmt, aus Obervellach bei Hermagor im Gailtal im Dreiländereck Österreich – Italien – Slowenien, wo die Familie oft Ferien im Auszugshaus des großväterlichen Hofes verbringt. Diesen Kärntner Grenzraum, in dem Deutsche und Slowenen zusammenleben, hat Bachmann später in der Nachfolge von Robert Musils utopischem ›Kakanien‹ als Inbegriff eines gewaltfreien Miteinanders der Völker mythisiert, als »ein Stück echtes, kaum realisiertes Österreich [...], eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen« (KS, 6; W 4, 302). 1928 wird Ingeborgs Schwester Isolde geboren, 1939 ihr Bruder Heinz. Zunächst wohnt die Familie in einer Wohnung in der Durchlaßstraße Nr. 5, 1933 zieht sie dann in ein eigenes Haus in der Henselstraße 26. 1932–1944 1932 bis 1936 besucht Ingeborg Bachmann in Klagenfurt die Volksschule, dann das »Ursulinen-Gymnasium, das von den Nazis nach dem sogenannten Anschluß Österreichs ans Dritte Reich organisatorisch dem NS-Schulsystem gleichgeschaltet wurde« (Höller 1999, 11). Dort legt sie am 2.2.1944 ihre Matura ab. Schon in ihren Schuljahren beginnt Ingeborg Bach-
mann literarisch zu schreiben, verfasst Gedichte und Prosa, komponiert Lieder und entwirft Dramen. Im Rückblick hat sie die Musik an den Anfang ihres Schreibens gestellt: »Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper sein sollte, habe ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen singen sollten, also habe ich es selbst schreiben müssen« (GuI, 124). Zu den ältesten im Nachlass überlieferten Texten gehören neben einer Notenschrift zahlreiche Gedichte, das an Schullektüren wie Schiller und Kleist orientierte historische Versdrama Carmen Ruidera (1942) und die ebenfalls in den napoleonischen Kriegen spielende historische Erzählung Das Honditschkreuz (Ende 1943), die bereits geradezu als ein »Werk der inneren Emigration«, als Einspruch gegen die Volks- und Heimatideologie des herrschenden Nationalsozialismus gelesen worden ist (Höller 1999, 13). 12.3.1938 Den Tag des Einmarsches von Hitlers Truppen in Klagenfurt im Rahmen des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich hat Bachmann später rückblickend zum symbolischen Begründungsdatum ihrer Autorschaft erklärt: »Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zerstört. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte« (GuI, 111). Zwar darf diese Zuspitzung nicht wörtlich verstanden werden – am 12.3.1938 war die Elfjährige »mit ihren Eltern und Geschwistern beim Skifahren« (Stoll 2013, 50; vgl. auch Weigel 1999, 316) –, sie bezeichnet jedoch emphatisch die moralische Verpflichtung und zeitkritische Ausrichtung ihres Werks als eines Schreibens nach Auschwitz, zu dessen ›Problemkonstanten‹ (KS, 264; W4, 193) die Auseinandersetzung mit den Verflechtungen von Individual- und Zeitgeschichte im Zeichen gesellschaft-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_1
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I Grundlagen – A Leben und Werk
licher Gewalt gehört. Den frühen Eintritt des Vaters in die NSDAP (Höller 1999, 46) wird sie dagegen ihr Leben lang nicht erwähnen, und sie beteiligt sich auch nicht an der in den sechziger Jahren einsetzenden öffentlichen Auseinandersetzung mit der Generation der Väter/Täter. Stattdessen geht das Thema in die symbolische Welt ihrer Todesarten-Texte ein, insbesondere in das Romanfragment Das Buch Franza und den Roman Malina. 1944–1945 Im letzten Kriegsjahr besucht Bachmann einen Abiturientenkurs an der Klagenfurter Lehrbildungsanstalt, wo u. a. der Kärntner Heimatschriftsteller und zeitweilige Nationalsozialist Josef Friedrich Perkonig zu ihren Lehrern gehört und als ein literarischer Mentor fungiert. Der Kurs wird bei Kriegsende abgebrochen, und ein Tagebuch, das Bachmann zwischen Spätsommer 1944 und Juni 1945 geführt hat und das inzwischen unter dem Titel Kriegstagebuch (Bachmann 2010) veröffentlich wurde, dokumentiert das Befreiungserlebnis der alliierten Besatzung in Kärnten (Höller 1999, 7 f.), das später als das Motiv des ›schönsten Frühlings‹ in den Roman Das Buch Franza eingehen wird. Die Sommermonate im großelterlichen Obervellach, wo Bachmann Anfang Juni 1945 den britischen Offizier Jack Hamesh kennenlernt, einen Sohn exilierter jüdischer Österreicher aus Wien, erlebt sie als den »schönste[n] Sommer meines Lebens« (Bachmann 2011, 23). Erstmals im Leben befindet sie sich in der Situation der »Tätertochter«, die auf einen »Opfersohn« trifft (Stoll 2013, 95). Anders als später Paul Celan sieht Jack Hamesh in der Begegnung jedoch den »Beweis dass trotz allem was auch über unseren beiden Völker hereinbrach noch ein Weg gibt – den der Liebe und des Verständnisses« (Bachmann 2010, 52; vgl. auch 41). Die schon zu Schulzeiten außergewöhnlich belesene Jugendliche stürzt sich in eine Flut zuvor verbotener oder unzugänglicher Lektüren von Frank Wedekind (N5741) bis Karl Marx (Höller 1999, 9). Sie überarbeitet ihre Jugendlyrik und entwirft eine Fülle neuer Gedichte und Prosastücke (wie z. B. die Erzählung Die Fähre), mit denen ihr Schreiben an die Schwelle vom Jugend- zum Hauptwerk gelangt. Entwürfe aus dem Sommer/Herbst 1945 wie die Gedichte Melancholie, Klage und Ich frage, Prosatexte wie Cälian Hambrusch oder Hel Dörrias und später das Prosadrama Das Denkmalamt verbinden Erfahrungen des Erwachsenwerdens, des Krieges und der unmittel-
baren Nachkriegszeit mit einem sehr bewussten Arbeiten an der literarischen Form.
Wien (1945–1953) 1945–1946 Zum Wintersemester 1945–1946 nimmt Ingeborg Bachmann an der Universität Innsbruck das Studium der Philosophie, Psychologie, Germanistik und Kunstgeschichte auf. Da der Vater Matthias Bachmann »wegen seiner NS-Mitgliedschaft nicht mehr in seinem Beruf als Lehrer tätig sein durfte«, nahm er für das Studium der ältesten Tochter »eine Hypothek auf das kleine Familienhaus in Klagenfurt« auf (McVeigh 2016, 16). Sie wohnt im Vorort Arzl, wo sie die Gedichtentwürfe des Sommers 1945 überarbeitet und viele neue Gedichte wie Vor einem Instrument und Ängste schreibt. Dort entstehen auch die Briefe an Felician, ein erst posthum veröffentlichter Zyklus lyrischer Briefprosa (Bachmann 1991), als dessen Adressat »die Person des Kärntner Heimatschriftstellers und ehemaligen NS-Repräsentanten Josef Friedrich Perkonig« gilt (Höller 1999, 34), und der bereits in charakteristischer Weise zwischen Liebestext und poetologischem Diskurs changiert. Während des Sommersemesters 1946, in dem sie – nun in Graz – Philosophie, Germanistik und Jura studiert, gelingt ihre erste Veröffentlichung: Die Erzählung Die Fähre, die als ein Stück sozialkritischer Heimatliteratur verstanden werden kann, erscheint am 31.7.1946 in der Kärntner Illustrierten (Klagenfurt). 1946–1950 Zum Wintersemester 1946–1947 nimmt die Universität Wien den Lehrbetrieb nach dem Krieg wieder auf, und Bachmann vollzieht den entscheidenden Aufbruch aus der Provinz, indem sie ab September 1946 ihr Studium dort fortsetzt, wo sie in den kommenden Jahren Philosophie mit Germanistik und Psychologie als Nebenfächern belegt. Sie wohnt zunächst in der Beatrixgasse 26, seit Juni 1949 dann in der GottfriedKeller-Gasse 13 (beide im 3. Bezirk) zur Untermiete. Im September 1947 absolviert sie ein Praktikum in der Nervenheilanstalt Am Steinhof in Wien. Zu ihren akademischen Lehrern gehören Hubert Rohracher (Psychologie) und Viktor E. Frankl (Psychotherapie), der sich früh mit den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus auseinandersetzt, sowie die Philosophen Alois Dempf (unter dessen Leitung sie zunächst eine Dissertation zum »Typus des Heiligen« plant), Leo Ga-
1 Leben und Werk im Überblick – eine Chronik
briel, durch den sie in Martin Heidegger und andere Formen der Existenzphilosophie eingeführt wird, sowie Viktor Kraft, ein Erbe des Wiener Neopositivismus. Bei ihm schreibt sie ihre Dissertation Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (1949), eine Arbeit »gegen Heidegger«, wie sie später sagen wird (GuI, 137), die jedoch mit Heidegger in eine Apotheose von Kunst und Literatur als eigentlichen Ausdrucksformen existentieller Erfahrung mündet. Auch die Rezension einer wissenschaftlichen Publikation über Heidegger in der Bozener Zeitschrift Der Standpunkt (16.9.1949) zeugt von ihrer Heidegger-Auseinandersetzung. Am 23.3.1950 schließt die feierliche Promotion das Studium ab. Der Wechsel des Studienorts markiert zugleich Ingeborg Bachmanns Eintritt in das literarische Leben Wiens in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, in denen sich in der alten österreichischen Metropole aufgrund der offiziellen Anerkennung Österreichs als des ›ersten Opfers Hitler-Deutschlands‹ – unmittelbarer als in Deutschland – eine Wiederanknüpfung an die kulturellen Traditionen der Vorkriegszeit vollzieht. In diesem Rahmen fungieren Repräsentanten der alten Generation und zurückgekehrte jüdische Emigranten als literarische Mentoren der jungen Nachkriegsgeneration. So haben Größen der Wiener Nachkriegsszene wie Rudolf Felmayr und Hermann Hakel an Bachmanns literarischem Debüt wesentlichen Anteil. Vor allem aber verbindet sie eine langjährige Liebesbe ziehung mit dem »engagierten Kalten Krieger Hans Weigel, den sie im September 1947 kennenlernte« (McVeigh 2016, 46) und zu dessen legendärem Kreis im Café Raimund sie gehörte. Zugleich lernt die junge Autorin durch die Älteren, von denen sie sich »als ›junge Dichterin‹ abgestempelt« sieht (Brief an R. Felmayr vom 30.10.1949, zit. nach Höller 1999, 48), auch Angehörige ihrer eigenen Generation wie Ilse Aichinger kennen, die erste Repräsentantin der jungen Wiener Nachkriegsliteratur, mit der sie bei ihrem Aufbruch aus Wien freundschaftlich verbunden bleibt. Über Hans Weigels Revue Seitensprünge am Josefstädter Theater entwirft sie eine unveröffentlichte Besprechung (1947). 1948 Ein wichtiges Erlebnis der frühen Wiener Jahre ist die Begegnung mit Paul Celan, den Bachmann am 16.3.1948 in der Wohnung des surrealistischen Malers Edgar Jené kennenlernt. In den Monaten bis zu Celans Weiterreise nach Paris im Juli 1948 entwickelt sich eine intensive persönliche Beziehung, die als Auseinan-
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dersetzung mit der Erfahrung des Holocaust zugleich eine »tiefgreifende Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« (Höller 1999, 59) im Sinne jenes Ethos bewirkt, das sie später in die Formel »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« (KS, 246; W 3, 275) fasst. Es ist dies der Anfang einer schwierigen, nur in kurzen Intervallen gelingenden Liebesbeziehung und zugleich eines literarischen Dialogs, der mit Paul Celans Widmung von »annähernd zwanzig seiner in Wien und in Paris entstandenen Gedichte« aus dem Band Mohn und Gedächtnis (1948/52) an Ingeborg Bachmann beginnt (Höller 1999, 58) und bis zur literarischen Hommage an ihn und seinen Freitod in ihrem Roman Malina (1971) reicht. 1949 Anfang 1949 geht Bachmann offenbar noch davon aus, dass sie »nach dem Doktorat ein Stipendium für Amerika oder Paris bekommen« wird (Bachmann/ Celan 2008, 9), was dann nicht der Fall war. Das Jahr, in dem sie ihre Dissertation abschließt, ist jedoch zugleich das Jahr ihres ersten literarischen Erfolgs. Anfang 1949 erscheinen im ersten Heft von Hermann Hakels Zeitschrift Lynkeus vier ihrer frühen Gedichte, darunter das Gedicht Entfremdung mit seiner charakteristischen, existentialistisch gefärbten Zeitkritik, und die Wiener Tageszeitung veröffentlicht eine ganze Serie von Erzählungen: Die Fähre (Neufassung), Im Himmel und auf Erden, Das schöne Spiel, Das Ufer, Die Versuchung, Das Lächeln der Sphinx und Die Karawane und die Auferstehung. Seit 1947 arbeitet Bachmann im Übrigen an ihrem verschollenen ersten Roman Stadt ohne Namen (Brief an die Eltern vom 13.4.1947), der sie bis 1952 beschäftigen wird. Trotz der Fürsprache von Hans Weigel (der ihr Ende 1949 ein halbjähriges Stipendium zur Arbeit an diesem Roman vermittelt), Ilse Aichinger und Heimito von Doderer gelingt es ihr allerdings nicht, für diesen – nach Ausweis der überlieferten Fragmente Der Kommandant und [Anna-Fragment] – parabolisch-surrealen Text einen Verleger zu finden. Im Jahr 1950 hoffte sie noch, den Verlag S. Fischer dafür zu interessieren (Bachmann/Celan 2008, 19); zu den vom Wiener Herold-Verlag verlangten Änderungen ist sie 1952 jedoch nicht mehr bereit. 1950–1951 Nach ihrer Promotion im März 1950 wird Bachmann »die mehrwöchige Vertretung einer Assistentenstelle für den erkrankten Ernst Topitsch übertragen« (Weigel
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1999, 93). Im September meldet sie Paul Celan, dass sie »in den vergangenen Wochen sehr krank« war, »ein Nervenkollaps mit allen Begleiterscheinungen« (Bachmann/Celan 2008, 17) – den Eltern gegenüber als »völliger ›Zusammenbruch‹ mit ›Lähmungserscheinungen‹« bezeichnet –, der von dem mit »Weigel befreundeten Psychiater Viktor Frankls behandelt« werden musste (ebd., 256) und auf die späteren Krankheiten der 1960er Jahre vorauszuweisen scheint. Im Oktober 1950 fährt sie dann nach Paris, um die Beziehung zu Celan wiederaufzunehmen. Sie muß allerdings feststellen, daß Celan und sie sich »aus unbekannten, dämonischen Gründen [...] gegenseitig die Luft wegnehmen« (Brief an H. Weigel, zit. nach Steiner 1998), und reist im Dezember nach London zu Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga weiter. Dort lernt sie u. a. Hilde Spiel und Erich Fried kennen und liest im Februar 1951 vor der Anglo-Austrian Society aus eigenen Werken (21.2.1951). Bald danach fährt sie nochmals für zwei Wochen zu Paul Celan nach Paris (vgl. Stoll 2013, 111). »Nach einer mehrmonatigen Anstellung im Sekretariat der amerikanischen Besatzungsbehörde und anderen Gelegenheitsarbeiten« ergibt sich im Herbst 1951 schließlich »die Möglichkeit zur Mitarbeit im ScriptDepartment des Senders Rot-Weiß-Rot«, der amerikanischen Radiostation in Wien (Höller 1999, 46 f.). 1952 Die Anstellung im Sender Rot-Weiß-Rot (zunächst als Script-Writer, dann als Redakteurin), für den sie u. a. Beiträge zu der Sendereihe Die Radiofamilie schreibt (McVeigh 2016), bezeichnet zugleich den Beginn von Ingeborg Bachmanns literarischen Arbeiten für den Rundfunk. Schon 1952 werden ihr erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (28.2.1952) und ihre Rundfunkbearbeitungen der Dramen Das Herrschaftshaus von Thomas Wolfe (4.3.1952) und Der schwarze Turm von Louis MacNeice (8.10.1952) gesendet. Zugleich entstehen in den Jahren 1952–1953 eine Reihe von Rezensionen (über Romane von Thea Sternheim, José Orabuena, über Alfred Mombert und Heinrich Bölls Erzählung Der Zug war pünktlich) für die österreichische Kulturzeitschrift Wort und Wahrheit. In der akademischen Monatsschrift Morgen erscheint das Prosastück Auch ich habe in Arkadien gelebt, und Hans Weigel veröffentlicht in seinem Jahrbuch Stimmen der Gegenwart ihren Gedichtzyklus Ausfahrt. Auch 1951 (Die Mannequins des Ibykus) und 1953 (Auszüge aus Ein Geschäft mit Träumen) ist sie in dieser österreichischen Anthologie vertreten.
Durch Hans Werner Richter, der sie im April 1952 in Wien kennengelernt hat, erhält sie die Einladung zur 10. Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee (23.–25.5.1952), bei der Ilse Aichinger den Preis der Gruppe erhält und an der auf Bachmanns Vermittlung auch Paul Celan teilnimmt. Die Aufnahme in den Kreis der Gruppe 47 ermöglicht ihr schließlich die Emanzipation von den Verflechtungen des literarischen Lebens in Wien. Bachmann bleibt »noch bis Mitte Juni in Deutschland«, knüpft in Hamburg, »Frankfurt, Hannover, Stuttgart, Ulm und München« (Brief an W. Bächler vom Sommer 1952) literarische und verlegerische Kontakte und beginnt die Serie jener Rundfunklesungen, die in den Folgejahren ein wichtiges Medium insbesondere der Erstveröffentlichung ihrer Gedichte sein werden. Im September unternimmt sie dann zusammen mit ihrer Schwester eine erste Reise nach Italien, in »das südlich von Neapel gelegene Positano«; doch obwohl sie sich »eigentlich von dieser Reise viel erwartet« hat, ist sie enttäuscht und meldet an Paul Celan: »Das Land macht mich krank, und ich will früher zurückfahren, als ich’s vorgesehen hatte« (Bachmann/Celan 2008, 270, 53). Im Oktober nimmt sie an einer Kulturtagung in St. Veit teil. Bei der Herbsttagung der Gruppe 47 auf Burg Berlepsch bei Göttingen lernt sie Ende Oktober den Komponisten Hans Werner Henze kennen, mit dem sie eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit und Freundschaft verbinden wird. Im November sendet der NWDR ihre Skizze Biographisches zusammen mit einer Reihe von Gedichten und der Erzählfassung von Ein Geschäft mit Träumen (3.11.1952). Von den Tagungen des Jahres 1952 datiert auch die Freundschaft mit Heinrich Böll, der in den fünfziger Jahren zu einem wichtigen Gesprächspartner wird. 1953 Die Deutschlanderfahrungen des Jahres 1952 ermutigen Ingeborg Bachmann zu dem Entschluss, den Versuch eines Lebens als freie Autorin zu wagen: »Vor der Literatur als Beruf fürchte ich mich sehr [...]. Aber probieren möchte ich es trotzdem« (Brief an H. Böll vom 5.2.1953). Dass sie für die vorgetragenen Gedichte ihres entstehenden Bandes Die gestundete Zeit bei der Tagung der Gruppe 47 in Mainz (22.–24.5.1953) den renommierten Preis der Gruppe erhält, bedeutet vor diesem Hintergrund nicht nur eine Auszeichnung von weitreichender Bedeutung für ihren Durchbruch auf dem literarischen Markt der Nachkriegszeit, son-
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dern auch eine nachhaltige Bestätigung ihrer Entscheidung für die Schriftstellerexistenz. Ende Juli gibt sie ihre Anstellung beim Sender Rot-Weiß-Rot auf und verlässt Wien, allerdings nicht, um mit Ilse Aichinger nach Deutschland überzusiedeln, wie sie zunächst geplant hatte (Briefe an H. Böll vom 12.12.1952, 5.2.1953, 21.4.1953). Stattdessen reist sie über Kärnten nach Italien, wo sie am 9. August auf der Insel Ischia bei Hans Werner Henze eintrifft, der ihr in neuer Qualität die Welt der Musik und der Oper erschließt sowie Kontakte zu Komponisten wie Luigi Nono und Karl Amadeus Hartmann vermittelt. An Paul Celan schreibt Bachmann am 29.6.1953: »Im August gehe ich von Wien weg, nach Italien, und ich werde nicht mehr zurückgehen« (Bachmann/Celan 2008, 54). Tatsächlich wird sie nach diesem neuerlichen Aufbruch nur noch zu Besuchen nach Wien und Klagenfurt zurückkehren. Ihr Verhältnis zu Österreich wird im Laufe der Jahre immer zwiespältiger. Der deutlichen Kritik an den Verkrustungen der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, ihrer anachronistischen Reinszenierung der Habsburger Vergangenheit und ihrer Verdrängung des eigenen Anteils an den Verbrechen des Nationalsozialismus steht die Utopie vom »Haus Österreich« als einer transnationalen »geistige[n] Formation« mit eigener Geschichte gegenüber, deren spezifischer »Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus« gegen das kulturell dominante Westdeutschland ihre Identität als Österreicherin begründet (GuI, 79, 63 f.). In ihren späten römischen Jahren wird Bachmann ausdrücklich von ihrem »Doppelleben« zwischen ihrem Wohnort Rom und dem Wien ihrer literarischen Arbeit sprechen (GuI, 65). Der Aufbruch aus Wien und die durch die Gruppe 47 gewonnenen Kontakte bilden von 1953 an zunächst die Grundlage ausgedehnter Reisen, die Bachmanns Leben bis in die Mitte der sechziger Jahre prägen werden. So hatte sie schon im April 1953 ihre Eltern in Klagenfurt besucht und dann die Tagung der Gruppe 47 Ende Mai zum Anlass für Besuche in Köln, Frankfurt, Hamburg und München genommen. Zugleich erschließt sie sich neue Veröffentlichungsmedien, so die Zeitschrift Frankfurter Hefte, in der ihr Essay Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte erscheint (Juli 1953), und vor allem den angesehenen Merkur und den Jahresring, in denen sie in den Folgejahren regelmäßig Gedichte und Prosa veröffentlicht und mit deren Redakteur Joachim Moras sie bis zu seinem Tod im April 1961 in zunehmend herzlicher Verbindung steht.
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Italien (1953–1957) 1953–1954 Bezeichnet der Wittgenstein-Essay Bachmanns fortdauerndes Interesse an der Philosophie, so markiert ihre lyrische Neufassung des Textbuchs zu Tatjana Gsovskys Ballett-Pantomime nach Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Idiot, zu der Hans Werner Henze die Musik geschrieben hatte, im Sommer 1953 den Beginn der künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Anfang August bis Anfang Oktober 1953 wohnt Bachmann in seiner Nähe in San Francesco bei Forio auf der Insel Ischia. Dann zieht sie nach Rom, in die Piazza della Quercia 1. In diesem Sommer arbeitet sie u. a. auch »an einem Hörspiel ›Die Straße der vier Winde‹ für den NDR« (Brief an H. Paeschke, Merkur, vom 30.7.1953). Im Herbst 1953 unterstreicht das Erscheinen ihres ersten Gedichtbandes Die gestundete Zeit, der sich in seinen freien Formen und seiner appellativen Zeitkritik deutlich von den früheren Gedichten abhebt, in der Frankfurter Verlagsanstalt (in Alfred Anderschs Reihe »Studio Frankfurt«, 2. Aufl. im Piper-Verlag 1957) ihren neuen Status als freie Schriftstellerin. In verschiedenen Zeitschriften und Rundfunklesungen veröffentlicht sie aber bereits neue Gedichte wie Nebelland, Curriculum vitae und Lieder von einer Insel, die später in den zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bären eingehen werden. In einem Radioessay setzt sie sich mit Franz Kafkas Roman Amerika auseinander (9.12.1953), in einem anderen mit Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (April 1954; vgl. Brief J. Moras an Bachmann vom 14.4.1954), in der Zeitschrift Akzente erscheint ein zweiter Essay über Musils Roman: Ins tausendjährige Reich (Februar 1954). In einem weiteren Radioessay – Sagbares und Unsagbares – stellt sie noch einmal die Philosophie Ludwig Wittgensteins vor (16.9.1954), obwohl sie zugleich beginnt, sich von ihrer früheren »PhilosophieManie« zu distanzieren (Brief an H. Kesten vom 6.7.1954, zit. nach Weigel 1999, 34). Nachdem es Bachmann noch kurz zuvor nicht gelungen war, ihren ersten Gedichtband bei einem der ›renommierten‹ Verlage unterzubringen (vgl. Brief von A. Andersch in Hotz 1990, 238), zeugen lange Verhandlungen mit verschiedenen Verlagen – Piper, Kiepenheuer & Witsch und Claassen (sie entscheidet sich schließlich für Piper) – 1953/54 (nach dem Zusammenbruch der Frankfurter Verlagsanstalt) von der weiteren Professionalisierung ihrer Schriftstellerexistenz. Ein entscheidendes Datum für den wach-
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senden Ruf Ingeborg Bachmanns als Dichterin, aber auch für ihre Stilisierung als »auratische Lyrikerin« (Bartsch 1997, 1) markiert dann die Titelstory, die das einflussreiche deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel ihr am 18.8.1954 widmet. Gleichwohl bleibt Bachmann bis in die sechziger Jahre auf Nebenarbeiten angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So schreibt sie unter dem Pseudonym Ruth Keller zwischen Juli 1954 und September 1955 regelmäßig »römische Reportagen« für Radio Bremen und für die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung«, kleine (Radio-)Essays zu politischen Vorgängen, Tagesereignissen und Alltagskultur in Italien (Bachmann 1998). Am 16.–18.10.1953 nimmt Bachmann an der Tagung der Gruppe 47 in Schloss Bebenhausen bei Tübingen teil und liest dort ihr lyrisches Textbuch zu Gsovskys und Henzes Ballettpantomime Ein Monolog des Fürsten Myschkin (Uraufführung dieser Ballett-Neufassung erst am 8.1.1960 im Titania-Palast Berlin). In München begegnet sie am 4.12.1953 bei Wolfgang Hildesheimer, mit dem sie in den kommenden Jahren einen freundschaftlich-selbstironi schen Briefwechsel führt, den Komponisten Luigi Nono, Bruno Maderna und Wolf Rosenberg. Auf der Rückreise nach Rom macht sie bei ihren Eltern in Klagenfurt Station (Brief an W. Hildesheimer vom 13.12.1953). Ende April 1954 nimmt sie an einer weiteren Tagung der Gruppe 47 teil, die diesmal auf ihre Anregung in Cap Circeo (San Felice, Italien) im Hotel Magacire stattfindet. Im Juli reist sie zur Biennale nach Venedig und wird von den »schönen Bildern, von Courbet bis Klee« begeistert (Brief an H. Kesten vom 6.7.1954, zit. nach Weigel 1999, 34). Zu den zahlreich neuen Kontakten dieser ersten römischen Schriftstellerjahre gehören Hermann Kesten, Gustav René Hocke, Toni Kienlechner sowie die lebenslange Freundschaft mit Marie Luise Kaschnitz, die 1952 bis 1956 in Rom lebt und mit der sie nach der Begegnung im Februar 1953 (Gersdorff 1992, 223) in der Folge in Rom, Neapel, Berlin und Frankfurt (Kaschnitz’ Wohnort seit Ende 1956) immer wieder zusammentrifft. Kaschnitz ist es auch, die schon in der italienischen Zeit in ihren Tage- und Notizbüchern immer wieder Ängste, Panik und Depressionen bei der jüngeren Freundin notiert, die auf die späteren Jahre vorauszuweisen scheinen, wie etwa am 12.7.1954: »Ich besuchte Ingeborg, die ganz zusammengebrochen, Gefäßkrämpfe, fast kein Puls mehr, wahnsinnige Untertemperatur« (zit. nach Gersdorff 1992, 224).
1954–1955 Den Winter 1954–1955 verbringt Bachmann großenteils bei Henze in Neapel. Dort schließt sie u. a. ihr Hörspiel Die Zikaden ab, das seit dem Sommer einen Schwerpunkt ihrer literarischen Arbeit darstellt und zu dem Henze die Musik schreibt (Ursendung im NWDR am 25.3.1955). Daneben entstehen die Lieder auf der Flucht, Anrufung des Großen Bären, Schwarzer Walzer und andere Gedichte des zweiten Lyrikbandes, in Akzente erscheint im Februar 1955 u. a. der Essay Was ich in Rom sah und hörte, in Westermanns Monatsheften die Reflexion [Wozu Gedichte] (April 1955), im Jahresring 1955/56 das Prosastück Die blinden Passagiere; der Südwestfunk sendet den Radioessay Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils (5.8.1955). Zu neuen literarischen Plänen gehört ein Roman, auf den der Piper-Verlag in den Folgejahren immer wieder drängen wird und der zu diesem Zeitpunkt möglicherweise mit den nachgelassenen Entwürfen Ein Fenster zum Ätna identifiziert werden kann. Außerdem schlägt Joachim Moras ihr eine Monographie über Ludwig Wittgenstein als Seitenstück zu einer Wittgenstein-Ausgabe in der Deutschen Verlagsanstalt vor (Brief an J. Moras vom 2.2.1955). Erst im November entschließt sie sich, dieses Angebot abzulehnen, und nimmt dabei zugleich Abschied von ihrer früheren Parallelarbeit in Wissenschaft und Literatur: »Seit fünf Jahren habe ich nicht mehr wirklich etwas in der Philosophie getan, das doppelte Geleise hat viel Verführung gehabt für mich, aber ohne konzentrierte Arbeit muß man unweigerlich entgleisen [...]« (Brief an H. Paeschke vom 14.11.1955). Gleichwohl dankt ihr Siegfried Unseld noch fünf Jahre später für ihren Anteil an der Entdeckung Wittgensteins (Brief vom 13.12.1960 in Höller 1999, 169). 1955 Ingeborg Bachmanns wachsender Ruf als die wichtigste deutschsprachige Lyrikerin der Nachkriegszeit schlägt sich 1955 in neuen öffentlichen Anerkennungen nieder. Im Mai liest sie auf der Tagung der Gruppe 47 im Haus Rupenhorn in Berlin (13.–15.5.1955) aus ihrem Hörspiel Die Zikaden über das zivilisationskritische Thema der Weltflucht und erhält den Literaturpreis des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (16.–17.5.1955). Im Juli nimmt Bachmann auf Einladung von Henry Kissinger an der internationalen »Harvard Summer School of Arts and Sciences and of Education« an der Harvard Universität
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in Cambridge/Massachusetts teil, von wo aus auch ein Ausflug nach New York unternommen wird. Im Februar war sie zwar zum ersten Mal mit einem Flugzeug geflogen (Postkarte an H. Kesten vom 28.2.1955), in die USA reist sie jedoch mit dem Schiff. Allerdings findet sie keinen rechten Zugang zum Gastgeberland, empfindet es als ›höchst sonderbar‹, will das Seminar »kaum ausgehalten« haben (Briefe an W. Hildesheimer vom 15.7.1955 und 22.5.1959) und behauptet sarkastisch, sie verstehe »erst jetzt recht, warum sich soviele Emigranten umgebracht haben, denn zu allem andren hat ihnen wohl dieses Land den Rest gegeben« (Brief an H. Böll vom 16.7.1955). Dennoch verdankt sie der USA-Reise wichtige Kontakte, so etwa zu dem damaligen Lektor des Suhrkamp-Verlages Siegfried Unseld und zu dem Journalisten Pierre Evrard, mit dem sie eine langjährige Freundschaft verbinden wird. Nach der Rückkehr verbringt sie die Monate Oktober bis Dezember bei ihren Eltern in Klagenfurt und erwägt kurzfristig eine Rückkehr nach Wien (Brief an M. L. Kaschnitz vom 15.10.1955). Langlebiger ist der Wunsch, »ein Jahr« in Griechenland zu verbringen (Brief an J. Moras vom 14.11.1955), der sie schon Ende 1954 mit Blick auf das Jahr 1955 umtreibt, im folgenden Herbst/Winter zu sehr konkreten Plänen erst für das Frühjahr, dann für den Sommer 1956 führt und sich schließlich doch nicht verwirklichen lässt (Brief an Oswald Döpke vom Mai 1956 in du 9/1994, 36). 1955–1956 Von Klagenfurt aus nimmt Bachmann an der Herbsttagung der Gruppe 47 in Schloss Bebenhausen bei Tübingen teil (14.–16.10.1955) und reist Mitte Dezember nach Baden-Baden, um dort u. a. Hans Werner Henze zu treffen. Diesem hat sie »fürs nächste Musikfest in Donaueschingen« ein Opernlibretto versprochen (Brief an S. Unseld vom 6.12.1955), das neben der Weiterarbeit am zweiten Gedichtband in den Monaten November 1955 bis Juni 1956 einen Schwerpunkt ihres Schreibens ausmacht. Zusammen mit Henze besucht sie im Januar 1956 »drei Opernabende in der Scala« in Mailand, darunter eine Generalprobe zu Luchino Viscontis Inszenierung von Guiseppe Verdis Oper La traviata mit Maria Callas in der Hauptrolle (24.1.1956) – »bei weitem das Schönste, was ich je auf einer Opernbühne gesehen habe« (Brief an K. Piper vom 5.2.1956). Dieses überwältigende Erlebnis, dem sich auch ihre spätere Hommage à Maria Callas verdankt, gibt dem Librettoprojekt um »die Geschichte eines aus dem neapolitanischen Proletariat aufstei-
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genden Filmstars« namens Belinda (Henze-Interview 1986, zit. nach Spiesecke 1993, 83) neuen Auftrieb, dessen Fragmente im Nachlass überliefert sind. Allerdings gelingt Bachmann das notwendige »Hintanstellen der eigenen Arbeit unter die allein wichtige des Komponisten« (W 1, 434) hier noch nicht, und das Projekt wird aufgegeben. Auch der langjährige Plan, ein Theaterstück zu schreiben, der sich im Briefwechsel von Dezember 1955 bis Dezember 1958 verfolgen lässt (Brief an S. Unseld vom 6.12.1955; Brief an H. Böll vom 28.12.1958), wird nicht verwirklicht. 1956 Anfang Januar 1956 kehrt Bachmann nach langem Aufenthalt in Klagenfurt nach Rom zurück, verbringt dann aber die Monate Februar bis August weithin bei Hans Werner Henze in Neapel (Villa Rotondo, Via Bernardo Cavallino 1). Eine Vortragsreise nach Deutschland führt sie Ende Februar/März u. a. nach Düsseldorf, Bremen, Bochum, Wuppertal, Frankfurt und München. Von dort aus kehrt sie über Lenggries/Oberbayern (einer ihrer Besuche bei den Freunden Günter Eich und Ilse Aichinger) und Klagenfurt nach Neapel zurück, wo sie u. a. mit Marie Luise Kaschnitz über ihre Librettopläne spricht (Kaschnitz 2000, 555, 558). Auch der in diesem Frühjahr entstehende Prosatext Die wunderliche Musik reflektiert das für Bachmanns ästhetisches Denken zentrale Verhältnis von Musik und Dichtung (gedruckt im Herbst im Jahresring zusammen mit neuen Gedichten). Im Juni wird ihre Hörspielbearbeitung von Robert Musils Drama Die Schwärmer aufgenommen (BR), und es erscheinen wiederum Gedichte – Mein Vogel, Heimweg, An die Sonne – im Merkur, im Juli das berühmt werdende Gedicht Erklär mir, Liebe in der Wochenzeitung Die Zeit (19.7.1956). Im August verbringt sie einige Tage auf Ischia, um dann über Venedig und Klagenfurt zur Premiere von Henzes Oper König Hirsch (23.9.1956) nach Berlin zu reisen. Bei diesem Sommeraufenthalt in Klagenfurt wird der zweite Gedichtband Anrufung des Großen Bären »endlich fertig« (Brief an H. Böll vom 18.8.1956; erscheint Herbst 1956 bei Piper), der nicht zuletzt wegen seiner traditioneller klingenden Form- und Bildsprache nun auch die volle Anerkennung der Literaturkritik findet. 1956–1957 Nach drei Jahren Italien ist Bachmann im Sommer 1956 auf der Suche nach einem neuen Wohn- und Arbeitsort. Eine längere Erkrankung in Klagenfurt ver-
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hindert zwar eine geplante Berlinreise, und die als ›Übersiedlung‹ bezeichnete Fahrt nach Paris verschiebt sich (Brief an D. Lattmann vom 2.9.1956), den Dezember verbringt sie dann jedoch in Paris, wo sie zunächst im Hôtel de la Paix, Rue Blainville 6 wohnt, dem sie das Gedicht gleichen Titels widmet (Hörfunklesung NDR, 1.2.1957). Paris entspricht jedoch nicht ihren Erwartungen, zumal der »Rückschlag der politischen Ereignisse« (Algerienkrieg, Suezkrise) sie bedrückt (Brief an K. Piper vom 1.12.1956). Konzentrierte Lektüren wie die von Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit können dies nur unzulänglich kompensieren. Zum Jahreswechsel kehrt sie daher nach Rom zurück, sucht eine Wohnung ›für sich und ihre drei Koffer‹ (Brief an A. Andersch vom 9.1.1957) und will »ein Jahr lang« in der Via Vecchiarelli 38 bleiben (Brief an H. Paeschke vom 16.1.1957). Dort erreicht sie noch in der ersten Januarhälfte die Mitteilung über die – ebenso ehrenvolle wie in finanzieller Hinsicht willkommene – Zusprechung des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen (Rudolf Alexander Schröder-Stiftung), der ihr am 26.1.1957 in Bremen für ihren Gedichtband Anrufung des Großen Bären verliehen wird. Es ist dies ein erstes öffentliches Signal für den großen Erfolg gerade ihres zweiten Gedichtbandes, der ihr allerdings in dem Maße zum Problem wird, wie sie sich von einer konservativen Literaturkritik als ›positive‹ Dichterin vereinnahmt sieht. 1957 Im Juni 1957 unternimmt Bachmann eine Besuchsreise nach Innsbruck, Lenggries, Fürth, München, wo sie sich einer Blinddarmoperation unterziehen muss, und Stuttgart, um dort u. a. Alfred Andersch wiederzutreffen, der als Herausgeber ihres ersten Gedichtbandes und Rundfunkredakteur in den 1950er Jahren einer ihrer wichtigen Arbeitsfreunde und Vermittler ist. Andersch ist es auch, der ihr mit dem Ziel einer gutbezahlten Rundfunkreportage eine »Nordafrikareise« nach Marokko vorschlägt – ein unrealisierter Plan, auf den er noch 1959 wieder zurückkommt (Brief an A. Andersch vom 9.7.1957; Briefe von A. Andersch an Bachmann vom 3.7.1957 und 16.6.1959). Im Süddeutschen Rundfunk liest sie neue Gedichte (Strömung, Geh Gedanke, Freies Geleit; 19.6.1957). Die zur Veröffentlichung bereits an Joachim Moras gesandte Erzählung Porträt von Anna Maria erbittet sie nach Rücksprache mit dem Ehepaar Eich jedoch als unfertig wieder zurück (Briefe an J. Moras vom 16. und
26.6.1957). Einen Schwerpunkt ihrer literarischen Arbeit bildet im Sommer/Herbst 1957 das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, ein Reflexionsmodell der (Un-)Möglichkeit und Zerstörung absoluter Liebe, das zunächst Arbeitstitel wie »Die Zigeunerin von Manhattan« (Kaschnitz 2000, 559; mit Datum Mai 1956) oder »Manhattan-Ballade« trägt (Brief an H. Kesten vom 3.9.1957, zit. nach Weigel 1999, 220). Trotz ihrer literarischen Erfolge sieht sie sich seit Juli 1957 jedoch genötigt, zum Herbst wieder die »Zwangsarbeit« einer festen Anstellung einzugehen (Brief an S. Unseld vom 3.7.1957; Brief an H. Kesten vom 3.9.1957), und nimmt zum September eine Stelle als Dramaturgin beim Bayerischen Fernsehen in München an. Im Oktober 1957 wird sie zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt gewählt.
München und Neapel (1957–1958) 1957–1958 Die Anstellung beim Bayerischen Fernsehen durch dessen Direktor Clemens Münster (September 1957 bis Mai 1958) ist für Bachmann von Anfang an ebenso ungeliebt wie die Stadt München, wo sie »fast alles und fast jedes deprimierend« findet (Brief an H. Kesten vom 16.10.1957, zit. nach Weigel 1999, 287). Ihre Wohnung in der Franz Josefstr. 9a, die sie im Dezember 1957 bezieht, wird daher zum Ausgangspunkt vielfältiger Reisen. Gleich im September fährt sie über die Schweiz zu einem Urlaub nach Ischia, sie besucht Freunde und Bekannte in Deutschland, nimmt am 20. Oktober bei den Donaueschinger Musiktagen an der Uraufführung von Henzes Nachtstücken und Arien nach Gedichten Ingeborg Bachmanns teil und liest bei der Tagung der Gruppe 47 am Starnberger See ihre Gedichte Liebe: Dunkler Erdteil und Strömung (27.– 29.10.1957); Weihnachten verbringt sie bei ihren Eltern in Klagenfurt. Im März 1958 fährt sie nach Berlin, wo sie u. a. mit Marie Luise Kaschnitz den Zoo besucht (24.3.1958) und in Ostberlin Peter Huchel aufsucht (Brief an H. Böll vom 25.3.1958). Im April tritt sie zusammen mit anderen Mitgliedern der Gruppe 47 dem »Komitee gegen die Atomrüstung« bei. Im Oktober 1957 nimmt Bachmann mit Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Böll, Peter Huchel, Walter Jens und Hans Mayer in Wuppertal an einer Tagung zum Thema »Literaturkritik – kritisch betrachtet« teil (11.–13.10.1957), die auch »nach vier Jahren ohne Kontakt« (Bachmann/Celan 2008, Kom-
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mentar 274) zu der zufälligen Wiederbegegnung mit Celan und zur Wiederaufnahme der Beziehung führt. Diese wird nach Treffen u. a. in Köln (14.10.1957) und bei Bachmann in München (7.–9.12.1957, 28.– 29.1.1958, 7.5.1958) Ende Juni in Paris allerdings wieder beendet (Bachmann/Celan 2008, Kommentar 297–298). In den Jahren 1957–1958 stellen Bachmann und Celan gemeinsam die Texte für den deutschen Teil der von Marguerita Caetani herausgegebenen italienischen Zeitschrift Botteghe Oscure zusammen. Nach der Trennung von Celan lernt Bachmann anlässlich einer Aufführung des Züricher Schauspielhauses, das mit Max Frischs Stücken Biedermann und die Brandstifter und Die große Wut des Philipp Hotz in Paris gastiert, am 3.7.1958 auch deren Autor kennen, mit dem sie von da an eine Partnerschaft verbindet, die – so Max Frisch im Interview mit Philippe Pilliod in Berzona – »alles in allem etwas mehr als vier Jahre« dauert (Frisch/Pilliod 2011). Den Sommer verbringt Bachmann jedoch zunächst bei Henze in Neapel (Via Generale Parisi 6), bevor sie sich im September mit Max Frisch in La Spezia am Golf von Genua trifft. Im Oktober reist sie zur Premiere von Henzes UndineBallett nach London (27.10.1958) und nimmt dann an der Tagung der Gruppe 47 im Gasthof Adler in Großholzleute im Allgäu teil (31.10.–2.11.1958). Anfang November 1958 beendet sie ihr Münchener Jahr mit dem Umzug nach Zürich zu Max Frisch und den »ersten Schritte[n] in ein neues Leben« (Brief an G. R. Hocke vom 19.11.1958, zit. nach Höller 1999, 105). 1958 Neben ihrer Tätigkeit als Dramaturgin des Bayerischen Fernsehens stellt Bachmann ihren Radioessay Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium (BR 13.5.1958) fertig, an dem sie (nach der im Dezember 1956 in Paris begonnenen Proust-Lektüre) seit dem Sommer 1957 gearbeitet hat. Im Mai gelangt auch ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan zur Ausstrahlung (BR/NDR 29.5.1958). Zugleich arbeitet sie an den Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr, den der Piper-Verlag schon für den Herbst 1959 plant (Brief K. Pipers an Bachmann vom 10.10.1958). Außerdem erwartet der Verlag ihren »nächsten Roman«, für den sie ihre »Wiener Jahre« als »Ausgangspunkt« angegeben hat (Brief K. Pipers an Bachmann vom 14.5.1958, zit. nach Höller 1999, 105). Tatsächlich hat Ingeborg Bachmann schon in ihren ersten italienischen Jahren (1954–57) an einem neuen Romanprojekt um die Figur des Kriegsheimkehrers Eugen ge-
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arbeitet (Eugen-Roman I), dessen relativ spätere Entwürfe das Geschehen der überlieferten früheren, in Rom spielenden Bruchstücke nach Wien zurückbinden. Allerdings gelangt dieser Roman nicht über den Status eines Fragments hinaus und wird 1962–63 durch den ersten Todesarten-Roman abgelöst. Zu nicht abgeschlossenen Erzählfragmenten aus dem zeitlichen Umkreis des Bandes Das dreißigste Jahr gehören auch [Der Schweisser], [Der Hinkende] und Zeit für Gomorrha, eine weitere Variation des für diese Schaffensperiode charakteristischen Motivs vom Grenzübertritt, hier um ein ›Mädchen‹ aus der Wiener Leopoldstadt, das sich als Schauspielerin von erlittenen Demütigungen befreit, sowie die grenzüberschreitende Geschichte einer Liebe (brieflicher Arbeitstitel »WienVenedig«) und die Familienerzählung Der Tod wird kommen (brieflich unter dem Titel »Unsere Toten«, Brief an R. Baumgart vom 12.5.1960).
Zürich und Rom (1958–1963) 1958–1959 Nach ihrem Umzug von München nach Zürich im November 1958 wohnt Bachmann in der Feldeggstr. 21, ab Februar 1959 in Max Frischs Wohnung in Uetikon am See (Haus zum Langenbaum), »eine sehr erfreuliche Wohnung in einem alten Bürgerhaus (anno 1634) mit hohen Zimmern und Blick auf den See« (Max Frisch an Siegfried Unseld, 28.10.1958; zit. nach Andersch/Frisch 2014, 160). Im Oktober 1959 nimmt sie sich anlässlich der bevorstehenden Frankfurter Vorlesungen im Gottfried-Keller-Haus (Kirchgasse 33) zusätzlich eine eigene »kleine Arbeitswohnung in der Stadt« (Brief an K. Piper vom 9.10.1959). Die Monate Januar bis Juni 1959 arbeitet Bachmann intensiv an den Erzählungen des entstehenden Bandes Das dreißigste Jahr, darunter an der Titelerzählung um die Lebenskrise eines paradigmatischen modernen Intellektuellen, an Alles und Jugend in einer österreichischen Stadt. Diese letzte Erzählung, eine autobiographische Auseinandersetzung mit der österreichischen Kindheit in Klagenfurt im Zeichen von Nationalsozialismus und Krieg, die zugleich eine an Walter Benjamin geschulte Gedächtnispoetik entwirft, wird als Erster der Texte im Frühjahr in Marguerita Caetanis Zeitschrift Botteghe Oscure (Rom) vorabgedruckt. Als Nebenarbeit wird im Februar ihre Funkbearbeitung von Robert Musils Komödie Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer gesendet (Radio Bremen, 13.2.1959). Neue Ehrungen unterstreichen Bachmanns gewachse-
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ne Bedeutung in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Angesichts der Anfeindungen, denen sie in der österreichischen Literaturszene ausgesetzt ist – so attackiert ihr einstiger Mentor Hans Weigel sie im Juni 1958 in der Zeitschrift Forum wegen ihrer Beteiligung an einem Protest gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr in einem »Offenen Brief in Sachen Unterschrift« –, schlägt Hermann Kesten ihre Aufnahme in den deutschen PEN vor, und am 17.3.1959 wird ihr im Plenarsaal des Bundesrates in Bonn der angesehene Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen, für den sie sich mit der poetologischen Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar bedankt. Auch das praktische Leben kommt nicht zu kurz: Im März besteht Ingeborg Bachmann in Zürich die Fahrprüfung (Brief an G. Grass vom 29.3.1959). Ende März nimmt sie zusammen mit Max Frisch Abschied von dem sterbenden Peter Suhrkamp. 1959 Eine gefährliche Hepatitis-Infektion, die Max Frisch ins Krankenhaus zwingt, verhindert im Mai 1959 nicht nur eine geplante Spanienreise, sie motiviert Bachmann auch, als sie »nichts mehr tun« kann für ihn, nach Rom ›vorauszureisen‹ (Brief an R. Baumgart vom 4.6.1959). Auf der Fahrt macht sie bei Alfred und Gisela Andersch in Berzona (Tessin) Station, die sie Ende August gemeinsam mit Frisch nochmals besucht. Sowohl Enzensberger als auch Henze gegenüber äußert Bachmann den Wunsch, »ein kleines Stück Land und ein Haus darauf« zu besitzen (Bachmann/Enzensberger 2018, 57; vgl. auch Bachmann/ Henze 2004, 227, 502). Auch Frisch, der dann tatsächlich 1965 nach Berzona ziehen wird, trägt sich da offenbar schon mit dem Gedanken einer Übersiedlung ins Valle Onsernone: »Ingeborg sieht überall Land (ohne Preis) mit eigenem Wein, ein Haus dazu, das die Heinzelmännchen ordnen, und auf Grund der Idee, dass ich als Butler nur insgeheim schreibe, scheint auch mir alles möglich« (Andersch/Frisch 2014, 36 f.). Andersch wiederholt nicht nur seinen Vorschlag einer Nordafrikareise, er unterstützt Bachmann auch in einem anderen Vorhaben, das sowohl ihre Abenteuerlust als auch ihre anhaltende finanzielle Bedrängnis zeigt: Im Auftrag des Fernsehsenders Bremen (und des SDR-Rundfunks) will sie (frei nach Jules Vernes) unter dem Titel »In achtzig Stunden um die Welt« eine »Doppel-Weltreise in Düsenflugzeugen« unternehmen (Brief A. Anderschs an Bachmann vom 16.6.1959). Von London aus soll sie »zweimal um die
Welt rasen und dann den Text zu einer Fernsehsendung schreiben. Es ist der erste Zivilflug, der in 80 Stunden alle 5 Kontinente bewältigt; das erstemal fliege ich mit längeren Zwischenaufenthalten, das zweitemal wirklich in 80 Stunden« (Brief an R. Baumgart vom 1.7.1959). Allerdings kommt diese bemerkenswerte literarische Inszenierung moderner Beschleunigungserfahrungen dann doch nicht zustande (Brief an H. Heissenbüttel vom 8.9.1959). 1959–1960 Schon nach einem Monat in Rom (Via della Stelleta 23) kehrt Bachmann Anfang August nach Zürich zurück, arbeitet weiter an ihren Erzählungen und schreibt in freier Bearbeitung des Dramas von Heinrich von Kleist das Libretto für Henzes Oper Der Prinz von Homburg. In der Festschrift Musica Viva erscheint im Juni 1959 ihr Essay Musik und Dichtung, und sie trägt bei der Tagung der Gruppe 47 im Schloss Elmau bei Mittenwald (23.–25.10.1959) ihre Erzählung Alles vor, eine abgründige Reflexion der pädagogischen Utopie eines vollständigen gesellschaftlichen Neuan fangs, die zugleich im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wird. Bei dieser Tagung lernt sie den soeben aus der DDR übersiedelten Uwe Johnson kennen, der in der Folgezeit zu einem wichtigen Gesprächspartner wird. In den Herbst 1959 fällt auch der spannungsreiche Konflikt um die Rezension des Lyrikbandes Sprachgitter von Paul Celan, der Günter Blöckers Formulierungen als »Hitlerei, Hitlerei, Hitlerei« empfindet (Bachmann/Celan 2008, 169, 171) und von zahlreichen Freunden und Bekannten, darunter Bachmann und Frisch, Solidaritätskundgebungen fordert. Einen Schwerpunkt von Bachmanns Arbeit bildet im Herbst/Winter 1959–60 die Vorbereitung auf die Poetik-Vorlesungen an der Universität Frankfurt, zu denen sie als erste Gastdozentin im Wintersemester 1959–60 eingeladen ist und die ihr erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Sie eröffnet die Reihe Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung, in denen sie eine literarhistorische Ortsbestimmung der Nachkriegsliteratur mit eigenen poetologischen Grundsatzüberlegungen verbindet, am 25.11.1959 mit der Vorlesung »Fragen und Scheinfragen«, am 9.12.1959 liest sie »[Über Gedichte]«, das Datum der Vorlesung »Das schreibende Ich« war bislang nicht feststellbar, die Vorlesung »Der Umgang mit Namen« findet am 10.2.1960 statt (Kaschnitz 2000, 1174), die fünfte und letzte – »Literatur als Utopie« – folgt am 24.2.1960. An diese Poetikvorlesungen, die damals
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ein völlig neues Forum des Dialogs zwischen Literatur und Wissenschaft darstellten, schließen sich jeweils Seminare an, deren Diskussion Bachmann angesichts der unterschiedlichen Erwartungen und Sprachen der Studenten und der Autorin als besonders schwierig empfindet. Für den Bayerischen Rundfunk nimmt sie die Vorlesungen (ohne »[Über Gedichte]«) am 25.–28.4.1960 in Zürich auf, gekürzte Fassungen erscheinen in der »kulturellen Monatsschrift« du (August bis Oktober 1960). Die vom Piper-Verlag vorgeschlagene und von Bachmann Ende 1960 und Anfang 1962 auch konkret geplante Buchausgabe kommt jedoch nicht zustande. Ein persönlicher Ertrag der Vorlesungen ist u. a. die Bekanntschaft mit dem Philosophen Theodor W. Adorno, dem sie seither freundschaftlich verbunden ist.
wurde, und den außer ihr 33 weitere namhafte ZeitgenossInnen von Adorno über Henze bis zu Arno Schmidt unterstützen (vgl. das Faksimile in Andersch/ Frisch 2014, 34 f.). Anfang Dezember kommt sie noch einmal nach Frankfurt zu einer Aufführung der KleistOper, besucht Adorno und Kaschnitz und lernt deren Familiensitz Bollschweil bei Freiburg kennen (Gersdorff 1992, 261). Nachdem die Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr vor dem Abschluss stehen, konzentriert sich eine Verlagsbesprechung auf die Buchfassung der Frankfurter Vorlesungen sowie auf einen weiteren »Buchplan«, der in dieser Form nicht zustande kommen wird, ein »Denkbuch«, »also eine Sammlung von halbaphoristischen, halbanekdotisch-moralischen Notizen, etwa ein modernes Pendant zu Montaignes Essais« (Protokoll R. Baumgart, 5.–8.12.1960).
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Nach den Frankfurter Vorlesungen wendet sich Bachmann wieder ihrem entstehenden Erzählband zu und arbeitet vor allem an den Erzählungen Unter Mördern und Irren, einer kritischen Abrechnung mit der unbewältigten nationalsozialistischen Vergangenheit in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, und an dem späteren Schlussstück Undine geht mit seiner mythologischen Überkreuzung von Geschlechterthematik und Poetologie. Im März nimmt Bachmann zusammen mit Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Ernst Bloch und Georg Maurer an einem von Hans Mayer geleiteten Lyrik-Symposium in Leipzig teil. Am 22. Mai besucht sie in Hamburg die Uraufführung von Henzes und ihrer Oper Der Prinz von Homburg. Im Anschluss trifft sie sich zusammen mit Max Frisch und Paul Celan in Zürich mit Nelly Sachs (25.–26.5.1960), die zur Entgegennahme des Droste-Preises auf der Fahrt nach Meersburg ist. Bachmann widmet ihr im Folgejahr das Gedicht Ihr Worte. Im September tritt sie zusammen mit Marie Luise Kaschnitz und Klaus Demus in der Neuen Rundschau Claire Golls Vorwurf, Paul Celans Lyrik sei ein Plagiat der Gedichte ihres Mannes Yvan Goll, entgegen. Ebenfalls im September unternimmt sie gemeinsam mit Max Frisch eine Urlaubsreise nach Spanien. Im November fährt sie von Zürich aus kurz nach Rom, um ihre und Max Frischs »Übersiedlung« vorzubereiten (Brief an J. Moras vom 23.11.1960). Im November unterzeichnet sie einen von Alfred Andersch und Max Frisch verfassten offenen Brief zum Algerienkonflikt, der unter anderem am 15.11.1960 in der National-Zeitung Basel gedruckt
Von Dezember 1960 an wohnen Max Frisch und Ingeborg Bachmann abwechselnd in Zürich und in Rom, dort zunächst in der Via Giulia 102, ab Anfang Juni 1961 dann in der Via de Notaris 1F, »auf einem Hügel über der Stadt, gegenüber der Villa Borghese im noblen Stadtviertel Parioli« (Fußl/Larcati 2015, 33). Max Frisch notiert: »zwei Terrassen, Dienstmädchen, Blick über Rom« (Frisch an S. Unseld in Andersch/ Frisch 2014, 162), »Miete monatlich 2000 Franken« (Frisch 1975, 177). Seiner Mutter gegenüber bezeichnet er dies als »Luxus«, den er sich »zum fünfzigsten Lebensjahr spendiert« (Frisch 2002, 35), dem Verleger Siegfried Unseld gegenüber nennt er es »eine Folge der Nachricht, dass mehrere Theater das neue Stück [Andorra] machen werden« (Frisch am 28.4.1961 an S. Unseld in Andersch/Frisch 2014, 162). Für Bachmann ist es »die langgesuchte und endlich gefundene Wohnung, die fast zu schön ist, um wahr zu sein« (Brief an A. Böll vom 26.5.1961). Zuvor reisen sie aus Anlass seines 50. Geburtstags (am 15.5.1961) vom 9.– 23. Mai nach Griechenland (vgl. Kommentar in Andersch/Frisch 2014, 161), das Bachmann nun endlich kennenlernt. An Enzensberger schreibt sie, »dass es manchmal sehr schön und manchmal sehr mühsam war, und dass ich froh bin, dass ich in Rom leben kann« (Bachmann/Enzensberger 2018, 109). Im Frühjahr 1961 arbeitet Bachmann auch weiter an ihren Erzählungen, vor allem an den Texten Ein Wildermuth, einem emphatischen Einspruch gegen ein verkürztes Wahrheitsverständnis, und Ein Schritt nach Gomorrha, dem Reflexionsmodell eines misslingenden Austritts aus der Geschlechterordnung am
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Beispiel lesbischer Liebe. Wenngleich Max Frisch in Interviews nach Bachmanns Tod meist angegeben hat, dass sie in schriftstellerischer Hinsicht nicht zusammengearbeitet haben (etwa gegenüber Philippe Pilliod; vgl. Frisch/Pilliod 2011), geht aus Bachmanns Briefwechsel mit dem Piper-Verlag hervor, dass er die Erzählungen im Manuskript gelesen und mit Bachmann auch die Titelfrage diskutiert hat. Im Juni schließlich erscheint der Erzählband Das dreißigste Jahr im Piper-Verlag und trifft in der Literaturkritik auf ein skeptisches Echo. Bachmanns lyrisch und philosophisch geprägte Prosa wird als das Werk einer »gefallenen Lyrikerin« (Reich-Ranicki 1994, 188) missverstanden. Ebenfalls im Juni 1961 erscheint im Suhrkamp-Verlag Bachmanns Übertragung von Gedichten des italienischen Lyrikers Giuseppe Ungaretti, an denen sie seit 1960 gearbeitet hatte. Schon vor diesen Buchpublikationen geht sie im Frühjahr auf eine ausgedehnte Lesereise durch Westdeutschland, die sie nach Düsseldorf, Göttingen, Braunschweig, Dortmund, Darmstadt, Hamburg, Kiel, Lübeck, Tübingen, Hannover, Remscheid, Oberhausen, Münster, Wiesbaden, Duisburg, Wuppertal und Köln führt (10.2.–16.3.1961); im Juni folgt eine Lesung und Rundfunkaufzeichnung im Schauspielhaus Zürich. Über Österreich reist Bachmann im Oktober dann zur Tagung der Gruppe 47 im Jagdschloss Göhrde bei Lüneburg (27.–29.10.1961). Von Zürich aus fährt sie im November nach Berlin, wo ihr im Anschluss an eine Lesung im Rahmen der von Walter Höllerer initiierten Veranstaltungsreihe »Literatur im technischen Zeitalter« für ihre Erzählungen Das dreißigste Jahr der Literaturpreis des Verbands der Deutschen Kritiker verliehen wird (19.11.1961; zugleich Fernsehaufnahme des SFB). Diese Reise in das geteilte Berlin auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wird zum Anstoß für das Erzählfragment Sterben für Berlin aus dem Vorfeld des Todesarten-Projekts. Im Dezember reist Bachmann zusammen mit Max Frisch von Rom aus zu einer Aufführung seines Stückes Biedermann und die Brandstifter nach London. In diesem Jahr wird sie Mitglied der literarischen Sektion der Akademie der Künste in Berlin. 1962 Im neuen Jahr setzt sich das von Reisen unterbrochene Schriftstellerleben mit wechselndem Wohnsitz in Zürich und Rom zunächst fort. Im März 1962 besuchen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger Bachmann in Rom. Mitte April fährt sie nach Ham-
burg zu Besprechungen mit dem Regisseur Egon Monk, einem Brecht-Schüler, der ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan verfilmen möchte; der PiperVerlag plant hierzu bereits ein Filmbuch (Brief H. Rössner an E. Monk vom 10.5.1962). Dieser Film kommt zwar nicht zustande, Bachmann plant aber weiterhin eine Zusammenarbeit mit Egon Monk und denkt im Herbst über eine Umarbeitung ihrer Erzählung Porträt von Anna Maria in ein Drehbuch nach (GuI, 35). Einen Höhepunkt des Jahres bildet zweifellos ihre zweite Schiffsreise nach Amerika, nach New York, wo sie am 12. Juni auf Einladung von Hans Egon Holthusen im Goethe-Haus liest und u. a. Hannah Arendt kennenlernt. Im Oktober reist sie zu einer Fernsehlesung nach Berlin (31.10.1962), im November entsteht eine Schallplattenaufnahme »Ingeborg Bachmann liest eigene Gedichte«. 1962–1963 Das Jahr 1962 markiert jedoch auch einen entschiedenen Umbruch in Leben und Werk Ingeborg Bachmanns. In den Spätsommer fällt die schmerzhafte Trennung von Max Frisch, der ihr am 1.8.1962 mitteilt, dass er eine Beziehung zu seiner späteren Frau Marianne Oellers aufgenommen hat (Höller/Larcati 2016, 51; Schiffermüller/Pelloni 2017, 197). In diese Zeit fallen ein Nervenzusammenbruch, Krankheit und Depressionen. Bachmann schreibt an Henze, »dass diese Trennung die grösste Niederlage [ihres] Lebens bedeutet« (Bachmann/Henze 2004, 245), und obwohl Frisch »es gewesen« ist, »der sie verlassen hat«, empfindet auch er das Scheitern der Beziehung als »Niederlage« (Frisch 2002, 74). Nach einem Selbstmordversuch (Bachmann/Henze 2004, 244) verbringt Bachmann vom 10. Dezember bis Ende des Jahres und nochmals vom 24. Januar bis Anfang Februar 1963 mehrere Wochen in der Bircher Benner-Klinik bzw. im Schwesternhaus vom Roten Kreuz in Zürich (Schiffermüller/ Pelloni 2017, 105; Höller/Larcati 2016, 54). Dies ist der erste von mehreren Krankenhausaufenthalten in Zürich, Berlin und Baden-Baden, bei denen sie nicht zuletzt versucht, »von ihrer Alkoholabhängigkeit, zu der die Medikamentenabhängigkeit kam, frei zu werden« (Höller 1999, 124). In biographisch orientierten Untersuchungen wird davon ausgegangen, dass in dieser Zeit der Klinikaufenthalte im Winter 1962–63 bei Bachmann auch eine Abtreibung vorgenommen wurde (Kommentar in Bachmann/Henze 2004, 507; Stoll 2013, 248; Höller/Larcati 2016, 88; Schiffermüller/Pelloni 2017, 108; Wandruszka 2017, 312), wobei die Fra-
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ge der Vaterschaft jedoch bislang noch nicht angesprochen wurde. Die Klinikaufenthalte verzögern auch die Übersiedlung nach Berlin auf Einladung der Ford Foundation, zu der Bachmann Anfang Dezember 1962 bereits die Einladung erhalten hat. Trotz und vielleicht gerade wegen dieser Lebenskrise finden sich im August 1962 die ersten Hinweise auf einen literarischen Neuansatz, aus dem sich das Todesarten-Projekt entwickeln wird. Ingeborg Bachmann begibt sich in Klausur und will »versuchen, eine neue Arbeit anzufangen« (Brief an K. Piper vom 7.8.1962). Eine auf den 12.8.1962 datierte Aufzeichnung zeigt ein autobiographisches Ich voller Sehnsucht »[ü]ber dem Stadtplan von Wien liegen[d]« (TKA 1, 166), dem Zentralschauplatz der späten Prosa. Dies kann als eine Keimzelle des ersten Todesarten-Romans um Eugen Tobai, Fanny, Toni Marek und Karin Krause betrachtet werden, der ihre älteren Romanprojekte ablöst und in den Jahren 1962/63 bis 1965 einen Schwerpunkt ihrer literarischen Arbeit bezeichnet. In stilistisch noch disparater Form verbindet dieses als Zeitroman angelegte polyperspektivische Romanfragment die Kritik der österreichischen Nachkriegsgesellschaft und die (teils surreale) Reflexion österreichischen Geschichtsbe wusstseins mit jener Darstellung der verborgenen »Verbrechen« auf dem »Mordschauplatz« Gesellschaft und insbesondere im Verhältnis der Geschlechter, die das thematische Zentrum der Todesarten-Texte bildet (TKA 2, 361; TKA 3.1, 617).
Berlin (1963–1965) 1963 Im März 1963 wohnt Bachmann in Zürich der Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Drama Herkules und der Stall des Augias bei (20.3.1963) und erstattet zusammen mit anderen befreundeten Schriftstellern (darunter Böll, Enzensberger, Grass, Johnson, Richter und Martin Walser) Anzeige gegen Josef Hermann Dufhues, den Geschäftsführenden Vorsitzenden der CDU, der erklärt hatte, der Einfluss der Gruppe 47 sei der einer »geheimen Reichsschrifttumskammer« (19.1.1963; Anzeige 20.3.1963). Anfang April 1963 ist Bachmann endlich in der Lage, die Einladung der Ford Foundation anzunehmen und nach Berlin überzusiedeln. Anders als zehn Jahre zuvor, als sie nach ihren ersten Besuchen in Deutschland geplant hatte, dorthin überzusiedeln, erfolgt dieser Umzug nach Berlin jetzt »wohl in erster Linie aus finanziellen Gründen, da die Ford Foundation ihr von Mai 1963
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bis April 1964 »ein Jahresstipendium von 60.000 DM« gezahlt hat, »verteilt auf zwölf Monate« und zusätzlich eine »Krankenversicherung« (Hartwig 2017, 118 f.). Ihr da schon sehr gespanntes Verhältnis zu Deutschland wird sich durch diesen knapp dreijährigen Aufenthalt in Berlin zusehends verschlechtern, und noch im Mai 1973 bestand sie, sich auf »ein Wort von Oscar Wilde über Engländer und Amerikaner« berufend, in einem Interview darauf, daß die Deutschen »für Österreicher auch sehr schwer zu verstehen« seien: »Unser Denken ist anders« (GuI, 132). In Berlin wohnt Bachmann zunächst im Appartement 3 der Akademie der Künste, wo sie sich mit einem Mitstipendiaten, dem polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz, anfreundet. Am 1. Juni zieht sie dann in eine eigene Wohnung in Berlin-Grunewald um (Königsallee 35). Mitte April fährt sie zusammen mit Uwe Johnson und Walter Boehlich nach Paris (18.–20.4.1963) zu einer Vorbereitungstagung für die geplante europäische Kulturzeitschrift Gulliver, die jedoch nicht zustande kommt. (Der im Sommer/Herbst 1962 entstandene und 1964 in italienischer Sprache veröffentlichte Text Tagebuch war für die erste Nummer dieser Zeitschrift vorgesehen.) In der ersten Jahreshälfte 1963 findet im Café Canova an der Piazza del Popolo (Frisch 2014, 20 f.) – von Alfred Andersch als »grosse[r] Krach« bezeichnet (Brief vom 22.7.1963 in Richter 1997, 463) – die letzte Begegnung zwischen Bachmann und Frisch statt. In seiner Erzählung Montauk heißt es: »Zuletzt gesprochen haben wir uns 1963 in einem römischen Café vormittags; ich höre, dass sie in jener Wohnung, Haus zum Langenbaum, mein Tagebuch gefunden hat in einer verschlossenen Schublade; sie hat es gelesen und verbrannt« (Frisch 1975, 151). Bei diesem Tagebuch handelte es sich um Aufzeichnungen, die Frisch 1959 »hauptsächlich im Krankenhaus« während seiner Hepatitis-Erkrankung geschrieben hat (Frisch 2011, 232). Auch wenn das schriftstellerische ›Kapital‹ Max Frischs zu einem nicht geringen Teil aus literarischen Tagebüchern besteht, hat die Bachmann-Forschung die heiklen materiellen und juristischen Fragen bislang noch nicht angesprochen, die sich aus der Vernichtung eines solchen Textes ergeben könnten. Bachmanns nachträgliche Rechtfertigung, ihr »Psychiater« habe ihr »geraten, es zu vernichten« (Brief an Frisch 30.6.1963, zit. nach Schiffermüller/Pelloni 2017, 107), könnte in diesem Sinne auch als Versuch der Absicherung zu verstehen sein. Offenbar gab es im Sommer 1963 Gerüchte, dass Bachmann »wertvolle Manuskripte, Tagebücher etc. verbrannt habe« (Andersch/
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Frisch 2014, 43), die Frisch jedoch zumindest Andersch gegenüber dementierte. Obschon er eigener Aussage zufolge »zwei oder drei Tage lang [...] in einem sehr exaltierten Zustand« war und daher in einem »Akt des Zorns« Dritten wie etwa Andersch und Unseld von dem vernichteten Tagebuch erzählt hat (ebd.), spielte er den Vorfall später tendenziell stets herunter. Soweit bislang bekannt ist, hat Frisch die Frage, »ob sie das Recht dazu hatte« (Frisch 2011, 232), öffentlich erst einige Jahre nach Bachmanns Tod angesprochen. Im Juni 1963 ist Bachmann in Österreich; im Juli/ August muss sie nochmals mehrere Wochen in einer Klinik verbringen (Martin-Luther-Krankenhaus, Berlin-Grunewald). Im November fährt sie nach Rom, um u. a. Henze und Giangiacomo Feltrinelli zu besuchen. Im Dezember werden wieder Lesungen in Berlin aufgezeichnet (Anfang Dezember und 20.12.1963). Im Mittelpunkt der literarischen Arbeit steht 1963 Bachmanns neuer Roman Todesarten, der im Oktober auch bereits Gegenstand von Verlagsbesprechungen ist. In diesen Besprechungen ist jedoch auch von »einem neuen Gedichtband« die Rede (Protokoll Dr. Best, 21.–25.10.1963). Tatsächlich ist im Nachlass eine Fülle von Gedichtentwürfen aus der Zeit (nach) der Trennung von Max Frisch überliefert, die – mit Ausnahme des Gedichts Eine Art Verlust (BBC 1967) – jedoch nicht veröffentlichungsreif wurden (s. posthum Bachmann 2000). Zwar hat Bachmann den falschen öffentlichen Eindruck eines Wechsels von der Lyrik zur Prosa in einem Interview im Januar 1963 scheinbar bekräftigt: »Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir der Verdacht kam, ich ›könne‹ jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe« (GuI, 40). Zugleich spricht sie dort jedoch von der Möglichkeit weiterer Lyrik, wenn »es wieder Gedichte sein müssen und nur Gedichte, so neu, daß sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen« (ebd.). Einzelne solcher ›neuen‹ Gedichte sind ihr im weiteren Verlauf der sechziger Jahre gelungen, und die mit dem sich entfaltenden TodesartenProjekt einhergehende Schwerpunktverschiebung von anderen Gattungen zur erzählenden Prosa bedeutet kein ›Verstummen‹ als Lyrikerin. 1964 Das neue Jahr bringt Ingeborg Bachmann nach dem literarischen Neuansatz auch im privaten Leben neue Impulse. Anfang 1964 gründet sie zusammen mit Hans Werner Richter und Uwe Johnson einen »Rad-
fahrerclub« für gemeinsame Fahrradausflüge in Berlin. Am 16. bis 23. Januar und nochmals am 27. Februar bis 4. März besucht sie mit dem österreichischen Autor Adolf Opel Prag, das sie weniger als Ostblockhauptstadt denn als Kontrapunkt zum geteilten Berlin, als die Stadt Franz Kafkas und als Ort des alten österreichischen Kulturraums und seines jüdischen Erbes erlebt. Der Besuch inspiriert sie u. a. zu neuen Gedichtentwürfen, darunter die Gedichte Prag Jänner 64 und Böhmen liegt am Meer, das in Anspielung auf William Shakespeares Wintermärchen eine lyrische Poetologie im Zeichen des utopischen ›Mythos Habsburg‹ entwirft. Etwa zehn Tage nach einer Lesung im AmerikaHaus in Berlin (7.4.1964) bricht Bachmann zu ihrer Reise nach Ägypten und in den Sudan auf, zu der sie sich am 20. April mit Adolf Opel in Athen trifft. Nach einer Woche in Athen reisen sie am 28. April per Schiff weiter nach Alexandria. Diese Reise, die ihr als intensives Erlebnis eines ganz anderen, außereuropäischen Kulturraums Distanz zu ihren europäischen Erfahrungen erlaubt und zugleich entscheidende Anstöße für die weitere Entfaltung des Todesarten-Projekts gibt, führt sie über Kairo (1.–10.5.) nach Hurghada am Roten Meer (10.–14.5.) und dann (wiederum mit dem Bus) weiter zu den klassischen architektonischen Zeugnissen der alten ägyptischen Kultur am Nil, nach Luxor und Theben, mit dem Fluzeug weiter nach Assuan, dann mit dem Raddampfer auf dem Nil nach Abu Simbel und Wadi Halfa (14.– 25.5.1964). Anfang Juni kehrt sie (per Bahn und Flugzeug) über Kairo und Griechenland (Athen und Insel Poros, 2.–11.6.) nach Berlin zurück, wo sie die Mitteilung über die Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1964, des wichtigsten deutschen Literaturpreises, vorfindet. Zu den literarischen Erträgen dieser Nordafrikareise zählt zunächst der Versuch eines Wüstenbuchs (1964/65), eines literarischen Reisebuchs, das anfangs die Erfahrung des fremden Natur- und Kulturraums im Sinne eines kritischen Exotismus mit der durch Berlin repräsentierten europäischen Gesellschaft kontrastieren soll. Im Zuge einer Trennung der Räume entsteht daraus der Berlin-Text Ein Ort für Zufälle (zunächst »Deutsche Zufälle«), eine »Prosagroteske« (Bartsch 1997, 133), mit der Bachmann sich am 17. Oktober in Darmstadt bei der Deutschen Akademie für die Überreichung des Georg-Büchner-Preises bedankt, indem sie sich zugleich mit Büchners Erzählung Lenz auseinandersetzt. In erweiterter Form erscheint dieses außergewöhnliche Prosastück dann mit
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Zeichnungen von Günter Grass im Klaus WagenbachVerlag (1965). Darüber hinaus trägt die Nordafrikareise zu einem Konzeptionswandel des TodesartenProjekts bei, der im Folgejahr zur Ablösung des ersten Todesarten-Romans durch das neue Romanvorhaben Das Buch Franza führt. Bevor Bachmann im Oktober nach Darmstadt reist, trifft sie sich Ende Juli nochmals mit Adolf Opel in Wien. Im September (1.–20.9.1964) begibt sie sich in St. Moritz bei Dr. Fred Auer in Behandlung. Anfang Dezember reist sie nach Sizilien, besucht zusammen mit Hans Werner Richter das Amphitheater von Taormina (11.12.1964) und trägt bei der Verleihung des Premio Etna-Taormina an Anna Achmatowa ihr dieser russischen Dichterin gewidmetes poetologisches Gedicht Wahrlich vor (12.12.1964). Ebenfalls 1964 erscheint in der Reihe »Die Bücher der Neunzehn« eine Werkauswahl Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays, die breite Resonanz findet. 1965 Im neuen Jahr wird immer deutlicher, dass Berlin kein dauernder Aufenthaltsort für Bachmann werden kann. Schon im März 1964 hatte sie von dem Gefühl der »Vagabondage« als einer »dauernde[n] Vertreibung« gesprochen und ihre innere Heimatlosigkeit zugleich beklagt und als notwendig bekräftigt: »Mit der Zeit fange ich noch zu glauben an, daß mir das wirklich zugedacht ist: kein Boden unter den Füßen« (Brief an K. Piper von Ende März 1964). Im August 1964 hatte sie sogar eine Rückkehr nach Wien erwogen (Brief an A. Opel vom 3.8.1964), spätestens seit Mai 1965 plant sie stattdessen die Übersiedlung nach Rom, die jedoch erst im November zustande kommt. Im Januar 1965 wirkt Bachmann zusammen mit Wystan H. Auden, Michel Butor, Franz Tumler und Reinhard Lettau an einer Radiosendung des SFB Berlin mit (20.1.1965), Ende Januar fliegt sie nach Paris, Ende Februar/März verbringt sie mehrere Wochen zur Behandlung in einer Klinik in Baden-Baden. Zurück in Berlin, nimmt sie am 7. April in der Deutschen Oper an der Uraufführung von Hans Werner Henzes erfolgreicher komischer Oper Der junge Lord teil, zu der sie das Libretto nach Wilhelm Hauffs Märchenerzählung Der Affe als Mensch geschrieben hat, und wirkt auch an einer Fernsehdokumentation über diese Inszenierung mit (SFB 5.4.1965). Im Zentrum ihrer literarischen Arbeit stehen nach dem Libretto weiterhin das Wüstenbuch und der erste Todesarten-Roman, den
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sie nun in die Kontinuität ihrer Suche nach der »großen Form« des Romans schon in den fünfziger Jahren stellt (Interview vom 1.5.1965; GuI, 56 f.). Das Jahr 1965 ist weiterhin von zahlreichen Reisen geprägt. Zum 70. Geburtstag ihres Vaters am 23. April fährt Bachmann nach Obervellach in Kärnten und hält sich anschließend in Wien auf, wo sie u. a. zur 600-Jahrfeier der Universität (5.5.1965) sowie auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur im Palais Palffy u. a. das Gedicht Böhmen liegt am Meer liest (10.5.1965). Ende Mai ist sie zurück in Berlin, fährt im Juni dann aber über die Schweiz nach Italien, macht im Realgymnasium Basel eine Rundfunkaufnahme (18.6.1965) und nimmt Ende des Monats anschließend an dem »Festival zweier Welten« in Spoleto (Umbrien) teil, wo sie u. a. den Beat-Poeten Lawrence Ferlinghetti kennenlernt. Von Berlin aus unternimmt sie im August eine Frankreich-Reise, nach Paris und Montigny sur Loing an der Seine. Auf der Rückreise nach Berlin macht sie zu Verlagsbesprechungen in München Station (3.9.1965), darüber hinaus in Bayreuth, wo sie zusammen mit Henze und Günter Grass an einer Wahlveranstaltung der SPD teilnimmt, um dann über Prag (6.–10.9.1965) nach Berlin zurückzukehren. Schon wenig später jedoch bricht sie wieder auf und sucht im Oktober in Rom nach einer neuen Wohnung. Nach einer leichten Gehirnerschütterung infolge eines Unfalls lässt sie sich Anfang/Mitte November nochmals in ihrem Baden-Badener Sanatorium behandeln. Im gleichen Herbst wird sie zusammen mit Hans Magnus Enzensberger in den Vorstand der »Europäischen Schriftstellergemeinschaft (COMES)« gewählt. Schon im Januar 1965 war sie der Erklärung des »Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien« (Leitung: Simon Wiesenthal) gegen die Verjährungsfrist von NS-Verbrechen beigetreten. Im Dezember unterzeichnet sie gemeinsam mit vielen anderen deutschsprachigen SchrifstellerInnen und Wissenschaftlern eine »Erklärung über den Krieg in Vietnam«, die in der Zeitschrift Konkret gedruckt wird. Ende November trifft sie in ihrer neuen römischen Wohnung in der Via Bocca di Leone 60 ein, wo sie bis Oktober 1971 wohnen wird. Der Umzug aus Berlin nach Rom beendet im November/Dezember 1965 also die Jahre der »Vagabondage«. Die Wohnung am Zürichsee bleibt allerdings offenbar noch darüber hinaus ein Aufenthaltsort (vgl. etwa den Brief an H. M. Enzensberger vom 4.3.1966 aus »Uetikon am See, Seestrasse 152«; Bachmann/Enzensberger 2018, 172).
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Rom 1965–1973 1966 Die Niederlassung in Rom Ende 1965 ermöglicht Ingeborg Bachmann endlich die konzentrierte Weiterarbeit an ihrem Todesarten-Projekt. Schon im Herbst 1965 hatte ein neues Romanprojekt um die Figuren Martin und Franziska Ranner, in das auch die Motive und der kritische Exotismus des Wüstenbuchs eingehen, den ersten Todesarten-Roman um Eugen, Fanny und Karin abgelöst. Dieser neue Roman trägt im Frühjahr 1966 vorläufig ebenfalls den Titel Todesarten, bevor er im Zuge der Erweiterung der Todesarten von einem Einzeltext zu einem Zyklusprojekt den Titel Das Buch Franza erhält (Brief an K. Piper vom 16.6.1966). Bei einer vom Schweizer Rundfunk SRG/DRS aufgezeichneten Lesung in Zürich am 9.1.1966 trägt Bachmann nicht nur erstmals die Gedichte Prag Jänner 64 und Enigma vor, es ist dies auch die erste Lesung aus dem entstehenden Franza-Roman, der in den kommenden Monaten ganz im Zentrum ihres Schreibens steht. Bereits im März bietet sie in Hamburg, Hannover, Berlin und Lübeck (22.– 25.3.1966) in Lesungen für den NDR eine wesentlich veränderte und erweiterte Fassung des Romans, die nun praktisch bereits den letzten überlieferten Text der Kapitel »Heimkehr nach Galicien« und »Die ägyptische Finsternis« repräsentiert, und das Mittelstück »Jordanische Zeit« entsteht in seinem Grundriss in unmittelbarem Anschluss an diese Lesereise. Vorreden erläutern erstmals ausdrücklich die Poetologie des Todesarten-Projekts als eine umfassende literarische Auseinandersetzung mit der Gewalt im Inneren der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus: »dieses Buch ›Todesarten‹ will erzählen von den Verbrechen, die heute begangen werden, vom Virus Verbrechen, der nach zwanzig Jahren nicht weniger wirksam ist als zu der Zeit, in der Mord an der Tagesordnung war, befohlen und erlaubt« (TKA 2, 349). In diesem Sinne überblendet Das Buch Franza ganz unterschiedliche Figurationen der Gewalt in der modernen Welt vom Geschlechterverhältnis in einer patriarchalischen Gesellschaft über die Verbrechen des Nationalsozialismus bis zum Neokolonialismus. Vor ihrer Lesereise hatte sich Bachmann Anfang März noch einmal in Zürich aufgehalten. Danach besucht sie ihre Familie in Klagenfurt, lässt sich von ihrem Bruder im Hinblick auf das Buch Franza »Nachhilfestunden in Geophysik und Geologie« geben (Brief an U. Johnson vom 10.4.1966) und verletzt sich
bei einem Sturz das Bein (Brief an H. W. Richter vom 14.–15.4.1966). Der Plan, an der Tagung der Gruppe 47 in Princeton/USA teilzunehmen, zerschlägt sich daher. Im Mai begibt sich Bachmann wiederum nach Baden-Baden; Ende Mai kehrt sie nach Rom zurück. Anfang August bis Mitte September ist sie wiederum auf Reisen, u. a. in Salzburg und in ihrer Klinik in Baden-Baden. Im Oktober verhandelt sie mit der Firma Olivetti (Mailand) über eine mögliche Zusammenarbeit (s. N1547) und kauft sich ihre erste elektrische Schreibmaschine (eine IBM Electric mit Kugelkopf). Spätestens im Dezember 1966 lernt sie in Rom den Verlagslektor und Schriftsteller Roberto Calasso kennen. An diesem Jahresende ist sie Mitglied der Jury für den Premio Etna-Taormina 1966, der im Opernhaus von Catania Hans Magnus Enzensberger, Wladimir Holan und Giuseppe Ungaretti überreicht wird. 1966–1967 Neben dem Buch Franza nimmt Bachmann im Frühjahr/Sommer 1966 den Fanny/Marek-Stoff des ersten Todesarten-Romans – die Zerstörung einer selbständigen Frau durch einen Schriftsteller, der ihr Leben verarbeitet, so wie Bachmann selbst sich durch Max Frisch in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein literarisch ausgeschlachtet fühlte – wieder auf und arbeitet ihn in eine eigenständige Erzählung Requiem für Fanny Goldmann um, für die sie eine separate Veröffentlichung im Suhrkamp-Verlag erwägt. Der Herbst 1966 bringt dann allerdings einen weiteren Konzeptionswandel des Todesarten-Projekts, der nochmals zu einer völligen Umgestaltung ihrer literarischen Pläne führt. Schon in den letzten Entwürfen zum Buch Franza aus dem Sommer häufen sich Motive, die später in den Roman Malina eingehen werden. Im November stellt sie dann fest, »daß es so nicht geht«; »das Manuskript« des Buchs Franza kommt ihr nun »wie eine hilflose Anspielung auf etwas vor, das erst geschrieben werden muß« (Brief an O. Best vom 25.11.1966, zit. nach TKA 2, 397). Der Entschluss eines »richtigen Verarbeiten[s] dessen, was schon da ist« (Brief an H. Rössner vom 22.12.1966, zit. nach TKA 2, 397), führt statt zu einer Neufassung des Franza-Romans jedoch zum Entwurf zweier neuer Romanprojekte, die nun zyklisch miteinander verbunden sind: zu dem Roman Malina mit seiner weiblichmännlichen Doppelfigur Ich/Malina und seiner symbolischen Inszenierung der Geschlechterthematik vor dem Hintergrund der Wiener Nachkriegsgesellschaft sowie zum Goldmann/Rottwitz-Roman, der mit Hilfe
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seines Erzählers Malina in einer Rahmenhandlung auf der Frankfurter Buchmesse die »Todesarten« der österreichischen Schauspielerin Fanny Goldmann und der deutschen Journalistin Eka Kottwitz/Aga Rottwitz ineinander spiegelt. Damit rückt endgültig der Plan eines Zyklus’ von Todesarten-Texten ins Zentrum des Todesarten-Projekts. Schon im Februar 1966 ist von einem »geplanten Zyklus« die Rede (Brief H. Rössner an Bachmann vom 25.2.1966). In letzten VorredeEntwürfen zum zurückgestellten Buch Franza aus dem Frühjahr 1967 spricht Bachmann entsprechend von den Todesarten als einem »Kompendium der Verbrechen, die in unserer Zeit begangen werden« (TKA 2, 361). Im Juni dann bezeichnet sie Malina erstmals als den »Beginn« des Zyklus (Brief an S. Unseld vom 26.6.1967, zit. nach TKA 3.2, 786); bei der Veröffentlichung des Romans wird sie später von einem »in sich geschlossene[n] Anfang oder eine[r] Ouvertüre« sprechen (GuI, 95) und damit zugleich auf das komplexe, reflexive und musikalische Erzählverfahren hinweisen, das sich im Laufe der Arbeit an diesem Roman in den Jahren 1967 bis 1970 herauskristallisiert. Der parallel entstandene Goldmann/Rottwitz-Roman dagegen bleibt ein Fragment. 1967 Am Anfang des neuen Jahres steht im Januar 1967 die Begegnung mit Gershom Scholem, der sich auf Einladung der Universität in Rom aufhält (6.–12.1.1967). In der ersten Februarhälfte hält Bachmann sich im Kurhotel von Dr. Auer in St. Moritz auf, im März ist sie aus gesundheitlichen Gründen nochmals in Zürich. Im März/April 1967 nimmt sie eine Ausgabe von Gedichten Anna Achmatowas in der Übertragung des früheren Nazi-Dichters Hans Baumann zum Anlass, um sich vom Piper-Verlag zu trennen, mit dessen Betreuung ihres Werks sie schon seit längerem unzufrieden ist, und wechselt zu Suhrkamp, dessen Verleger Siegfried Unseld sie bereits seit den fünfziger Jahren für seinen Verlag gewinnen möchte. Im Mai wohnt sie in Rom u. a. der Eröffnung einer Ausstellung des Malers Ernst Fuchs bei und reist mit Dr. Walter Zettl, dem stellvertretenden Leiter des Österreichischen Kulturinstituts Rom, zu einer Lesung nach Triest (12.5.1967), an die sich ein Ausflug nach Jugoslawien anschließt. In diesem Frühjahr arbeitet sie u. a. an ihrem unveröffentlichten Essay über Georg Groddeck, der als Rezension zu Neuausgaben von Hauptschriften dieses für sie wichtigen Psychologen im Spiegel gedacht war. Im Frühsommer folgt ihre ebenfalls nicht publizierte
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Rezension über den Roman Piotruš des israelischen Schriftstellers Leo Lipski (Ein Maximum an Exil), die wohl zuerst für den Spiegel gedacht war, für die aber auch die Wochenzeitung Die Zeit Interesse zeigt. Außerdem übernimmt Bachmann sporadisch Lektoratsaufgaben für Siegfried Unseld, indem sie ihm italienische und andere fremdsprachige Texte für deutsche Ausgaben vorschlägt. Im Juli nimmt Bachmann wieder am Literaturfestival in Spoleto teil und reist dann zum London Poetry Festival nach London, wo sie u. a. ihr Gedicht Eine Art Verlust vorträgt, Erich Fried trifft und Yehuda Amichai (Israel), Anthony Hecht und Allen Ginsberg (USA) kennenlernt (15.7.1967). Die zweite Jahreshälfte verbringt sie hauptsächlich in Rom und arbeitet vor allem an ihrem Todesarten-Projekt, insbesondere an dem Roman Malina. Für dessen »Mittelteil« findet sie vermutlich bei »Spaziergängen« in Kärnten um Weihnachten 1967 die ›Lösung‹ in der Form des Traumkapitels (Brief an S. Unseld vom 4.1.1968, zit. nach TKA 3.2, 792). 1968 Im Winter 1967/68 beginnt außerdem eine weitere Verzweigung des Todesarten-Projekts, aus der fünf Jahre später der Erzählband Simultan hervorgehen wird. Neben der Arbeit an dem engeren TodesartenZyklus – und späterer Darstellung zufolge als Entlastung – entstehen »komische Geschichten« über »Wienerinnen«, die »keine großen Tragödien haben«, gleichwohl aber ein »Abstürzen in die letzten Dinge aufführen« (TKA 4, 3). Diese Erzählungen entwerfen (in Anlehnung an Honoré de Balzac) eine literarische Sittengeschichte der Wiener Nachkriegsgesellschaft, indem sie »die Mores einer Zeit durch eine Reihe von Frauenporträts« zeigen (GuI, 140). Eine erste Fassung der Erzählung Simultan, die eine erfolgreiche Simultandolmetscherin in einer Lebenskrise zur Selbstreflexion führt, wird schon im Oktober 1968 im NDR ausgestrahlt (7.10.1968). Nicht abgeschlossen werden dagegen andere der frühen Erzählungen von »Wienerinnen« wie Die ausländischen Frauen und Rosamunde, eine höchst ironische Kritik der Psychoanalyse. Unveröffentlicht bleibt auch ein im gleichen Jahr entstandener Essay über Sylvia Plaths Roman Die Glasglocke. Im April 1968 erhält Bachmann in Rom Besuch von dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi, mit dem sie seit Juni 1959 in freundschaftlichem Kontakt steht; im August fährt sie zusammen mit den jungen
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Autoren Roberto Calasso und Fleur Jaeggy nach Klagenfurt. Am 21. November wird ihr in Wien der Österreichische Staatspreis verliehen, und sie trifft u. a. mit Hilde Spiel und Thomas Bernhard zusammen (29.11.1968). Im gleichen Monat erscheinen ihre späten Gedichte Keine Delikatessen (entstanden schon 1963), Enigma, Prag Jänner 64 und Böhmen liegt am Meer in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch, und zwar in jenem berühmten Heft 15, das vor dem Hintergrund der Studentenunruhen und der Gesellschaftskrise der späten sechziger Jahre den ›Tod der Literatur‹ erklärte. In diesem Kontext wurde auch ihr Gedicht Keine Delikatessen vielfach zu Unrecht als endgültige Absage an die Lyrik verstanden. Bachmann selbst hat lange gezögert, diese Gedichte an die Kursbuch-Redaktion zu schicken, und war etwa im Januar 1966 schon der Ansicht, »dass man eben keine Gedichte zwischen Vietnam und Südamerika unterbringen kann« (Bachmann/Enzensberger 2018, 167). 1969 Im März 1969 hält Bachmann sich zur Erholung in St. Moritz auf, trifft sich dort zu Verlagsbesprechungen mit Siegfried Unseld und veranstaltet auch eine Lesung (Reisebericht S. Unseld, 22.–31.3.1969). Anfang Mai macht sie Urlaub in St. Tropez, Ende Mai entsteht in Rom die Fernsehdokumentation »Zu Gast bei Ingeborg Bachmann«. Neben den Todesarten-Romanen Malina und Goldmann/Rottwitz-Roman gilt ihre Aufmerksamkeit 1969 weiterhin ihren Erzählungen von »Wienerinnen«, so dem Fragment Freundinnen sowie den Erzählungen Probleme Probleme um die komisch-abgründige Lebensverweigerung einer Jugendlichen und Ihr glücklichen Augen, ein Reflexionsmodell sozialer (Nicht-)Wahrnehmung und Wirklichkeitsausblendung in der Liebe. Diese letzte Erzählung, die Bachmann später dem Psychologen Georg Groddeck widmet, wird am 14.11.1969 in einer Aufzeichnung des NDR erstveröffentlicht. Auf Anregung von Bachmanns Anwalt entsteht bereits im Frühjahr 1969 der Plan, die weiter bestehende Option des Piper-Verlags auf das Buch Franza durch einen Band mit Erzählungen abzulösen, woraus im Weiteren der Simultan-Band hervorgeht. Daneben entstehen 1969 ein unveröffentlichter Essay über das Erzählwerk Thomas Bernhards, mit dem Bachmann nun in freundschaftlicher Verbindung steht, und das ebenfalls ungedruckte Vorwort zu einer geplanten Anthologie der Lyrik Bertolt Brechts in der Fischer-Bücherei.
1970 Im Januar 1970 unternimmt Bachmann eine Reise, die sie u. a. nach Wien, Berlin (zu Uwe Johnson) und St. Moritz führt. Anfang Februar ist sie zurück in Rom und nimmt dort u. a. an der Eröffnung der Ausstellung »Deutsches Theater heute« im Goethe-Haus teil (18.2.1970). Die in die Reinschriftfassung des MalinaRomans eingefügte Hommage an Paul Celan – in der Legende »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« und im Traumkapitel – zeigt, wie schwer sie der Freitod dieses langjährigen Freundes Ende April 1970 getroffen haben muss. Die Fertigstellung des Romans Malina steht im Frühsommer und im Herbst 1970 im Zentrum ihrer literarischen Arbeit. Dazwischen liegt eine Sommerreise, während der Uwe Johnson ihre römische Wohnung benutzt. Am 15. Juli bricht Bachmann zunächst nach München und Frankfurt auf, um dann bis Mitte August mehrere Wochen lang ihre Familie in Klagenfurt zu besuchen. Dieser Kärntenaufenthalt wird zum Ausgangspunkt für eine »neue Erzählung« über die »wirklich ›Reichen‹, die in diesem Land ihre großen Jagden und Jagdhäuser haben« (Brief an H. Rössner vom 12.8.1970, zit. nach TKA 4, 606). Es sind dies die ersten Entwürfe zu der gesellschaftskritischen Milieustudie Gier, in die sie nach ihrer Rückkehr nach Rom Motive eines aktuellen spektakulären Mordfalls in der High Society Roms einarbeitet. 1970–1971 In den Monaten September bis Dezember 1970 arbeitet Ingeborg Bachmann dann mit aller Kraft an der Drucklegung des Malina-Romans, der am 17.3.1971 als »Ouvertüre« des Todesarten-Zyklus erscheint. Erschwert wird die Schlussredaktion durch eine Schlüsselbeinverletzung, die sie zur Inanspruchnahme von »Sekretärinnen aller Art« zwingt (Briefe an S. Unseld vom 12.9. und Oktober 1970, zit. nach TKA 3.2, 800). Mitte Oktober kommt Siegfried Unseld zur Durchsprache der Druckvorlage nach Rom (10.–13.10.1970). Martin Walser, der sie zu diesem Zweck im November in Rom besucht, und Uwe Johnson, der ebenfalls einen Durchschlag des Romans erhält, beraten sie bei der Manuskriptgestaltung. Letzte Korrekturen, Einfügungen und Kürzungen – so wird beispielsweise der Text Besichtigung einer alten Stadt herausgenommen und in Heinz Ludwig Arnolds Zeitschrift Text + Kritik separat veröffentlicht (Juni 1971) – werden bei einer Verlagsbesprechung in Frankfurt am 2.–7.1.1971 end-
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gültig vereinbart. Die Reaktion der Literaturkritik auf Bachmanns ersten und zu Lebzeiten einzigen Roman ist zwiespältig. Ein verkürztes Verständnis gesellschaftlicher Relevanz verkannte die subtile Zeit-, Bewusstseins- und Diskurskritik dieses komplexen Texts, so dass erst im Durchgang durch die feministische Rezeption der achtziger Jahre ein angemessenes Verständnis gelang. 1971 Die Veröffentlichung ihres ersten Romans bringt für Bachmann im Frühling 1971 vielfältige Interviews (Stuttgart 23.3., München 5.4., Zürich 14.4.) und Fernsehaufzeichnungen (Rom 22.3., München 2.4.) sowie eine ausgedehnte Lesereise mit sich. Zwischen dem 23. März und dem 1. April liest sie in Frankfurt, Wiesbaden, Kiel, Dortmund, Hagen, Nürnberg, München und Augsburg aus Malina, am 13. April in Hamburg, Ende Mai in Wien und Anfang Juni nochmals in Bonn und Salzburg. Ihre literarische Aufmerksamkeit wendet Bachmann seit Jahresbeginn jedoch konzentriert den Simultan-Erzählungen über »Wienerinnen« zu. So reist sie zweimal nach Wien – in der zweiten Januarhälfte und in der zweiten Maihälfte –, um »Schauplätze [zu] studieren« (Brief an U. Johnson vom 14.1.1971), und legt im April bei einer Verlagsbesprechung die Textzusammenstellung fest: »Simultan, Ihr glücklichen Augen, Rosamunde, Probleme Probleme (Die Faule), Die Freundinnen [...]. Die 6. Erzählung handelt von einer alten Frau. Möglicherweise wird noch eine 7. Erzählung geschrieben« (Verlagsnotiz H. Rössner vom 14.4.1971, zit. nach TKA 4, 553). Während die Erzählungen Rosamunde und Freundinnen dann herausfallen, signalisiert die Liste andererseits die Arbeit an der Erzählung Das Gebell, in der Bachmann Motive des Buchs Franza um die Mutter von Franziska Ranners Ehemann, dem Psychiater Leo Jordan, neu gruppiert. Die fehlende »7. Erzählung« verdankt sich dann in wichtigen Motiven einem Klagenfurtaufenthalt im August/September 1971 im Anschluss an die Hochzeit ihres Bruders, zu der sie am 18. August von Rom nach London fliegt. Ausgehend von diesem Familienbesuch in Kärnten entsteht die umfangreiche Erzählung Drei Wege zum See um die Lebensbilanz einer erfolgreichen Fotojournalistin, in die Bachmann durch die intertextuelle Anknüpfung an Joseph Roths Romane Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft zugleich eine Reflexion österreichischer Geschichte im 20. Jahrhundert einschreibt, verbunden mit einer poe-
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tologischen Medienkritik und einer eindringlichen Reflexion von Kriegs- und Gewalterfahrungen, die an Jean Amérys Essay »Die Tortur« anschließt. Im September trifft Bachmann in Tübingen mit dem Philosophen Ernst Bloch zusammen. Vermutlich im Oktober zieht sie innerhalb von Rom in die Via Giulia 66 um (Brief an H. Rössner vom 29.10.1971); Ende des Monats unternimmt sie einen Urlaub in Malta. In der Zeit zwischen dem 8. und 25. November folgt nochmals eine Lesereise durch Deutschland (Kassel, Ulm, Stuttgart, Aachen, Lüdenscheidt, Gengenbach/Schwarzwald, Essen, Solingen, Köln, Opladen, Braunschweig, Wuppertal, Recklinghausen), wobei sie u. a. in Köln mit Jürgen Becker zusammentrifft (19.11.1971). 1972 Bis zum Sommer 1972 arbeitet Bachmann schwerpunktmäßig an der Fertigstellung des Simultan-Bandes, der im September bei Piper erscheint. Am 2. Mai wird ihr in Wien der Anton Wildgans-Preis der österreichischen Industrie überreicht, für den sie sich mit einer poetologischen Rede bedankt. Im Juli verbringt Bachmann wieder einige Wochen in Klagenfurt. In diesem Sommer plant sie für den Herbst auch die Ausarbeitung der Erzählung Gier zu einer »circa 130 bis 150 Seiten« langen »Geschichte« für die Bibliothek Suhrkamp (Brief an S. Unseld vom Sommer 1972, zit. nach TKA 4, 553), doch kommt dieses Vorhaben nicht voran und bleibt Fragment. Auch die im Anschluss an Gier geplante Weiterarbeit am Goldmann/RottwitzRoman bleibt offenbar liegen. Im Herbst bemüht sich die österreichische Regierung, Bachmann bei der erwogenen Rückkehr nach Wien behilflich zu sein, und bietet ihr eine erschwingliche Wohnung an, und der Direktor des Burgtheaters bittet sie um ein Theaterstück (Gesprächsnotiz S. Unseld vom 20.11.1972). Doch kommen diese Pläne ebenso wenig zustande wie eine für das Frühjahr 1973 erwogene Westafrikareise (Brief an S. Unseld vom 7.2.1973). 1973 Der Tod ihres Vater im März 1973 (Anlass einer weiteren Reise nach Klagenfurt) trifft Ingeborg Bachmann schwer. Gleichwohl unternimmt sie auf Einladung des österreichischen Kulturinstituts Warschau im Mai eine zehntägige Reise nach Polen, die ihr als Einblick in den slawischen Kulturraum und durch den Besuch der Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau
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zum nachhaltigen Erlebnis wird. In Warschau, Krakau, Breslau, Thorn und Posen finden Lesungen statt. Im Juni entsteht Gerda Hallers Film »Ingeborg Bachmann in Rom«. Über den weiteren Verlauf und die literarische Arbeit dieses Jahres ist bei derzeitiger Quellenlage wenig bekannt. In der Nacht vom 25. auf den 26. September zieht Bachmann sich in ihrer Wohnung schwere Brandverletzungen zu, an denen sie (in Verbindung mit den Auswirkungen des Medikamentenentzugs) am 17.10.1973 im Krankenhaus Sant’Eugenio stirbt. Die Autorin wird im engsten Familienkreis auf dem Friedhof Annabichl in Klagenfurt beigesetzt (25.10.1973). Quellen
Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Briefwechsel mit Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer und Hans Werner Richter. Archiv des Südwestrundfunks, Baden-Baden, Briefwechsel mit Alfred Andersch. Archiv des Suhrkamp-Verlags (Frankfurt a. M.), Verlagsbriefwechsel. Deutsches Literaturarchiv (DLA), Marbach, Briefwechsel mit Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, der Zeitschrift Merkur und dem Piper-Verlag Heinrich Böll-Archiv (Köln), Briefwechsel mit Heinrich Böll. Literaturarchiv der Monacensia, München, Briefwechsel mit Wolfgang Bächler und Hermann Kesten. Uwe Johnson-Archiv (Frankfurt a. M./Rostock), Briefwechsel mit Uwe Johnson. Andersch, Alfred/Frisch, Max: Briefwechsel. Hg. von Jan Bürger. Zürich 2014. Bachmann, Ingeborg: Briefe an Felician. Mit acht Kupferaquatinta-Radierungen von Peter Bischof. München/ Zürich 1991. Bachmann, Ingeborg: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hg. von Jörg-Dieter Kogel. München/Zürich 1998. Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München/Zürich 2000. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2010. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer. München/Berlin/Zürich 2018 (= Ingeborg Bach-
mann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. Celan, Paul/Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Hg. von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2001. Frisch, Max: Montauk. Eine Erzählung. Frankfurt a. M. 1975. Frisch, Max: Ich lebe in Rom, der herrlichsten Stadt der Welt. Begleitbüchlein zur Ausstellung »Max Frisch – Ich lebe in Rom, der herrlichsten Stadt der Welt / Vivo a Roma, la città la più bella del mondo. Gli anni a Roma 1960–1965. Zürich 2002. Frisch, Max: »Ich bin auf Erfahrung sehr angewiesen« [Interview-Serie 1981–1982]. In: Volker Hage (Hg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Berlin 2011, 213– 244. Frisch, Max: Aus dem Berliner Journal. Hg. von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser. Berlin 2014. Frisch, Max/Pilliod, Philippe: Max Frisch. Gespräche im Alter [1985/86]. Berlin 2011 (DVD, Filmedition Suhrkamp). Hildesheimer, Wolfgang: Briefe. Hg. von Silvia Hildesheimer und Dietmar Pleyer. Frankfurt a. M. 1999. Kaschnitz, Marie Luise: Tagebücher aus den Jahren 1936– 1966. 2 Bde. Hg. von Christian Büttrich, Marianne Bütt rich und Iris Schnebel-Kaschnitz. Frankfurt a. M./Leipzig 2000. Richter, Hans Werner: Briefe. Hg. von Sabine Cofalla. München/Wien 1997.
Literatur
Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1997. Fußl, Irene/Larcati, Arturo: Das Rom der Ingeborg Bachmann. Berlin 2015. Gersdorff, Dagmar von: Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie. Frankfurt a. M./Leipzig 1992. Hartwig, Ina: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. Frankfurt a. M. 2017. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 1999. Höller, Hans/Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von »Böhmen liegt am Meer«. München 2016. Hotz, Constance: »Die Bachmann«. Das Image der Dichterin. Ingeborg Bachmann im journalistischen Diskurs. Konstanz 1990. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953. Berlin 2016. Opel, Adolf: Ingeborg Bachmann in Ägypten. »Landschaft, für die Augen gemacht sind«. Wien 1996. Reich-Ranicki, Marcel: Ingeborg Bachmann mit neuem Repertoire [1973]. In: Michael Matthias Schardt (Hg.): Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Rezeptionsdokumente aus vier Jahrzehnten. Paderborn 1994, 187–190.
1 Leben und Werk im Überblick – eine Chronik Richter, Hans Werner: Radfahren im Grunewald – Ingeborg Bachmann. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge. München/Wien 1986, 45–62. Schiffermüller, Isolde/Pelloni, Gabrielle: Kommentar. In: Ingeborg Bachmann: »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabrielle Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin 2017, 95–257. Spiesecke, Hartmut: Ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ingeborg Bachmanns musikalische Poetik. Berlin 1993. Steiner, Bettina: »Die größte Wegruhe, das stärkste Zuhause.« Briefe Ingeborg Bachmanns an Hans Weigel von 1948 bis 1953. In: Die Presse (Wien), 14.8.1998.
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Stoll, Andrea: Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit. München 2013. Wandruszka, Marie Luise: Kommentar. In: Ingeborg Bachmann: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017, 279–431. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. Wiesenthal, Simon (Hg.): Verjährung? 200 Personen des öffentlichen Lebens sagen nein. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 1965.
Monika Albrecht / Dirk Göttsche
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2 Editionsgeschichte und Nachlass Infolge des frühen und plötzlichen Todes von Ingeborg Bachmann konnte zu Lebzeiten keine Werkausgabe entstehen und viele literarische Projekte blieben Entwürfe. Daher stehen das Desiderat einer zuverlässigen Gesamtausgabe und die Erschließung des Nachlasses von Anfang an im Zentrum der Editionsgeschichte. Die teils restriktive, teils selektive Nachlasspolitik der Erben und die wissenschaftliche Diskussion über eine angemessene Edition der Nachlasstexte spielen für die Editions- wie für die Rezeptionsgeschichte der Autorin seit 1973 eine entscheidende Rolle. Editionsgeschichte und Bachmann-Forschung greifen Hand in Hand (s. Kap. 3), stiften einen »editorisch-hermeneutische[n] Zirkel« (Reitani 2015, 9) gegenseitiger kritischer Anregung, und die sukzessive Publikation zuvor unbekannter, gesperrter oder schwer zugänglicher Texte verschafft Neueditionen bis heute erhebliche Resonanz in Literaturkritik und Medien. So beeinflussen die Neueditionen das Bild der Autorin in der Öffentlichkeit und sorgen – über historische Zäsuren, wissenschaftliche Paradigmenwechsel und Lesergenerationen hinweg bis heute – für anhaltendes Interesse an Bachmanns Leben und Werk.
Ausgaben zu Lebzeiten, erste Werkausgabe und Geschichte des Nachlasses Als Ingeborg Bachmann 1973 starb, lag erst ein Teil ihres Werkes in Buchform (in zumeist mehreren Auflagen) vor: die beiden Gedichtbände Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen Bären, die Erzählbände Das dreißigste Jahr und Simultan, die Buchfassung des Berlin-Texts Ein Ort für Zufälle und der Roman Malina, daneben zwei erfolgreiche Hörspiel-Taschenbücher: Der gute Gott von Manhattan (München: Piper 1958 und öfter) und Der gute Gott von Manhattan – Die Zikaden (München: dtv 1963 und öfter). In der DDR war eine Auswahl der Gedichte erschienen (Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1966), und im PiperVerlag (München) war 1964 – trotz der Bedenken der Autorin gegen eine Werkausgabe zu Lebzeiten (Brief an K. Piper datiert »Ende März 1964«) – unter dem Titel Gedichte. Erzählungen. Hörspiel. Essays in der Reihe »Die Bücher der Neunzehn« eine ausgesprochen erfolgreiche Teilsammlung erschienen, die eine Auswahl der Gedichte, Essays und Erzählungen zusammen mit dem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und (leicht gekürzt) drei der fünf Frankfurter Vor-
lesungen bot. Alle übrigen, an verstreuten Orten gedruckten oder im Rundfunk gesendeten Werke waren ebenso wenig greifbar wie beispielsweise die Libretti, gegen deren Druck als ›separates Buch‹ Bachmann sich gewehrt hatte (Brief an H. Rössner vom 8.6.1965 mit Bezug auf Der junge Lord). Im Vordergrund der Editionsgeschichte des Werks steht allerdings nicht die Sammlung der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke, sondern der literarische Nachlass Ingeborg Bachmanns aus ihrer letzten römischen Wohnung in der Via Giulia 66, der zusammen mit dem Nachlass der Jugendwerke und der Studienzeit aus dem elterlichen Haus in Klagenfurt und dem großelterlichen in Obervellach sowie einem geringen Bestand von »vor allem Reinschriften, Durchschlägen etc.« aus fremden Quellen (Pichl 1982, 202) insgesamt ca. 10.000 Textseiten auf mehr als 6000 Überlieferungsträgern umfasst. Nach weitestgehender Aussonderung der »das äußere Privatleben oder Amtliches betreffenden Papiere (z. B.: Entschuldigungsschreiben, Mietverträge, Universitätsformulare usw.)« sowie des »gesamte[n] Briefkorpus« (ebd., 201) wurde der im engeren Sinne literarische Nachlass von den Erben der Autorin in prinzipiell ungeordnetem Zustand einer fortlaufenden Nummerierung unterzogen, wobei die Lyrik aus dem Konvolut der römischen Wohnung allerdings offenbar herausgezogen und zum größten Teil gesondert abgelegt wurde (ablesbar an den aufeinanderfolgenden Nachlassblattnummern 1–500). Eine erste Fotokopie dieses Nachlasses wurde von den Erben 1974 Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, »die zum römischen Bekanntenkreis der Dichterin zählten«, mit dem Ziel der »Erstellung einer umfassenden Werkausgabe« (in Zusammenarbeit mit Clemens Münster, in Bachmanns Münchener Jahr Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks) ausgehändigt (Pichl in TKA 1, 609). Nach dem Erscheinen dieser Ausgabe Werke (1978) wurden die Nachlass-Originale im Sommer 1979 als Schenkung an die Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien übergeben, »wobei vorab rund 450 Überlieferungsträger« für fünfzig Jahre (bis 2025) »gesperrt und in einem seither nicht mehr geöffneten Konvolut versiegelt wurden. Kopien der gesperrten Überlieferungsträger verblieben bei den Erben. In diese Gruppe fallen den Erben zufolge mindestens 200 Gedichtentwürfe sowie eine große Zahl von Briefen und privaten Aufzeichnungen, die bei der Nachlaßinventarisierung versehentlich dem literarischen Nachlaß zugerechnet« worden waren (Kommentar TKA 1, 632). Weit über hundert der vormals
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_2
2 Editionsgeschichte und Nachlass
gesperrten Gedichtentwürfe haben die Erben inzwischen in ihrer Ausgabe der Unveröffentlichten Gedichte publiziert (Bachmann 2000). Weitere zehn der bis dahin gesperrten Blätter des literarischen Nachlasses konnten als dem Todesarten-Projekt zugehörig identifiziert und 1995 in dessen Kritische Ausgabe aufgenommen werden (vgl. TKA 1, 685). Im Hinblick auf das versiegelte Briefkonvolut ist zu bedenken, »daß die Mehrzahl von Bachmanns Briefen sich gar nicht im gesperrten Wiener Nachlaß befindet« (Weigel 1999, 17), sondern in den Nachlässen ihrer Adressaten, wie ihr eigener wiederum vor allem Briefe ihrer Gesprächspartner enthalten dürfte. Außerdem hat sich der Wiener Nachlass auch in seinem literarischen Hauptteil als nicht vollständig erwiesen; zusätzliche Nachlasstexte und -fassungen (zumeist Druckvorlagen) konnten z. B. in den Archiven des Suhrkamp-Verlags (Frankfurt a. M.), der Verlage Text + Kritik (München), Klaus Wagenbach (Berlin) und Adelphi (Mailand) sowie im Uwe Johnson-Archiv (Frankfurt a. M./Rostock) gefunden werden, weitere sind in Privatbesitz und anderen Dichternachlässen zu vermuten, zumal Bachmann ihren Briefen (wie der Blick in bislang zugängige Nachlässe zeigt) gelegentlich Gedichttyposkripte beilegte. Andere Texte und Fassungen sind in den Archiven von Rundfunksendern wie Radio Bremen, NDR oder dem Schweizer SRG/DRS als Tonaufzeichnungen dokumentiert (s. vorläufig Schmidt 1978). Im Rahmen eines von Robert Pichl geleiteten Projekts des österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF) wurde der ungesperrte Wiener Nachlass von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum nach »den gleichen Voraussetzungen wie der Erstdruck von Nachlaßtexten in der Ausgabe ›Werke‹« geordnet (TKA 1, 632; s. die Nachlassregistratur Koschel/von Weidenbaum 1981). Die entsprechend geordneten Kopien stehen der Forschung nach ihrer Übergabe an die Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (6.4.1981) dort seit Herbst 1982 zur Verfügung. Im Juni 2016 wurde Bachmanns Nachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek in das »Memory of the World«-Register der UNESCO aufgenommen und damit auch in seiner Bedeutung für die Literatur- und Kulturgeschichte Österreichs gewürdigt. Eine Kopie (inklusive der ursprünglich gesperrten Blätter) steht nach der Einrichtung der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle am Literaturarchiv Salzburg seit Ende 2012 dem Mitarbeitern des von Hans Höller und Irene Fußl geleiteten Editionsprojekt der Universität Salz-
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burg zur Verfügung (s. u. und Website der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle Salzburg). Erst den BandbearbeiterInnen der Salzburger Bachmann Edition (ab 2017) steht prinzipiell der gesamte Nachlass zur Verfügung. Fast 40 Jahre früher setzte sich die von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum in Verbindung mit Clemens Münster herausgegebene vierbändige Werkausgabe im Piper-Verlag (Bachmann 1978) zum Ziel, »neben sämtlichen zu Lebzeiten von Ingeborg Bachmann in Buchform und nahezu allen im Hörfunk veröffentlichten Werken die wichtigsten in Zeitschriften und Zeitungen verstreuten Texte, die Übersetzungen – bis auf eine Ausnahme – und die aus dem Nachlaß stammenden abgeschlossenen Arbeiten sowie eine Auswahl aus den Entwürfen« zu vereinigen (W 4, 405). Ausdrücklich ausgeschlossen wurden »einige frühe verstreute Texte« (einige der in der Wiener Tageszeitung publizierten Erzählungen, einige der Buchrezensionen in der Zeitschrift Wort und Wahrheit, die »römischen Reportagen« für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung), deren »geringe Eigenart« angeblich »einen Wiederabdruck [...] nicht rechtfertigte« (W 4, 405), sowie der Großteil des Jugendwerks, Bachmanns Dissertation, ein erheblicher Teil der Rundfunkarbeiten, unter ausdrücklich ästhetischen Gesichtspunkten darüber hinaus das Belinda-Librettofragment, die Erzählfragmente Rosamunde und Gier sowie ein wesentlicher Teil der Todesarten-Fragmente, wo die HerausgeberInnen sich »genötigt« sahen, »jeweils eine eigene Auswahl zu treffen« (W 4, 413). Das »Editionsziel einer kritisch zuverlässigen, in ihrem Umfang jedoch begrenzten Dokumentation« (W 4, 416) führte damit zu einer selektiven Leseausgabe, deren Zusammenstellung eines Großteils der zu Lebzeiten publizierten Werke mit Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass (Teilen des sogenannten Jugendwerks, Essays und Erzähltexten) das Werk der Autorin in neuer Vollständigkeit in den Blick rückte. Vor allem durch den Erstdruck von Teilen des Todesarten-Zyklus aus dem literarischen Nachlass – des Romanfragments Das Buch Franza (unter dem Titel Der Fall Franza), des vermeintlichen Romanfragments Requiem für Fanny Goldmann sowie einer Auswahl »Aus den Entwürfen zur Figur Malina« – trug die Ausgabe entscheidend zu dem sprunghaft wachsenden Leseund Forschungsinteresse an Bachmann in den 1980er und 1990er Jahren bei. Ihre Bedeutung für die jüngere Rezeptionsgeschichte ist daher kaum zu überschätzen. Sie bildete auch die Grundlage für die von Sigrid Töpelmann besorgte Ausgabe Ausgewählte Werke in 3
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Bänden, die 1987 im Aufbau-Verlag (Ost-Berlin) erschien.
Wissenschaftliche Ausgaben, Brief editionen, neuere Einzelpublikationen Angesichts des großen öffentlichen Interesses an den Todesarten-Texten begründete dieser Werkbereich aber auch in besonderem Maße die philologische Kritik an der »wissenschaftliche[n] Brauchbarkeit« der vierbändigen Leseausgabe der Werke (Bartsch 1988, 187). Problematisch ist unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten schon das Prinzip der Werkauswahl, mehr noch aber sind es die »fragwürdigen« (ästhetischen) »Selektions- und Ordnungsprinzipien« als solche, zumal die »Kriterien für die Auswahl der Texte aus dem Nachlaß [...] nicht offengelegt [werden]« (ebd., 187 f.). So blieben beispielsweise Textzusammenhänge wie der erste Todesarten-Roman und der Goldmann/Rottwitz-Roman unerkannt, und für das Kapitel »Jordanische Zeit« des Franza-Romans erwies sich das »Arrangement« ausgewählter Entwurfspassagen als das Ergebnis ›freischöpferischer Collage‹ (Albrecht 1988, 586, 588, 602; vgl. Albrecht 1989). Diese philologische Kritik war 1989 der Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer Kritischen Edition des Todesarten-Projekts im Rahmen eines zweiten von Robert Pichl geleiteten Forschungsprojekts des FWF durch Monika Albrecht und Dirk Göttsche, an dessen Anfang eine umfassende kodikologische und textkritische Analyse des Wiener Nachlasses stand. Die 1995 erschienene vierbändige Kritische Ausgabe des Todesarten-Projekts (Bachmann 1995) edierte dann vollständig alle im Nachlass überlieferten Texte, Entwürfe und Fassungen dieses Werkkomplexes nach den historisch-kritischen Prinzipien werkgenetischer Textdarbietung, darunter neben Malina und dem Buch Franza erstmals den ersten Todesarten-Roman um die Figuren Eugen, Fanny und Karin, das Wüstenbuch und den Goldmann/Rottwitz-Roman, daneben die Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle sowie den SimultanKomplex mit seinen unvollendeten Seitenstücken, über das Todesarten-Projekt hinausgehend außerdem Texte aus dessen Vorgeschichte in nachgelassenen Erzählentwürfen aus den späten 1940er und 1950er Jahren. Der Begriff »Todesarten-Projekt« meint hier im Sinne der thematisch-motivischen, genetischen und zum Teil auch zyklischen Verknüpfung der Einzeltexte deren »engen Zusammenhang« »in einem übergreifenden literarischen Arbeitsprozeß, dessen Stationen
und Ergebnisse in wesentlichen Teilen zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben und aufgrund ihres fragmentarischen Charakters allein in ihrem Entstehungszu sammenhang angemessen darzustellen sind« (Kommentar TKA 1, 615). Ergänzend entstanden eine neue Teilregistratur des literarischen Nachlasses (Albrecht/ Göttsche 1995a, mit einer Konkordanz zur Nachlassregistratur Koschel/von Weidenbaum 1981) sowie eine Transkription der edierten Texte und eine Nachlassdatenbank, deren Ausdrucke in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek einsehbar sind (Albrecht/Göttsche 1998 und 1995b). Auf Kritik stieß der Einschluss von Texten aus der Vorgeschichte des Todesarten-Projekts (Bartsch 1998; Bartsch 2000a) sowie der Büchnerpreisrede und des Simultan-Komplexes (Weigel 1999, 511) – hier wurde der weitere Rahmen des Todesarten-Projekts mit dem engeren, von Malina eröffneten TodesartenZyklus kurzgeschlossen – sowie die angeblich »suggestive Entwicklungslogik« der Textdarbietung (Weigel 1999, 512; ähnlich Höller 2016, 31), die jedoch dem historisch-kritischen Editionsprinzip der Entstehungs chronologie folgt, das keine »Entwicklungslogik« impliziert. Auch die textkritische Verwendung der Begriffe »Projekt« und »Textstufe« ist mit Blick auf das »Nebeneinander der Entwürfe und Varianten« hinterfragt worden (Reitani 2015, 8). Vor dem Hintergrund der »Schwerpunktverschiebung von Eugen und dem Seltsamen Klub zu den weiblichen Hauptfiguren und der Problematik der Geschlechterverhältnisse« im Übergang von der ersten (1962/63) zur zweiten Arbeitsphase (1964) des ersten Todesarten-Romans (Schlinsog 2005, 92 f.) wurde darüber hinaus die unterscheidende Behelfsbezeichnung »Eugen-Roman II« für diesen ersten Todesarten-Roman als Setzung einer »Priorität« missverstanden und als »irreführend« kritisiert (ebd., 91). Obwohl Elke Schlinsog die »fließende[n] Textübergänge« zwischen den Entwürfen betont, führt sie eine scharfe »Unterteilung in eine Züricher [...] und eine Berliner Arbeitsphase« ein (ebd., 92). Die Orientierung an dieser biographischen Zäsur hat in der Folge – in der Neuedition des dort sogenannten Buches Goldmann (Bachmann 2017b) – zu einem noch problematischeren Ausschluss der ersten Arbeitsphase geführt (s. u.). Neben der Leseausgabe der Werke und der Kritischen Edition des Todesarten-Projekts sind bereits in den 1980/90er Jahren andere Texte Bachmanns aus dem Nachlass herausgegeben bzw. in Archiven wiederentdeckt und neuveröffentlicht worden. Auf die Wiederveröffentlichung des Widmungsgedichts In
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memoriam Karl Amadeus Hartmann (Bachmann 1980) und den Erstdruck des Jugendgedichts An Kärnten (Bachmann 1981) folgten Robert Pichls kritische Editionen des Gier-Fragments (Bachmann 1982, überholt durch TKA 4, 473–505) sowie der Dissertation der Autorin Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Bachmann 1985). Verschiedene nachgelassene Gedichtentwürfe sind (zumeist als Faksimile) in Monographien und Zeitschriften abgedruckt worden: Glaube (Hapkemeyer 1983); Ängste, Offenbarung (Bothner 1986); Vor einem Instrument, Befreiung, Im Krieg, In Feindesland (Höller 1987); Vor einem Instrument (in der Zeitschrift du, 1994). Unter dem Titel »Wir müssen wahre Sätze finden« stellten Christine Koschel und Inge von Weidenbaum 1983 eine (teils gekürzte) Auswahl der Gespräche und Interviews mit Bachmann zusammen (Bachmann 1983), und ein von Robert Pichl besorgter Katalog der Bibliothek der Autorin war offenbar lange Zeit in Vorbereitung (vgl. Pichl 1993 und 2003). In den letzten 20 Jahren hat sich der publizierte Textkorpus deutlich erweitert. Die Erben der Autorin haben die frühe lyrische Prosa Briefe an Felician (Bachmann 1991) sowie unter dem Titel Ich weiß keine bessere Welt Gedichtentwürfe aus den Jahren 1962 bis 1964 (und später) herausgegeben (Bachmann 2000); Jörg-Dieter Kogel hat Bachmanns Römischen Reportagen für Radio Bremen im Archiv des Senders aufgefunden und zusammen mit den Artikeln für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung aus den Jahren 1954/55 wiederveröffentlicht (Bachmann 1998a). Zugleich erschienen neue Teileditionen mit wissenschaftlichem Anspruch: Hans Höllers Faksimile-Ausgabe der »Letzten, unveröffentlichten Gedichte, Entwürfe und Fassungen« (Bachmann 1998b: Keine Delikatessen, Böhmen liegt am Meer, Enigma sowie aus dem Nachlass Schallmauer, Wenzelsplatz, Poliklinik Prag, In Feindeshand). Herausgegeben von Monika Albrecht und Dirk Göttsche folgte 2005 eine Kritische Ausgabe der Kritischen Schriften (Bachmann 2005), die nach den gleichen Prinzipien ediert und kommentiert war wie die kritische Ausgabe des TodesartenProjekts. Über die entsprechenden Texte im 4. Band der Ausgabe Werke hinaus finden sich hier ein Beitrag zum 80. Geburtstag von Rudolf Alexander Schröder 1958 und zwei frühe Rezensionen aus der Zeitschrift Wort und Wahrheit (zu René Marcic, 1949, und Heinrich Böll und Thea Sternheim, 1952), die zuvor nur schwer greifbar waren, dazu zwölf zuvor unpublizierte kritische Essays, Fragmente und Entwürfe aus dem Nachlass (vgl. KS, 789 f.). Neues Licht auf Bachmanns
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Wiener Jahre und ihre Medienarbeit warf dann Joseph McVeighs Edition ihrer vergessenen Beiträge zu der Radioserie Die Radiofamilie im Sender Rot-Weiß-Rot (Bachmann 2011). Den entscheidenden Schritt, um endlich »das Desiderat einer kritischen Gesamtausgabe des Werks von Ingeborg Bachmann« (Bartsch 2000b, 373) zu erfüllen, unternahm jedoch Hans Höller, als er 2013 zusammen mit Irene Fußl-Pidner, Silvia Bengesser-Scharinger und anderen am Literaturarchiv Salzburg die Ingeborg Bachmann Forschungsstelle und ihr Projekt der »Salzburger Bachmann Edition« auf den Weg brachte. Geplant sind ca. 30 Text- und Briefbände, die in Kooperation des Suhrkamp-Verlags mit dem PiperVerlag (jedoch als Einzelbände, also ohne Werkgruppenordnung oder Nummerierung) erscheinen. Den in der literaturkritischen Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Auftakt der Textbände machten 2017 zwei unterschiedliche Nachlasseditionen: der von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni herausgegebene Band »Male Oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe (Bachmann 2017a) aus den Jahren 1962 bis etwa 1966, die als private Notate zuvor unzugänglich waren, sowie der von Marie Luise Wandruszka herausgegebene Band Das Buch Goldmann (Bachmann 2017b), eine Umordnung und selektive Neu-Edition zuvor bereits in der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts, teils auch bereits in der Ausgabe Werke edierter Erzählfragmente. Bereits die von Bachmanns Erben besorgte Auswahlausgabe später Gedichtentwürfe (Bachmann 2000) hatte in der literaturkritischen Öffentlichkeit, insbesondere in der Wochenzeitschrift Die Zeit, eine Kontroverse über die Zulässigkeit solcher von einigen Rezipienten als privat verstandener Entwürfe, also über die »Trennungslinie zwischen Kunst und Leben« und »den Status der Gedichte« ausgelöst (Larcati/ Schiffermüller 2010b, 8, 12; vgl. zu dieser Debatte Rameder 2006; Larcati/Schiffermüller 2010a). Die Wahl der »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« als Auftakt der mit großen Erwartungen verbundenen wissenschaftlichen Gesamtausgabe rief ähnliche Bedenken hervor. Die Literaturkritik sah die Gefahr von biographischem »Voyeurismus« (Schwartz 2017) und fand es »befremdlich«, dass »[d]ie ersten beiden Bände der Ausgabe [...] das Augenmerk [...] ganz und gar auf die leidende Autorin des letzten Lebensjahrzehnts« zu richten schienen (Schlösser 2017). Die Herausgeber antizipierten diese Kritik in ihrem Vorwort zu »Male Oscuro« durch eine kritische Reflexion von
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Diskretionsfragen und den Hinweis auf die »poetologische Erforschung des Verhältnisses von biographischer Wirklichkeit und literarischer Fiktion« (Vorwort in Bachmann 2017a, 11), die durch die wissenschaftliche Edition ermöglicht werde, zumal die Übergänge zwischen privaten und literarischen Texten fließend seien. Tatsächlich bieten die Traumnotate neue Einblicke u. a. in die biographische Vorgeschichte des Malina-Traumkapitels, ähnlich wie die Forschung inzwischen die Verbindungslinien zwischen den späten Gedichtentwürfen aus derselben Zeit (Bachmann 2000) und den Todesarten-Texten herausarbeiten konnte (vgl. Larcati/Schiffermüller 2010a). Die »Übergängigkeit« zwischen Leben und Werk (Höller 2016, 30) bzw. die »eng[e] Verschränkung von Lebens- und Werkgeschichte« (Kommentar in Bachmann 2017a, 99, 146) ist daher ein Schlüsselkonzept der Salzburger Bachmann Edition, das die Herausgeber als erweiternde ›Überschreitung‹ »traditionelle[n] [...] historisch-kritischen Edierens« verstehen (Höller 2016, 24), das jedoch durchaus auch rezeptionssteuernde Wirkung hat (vgl. Albrecht 2020; s. Kap. 3). In editionsphilologischer Hinsicht noch auf andere Weise problematisch ist der von der Literaturkritik weithin positiv bewertete zweite Textband Das Buch Goldmann, der drei sukzessive Werkvorhaben – Teile des ersten Todesarten-Romans (s. genauer Kap. 15), die Erzählung Requiem für Fanny Goldmann und den ebenfalls fragmentarischen Goldmann/RottwitzRoman – unter einem suggestiven Titel, der sich einer von vielen Verlegernotizen verdankt (Bachmann 2017b, 283), als Teile eines fragmentarischen Werkes zusammenstellt. Mit ihrem Verfahren beabsichtigen die Herausgeber, »die Transkriptionen nachvollziehbarer und lesbarer zu gestalten« als in der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts und »einen Kommentar zu schreiben, der das Lesen und Verstehen von Bachmanns erzählerischem Meisterwerk befördern kann« (Vorwort ebd., 10). Wenn es »[z]entrales Anliegen der Textkonstitution« war, »den Leserinnen und Lesern zu ermöglichen, der poetischen Imagination der Schriftstellerin zu folgen« (Kommentar ebd., 290), dann wird allerdings deutlich, in welchem Maße Interpretation die Edition beeinflusst hat. Dies zeigt auch der sehr umfangreiche interpretierende Kommentar, der – in den beiden ersten Textbänden der neuen Ausgabe – den Charakter einer eigenen Monographie besitzt und in seinen Thesenbildungen entsprechender Kritik ausgesetzt ist (vgl. z. B. Albrecht 2020). Die Salzburger Bachmann Edition stellt sich
damit vorläufig als eine editionsphilologisch gestützte Mischform aus kritischer Edition und Studienausgabe dar, deren Textkonstitution ggf. neue Fragen aufwirft. Als problematisch ist auch die Inkonsistenz der Kommentarteile gesehen worden, indem Das Buch Goldmann z. B. statt des üblichen Werkstellenkommentars nur ein Glossar bietet (Beicken 2019, 367). Für 2020 ist Rita Svandrliks Ausgabe des Erzählbandes Das dreißigste Jahr (Bachmann 2020) angekündigt, für die Folgejahre sind u. a. die Lyrikbände Die gestundete Zeit (herausgegeben von Irene Fußl) und Anrufung des Großen Bären (herausgegeben von Luigi Reitani) geplant. Auch im Bereich der Briefedition sind seit der Jahrtausendwende erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Zuvor waren Teile mehrerer Briefwechsel nur in verschiedenen Archiven zugänglich (s. Kap. 1 und Weigel 1999, 575) und es gab verstreute Einzelpublikationen: Uwe Johnson hatte bereits 1974 in seinem Prosaband Eine Reise nach Klagenfurt ausführliche Zitate aus Bachmanns Briefen an ihn veröffentlicht, Wolfgang Hildesheimer 1986 einen Brief der Autorin in der Zeitschrift Freibeuter. Vierteljahresschrift für Kultur und Politik (Berlin, Heft 27, 24–26); weitere Einzelbrief- oder Auszugspublikationen (teils als Faksimile) folgten (u. a. in der Zeitschrift du 1994; in Richter 1997; Höller 1999; Weigel 1999; Opel 2001; Preuß 2002). Die Publikation der Briefwechsel mit Hans Werner Henze (Bachmann/Henze 2004) und Paul Celan (Bachmann/Celan 2008) hat dann eine neue Phase der Briefedition eingeläutet und zugleich editorisch Maßstäbe gesetzt. Der unter dem Titel Herzzeit publizierte Briefwechsel mit Celan erzielte darüber hinaus breite öffentliche Resonanz, wurde zum »Bestseller« (Radisch 2016) und hat u. a. Ruth Beckermanns Film Die Geträumten (2017) angeregt (s. Kap. 5). Als zweiter Band der Salzburger Bachmann Edition erschien der ausführlich kommentierte Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger (Bachmann/Enzensberger 2018), dessen Mehrsprachigkeit und dessen »Spiel mit versteckten Literaturzitaten und Geheimcodes« ihn, wie Hans Höller und Irene Fußl feststellen, zu einem besonderen Zeugnis der Freundschaft und »einer zuende gehenden Kunst des Briefeschreibens« machen (Vorwort in Bachmann/Enzensberger 2018, 7). Für die nächsten Jahre ist die Publikation der Briefwechsel mit Nelly Sachs, Hilde Domin und Marie Luise Kasch nitz (herausgegeben von Barbara Agnese), Ilse Aichinger und Günter Eich (herausgegeben von Roland Berbig und Irene Fußl) sowie Max Frisch (herausgegeben von Hans Höller u. a.) zu erwarten.
2 Editionsgeschichte und Nachlass Quellen
Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Briefwechsel mit dem Piper-Verlag. Bachmann, Ingeborg: Werke. 4 Bde. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München/Zürich 1978. Bachmann, Ingeborg: In memoriam Karl Amadeus Hartmann. In: Karl Amadeus Hartmann und die Musica Viva. Ausstellungskatalog. Mainz/München 1980, 355. Bachmann, Ingeborg: An Kärnten. In: Die Brücke 7 (Klagenfurt 1980), Heft 2, 50. Bachmann, Ingeborg: Gier (Fragment). Aus dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. In: Hans Höller (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werk. Wien/München 1982, 17–69. Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München/Zürich 1983. Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation Wien 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich Wallner. München/Zürich 1985. Bachmann, Ingeborg: Briefe an Felician. Mit acht Kupferaquatinta-Radierungen von Peter Bischof. München/ Zürich 1991. Bachmann, Ingeborg: »Todesarten«-Projekt. Kritische Ausgabe. 4 Bde. in 5 Bdn. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München/ Zürich 1995. Bachmann, Ingeborg: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hg. von Jörg-Dieter Kogel. München/Zürich 1998a. Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt a. M. 1998b. Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München/Zürich 2000. Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München/Zürich 2005. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2010. Bachmann, Ingeborg: Die Radiofamilie. Hg. und mit einem Nachwort von Joseph McVeigh. Berlin 2011. Bachmann, Ingeborg: »Male Oscuro.« Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017a. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017b. Bachmann, Ingeborg: Das dreißigste Jahr. Hg. von Rita Svandrlik (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salz-
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burger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2020. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. Johnson, Uwe: Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt a. M. 1974. Richter, Hans Werner: Briefe. Hg. von Sabine Cofalla. München 1997. Vgl. für andere Drucke und Einzelpublikationen das Ausgabenverzeichnis im Anhang dieses Handbuchs.
Literatur
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Monika Albrecht / Dirk Göttsche
B Rezeption und Wirkung 3 Rezeptionsgeschichte Rezeptionsgeschichte zu Lebzeiten (1): Gruppe 47 und die Folgen »Das ist Stenogramm der Zeit im greifbar sinnlichen Bild«, schrieb Klaus Wagner (1994, 9) in jener berühmten Titelstory der Zeitschrift Der Spiegel vom 18.8.1954, die Ingeborg Bachmann in der Nachkriegszeit als Autorin etablierte. Während diese Titelstory davon ausging, dass Bachmanns Gedichte den Belangen ihrer Zeit Ausdruck verliehen, sahen die meisten anderen Kritiker in ihrem Werk lediglich zeitlose Schönheit und abstrakte bzw. allgemeinmenschliche Probleme, die kaum in Beziehung zur Gegenwart der 1950er Jahre standen. Als mit der Publikation ihres Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961) Bachmanns politische und kulturelle Interessen nicht mehr zu übersehen waren, reagierten viele Kritiker mit Skepsis, und die Veröffentlichung des Romans Malina (1971) und des Erzählbandes Simultan (1972) brachte Marcel Reich-Ranicki sogar dazu, Bachmann als »eine gefallene Lyrikerin« abzustempeln, die sich auf ein Gebiet vorgewagt habe, das nicht wirklich das ihre sei (ReichRanicki 1989a, 189). Vertreter der Neuen Linken hingegen hielten in dem hochgradig politisierten Klima zur Zeit der Studentenbewegung Bachmanns Werk wie überhaupt die gesamte bürgerliche Literaturproduktion für überflüssig. Als die Autorin 1973 starb, wurde nicht nur in der Boulevardpresse ihre »Todesart« mit ihrem Werk in Verbindung gebracht (»Sie starb, als sei’s von ihr erdacht«; J. Wagner 1973), dem Werk einer Schriftstellerin, die sich in ihrer Zeit nicht zurechtgefunden und daher gewissermaßen schicksalhaft diese ›Todesart‹ erlitten habe. Als Hans Werner Richter Bachmann zu der Tagung der Gruppe 47 im Mai 1952 in Niendorf an der Ostsee einlud (Richter 1979, 103–105), hatte sie bereits eine Anzahl Prosatexte und Gedichte in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Teilnehmer dieser Tagung haben von diesem ersten Auftritt vor al-
lem in Erinnerung behalten, dass wegen ihrer großen Nervosität ihre Stimme kaum zu hören war. Von da an bleibt die Reaktion vieler Kritiker auf ihr Werk an ihre Erscheinung und ihr Auftreten gebunden. Bei der Frühjahrstagung der Gruppe 47 in Mainz 1953 wurde Bachmann (»ein schönes Mädchen, flirrend in der Bescheidenheit dessen, der noch nicht lange schreibt«; Weyrauch 1953, 7) als vierter Autorin nach Günter Eich, Heinrich Böll und Ilse Aichinger der Preis der Gruppe 47 verliehen. Im Dezember 1953 brachte Alfred Andersch den Gedichtband Die gestundete Zeit in seiner Reihe »studio frankfurt« heraus (die allerdings fast unmittelbar danach eingestellt wurde, so dass nur eine kleine Auflage auf den Markt gelangte). Es war dann erst der Spiegel-Artikel vom August 1954, der Bachmann und ihrem Werk die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums vor allem in Westdeutschland sicherte. Constance Hotz hat detailliert nachgewiesen, dass die persönlichen Eigenschaften der Autorin, besonders ihre erotisierte Weiblichkeit, eine ebenso große Rolle in der Spiegel-Story spielten wie ihre schriftstellerischen Leistungen. Hotz erkennt in dem Spiegel-Artikel, der den Aufstieg einer hochbe gabten ›Dichterin‹ bewusst mit deren Anschluss an angesehene deutsche, österreichische und europäische intellektuelle Traditionen in Verbindung brachte, das Bestreben zu zeigen, dass Westdeutschland wieder seinen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Nationen eingenommen hatte: »Ingeborg Bachmann wird hier zu einem Exempel für Wiederaufbau, Wiedererreichen internationaler Standards in der Welt und Wiedergewinnung von Anerkennung Deutschlands in der Welt« (Hotz 1990, 72). In jüngerer Zeit hat Ina Hartwig darauf aufmerksam gemacht, dass und inwiefern auch die von dem renommierten Fotografen Herbert List stammenden Fotos auf dem Cover und im Artikel zu der Legendenbildung beitrugen (Hartwig 2017, 21–34). Andere Rezensenten des Gedichtbands Die gestundete Zeit sahen darin ebenfalls das Zeugnis der großen Begabung einer Dichterin, die als »neue[r] Stern am
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_3
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I Grundlagen – B Rezeption und Wirkung
deutschen Poetenhimmel« gefeiert wurde, nicht zuletzt, weil ihr Werk endlich die Unzulänglichkeiten einer bis dahin höchst untauglichen Nachkriegslyrik überwunden habe (Blöcker 1989, 13). Als drei Jahre nach dem ersten der zweite Gedichtband unter dem Titel Anrufung des Großen Bären erschien, wurde ihm sogar noch mehr Aufmerksamkeit und größeres Lob zuteil. Wieder wurde Bachmann als die führende poetische Stimme ihrer Generation gefeiert, die in ihren Gedichten (»Ausdruck mythisch-zeitlosen und zugleich diffizil-modernen Weltgefühls«; Fritsch 1957, 386) die besten Momente von Tradition und Moderne zu vereinigen wusste. Zudem wurde ihre Fähigkeit bewundert, Lyrisches mit Intellekt, Einfachheit und Unmittelbarkeit mit technischer Präzision zu verbinden. Während Helmut Heißenbüttel in den Gedichten die »Verzweiflung und Hoffnung« einer Generation ausgedrückt sah, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte (Heißenbüttel 1989, 23), fand der konservative Kritiker Hans Egon Holthusen in Bachmanns zweitem Gedichtband Manifestationen des »Klassische[n] selbst«, da ihre Gedichte (»vom Notwendigen, Immerwährenden, Urbildlich-Wahren bewegt«) in erster Linie solche grundsätzlichen und existentiellen Fragen wie die »nach der Aussprechbarkeit der Welt und des Inder-Welt-Seins« ausloteten und von der »unwillkürliche[n] Übereinstimmung zwischen der Lebenserfahrung einer jungen Dichterin der Gegenwart mit dem ältesten Wissen der Völker« zeugten (Holthusen 1989, 37, 34, 25, 52). Aus der Distanz der 1960er Jahre urteilte Reich-Ranicki, dass »Bachmanns Poesie von der als links und von der als rechts geltenden Kritik, von allen Seiten mit demselben Beifall bedacht werden konnte. Ihre metaphorischen Formulierungen jener Gegebenheiten sind vage und deshalb umfassend genug, um allerlei Deutungen zu rechtfertigen« (Reich-Ranicki 1989b, 74). Vor diesem Hintergrund war die Verschiebung von Bachmanns Arbeitsschwerpunkt in den späten 1950er Jahren von der Lyrik zur Prosa, wie sie sich dann vor allem in der Veröffentlichung des Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961) ausdrückte, sozusagen dazu prädestiniert, ihre Kritiker zu irritieren. Walter Jens etwa siedelte die Erzählungen »zwischen Meisterschaft und barem Kitsch« an (Jens 1994, 74 f.). Doch gab es auch andere Positionen: Horst Bienek beispielsweise charakterisierte den Erzählband als »eine der reifsten Sprachleistungen in unserer Literatur« (Bienek 1994a, 67). Viele Kritiker beharrten wie Reich-Ranicki darauf, dass Bachmanns (geschlechtsspezifische) Begabung vornehmlich lyrisch sei, wes-
halb die Prosa »zu einer nur im Emotionalen verankerten Fragestellung« neige (Reich-Ranicki 1989b, 79), oder kritisierten wie Barbara Bondy, dass das formale »Kriterium der Erzählung« nicht erfüllt sei: »Diese Prosastücke haben keine eigentliche Handlung, keinen Ablauf, keine Charaktere« (Bondy 1994, 64). Verkauft wurde die Prosa offenkundig jedoch besser als die Lyrik; am 18.10.1961 stand der Erzählband Das dreißigste Jahr auf Platz 1 der Bestsellerliste der Zeitschrift Der Spiegel. Sogar von dem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan wurde eine (angesichts des Genres erstaunlich) hohe Anzahl von Exemplaren umgesetzt.
Rezeptionsgeschichte zu Lebzeiten (2): die 1960er und frühen 1970er Jahre Abgesehen von der im Verlag Klaus Wagenbach publizierten Fassung der Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle (1965) erschien in dem Jahrzehnt zwischen dem Erzählband Das dreißigste Jahr und dem Roman Malina (1971) kein neues Werk von Bachmann auf dem Buchmarkt. Im Jahr 1964 brachte der Piper Verlag jedoch eine Auswahl aus ihrem Werk unter dem Titel Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays heraus, die mit den bereits publizierten Gedichten sechs neue sowie eine Auswahl aus den Frankfurter Vorlesungen, das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und andere Texte vereinte, die vorher verstreut in Zeitschriften erschienen waren. Vor allem diese Essays, die nun zum ersten Mal im Zusammenhang zugänglich waren, wurden von da an als Schlüssel für Bachmanns Werk betrachtet. Während einige Rezensenten nach wie vor Bachmanns Lyrik über alle anderen Werke stellten, kamen andere zu dem Schluss: »Die Dichterin repräsentierte sich als Lyrikerin, Erzählerin, Hörspielautorin und Essayistin in gleicher Stärke« (Lyk 1964). Auch der Band Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays schaffte es in die Liste der Spiegel-Bestseller. Das von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung repräsentierte literarische Establishment honorierte Bachmanns bisherige Arbeit im Allgemeinen und diesen Sammelband im Besonderen mit dem Büchnerpreis des Jahres 1964. Als im Jahr 1971 Bachmanns erster Roman Malina erschien, musste er sich in einem völlig anderen (kultur-)politischen Klima behaupten. In einer Zeit, in der der Literatur nicht nur von Hans Magnus Enzensberger, der zusammen mit Karl Markus Michel und anderen 1968 in der Zeitschrift Kursbuch den ›Tod der Li-
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teratur‹ verkündet hatte, »eine wesentliche gesellschaftliche Funktion« schlichtweg abgesprochen wurde (Enzensberger 1968, 195), erschien Bachmanns Malina-Roman vielen als anachronistisch. (Typisch für den Tenor jener Jahre war das Streitgespräch zwischen Wolf Wondratschek und Jürgen Becker 1970 in der Zeitschrift Merkur zu dem Thema »War das Hörspiel der fünfziger Jahre reaktionär?«, das die Frage am Beispiel von Bachmanns Der gute Gott von Manhattan erörterte.) Zum Teil aufgrund der Herausnahme von Passagen mit eher (gesellschafts-)politischem Inhalt kurz vor der Drucklegung, die der Suhrkamp Verlag und Martin Walser der Autorin nahegelegt hatten (vgl. TKA 3.2, 801, 872), schien der Roman auf alle sozialen oder politischen Fragestellungen der Gegenwartssituation zu verzichten und sich im Gegenteil ausschließlich mit individuellen, psychologischen und ›weiblichen‹ Problemen zu befassen: »Ein aktives, auf Veränderung hin zielendes Element bietet dieses Buch nicht« (Groningen 1971). Viele Kritiker missverstanden die Aussage der Autorin, dass der Roman Malina eine »geistige, imaginäre Autobiographie« sei (GuI, 73), und lasen ihn einfach als Beschreibung von Bachmanns eigenem Leben, etwa Günter Blöcker, der meinte, die Protagonistin sei »ziemlich unverschlüsselt die Autorin in Person« (Blöcker 1994, 138). Der unterschwellige Sexismus der Zeit wurde dabei immer wieder deutlich, etwa wenn Malina als »ein Frauenroman schlechthin« (Leitenberger 1971) und als ein »in einem irritierenden Sinn weibliches Buch« bezeichnet wurde (Rüedi 1971). Ein Bewunderer des Romans wie Werner Kraus urteilte dagegen, Malina sei, weil viel zu gut dafür, »alles andere als ein Frauenroman«: »Dazu wirkt das Buch viel zu intellektuell, literarisch und psychologisch anspruchsvoll« (Kraus 1971). Später wird Elke Atzler diese Rezensionsrichtung ein »Bravourstück sexistischer Einschätzung« nennen (Atzler 1983, 159). Nur sehr weitsichtige Kritiker wie Reinhard Baumgart und Hans Mayer (dessen Rezension Bachmann sehr schätzte) sahen, dass der Roman sich gerade mit den sozialen Bedingungen auseinandersetzt, die das Subjekt einengen: »Alle Verwirklichung des Ich scheitert gerade an den Verhältnissen« (Mayer 1989, 164). Für andere Kritiker wiederum war Bachmanns scheinbarer Mangel an Zeitgenossenschaft der größte Vorzug des Malina-Romans. Karl Krolow erklärt: »Die Manie, mit der in ›Malina‹ – unter Auferbietung großer Kunst – für das Recht von Individuation, von Gefühls- und Liebesrecht, für Unmöglichkeit und für Scheitern eingetreten wird, hat so hohe sensitive Brisanz, daß es einem – umgeben
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von längst entindividualisierter und brutalisierter Literatur – durchaus den Atem verschlägt« (Krolow 1971). Für viele Kritiker war gerade das Scheitern des Romans gegenüber den Erwartungen des gegenwärtigen Literaturbetriebs ein Zeichen für Bachmanns Originalität und – da die Erzählerin sich ausdrücklich weigert, ihre Geschichte zu erzählen – für ihre im Wesentlichen lyrische Begabung. Nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass der Roman scheinbar die sogenannte ›Neue Subjektivität‹ vorweggenommen hatte, war Bachmanns Leserschaft wieder einmal anderer Ansicht. Malina erschien ebenfalls in der Bestseller-Liste der Zeitschrift Der Spiegel – auf dem zweiten Platz gleich hinter Erich Segals Love Story. Der Erzählband Simultan, der 1972 auf den Roman Malina folgte und zum Teil in der gleichen fiktiven Welt angesiedelt war wie dieser, sollte Bachmanns letztes zu Lebzeiten publiziertes Werk bleiben. Die Kritik war gemischt und widersprüchlich, wobei das Spektrum von Reich-Ranickis provozierender Frage, ob die Simultan-Erzählungen vielleicht als »bewußt und zynisch angestrebte Trivialliteratur« zu lesen seien, »Lesestoff für jene Damen, die beim Friseur oder im Wartezimmer des Zahnarztes in Illustrierten blättern« (Reich-Ranicki 1994, 190), bis zu der Behauptung reicht, der Simultan-Band sei »die beste Bachmann, die es je gab« (Anon. 1972). Im Vergleich mit dem Roman Malina wurde an den Erzählungen positiv hervorgehoben, dass sie leichter zugänglich, konkreter und präziser seien, und überrascht war die Kritik auch von dem Humor des Simultan-Bandes, der als Zeichen eines ganz neuen Moments in Bachmanns Werk gewertet wurde. Ein neuer Aspekt der Literaturkritik war nun auch die Hervorhebung der österreichischen Dimensionen, etwa in Jean Amérys eindringlicher Rezension: »Es ist in Wahrheit ein Totenreich, durch das die Autorin uns führt« (Améry 1989, 193). Mit der Rezeption des Simultan-Bandes begann eine Imagewende in der Literaturkritik, die auch nach Bachmanns Tod noch fortdauerte: Sie wurde nun als eine Schriftstellerin eingestuft, die in einem breiten Spektrum literarischer Genres zu Hause war; die ›Grande Dame‹ der Gruppe 47 und damit der westdeutschen Nachkriegsliteratur wurde nunmehr auch als österreichische Autorin wahrgenommen. Die Literaturwissenschaft hat sich ebenfalls schon früh mit Bachmanns Werk auseinandergesetzt. Bachmann wurde bereits in einem Literarturlexikon von 1954 (Kindermanns Wegweiser durch die moderne Literatur in Österreich) sowie in Literaturgeschichten ab 1957 erwähnt. Die Zeitschrift Text + Kritik, die
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auch Bio-Bibliographien bietet, erschien erstmals 1964 mit einem Bachmann-Heft und zu Bachmanns Lebzeiten nochmals im Jahr 1971. Viele der frühen LiteraturwissenschaftlerInnen durchsuchten Bachmanns Werk nach einer »Problemkonstante«, einem thematischen Schwerpunkt, den die Autorin selbst als »Gewähr für die Authentizität einer dichterischen Erscheinung« bezeichnet hatte (KS, 264; W 4, 193). Die ersten Literaturwissenschaftler – wie z. B. Peter Fehl (1970) und Beatrice Angst-Hürlimann (1971) – richteten ihr Interesse vor allem auf die Lyrik, wobei sie die »Sprachproblematik« als die zentrale »Problemkonstante« betrachteten. Zudem betrachtete man Bachmanns Werk vornehmlich im Zusammenhang mit Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, die als ihre intellektuellen Bezugspunkte in der Geistesgeschichte gesehen wurden. Frühe Untersuchungen, insbesondere Dissertationen wie die von Theo Mechtenberg (1978) und Albrecht Holschuh (1964), widmeten sich dem Stellenwert des Utopischen in Bachmanns Werk oder versuchten, wie Ulrich Thiem (1972), besondere Techniken in Bachmanns lyrischer Produktion auszumachen. Bachmanns Prosa ist hingegen erst einige Zeit nach ihrem Tod eingehender untersucht worden. Diese Rezeption des Werks in Literaturkritik und Literaturwissenschaft wurde von ihrem Tod nachhaltig erschüttert, und ihre Persönlichkeit und ihr Privatleben standen nun erneut im Vordergrund. Nun rückten der Roman Malina und der unvollendete Todesarten-Zyklus ins Zentrum des Interesses, wenngleich auch Passagen aus anderen Texten als passende Kommentare zu ihrem Tod betrachtet wurden: »Undine geht«, »Ende einer gestundeten Zeit«, die vielen Feuermetaphern aus ihren Gedichten und am häufigsten die Stelle aus dem Roman Malina, wo die Protagonistin sich eine letzte Abendzigarette an der glühenden Herdplatte anzündet und bemerkt: »Ich muß aufpassen, daß ich mit dem Gesicht nicht auf die Herdplatte falle, mich selbst verstümmle, verbrenne« (TKA 3.1, 691). Obwohl sie allein im Krankenhaus starb, wie so viele Zeitgenossen, sprach man ihr einen ›eigenen Tod‹ zu, weil sie ihn angeblich selbst angekündigt hatte. Ihr Tod schien daher wieder einmal gleichzeitig beides zu belegen, ihre Repräsentanz und die Einzigartigkeit ihres dichterischen Werks. Andere hoben hingegen wieder die herausragende Leistung ihrer Lyrik hervor oder waren der Ansicht, dass Bachmanns Tod eine literarische Karriere beendet hatte, die ohnehin im Abwärtstrend war eine (»Bachmann-Dämmerung«; Bienek 1994b, 471).
Die feministische Rezeptionsgeschichte nach Bachmanns Tod Viele Literaturkritiker nahmen Bachmanns Tod zum Anlass, ihr Œuvre neu und kritischer zu bewerten. Weder die einst gefeierten Gedichte und Hörspiele der 1950er Jahre noch die weniger enthusiastisch rezipierten Prosatexte Malina und Simultan schienen Themen anzusprechen, die im politisierten Klima der frühen 1970er Jahre als gesellschaftlich relevant galten: Es schien in Bachmanns Werken ausschließlich um (bürgerliche, weibliche) Innerlichkeit zu gehen. Auch Mitte der 1970er Jahre gab es noch verhältnismäßig wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu Bachmanns Texten (u. a. Holger Pauschs Überblick über das Gesamtwerk [1975] und Ellen Summerfields Dissertation zu Malina [1976]). Bald danach wurde jedoch »die andere Ingeborg Bachmann« der Todesarten entdeckt, wie Sigrid Weigel sie später nennt (Weigel 1984a). Als engagierte deutsche Intellektuelle nach der dogmatischen Phase der Neuen Linken die eigene Subjektivität erforschten und die Frauenbewegung aufblühte, wurde Malina geradezu zum Kultbuch. Die Veröffentlichung der vierbändigen Werkausgabe (1978) gab der Literaturkritik wie der Literaturwissenschaft neuen Anlass und zugleich eine neue Grundlage für die Auseinandersetzung mit Bachmann. (Zudem erschien 1978 Otto Bareiss’ und Frauke Ohloffs Bachmann-Bibliographie, die Bareiss an unterschiedlichen Orten bis 1993 fortgesetzt hat; vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang dieses Handbuches.) Diese Werkausgabe, die einen ersten Überblick über das Gesamtwerk der Autorin mit der Veröffentlichung bislang unbekannter Nachlassfragmente verband und neben zwei Bänden Erzählprosa auch einen ganzen Band kritischer Schriften bot, bewirkte (in Verbindung mit dem starken Interesse der LeserInnen an den Todesarten) in der Bachmann-Rezeption eine Schwerpunktverlagerung von der Lyrik zur Prosa. Zugleich entdeckten die InterpretInnen erstmals Bachmanns Auseinandersetzung mit der untergeordneten Stellung der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft. Ein Dialog zwischen Peter Horst Neumann, der im Merkur 1978 seine »Befangenheit« gegenüber Bachmann zum Ausdruck brachte, und Gisela Lindemann, die 1979 in der Neuen Rundschau auf diese Kritik einging, wird meist als der Anfang der Entdeckung der ›anderen (feministischen) Bachmann‹ betrachtet. Neumann liest die Erzählung Undine geht z. B. als Vorwegnahme der »wesentlichen Motive der späteren Frauen-Bewegung« (Neumann 1978,
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1134 f.); Lindemann hält es für möglich, dass Bachmanns »Ton des Verratenseins« durch die »jahrhundertelang[e] untergeordnet[e] Rolle der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft« begründet ist, so dass »Kränkung« »das tiefste Gefühl« sei, »dessen Frauen fähig sind« (Lindemann 1979, 273 f.). In der Folge hat die feministische Rezeption das Bild von Bachmann in Literaturkritik und Literaturwissenschaft maßgeblich mitbestimmt und zu einer Neuinterpretation ihres Werks geführt. Im Einklang mit den übergreifenden Entwicklungen der Theoriebildung fiel die feministische Auseinandersetzung mit Bachmann in den beiden Folgejahrzehnten jedoch ganz unterschiedlich aus. Die ersten feministischen Lektüren suchten nach Modellen weiblichen Widerstands gegen das herrschende Patriarchat und vermerkten mit Ungeduld, dass Bachmanns Protagonistinnen sich mit ihrem Opferstatus abfinden. Marlis Gerhardt (1982) etwa sieht in Bachmanns Frauenfiguren die Geschlechterpolarität und die Rollenverteilung des 19. Jahrhunderts reproduziert und kritisiert, dass das weibliche Ich in Malina sich dem geliebten Ivan unterwirft und jene Eigenschaften, die es auf sein männliches Alter Ego Malina projiziert – Rationalität, Autonomie, Kompetenz – als mit weiblicher Identität unvereinbar betrachtet. Zudem vergleicht sie Bachmann kritisch mit anderen Autorinnen der 1970er Jahre wie Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Sarah Kirsch oder Barbara Frischmuth, die selbständigere Frauenfiguren darstellen. Bachmanns frühe amerikanische Interpretinnen waren ebenfalls an starken statt an hilflos leidenden weiblichen Figuren interessiert und versuchten Bachmanns Werke mit ihren eigenen feministischen Prinzipien zu vereinbaren. Auf einem Kolloquium in Amherst (1977) argumentierte Ellen Summerfield, dass die Erzählungen des Simultan-Bandes fünf moderne Frauen darstellten, die sich unabhängig von Männern behaupten können (Summerfield 1979) – eine Schlussfolgerung, die andere feministische Bachmann-Forscherinnen bald in Frage stellten (vgl. etwa Dodds 1980; Horsley 1980). Margret Eifler las Malina wiederum als Darstellung der weiblichen Weigerung, sich Männern unterzuordnen, und interpretierte das Verschwinden des Ich in der Wand am Ende des Romans als Verzicht auf »versklavende Liebe« (Eifler 1979, 380). Gegenüber dieser normativen Forderung der 1970er Jahre nach einem Beitrag zur Gesellschaftsveränderung bestand der Feminismus der 1980er Jahre nicht mehr auf einer solchen unmittelbaren Einbindung der Literatur in die feministische Praxis. Aufgabe
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der feministischen Literaturwissenschaft wurde nun vielmehr die analytische Aufdeckung der allgegenwärtigen männlichen Gewalt gegen Frauen sowie der vermeintlichen Spuren weiblicher Autonomie außerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung, in der die Frau – im Spiegel der Literatur – als Opfer gesehen wurde. Ein Beitrag von Elisabeth Lenk in der feministischen Zeitschrift Courage argumentiert z. B., Frauen stünden vor der Wahl, entweder ihre Heterogenität zu verleugnen, um an der herrschenden Gesellschaft zu partizipieren, oder ihr Anderssein zu bejahen und ein »Pariabewußtsein« zu entwickeln. In Malina sei es Bachmann in diesem Sinne gelungen, die »weibliche Sozialisation« ganz grundsätzlich »als Verbrechen an der Frau, als Prozess der Vernichtung« darzustellen (Lenk 1981, 34). In ähnlicher Abstraktion von den spezifischen historischen Kontexten der Literatur und insbesondere von Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus behauptete Ria Endres, dass Bachmanns größte Leistung die Darstellung des »Wesen[s] männlicher Grausamkeit und weiblichen ›Märtyrertum[s]‹« sei (Endres 1981, 51). Seit Anfang der 1980er Jahre bezogen sich viele feministische Bachmann-Forscherinnen theoretisch auf den französischen Poststrukturalismus, um das von Endres und Lenk vertretene Paradigma der Frauals-Opfer-These untermauern und zugleich der Form von Bachmanns Schreibweise mehr Aufmerksamkeit widmen zu können. Bachmanns Texte wurden in diesem Kontext als Thematisierung der Abwesenheit der weiblichen Stimme innerhalb des herrschenden ›phallogozentrischen‹ Diskurses verstanden. Das Buch Franza ersetzte nun Malina als Schlüsseltext zum Verständnis von Bachmanns Werk, und der Autorin wurden ästhetische Verfahrensweisen attestiert, die weibliches Sprechen trotz allem ermöglichen. Sara Lennox wendete 1980 als erste den Poststrukturalismus auf Bachmanns Werke an und schlug vor, Malina als Teil des feministischen Kampfes gegen jene gesellschaftlichen Normen zu lesen, die den Frauen das Recht, als Frauen zu sprechen, verweigern, als Beitrag also zur kulturellen Konstruktion einer anderen, authentischeren Stimme (Lennox 1980, 76). In ihrem Beitrag zu Hans Höllers wichtiger Aufsatzsammlung »Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge« (1982) las auch Christa Gürtler Das Buch Franza als Zusammenstoß zweier Denksysteme, zwischen dem (männlichen) »faschistische[n] Denken« Leo Jordans und Franzas (weiblichem) »ver-rückte[m] Diskurs« (Gürtler 1982, 51). Mitte der 1980er Jahre hatten Varianten des feministischen Poststrukturalismus weite
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Teile der Bachmann-Forschung für sich gewonnen, wie vor allem die beiden der Autorin gewidmeten Sonderhefte der Zeitschriften Text + Kritik (1984, Redaktion Sigrid Weigel) und Modern Austrian Literature (1985) zeigen. Vor allem Weigel konturiert in ihrer Einleitung zu dem wegweisenden Text + Kritik-Sonderband die Parameter des Bachmann-Bildes der 1980er Jahre: Als vorweggenommene Konkretisierungen poststrukturalistischer Thesen trügen Bachmanns Todesarten dazu bei, die »strukturelle Beziehung zwischen Faschismus, Patriarchat, Ethno- und Logozentrismus und die zentrale Rolle der Sprache/Schrift für diesen Zusammenhang, in dem das ›Weibliche‹ als Verkörperung des verdrängten Anderen den verschiedensten Todesarten unterworfen ist«, aufzudecken (Weigel 1984a, 5). In der Sonderausgabe von Modern Austrian Literature bezieht sich über die Hälfte der Beiträge methodologisch auf den feministischen Poststrukturalismus. So wurde »Weiblichkeit« in Bachmanns Werken als »Gegenentwurf zu den verdinglichten Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen [...] einer rational und patriarchalisch definierten Kultur und Gesellschaft« gelesen (Rauch 1985, 21) und Das Buch Franza als ein »Paradigma weiblicher Ästhetik«, das »die weibliche Erfahrung der Unterdrückung bzw. der Zerstörung der persönlichen, geschlechtlichen und sozialen Identität durch die Macht einer symbolischen Ordnung« anspricht (Brinkemper 1985, 170). Der Einfluss des Feminismus auf die BachmannForschung zeigt sich nicht zuletzt in der Anerkennung und Übernahme durch männliche Forscher (z. B. Witte 1980). (Andererseits ist es eine Ingeborg Bachmann würdige Ironie, dass die ersten Gesamtdarstellungen, die in den 1980er Jahren erschienen, männliche Autoren hatten.) In einem Aufsatz von 1985 konstatiert Kurt Bartsch »so etwas wie ein[en] Bachmann-Boom« als Resultat einer »Veränderung in der Erwartungshaltung der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, die sich u. a. dem Einfluß der jüngsten Frauenbewegung verdankt« und gleich vier Bachmann-Symposien hervorbrachte (Bartsch 1985, 281). Bartschs Monographie in der Reihe »Sammlung Metzler« (Bartsch 1988; 21997) bezieht sich häufig auf die neuere feministische Forschung und blieb mit ihrer ausführlichen und ausgewogenen Gesamtdarstellung bei besonderer Betonung der gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen Problemstellungen des Werks bis über die Jahrtausendwende hinaus ein Standardwerk. Von ähnlich herausragender Bedeutung sind Hans Höllers grundlegende Monographie (1987), die vor allem auf Problemkonstanten des
Werks abhebt und auch Bachmanns Frühwerk und die Lyrik in ihrem historischen Zusammenhang untersucht, und seine Einführung in der Reihe »rowohlt monographien« (Höller 1999). Peter Beickens Darstellung von Bachmanns »geistige[r] Autobiographie« (Beicken 1988, 15) setzt die Legitimität des feministischen Ansatzes bereits als selbstverständlich voraus, der andererseits in Andreas Hapkemeyers Überblick über Bachmanns Leben und Werk (Hapkemeyer 1990) keine Rolle spielt. Die Forschungsbilanz in der von den Herausgeberinnen der Werkausgabe zusammengestellten Aufsatzsammlung »Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges« zeigt dann, dass feministische Analysen inzwischen ins Zentrum der Bachmann-Forschung gerückt waren (Koschel/von Weidenbaum 1989). Im Übrigen hatte die feministische Bachmann-Rezeption darüber hinaus auch zu einem neuen Verständnis anderer Autorinnen geführt: »Erst die Bachmann-Renaissance hat den Blick auf die vorfeministische Literatur von Frauen verändert. Es folgten Entdeckungen ihrer Zeitgenossinnen wie beispielsweise Marlen Haushofer« (Stephan u. a. 1987, 8). Sigrid Weigels zahlreiche Arbeiten zu Bachmann können als paradigmatisch für die Bachmann-Lektüre des deutschen Feminismus betrachtet werden. In ihrem Aufsatz »Der schielende Blick« (1983), der stärker historisch und politisch ausgerichtet ist als die Arbeiten vieler ihrer Zeitgenossinnen, schreibt Weigel mit Blick auf Malina: »Diese Unvereinbarkeit von männlichem und weiblichem Prinzip wird im Roman aber nicht als ›ewige‹, für Mann und Frau gleichermaßen geltende Zerrissenheit thematisiert; sie ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung einer ›heute‹ lebenden Frau« (Weigel 1983, 123). Im Anschluss an den französischen Poststrukturalismus argumentierte sie später jedoch, dass »das Geschlechtermotiv« »von Anfang an« »in die Struktur abendländischen Denkens« »eingebunden« sei (Weigel 1984b, 72), und betrachtete die in den Todesarten unternommenen »Dekompositionen« als Bachmanns Versuch, die Grundprinzipien der symbolischen Ordnung in Frage zu stellen: »Der Romanzyklus kreist um die Darstellung der Vorstellung vom Einzigen – der Instanz, dem symbolischen Vater, dem Götzen, dem Weißen – und streicht dieses Symbol zugleich durch« (ebd., 87). Im Bachmann-Teil ihres Bandes Topographien der Geschlechter (1990) bewegt sich Weigel wie andere zeitgenössische KulturwissenschaftlerInnen dann zusehends in die Richtung der Cultural und Gender Studies und erkennt jetzt »die psychische und sprachliche Verwicklung der Frau in die herrschende Ordnung und damit ihr[en] eigene[n]
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Anteil an den bestehenden Verhältnissen« an (Weigel 1990, 255). Weigels umfassende Bachmann-Monographie aus dem Jahre 1999 schließlich verzichtet nahezu vollständig auf einen feministischen Ansatz. Es handelt sich um eine einflussreiche Aufarbeitung von Bachmanns intensiver Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich, die zugleich auch die Beziehungen der Autorin zur Kritischen Theorie und zu wichtigen jüdischen Persönlichkeiten ihrer Zeit nachzeichnet. Weigel vernachlässigt hier jedoch nicht nur die geschlechtsspezifischen Dimensionen dieser Begegnungen, sondern fällt in ihrer Auseinandersetzung mit Bachmanns Texten manchmal in das Paradigma der 1980er Jahre zurück, wenn es z. B. heißt: »Franza ist damit als Frau gestaltet, der kein fester Ort in der symbolischen Ordnung zu eigen ist« (Weigel 1999, 516). Insgesamt werden feministische Analysen seit den 1990er Jahren zunehmend mit einer weiteren Gender Studies-Perspektive oder mit anderen kulturwissenschaftlichen, z. B. postkolonialen Fragestellungen verbunden. Gleichwohl lässt sich die feministische Linie der Bachmann-Forschung bis in die Gegenwart weiter verfolgen. Bärbel Thau zufolge bekämpft »das bedrängte weibliche Prinzip« (Thau 1986, 106) in Malina und im Buch Franza ein männliches Prinzip, das über Sprache und Wirklichkeit herrscht, während für Eva Christina Zeller (1988) Bachmanns Franza-Figur prädestiniert ist, »in der Welt der Männer zum Opfer zu werden« (Zeller 1988, 34). Andere Bachmann-Forscherinnen bringen den Poststrukturalismus mit Jacques Lacans Psychoanalyse in Verbindung, so Ingeborg Dusar (1994) in der ersten Monographie zum Simultan-Band. Schon Ortrud Gutjahr legt in ihrer Dissertation (1988) entsprechend dar, Franza gebe die ›Urangst‹ zu erkennen, die dem Begehren der Tochter nach dem Vater und ihrer gleichzeitigen Angst vor seiner sexuellen Gewalt entstamme. Inge Röhnelt liest Bachmanns Schreibweise in Malina als Übersetzung der weiblichen Hysterie, die aus dem unbewussten Einfluss des Phallischen »auf die körperliche und psychische Verfassung der Frau« resultiere (Röhnelt 1990, 4). Saskia Schottelius kommt zu dem ähnlichen Ergebnis, dass Malina »eine Möglichkeit, die ›be-herrschenden‹ Redeformen zu unterlaufen«, zur Darstellung bringe (Schottelius 1990, 15). Für Karen Achberger ist Bachmanns Todesarten-Projekt in ihrer englischen Werkeinführung Understanding Ingeborg Bachmann noch einmal der Versuch, in einer Reihe von Romanen den ›ewigen Krieg‹ der Geschlechter, die ›Abwesenheit‹ der Frau und den Mord an Frauen
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in der patriarchalischen Gesellschaft darzustellen (Achberger 1995, 5). Gudrun Kohn-Waechters ehrgeizige Untersuchung zu Destruktiver Moderne und Widerspruch eines weiblichen Ichs in Ingeborg Bachmanns »Malina« (1992) benutzt diese feministische Perspektive als Grundlage für die Vermutung, dass Bachmann nach Malina keine Romane mehr hätte schreiben können, da das in der Schreibweise von Malina ermöglichte Sprechen (eines Andersseins außerhalb der westlichen Rationalität) am Romanschluss mit dem weiblichen Ich ausgelöscht werde. Elizabeth Boa (1990) fokussiert im Anschluss an Julia Kristeva dagegen auf das selbstreflexive, mehrstimmige und intertextuelle Erzählen in Malina, dessen experimenteller Charakter individuelle und formal-rechtliche Konzepte weiblicher Emanzipation an ihre Grenze führt und auf die sozio-politischen Bedingungen gesellschaftlichen Wandels und entsprechender feministischer Zielsetzungen aufmerksam macht. Gabriele Otto nutzt Gérard Genettes Konzept der Polymodalität, um Weibliches Erzählen (2009) bei Bachmann in seiner Entwicklung von den Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr bis zu Simultan neu zu vermessen, setzt sich allerdings kaum mit der Spezialforschung auseinander. Die Unkenntnis der älteren (auch feministischen) Forschung ist in Qualifikationsarbeiten wie jenen von Jasmin Hambsch (2009) und Jutta Schlich (2009) noch auffälliger und indiziert eine Krise der Bachmann-Forschung, die bei anhaltender Produktivität seit der Jahrtausendwende auch Gefahr läuft, auf der Stelle zu treten oder hinter wichtige Einsichten wieder zurückzufallen (Göttsche 2011).
Grundlinien der Rezeption seit den 1990er Jahren Im Laufe der 1990er Jahre trugen drei Entwicklungen zu einer erneuten Intensivierung und zugleich zu einer breiteren Auffächerung der Auseinandersetzung mit Bachmanns Leben und Werk bei, die (trotz partieller Stagnationen und Rückfälle) bis heute weiterwirkt. Erstens entfachte Werner Schroeters kontroverse Verfilmung von Malina (1991), die auf einem Drehbuch von Elfriede Jelinek beruht und zugleich gegen deren Romaninterpretation anarbeitet (vgl. Kresimon 2004), neue Diskussionen über das Verhältnis von Leben und Werk. Schroeter interessierte sich eher für die ›neurotischen‹ Probleme des weiblichen Ich in Malina als für seine Schwierigkeiten mit Männern (ob konkret oder im Allgemeinen). Alice Schwarzer behaup-
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tete in der Zeitschrift Emma (1991), dass es in Malina tatsächlich um Inzest gehe – das große radikalfeministische Thema der 1990er Jahre, das Jutta Schlich (2009) noch einmal auf die Spitze treiben sollte. Schwarzer erklärte nicht nur Schroeter und seine Hauptdarstellerin Isabelle Huppert, sondern die ganze feministische Forschung zu Mittäterinnen, da diese wie im Film die männliche Gewalt ignorierten oder ihre Brutalität herunterspielten, denn, so Schwarzer mit dem weiblichen Ich in Malina: »Es ist der ewige Krieg!« (Schwarzer 1991, 20). Zweitens gingen zahlreiche Tagungen und aus ihnen hervorgehende Sammelbände seit den frühen 1990er Jahren über feministischen Fragestellungen hinaus und trugen wesentlich zur thematischen Ausdifferenzierung, methodologischen Innovation und Internationalisierung der Bachmann-Forschung bei. Hier können nur wenige Beispiele genannt werden: Die Tagungen in Saranac Lake/New York 1991 (Brokoph-Mauch/Daigger 1995), London 1993 (Pichl/ Stillmark 1994), Dublin 2004 (Leahy/Cronin 2005) und Nottingham 2005 (Göttsche u. a. 2006) verweisen stellvertretend auf die wichtige Rolle der angloamerikanischen Auslandsgermanistik in der BachmannForschung, Konferenzen wie jene in Rom 2003 (Pichl/ Agnese 2004), Verona 2009 (Larcati/Schiffermüller 2010) und Rom 2013 (Cambi u. a. 2016a) stehen exemplarisch für die ebenso zentralen Beiträge der italienischen Germanistik und die langjährige italienischösterreichische Zusammenarbeit in Sachen Bachmann. Im deutschsprachigen Raum sind u. a. die Tagungen in Münster 1991 (Göttsche/Ohl 1993), Wien 1993 (Pattillo-Hess/Petrasch 1993), Zürich 1994 (Böschenstein/Weigel 1997), Saarbrücken 1996 (Béhar 2000), Graz 2006 (Kogler/Dorschel 2006) und Wien 2006 (Agnese/Pichl 2009) zu erwähnen, in Ungarn jene in Debrecen 1993 (Lichtmann/Fanta 1995) und Piliscaba (Budapest) 2006 (Bognár/Bombitz 2008). Eine Reihe von Bänden dokumentieren zudem die anhaltende Resonanz Bachmanns in der literarischen, musikalischen und künstlerischen Welt der Gegenwart (z. B. Baumgart/Tebbe 2001; Kogler/Dorschel 2006; Aspetsberger 2007; Jirku/Schulz 2009). Zusammengenommen dokumentieren diese Bücher die Kanonisierung Ingeborg Bachmanns als eine zentrale Autorin der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Drei neue Einführungen fassten um die Jahrtausendwende den erweiterten Kenntnis- und Forschungsstand zusammen (Bartsch 21997; Höller 1999; Hoell 2001). Die erste Auflage des vorliegenden Bachmann-Handbuchs (Albrecht/Göttsche 2002) zog
umfassend Bilanz und suchte zugleich die Aufmerksamkeit auch auf weniger beachtete Werkbereiche und neue (postkoloniale, politisch-historische, philosophische, psychoanalytische u. a.) Zugänge zu richten. Die gleiche Intention verfolgten die Herausgeber mangels eines Bachmann-Jahrbuchs durch eine Reihe von Aufsatzbänden (Albrecht/Göttsche 1998, 2000 und 2004). Zwei Sammelbände (Koschel/von Weidenbaum 1989; Schardt 1994) hatten bereits die wichtigsten Rezensionen von Bachmanns Werken sowie andere Rezeptionsdokumente zusammengetragen. Ergänzend erschienen rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen z. B. zu Italien (Mocali 1993; Kreil 2005; Larcati 2011), der DDR (Töpelmann 1993), Frankreich (Rétif 2011) und Japan (Scholz-Lübbering 2001). Bereits Constance Hotz’ innovative Studie Die Bachmann (1990) zog Rezeptionstheorie, Strukturalismus und Semiotik heran, um zu zeigen, wie zu Bachmanns Lebzeiten ein journalistischer Diskurs über sie entstand, der weniger mit Bachmanns Schreiben als mit verschiedenen ideologischen Zielvorgaben zu tun hatte. Karen Leeder (2010) und der Sammelband Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung (Hemecker/Mittermayer 2011) haben diese kritische Meta-Perspektive in jüngerer Zeit weiter vorangetrieben. Drittens erschien 1995 die vierbändige, von Monika Albrecht und Dirk Göttsche editierte Kritische Ausgabe des Todesarten-Projekts, die sowohl die zu Lebzeiten publizierten als auch die im unveröffentlichten Nachlass überlieferten Teile dieses großen Vorhabens – sowie werkgenetisch damit verbundene Texte (Ein Ort für Zufälle, die Simultan-Erzählungen) – erstmals historisch-kritisch erschloss. Da diese Ausgabe einige wissenschaftliche Annahmen bestätigte und andere in Frage stellte, wurde sie sofort zum Gegenstand einer Kontroverse, die Bachmanns Namen wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein rückte (vgl. HeidelbergerLeonard 1998; s. Kap. 2). Editionsgeschichte und Rezeptions- bzw. Forschungsgeschichte, Editionskritik und Interpretation bzw. Forschungsinnovation gehen im Falle Bachmanns Hand in Hand (vgl. Reitani 2015). Das Interesse der Forschung richtet sich allerdings weiterhin vorrangig auf die bekannten TodesartenTexte, also den Franza-Roman und Malina sowie auf die Simultan-Erzählungen. Mit den in der Kritischen Ausgabe erstmals historisch-kritisch aus dem Nachlass edierten Texten haben sich andere Forscher nur langsam und zögerlich auseinandergesetzt (vgl. daher z. B. Albrecht 1998b; Göttsche 1998; Albrecht/Göttsche 2002 sowie die entsprechenden Kommentare in
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TKA 1). Zu den Ausnahmen gehören Anette und Peter Horns Analyse vor allem von Sprachkritik und Literatursatire in den nachgelassenen Todesarten-Romanen (Horn/Horn 2018) sowie Elke Schlinsogs Studie Berliner Zufälle (2005), die die engen Bezüge zwischen den in Bachmanns Berliner Jahren (April 1963 bis Dezember 1965) entstandenen Texten herausarbeitet: den Gedichten aus dieser Zeit (posthum veröffentlicht in Bachmann 2000), dem ersten Todesarten-Roman, dem Requiem für Fanny Goldmann, dem Buch Franza, dem vorausgehenden Wüstenbuch und dem daraus entstandenen Text für Bachmanns Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle. Auf der Spur von »Motiven von Krankheit und Gewalt« (Schlinsog 2005, 15) wird deutlich, wie »sich die Autorin in jeder Textstufe vom Biografischen entfernt, um schließlich eine paradigmatische Situation entstehen zu lassen – die der Todesarten der Gesellschaft« (ebd., 101). Grundtendenzen der Bachmann-Forschung in den vergangenen 20 Jahren sind in den Ausdifferenzierungen der 1990er Jahre bereits vorbereitet. Neue Nachlasspublikationen und wissenschaftliche Editionen vermitteln ein zunehmend breiteres and detailliertes Bild von Bachmanns Werk, ermöglichen neue Forschungsschwerpunkte und eröffnen neue Interpretationsperspektiven. Die (nicht-wissenschaftliche) Auswahlausgabe später Gedichtentwürfe (Bachmann 2000) beispielsweise hat ein neues, nun allerdings vorrangig an Bezügen zu den gleichzeitig entstehenden Todesarten-Texten begründetes Interesse an der späten Lyrik geweckt (vgl. Schlinsog 2005; Rameder 2006; Larcati/Schiffermüller 2010; McMurtry 2012). Hans Höllers Edition von Bachmanns sogenanntem Kriegstagebuch (Bachmann 2010) wirft neues Licht auf die biographischen Hintergründe ihres Frühwerks. Die Wiederentdeckung von Bachmanns Beiträgen zu der Sendereihe Die Radiofamilie des Wiener Senders RotWeiß-Rot (Bachmann 2011) durch Joseph McVeigh, der von hier aus auch Bachmanns Wiener Jahre insgesamt neu ausgeleuchtet hat (McVeigh 2002 und 2016), sowie Hans Höllers langjährige Arbeit sowohl an der Edition der späten Gedichte (Bachmann 1998b) wie auch an ihrer Interpretation (zuletzt Höller/Larcati 2016) sind besonders prägnante Beispiele für das produktive Ineinander von Editionsarbeit und wissenschaftlicher Forschung. Eine eigene Variante dieses Zusammenspiel sind die ausführlichen interpretierenden Kommentare der ersten Bände der Salzburger Bachmann Edition (Bachmann 2017a und 2017b), deren biographische Ansatzpunkte allerdings andere Interpretationsperspektiven zu überlagern
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drohen. Auf andere Weise haben die Wiederveröffentlichung der Römischen Reportagen (Bachmann 1998a) und die kritische Edition ihrer Kritischen Schriften (Bachmann 2005) die Essayistin Bachmann neu in den Blick gerückt, und die literarhistorische Forschung hat dies in neuen Analysen ihrer Poetologie aufgegriffen (z. B. Larcati 2006). Hatte Sigrid Weigel in den 1990er Jahren mit Nachdruck Bachmanns Bezüge zu Walter Benjamin herausgearbeitet, so betont Arturo Larcati z. B. die Analogien zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos in der Entwicklung einer »Poetik des Eingedenkens«, die zugleich, im Bewusstsein der »intrinsische[n] Kontingenz und Vorläufigkeit« aller »poetischen Entwürfe«, in der Literatur nach einer »aktualisierten« und dialogischen Sprache sucht (Larcati 2006, 75, 240, 251). Hans Höller hat in verschiedenen Publikationen den »kunstfernen Weg« (Höller 2010, 26) analysiert, mit dem Bachmann sich in den 1960er Jahren immer deutlicher von den Vorgaben der literarischen Tradition, aber auch von den Verfestigungen der Avantgarde und der Diskursge schichte der Gewalt distanziert. Zu den neuen Aspekten von Bachmanns Werk, die seit den 1990er Jahren in den Blick gerückt sind, gehören darüber hinaus die vielfältigen intertextuellen Bezüge ihres Werks zu anderen Autoren und Philosophen von Friedrich Hölderlin und Novalis über Marcel Proust und Robert Musil bis zu Paul Celan und Max Frisch, von Gaspara Stampa und William Shakespeare bis zu Albert Camus und Sylvia Plath (s. Kap. 37–41). Vor allem Bachmanns Verhältnis zu und Dialog mit Celan und Frisch sind seit langem Schwerpunkte der Forschung (vgl. zu Frisch: Albrecht 1995 und 2020; Esian 2010; Gleichauf 2015; zu Celan: Böschenstein/Weigel 1997; Wimmer 2014; Böttiger 2017). Ihr eigenständiger poetologischer und intertextueller Anschluss an die österreichische Moderne (Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil, Joseph Roth) ist ebenfalls seit langem ein zentraler Untersuchungsgegenstand (vgl. z. B. Klinger 1981; Lensing 1985; Fanta 1995; Bartsch 1997; Eberhardt 2002; Krylova 2012; Wandruszka in Bachmann 2017b, 344–368). Aufschlussreich erweisen sich aber auch vergleichende Lektüren z. B. mit der Frühromantik (Schmaus 2000), Friedrich Nietzsche und Franz Kafka (Gölz 1998; Meyer 2001) oder der Gegenwartsliteratur (z. B. Kanz 1999; Mevissen 2019). In seiner umfangreichen Studie »Es gibt für mich keine Zitate«. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns hat Joachim Eberhardt 2002 eine kritische Zwischenbilanz gezogen, die Bachmanns intertextuelle Verfahren vom Frühwerk
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bis zu Malina untersucht und vor der Überbewertung einzelner Bezüge in Bachmanns insgesamt intertextuell geprägter Schreibweise warnt. Parallel zur Intertextualitätsforschung hat sich Bachmanns Interesse an der Musik seit den 1990er Jahren zu einem eigenen Forschungsschwerpunkt entwickelt, wobei anfangs die »musikalische Poetik« ihres literarischen Werks (Spiesecke 1993), vor allem in der Lyrik und in dem Roman Malina im Vordergrund stand (Greuner 1990; Achberger 1993; Lindemann 1993). Corina Caduff (1998) hat in diesem Zusammenhang die Analogien mit Adornos Kritischer Theorie und Musikästhetik herausgestellt. Seit der Jahrtausendwende sind dann zunehmend auch musikwissenschaftliche bzw. interdisziplinäre Auseinandersetzungen mit Bachmanns Libretti (Achberger 1980; Grell 1995; Beck 1997; Schmidt-Wigstoff 2001; Bielefeldt 2003; Tumat 2004), mit ihren musikästhetischen Essays und ihrem Verhältnis zur musikalischen Avantgarde (Hans Werner Henze, Luigi Nono, Karl Amadeus Hartmann u. a.) hinzu getreten (Eberhardt 2002; Solibakke 2005; Kogler/Dorschel 2006). Diese philologische, poetologische und literarhistorische Grundlagenforschung zu Bachmanns Werk, seinen Kontinuitäten und Veränderungen – trotz der seit Höller erster Monographie (1987) deutlich gewordenen ›Problemkonstanten‹ – geht einher mit der breiteren Berücksichtigung zuvor vernachlässigter oder unbekannter Werkbereiche sowie den Rückwirkungen der kultur- und medienwissenschaftlichen Wende in den Literaturwissenschaften der 1990er Jahre auf die Bachmannforschung. Diese zeigt sich vor allem in den Bereichen Gender-Forschung, Memory Studies und postkoloniale Forschung, wobei die Übergänge fließend sind. Zu nennen ist hier zunächst die bis in die früheste Phase der Bachmannforschung zurückreichende Linie der Untersuchungen zu Bachmanns Lyrik von Ute Maria Oelmann (1980) über Susanne Bothner (1986), Mechthild Oberle (1990) und Leslie Morris (1999) bis zu Hans Höllers Teiledition (Bachmann 1998), dem von Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani herausgegebenen Band Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns (2000) oder den Dissertationen von Cettina Rapisarda (2013) und Ruxandra Chişe (2017). Der von Arturo Larcati und Isolde Schiffermüller (2010) herausgegebene Interpretationsband zu Bachmanns späten, im Jahr 2000 posthum veröffentlichten Gedichtentwürfen sowie Höllers und Larcatis Monographie (2016) zu jener Gruppe später Gedichte, die sich Bachmanns Prag-Reise vom Januar 1964 verdanken, setzen diese Forschungslinie bis in
die Gegenwart fort. Zugleich ist ein neues Interesse an vor den Todesarten entstandenen Texten festzustellen, an den Hörspielen (Šlibar 1995), der frühen Prosa (Hapkemeyer 1982; Henninger 1995; Weigel 1999), Bachmanns Kleiner Prosa (Göttsche 2006) oder den Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr (TreuschDieter 1993; Schneider 1999). Zum breiten Themenspektrum der Bachmann-Forschung gehören darüber hinaus vielfältige Spezialuntersuchungen zu anderen Aspekten des Werks wie Bachmanns Verhältnis zur Religion (Weber 1986; Peters 2009), zur Naturwissenschaft (Behre 1998), zur Philosophie (Agnese 1996), zur Mythologie (Jagow 2003) oder zur Psychoanalyse (Kanz 1999; Bossinade 2004). Bachmanns literarisches Italienbild (Huml 1999; Miglio 2012) ist ebenso untersucht worden wie ihr Verhältnis zum französischen und deutschen Existentialismus (Göttsche 2004). Medienwissenschaftliche Perspektiven werden in Andrea Kresimons Dissertation Ingeborg Bachmann und der Film. Intermedialität und intermediale Prozesse in Werk und Rezeption (2004) fruchtbar, die sowohl Filmreferenzen im Werk als auch Bachmanns Drehbuchentwürfe und Werner Schroeters Malina-Verfilmung analysiert. In stärker kulturwissenschaftlicher und theoretischer Perspektive diskutiert ein weiterer Band Bachmanns Medien (Simons/Wagner 2008). Einige der produktivsten Auseinandersetzungen mit Bachmanns Werk schließen an die Erweiterung feministischer Ansätze in der kulturwissenschaftlichen ›Gender‹-Forschung an. Dagmar Kann-Coomann wendet sich in ihrer Dissertation (1988) bereits ausdrücklich von dem feministischen Kult um die Autorin als Ikone weiblichen Leidens ab und betont vor allem die eindringliche Auseinandersetzung der Autorin mit Kunst und ästhetischer Erfahrung im Allgemeinen. Maria Behre argumentiert analog, dass die Frage im Titel von Christa Gürtlers Buch Schreiben Frauen anders? (Gürtler 1983) eher hätte lauten sollen: »Warum schrieb Bachmann anders als ihre männlichen Zeitgenossen?« (Behre 1992, 212). Almut Dippel (1995) untersucht, wie Bachmann in Drei Wege zum See Joseph Roths Trotta-Figuren verwendet, während sie zugleich Roths Homophobie und Misogynie ›korrigiert‹. Bettina Bannaschs Dissertation über die Simultan-Erzählungen (1997) ordnet die Untersuchung der Geschlechterdifferenz der übergeordneten Frage unter, wie man in einer kranken Welt überhaupt leben könne. Helgard Mahrdt (1998) benutzt die Theorie der Frankfurter Schule, um ihre These zu stützen, dass die bürgerliche Gesellschaft die Privatsphäre hervorbringt, an der Bachmanns weibliche Figuren leiden.
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Besonders (wenn auch nicht ausschließlich) Feministinnen aus dem angloamerikanischen Bereich haben neuere feministische Methoden auf Bachmanns Texte bezogen. Sabine Gölz (1998) übernimmt die von Harold Bloom entwickelte Theorie des literarischen Einflusses, um zu zeigen, dass Bachmann in ihren Gedichten Genderkategorien verwendet, um sich von der männlichen poetischen Tradition zu distanzieren. Friederike Eigler (1991) bezieht sich auf Mikhail Bachtins Begriff der ›Heteroglossie‹, um auf das gespaltene Verhältnis der Frauenfiguren in Simultan gegenüber den herrschenden Diskursformen hinzuweisen. Susanne Baackmann (1995) verbindet in ihrer Darstellung von Weiblichkeitsbildern der 1950er und 1960er Jahre den französischen Feminismus mit dem New Historicism und führt vor, wie Bachmann in die Weiblichkeitsdiskurse ihrer Zeit eingriff. Karin Bauer (1998) bezieht sich auf die Queer Theory, um zu belegen, dass die Beziehung zwischen den Frauen in Ein Schritt nach Gomorrha fehlschlägt, weil sogar Charlottes Phantasien im Normativen gefangen bleiben. Sara Lennox’ Monographie Cemetry of the Murdered Daughters. Feminism, History, and Ingeborg Bachmann (2006) ist ein besonders eindringliches Beispiel für die produktive Verknüpfung neuer feministischer Ansätze mit neuen Methoden der angloamerikanischen Cultural Studies und einer historisch und kulturell differenzierten Auffassung von ›Gender‹ und anderen gesellschaftlichen Kategorien. Lennox’ Monographie enthält auch ihre wegweisenden, seit 1984 publizierten Aufsätze zur postkolonialen Bachmann-Lektüre, die zusammen mit Arbeiten von Gisela Brinker-Gabler (1993), Moustapha Diallo (1998) und Monika Albrecht (1998a) die Bachmann-Forschung zu einem der ersten Anwendungs felder postkolonialer Theorie und Forschung in der Germanistik gemacht haben. Im Mittelpunkt standen und stehen hier zunächst Das Buch Franza und die Frage, ob Bachmanns Romanfragment Franzas Eingebundensein in Diskurse des europäischen Kolonialismus reproduziert oder doch kritisch ausstellt. Machte Brinkler-Gabler (1993) z. B. auf die Problematik von Franzas Identifizierung mit den Opfern des Kolonialismus aufmerksam, so konnte Herbert Uerlings ein gutes Jahrzehnt später zeigen, dass »[d]ie Textperspektive [...] sich nicht mit der Sicht Franzas [deckt]« (Uerlings 2006, 188), identifikatorisches Lesen Bachmanns antikolonialer Poetik also nicht gerecht wird. Aber auch andere Werke wie das dem Romanfragment vorausgehende Wüstenbuch, das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, einiger ihrer Ge-
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dichte und der Goldmann/Rottwitz-Roman sind seither Gegenstand postkolonialer Analyse und Kritik geworden (s. Kap. 44). In seinem Buch zu (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur (2006) hat Uerlings Bachmann an das Ende einer von Georg Forster und Johann Wolfgang Goethe ausgehenden Reihe von Fallstudien zur machtkritischen Literaturgeschichte des ›Fremden‹ gestellt, während Albrecht (2008 und 2016) Bachmanns entsprechende Texte im antikolonialen Diskurs der Nachkriegszeit kontextualisiert. Darüber hinaus hat die postkoloniale Bachmann-Lektüre ganz grundsätzlich einen kritischeren Blick auf das Werk der Autorin geschult, der auch anderen Fragestellungen zugute kommt (vgl. Albrecht 2020). Bachmanns kritische Auseinandersetzung mit Geschichte und Zeitgeschichte, mit Nationalsozialismus, Holocaust und österreichischer Geschichte, aber auch mit der Sozialgeschichte der Gewalt, die bis in den Alltag und das Zusammenleben der Geschlechter hineinreicht, ist seit den Werkmonographien der 1980er Jahre (Höller 1987; Bartsch 1988) ein fester Bestandteil der Bachmann-Forschung. In den 1990er Jahren treten interdisziplinäre Analysen hinzu, die Bachmanns kritischen Geschichtsdiskurs historiographisch und diskursgeschichtlich kontextualisieren (vgl. Gehle 1995 zum Diskursraum des Post-Holocaust sowie die Historiker Botz 1993 und Thamer 1993). In Andrea Stolls Monographie (1991) deutet sich zugleich bereits die Akzentverschiebung dieses Themas im Gefolge der internationalen Memory Studies und der deutschsprachigen Gedächtniskulturforschung an. Das Interesse verschiebt sich von eigentlich historischen Fragen zu solchen der Erinnerungskultur, Zeitzeugenschaft und Gedächtnispoetik (vgl. Grobbel 2004; Leahy 2007). Katya Krylova bringt in ihrer Studie Walking through History (2013) Memory Studies und Traumaforschung zusammen, um Bachmanns geschichtliche Erinnerungspoetik und ihr ambivalentes Verhältnis zum nostalgischen Habsburger-Mythos herauszuarbeiten. Sofie Friederike Mevissen (2019) liest Bachmanns kritische Erinnerungspoetik im TodesartenProjekt neu aus der Perspektive der Familien- und Generationenromane seit den 1990er Jahren, in deren Mittelpunkt ebenfalls die Erinnerung und Reflexion kollektiver (und geschlechtsspezifischer) Gewaltgeschichte steht. Über die Wissenschaft hinaus hat in diesem thematischen Kontext die Wanderausstellung Ingeborg Bachmann. Schreiben gegen den Krieg/Writing against War (Höller/Pöcheim/Solibakke 2008) Akzente gesetzt, die zugleich Anlass zu internationa-
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len Symposien gab (vgl. Göttsche u. a. 2006; Solibakke/Tippelskirch 2012).
Ausblick Eine der nachhaltigsten Veränderungen in der Bachmannforschung der vergangenen 20 Jahre ist die wachsende Verfügbarkeit zuvor unbekannter, gesperrter oder schwer zugänglicher Texte, aber auch biographischer Materialien. Mit dieser Erweiterung des Werkkorpus und Informationsstandes haben sich die philologischen Rahmenbedingungen der Bachmann-Forschung gegenüber den 1980/90er Jahren grundlegend geändert. Seit 2004 sind z. B. die Briefwechsel mit Hans Werner Henze (Bachmann/Henze 2004), Paul Celan (Bachmann/Celan 2008) und Hans Magnus Enzensberger (Bachmann/Enzensberger 2018) erschienen und weitere sind im Zuge der Salzburger Bachmann Edition zu erwarten. Zudem gaben die Auswahlausgabe später Gedichtentwürfe (Bachmann 2000) und der erste Band der Salzburger Edition mit den zuvor unbekannten »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« (Bachmann 2017a) erstmals Einblick in die enge »Verflechtung« (Höller 2016, 30) von privaten Notizen, Traumnotaten, Gedichtentwürfen und den entstehenden Todesarten-Texte in den Jahren nach Bachmanns medizinisch-psychischer Krise 1962. Hans Höller hat sich kritisch mit dem »anti-biographischen Furor in [Sigrid] Weigels Buch« Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses (1999) auseinandergesetzt (Höller 2011, 37) und im Umkreis der von ihm initiierten Salzburger Ausgabe wiederholt dafür plädiert, »dem Biografi schen in Kunstfragen einen größeren Stellenwert einzuräumen« (Höller/Larcati 2016, 155). Diese Bereicherung biographischen Wissens geht allerdings in Teilen der Forschung mit der Gefahr neuer Kurzschlüsse zwischen Biographie und Werk einher (vgl. Albrecht 2020). Wenn die ersten Bände der Salzburger Bachmann Edition die »›Erzählung‹ einer Krankengeschichte« in den Vordergrund rücken und die vermeintlich »biographisch[e] wie poetologisch[e] Zäsur des Jahres 1962« (Kommentar in Bachmann 2017a, 99 f.) zum Ausgangspunkt der Kommentierung auch literarischer Texte – hier des sogenannten Buches Goldmann (Bachmann 2017b, 312) – machen, dann drohen die Trennung von Max Frisch und deren Folgen in ähnlicher Weise zu einem ›Mythos‹ der BachmannForschung zu werden wie zuvor die mittlerweile überholte These vom Gattungswechsel von der Lyrik zur
Prosa (vgl. GuI, 40) oder die mutmaßlich traumatische und für Bachmanns Geschichtsbewusstsein und Erinnerungspoetik prägende Erfahrung eines Einmarschs der Nazi-Truppen in Klagenfurt (vgl. GuI, 111), die inzwischen als rückblickende Projektion und Ausdruck einer Erinnerungsethik erkannt worden ist. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung macht in diesem Sinne auf die Verkürzungen einer biographischen Lektüre aufmerksam, die Max Frisch und Ingeborg Bachmann mit den Romanfiguren gleichsetzt: »Die erste, von den Herausgebern geförderte Versuchung bei der Lektüre dieser Texte besteht darin, sie als autobiographische Bekenntnisse zu lesen: Jung gleich Frisch gleich Marek gegen Eka-IngeborgFanny« (Kilb 2017). Natürlich folgt ein Großteil der Forschung dieser Versuchung nicht, während umgekehrt biographische Forschung sehr wohl ihren eigenen Ort hat. Andrea Stolls Biographie (2013) hat den aktuellen biographischen Wissensstand in größere Narrative einzubinden versucht, allerdings um den Preis von »Klischees wie: Covergirl der Gruppe 47«, »Diva« und »unschuldiges Wiener Mädel« (Beicken 2019, 363). Ina Hartwigs »Biographie in Bruchstücken« Wer war Ingeborg Bachmann? (2017) sucht biographische Projektionen und Mythenbildungen zu hinterfragen und stellt neue Fragen wie etwa die nach Bachmanns finanziellen Verhältnissen (Hartwig 2017, 119), leistet dabei jedoch selbst neuen Mythen Vorschub, wenn sie z. B. über Bachmanns Verhältnis zu Henry Kissinger spekuliert oder die Mutmaßungen über familiäre Inzesterfahrung reaktualisiert (ebd., 162–179, 254–265). In einer neueren Studie zu Ingeborg Bachmanns frühen Jahren überlagert das spekulative biographische »Thema einer möglichen sexuellen Traumatisierung der Autorin im Kindes- und Jugendalter« (Schaunig 2014, 12) gar die Spurensuche zum Frühwerk. Die biographischen Akzentsetzungen in den ersten Bänden der Salzburger Bachmann Edition verstärken insofern entsprechende Gefahren und Tendenzen, welche die Bachmannrezeption und -forschung von Anfang an begleitet haben, durch die »anhaltend[e] Konjunktur der Biographie« (Hemecker 2011, 7) im kulturellen Leben nun aber einen neuen Resonanzboden besitzen. Allerdings ist die Bachmann-Forschung fast 50 Jahre nach dem Tod der Autorin zu breit aufgestellt und zu vielfältig, um sich in einzelnen Tendenzen zu erschöpfen. Mögen Ingeborg Bachmanns Leben und Werk derzeit nicht die zentrale Funktion besitzen, die sie in der feministischen Literaturwissenschaft der 1980/90er Jahre oder in der postkolonialen Germanistik um die
3 Rezeptionsgeschichte
Jahrtausendwende hatten, so bedeutet die Kanonisierung der Autorin gleichwohl, dass ihr Werk aus praktisch allen aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven gelesen und erforscht, bzw. umgekehrt in entsprechende größere methodologische, literarhistorische und kulturgeschichtliche Kontexte und Debatten eingespeist wird. Zugleich werfen Neueditionen und die erstmals edierten Briefwechsel neue Fragen auf bzw. geben Gelegenheit, schon länger offene Fragen neu in den Blick zu nehmen. So macht z. B. Marie Luise Wandruszka in ihrem Kommentar zu dem unvollendeten Todesarten-Roman um Fanny Goldmann und Aga Rottwitz darauf aufmerksam, dass »das immer noch vorherrschende tragische Bachmannbild« den Blick auf »das Tragikomische« und Komische gerade auch der Todesarten-Texte verstellt (Bachmann 2017b, 308). Ähnlich weisen Hans Höller und Irene Fußl auf das durchaus auch humorvolle Spiel mit Mehrsprachigkeit, »Literaturzitaten und Geheimcodes« im Briefwechsel zwischen Bachmann und Enzensberger hin (Vorwort in Bachmann/Enzensberger 2018, 7; vgl. zu diesem Thema auch Höller 2015). Die in der Salzburger Ausgabe erscheinenden Briefwechsel lassen darüber hinaus – gegen das auf Krankheit und Leiden fokussierte »tragische Bachmannbild« – genauere Einblicke in Bachmanns Vernetzung und aktive Rolle im literarischen und kulturellen Leben ihrer Zeit erwarten, etwa in Italien (vgl. Cambi u. a. 2016b, 12). Der nicht unproblematische vermeintliche »biographical turn« (ebd., 11) könnte auf diese Weise neues Licht auf die Geschichte der »Autorschaft« nach 1945 – wie Höller (2016, 25 f.) hofft –, aber auch auf weitere literatursoziologische und kulturhistorische Zusammenhänge werfen. Um ein drittes Beispiel zu nennen: Monika Albrecht hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass ein ›Schlüsselzitat‹ des Franza-Romans (»Ich bin von niedriger Rasse«; TKA 2, 230) jahrzehntelang zentral für die feministische und postkoloniale Bachmann-Forschung war, die unmittelbar folgende Aussage: »Oder müßte es nicht Klasse heißen?«, mit der die Titelfigur die erste Aussage relativiert, hingegen unbeachtet blieb (Albrecht 2016). Auch Anette und Peter Horn warnen die Forschung davor, »Bachmanns Verständnis der Situation von Frauen als soziales Phänomen in historischen Zusammenhängen zu ignorieren« (Horn/Horn 2018, 183). Sozio-ökonomische Positionierungen ihrer Figuren (Albrecht 2016, 220) und allgemeiner ökonomische Aspekte ihres Werks sind bislang ebenso ein Desiderat der Forschung wie die Frage nach der Entwicklung von Bachmanns politischen Standorten (s. Kap. 40).
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I Grundlagen – B Rezeption und Wirkung
4 Literarische Rezeption und Wirkung Mit Bachmanns Tod im Oktober 1973 beginnt eine intensivierte literarische Auseinandersetzung, die sich über die folgenden Jahrzehnte erstreckt und zahllose SchriftstellerInnen und KünstlerInnen zu einer fruchtbaren Beschäftigung mit ihrem literarischen Werk führen wird. Zahlreiche Verweise und Anspielungen, Hommagen und Zitate zeugen davon, doch schon zu Lebzeiten traten befreundete Autoren mit Ingeborg Bachmann in einen literarischen Dialog, so z. B. Hans Weigel in seinem autobiographischen Schlüsselroman Unvollendete Symphonie aus dem Jahr 1951 (McVeigh 2016, 171–173), Paul Celan in vielen seiner Gedichte (vgl. den Kommentar in Bachmann/Celan 2008) und nicht zuletzt Max Frisch.
Max Frisch (1911–1991) Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch verarbeitet seine Beziehung zur 15 Jahre jüngeren Kollegin in seinem Prosawerk seit der Zeit ihres Zusammenlebens (v. a. Mein Name sei Gantenbein [1964], Biografie. Ein Spiel [1966/67]; s. auch Kap. 40). Auch nach Bachmanns Tod finden sich in seinen Werken immer wieder Anspielungen auf seine Beziehung zu ihr wie auch Referenzen auf ihre Texte (beispielsweise in Triptychon. Drei szenische Bilder [1978] oder Blaubart [1982]), bis hin zur im Vergleich zu Gantenbein deutlicher autobiographischen Erzählung Montauk (1975): In diesem »aufrichtige[n] Buch« (Frisch 1975, 5) – mit der Einschränkung »und was verschweigt es und warum« (197) – berichtet der Erzähler in einer dichten, absatzlosen Passage von seiner Eifersucht, als »Hans Magnus« (d. h. Enzensberger) sie nach Rom begleitet (144), von seiner (Frischs) »Hörigkeit« oder wie er bei ihrer ersten Poetikvorlesung mit ihrem Mantel auf den Knien im Frankfurter Hörsaal sitzt (146). Verstreute Anspielungen auf Bachmanns Texte wie »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« (24) oder auf »die berühmten Eichhörnchen im Central Park« (16) ziehen sich durch die Erzählung, und zwischen den zentralen BachmannEpisoden verbringt der Erzähler auch Zeit mit einer deutlich jüngeren »Undine« (101) namens Lynn, der er zwar (in Anspielung auf Bachmanns Essay Was ich in Rom sah und hörte von 1955) berichtet, »was er in Rom gesehen und gehört hat«, jedoch »nicht von der schrecklichsten aller Todesarten« (ebd., 99) erzählt.
Erste Reaktionen in der bundesdeutschen Literatur Nach Bachmanns Tod nahm Uwe Johnson als einer der ersten den posthumen Dialog mit ihr auf: Tief erschüttert von ihrem Tod schrieb er in seiner Erzählung Eine Reise nach Klagenfurt (1974) minutiös über den Triumph der Nationalsozialisten in Klagenfurt, über Bachmanns sowie seine und seiner Familie Erfahrungen in Rom und über seinen Besuch an ihrem Grab, wobei er (ähnlich wie in seinem mehrbändigen Roman Jahrestage [1970–83]) Zitate aus verschiedenen Quellentexten, aus Bachmanns veröffentlichtem Werk und seinem Briefwechsel mit ihr in die Beschreibung einstreute. Auch andere Schriftsteller waren von Bachmanns vorzeitigem Tod ergriffen, und einige verfassten Nachrufe, die einmal mehr zu dem ›Mythos Bachmann‹ beitrugen: Für Ingeborg Drewitz beispielsweise hatte Bachmann deshalb alle literarischen Preise gewonnen, die Österreich zu vergeben hatte, »weil alle spürten, daß hier eine schrieb, die eigentlich nicht ganz zu Hause war in dieser Zeit, in dieser Welt« (Drewitz 1994, 469). Günter Grass, der die Illustrationen zur Buchfassung der Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle angefertigt hatte, schrieb ein Gedicht mit dem Titel Todesarten (1973), das mit den Zeilen »Du hast sie gesammelt: / Schränke voll, / deine Aussteuer« begann und endete: »die letzte paßte« (Grass 1994, 477). Bachmanns Freundin Toni Kienlechner protestierte vor allem gegen die Zeile: »Der Tod stand Ingeborg gut«, die sie für »unmenschlich« »in Geist und Ausdruck« hielt (Kienlechner 1994, 477). Heinrich Böll schrieb über Bachmanns literarische Arbeit: »Das Erstaunlichste an Ingeborg Bachmann war ja, daß diese brillante Intellektuelle in ihrer Poesie weder Sinnlichkeit einbüßte noch Abstraktion vernachlässigte, und daß sie jenen immer mehr zum Aussatzmerkmal denunzierten großen Komplex, den man Emotion zu nennen pflegt, wieder in den höchsten Rang erhob« (Böll 1994, 473). Erich Fried, der die Autorin erstmals 1950 in London getroffen hatte, hob besonders den Beitrag von Bachmanns Lyrik zur Veränderung der literarischen Nachkriegslandschaft sowie ihre ungewöhnliche Sicht der Dinge hervor: »Wo sie ihre Fragen stellte und was sie in Frage stellte, wußte sie ziemlich genau, und sie wußte auch, mit welchen Antworten sie sich nicht abspeisen ließ« (Fried 1994, 474). Die Schriftstellerin Hilde Spiel, ebenfalls jüdischösterreichischer Herkunft, die Bachmann aus Wien
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_4
4 Literarische Rezeption und Wirkung
und London kannte, beklagte Bachmanns eigene poetische Vorwegnahme jener schrecklichen Verbrennungen, die zu ihrem Tod geführt haben (Spiel 1994, 479). Sie denkt in ihrem Nachruf über die Stärken und Schwächen von Bachmanns Prosa gegenüber der Lyrik nach und bedauert die negative Reaktion der Kritik auf die Hinwendung zur Prosa.
Thomas Bernhard (1931–1989) In einem fragmentarisch gebliebenen Text über Thomas Bernhards Werk hatte Bachmann dessen Prosa sogar als der Samuel Becketts »unendlich überlegen« bezeichnet: »durch das Zwingende, das Unausweichliche und die Härte. [...] es sind Bücher über die letzten Dinge, über die Misere des Menschen, nicht über das Miserable, sondern die Verstörung, in der sich jeder befindet« (KS, 454). Bernhards Reaktion auf Bachmanns Tod in der Kurzprosasammlung Der Stimmenimitator (1978) zeigt, dass diese Hochachtung gegenseitig war und dass er sie als Geistesverwandte sah, die sein Entsetzen angesichts des Laufs der Welt teilte: »In einem römischen Krankenhaus ist die intelligenteste und bedeutendste Dichterin, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat, an den Folgen von Verbrühungen und Verbrennungen gestorben [...]. Ich habe [...] viele ihrer philosophischen Ansichten geteilt, auch ihre Ansichten über den Gang der Welt und den Ablauf der Geschichte, von welchem sie zeitlebens erschrocken gewesen war« (Bernhard 1987, 167). Bachmann, die Bernhard 1969 kennengelernt hat, hat auch für die Figur Maria in seinem Roman Auslöschung. Ein Zerfall (1986) Modell gestanden: Maria ist Autorin eines ›böhmischen Gedichts‹, das der Protagonist des Romans für »das schönste und beste Gedicht [...], das jemals eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben hat«, hält (Bernhard 1986, 511), und sie hat die wahre Begabung des Romanhelden erkannt (nach der auch der Roman benannt ist): »Ich bin ihr Auslöscher, hat sie behauptet. Und das, was ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte« (542). Damit scheinen die Gemeinsamkeiten beider Autoren, die letztlich zur Figur Bachmann/Maria im Roman geführt haben, politischer Natur und erwachsen aus beider Ablehnung der destruktiven Sozialordnung (und aus beider Streben nach einer künstlerischen Utopie): Bernhards »Roman ist eine konsequente Abrechnung mit politischem Unrecht, vor allem der unbewältigten Nazivergangenheit in Österreich« (Hoell 1998, 37). Bereits im kurz zuvor erschienenen (und einen lite-
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rarischen Skandal auslösenden) Roman Holzfällen. Eine Erregung (1984) erinnert die Figur der Joana – von Bernhard als »einzig wahre Künstlerin« (Weidermann 2006, 63) inszeniert – stark an Bachmann: »Ausgerechnet mit der besten Freundin seiner Frau sei der Tapisserist, so hörte ich es mehrere Male in dem Gentzgassenhalbdunkel, nach Mexiko durchgegangen und habe die unglückliche Joana alleingelassen. Ausgerechnet nach Mexiko und ausgerechnet in dem Moment, in welchem es die Joana tödlich treffen musste« (Bernhard 1988, 33). Bernhard spielt hier sicherlich auf Max Frischs Reise in die USA (mit einer Weiterreise nach Mexiko) an, die er 1963 gemeinsam mit Marianne Oellers unternommen hat (vgl. Frisch 1975, 104).
Jean Améry (1912–1978) Während Bachmann und Bernhard eine freundschaftliche Beziehung verband, betrachtete Jean Améry (1989) sie als »ungekannte Freundin« (»Am Grabe einer ungekannten Freundin« lautet der Titel seines Nachrufs von 1973). Elisabeth Matrei in Bachmanns später Erzählung Drei Wege zum See liest einen Essay mit dem Titel »›Über die Tortur‹« und will daraufhin »diesem Mann schreiben, aber sie wußte nicht, was sie ihm sagte sollte« (TKA 4, 389–390; der Titel des entsprechenden Essays von Jean Améry lautet »Die Tortur«). In seinem Nachruf erinnert sich Améry bedauernd: »Auch mein Schreiben unterblieb« (Améry 1989, 201). Diese Parallelen wurden teils scharf kritisiert, schließlich dürfe die »Schwelle [...] zwischen psychischer Tortur« wie im Fall der Figur Franz Joseph Trotta »und physischer Tortur« wie im Fall von Améry, der von den Nazis aus seiner Heimat vertrieben und gefoltert worden ist, nicht »überschritten werden« (Heidelberger-Leonard 1993, 191). Améry selbst war nachsichtiger: »[...] das Gefühl der Schicksalsgemeinschaft ließ mich nicht los, wiewohl sie und ich doch verschiedenen Generationen angehörten und sie im Vergleich zu mir das Brot der Fremde unter nicht weiter dramatischen Umständen gegessen hatte« (Améry 1989, 201). Auf den Tag genau fünf Jahre nach Bachmanns Tod nahm sich Jean Améry in Salzburg das Leben.
Christa Wolf (1929–2011) Wie Améry sind sich auch Bachmann und Christa Wolf nie persönlich begegnet, doch war die etwas ältere Kollegin nicht nur für Wolfs eigene Arbeit von
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großer Bedeutung (Ulrich 2016, 112) – die Autorin aus der ehemaligen DDR hat auch sehr viel zur Förderung der Bachmann-Rezeption in Ost und West beigetragen. Wolfs erste Auseinandersetzung mit Bachmann geht zumindest auf das Jahr 1966 zurück, als sie einen erst später veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel »Die zumutbare Wahrheit – Prosa der Ingeborg Bachmann« schrieb, der sich vornehmlich auf den Erzählband Das dreißigste Jahr und die (in der DDR nicht publizierten) Essays konzentrierte. Sehr viel klarsichtiger als die meisten von Bachmanns frühen Kritikern im Westen erkannte Wolf, dass Bachmanns Festhalten an einer gefährdeten Subjektivität auch das Ergebnis eben jener konkreten sozialgeschichtlichen Mächte war, in denen diese Art von Subjektivität gedeiht. Wolf betonte dabei, dass Bachmann keinerlei Verbindung zu einer »progressive[n] geschichtliche[n] Bewegung« hatte, die es ihr ermöglicht hätte, diese Mächte zu bekämpfen (Wolf 1990b, 98) – eine Einsicht, die Dieter Schlenstedt bereits 1961 formuliert hatte und die für die Bachmann-Rezeption der DDR bestimmend wurde (Töpelmann 1993). Bachmanns Werk bestärkte Wolf darin, Fragen wie das Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaft im Roman Nachdenken über Christa T. (1968) und den folgenden Werken im Hinblick auf ihre eigene Bedeutung im Kontext der DDR weiter auszuloten. Aufmerksame Leser können von diesem Punkt an immer wieder Parallelen und Anspielungen erkennen, wenngleich Bachmann explizit erst wieder im achten Kapitel von Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976) erwähnt wird, in dem eine Nachrichtensendung von Bachmanns Tod berichtet und die Erzählerin gleichzeitig erfährt, dass die für den Sturz der sozialistischen Regierung Salvador Allendes verantwortliche Militärdiktatur in Chile den Gebrauch des Wortes ›compañero‹ verboten hat. Mit Zitaten aus Bachmanns Werk spricht sie sich in dieser Situation Mut zu: »Ich sah den Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.« – »Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein« (Wolf 1976, 234, 248). In ihrer Büchnerpreis-Rede von 1980 setzt sich Wolf erneut mit Bachmann auseinander, doch zu diesem Zeitpunkt hat sich der Schwerpunkt ihres Interesses bereits verschoben. Sie legt nun größeres Gewicht auf das Geschlecht der Autorin und besteht darauf, dass Frauen, nachdem sie erst in jüngster Zeit Zugang zur Geschichte erhalten haben, jetzt die darin liegende Verantwortung erkennen und wahrnehmen müssen. Wenngleich Bachmann in Keine Delikates-
sen, einem ihrer letzten Gedichte, den dichterischen Auftrag am Ende aller Bemühungen scheinbar als fruchtlos zurückgewiesen hatte, erklärt Wolf, dass ihre Worte als Zeugen bleiben werden: »Ihr Teil wird nicht verloren gehen« (Wolf 1990b, 622). In der letzten von vier Frankfurter Vorlesungen aus dem Jahr 1982, die die Publikation ihres Romans Kassandra begleiteten, wird deutlich, dass Wolf inzwischen zu einer entschieden feministischen Bachmann-Interpretation gefunden hat. Indem sie die berühmte, an Arthur Rimbaud angelehnte Passage aus dem Romanfragment Das Buch Franza (»Die Weißen kommen«) zitiert, geht Wolf nunmehr davon aus, dass Bachmann in ihrem Werk – und nicht zuletzt mit ihrer namenlosen weiblichen Ich-Figur in Malina – das Schicksal der Frauen in der gesamten westlichen Zivilisation, und das hieß in den 1980er Jahren: ihren Opferstatus beschreiben wollte (Lennox 1989, 145 f.). In diesen Poetikvorlesungen zieht Wolf auch die Verbindungslinie zwischen Werk und Person Ingeborg Bachmanns, wenn sie in einer inzwischen viel zitierten Passage meint: »Bachmann [...] ist jene namenlose Frau aus Malina, sie ist jene Franza aus dem Romanfragment, die ihre Geschichte einfach nicht in den Griff, in die Form kriegt« (Wolf 1983, 151). In dem veränderten historischen Kontext am Ende der 1980er Jahre ist dann Wolfs (einen Literaturstreit auslösende) Erzählung Was bleibt (1990) sowohl von Bachmanns verzweifeltem Pessimismus als auch von ihrem hartnäckigen Utopismus erfüllt, wenn die Erzählerin sich einerseits nach einer »anderen Sprache« sehnt, die es ihr erlauben würde, ihre Entfremdung in Worte zu fassen, und sich andererseits auf eine Zeile aus Bachmanns Gedicht Strömung bezieht, um ihre Isolation zu beschreiben: »Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein« (Wolf 1990a, 105; vgl. Lehnert 1994; Van Vliet 1995, 226). Solche Anspielungen lassen sich auch später noch bei Wolf finden, beispielsweise in ihrer Erzählung Leibhaftig aus dem Jahr 2002 – die Ärztin und ›Traumgängerin‹ trägt dort den bezeichnenden Namen Kora Bachmann (Köhler 2007, 45) und die Geschichte endet mit dem Zitat »Du sollst ja nicht weinen« (Wolf 2002, 185; vgl. W 1, 171).
Bachmann und andere Schriftstellerinnen der ehemaligen DDR (Damm, Arlt, Maron) Sigrid Töpelmann, frühere Lektorin im Ost-Berliner Aufbau-Verlag, hat auf Bachmanns Bedeutung für ostdeutsche Schriftstellerinnen der 1980er Jahre hin-
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gewiesen, »vor allem bei jüngeren Autorinnen, durch Christa Wolfs kontinuierliche Hinweise auf Ingeborg Bachmann hervorgerufen. Davon weiß ich durch meine Verlagstätigkeit, auch wenn das im einzelnen schwer nachzuweisen ist« (Töpelmann 1993, 49). Sigrid Damm zitiert eine Passage aus Bachmanns Romanfragment Das Buch Franza im Vorwort ihres Buchs Cornelia Goethe (1987). Im Hinblick auf viele andere DDR-Autorinnen wie Rosemarie Zeplin oder Helga Schubert kann Bachmanns Einfluss wegen thematischer oder formaler Ähnlichkeiten angenommen werden. Die Schriftstellerin Ingeborg Arlt bestätigte in einem Brief an Töpelmann Bachmanns Bedeutung für ihr eigenes Schreiben, besonders ihre »Genauigkeit bis ins letzte Detail« (Töpelmann 1993, 51). So erinnert beispielsweise der Rückzug der Protagonistin in eine »Dürre« in Monika Marons Erzählung Annaeva (1982) an Franzas Flucht in die Wüste (Kanz 1999, 57). Andere Ähnlichkeiten zwischen Bachmann und Maron betreffen ebenso die Darstellung struktureller und verinnerlichter Machtstrukturen, wie sie besonders in Flugasche (1981), Die Überläuferin (1986) und Stille Zeile sechs (1991) deutlich werden (Boa 1994). Es ist zudem kaum vorstellbar, dass Bachmann nicht bei der Darstellung der namenlosen, vergesslichen und dabei geschwätzigen Ich-Erzählerin in Marons Roman Animal triste (1996) Pate gestanden hat. Diese lebt in zeitloser Gegenwart in ihrer kleinen Wohnung, hat absichtlich ihre Sehkraft geschädigt, damit sie nicht sehen kann, was sie nicht sehen will, widmet ihr Leben der Liebe, liebt es, den Namen ihres Liebhabers auszusprechen (»indem man das ›a‹ möglichst dehnt, es tief ansetzt und am Ende leicht nach oben zieht [...], damit der einzige Vokal zwischen den vier Konsonanten nicht zerquetscht wird«; Maron 1996, 18), und wartet vergeblich neben dem Telefon auf den nächsten Anruf ihres Liebhabers, der sie verlassen hat – eine deutliche Reminiszenz an das weibliche Ich in Malina.
Bachmann und feministische Schriftstelle rinnen (Stefan, Duden, Hahn) Natürlich hat auch der Enthusiasmus der westdeutschen Feministinnen für Bachmanns Werk in den 1970er und 1980er Jahren bei jüngeren Schriftstellerinnen in dieser und der folgenden Zeit seine Spuren hinterlassen. So vermuteten einige in dieser Zeit auch, dass thematische Ähnlichkeiten zwischen Bachmanns Roman Malina und Verena Stefans Häutungen
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(1975) von »einer aus gemeinsamen weiblichen Erfahrungen gewachsenen weiblichen Imagination« (Schmidt 1982, 131) herrühren könnten. Aus der Perspektive größerer zeitlicher Distanz ist es jedoch wahrscheinlicher, dass die feministische Rezeption jener Zeit die Voraussetzung für Stefans eigene Formulierung des Diskurses über den Opferstatus von Frauen war. Gemeinsamkeiten zwischen Bachmanns Texten und den Arbeiten von jüngeren westdeutschen Schriftstellerinnen müssen generell nicht notwendig als direkte Einflüsse gewertet werden; vielmehr zeigen sie einmal mehr, dass diese jungen Autorinnen eben jenem Diskurs vertrauen, den Bachmanns Werk zu etablieren mithalf. Es ist bereits mehrfach auf die Ähnlichkeit zwischen Bachmanns und Anne Dudens Texten hingewiesen worden, etwa hinsichtlich der Angst als strukturgebendem Prinzip der weiblichen Existenz für beide Autorinnen (Kanz 1999, Kap. 4). Dudens Figuren ziehen sich ebenfalls in einen ›seelischen Innenraum‹ zurück, und auch bei Duden steht männliche Rede regelmäßig weiblicher Sprachlosigkeit gegenüber, während Frauen sich häufig über ihren Körper ausdrücken. So lassen sich »zahlreiche Spuren« in Dudens Texten finden, die auf Bachmann verweisen, und dazu gehören nicht zuletzt der »Mordschauplatz Gesellschaft, die Permanenz des Krieges, weibliche Mittäterschaft, der Umgang mit Erinnerung und Vergessen, das Anschreiben ›gegen das Verstummen des weiblichen Subjekts‹ oder die andre Wahrnehmung der Zeit« (Frei Gerlach 1998, 311). Durch die bei beiden Autorinnen erkennbare »Ambivalenz dem weiblichen Körper und der Liebe gegenüber« (Baackmann 1995, 141) lässt sich Dudens Das Judasschaf (1985) als eine regelrechte »Fortsetzung des ›Todesarten‹-Projekts« lesen (Frei Gerlach 1998, 345). In ähnlicher Weise schildert auch Ulla Hahn in Ein Mann im Haus (1991) eine »weibliche Abrechnung mit dem Geliebten ›Hans‹«; dabei unterhält ihre Protagonistin Maria »einen heimlichen Diskurs mit der Stimme von Bachmanns Undine« und der der Ich-Figur in dem Roman Malina (Baackmann 1995, 189 f.). Auch Birgit Vanderbekes Erzählung Das Muschelessen, 1990 mit dem Klagenfurter Bachmann-Preis ausgezeichnet, ist deutlich dem MalinaRoman verpflichtet (Van Vliet 1995, 229). In gewissem Sinne ähnlich wie Christa Wolf verweist Jutta Heinrich direkt auf Bachmann, wenn sie ihrem Roman (über den Störfall in dem Atomkraftwerk in Harrisburg, Pennsylvania, im Jahr 1979) den Titel Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein (1981) gibt.
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Bachmann und österreichische Schriftstelle rinnen (Schwaiger, Mitgutsch, Jelinek) Bei den österreichischen Schriftstellerinnen dürfte der Fall zumindest zum Teil etwas anders liegen. Das Ehe-Drama in Brigitte Schwaigers Roman Wie kommt das Salz ins Meer? (1977) und ihre Auseinandersetzung mit einem brutalen Vater ein Jahr später in Mein spanisches Dorf können noch dem von der feministischen Bachmann-Rezeption angeregten Genre ›Frauen als Opfer‹ zugerechnet werden. Im Zusammenhang mit der Erzählerkonstruktion zitiert Anna Mitgutsch in ihren eigenen Grazer Poetik-Vorlesungen mehrfach Bachmanns Frankfurter Vorlesungen (Mitgutsch 1999, 13 f., 83 f., 114). Und auch wenn sich Elfriede Jelinek in ihrem Essay Der Krieg mit anderen Mitteln aus dem Jahr 1984 auf Bachmanns Werk beruft, um den, wie sie sie nennt, »neuen Harmonisierungsautoren und Beschwichtigungsvorturnern« entgegenzutreten (Jelinek 1989, 311), liegt der Schwerpunkt dieses Essays in Übereinstimmung mit den dominanten feministischen Positionen dieser Zeit bei der männlichen Gewalt, der Frauen in allen Zeiten zum Opfer gefallen sind: »Wie die Juden« (ebd., 312). Für Jelinek ist die Liebe daher eine »Fortführung des Kriegs mit anderen Mitteln«, und die männlichen Figuren in Malina sind sein Werkzeug: »Die beiden Männer Ivan und Malina [...] brauchen einander (zwei Platzhirsche, jeder in seinem Revier) nicht einmal wahrzunehmen, während sie die Frau zwischen sich zerquetschen« (Jelinek 1989, 314). Auch bereits Jelineks frühes Drama Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, oder: Stützen der Gesellschaften (1977) spielt auf Bachmann an, wenn die titelgebende Nora feststellt: »Die Geschichte der Frau war bis heute die Geschichte ihrer Ermordung« (Jelinek 1999, 64). Jelinek hat auch einen anderen Aspekt in Bachmanns Schreiben entdeckt und überzeugend herausgearbeitet, die Tatsache nämlich, dass Bachmanns weibliche Gestalten vollkommen die Produkte des Diskurses der sie umgebenden politischen und sozialen Strukturen sind. Figuren wie beispielsweise Erika Kohut in Jelineks Die Klavierspielerin (1983) können als literarische Intensivierungen des Ich in Malina oder der Protagonistinnen des Simultan-Bandes gelesen werden: Figuren, die verstehen, dass sie unglücklich sind, aber nicht über die Schranken hinaussehen können, die die Gesellschaft vor der Einsicht in das Warum dieses Unglücks aufgerichtet hat, und die sich im Gegenteil sogar oft in souveräner Kontrolle über ihr Schicksal wähnen.
Zitate, Verweise, Anspielungen Da Bachmanns Gedichte als Schullektüre und Bestandteil vieler Anthologien zum allgemeinen deutschen und österreichischen Bildungsgut gehören, ist es fast unvermeidlich, dass viele spätere deutschsprachige LyrikerInnen in ihren Arbeiten Bachmann-Gedichte variieren oder auf Zeilen daraus anspielen. So finden sich beispielsweise Anleihen in den Gedichten von Christoph W. Bauer, Robert Gernhardt, Elke Günzel, Alois Hergouth, Friederike Mayröcker, Dagmar Nick und Eva Christina Zeller, in der Prosa von Libuše Moníková (Van Vliet 1995) sowie in Brigitte Kronauers Berittener Bogenschütze (1986) (Eichhörnchen) oder Patrick Süskinds Das Parfüm (1985) (der rächende Engel). Vor allem Bachmanns Gedicht Böhmen liegt am Meer ist beinahe in den allgemeinen Sprachgebrauch der Gebildeten eingegangen, und Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger (im auf das Jahr 2006 vordatierten »Epilog« des fiktiven Timothy Taylor in Ach Europa! von 1987 sowie in einem »Hörspiel aus dem Jahr 2006« mit dem Titel Böhmen am Meer von 1989), Uwe Johnson (in Jahrestage), Volker Braun (in Böhmen am Meer, 1992), Sarah Kirsch, Erich Fried und der Maler Anselm Kiefer (Böhmen liegt am Meer, 1995; Sammlung Burda, Baden-Baden), aber auch weniger bekannte Autoren wie Heinz Czechowski, Peter von Becker und Barbara Köhler haben Bachmanns Gedichte in eigener Sache zitiert oder paraphrasiert. Einige LyrikerInnen haben sich darüber hinaus mit Bachmanns formalen Techniken auseinandergesetzt, so benutzen etwa Ulla Hahn, Barbara Köhler und Gerhard Tänzer die Rondelform von Bachmanns Die große Fracht (Van Vliet 1995, 236 f.). Zweifellos prägte Bachmann die nach ihr schreibende Generation deutschsprachiger AutorInnen, und so reicht die Bandbreite der intertextuellen Anlehnungen und Referenzen von direkten (markierten oder unmarkierten) Zitaten über liebevolle Hommagen bis zum ›Fortschreiben‹ der Legende Bachmann: Der Schriftsteller Peter Handke beispielsweise – wie Bachmann ebenfalls aus Kärnten – spielt in seiner Kindergeschichte (1981) auf die 16 Jahre jüngere Dichterin an, wenn er am Ende der Erzählung ein Dorf mit dem Namen »Gallizien« ›erfindet‹ (Handke 2002, 103). Uwe Timms Roman Vogelweide (2013) wiederum knüpft an die »Geschichte von Ingeborg Bachmann« an, wie sie Frisch in Montauk erzählte: »Die Bachmann trifft in Wien einen älteren Mann, wahrscheinlich Jude, den sie gesehen, aber nicht gesprochen hat. Sie verstanden einander in einem Blick,
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so schien es ihr, und sie floh wie vor einem Schicksal« (Timm 2013, 205 f.). Der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann schlägt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen des Sommersemesters 2014 den Bogen zu den Vorträgen von Ingeborg Bachmann, gut fünfeinhalb Jahrzehnte zuvor. Er hebt dabei ihr geschicktes »Spiel aus Andeutung, Verschlüsselung und Klarheit« (Kehlmann 2015, 11) hervor und kontrastiert die ›unbequeme‹ Geschichte ›verdrängenden‹ Unterhaltungsfilme der Nachkriegsjahre (etwa mit Peter Alexander) mit Bachmanns engagierter Erzählung Unter Mördern und Irren und mit dem Verweis auf die Gedichte Böhmen liegt am Meer und Exil. Um der Art und Weise, wie Bachmanns Werk als »Herausforderung« auf weibliche Autoren wirkt, mehr Geltung zu verschaffen (Studer 1994, 8), hat das Züricher Projekt »Schriftwechsel – Frauen und Literatur« seine Literaturtage 1993 (anlässlich des 20-jährigen Jahrestages von Bachmanns Tod) der ›Antwort‹ Schweizer Schriftstellerinnen auf ihr Werk gewidmet und die Beiträge von neun Autorinnen in dem Band Schriftwechsel: Eine literarische Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmann versammelt. Das Spektrum der Reaktionen reicht von den beiden für Bachmann ›reservierten‹ leeren Seiten bis zu von Bachmann inspirierten Erzählungen und einem Essay, der sich mit Bachmanns Beziehung zu Simone Weil beschäftigt (umfasst allerdings merkwürdigerweise keine Gedichte). Wenngleich angesichts dieser Vielfalt Generalisierungen schwierig sind, lässt sich doch festhalten, dass alle Beiträgerinnen Bachmann vorwiegend mit Respekt, ja Ehrfurcht begegnen – von gelegentlichen Einwänden abgesehen wie dem von Birgit Kempker: »Eigentlich wollte ich mal sagen, sie geht mir auf die Nerven, gehörig, ihr Ernst, die Moral, der Tineff um sie rum, Weltverbessertum, solche Totenreden wie diese« (Kempker 1994, 44). Bachmann hilft den jungen Autorinnen offenbar dabei, Probleme des Schreibens und ihrer eigenen Subjektivität anzusprechen, inspiriert jedoch keine breiteren politischen Themenstellungen – wiederum mit einer Ausnahme: Mariella Mehr (1994) bringt Mirandas Weigerung zu sehen mit Gräueltaten in Sarajevo, Solingen, Mogadischu und anderswo in Verbindung. Und anders als in früheren Jahrzehnten wird Bachmanns Beispiel nicht herangezogen, um die Auseinandersetzung der jungen Schriftstellerinnen mit den Verletzungen, die Männer Frauen zufügen, zu rechtfertigen. Diese fruchtbare Beschäftigung reicht bis in die Gegenwart. Bachmann regte auch lange nach ihrem Tod
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andere Schriftstellerinnen zur Auseinandersetzung und Selbstreflektion an – sei es in der Fiktion wie in Karin Strucks Roman Ingeborg B. Duell mit dem Spiegelbild (1993) oder im kanonischen Nachdenken über ›schreibende Frauen‹ wie zuletzt etwa mit Ursula Krechels Pionierinnen. Stark und leise (2015, 268–287) und Katharina Maiers Ich lebe, um zu schreiben (2017, 224–231). Dies zeigt sich auch an der von Reinhard Baumgart und Thomas Tebbe herausgegebenen Sammlung Einsam sind alle Brücken (2001), die einen guten Überblick der Reaktionen deutschsprachiger SchriftstellerInnen auf Ingeborg Bachmann gibt. Die ausgewählten Autoren gehören unterschiedlichen Generationen an, wobei das Spektrum von der 1909 geborenen Hilde Domin bis zu dem 1967 geborenen Autor Franzobel reicht, so dass die Beiträge auch in Form und Interessenschwerpunkt sehr stark variieren. Die Haltung der älteren Autoren hat sich im Lauf der Jahrzehnte kaum geändert: Bewunderer ihrer Gedichte und weniger interessiert an der (oder verwirrt durch die) Prosa, tragen sie oft immer noch zu dem ›Mythos Bachmann‹ bei, erinnern an ihre »Allüre« (Kaiser 2001) und z. B. an die Kleidung, die sie bei der Lesung in New York trug (Demetz 2001, 32). Wie die Schweizer Autorinnen des Projekts »Schriftwechsel« stellen sich die SchriftstellerInnen der mittleren Generation die Welt mit Bachmanns Augen vor und deuten ihr eigenes Leben im Spiegel von Bachmanns Werk. Ulrike Draesner, die jüngste Frau in dem Band, wendet sich Bachmann zu, um herauszufinden, wie diese »versuchte, die Schale«, in die sie als weiblicher Schriftsteller gezwungen wurde, »zu sprengen« (Draesner 2001, 137). Der Österreicher Franzobel, Bachmann-Preisträger von 1995, tut sie dagegen als »Eine erste Pop-Ikone der österreichischen Literatur« (Franzobel 2001, 105) ab. In dem abschließenden Beitrag des Bandes erinnert Peter Hamm an ein Marcel Proust-Zitat, das Bachmann zu ihrem eigenen gemacht hat: »In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, nur ein Leser seiner selbst« (Hamm 2001, 141; vgl. KS, 240; W 4, 179), und fragt im Rückblick auf seine erste Begegnung mit ihren Gedichten: »Was brauchte ich 1953 von Ingeborg Bachmann?« (141). Diese Frage scheinen sich auch viele jüngere Autorinnen und Autoren im 21. Jahrhundert zu stellen, bei denen Ingeborg Bachmann jedoch (im Gegensatz zur schreibenden Generation zuvor) kaum noch als Traditionslinie oder Referenzpunkt eine Rolle zu spielen scheint. So bleibt etwa auch eine dezidierte Auseinandersetzung der GewinnerInnen des Kla-
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genfurter Bachmann-Preises der vergangenen Jahre (vor und nach ihrer Teilnahme) mit Bachmann meist aus – hier sticht lediglich Nora Gomringer mit ihren reflexiven Überlegungen zur »Dichtungssprache« (Gomringer 2011, 100) heraus. Bachmanns Werk jedoch bleibt weiterhin präsent, und das auch einem breiteren Lesepublikum gegenüber. Dafür spricht beispielsweise die Aufnahme des Romans Malina als Band 97 in die »Süddeutsche Bibliothek« (2008) wie auch in die Feuilleton-Reihe »Scheck’s Kanon« in der Tageszeitung Die Welt (10. März 2018). Quellen
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4 Literarische Rezeption und Wirkung Literatur
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Jonas Nesselhauf / Sara Lennox (2002)
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I Grundlagen – B Rezeption und Wirkung
5 Rezeption in Film und Fernsehen Bachmann-Bilder im Fernsehen Ingeborg Bachmann stand schon früh im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Die mediale Konstruktion des Autorinnen-Bildes wird mit Begriffen wie Ikonographie oder gar Hagiographie beschrieben, es ist von Mythologisierung und schließlich von Entmythologisierung die Rede (vgl. Hemecker 2011). Prägnante Fernsehbilder stammen z. B. aus dem Jahr 1961 – Bachmann liest bei der von Walter Höllerer veranstalteten Reihe »Literatur im technischen Zeitalter« in der Berliner Kongresshalle, es sind mehr als 1500 Personen anwesend und das Fernsehen ebenfalls. 1964 ist die Autorin bei der Verleihung des Büchner-Preises im Fernsehen zu sehen, 1968 bei der Verleihung des österreichischen Staatspreises und mehrfach auch in verschiedenen Dokumentationen über die Gruppe 47 (Braun 2011). Von erheblichem Einfluss sind die frühen Filmporträts von Gerda Haller (1969, 1973, 1974) und Dieter Zilligen (1971), die noch zu Lebzeiten Bachmanns entstehen, in denen die Autorin mit Interviewäußerungen zu sehen ist und auf die bis heute immer wieder Bezug genommen wird. Schon bei Haller (1974) kommen auch Menschen aus Bachmanns Umfeld zu Wort, so etwa Hans Werner Henze, Uwe Johnson und Hans Mayer, die ganz unterschiedliche und auch widersprüchliche Erinnerungen und Eindrücke schildern, welche zu festen Bestandteilen des Bachmann-Bildes werden. Peter Hamm, der sich für den bis heute vielbeachteten Film Der ich unter Menschen nicht leben kann aus dem Jahr 1980 reisend der Autorin annähert, wobei ihm das Porträt schließlich – wie er selber formuliert – zu einer »Liebeserklärung« gerät, entwirft eine Art Metabiographie, die die Autorin umkreis, über eine subjektive Annäherung gar nicht hinaus kommen will und doch dauerhafte Zuschreibungen entstehen lässt. Hamm zeigt Ausschnitte aus den früheren Porträts und lässt verschiedene Weggefährten zu Wort kommen, so etwa Reinhard Baumgart, Max Frisch, Hans Weigel, Henry Kissinger, eine ehemalige Mitschülerin, einen Kollegen vom Radio und schließlich die Arztgattin Heidi Auer und die Freundin Christine Koschel, die unterschiedliche Vermutungen zum Tod von Ingeborg Bachmann äußern. 1991 greift Lucie Hermann in einem kurzen Porträt hauptsächlich auf bereits vorhandenes Material zurück, während Martina Zöllner 1993 einen veränderten Zugang versucht: im Film Keine Delikatessen macht sie die Unmöglichkeit einer objektiven Biographie
zum Thema, lässt die Literaturwissenschaftler Hans Höller und Sigrid Weigel zu Wort kommen und versucht das Werk Ingeborg Bachmanns in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu betrachten (Mittermayer 2011). Zu Bachmanns 70. Geburtstag entsteht eine neue 30minütige Fernsehdokumentation von Romy Martinis und zum 75. Geburtstag ein Filmbeitrag über die Römischen Reportagen von Jutta Günther und JörgDieter Kogel. Während frühere Porträts Bachmann eher als exilierte Dichterin zeigen, versucht Herwig Kohla in Vorbereitung des Bachmann-Preises 2004 die Autorin mit seinem Film wieder in Klagenfurt zu beheimaten (Braun 2011). 2005 zeigt das Fernsehen ein Feature über die Beziehung zwischen Bachmann und Frisch von Peter Beringer und ein Jahr später wird ein Beitrag über die Freundschaft zwischen Bachmann und Henze (Beilharz 2006) ausgestrahlt. Der Film von Angelika Kellhammer mit dem Titel Ähnlichkeiten mit Ingeborg Bachmann. Portrait von Ingeborg spielt 2014 auf Bachmanns Entwurf Portrait von Anna Maria an, bleibt in seiner Machart aber konventionell. Typisch ist für etliche der filmischen Porträts, dass Perspektive und Kontext der gezeigten Bilder nicht direkt nachvollziehbar sind und dass Literarisches und Autobiographisches sich stark vermischen.
Verfilmungen Erste Pläne zur Verfilmung von Werken Ingeborg Bachmanns gab es bereits in den Jahren 1959 und 1961. Anfragen zur Verfilmung des preisgekrönten Hörspiels Der gute Gott von Manhattan lehnt die Autorin aber zunächst ab und fasst dann 1962 den Plan, den Text gemeinsam mit dem Regisseur Egon Monk zu verfilmen. Sie schreibt in einer gemeinsamen Hamburger Arbeitsphase ein Drehbuch und will sich an der filmischen Umsetzung aktiv beteiligen. Als Produzent wird Gyla Trebitsch gewonnen, da sich aber kein Verleiher für das Kino findet, kann dieses Projekt nicht realisiert werden. Bachmann plant mit Monk weiter und verfasst in den Jahren 1962/63 einen Drehbuch-Entwurf zur Verfilmung der fragmentarischen Erzählung Portrait von Anna Maria, die sie der verschiedenen Perspektiven wegen für nur filmisch passend umsetzbar hält (GuI, 35). Im Nachlass finden sich außerdem Entwürfe für eine Fernsehfassung von Ein Wildermuth und 1973 gibt es Pläne zur Verfilmung von Erzählungen mit dem Regisseur Wolfgang Glück, die aber nicht mehr ihre Umsetzung finden (vgl. Kresimon 2006).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_5
5 Rezeption in Film und Fernsehen
Die erste Verfilmung eines Bachmann-Textes entsteht schließlich ohne die Mitarbeit der Autorin: 1970 wird der Fernsehfilm Blaues Wild nach der Erzählung Unter Mörder und Irren erstausgestrahlt und in der Presse recht ausführlich besprochen. Dabei wird nachvollziehbar, dass der Film in einem nüchtern-realistischen Stil angelegt ist und die Stammtischgespräche, die im Original nur angedeutet werden, in (zu) ausführlichen Dialogen einen Großteil des Films ausmachen. Isolde Moser erinnert sich, dass ihre Schwester Ingeborg Bachmann trotz recht guter Kritiken mit der Verfilmung nicht ganz zufrieden war (Kresimon 2004, 194). 1972 strahlt das ZDF eine Verfilmung des Hörspiels Der gute Gott von Manhattan aus – Ingeborg Bachmann hatte dem Regisseur und Drehbuchautor Klaus Kirschner die Rechte zugesprochen, war an der filmischen Umsetzung aber nicht beteiligt (vgl. ebd., 190). Die vorliegenden Rezensionen verweisen lobend auf den Ursprungstext, halten aber bis auf eine Ausnahme den Versuch der Verfilmung für gescheitert. Besonderes kontrovers wird diskutiert, dass echte Eichhörnchen vorkommen und die Rolle des Guten Gottes mit der zehnjährigen Nina Palmers besetzt ist. An der Schauspielerin Verena Buss, die Jennifer verkörpert, wird eine absichtsvolle Ähnlichkeit mit Bachmann wahrgenommen. Die Rolle des Jan übernimmt Matthieu Carrière, der fast 20 Jahre später die Titelrolle in Malina spielen wird. Über Bachmanns eigene Haltung zu der Verfilmung ist bislang nichts bekannt. Erst nach Bachmanns Tod entsteht Wolfgang Glücks Fernsehfilm Das Gebell, der 1976 ausgestrahlt und in der Presse vornehmlich positiv besprochen wird. Es folgt noch im selben Jahr die abendfüllende Fernseh-Verfilmung von Drei Wege zum See durch den späteren Oscar-Preisträger Michael Haneke, der 2001 auch Die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek verfilmen wird. In der Rückschau geht man davon aus, dass Haneke erst mit seinen Arbeiten für das Kino ab 1989 seine radikale und oft verstörende Filmsprache entwickelt hat. Drei Wege zum See arbeitet mit zahlreichen Rückblenden und Montagen (vgl. Horwath 1991; Ruttner 2002) und deutet inhaltlich schon auf Hanekes späteres Leitthema hin, dass – wie auch eine Filmtrilogie aus den Jahren 1989 bis 1994 – als die »Vergletscherung der Gefühle« bezeichnet wird (Kaul/Palmier 2018, 10). In Vorbereitung auf die erste Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises entsteht 1977 eine Verfilmung von Jugend in einer österreichischen Stadt, bei der der Text aus dem Off eingesprochen und mit aktuellen Filmbildern der Stadt kombiniert wird. 1978
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nimmt Margareta Heinrich als Studentin der Filmakademie Wien die Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha zur Vorlage für den Kurzfilm Zwielicht, der weniger als Literaturverfilmung denn als feministischer Film wahrgenommen und 2017 beim QueerFilm-Festival der Akademie in digitalisierter Form erneut gezeigt wird. Eine bebilderte Lesung ist der Film Biographisches – Besichtigung einer alten Stadt von Wolfgang Steuer aus dem Jahr 1981. Die Schauspielerin Ursula Schult, die schon die Hauptrolle bei Haneke spielte, liest die entsprechenden Texte – unter Einfügung einer Passage aus Malina –, wobei im ersten Teil Bilder der genannten Orte eingeblendet werden. Im zweiten Teil ist die Lesung mit einer durchaus komischen filmischen Variante einer Touristentour durch Wien unterlegt. In den folgenden 1980er Jahren dreht die Fernsehregisseurin Dagmar Damek die Filme Nachtgelächter nach der Erzählung Alles und Das ganz helle Licht nach der Erzählung Der Schweißer. Beide Verfilmungen hinterlassen in der Presse und in der Bachmannforschung wenig Spuren, ebenso wie der Film Franza, der 1986 nach den Romanfragmenten Das Buch Franza und Requiem für Fanny Goldmann unter der Regie von Xaver Schwarzenberger entsteht, die Psychopathologie der Protagonistin in den Vordergrund stellt und die Bezüge zum Faschismus und Kolonialismus weitgehend außer Acht lässt. Auf den Spuren von Das Buch Franza dreht 2002 der Regisseur Ludwig Wüst 2002 mit Ägyptische Finsternis seine erste Filmarbeit als Low-Budget-Produktion, die im Programmkino gezeigt wird. Eine Adaption des Romans im engeren Sinne wird hier offenbar gar nicht angestrebt – der Film zeigt die Reise einer Frau in die ägyptische Wüste, lässt ihr Verschwinden vermuten und deutet mit Textfragmenten aus dem Off nur auf den Roman hin. Im Jahr 2000 präsentiert das Fernsehen Lesungen der Erzählungen Alles und Das Gebell mit kleinen Einspielfilmen. 1992 verfilmt die Regisseurin Margareta Heinrich eine weitere Erzählung Ingeborg Bachmanns: Ihr glücklichen Augen. In diesem Fernsehfilm siedelt die Regisseurin die Handlung größtenteils in Rom an und wählt mit Cornelia Köndgen eine Schauspielerin, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Bachmann hat. In der Presse wird dieser Zusammenhang durchaus wahrgenommen, die wenigen Besprechungen sind überwiegend negativ und sehen Anklänge von Kitsch. Eine Besonderheit unter den Bachmann-Verfilmungen findet man 2003 im Kinofilm Poem, in dem der Regisseur Ralf Schmerberg 13 deutschsprachige Gedichten filmisch in Szene setzt. Die Schauspielerin Anna
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I Grundlagen – B Rezeption und Wirkung
Böttcher verkörpert hier eine überforderte Familienmutter am Rande des Nervenzusammenbruchs, die dem Chaos in ihrer zu kleinen Mietwohnung für kurze Zeit entrinnen kann, wenn sie den Kopf in einen riesigen Luftballon steckt und Bachmanns Gedicht Nach grauen Tagen rezitiert. Hier gelingt es, den Text in ein Setting zu stellen, das von seinem Entstehungszusammenhang und von der Biographie der Autorin losgelöst ist und gerade dadurch seinen Kern trifft. Die aktuellste Bachmann-Verfilmung liegt schließlich mit Die Geträumten vor. Hier lässt die Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann zwei junge Menschen im Wiener Funkhaus aus dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan lesen, in improvisierten Pausen-Szenen das Gelesene reflektieren und über das eigene Leben philosophieren. Ihr gelingt eine unaufdringliche filmische Annäherung, die Widersprüchlichkeiten und Missverständnisse nicht glättet, sondern bestehen lässt und die Zuschauer dazu anregt, den Briefwechsel der Literaten selbst zur Hand zu nehmen.
Werner Schroeters Malina-Verfilmung Die größte Publikumswirkung und den stärksten Einfluss auf die Bachmannrezeption und -forschung hat Werner Schroeters Verfilmung von Malina nach einem Drehbuch von Elfriede Jelinek erlangt. Der Film kommt 1990 ins Kino, gewinnt im selben Jahr den Produzentenpreis des Bayerischen Filmpreises und 1991 mehrere Filmbänder in Gold. Malina wird in Cannes gezeigt und das Presse-Echo auf diesen Film ist insgesamt beachtlich. Im Feuilleton und in der Bachmannforschung entwickeln sich kontroverse, oft auch polemische Diskussionen. Alice Schwarzer schreibt: »Schroeter Malina verfilmen zu lassen, das ist, wie wenn Riefenstahl die Gebrüder Oppermann drehen würde« (Schwarzer 1991, 20), und Inge von Weidenbaum und Christine Koschel veröffentlichen einen äußerst kritischen Artikel mit dem Titel »Barbarische Verfälscher« (Koschel/Weidenbaum 1991), der sich auf die Filmschaffenden sowie auf Schwarzer bezieht. Die Kontroversen entzünden sich im Wesentlichen an der Frage nach dem autobiographischen Gehalt des Romans und seiner Verfilmung. Während Bachmann den Roman ausdrücklich nur als eine »geistige, imaginäre Autobiographie« (GuI, 73) bezeichnet hat, betonen Schroeter, Jelinek und auch die Hauptdarstellerin Isabelle Huppert in verschiedenen Interviews den autobiographischen Zusammenhang,
der auch im Presseheft mehrfach herausgestellt wird. In manchen Rezensionen werden diese Zuschreibungen unkritisch übernommen, in anderen kontrovers diskutiert. Für die Bachmannforschung bedeutet der autobiographische Zugang einen Rückfall in die Rezeptionshaltung der 1970er Jahre – darauf verweist etwa Heidi Borhau (1994) und grenzt sich in ihrer Malina-Deutung deutlich von dieser Lesart ab –, während der autobiographische Blickwinkel in anderen Publikationen der 1990er Jahre durchaus wieder aufgenommen wird. Da das letzte Drittel des Films von einem Flammenszenario geprägt ist, rückt auch die Frage nach einer literarischen Vorwegnahme des eigenen Sterbens und damit einer Leben-Werk-Tod-Synthese wieder in den Fokus. Trotz aller Streitbarkeit dieser These hat das Schroetersche Flammenspiel als visuelle Assoziation einen festen Platz in der Rezeptionsgeschichte von Malina eingenommen. Ihren Höhepunkt findet die Kontroverse um die Verfilmung von Malina damit, dass Alice Schwarzer (1991) die gewagte These aufstellt, die Inzest-Thematik sei autobiographisch motiviert und Bachmann ein Missbrauchsopfer ihres Vaters. Obwohl die Vatergestalt in Malina in der Bachmannforschung meist weiterhin als Symbolfigur verstanden wird, ist die von Schwarzer angestoßene Debatte auch losgelöst vom Film Teil des Diskurses über Bachmanns Werk geworden. So deutet etwa Edith Bauer (2006) den Roman erneut autobiographisch und beklagt, dass die »provokante Inzestthematik« (ebd., 173) von der Bachmannforschung weitgehend ausgeblendet werde, und Regina Schaunig (2014) vermutet aus der Analyse des Frühwerks ein tatsächlich erlebtes Gewalttrauma der Autorin. Neben der autobiographischen rückt durch die Verfilmung von Malina auch noch einmal die feministische Lesart der 1980er Jahre in den Blickpunkt, vor allem weil Jelineks Drehbuch und ihre Interviewäußerungen klar hier zu verorten sind und mit ihrer Polarisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit eine Festschreibung von Geschlechteridentitäten vornehmen, die der Roman so nicht vorsieht. Dort heißt es – in heutiger Terminologie explizit genderkritisch – vielmehr: »Ein Mann, eine Frau ... seltsame Worte, seltsamer Wahn« (TKA 3.1, 687 f.), vermeintlich natürliche Geschlechterrollen werden ironisch dekonstruiert (vgl. etwa TKA 3.1, 579 f.) und es gibt Elemente einer androgynen Utopie (vgl. Thau 1986, 115–131; Kresimon 2002). Übersehen wird häufig, dass Schroeter in seinen Filmbildern und mit der »großen Ausdruckskraft seiner Zeichen« (Seiderer 1994, 24) über die ver-
5 Rezeption in Film und Fernsehen
engende Jelineksche Sichtweise hinausgeht, Malina in mehreren Szenen deutlich als Doppelgängerfigur erkennbar macht und die unbeschadet durch die Flammen schreitenden Körper als künstlich-künstlerische Produkte und nicht als Repräsentanten einer ›tatsächlichen‹ Geschlechteridentität zeigt (Kresimon 2002; zum Vergleich von Roman, Drehbuch und Film auch Bartsch 1994; Gleichauf 1995). Kleinere Debatten, die im Zusammenhang mit der Verfilmung geführt wurden, kreisen um die Fragen nach Doppelgängerroman oder Dreiecksgeschichte und um Zerstörung oder Selbstzerstörung der Ich-Figur. Gesellschaftskritik, Geschichtsbewusstsein und Sprach- und Kommunikationsproblematik des Romans werden ebenfalls thematisiert. Während die utopischen Aspekte des Romans kaum Erwähnung finden, gibt es einige Hinweise auf humorvolle und komische Elemente (vgl. Kresimon 2004). Insgesamt hat die Verfilmung zu einer deutlichen Wiederbelebung des nachlassenden Interesses an dem Roman geführt und neue Diskurse hervorgebracht. Bei allen Literaturverfilmungen ist Studien zufolge davon auszugehen, dass sie ein breites und heterogenes Publikum erreichen und als nicht unwesentliche Teile der Rezeptionsgeschichte zu verstehen sind. In der Forschung werden die Verfilmungen dabei zunehmend nicht mehr als Adaptionen verstanden, sondern als »eine besondere Form des Zitierens innerhalb eines neuen medialen Kontextes« (Hermann 2005, 13). Die Zuschauer sind durch die intermedialen Referenzen herausgefordert, so auch, wenn ein Darsteller in dem australischen Arthouse Film Sleeping Beauty (2011) von Julia Leigh über die sexuelle SelbstUnterwerfung einer jungen Studentin mehrere Minuten lang aus Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr rezitiert oder sich in Gabriele Hochleitners Dokumentarfilm Die Stadt und die Erinnerung (2001) plötzlich ein römischer Bodybilder als Bachmann-Leser zu erkennen gibt. Quellen (1): Film- und Fernsehbeiträge zu Ingeborg Bachmann in chronologischer Folge
Haller, Gerda: Zu Gast bei Ingeborg Bachmann. ORF 1969. Zillingen, Dieter: Mit meiner verbrannten Hand schreibe ich über das Feuer. Autorenportrait der Dichterin Ingeborg Bachmann. NDR 1971. Haller, Gerda: Ingeborg Bachmann in Italien. Autobiographische und dichterische Notizen. ORF 1973. Haller, Gerda: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. ORF 1974. Hamm, Peter: Der ich unter Menschen nicht leben kann. Auf den Spuren Ingeborg Bachmanns. SWR/ NDR/WDR 1980. Hermann, Lucie: Rückblende: Ingeborg Bachmann. HR 1991.
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Zöllner, Martina: Keine Delikatessen. SDR 1992. Martinis, Romy: Ingeborg Bachmann. Wer? 3Sat/ORF 1996. Günther, Jutta/Kogel, Jörg-Dieter: Römische Reportagen. Ingeborg Bachmann als Rundfunkautorin. RB 2001. Kohla, Herwig: »Ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe ...« Ingeborg Bachmann und die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. 3Sat/ORF 2004. Beringer, Peter: Bachmann gegen Frisch. Eine beispielhafte Liebesgeschichte. Schweizer Fernsehen/ORF 2005. Beilharz, Norbert: Partitur einer Freundschaft. Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze. SWR 2006. Kellhammer, Angelika: Ähnlichkeiten mit Ingeborg Bachmann. Portrait von Ingeborg. BR 2014.
Quellen (2): Filme und Verfilmungen in chronologischer Folge
Schulze-Rohr, Peter: Blaues Wild. BR 1970 [Unter Mördern und Irren]. Kirschner, Klaus: Der gute Gott von Manhattan. ZDF 1972. Glück, Wolfgang: Das Gebell. ORF 1976. Hanecke, Michael: Drei Wege zum See. SWF/ORF 1976. Dickermann, Fred: Jugend in einer österreichischen Stadt. ORF 1977. Heinrich, Margareta: Zwielicht. Österreich 1978 [Ein Schritt nach Gomorrha]. Damek, Dagmar: Nachtgelächter. BR 1984 [Alles]. Damek, Dagmar: Das ganz helle Licht. BR 1986 [Der Schweißer]. Schwarzenberger, Xaver: Franza. ORF 1986. Schroeter, Werner: Malina. Deutschland 1990. Sander, Klaus/Schubert, Sebastian: Alles und Das Gebell. 3Sat 2000. Heinrich, Margareta: Ihr glücklichen Augen. ORF/ZDF 1992. Hochleitner, Gabriele: Die Stadt und die Erinnerung. Österreich 2001. Wüst, Ludwig: Ägyptische Finsternis. Österreich 2002. Schmerberg, Ralf: Poem. Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug. Deutschland 2003. Leigh, Julia: Sleeping Beauty. Australien 2011. Beckermann, Ruth: Die Geträumten. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Österreich 2017.
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I Grundlagen – B Rezeption und Wirkung
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Andrea Kresimon
II Das Werk
A Lyrik 6 Frühe Gedichte Überlieferung und Gliederung der frühen Lyrik (1944/45–1952) Der Textkorpus der frühen Lyrik mit dem Übergang vom Jugendwerk zum Hauptwerk ist bisher nicht zusammenhängend editorisch erschlossen. Da also eine Ausgabe noch nicht vorliegt, einzelne Gedichte jedoch – zum Teil in Auszügen – an verstreuten Stellen im Faksimile oder als Zitat veröffentlicht worden sind, bedarf es zunächst einer Bestandsaufnahme zur Druck- und Entstehungsgeschichte dieser Anfangsphase von Ingeborg Bachmanns lyrischem Werk. Sie bezeugt die auch von Bachmann hervorgehobene erstaunliche »Quantität« (GuI, 112). Die erste öffentliche Lesung (der Gedichte Vision und Der Gärtner, 17.11.1948, Programm bei McVeigh 2016, 104) und die ersten Gedichtveröffentlichungen verdankt Bachmann dem jüdischen Remigranten Hermann Hakel. Hakel veröffentlichte Montagmorgen in der Weltpresse (8.12.1948; Beicken 1992, 48) und vier Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus (Wien Dezember 1948/Januar 1949): [Abends frag ich meine Mutter], [Wir gehen, die Herzen im Staub], [Es könnte viel bedeuten] und Entfremdung. Das Gedicht Der Gärtner erschien durch Hakel in der Anthologie Aussage und Bekenntnis der studentischen Jugend im Gedicht (Wien, Mai 1949, 41; McVeigh 2016, 103). Drei Jahre nach der Einzelveröffentlichung Betrunkner Abend (Zeitschrift Die Zeit, Wien, 15.4.1949) werden im Anschluss an die Tagung der Gruppe 47 die fünf dort gelesenen Gedichte im NWDR Hamburg am 27.5.1952 aufgenommen: Entfremdung, Dem Abend gesagt (Faksimile einer als »alte Fassung« gekennzeichneten Vorstufe; McVeigh 2016, 101), Wie soll ich mich nennen?, Vision / Jetzt schon zum dritten Mal der Donnerschlag, Menschenlos sowie die fünf Gedichte des Zyklus Ausfahrt, darin [Die Welt ist weit] (schon veröffentlicht im zweiten Band von Hans Weigels Anthologie Stimmen der Gegenwart 1952, nicht in Die gestundete Zeit aufgenom-
men; vgl. McVeigh 2016, 243). Zum ersten Mal veröffentlicht sind in der Werkausgabe 1978 Hinter der Wand, [Beim Hufschlag der Nacht], zum ersten Mal gedruckt dort [Die Häfen waren geöffnet] (NWDR Hannover 4.6.1952) sowie [Noch fürcht ich] (N319; datiert: Wien, November 51; NWDR Hannover 3.11.1952). Vor all diesen Veröffentlichungen ist der bisher ungehobene Schatz der Jugendgedichte entstanden. Er weist 352 Blätter mit oft präzisen Daten zu Entstehungsort und -zeit sowie Umarbeitung aus. Dieser Nachlass enthält auch ein Schulheft mit der Aufschrift »1945 Bachmann« mit 27 Gedichten. Aus dem Textkorpus der Jugendwerke druckt die Werkausgabe sechs Gedichte eines Zyklus aus 15 Gedichten: Bewegung des Herzens. Als Zyklustitel erscheinen im Nachlass zunächst handschriftlich »Der Wanderer« und »Stundenwanderung« (N6193), bis maschinenschriftlich neben einem doppelt gesetzten, in Großbuchstaben gesperrt gedruckten Titel-Entwurf »Ich im Spiegel« Titelalternativen oder Untergruppentitel wie »Ruhelose Wanderschaft«, »Bewegung des Herzens« und »Rast im Traum« benannt werden (N6167) und schließlich auf einem Einzelblatt »Bewegung des Herzens« (N6166) erscheint, möglicherweise vorgesehen für das am 23.7.1946 bei Rudolf Felmayer in Wien zur Veröffentlichung eingereichte Konvolut (Höller 1999, 39). Wohl durch die Ordnungsarbeit der Erben entstand eine ›Nachlassgruppe‹: Im Krieg (N144; Höller 1987, 172), Ich frage (N145, N5788: 2.11.45; W 1, 624), Aufblickend (N146, N5568: 22.7.45; W 1, 625), Im Sommer (N147 [Auszug in Bothner 1986, 123], N5596: 4.7.45; W 1, 627), Klage (N148, N6260; N6286: 25.11.45, »von Ende Oktober Umarbeitung«; Auszug in Bothner 1986, 125), Gedanke (N149), Abschied (N150, N572: Innsbruck September [45]), Übermaß (N152), Depressionen (N153, N6261; N62891: 25.11.45, »Vom 9.2.1945«; Auszug in Bothner 1986, 89), Vor Sonnenuntergang (N154, N6266/67: 11.2.45), Tagwerden (N156), Einem Winter entgegen ... (Teil I: N151, N62792/80, Arzl 19.11.45; Teil II: N156a, N6295: 18.12.45; W 1, 629 f.), Offenbarung (N157,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_6
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II Das Werk – A Lyrik
N5581: »Februar 45, neubearbeitet Okt. 45 Arzl«; Bothner 1986, 116 f.), Nach grauen Tagen (N158, N6334: erster Entwurf »10. Oktober 1944, Klagenfurt«; W 1, 624), Schranken (N159, frühere Fassung N5742: 7.11.44; W 1, 628). Bothner bringt ungekürzt das Gedicht Ängste (N6188; Bothner 1986, 103 f.; N6336: 8.12.[45]), daneben im Auszug die Gedichte Vor einem Instrument; Abkehr; Ich möchte still sterben / So möcht ich sterben still vor Seligkeit; Göttliches; Die unirdische Welle; Zwischen Tag und Nacht; Die schöne Nacht. Oh, welch ein Glanz ist heute in der Nacht; Bekenntnis; Vergeblichkeit; Kunst und Natur; Mein Herz spricht; Trauer. Veröffentlicht wurden auch die Gedichte Glaube (N6221, Vorstufe zu Gebet, N5566: Sommer 45; Hapkemeyer 1983, 22; Weber 1986, 132); Trüber Sinn (N6242, N6296: 29.12.45; Hapkemeyer 1983, 26); An der Brücke stehen die Soldaten (N403; Bothner 1986, 81, Datierung unklar); Befreiung (N400a; Höller 1987, 171); [Unstillbar. Ich reise in einem winterlichen Wald] Die Nacht entfaltet den trauernden Teil des Gesichts (N397, 397a; Höller 1987, 175), ebenso die Gedichte die fallen in seine Gelenke (N343; Höller 1987, 183 f.) und Im Feindesland (N286; Höller 1987, 184 f.; und unter dem Titel »Das Feindesland« datiert »um 1950« in Bartsch 1997, 41; unter dem Titel »In Feindeshand« den frühen 1960er Jahren zugeordnet in Bachmann 2000, 5 und 138 f.). Separat veröffentlicht wurden An Kärnten (1944) (Bachmann 1981; vgl. Weigel 1999, 317: N5727), Warum bist Du so ferne? 18. Mai 45, dritter Text in singulär expliziter Versform in: Briefe an Felician, datiert vom 16.5.45–27.5.46 (Bachmann 1991, 12), sowie Faksimiles zum Gedicht Vor einem Instrument (datiert 29.6.46; N6175 schon bei Höller 1987, 140 und 323). Eine frühere Zyklus-Komposition mit dem Titel »Die pfadlosen Gänge« bzw. »Am/Vor dunklen/m Weg« erscheint auf einem Blatt mit einem auf den 2.7.45 datierten Gedicht (N5567): [Sehnsucht Glut sank, versank] (N6196/97, N57961: 22.7.45), Silberner Tag (N5744: 6.11.44), Zünde Lichter (N5742: 7.11.44), In der Sturmnacht (N6263), Liebesgedicht. / An deinem Strome hab ich getrunken (N6222), Dein Wunsch sei (N5785), Wenn Du vom Lichte bist (N5745: Sommer 45), Buntes Abendspiel am Firmament (N5747), [Ein Tag vergeht] (vgl. N58261), Eine einzige Stunde (N6334: 10.10.44, Klagenfurt, Vorstufe zum Gedicht Nach grauen Tagen), [Und sei die Erde], [Was für die Sonne geht], Die dunklen Wünsche (N6286: »25.11.45 von Ende Oktober Umarbeitung«), Wenn ich Dein denke (N5597: 2.7.; vgl. Briefe an Felician: Bachmann 1991, 39 [Vellach, 30.3.46]).
Zwei weitere Zyklus-Konzepte von 5 bzw. 6 Gedichtgruppen – letztere betitelt als »Abend«, »Abstieg und Besinnung« bzw. »Aufbruch und Offenbarung« – stehen mit sehr vielen Variationen auf dem Blatt N5574; »Abstieg und Besinnung« wird erneut in zwei Kompositionen von 15 bzw. 11 Gedichten auf dem Blatt N5677 projektiert: Einschlägige Titel sind An den Frieden (N6275), Melancholie (N5787: Klagenfurt 23.7.45); Trauer (N5575: Innsbruck 5.10.45); Nachtbild. // Geschlossen erst, wird mir das Auge wach (N6300–6301: 11.3.46). Als Konvolut erscheinen mit der Eintragung von fremder Hand »Ingeborg Bachmann Graz, Haydng. 10/II/18«, datiert 29.6.46: Vor einem Instrument. // Ich könnte dienen und mich selbst ertränken (N6175) und Gestirn des Glückes. // Oh, wie ich mich ans Herz der Welt verschwende (N6232). Eine kritische Edition der frühen Gedichte ist überfällig.
Bachmanns frühe Lyrik im literar historischen Kontext Die frühe Lyrik aus der Zeit der Matura Bachmanns in Klagenfurt und der Studienjahre in Innsbruck, Graz und Wien kann nur dialektisch betrachtet werden: Für sich stehend treten pubertäre Selbstvergewisserung und rebellisches Aufbegehren in klarer Imperativik heraus; gelesen auf der Folie des Gesamtwerkes müssen die poetologisch-politischen Problemkonstanten des »Lastbewußtseins« (Höller 1987, 172; Höller 1999, 32, aus dem Gedicht Ich frage [2.11.45]) bzw. der Formel »Ich bin das Immerzu-ans-Sterben-Denken« (Hinter der Wand; Behre 2000a; Weigel 1999, 238) ebenso in ihrem Ursprung erkannt werden wie die Leitmotive »Dunkelheit« und Liquid-Dionysisches als Prinzipien des Kunstausdrucks gegen die starre Überbelichtetheit des verdrängenden Totschweigens (Behre 1991 und 2000b). Die Struktur des Zyklischen ist offensichtlich angestrebt (Eberhardt 2002; Graf 2011). Durch biographische Entschlüsselungen wurde der Zyklus lyrischer Prosa, Briefe an Felician (Bachmann 1991), auf Bachmanns Deutschlehrer in der Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt bezogen, die sie im Winter 1944/45 besuchte. Es handelt sich um den Kärntner Schriftsteller Josef Friedrich Perkonig, der zunächst als Deutschnationaler der NS-Ideologie zugewandt war, aber 1943 gegen die Aussiedlung von Kärntner Slowenen protestierte (Höller 1999, 24–27; Weigel 1999, 478). Die Streichung der ursprünglichen Widmung zum Gedicht Liebesgedicht. An deinem Strome hab ich getrunken, »An 〈Josef 〉« bzw. »Hfr. Perkonig«, in An Fe-
6 Frühe Gedichte
lician (N6222) verweist auf ihn. Bachmanns Gedicht erstveröffentlichungen wurden bisher monokausal auf die Unterstützung durch den jüdischen Remigranten und zeitweiligen Geliebten Hans Weigel zurückgeführt, bis Joseph McVeigh die wichtigeren Leistungen der Förderer (und teilweise Weigel-Konkurrenten) Hermann Hakel, Rudolf Felmayer und Siegfried Melchinger belegte. Letzterer betonte anlässlich einer Lesungseinführung Ende 1949/Anfang 1950 Bachmanns Ausgangspunkt im Philosophiestudium: »Sie sucht Weltbild und Weltklang der Zeit. [...] Vielleicht sind es nur die Fragen, die Rätsel, die Geheimnisse, die sie mehr weiss. [...] In einer Zeit, in der sich so vieles hinter Mauern und Zäunen verschliesst, ist Offenheit schon ein Verdienst« (zit. nach McVeigh 2016, 106 f.). Bachmanns ›Wiener Lyrik‹ gewinnt in den vier Gedichten, mit denen sie sich Ende 1948 in der Zeitschrift Lynkeus als Lyrikerin vorstellte, einen zwiespältigen Charakter zwischen Abendgebetsidylle in partiellem Paarreim und Musiksemiotik ([Abends frag ich meine Mutter]), zwischen lyrischem Traditionalismus des Vergänglichkeitspathos im Kreuzreim und autopoietisch-metareflexivem Selbstbezug im Korrekturzeichen des ›Selbst-Ausstreichens‹ ([Es könnte viel bedeuten]), zwischen schicksalergebener Selbstbezichtigung und herausforderndem Reimpaar »Trott: Gott« ([Wir gehen, die Herzen im Staub]; W 1, 11) sowie zwischen Reimlosigkeit mit existentialistisch-naturlyrischen Fragen und dialektisch-erkenntnistheoretischer Semantikkritik in dem Gedicht mit dem signifikanten Leitmotiv-Titel Entfremdung (W 1, 13). Vom Wiener literarischen Leben strebte Bachmann weg zur bedeutenderen und liberaleren westdeutschen Literaturszene der Gruppe 47, nachdem sie sich von Hans Werner Richter über dessen Kontakt zu Ilse Aichinger im April 1952 ›entdecken‹ ließ und dort zunächst weiter in der Wiener Gruppe auftrat. Dabei sorgte sie auch für Paul Celan, der in seinem Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952) – fast vollständig schon im (zurückgezogenen) Band Der Sand aus den Urnen (1948) – 23 von 56 Gedichten der Du-Adressatin Bachmann (»f. D.«) sowie 21 von 33 aus dem Band Sprachgitter (1959) im Dezember 1957 gewidmet hatte (Bachmann/Celan 2008, 73). Wie Celans Lyrik wurde auch die Bachmanns in die Tradition Georg Trakls gestellt, in die Nähe expressionistischer, zugleich philosophisch-abstrakter wie existentiell-sensualistischer Traumsprache. Schon in den beiden ersten Gedichten Montagmorgen und Der Gärtner ist das Zugleich der Kontrasterfahrung von Alltag und Feiertag sowie »Zerronnen« und »Gewonnen« gestaltet, auf der Basis
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der Traditionen des Großstadtgedichts und des Rondels. Bachmanns und Celans gemeinsamer Ausgangspunkt waren weniger die »Hymnen der Liebesseligkeit und des Liebesschmerzes« (Weidenbaum 1997, 27) als der »Faschismus als Schibboleth« (Brügmann 1991), der, bei Perkonig und Weigel als historische Erfahrung verleugnet und in Heimatdichtung bzw. Wiener Operettenatmosphäre umgedeutet, für Celan zum Ausgangspunkt und Ort der Schreibexistenz wurde. Zeichen der Erinnerung konnten biographisch fundierte Anlässe eines magischen Realismus, antirationalistische Tore zur inneren Gegenwelt des Fühlens sein, konnotative Weisheiten der Bilder sowie zu surrealistischen Traumchiffren sich weitende ›Hieroglyphen aus dem Buch der Natur‹: »Mohn« (Höller 1999, 57) bzw. »Türkenbund« (TKA 3.2, 932). Literaturgeschichtlich-systematisch wurde Bachmanns Lyrik zusammen mit der Lyrik Celans von Walter Jens 1961 als ›neue Lyrik‹ ausgerufen (vgl. Weigel 1999, 410; Höller 1999, 73) und von der Literaturkritik als Distanzierung zur Lyrik Gottfried Benns verstanden. Benn hatte am 21.10.1951 den GeorgBüchner-Preis erhalten mit der Begründung, dass er »seine Form gegen die wandelbare Zeit« setze (Benn 1989, 711). (Das Urteil über Benns Werk als ›radikal realitätsenthobene Artistik‹ [Bartsch 1997, 50] kursiert bis heute.) Bachmanns und Celans Formgebungen mit ihren Gedichtbandtiteln (Die gestundete Zeit und Der Sand aus den Urnen/ Mohn und Gedächtnis) zielen dagegen auf die Reflexion des Wandels in der Zeit. Wie sehr Benn die Ich-Erzählerin in Malina als Spiegelungsfigur Bachmanns beeinflusst, zeigt das Zitat »Der Ruhm hat keine weißen Flügel« (TKA 3.1, 390), das in Benns Ausdruckswelt in einer Reihe von poetologischen Honoré de Balzac-Zitaten genannt ist: »Ein Wort wiegt schwerer als ein Sieg«, »Es gibt Existenzen, in die greift der Zufall nicht ein«, »Wer Dichtung sagt, sagt Leid« (Benn 1990, 41).
Bachmanns frühe Lyrik im Spiegel der Forschung Die Thematik in Bachmanns Gedichten aus der Zeit vor dem ersten Gedichtband benennt Susanne Bothner als individualgeschichtlich motivierte »Todesangst« und Hans Höller als »Lastbewußtsein« (Ängste; Bothner 1986, 75; Höller 1987, 172; vgl. Höller 1993). Beide Forscher sehen eine traumatische, für eine Generation stellvertretend geäußerte Klage bzw. Anklage. Martin Heideggers Existenzialphänomenologie der
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›Furcht‹ und ›Angst‹, Charles Baudelaires ›Abgrund‹, Friedrich Hölderlinsche Licht- und Nacht-/SchattenMythologie, Rainer Maria Rilkesches ›Umkreisen‹ Gottes und ›Ausgesetztsein‹ in der Welt sowie die mediterrane Ausfahrt-Motivik mit Ufer und Schiff können durch Lektürenotate im Kriegstagebuch (Bachmann 2010, 11) neu betrachtet werden. Hieß es bisher, dass die Gedichte bloße Signaturen von »Nachkriegsmentalität« (Weigel 1999, 237) seien mit »Fehlen jeder Bewegung des Widerstandes« (Höller 1987, 177), ›ausschließlicher Konzentration auf das eigene Leid‹ und ›weinerlicher Selbstbeschau‹ ohne utopische Gegenenergie und dichterisches Selbstbewusstsein, ohne Aktivität (Bartsch 1997, 42 f.), sollte nun von ihrem Statement zu Heinrich Bölls Büchern ausgegangen werden: »der Krieg ist ihm nur Anlaß zur Prüfung des Menschen; sie [Bölls Bücher] sind unpolitisch, denn die historische Zeit ist reduziert auf die Zeit des einzelnen« (KS, 14). Hier scheint Bachmanns späteres Konzept der »Geschichte im Ich« (KS, 299; W 4, 230) auf, eine existentialistische »Feuerprobe« (KS, 14), im Zugleich von Zeit-, Welt-, Selbst-Erkenntnis und Bekenntnis. Darin liegt der Ich-Ton der Gedichte begründet, der durch Bachmanns selbst bezeugte Lektüre des Rilkeschen Stundenbuches (im Schaffensprozess zum Band Die gestundete Zeit) gestützt wird. Komplementär zur Ich-Findung ist die dialogische Bezogenheit von IchDiktion und Du- wie Wir-Apostrophe (oder reflektierter Selbstanrede) eklatant, die für einen philosophischen Wegbegleiter Bachmanns (Michael Benedikt 1986) der entscheidende Impuls zur Dichtung ist. In Bezug auf die literaturgeschichtliche Situation der 1950er Jahre waren Bachmanns Einschätzungen der Ausdrucksformen, die oftmals als ›religiöse Lyrik‹, ›Trostlyrik‹ und ›Naturlyrik‹ desavouiert wurden (Bartsch 1997, 50), deutlich differenzierter (GuI, 18). In ähnlicher Weise sind die Vorwürfe der »Unbestimmtheit«, des ›verschwimmenden Ungefährs lyrischer Urklänge‹ (Blöcker 1989, 15) bis zum ›Kassandra-Ton im Vagen‹ (Korte 1989, 57) fragwürdig, wenn gesehen wird, wie bewusst sich Bachmann der Unbestimmtheit als ästhetischer Leistung der Übergenauigkeit ist, als »Möglichkeit der Freiheit, des Ausbruchs aus den Determiniertheiten« und Absage an »Gewißheiten« (Stauf 2000, 40 f.; Behre 1991) im Sinne einer kulturkritischen »Unbestimmtheit der Verortung als kollektives Zeitschicksal« (Weigel 1999, 240). Eine Historisierung der individuellen, tagebuchartigen Gedichte ist ebenso notwendig wie die historiographische Einschätzung der Aufarbeitung der Vergangenheit als Akt individualisierter Aussprache bzw. dia-
logischer Gewissenserforschung. Dabei zeigt sich der dichterische »Absolutheitswahn«, den Bachmann für sich als Maßstab – und nicht als von Grass geäußerten Vorwurf – akzeptierte (Bachmanns Brief an Henze vom 29./30.8.1965; Bachmann/Henze 2004, 267). Beim Versuch der Abgrenzung der frühen Texte von den im Band Die gestundete Zeit Ende Dezember 1953 veröffentlichten zeigt sich in letzterem der zeittypische Ton des Appellativen (Bartsch 1997, 42) und damit eine in der Tradition Bertolt Brechts – »lyrischer Plakatstil« (Blöcker 1989, 14) – geschätzte politische, »hochgespannt-kaltblütige Didaktik« (Rühmkorf 1973, 15), die mit der als männlich konturierten Perspektive eines ›strategischen Blicks‹ (Höller 1999, 81; Bartsch 1997, 42) als Unbestechlichkeit, Freiheit und Aufklärungswille verbunden wird. Die frühen Gedichte gewinnen dagegen ihren Reiz aus der Unmittelbarkeit von Leiderfahrung mit expliziten Benennungen wie »Ketten«, »Qual«, ›Leiden‹, ›Zerschossensein‹, durch Tränen ›verglaste Augen‹. Insofern ist, kulminierend im Spiegel-Artikel vom 18.8.1954, die Rezeption der frühen Lyrik Bachmanns als weltflüchtige Botschaft einer »Feindlichkeit der Zeit und Erlösung in Schlaf und Traum« (Hotz 1990, 60) ein Missverstehen, das einer Revision bedarf. Es lohnt sich, McVeighs Statement weiter zu belegen: »Viele der Gedichte, die Ingeborg Bachmann vor 1953 verfasste, gehören – darüber ist sich die Forschung einig – zu ihren besten« (McVeigh 2016, 112). Den poetologischen Maßstab, gleichzeitig die philosophische »Feuerprobe«, offenbarte Bachmann als Literaturkritikerin selbst in der Trias: »[V]ollkommene, plastische Bilder, den persönlichen Ton und die menschliche Tiefe und Reife, die dem Dichter das Recht gibt, anzuklagen« (Brief Bachmanns an Ernst Suchan vom 15.2.1952, Nachlass Hans Weigel, zit. nach McVeigh 2016, 113). Weiterzuverfolgen ist auch Sigrid Weigels Hinweis, dass Bachmann zunächst Prosa schrieb und veröffentlichte, für ihren nicht veröffentlichten Wien-Roman Stipendien erhielt, dann aber durch Lyrik berühmt wurde, der Topos der »gefallenen Lyrikerin« also zu revidieren ist (Weigel 1999, 22 und 46–53). Joachim Eberhardts Feststellung (2002, 108), dass Bachmann zwischen Mai 1949 und 1952 keine Lyrik veröffentlichte, lässt sich durch den Abschluss der Dissertation am 19.12.1949 bzw. das Rigorosum am 18.3.1950, den Nervenkollaps (Juli 1950, vgl. Bachmann/Celan 2008, 256) sowie die Aufenthalte in Paris bei Celan und in London erklären (Auftritt in der Anglo-Austrian Society als Repräsentantin des neuen Österreichs, 14.10.1950–7.3.1951; McVeigh 2016, 226).
6 Frühe Gedichte Quellen
Bachmann, Ingeborg: An Kärnten. In: Die Brücke 7 (Klagenfurt 1981), Heft 2, 50. Bachmann, Ingeborg: Briefe an Felician. Mit acht Kupferaquatinta-Radierungen von Peter Bischof. München/ Zürich 1991. Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München/Zürich 2000. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann, Hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2010. Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt a. M. 1998. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Der Briefwechsel. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. Benn, Gottfried: Ausdruckswelt. Essays und Aphorismen. Stuttgart 1990. Benn, Gottfried: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1989. Hapkemeyer, Andreas (Hg.): Ingeborg Bachmann. Bilder aus ihrem Leben. Mit Texten aus ihrem Werk. München/ Zürich 1983.
Literatur
Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart/Weimar 21997. Behre, Maria: Die zumutbare Unbestimmtheit. Naturphilosophie des Liquiden und Dunklen im Frühwerk Ingeborg Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge 17 (1987–90), 1991, 163–184. Behre, Maria: Das Gedicht als existentiale Methode des Lebens im Immerzu-ans-Sterben-Denken bei Ingeborg Bachmann. In: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.): »Über die Zeit schreiben« 2. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg 2000a, 95–110. Behre, Maria: Ingeborg Bachmanns Gedicht »Enigma« – ein letztes Gedicht als Neuanfang. In: Primus-Heinz Kucher/ Luigi Reitani (Hg.): »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien/Köln/Weimar 2000b, 264–278. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. München 21992. Benedikt, Michael: Abschied von der Philosophie und Versuch einer Poetologie. Ingeborg Bachmanns Paralogismus der Ersten Person. In: Jean Paul Barbe/Werner Wögerbauer (Hg.): L ’oeuvre et ses situations. Actes du colloque 29, 30 et 31 Janvier 1986 Nantes. Nantes 1986, 179–180. Blöcker, Günter: Die gestundete Zeit (Rez. 1954). In: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives
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Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München/Zürich 1989, 13–15. Bothner, Susanne: Ingeborg Bachmann. Der janusköpfige Tod. Versuch der literaturpsychologischen Deutung eines Grenzgebietes der Lyrik unter Einbeziehung des Nachlasses. Frankfurt a. M. 1986. Brügmann, Margret: Verstoßene Väter – verstörte Töchter. Faschismus als Schibboleth im Werk von Wolf, Bachmann und Duden. In: Yoshinori Shichiji (Hg.): Begegnung mit dem »Fremden«. München 1991, 261–266. Eberhardt, Joachim: »Es gibt für mich keine Zitate. » Intertextualität im dichterischen Werk Bachmanns. Tübingen 2002. Graf, Daniel: Wiederkehr und Antithese. Zyklische Komposition in der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Heidelberg 2011. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a. M. 1987. Höller, Hans: Eine Kriminalpoetik der Moderne. Malina in der Lyrik Ingeborg Bachmanns. In: Dirk Göttsche/Hubert Ohl (Hg.): Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposium Münster 1991. Würzburg 1993, 81–91. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 1999. Höller, Hans: Schallmauer und In Feindeshand. Zwei späte unveröffentlichte Gedichte von Ingeborg Bachmann. In: Primus-Heinz Kucher/Luigi Reitani (Hg.): »in die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort ...« Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien/Köln/Weimar 2000, 263–278. Hotz, Constance: »Die Bachmann«. Das Image der Dichterin: Ingeborg Bachmann im journalistischen Diskurs. Konstanz 1990. Korte, Hermann: Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945. Stuttgart 1989. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien. 1946–1953. Berlin 2016. Rühmkorf, Peter: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen [1960]. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden – Westdeutsche Literatur 1945–1971, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1973, 1–27. Stauf, Renate: »Komm. Nur einmal. Komm.« Epiphanieerfahrungen bei Ingeborg Bachmann. In: Wolfgang Braungart/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden III: um 2000. Paderborn 2000, 29–41. von Weidenbaum, Inge: Ist die Wahrheit zumutbar? In: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge. Frankfurt a. M. 1997, 23–28. Weber, Hermann: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns. Essen 1986. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Maria Behre
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7 Die gestundete Zeit Text-Geschichte und Komposition des Lyrik bandes Ingeborg Bachmanns erster Gedichtband Die gestundete Zeit erschien im Herbst 1953 in der von Alfred Andersch herausgegebenen Buchreihe »Studio Frankfurt« bei der Frankfurter Verlagsanstalt. Die Erstausgabe enthält bereits den Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime »Der Idiot«, eine Auftragsarbeit für den Komponisten Hans Werner Henze. 1957 wurde der Lyrikband mit einigen Veränderungen im Piper-Verlag (München) neu aufgelegt. Das frühere Motto-Gedicht – Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen – wurde, mit dem Titel Im Gewitter der Rosen versehen, in den Zyklus integriert, das Gedicht Beweis zu nichts wurde weggelassen (vgl. Bareiss/Ohloff 1978, 7). Die Bachmann-Werkausgabe von 1978 nennt als Referenz-Edition die Ausgabe 1964 (die der von 1957 entspricht). In der Werkausgabe von 1978 werden im Anmerkungsapparat die wichtigsten Zeitschriften-Erstveröffentlichungen angeführt, da die meisten Gedichte 1952 und 1953 zunächst in verschiedenen Zeitschriften, Zeitungen (Merkur, Frankfurter Hefte, Die Literatur, Wort und Wahrheit, Die Neue Zeitung) und Hörfunkaufnahmen (NWDR Hannover, HR Frankfurt) erschienen. Eine erste thematische Gruppierung liegt mit den fünf Gedichten des Zyklus’ Ausfahrt in den Stimmen der Gegenwart vor (Wien 1952; Vorbemerkung von Hans Weigel vom November 1951). Das zweite Gedicht des Ausfahrt-Zyklus (Die Welt ist weit) wurde nicht in den Lyrikband Die gestundete Zeit übernommen, die Reihenfolge umgestellt, neue Titel eingesetzt und Textveränderungen vorgenommen, die im Wesentlichen auf eine Reduktion der mythologischen Anspielungen zielen. Im Bachmann-Nachlass des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien sind zu einigen Gedichten Entstehungsvarianten erhalten, die (besonders bei Früher Mittag) aufschlussreich sind, weil sie textgenetisch die Ausdifferenzierung des lyrischen Gedächtnisdiskurses dokumentieren. Auf einem handschriftlichen Textzeugen (N2646) ist eine Skizze der Abfolge der Gedichte im Lyrikband erhalten. Unter der senkrechten Kolonne der Gedichttitel mit den daneben notierten Nummern steht der von Strichen eingerahmte Name Paul – ein Indiz für die Gegenwärtigkeit Paul Celans bei der Konzeption des Lyrikbands. Kompositorisch gliedert sich der Band in drei Teile,
zu denen als selbständiger Teil noch der Monolog des Fürsten Myschkin hinzukommt. Die drei Teile umfassen neun, acht und sechs Gedichte. Thematische Akzente werden durch die jeweils ersten Gedichte gesetzt: I – Ausfahrt, II – Sterne im März, III – Brücken. Die kompositorische Anordnung dürfte vor allem ›musikalischen‹ Prinzipien folgen, also der Variation von längeren und kürzeren Gedichtformen, der Kontrapunktik von Sprechhaltungen und genrespezifischen Sprechweisen, von hohem Ton und Parlando, von szenischer Dramatik, Klage und Elegie. Auch erzählerische Elemente und die »hochgespannt-kaltblütige Didaktik« (Rühmkorf 1973, 15) sind Teil der Vielfalt der lyrischen Stimmen. Die Kohärenz des Bands ergibt sich durch die thematische Arbeit an zentralen inhaltlichen Komplexen wie Erinnerung und Gedächtnis oder die durchgängige Haltung des Widerstands gegen die restaurativen Tendenzen der Zeit. Hierher gehört auch das Titelmotiv der ›gestundeten Zeit‹: die nicht genutzte, schon wieder schwindende Chance eines Neubeginns nach 1945. Die offensichtliche politische Dimension von Bachmanns erstem Gedichtband wurde von der Zeitungskritik und der literaturwissenschaftlichen Forschung zwar wahrgenommen, aber der Stellenwert von Gedächtnis und Erinnerung, die Problematik der Geschlechterverhältnisse und der weiblichen Autorschaft, auch die Frage des Scheibens nach Krieg und Vernichtung, wurden erst seit den späten 1980er Jahre zu einem zentralen Forschungsgegenstand. Bedenkt man die Tatsache, dass Bachmann zu Lebzeiten vor allem als Lyrikerin berühmt war, überrascht außerdem die relativ kleine Anzahl neuerer literaturwissenschaftlicher Studien zu Die gestundete Zeit. Der geplante entsprechende Band der Salzburger Bachmann Edition (Bachmann 2021), mit einem umfangreichen textkritischen und literaturwissenschaftlichen Kommentar von Irene Fußl versehen, dürfte dazu beitragen, den ersten Gedichtband im größeren Kontext der Zeit und von Bachmanns Werk neu zu entdecken.
Rezeptionsgeschichtliche Skizze Die »zeitgeschichtliche Schicht, Problemschicht und Sprachschicht« in Bachmanns Lyrik (Eggert 1991, 180) wurde erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum Gegenstand der Forschung (Bothner 1986; Höller 1987), nachdem zuvor Ute Maria Oelmann (1980) in einer Untersuchung zur poetologischen Lyrik die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_7
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Konstellation von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Günter Eich in den Blick gerückt hatte. Die Erklärung der ästhetischen Dimension der Gedichte aus der Verbindung von zeitgeschichtlicher Geistesgegenwart und historischem Gedächtnis wurde zu einem neuen Forschungsparadigma, das Andrea Stoll (1991) auf die einprägsame Formel »Erinnerung als ästhetische Kategorie des Widerstandes im Werk Ingeborg Bachmanns« brachte. Dieses Erkenntnisinteresse und ein neuer Blick für die lyrische Formen-, Genre- und Stimmenvielfalt in den Gedichten, für Variationsverfahren und Kontrapunktik, rhythmische Gesten und Klangbilder bestimmen den von Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani herausgegebenen Interpretationsband zu Bachmanns Lyrik (Kucher/Reitani 2000, zuerst Udine 1996). Mitte der 1990er Jahre rückte mit Holger Gehles Studie zu NS-Zeit und literarische[r] Gegenwart bei Ingeborg Bachmann (1995) die Frage des Schreibens im geschichtlichen Raum des Nach-Auschwitz auch ins Zentrum der Auseinandersetzung mit der Lyrik. Gehles Arbeit bedeutete einen Paradigmenwechsel in der Bachmann-Forschung und gab eine avancierte Position geschichtsbewusster philologischer Erkenntnis vor, die dann in den Untersuchungen zu den intertextuellen Beziehungen zwischen den Werken Paul Celans und Bachmanns (Böttiger 1996; Böschenstein/ Weigel 1997) und in Sigrid Weigels Bachmann-Buch (Weigel 1999) weitergeführt worden ist. Weigel favorisiert Lesarten, die die Intertextualität und Vielstimmigkeit der Gedichte betonen. Traditionelle lyrische Kategorien wie Gesang, Komposition, Musik werden als Textverfahren transparent gemacht, zeitgeschichtliche Bedeutungen werden zurückgestuft gegenüber den Signaturen und Mythologemen poetischen Sprechens. In einer exemplarischen Analyse wird Dunkles zu sagen als »Bachmanns Orpheus-Gedicht« verstanden, das den mythischen Ursprung »einer wunderbaren Kunst aus der Klage« nachvollziehen lasse (Weigel 1999, 137). Die »Referenz auf Gesang und Musik in den Texten verschiedener Genres« aus den 1950er Jahren liest Weigel »auch als eine Bewegung [...], die zur Dialogizität und Polyphonie von Bachmanns späterer Prosa führt« (ebd., 135).
Text-Polyphonie und Geschichte Aber man kann die Gedichte nicht nur als ein Wegstück zur späten Prosa ansehen, sondern die »Dialogizität und Polyphonie« bereits hier, in den Texten der
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1950er Jahre, lesbar machen. Die Gedichte haben Anspruch auf eine derartige ré-lecture, damit das inzwischen Vergessene und Verdrängte, die Zeichensprache eines unverwechselbaren geschichtlichen Augenblicks, in Erinnerung gerufen wird und zentrale sprachliche Bilder oder Mythen – »Herz«, »Schatten«, »Orpheus« – ein geschichtliches Antlitz erhalten. Die neue Orpheus-Konstellation liege in der Verbindung von »Klagelied, Liebestod und Kunst« (Weigel 1999, 135), an »die Stelle eines ›natürlichen‹ Ursprungs (der Dichtung aus dem Klagegesang)« trete in Bachmanns Orpheus-Gedicht »die Gewinnung von poetischen Bildern aus der verfehlten Liebesrettung als einer Art zweiten Todes« (ebd., 141): »Die Entstellung von Liebesmetaphern in Todesbilder«, die sich in den »an ein Du adressierenden Strophen« ereigne, »referiert auf eine Situation, in der auch das Du den ›dunklen Fluß‹ an sich vorbeiziehen sah« (ebd., 140): Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch naß war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluß sahst, der an dir vorbeizog. Die Saite des Schweigens gespannt auf die Welle von Blut, griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz. (Dunkles zu sagen; W 1, 32)
Die intertextuellen Korrespondenzen bzw. der Dialog mit einzelnen Gedichten aus Celans Lyrikbänden Der Sand aus den Urnen und Mohn und Gedächtnis können auch konkreter benannt werden. Ein Titel wie Dunkles zu sagen ist mehr als ein »dunkle[r] Nachklang« an Celans Corona-Gedicht (Weigel 1999, 136). Bachmanns Verwendung von Celanschen Chiffren ist, im Sinne von Gottfried Benns Lyrikverständnis, eher eine »Zumutung!«. Benn verwendet diesen Ausdruck, mit einem Ausrufezeichen versehen, in einem Brief an Wilhelm Oelze für sein Orpheus-Gedicht Orpheus’ Tod (1946), in welchem er »die Dinge sehr hart nebeneinander gesetzt« habe – was vom Leser »studiert werden u. bedacht« werden müsse (Benn 1986, 444). Die ganz andere »Zumutung« in Bachmanns Dunkles zu sagen liegt aber darin, wie sie sich auf Celan be-
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zieht und dessen Sprachbilder so hart nebeneinander setzt, dass der Traditionsbruch in der Ausdeutung des Orpheus-Mythos nach 1945 unabweisbar ist. Denn die Verse der beiden mittleren Strophen – »Verwandelt ward deine Locke / ins Schattenhaar der Nacht, / der Finsternis schwarze Flocken / beschneiten dein Antlitz« – stellen nicht nur eine dialogische Beziehung zum thematischen Bild des »Aschenhaars« in Celans Todesfuge her. Viel konkreter und härter ist Bachmanns semantische Engführung mit Celans Schwarze Flocken, jenem Gedicht in Der Sand aus den Urnen, das am direktesten die Ermordung seiner Eltern anspricht, den Genozid im »Land, wo der breiteste Strom fließt«: »Schwarze Flocken // Schnee ist gefallen, lichtlos [...]« (Celan 2000, Bd. 3, 25). Wenn in ihrem Orpheus-Gedicht das angesprochene Du »den dunklen Fluß« an sich vorbeiziehen sah, denkt sie im mythischen Bild Celans Geschichtslandschaft der Shoa mit. Das »Geschehene«, um an Celans Wort aus seinem Wiener Jené-Essay (1948) zu erinnern, war auch im Hinblick auf die literarische Tradition des alten Orpheus-Mythos »mehr als ein mehr oder minder schwer entfernbares Attribut des Eigentlichen, sondern ein dieses Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes, ein starker Wegbereiter unausgesetzter Verwandlung« (Celan 2000, Bd. 3, 156).
Der Myschkin-Monolog Diese »Verwandlung« lässt sich selbst an den Texten nachweisen, die dem »Eigentlichen« der literarischen Überlieferung genau zu folgen scheinen, wie im Fall von Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime »Der Idiot«, dem letzten, relativ selbstständigen Teil des Lyrikbandes Die gestundete Zeit. Der Monolog ist bis zur Dissertation von Françoise Jérôme (1998) in der Forschung nur ausnahmsweise untersucht worden (Bothner 1986; Grell 1995). Erst Jérôme hat die im Bachmann-Nachlass erhaltenen Überlegungen zu dem Bühnen-Gedicht ernst genommen: Die »Idee zu diesem Ballett« sei zwar dem »gleichnamigen Roman Dostojewskis entnommen«, aber es könne aufgrund seiner gattungsspezifischen »Möglichkeiten« »den Absichten des Romans nicht folgen« – »ja, es macht sich völlig frei von diesen Absichten und folgt seinen eigenen« (N3796, zit. nach Jérôme 1998, 3). Bachmann wendet sich damit unausgesprochen gegen Tatjana Gsovskys ästhetisch unbefriedigende, handlungsorientierte Wiedergabe des Romans, die sie durch ihren neuen Text ersetzen wollte. In Jérô-
mes Dissertation wird Bachmanns Monolog des Fürsten Myschkin als auto-poetische, sprach-bewusste Neukonzeption gewürdigt und auf dem Hintergrund der ›Problemkonstanten‹ von Bachmanns Werk – Utopie, Sprachbewusstsein, Trauma-Gedächtnis – erklärt. Man könnte aber auch, im Sinne des Gedichts Dunkles zu sagen, noch stärker die Hermetik eines monologisierenden Sprechens betonen, das auf die Erhellung von »Schmerz«, »Stummheit« und »Krankheit« nach 1945 hinauswill: (O Qual der Helle, Qual des Fiebers, nah an anderen Fiebern, unsrer gerechten Krankheit gemeinsamer Schmerz!) Laß den stummen Zug durch mein Herz gehen, bis es dunkel wird und, was mich erleuchtet, wieder zurückgegeben ist an das Dunkel. (W 1, 62)
Die Eingangsstrophen des Monologs explizieren jene sprachliche Hermetik, die uns in den Bildern der ›Verwandlung‹, der dunklen Wolke in anderen Gedichten des Lyrikbands, begegnet. Das »Herz«, Chiffre für das Ich und seine Sprache, wird durchquert von dem »stummen Zug«, der es verdunkelt. Aufgabe des Ich ist es, in seiner Sprache das »Dunkel« zu erleuchten. In traditionellen Genitivmetaphern wie »Qual der Helle« oder »unsrer gerechten Krankheit / gemeinsamer Schmerz!« ist die Schmerz- und Wahrnehmungspoetik enthalten, die Bachmann später in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden (1959) diskursiv entfaltet wird. So ist es gerade der eher durch Zufall in den Lyrikband aufgenommene Text für eine Ballettpantomime, der dazu beiträgt, ihre hermetische Poetik »unausgesetzter Verwandlung« (Paul Celan) noch stärker zum Ausdruck zu bringen. Gleich in der ersten Strophe begegnet die auch in anderen Gedichten vorkommende Chiffre der »Wolke«. Das Ich versteht sich »selbst« als »ein Gefäß für jene Wolke, / die vom Himmel fiel und in uns tauchte, / schrecklich und fremd« (W 1, 62). So beginnt mit der ersten Strophe des Myschkin-Monologs ein »dichterisches Selbstgespräch« (Jérôme), das in den thematischen Wörtern »Trauer«, »Schmerz«, »Wolke« die nach 1945 verwandelten Bedingungen des Sprechens und der Sprache reflektiert. Auch die zentrale Thematik der Todesstrafe in Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Idiot kehrt in Bach-
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manns Monolog verwandelt wieder als tief in das Ich hineingesenkte Erfahrung des Schreckens. Myschkins unverlierbares »Gesicht« meint bei Bachmann einen Blick, der vom Entsetzen und von der Vernichtung nicht loskommt und den dezidierten Bruch mit der Rainer Maria Rilkeschen Welt ästhetischen Gestaltens bedeutet – »(Kein Gesicht, das abends von innen reift!)« (W 1, 68). Dieser Blick kehrt indirekt in anderen Schreckens-Gesichten des Lyrikbandes wieder, mit denen sich Bachmanns Gedicht von den vielen »[w]ohlmeinenden, / von keiner Verachtung getroffnen« Zeitgedichten der frühen 1950er Jahre abheben (Holz und Späne; W 1, 40). In Malina wird das »zweite Gesicht«, das die Prinzessin von Kagran nach der Begegnung mit »dem Fremden« bekommen hatte, als Wissen um den Holocaust thematisiert: »Sie lächelte aber und lallte im Fieber: Ich weiß ja, ich weiß!« (TKA 3.1, 357). Dieses Wissen, das sich dem ›zweiten Gesicht‹ verdankt, steckt bereits in der hermetischen Schreibweise einiger Gedichte von Die gestundete Zeit. Es ergibt jene Aufspaltung des Sinns in mehrere Lesarten selbst dort, wo die Texte auf den ersten Blick nur der Tradition oder den zeittypischen Ausdrucksformen und Motivkomplexen zu folgen scheinen.
Vergessene Text-Stimmen Die Dialogizität und Vielstimmigkeit der Gedichte ist insofern Gegenstand einer Konstruktion, als wir selber es sind, die solche Dialoge und Korrespondenzen lesbar machen. Wir drängen die Textstimmen zurück, die nicht mehr in unsere Gegenwart passen, wir übergehen sie oder wir rücken sie in den Blick, je nach den kulturellen Dispositiven unseres Heute. Man braucht nur an die heute in Bachmanns Gedichten vergessene Stimme von Ilse Aichinger zu denken. Mit ihr kam Bachmann aus Wien nach Niendorf an der Ostsee, trat ins Licht der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit – und, so sah es Walter Jens, »plötzlich« hatte sich die deutsche Nachkriegsliteratur verändert. In seiner Literaturgeschichte der Gegenwart hat Jens die Lesung von Celan, Bachmann und Aichinger auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf 1952 als Gründungsmythos einer neuen Literatur nach dem sogenannten »Kahlschlag« erzählt (Jens 1961, 150). Die »Sekunde des Umschlags«, das war der suggestive Zauber der Stimmen von Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger. Für Jens evozierten sie eine nicht-veristische Poetik, die er mit Österreich und Wien assoziierte.
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Tatsächlich hatte es in Wien nach 1945 keine Stunde Null und keine Programmatik des literarischen Kahlschlags gegeben. Die skeptischen jungen Schriftsteller teilten mit den antinazistischen älteren, meist aus der Emigration zurückgekehrten Autoren die Vorbilder Rilke, Georg Trakl, Karl Kraus oder Robert Musil, und in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg erlebte der Surrealismus in Wien seine Wiederauferstehung. Es ist bezeichnend, dass in der letzten Nummer der wichtigsten österreichischen Literaturzeitschrift nach dem Krieg, im Plan (Heft 6, 1948), 17 Gedichte von Celan erschienen, bezeichnend auch, dass Celans Reflexion über die Sprache der Dichtung nach der Shoa zum ersten Mal in Wien in einem Beitrag über einen surrealistischen Künstler veröffentlicht wurde: Edgar Jené und der Traum vom Traume (Celan 2000, Bd. 3, 155–161). Aichinger gehörte 1946 mit ihrem Aufruf zum Mißtrauen gegen den erinnerungslosen Wiederaufbau und gegen den blinden Rekonstruktionswillen ebenfalls zu den Plan-Autoren. Ihr Roman Die größere Hoffnung (1948) wurde das einzige Werk der unmittelbaren Nachkriegszeit, das über die Grenzen des Landes hinaus wirkte und zugleich die zeitgenössische Literatur in Wien beeinflusste, vor allem Bachmanns Lyrik. Gleich im ersten Gedicht von Die gestundete Zeit, in Ausfahrt, ist im Fluchttraum der kindlichen Romanheldin, die auf einem Schiff aus dem nationalsozialistisch besetzten Europa fort möchte, als Subtext das erste Kapitel von Aichingers Roman zu erkennen: »Die Dunkelheit landete und bewegte sich langsam gegen Norden. [...] Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa eingelaufen« (Aichinger 1991, 9). Von der einbrechenden Dunkelheit hebt sich Ellens Aufbruchswunsch als »ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel« ab (ebd.). Der Zynismus des Konsularbeamten, bei dem das jüdische Kind wegen eines Visums vorstellig wurde, wird im Roman utopisch gewendet in die paradoxe Figur eines existentialistischen dépassement: »›Wer sich nicht selbst das Visum gibt‹, sagte der Konsul, ›der kann um die ganze Welt fahren und kommt doch nie hinüber‹« (20). Vermessener Selbstentwurf in die Zukunft, obwohl die Grenzen geschlossen sind, Aufbruch angesichts ungangbarer Wege, Sehen in der Dunkelheit, Utopismus und Illusionslosigkeit – es sind die Motive, die auch aus Bachmanns erstem Gedichtband nicht wegzudenken sind: »gegen den unverrückbaren Himmel zu stehen, / der ungangbaren Wasser nicht zu achten / und das Schiff über die Wellen zu heben, / auf das immerwiederkehrende Sonnenufer zu« (Ausfahrt; W 1, 29). Sehen wird verlangt angesichts der zunehmenden Aus-
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sichtslosigkeit: »Die erste Welle der Nacht schlägt ans Ufer, / die zweite erreicht schon dich«; der »Himmel«, gegen den man »zu stehen« hat, ist »unverrückbar«, die »Wasser« sind ungangbar, und das »Sonnenufer« kehrt nur deshalb immer wieder, weil es sich immer wieder entfernt. In Alle Tage, neben dem Titelgedicht eines der bekanntesten Gedichte in Die gestundete Zeit, wird diese heroische Position des einsamen Widerstands mit dem »armselige[n] Stern / der Hoffnung über dem Herzen« ausgezeichnet – [...] verliehen für die Flucht vor den Fahnen, für die Tapferkeit vor dem Freund, für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls. (W 1, 46)
Das Bild des Sterns der Hoffnung begegnet ebenfalls bereits in Aichingers Die größere Hoffnung, und zwar im letzten Satz des Romans: »Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern« (Aichinger 1991, 269). Mit einem Stern-Bild aus Celans Gedicht Engführung schloss Bachmann ihre Frankfurter Vorlesung über Gedichte: »›[...] Ein / Stern / hat wohl noch Licht. / Nichts, / nichts ist verloren« (W 4, 216; vgl. KS, 286). Durch die jeweils ersten Gedichte der drei Gedichtgruppen in Die gestundete Zeit – Ausfahrt (I), Sterne im März (II), Die Brücken (III) – hat die Autorin den thematischen Zeichen Ausfahrt, Stern und Brücke einen exponierten Text-Ort zugewiesen.
Die Entdeckung des »Drucks der Geschichte« (Jean-Paul Sartre) In Bachmanns Gedicht Alle Tage wird die heroische Haltung des Widerstands mit dem Stern der Hoffnung ausgezeichnet. Dieser ganz anders geartete Heroismus bedeutete menschliche Solidarität und Desertion aus der militärischen Logik des kriegerischen Ausnahmezustands. Peter Rühmkorf hat auf diesen »seltsamen, aus der Art geschlagenen Heroismus« und sein eigentümliches lyrisches »Pathos« bei Bachmann hingewiesen (Rühmkorf 1973, 15), eine Haltung, die an den französischen Existenzialismus als Philosophie der Résistance erinnert. So lassen sich die Gedichte verstehen als eine Hommage an den nur ein paar Jahre zurückliegenden Widerstand gegen das NS-Regime, eine Hommage, die in den politischen Nachkriegsver-
hältnissen Österreichs und Deutschlands alles andere als selbstverständlich war und die ihrerseits eine Form des literarischen Widerstands darstellte. In der Résistance »stand jeder Mensch in einer äußersten, auf letzte Entscheidung angelegten Situation« (Jean Améry 1958, 28). Die Literatur beanspruchte diese exponierte Situation des Ich dann für ihren Widerstand gegen die restaurativen Verhältnisse der frühen 1950er Jahre. »Literatur der äußersten Situation« nannte Jean-Paul Sartre 1947 die existentialistische Literatur; sie sei von »den Verhältnissen dazu gezwungen« worden, »den Druck der Geschichte zu entdecken« (Sartre 1958, 131). Auch das Titelwort Die gestundete Zeit gehört zu diesem Motivkomplex der Nachkriegslyrik. Als Bachmann in der zweiten Frankfurter Vorlesung am 25.11.1959 anhand eines Nachkriegsgedichts von Günter Eich über zeitgenössische Lyrik sprach, verwendete sie eine Terminologie, die bewusst auf die gesellschaftliche und geschichtliche Dimension des Gedichts zielte. Es ging ihr um die »Konzeption«, die durch das Werk »erscheint«, um den »Anspruch« und um »die Position«. Sie will den gesellschaftlichen »Ort« bestimmen, »von dem aus gesprochen wird«: »ein Ort, an dem es nicht geheuer ist, und das Wachbleiben erschwert wird, dem, der wachen muß, kann, will« (KS, 274; W 4, 203). Die Welt wird vom sprechenden Ich »befragt, aber nicht überfragt. Überfragt ist nur dieses Ich, verfolgt, gewarnt und gebeten, Warnungen weiter zu melden« (ebd.). Bachmanns knappe Charakteristik von Günter Eichs Gedicht Betrachtet die Fingerspitzen kann für das lyrische Sprechen unter dem »Druck der Geschichte« (Sartre) in ihrem Band Die gestundete Zeit gelten: »Aber wenn du scharf hinüberschaust, / kannst du den Baum noch sehen, / der trotzig den Arm hebt« (Ausfahrt; W 1, 29); »Ich wollte nicht gesehen werden« (Abschied von England; W 1, 30); »Dein Blick spurt im Nebel« (Die gestundete Zeit; W 1, 37); »Seht zu, daß ihr wachbleibt!« (Holz und Späne; W 1, 40). Die zeitgeschichtliche Bedrohung ist in vielen Gedichten an der Verschränkung von Zeit- und Todesbildern ablesbar, an den Bildern von Aufbruch, gleichzeitigem Dunkelwerden und bevorstehendem Untergang. Der Aufbruch auf die Inseln im Gedicht Salz und Brot wird eingeholt vom Wissen, »daß wir des Kontinentes Gefangene bleiben / und seinen Kränkungen wieder verfallen« (W 1, 57). Und »auf die Lippen der Galionsfiguren« tritt in Die große Fracht noch vor der Ausfahrt des »Sonnenschiff[s]«, das mit der »große[n] Fracht des Sommers« beladen ist, »unverhüllt das Lächeln der Lemuren« (W 1, 34). Mit Alle Ta-
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ge ist der alltägliche Krieg gemeint, der »nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt« wird (W 1, 46).
Zeit-Grammatik, Kriegs- und Angstbilder Die charakteristische grammatische Gestik des ›noch‹ und ›schon‹, die Bildfelder der gestundeten Zeit oder auch der in die Zukunft sich verlängernden Katastrophe bilden das zeitgeschichtliche Bedeutungszentrum in der westdeutschen und österreichischen Literatur der frühen 1950er Jahre. Zwischen den Kriegen hieß ein Lyrikband Werner Riegels, von dem Peter Rühmkorf bemerkte, dass er wie andere »junge Poeten der Jahre 1952/53« »auf der Schneide der Zeit [...] Stellung bezogen« habe und »ganz auf das gefährdete Intervall Gegenwart ausgerichtet« sei (Rühmkorf 1973, 14). In Bachmanns Gedichten ist die gestundete Zeit nicht nur das Thema, sondern sie wird zum sprachlichen Bild und rhythmischen Gestus. Die Natur erscheint als geschichtliches Gelände, auf das ein wacher, geistesgegenwärtiger Blick fällt. Dieser strategische Blick auf die geschichtliche Situation verbindet sich mit der existentialistischen Unbedingtheit des allein auf sich selbst gestellten Handelns. Unverwechselbar der Beginn des Titelgedichts: »Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont. / Bald mußt du [...]« (W 1, 37), oder die ersten Verse des ersten Gedichts im Lyrikband: »Vom Lande steigt Rauch auf. / Die kleine Fischerhütte behalt im Aug, / denn die Sonne wird sinken, / ehe du zehn Meilen zurückgelegt hast« (W 1, 28). Steuermann (Ausfahrt) oder Pilot (Nachtflug) sind Verkörperungen des Blicks, der auf Orientierung im Zeit-Gelände zielt, die Zeichen der geschichtlichen Beschädigung ins Auge fasst, aber auch die Spuren der Hoffnung in der Nachkriegslandschaft nicht übersieht. Strategische Analyse und Dramatik der Zeiterfahrung sind in vielen Gedichten mit Bildern des drohenden oder bereits fortgesetzten Kriegs verschränkt. Im ›Noch‹ des Aufbruchs aus den Schrecken der Vergangenheit wird ›schon‹ die neue Bedrohung sichtbar. Kriegs- und Todesbilder kommentieren Ausfahrt und Aufbruch zu neuen Ufern. Der Aufbruch auf die Inseln in Salz und Brot wird eingeholt vom Wissen, »daß wir des Kontinentes Gefangene bleiben / und seinen Kränkungen wieder verfallen« (W 1, 57). »Herbstmanöver der Zeit« ist eine der Genitivmetaphern, welche die Erfahrung, vor einem neuen Krieg zu stehen, ansprechen und die touristischen Reisen –
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»Laßt uns eine Reise tun!« – als illusionäre Fluchtwege aus den Forderungen der Gegenwart und der Vergangenheit apostrophieren: Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. (Herbstmanöver; W 1, 36)
Das Bewusstsein, »zwischen zwei Kriegen [zu] leben«, und dass der »nächste Krieg unmittelbar vor der Tür steht« (Rühmkorf, zit. nach Eggert 1991, 179), bestimmt die grammatische Struktur und Metaphorik vieler literarischer Texte der frühen 1950er Jahre. »Choreographie des politischen Augenblicks« hat Alfred Andersch damals die für Romanprosa wie Lyrik gleicherweise bezeichnende Erfahrung einer gestundeten Zeit genannt (Andersch 1979, 32). Die »Zeit war kostbar«, heißt es in einer der vielen Zeitreflexionen in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras, »sie war eine Atempause auf dem Schlachtfeld, und man hatte noch nicht richtig Atem geholt, wieder wurde gerüstet [...] es gab noch Hoffnung in der Welt: ›Vorsichtige Fühler, kein Krieg vor dem Herbst‹ [...] Der Tod treibt Manöverspiele« (Koeppen 1972, 234).
Traumatische Erinnerung Gedichte wie Nachtflug oder Ausfahrt reflektieren die Situation des Schreibens nach dem Krieg: sich den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit aussetzen müssen und sich trotzdem nicht vor dem utopischen Horizont des Neubeginns verschließen. So heißt es in Nachtflug: Unser Acker ist der Himmel, im Schweiß der Motoren bestellt, angesichts der Nacht, unter Einsatz des Traums – geträumt auf Schädelstätten und Scheiterhaufen, [...] Wer, wenn der Morgen kommt, wagt’s, den Silberstreifen zu deuten: seht, über mir ... Wenn das Wasser von neuem ins Mühlrad greift, wer wagt’s, sich der Nacht zu erinnern? (W 1, 52 f.)
In Ausfahrt kommt der Blick vom ausfahrenden Schiff nicht los von den »Ungeheuer[n] des Meers«,
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die »mit blanken Säbeln die Tage in Stücke« »schlagen«, so dass »eine rote Spur« im Wasser zurückbleibt – »dort legt dich der Schlaf hin, / auf den Rest deiner Stunden, / und dir schwinden die Sinne« (W 1, 29). Eine sprachliche Bedeutungsnuance weist auf die Todesnähe dieser Erinnerungen, wenn das Ich »auf den Rest« seiner »Stunden« im Traum der »roten Spur« ausgesetzt wird. Man kann den gefährlichen Ort des sich erinnernden Ich als Voraussetzung des Schreibens nach 1945 verstehen. Gegenüber der Fassung in Stimmen der Gegenwart (1952 erschienen, aber bereits im Herbst 1951 fertiggestellt) – »dort legt dich der Schlaf hin, / zwischen Proteus und Glaukos, die Najaden treffen / mit kaltem Strahl deine Brust / und dir schwinden die Sinne« (Stimmen der Gegenwart 1952, 49) – erscheinen in der Fassung für den Lyrikband die mythologischen Figuren ins Unbestimmbare zurückgenommen. Die Todesdrohung entspringt nun nicht mehr dem Fundus der mythologischen Überlieferung, sondern dem Traumgedächtnis des Ich. Die Entstehungsvarianten zu Früher Mittag dokumentieren die mühsame sprachliche Arbeit dieser Ausformung des neuen Gedächtnisdiskurses nach 1945. Nicht zufällig stellt sich hier eine besondere Nähe zu dem Gedicht Dunkles zu sagen her, das bewusst in eine dialogische Beziehung mit der Lyrik Paul Celans eintritt: Sieben Jahre später ist vieles vergessen, und was der Wind nicht vergibt allein die Zeit ist verletzt von Worten und Schweigen und du erinnerst dich nicht, nur an der Wimper die fällt siehst du den Schatten (N391)
In der Druckfassung findet die Dichterin zu einer Möglichkeit, den Traditionsbruch, den die Shoah bedeutet, in die Formensprache des romantischen und klassischen deutschen Lieds (Am Brunnen vor dem Tore, Der König in Thule) einzuspiegeln: Sieben Jahre später fällt es dir wieder ein, am Brunnen vor dem Tore, blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über. Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken. (W 1, 44)
In Die gestundete Zeit findet man eine Vielzahl von Anspielungen auf Volkslieder und Kunstlieder, auf Märchen, Sagen und Mythen und auf die ›hohe Literatur‹, manchmal nur mit einem Wort, manchmal in einer geschichtlich bewussten Neuakzentuierung des klassisch-romantischen Formelschatzes. Alte oder neue, vertraute oder wenig bekannte Worte und Sätze der literarischen Überlieferung erhalten so eine davor nicht gekannte Bedeutung. Im Titelgedicht Die gestundete Zeit begegnet man in der Aufforderung »Jag die Hunde zurück« der Anspielung auf das Narrativ des heimkehrenden Odysseus; das »Sieh dich nicht um!« zitiert den Orpheus-Mythos; das sonst literarisch verbraucht klingende Bild vom ›wehenden Haar‹ der Geliebten wird in der Konstellation mit Celans Auf Reisen mit neuer Bedeutung aufgeladen.
Melancholischer Blick und moderne Allegorie Bertolt Brecht unterstrich die zitierten zwei mittleren Strophen in Bachmanns Gedicht Früher Mittag, als er an einem Nachmittag, Spätsommer oder Herbst 1954, Bachmanns Gedichtband Die gestundete Zeit las. »Daß diese zwei Reimstrophen nur als Kontrapunkt gesetzt waren in dem als Fuge komponierten, verschiedene thematische und literarische Motive zueinander- und gegeneinanderführenden, zumeist freirhythmisch gesprochenen Gedicht, kümmerte den beim Lesen urteilenden Brecht, scheint’s gar nicht«, bemerkte Gerhard Wolf in einem Gespräch mit Käthe Reichel, die den Gedichtband 1954 aus Westdeutschland mitgebracht hatte (Wolf 1982, 174). Die beiden Strophen wurden in die neue Brecht-Ausgabe als Brecht-Gedicht aufgenommen (Brecht 1995, 280). Sie lesen sich nun, wie andere aus Die gestundete Zeit übernommene Verse, wie Brecht-Gedichte – und sind letztlich das Ergebnis einer nicht unproblematischen Form editorischer Autorschaft. Bezeichnenderweise hat Brecht Bachmanns lyrisches Traumgedächtnis und die nachdenkliche Verschränkung von Natur und Geschichte nicht übernommen, denn bei ihr erhalten die Bilder der Geschichtslandschaften in Früher Mittag und in den andern Gedichten des Bandes immer wieder allegorischen Sinnbildcharakter. Das umfangreichste Gedicht, Große Landschaft bei Wien, aus dem Brecht nur knappe vier Verse zitiert, lässt sich, wie Hubert Lengauer gezeigt hat, als Evokation einer Stadtlandschaft als Gedächtnisraum lesen. In Ton und Bildlichkeit dem Erhabenen nahe, beden-
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ke das Gedicht die Zeichen und Spuren der Geschichte, imaginiere träumerisch uneingelöste Versprechen und bekenne sich zur Utopie des Noch-nie-Dagewesenen. So repräsentiere es den Text einer »urbanen Zivilisation, welche sich selber nicht negiert und aufs Land flüchtet, sondern ihre eigene Geschichte bedenkt«. Der moderne Text einer Stadtlandschaft manifestiere sich im sprachlichen Bewusstsein, im geistesgegenwärtigen Verfügen über kulturelle Assoziationen durch Zitat, Anspielung und kritische Neuakzentuierung der Traditionen der österreichischen Moderne, etwa in der intertextuellen Beziehung zu Hugo von Hofmannsthals Terzinen, Ludwig Wittgensteins Tractatus oder Musils Konzept einer »taghellen Mystik« (Lengauer 2000, 121 f.). Ähnlich versteht Hermann Dorowin den melancholischen Blick in Große Landschaft bei Wien nicht als kakanische Trauer »um das, was war«, sondern er verteidigt im allzu geläufigen Topos – »›Schauplatz vielvölkriger Trauer‹« – das, »was vielleicht hätte sein können: ein anderes, herrschaftsfreies, symbiotisches Zusammenleben all dieser Völker«. Das habe nicht nur »mit Joseph Roth viel zu tun, mit seiner radikalen Verurteilung der wachsenden ›deutschen‹ Hegemonie in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, die jene andere mögliche, vielleicht utopische Entwicklung verhinderte«, sondern es lasse auch an Walter Benjamin denken, »der ja mit Hofmannsthal den melancholischen Blick auf die Geschichte teilte, aber mit Brecht und [Karl] Korsch die Suche nach dem nüchternen Neuen, das die Rettung bringen mußte« (Hermann Dorowin in einem Brief an den Verfasser, Perugia, 12.5.2000). In Früher Mittag – »Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, / sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß / und reicht dir die Schüssel des Herzens« (W 1, 44) – ist die Nähe der Bilder zu Benjamins Allegorie-Begriff am offensichtlichsten: Allegorie, verstanden als Ausdruck der »Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat« (Benjamin 1969, 183). In Psalm weist die allegorische Darstellung der »Geschichte als Leidensgeschichte der Welt« (ebd., 183), wie sie Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch entdeckt hat, sogar zurück auf ihre christlich-theologische Herkunft: »Zur Ansicht hängt karfreitags eine Hand / am Firmament, zwei Finger fehlen ihr, / sie kann nicht schwören, daß alles, / alles nichts gewesen sei und nichts / sein wird« (W 1, 54). Der enthauptete Engel Deutschlands aber erscheint wie eine Postfiguration von Benjamins allegorischem Engel, dem die Geschichte als Trümmerfeld vor Augen liegt. Der im Gedicht mit »Du« an-
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gesprochene Einzelne sollte den Hass begraben und der Hoffnung, die »erblindet im Licht« des Mittags »kauert«, aufhelfen (W 1, 45). Das historisch Fällige, Trauerarbeit als Eingedenken und Erhellen der Vergangenheit im Wort, wird, wie im Myschkin-Monolog, als schwieriger (hermetischer) Prozess der Verwandlung vorgeführt: Die Wolke über der Trümmerstätte Deutschlands sucht »nach Worten«, Sprache hat durch das Schweigen hindurchzugehen, bis sie im »schütteren Regen« zu vernehmen ist, ein Prozess des Eingedenkens und der Veränderung, der unter dem zeitlichen Index des ›beinah schon wieder zu spät‹ steht – »schon ist Mittag«: Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen, eh sie der Sommer im schütteren Regen vernimmt. Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: schon ist Mittag. (W 1, 45)
In dem einige Jahre später entstandenen Gedicht Exil wird das Bild der dunklen Wolke als Sprach-Ort und Schreib-Exil des Ich im Post-Holocaust aufgegriffen: Das Autor-Ich als »Toter«, »der wandelt«; um sich herum die deutsche Sprache als »Wolke«, in der ›er‹, der Tote, »durch alle Sprachen« treibt: »O wie sie sich verfinstert / die dunklen die Regentöne / nur die wenigen fallen«. Den »Toten« trägt die Wolke dann in »hellere Zonen« »hinauf« (W 1, 153).
Autorschaft und Tod des weiblichen Ich Schreiben wird seit der frühen Lyrik Ingeborg Bachmanns mit Dunkelheit und Tod verknüpft. »Der dunkle Schatten, / dem ich schon seit Anfang folge / führt mich in tiefe Wintereinsamkeiten«, heißt es schon im Gedicht Ängste aus dem Dezember 1945 (N6188, zit. nach Höller 1999, 38). Dunkelheit und Tod im literarischen Werk tragen männliche Vorzeichen: »herrengleich« wird in Ängste die Forderung der literarischen Vorgänger im Reich der dunklen Schatten dekretiert. »Ein Toter bin ich der wandelt« (W 1, 153), ist der erste Vers in Exil; »Wie Orpheus spiel ich« (W 1, 32) ist der erste Vers in Dunkles zu sagen. Die Verse »Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand« und »er findet sie sterblich / und willig dem Abschied / nach jeder Umarmung« (W 1, 37) bilden im Titelgedicht Die gestundete Zeit die Rahmenverse der zweiten
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II Das Werk – A Lyrik
Strophe. Die dritte Strophe setzt ein mit der den Orpheus-Mythos zitierenden Aufforderung an das Du, sich nicht nach der Frau hinter seinem Rücken umzusehen: »Sieh dich nicht um« (W 1, 37). Die zutiefst problematische Seite einer Autorschaft, bei der die Frau zum Verstummen gebracht wird und untergeht – »er fällt ihr ins Wort, / er befiehlt ihr zu schweigen« (Die gestundete Zeit; W 1, 37, Hervorhebung H. H.) – gehört für Bachmann zu den frühen prägenden Erfahrungen, auf die sie in Malina, der Ouverture der geplanten Todesarten, wieder zurückgekommen ist: »Für mich ist das eine der ältesten, wenn auch fast verschütteten Erinnerungen: daß ich immer gewußt habe, ich muß dieses Buch schreiben – schon sehr früh, noch während ich Gedichte geschrieben habe. [...] Daß ich nur von einer männlichen Position aus erzählen kann. Aber ich habe mich oft gefragt: warum eigentlich? Ich habe es nicht verstanden, auch in den Erzählungen nicht, warum ich so oft das männliche Ich nehmen mußte« (GuI, 99 f.). Die Gedichte von Die gestundete Zeit sind in diesem Sinn Todesarten-Texte, lyrisch-allegorische Szenen von der Todesart der Frau im Schreiben und von der »Rolle des Toten im Schreib-Spiel«. Das »Schreiben ist heute«, meinte Michel Foucault in Was ist ein Autor?, »an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich vollzieht« (Foucault 2000, 204). Bachmann aber stellte die Frage: »warum eigentlich?«, sie wollte jenes nicht ganz so »freiwillige Auslöschen« sowohl in ihren Gedichten wie in ihrem »Buch Malina« nicht als etwas Selbstverständliches und Geschichtsloses hinnehmen, sondern sah den Tod in der Literatur als Teil der kriegerischen Gewalt in der Gesellschaft. Apodiktischer als in anderen Gedichten wird in Einem Feldherrn der Kriegsheld zum Gleichnis für den Dichter, der sich selber den gefährlichen Erfahrungen aussetzt und mit seinem Leben einsteht für die Wahrheit des Werks. Auf dem ›Feld der Literatur‹ heißt das, nicht mehr auf die literarischen Vorgänger zu setzen, sondern selber einzustehen, »mit einem ungeheuren Zweifel« nicht mehr die »Waffen«, die ihm zufielen, »und Früchte aus Gärten, / die ein andrer bebaute« (W 1, 47), für sich zu beanspruchen. Anstelle der epigonalen Nachfolge wird vom angesprochenen Du verlangt, dass es in die Tiefen fällt – »Du wirst fallen / vom Berg ins Tal« –, dass es »auf den Grund« geht und »in die Bergwerke des Traums« – »Zuletzt aber in das Feuer. // Dort reicht dir der Lorbeer ein Blatt« (W 1, 48). Un-
verloren sein im Reich der Literatur ist in dieser tödlichen Logik nur durch das Zugrundegehen und Zugrunde-gerichtet-werden erreichbar.
Todesarten-Gedichte Die lyrischen Selbstentwürfe in den Imagines des Soldaten (Einem Feldherrn), des Steuermanns (Ausfahrt), des Piloten (Nachtflug), des Orpheus (Dunkles zu sagen), des Fürsten Myschkin im Monolog oder in der Anspielung auf Orpheus und Odysseus in Die gestundete Zeit sind männlich konturiert. Die weibliche Stimme und das Verlangen nach Liebe werden, wie im Titelgedicht, als etwas Untergehendes und Verlorenes erinnert: »Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand« (W 1, 37). »In ihrem Roman ›Malina‹ lässt Bachmann die Frau am Ende in der Wand verschwinden und den Mann, Malina, der ein Stück von ihr ist, gelassen aussprechen, was der Fall ist: Hier ist keine Frau. / Es war Mord, heißt der letzte Satz. / Es war auch Selbstmord«, so hat Christa Wolf (1983, 149) den Schluss des Romans Malina kommentiert. Ein Kommentar, der genauso für das Gedicht gilt, wenn man »Wand« durch »Sand« ersetzt. Die Ratschläge in Brechts Verwisch die Spuren im Lesebuch für Städtebewohner stehen hinter den Anweisungen an das »Du« in Die gestundete Zeit. Sie bilden aber nur ein Element in der polyphonen Dialogizität des Gedichts, denn die allegorische Zeitdarstellung – die »am Horizont« »sichtbar« werdende »gestundete Zeit« – erinnert auch an Wendungen aus Martin Heideggers Sein und Zeit, an seine Formulierung »die gezählte Zeit« bei Aristoteles oder an die Offenbarung der »Zeit selbst als Horizont des Seins« (Dorowin 2000, 100 f.). Die Aufforderung »Sieh dich nicht um« ist mehr als eine Erinnerung an den alten Orpheus-Mythos, sie ist dessen neue Version unter den Bedingungen der Kälte der zeitgeschichtlichen Moderne und im Bewusstsein des Dramas der Geschlechter. Bachmann kannte das »Sieh dich nicht um« im 13. Sonett des zweiten Teils von Rilkes Die Sonette an Orpheus (1922), wo Dichten begriffen wird als vorweggenommener Abschied von allem Lebendigen: »Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir« (Rilke 1996, 79). Das Bild des Winters steht dort für das ›Überwintern‹ des Lebens im überdauernden Werk: »Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, / daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.« Im »reinen Bezug« des Werks, wenn man will, in seiner polyphonen Textgestalt, nimmt sich das
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schreibende Ich zurück und gehorcht darin dem Gesetz des Orpheus: »Sei immer tot in Eurydike –, singender steige, / preisender steige zurück in den reinen Bezug« (ebd.). Bachmanns Gedichte finden sich nicht ab mit dem Tot-Sein in Eurydike und dem »reinen Bezug« im Werk. Die Todesarten-Romane werden aus der Perspektive ›der Geliebten‹ erzählt, die als Opfer auf dem Mordschauplatz zurückbleibt. Doch schon im Gedicht wird die Verschwundene in das Gedächtnis des Textes eingeschrieben. Was in Das Buch Franza von der steinernen Königinnenfigur gesagt wird, deren Relief ihr Nachfolger aus den Mauern eines ägyptischen Tempels herausschlagen ließ, gilt auch für die ›Text-Fläche‹ des Gedichts: »er [Tuthmosis, H. H.] hat vergessen, daß an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, wo sie sein soll« (TKA 2, 274). Der Roman wie das Gedicht sind Gedächtnis-Texte, die uns dazu anleiten, in den Bildern der Literatur die Gewalt und Verdrängung in der großen Geschichte genauso wie in den privaten Beziehungen zu entziffern.
Der Kampf um die eigene Autorschaft als weibliches Ich Der 2008 veröffentlichte Briefwechsel von Bachmann und Celan ermöglichte einen neuen Blick auch auf die Gedichte ihres ersten Lyrikbandes. Davor dominierten die Nachweise poetischer »Korrespondenzen« mit dem Werk Celans (Böschenstein/Weigel 1997), die Briefe aber lenkten die Aufmerksamkeit auf die konfliktuöse Behauptung von Bachmanns eigener Autorschaft in der persönlichen Beziehung zu Celan. Die »Erbschaften dieser Zeit in einer Umarmung« hat Robert Schindel (2002, 41) die Liebesbeziehung von Ingeborg Bachmann und Paul Celan genannt. Bei Bachmann ging es im Leben wie im Schreiben um den gefährdeten Ort einer schreibenden Frau in der Literatur nach 1945, die nicht ein unmittelbares Opfer der Shoah war. Erst in einem späten Brief (Zürich, nach dem 27.9.1961) konfrontierte sie Celan mit ihrem Gefühl, für ihn nicht existent zu sein: »Und ich frage mich eben, wer bin ich für Dich, wer nach soviel Jahren? Ein Phantom, oder eine Wirklichkeit, die einem Phantom nicht mehr entspricht. Denn für mich ist viel geschehen und ich möchte der sein, der ich bin, heute, und nimmst Du mich heute wahr? Das eben weiss ich nicht, und das macht mich verzweifelt« (Bachmann/ Celan 2008, 153 f.). Sie hat diesen Brief nie abge-
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schickt. Vier Jahre davor hatte sie Celan, als sie ihre Liebesbeziehung im Oktober 1957 wieder aufgenommen hatten, zum ersten Mal gebeten, ein Gedicht von ihr zu lesen, Lieder auf der Flucht, ein mehrteiliger Gedichtzyklus, den sie an den Schluss ihres zweiten Lyrikbandes Anrufung des Großen Bären (1956) gestellt hatte: »Ich wollte Dir noch sagen in Köln, Dich bitten, die ›Lieder auf der Flucht‹ noch einmal zu lesen, in jenem Winter vor zwei Jahren bin ich am Ende gewesen und habe die Verwerfung angenommen. Ich habe nicht mehr gehofft, freigesprochen zu werden. Zu welchem Ende?« (28.–29.10.1957; Bachmann/Celan 2008, 63). Der nicht abgeschickte Brief vom 27.5.1961 war nicht gerecht, weil Celan doch nach der Wiederaufnahme der Liebesbeziehung brieflich auf ihr Werk Bezug genommen hatte, als er ihr am 12.12.1957 schrieb: »Und weiß auch, endlich, wie Deine Gedichte sind« (ebd., 77). Und als er sie im Brief vom 8.2.1958 ersuchte, ihm eine Abschrift des Hörspiels Der gute Gott von Manhattan zu schicken, fügte er zu dieser Bitte die Wendung hinzu: »Du weißt, Ingeborg, Du weißt ja« (ebd., 86), eine Wendung, die sie in verschiedenen Varianten auch in ihr eigenes Werk aufnahm. Man hätte schon vor dem Erscheinen des Briefwechsels im »Briefgeheimnis« der Gedichte (Nachwort in Bachmann/Celan 2008, 224) die historische und private Frage weiblicher Autorschaft entdecken können. Sie bildet bereits im Titelgedicht Die gestundete Zeit das verstörende Zentrum eines vielschichtigen Gewebes von geheimen Verweisen. Die in den sprachlichen Zeichen entworfene Landschaft – »Marschhöfe«, »Sand« – verweist auf das unsichere Grenzgebiet zwischen Meer und Festland, aus dessen Vorstellung Sigmund Freud seine ›Ich‹-geschichtliche Metapher von der »Trockenlegung der Zuidersee« gewinnt (Freud 1999, 86), eine Landschaft, in der Bachmann ihre Erzählung Undine geht angesiedelt hat. In Die gestundete Zeit haben wir es mit einem solchen Gebiet zu tun und mit inwendigen Handlungen auf einem inwendigen Schauplatz. Die verschiedenen an dem Geschehen beteiligten Gestalten bzw. Ich-Rollen, ihre Positionen im Raum, ihre Rufe, Aufforderungen, Befehle oder Klagen sind Teil der Innenwelt im Sinne der Psychoanalyse, mit den Worten Freuds: ein in »Partial-Ichs« aufgespaltetes Ich, das die »Konfliktstörungen seines Seelenlebens in mehreren Helden« verkörpert (Freud 1969, 177). Die traumartige Landschaft erinnert auch vage an die Unterweltlandschaft in Rilkes Gedicht Orpheus. Eurydike. Hermes (1907). Und wie eine Reminiszenz an den Blick von Rilkes Orpheus – »indes der Blick ihm wie ein Hund voraus-
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II Das Werk – A Lyrik
lief« (Rilke 1996, 500 f.) – liest sich bei Bachmann die Metapher vom Blick, der im Nebel »spurt«. Der entscheidende Unterschied zur bisherigen Orpheus-Tradition liegt in der verborgenen Deutung der trüben Totenlandschaft als Mordschauplatz. Sie stellt die »Zumutung« der im Gedicht hart nebeneinander gesetzten Dinge dar. Das »Sieh dich nicht um!« ist als indirekter, innerer Mord zu lesen. Dass Orpheus sich nicht umsehen darf nach der »Geliebten«, dass er allein weggehen muss, hat, auf der zeitgeschichtlichen Bedeutungsebene des Gedichts, mit den sich wieder verhärtenden Verhältnissen zu tun, mit der nicht genützten, ›gestundeten Zeit‹ nach dem Krieg. Eine der Provokationen, die Bachmanns Orpheus nach 1945 darstellt, besteht darin, dass eine Frau, das sprechende Ich des Gedichts, das als Autorinnen-Stimme zu verstehen ist, vom angesprochenen Du verlangt, dass es sich nicht umsehen und »die Geliebte« im Sand versinken lassen soll. Diese befremdende Szene könnte bei Hans Werner Henze jene Beunruhigung hervorgerufen haben, die er ihr in seinem Brief vom Mai 1954 auf Englisch mitteilte: »You have in these new poems something alarming, scandalous, bewildering, startling. If you go on this way you’ll have the most beautiful scandals too« (Bachmann/Henze 2004, 296). Von einer ähnlichen Beunruhigung sprechen die Sätze, mit denen Christa Wolf (1983, 148) in ihren KassandraVorlesungen von einem »generationenbreiten Gelände« gesprochen hat, in dem die schreibende Frau verloren zu gehen droht: »Ich behaupte, daß jede Frau, die sich in diesem Jahrhundert und in unserem Kulturkreis in die vom männlichen Selbstverständnis geprägten Institutionen gewagt hat – ›die Literatur‹, ›die Ästhetik‹ sind solche Institutionen –, den Selbstvernichtungswunsch kennenlernen mußte« (ebd., 149). In Die gestundete Zeit gibt es unter den verborgenen Bedeutungsschichten des Gedichts einen schockierenden palimpsestartigen Verweis, der auf eine andere historische und zugleich persönliche Dimension des Geschehens aufmerksam macht: Drüben versinkt Dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich [...] nach jeder Umarmung. (W 1, 37)
Die auf die zitierten Verse folgende Strophe beginnt mit dem bereits thematisierten Orpheus-Vers »Sieh
dich nicht um«. Aber nicht nur das bekannte MythosZitat, sondern vor allem die sieben Verse davor ergeben eine verstörende Lesart, die wie ein Geheimnis in der Sprache des Gedichts enthalten ist: Das Wort »Drüben« zitiert den Titel des ersten Gedichts von Celans Lyrikband Der Sand aus den Urnen, der im Oktober 1948 drei Monate nach Celans Abreise aus Wien erschienen war und von dem Bachmann eine Kopie besaß. Das letzte Worte des mit »Drüben« einsetzenden Verses nennt den »Sand«, in welchem die Geliebte untergeht. Es ist in Celans erstem Gedichtband die titelgebende Chiffre für die Shoah. Das wehende Haar der Geliebten, von dem der folgende Vers spricht, lässt im ersten Moment an Annette von Droste-Hülshoffs berühmtes Gedicht Am Thurme denken. Dort steht es für das wilde Freiheitsbedürfnis des weiblichen Ich, das im Sturmwind auf dem Turm des Schlosses seine Haare »flattern« lässt, was ihm sonst von der herrschenden Standes- und Geschlechterordnung verboten ist. Bachmanns Vers aber bezieht sich viel direkter auf die Schlussverse von Celans Gedicht Auf Reisen, das er bald nach seinem Abschied aus Wien, der nicht zuletzt ein Abschied von Ingeborg Bachmann war, geschrieben hat: »Dein Haar möchte wehn, wenn du fährst – das ist ihm verboten. / Die bleiben und winken, wissen es nicht« (Celan 2000, Bd. 1, 45). In »Haar« ist bei Celan die Geschichte der Shoah mitzudenken. Die letzte Strophe der Todesfuge besteht aus den beiden Versen: »dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith« (ebd., 42).
»Zeitkern« und Utopie in Die gestundete Zeit Es spricht viel für die Einschätzung von Lydia Koelle (2003, 65), dass Bachmanns Werk im Dialog mit Celan »sein Zentrum und seine Tiefe« habe. Koelle spricht von der »Verletzung durch die Liebe zu einem durch die Shoah und ihre Folgen versehrten Dichter und die daraus entstehende Verantwortung im Schreiben und Denken« (ebd.). Eines der einprägsamsten Bilder für diese Lesart stellt das Schnee-Bild in Lieder auf der Flucht dar. Schnee ist bei Celan, wie Sand, eine Chiffre für die Shoa. Indem Bachmann das überlieferte Fragment eines Sappho-Gedichts an den Strophenbeginn stellt – »Ich aber liege allein« –, erhält die liebende und schreibende Frau als Dichterin ihren Platz im Gedicht: Ich aber liege allein Im Eisverhau voller Wunden.
7 Die gestundete Zeit Es hat mir der Schnee noch nicht die Augen verbunden. Die Toten, an mich gepreßt, schweigen in allen Zungen. Niemand liebt mich und hat für mich eine Lampe geschwungen! (W 1, 139)
Koelles Wort von der »Verletzung durch die Liebe zu einem durch die Shoah und ihre Folgen versehrten Dichter« liest sich wie ein Kommentar dieser Verse. Aber noch in der sprachlichen Darstellung der äußersten Ausgesetztheit an die Vernichtungsgeschichte verweisen sie ex negativo auf die Utopie von Eros und Poesie. In den Liedern von einer Insel hat Bachmann den rebellischen Ausbruch aus dem Schuldzusammenhang proklamiert, sogar in der pointierten Gegenwendung zu Celans bereits erwähntem Gedicht Auf Reisen: »Wenn einer fortgeht, muß er [...] / fahren mit wehendem Haar«, noch einmal wiederholt am Ende der Strophe und mit einem Rufzeichen: »und fahren mit wehendem Haar!« (W 1, 123). Die Welt der literarischen Überlieferung wird in Bachmanns Gedichten in Bewegung gesetzt, um sich mit dem dichterischen Wort zur Wehr zu setzen gegen die Gewalt- und Vernichtungsgeschichte. Sogar im Titel Die gestundete Zeit klingt der utopische Appel aus Celans Gedicht Corona nach, jenes »es ist Zeit, daß man weiß«, »Es ist Zeit, daß es Zeit wird« (Celan 2000, Bd. 1, 37). Quellen
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Hans Höller
8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld
8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld Edition und Rezeption Im Herbst 1956 veröffentlicht Ingeborg Bachmann ihren zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bären im Piper-Verlag (München). Er wird 1957 mit dem Bremer Literaturpreis gewürdigt. Die in diesem Band versammelten Gedichte sind in den Jahren 1954–56 entstanden, nach Bachmanns Aufbruch nach Italien, wo sie sich von 1953 bis 1956 zwischen Neapel, Ischia und Rom aufhält. In diesen Zeitraum fallen ebenso die Konzeption des Hörspiels Der gute Gott von Manhattan (1958) wie auch die ersten Entwürfe der Erzählungen Das dreißigste Jahr (1961). Mit der Hinwendung zur Prosa erscheinen in den darauffolgenden Jahren bis 1961 nur noch vereinzelt Gedichte im Druck, fünf 1957 in der italienischen Zeitschrift Botteghe Oscure, zwei im Jahresring 57/58. Anders als Bachmanns erster Lyrikband Die gestundete Zeit, der erst nach dem Spiegel-Artikel vom August 1954 breitere Resonanz fand, wird Anrufung des Großen Bären in der Literaturkritik sofort emphatisch begrüßt. Durch die Rezensionen von Günter Blöcker, Siegfried Unseld, Joachim Kaiser und Hans Egon Holthusen avanciert Bachmann zum »LyrikIdol der fünfziger Jahre« (Nardon 1985, 120). Zeitsymptomatisch für die Nachkriegsjahre in Deutschland wird die Abkehr von der Trümmerpoesie und die Rückwendung auf traditionelle Elemente der Lyrik gelobt: die Rückkehr zu Reim und Metrik, das konventionelle Naturvokabular, die Konzentration auf die Existentialien menschlichen Daseins, die Hinwendung zum ›zeitlos Hölderlinschen‹, zum ›UrbildlichWahren‹ und zur ›reinen Poesie‹, wie es bei Hans Egon Holthusen und Siegfried Unseld heißt (Holthusen 1989, 37, 39; Unseld 1989, 19). Dieser Tenor setzt sich in den Anfang der 1970er Jahre entstehenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Bachmanns Lyrik fort. Auch hier wird das Wesensmerkmal ihrer Gedichte mit der meist zitierten Stelle aus der Anrufung auf die »schöne Sprache, / im reinen Sein« (W 1, 92) in ahistorischer Perspektive festgeschrieben (AngstHürlimann 1971; Thiem 1972). Eine Ausnahme bildet die Dissertation von Peter Fehl (1970), die den zeitbedingten gesellschaftskritischen Aspekt der Sprachhoffnung und -kritik Ingeborg Bachmanns herausstreicht. Stärker poetologisch akzentuiert hat sich dieses Erkenntnisinteresse in den Arbeiten von Ute Ma-
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ria Oelmann (1980) und Mechthild Oberle (1990) fortgesetzt. Bleibt bis in die 1970er Jahre hinein in der Literaturkritik die Lyrik jener Maßstab, an dem gemessen die Prosa Bachmanns pauschal abgewertet wird, so mehren sich in der zweiten Rezeptionsphase kritische Stimmen, die sich von der vormaligen »Fragwürdigen Lobrednerei« (Conrady 1971) distanzieren. Zum Teil in einfacher Umkehrung wird nun der »bedauerliche Traditionalismus von Ingeborg Bachmanns Lyrik« beklagt (Görtz 1971, 34), zum Teil wird aus der Perspektive der Todesarten heraus der lyrische Ausdruck als gesellschafts- und geschichtsblind und mithin als defizitär benannt (Svandrlik 1984, 44–46). Die sich in den 1980er Jahren entfaltende, vor allem durch die feministische und kulturwissenschaftliche Literaturbetrachtung geprägte Neubewertung der Prosa wirkt mittlerweile auf das Verständnis der Lyrik zurück. Die von Bachmann ironisch abgelehnten »Branchenbezeichnungen« (GuI, 41) verlieren in der Forschung zunehmend an Wertigkeit zugunsten von gattungsübergreifenden Problemkonstanten und Verfahrensweisen. Unter Berücksichtigung der Werkgenese, der von Anfang an bestehenden Gleichzeitigkeit von Lyrik und Prosa in Bachmanns Schaffen wird so auf die Kontinuität der Gedichtbände und des Romanprojekts aufmerksam gemacht. Die Gedichte werden als Todesarten-Texte gelesen (vgl. Höller 1999, 80). Im Kontext der historischen Dimension der Gedichte, die nun als »Geschichtslandschaften« (Höller 1987, 26; vgl. Morris 2001) in den Blick geraten, wird sowohl die geschlechtliche Codierung der lyrischen Sprechweise thematisiert (Blau 1980, 366–368; Bossinade 1989, 194 f.), wie auch die Kategorie ›Rasse‹ in Bachmanns Lyrik, insbesondere im Hinblick auf Harlem und Liebe: Dunkler Erdteil, kritisch hinterfragt wird (Lennox 1998, 29 f.). Ausgehend von Bachmanns Ritual-Begriff »als neu erfüllter Inbegriff feierlicher Formeln« (TKA 3.1, 326; vgl. KS, 263; W 4, 192) sind Verfahren rituellen Sprechens in der Lyrik (Huml 1999, 9–17) ebenso ins Zentrum der Forschung gerückt wie solche der Intertextualität (Koch 1995, 206–212; Šlibar 2000, 200–206; Eberhardt 2002). Die sprachethische Dimension der Gedichte wird unter dem Vorzeichen der Performativität von Sprechakten analysiert (Burkart 2000). In der jüngeren Forschung werden hingegen erneut ältere Kritikpunkte an Bachmanns Lyrik reaktiviert, etwa wenn Anton Reininger in Anschluss an Angst-Hürlimann deren »ahistorischen Gestus« (Reininger 2000, 64) hervorhebt oder wenn Sebastian Kiefer von »Stilklitterung« spricht
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_8
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und die Gedichte als »zusammengefügte Aggregate« bezeichnet, »die in rauschenden Momenteffekten aufzugehen drohen« (Kiefer 2004, 79 f.). Für ein historisches Verständnis von Bachmanns Lyrik erweist es sich hingegen als produktiv, sie im Kontext der Nachkriegslyrik (Kiefer 2004, 90–101) oder italienischer Debatten der 1950er Jahre (Lacarti 2011; Miglio 2016; Reitani 2016) sowie in ihrer gleichzeitigen Entstehung mit den Römischen Reportagen (Miglio 2016) wahrzunehmen. Denn so zeigen sich sowohl die Zeitgebundenheit als auch die Modernität der Gedichte, die dazu geführt hat, dass Bachmanns Lyrik im Unterschied zu Autoren wie Wolfgang Weyrauch oder Rudolf Hagelstange noch gelesen, übersetzt und zum Gegenstand neuester Forschungsparadigmen – wie etwa des spatial turn (s. u.) – gemacht wird.
Zyklische Struktur und autobiographische Wendung Der Gedichtband Anrufung des Großen Bären gliedert sich in vier Teile, wobei auffällig ist, dass mit Von einem Land, einem Fluß und den Seen, Curriculum vitae – erkennt man die acht Strophen des Gedichts als selbständige Lieder an (Šlibar 2000, 217) –, den Liedern von einer Insel und den Liedern auf der Flucht jedem dieser Teile ein Zyklus angehört. Dieses formale Indiz gibt einen Hinweis auf die Bedeutung des Zyklischen für die narrative Struktur des zweiten Lyrikbandes insgesamt, die sich zwar, wie Daniel Graf (2011, 146 f.) zu Recht angemerkt hat, nicht auf alle Gedichte des Bandes gleichermaßen beziehen lässt, wohl aber insgesamt als Lektüreanweisung gedeutet werden kann. Gegenüber der Gestundeten Zeit lassen sich vor allem zwei Abgrenzungskriterien anführen, die sich wechselseitig bedingen: zum einen die strengere Komposition in der Anordnung der Gedichte, zum anderen die selbstreflexive, autobiographische Wendung des zweiten Lyrikbandes (Svandrlik 1984, 28; Höller 1987, 42). Bereits Unseld hatte in seiner Rezension bemerkt: »In der Ordnung des Buches spiegelt sich ein allgemeines Curriculum Vitae, eine Lebensbewegung von Anfang zu Ende, von Vorzeit zu Zukunft« (Unseld 1989, 16). Die vier Gedichte des ersten Teiles formieren sich in dieser Hinsicht zu einer programmatischen Exposition: Der Weg führt von der im ersten Gedicht imaginierten Kindheit, die mit dem Titel Das Spiel ist aus als vergangene indiziert wird, zu Adoleszenz und Aufbruch aus der Heimat (Von einem Land, einem Fluß
und den Seen). Die nachfolgenden Anrufungen führen zugleich die größte Gefahr auf dieser Wanderschaft vor Augen, das mit der Anrufung des Großen Bären benannte, einer Formulierung des Simone Weil-Essays gemäße »große Tier« der Ideologien, das »Macht ausübt und Macht ausgeübt hat« (KS, 179; W 4, 149), aber auch die Waffe dieser zu begegnen, das in Mein Vogel angerufene dichterische Wort. Die nachfolgenden Teile gestalten diesen Bildungsweg topographisch aus. Der Weg der Landnahme des zweiten, dreizehn Gedichte umfassenden Teiles führt vom Nebelland des Nordens in den Süden; im dritten, aus zwölf Gedichten und einem Zyklus bestehenden Teil wird die Landkarte des erstgeborenen Landes Italien vermessen (Ischia, Rom, Apulien, Venedig, Agrigent); der letzte, topographisch in Neapel verortete Teil des fünfzehn Gedichte umfassenden Zyklus’ Lieder auf der Flucht endet im ›Triumph des Todes‹ der abschließenden Strophen. Mit dieser horizontalen biographisch-topographischen Struktur verbindet sich eine erd-, mythen-, sprach- und literaturgeschichtlich vertikale Bewegung im Modus der Erinnerung. Exemplarisch für den Gedichtband insgesamt vollzieht der zehnteilige Zyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen in konzentrierter Form eine solche Bewegung. Im explizit in Abgrenzung zum ersten Gedichtband formulierten Gestus des Erinnerns (»Erinnre dich! [...] / O Zeit gestundet, Zeit uns überlassen! / Was ich vergaß, hat glänzend mich berührt«) werden die »Odysseen« desjenigen erzählt, der im Anklang an das Grimmsche Märchen »das Fürchten lernen wollte« (W 1, 84 f.). Auf dieser ins Allgemeine transformierten Irrfahrt – »Die Lose ähneln sich« – wird in den Gedichten III–IV die Evolution durchschritten: von der »Eiszeit« bis »zu Kreidestein«, von den »Kristallen« über »Marmelblumen« bis zu »Fuchspelz« und »Iltiskleid« (W 1, 84, 86 f.). Der Geschichte der Sprachentstehung (V) folgt in den Gedichten VI–VII die Beschreibung der in ihrem Gewaltcharakter herausgestellten rituellen und kultischen Praxis menschlicher Zivilisation. Gegen diesen Befund »der kalten neuen Zeit« (W 1, 87) stellt die in Parenthese gesetzte poetologische Reflexion den U-topos der »schönen Sprache« der Dichtung: »Beim Untergang des schönsten aller Länder / sind wir’s, die es als Traum nach innen ziehn« (W 1, 92). In der poetischen Erinnerung Von einem Land, einem Fluß und den Seen, die topographisch nach Kärnten, in die Heimat Bachmanns zurückkehrt (Šlibar 2000, 207–210), wird Aufbruch und Heimkehr in der Utopie der Grenzüberschreitung zusammengeschlossen:
8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld Wir aber wollen über Grenzen sprechen, und gehn auch Grenzen noch durch jedes Wort: wir werden sie vor Heimweh überschreiten und dann im Einklang stehn mit jedem Ort. (W 1, 89)
In der zyklischen, narrativen Struktur des zweiten Gedichtbandes halten Progression (die horizontale Bewegung) und Gleichzeitigkeit (der vertikale Schnitt durch die Zeitschichten) einander die Waage. Diese Kreisstruktur der Anrufung des Großen Bären lässt sich z. B. anhand der vertikalen Sprachbewegung vom Himmel auf die Erde beobachten, die leitmotivisch den Lyrikband durchzieht und in den Schlusszeilen des Gedichtbandes mit der gegenläufigen Transzendenz des dichterischen Wortes beantwortet wird. Diese »offene Sageweise in der Kontrapunktik der zyklischen Variation« führt dazu, dass »jede Einzelaussage einem Verweisungszusammenhang unterworfen ist« (Fehl 1970, 195). Durch dieses Verfahren stellt Bachmann den Progresscharakter der poetischen Sprache heraus. Damit liegt der Akzent in Anrufung des Großen Bären nicht allein auf der von vielen konstatierten »gespannten Kontrapunktik« (Holthusen 1989, 40), der zwischen Sprachskepsis und -hoffnung (Fehl 1970, 168–179), Wirklichkeit und Utopie vermittelnden Polarität (Thiem 1972, 177–212). Noch rücken die antithetischen Bildfelder (Fehl 1970, 195–200) von Wärme und Kälte, Nord und Süd, Helle und Dunkelheit – am prägnantesten veranschaulicht im Kontrapunkt der Gedichte Anrufung des Großen Bären und An die Sonne – ins Zentrum dieser Schreibpraxis, sondern es ist der Sprachprozess der Vermittlung. Exemplarisch führt dies die »Spiegelschrift« des Briefs in zwei Fassungen vor Augen. Die zwei 22zeiligen Versionen einer brieflichen Anrede an ein Du kontrastieren einander in der Motivik: Einerseits münden die Bilder der Kälte (»erfrorne Gläser«), des Nordens (»Nebelland«, »Nordwind«) und des Todes (»Strom aus Särgen«) in der ersten Fassung in die Schlussverse: »Immer und Nimmermehr gemischt zum Trank / dein wehes Herz vergötternd alle Leiden / vernichtet und verloren liebeskrank ...« (W 1, 126). Andererseits wird der »Abschied ohne Kränkung« der zweiten Brieffassung in Bilder gefasst, die Natur und Stadt, Vergangenheit und Gegenwart versöhnen (»die Säulen wachsen aus den Tamarinden«). Die Nordund Todesmetaphorik der ersten Fassung wird durch den Himmel beantwortet, der »blaue Töne« bindet, und schließt mit den Versen: »die Chrysanthemen schütten Gräber zu / Meerhauch und Bergwind mischen Duft und Tränen / ich bin inmitten – was erwar-
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test du?« (W 1, 127). Das gleichförmige Reimschema beider Briefversionen – Paarreime, die durch den Reim der Zeilen 1, 19 und 22 umfasst werden (Dank – Trank – liebeskrank; Ruh – zu – du) – macht hingegen auf das Moment der Kontinuität aufmerksam. Die Orts- und Zeitangaben »Rom im November abends« und »Nachts im November Rom« (W 1, 126 f.) lassen erkennen, dass die zwei Fassungen nicht einen einfachen (motivischen) Kontrast bilden, sondern zugleich eine (zeitliche) Fortsetzung sind. Im Prozess des Schreibens werden die absoluten Positionen von »Immer« und »Nimmermehr« der ersten Fassung durch die Sprachbewegung des »Mischens« der zweiten Fassung zugunsten eines »Inmitten«-der-RealitätSeins des lyrischen Ich aufgehoben (vgl. Oberle 1990, 67–78; Svandrlik 2000). Durch die narrative zyklische Struktur des Gedichtbandes und die selbstreflexive, autobiographische Wendung, die sich in einer gegenüber der Gestundeten Zeit veränderten Ich-Konzeption abzeichnet, hat Bachmann bereits in Anrufung des Großen Bären zwei Schreibverfahren entwickelt, die für ihr Prosawerk, vor allem die Todesarten, kennzeichnend werden. Zum einen wird auch in der Lyrik die Geschlossenheit und Absolutheit des einzelnen Gedichts aufgebrochen zugunsten einer übergreifenden, intertextuell verstärkten Sprachbewegung, zum anderen wird durch das Augenmerk auf das lyrische Ich und seine Dissoziationen eine sprachethische Wendung vollzogen, die später in die »imaginäre Autobiographie« (GuI, 73) des Malina-Romans mündet. Einer Formulierung aus Wahrlich gemäß spricht hier niemand, »der nicht unterschreibt« (W 1, 166). Das Ich hält sich nicht mehr »in der Geschichte« auf, sondern »die Geschichte im Ich« (KS, 299; W 4, 230). Während in der Gestundeten Zeit ein kollektives lyrisches Wir in elf von 24 Titeln bevorzugt wurde, findet es im zweiten Gedichtband nur noch in vier von 31 Titeln Anwendung (Anrufung des Großen Bären, Reklame, Rede und Nachrede und in Teilen von Von einem Land, einem Fluß und den Seen). Das Wir der Anrufung bezeichnet nun den Liebesdialog zwischen Ich und Du (Erklär mir, Liebe; Römisches Nachtbild; Lieder auf der Flucht; vgl. Blau 1980, 354, 362 f.). Es ist eine in den späten Gedichten noch zunehmende Tendenz zur Häufung des Pronomens ›ich‹ zu verzeichnen, das sich in einzelne Komponenten aufspaltet, wie z. B. in die »menschliche Ich-Komponente« und das »dichterische Über-Ich« im Gedicht Mein Vogel, wodurch der »Konflikt von Geist und Sinnlichkeit« (Höller 1987, 46 f.) gestaltet und ein Vorschein auf die Malina-Ich-Dialoge (Broser 2009, 103)
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gegeben werde, oder in die geschlechtlich codierten Stimmen des alten und jungen Mannes und des jungfräulichen Ich in Die blaue Stunde. Trotz des Vorherrschens eines männlichen Sprechers im zweiten Gedichtband kann im Blick auf die kindlich-schwesterliche Stimme von Das Spiel ist aus und der Gedichte IV und IX des Zyklus’ Von einem Land, einem Fluß und den Seen, die Jeanne d’Arc-Stimme der Blauen Stunde und diejenige der Liebenden in den Liedern auf der Flucht von einem Erwachen der weiblichen Stimme in Bachmanns Lyrik gesprochen werden. Neben dieser veränderten Ich-Konzeption ist in Abgrenzung zum ersten Lyrikband vor allem der Utopismus genannt worden, denn im Bildarchiv der Anrufung des Großen Bären sind utopische Zeichen aus Natur, Kunst, Religion und Märchen versammelt, die den »augenblicklichen Anbruch einer erlösten Welt« verheißen (Höller 1987, 55). Der in den Gedichten Gestalt werdende U-topos bildet den kritischen Kontrapunkt zur diagnostizierten »kalten neuen Zeit« (W 1, 87). Fehlt im zweiten Gedichtband der für die Gestundete Zeit charakteristische zeitkritisch-appellative Ton, so ist der Widerstandsgestus gegen das Heute doch nicht suspendiert, sondern er ist durchdrungen von einer Problematisierung des dichterischen Wächteramts (Mein Vogel), der Erinnerung (Von einem Land, einem Fluß und den Seen) und des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt (Rede und Nachrede). Damit ist einerseits der Akzent auf die Verfahrensweisen des sprachlichen Widerstands verschoben, andererseits wird mit der Wendung zur »Geschichte im Ich« dieses selbst zum Kampfschauplatz zivilisationsgeschichtlicher Auseinandersetzungen: zwischen Denken und Fühlen (Mein Vogel), zwischen den Geschlechtern (Die blaue Stunde; Erklär mir, Liebe; Liebe: Dunkler Erdteil), und somit auch zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen.
Mythopoetik und Intertextualität In dem kurzen Text [Wozu Gedichte?] äußert Ingeborg Bachmann, Gedichte hätten die Funktion, das »Gedächtnis [zu] schärfen«. Sie legten »Formeln in ein Gedächtnis«, »wunderbare alte Worte für einen Stein und ein Blatt, verbunden oder gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklichkeit« (KS, 190 f.; W 4, 303). Die Gedächtnisfunktion der Lyrik erfüllt sich so in Bachmanns Gedichten, dass antike Mythologeme, die Bibel, Volksmärchen und die Literatur von der Antike bis zur Gegenwart zitiert werden, und zwar in
den zwei oben angesprochenen Formen: der Verbindung mit neuen oder Sprengung durch neue Worte. Vor allem im Hinblick auf das Titelgedicht ist ein solcher Vorgang der Sprengung abendländischer Mythologeme und Theologoumena zu beobachten. Die Anspielung auf Homers Ilias, auf das im 18. Gesang genannte Sternbild des Großen Bären, sowie die Anklänge an das Alte und Neue Testament, an die apokalyptischen Untiere Behemoth und Leviathan des Buchs Hiob (40, 15–41, 26) als Sinnbilder einer von Gott geschaffenen Zerstörungsmacht, und gnostische Vorstellungen des Engelssturzes im Bild der geflügelten Tannen haben zu mythengeschichtlichen (Schadewaldt 1960, 108–112; Bothner 1986, 227–231) und theologischen Interpretationen (Rasch 1967; Weber 1986, 196–202) Anlass gegeben. In der ersten Strophe überlagern sich in den Komposita »Wolkenpelztier«, »Sternenaugen« und »Sternenkrallen« die Motivkomplexe des Sternbildes mit jenen des Waldtieres. Die sprachmagische Anrufung »komm herab« (W 1, 95) eines kollektiven Wir, das Hirtengebet, bewirkt das Herannahen dieser Gestalt des »Numinosen« (Rasch 1967, 286), die sich nun in der zweiten Strophe im Sprecherwechsel in ihrer Bedrohlichkeit an die Anrufenden wendet: »Ein Zapfen: eure Welt. / Ihr: die Schuppen dran. / Ich treib sie, roll sie / [...] und pack zu mit den Tatzen« (W 1, 95). Als »Wechselgesang zwischen Mörder und Opfer« hat Walter Jens diese Strophenfolge bezeichnet (Jens 1959, 231). Mit den Imperativen der dritten Strophe zeichnet sich erneut ein Perspektivenwechsel zum nun vereinzelten lyrischen Sprecher ab: Die mythisch-religiöse Macht, der Große Bär, wandelt sich im Jahrmarktsbild des an der Leine geführten Bären zum Tanzbären. Damit wird die bereits mit der ersten Strophe durch die Trochäen sprachrhythmisch vollzogene Anspielung auf den deutschen Tanz- und Tendenzbär, Heinrich Heines Atta Troll, motivisch ausgestaltet: »Auferstehn wird er im Liede, / [...] Auf vierfüßigen Trochäen« (Heine 1981, 563). Die warnende Vision der vierten Strophe – »’s könnt sein, daß dieser Bär / sich losreißt, nicht mehr droht« (W 1, 95) – macht jedoch darauf aufmerksam, dass auch die moderne Praxis der säkularen Domestizierung diese Macht nicht ihres Gewaltcharakters entkleidet. Die letzten beiden Strophen der Anrufung gestalten einen Erfahrungsraum, den Bachmann im Interview als »lyrische Variante von Nietzsches ›Gott ist tot‹« bezeichnet hat (GuI, 33). Im Vorgang der Zitation alter Mythologeme, »gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklichkeit«, bildet sich in der Figuration des Großen Bären eine
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Chiffre für die gegenwärtige Bedrohung durch eine geschichtliche Macht heraus. Konkretisiert wird diese Macht in den Gedichten durch »Minen« (W 1, 82), »Stacheldrahtverhau« (W 1, 88) und atomare Aufrüstung (Freies Geleit), wodurch sich die Texte in der Zeit des Postfaschismus und des Kalten Kriegs verorten. Die dichterischen Waffen, mit denen dieser Bedrohung begegnet werden kann, gewinnen im Gedicht Mein Vogel Gestalt. Als Verbindung der alten Worte mit neuen im Sinne der Wiederbelebung eines antiken Mythologems lässt sich die dem lyrischen Ich in Mein Vogel als »Beistand des Nachts« (W 1, 96) an die Seite gestellte, Wachsamkeit und Weisheit symbolisierende Eule der Pallas Athene verstehen (Rasch 1967, 275 f.). Mit ihr wird die Schutz- und Kriegsgöttin, die Jägerin, aber auch die Athene Ergane, die Göttin der Künstler und Handwerker mit den ihr heiligen Tätigkeiten des Spinnens und Webens als Teilprojektion des lyrischen Ich aufgerufen (Thiem 1972, 35, 41; Oelmann 1980, 13). »L ’hibou«, die Eule, war Ingeborg Bachmanns Spitzname in der Schulzeit (Höller 1999, 22). Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe, mit jener Feder besteckt, meiner einzigen Waffe! Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder von dir. (W 1, 96)
Der Schleier ist sowohl als Zeichen der Athene zugeordneten Jungfräulichkeit gedeutet worden (Horn 1969, 89; Thiem 1972, 24–27) wie auch in Verbindung mit der Feder als der Dichtung Schleier, Johann Wolfgang Goethes Zueignung gemäß (Rasch 1967, 278 f.; Oelmann 1980, 14; Oberle 1990, 40). In der mythopoetologischen Athene-Konfiguration von Mein Vogel verdichten sich die auf die Gegenwart und Zukunft bezogenen Funktionen moderner Lyrik: das dichterische Wort als Waffe gegen die »verheerte Welt« (W 1, 96); die Eule als Verkörperung poetischer Rationalität, die in der Gegenwart das Wächteramt in der Welt, jene ins Licht gerückte Warte, wahrnimmt; und schließlich die im Verspinnen anklingende Athene Ergane, durch die als utopisches Richtbild die Heilung der Wunden der verheerten Welt antizipiert wird: »bis das Harz aus den Stämmen tritt, / auf die Wunden träufelt und warm / die Erde verspinnt« (W 1, 97). Ähnlich wie bei den Heine- und Friedrich Nietzsche-Anklängen der Anrufung des Großen Bären ist auch hier in den mythopoetischen Intertext die Signatur der Moderne eingetragen, abzulesen an der Angrenzung an und radikalen Abgrenzung von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Eule der Minerva. Beginnt diese ihren philoso-
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phischen Flug erst in der »einbrechenden Dämmerung«, nach dem Ende der Geschichte als »Bildungsprozeß« (Hegel 1986, 28), so zeigt Bachmanns Bild der »verheerten Welt« der Gegenwart, die »in die Dämmrung« zurücksinkt, auch das Ende einer solchen Geschichtskonzeption, deren metaphysischer Überbau zu »der Sterne Schutt« gehört, der dem Ich »genau auf das Haar« stürzt (W 1, 96). Die den Gedichtband abschließenden Lieder auf der Flucht akzentuieren das intertextuelle Verfahren der »Wiederherstellung« alter Schriften als »Lebenszeichen« (TKA 2, 291) noch einmal prägnant. Das vorangestellte Motto über das harte Gesetz der Liebe (»Dura legge d’Amor!«) aus Francesco Petrarcas I Trionfi ebenso wie die Zeilen »Unterrichtet in der Liebe / durch zehntausend Bücher« (W 1, 138, 141) verweisen auf das in den Liedern versammelte »Bildarchiv der Liebeslyrik« (Weigel 1999, 154). Der Bogen spannt sich von der klassischen griechischen, lateinischen und italienischen Literatur (z. B. Vergil, Horaz, Tasso, Dante) bis zur ästhetischen Moderne und zur Lyrik Paul Celans (vgl. Thiem 1972, 111–120; Oelmann 1980, 24–33; Weigel 1999, 154–161; Graf 2011, 120– 146). In Körper- und Sprachgesten durchlebt das lyrische Ich dieses Bildarchiv der Liebe, um einerseits dem Tradierten »wieder unerhörte Töne abzugewinnen« (Weigel 1999, 157) und um andererseits auf die Zäsur zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufmerksam zu machen. So wird das Sappho-Zitat »Ich aber liege allein« (W 1, 139) über Bilder der Eiszeit und des Todes mit Else Lasker-Schülers Gedichten Winternacht (»ich lieg’ in Grabesnacht«) und Ich liege wo am Wegrand übermattet (»Und zähl schon zu den Toten längst bestattet«; Lasker-Schüler 1966, 17, 203; vgl. Thiem 1972, 117) enggeführt. Dadurch scheint Kontinuität zwischen der Antike und Moderne im Hinblick auf die Liebesthematik auf und zugleich ist auch radikale Diskontinuität im Hinblick auf die zeitgeschichtliche Signatur des Todes markiert. Die Schlussverse der Lieder auf der Flucht sind eine Zitat-Collage aus Robert Musils Die Schwärmer (»Steigen und Sinken von Gestirnen«; Musil 1978, 331) und Rainer Maria Rilkes 19. Sonett an Orpheus (»Einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert«; Rilke 1955, 473; vgl. Thiem 1972, 118–120). Jedoch verweisen die Bachmanns »Lied überm Staub danach« (W 1, 147) eingeschriebenen Zeichen der Negativität auf eine Dichtung, die in Abgrenzung zur frühen Moderne der Zerstörung der Welt wie auch des lyrischen Ich eingedenk ist und darin bereits Paul Celans Fadensonnen antizipiert: »es sind / noch Lieder zu singen jenseits /
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der Menschen« (Celan 1986, Bd. 2, 26; vgl. Oelmann 1980, 31 f.). Die Gedächtnisfunktion der Lyrik erfüllt sich in der Anrufung des Großen Bären und den Gedichten aus dem Umfeld jedoch nicht allein auf der Ebene des Inhalts, sondern auch im Zitat historischer Sprachformen der Lyrik, in der Vielfalt der hier aufgerufenen Reim-, Vers- und Strophenschemata. Die Spannbreite reicht von der vierzeiligen Volksliedstrophe (Heimweg, Scherbenhügel, Bleib, Lieder auf der Flucht I–III; vgl. Horn 1968) bis zur Annäherung an die Konkrete Poesie (Reklame, Schatten Rosen Schatten; vgl. Bartsch 1997, 71 f.; Bothner 1986, 268). Verzeichnet Bachmanns erster Gedichtband nur zwei durchgängig gereimte Gedichte, so reimen sich in Anrufung des Großen Bären mehr als die Hälfte der Gedichte (Thiem 1972, 246 f.). Als Rückkehr zu traditionellen Formen der Lyrik ist dieses Verfahren nur unzureichend beschrieben, da der überlieferte Formenbestand sowohl von innen heraus gesprengt wird, als auch auf diesem Wege neue lyrische Formen entstehen, die Eingedenken und Innovation miteinander vermitteln. Vor allem die Italiengedichte des dritten Teils des Gedichtbandes führen diesen Prozess vor Augen. In der Kehrzeilenstrophik der Gedichte Unter dem Weinstock, Schatten Rosen Schatten und Am Akragas verbinden sich in der kunstvoll ausgearbeiteten Technik der Wiederholung eines Verses Anklänge an die einfache Form des Refrains, bekannt aus dem Volkslied, der Ballade und dem Bänkelgesang, mit solchen an variationsreichere, romanische und orientalische Formen wie Rondeau, Triolett und Ghasel, wie auch an Prinzipien des musikalischen Ritornells (vgl. Behrmann 1989, 62–68). In Anrufung des Großen Bären findet eine fortschreitende Entfaltung der Reim-, Vers- und Strophenbindung des Sprachmaterials statt. Im Hinblick auf den Reim lässt sich dies besonders anschaulich vergegenwärtigen: Der zweite Teil der Sammlung verwendet überwiegend halbe Kreuzreime, deren zweite und vierte Zeile männlich enden, während die weiblichen Zeilenausgänge der ersten und dritten Zeile keinen Reimpartner finden (Heimweg, Scherbenhügel, Harlem, Toter Hafen, Was wahr ist, siehe auch das spätere Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil). Im dritten Teil erweitert sich die Reimbindung jedoch zu vollständigen Kreuzreimen mit weiblichen und männlichen Endungen (Nord und Süd, Nach vielen Jahren, Bleib), weiblichen und männlichen Paarreimen (Brief in zwei Fassungen, Schwarzer Walzer) sowie zum umarmenden Reim (In Apulien; vgl. Reitani 2000 und 2016) und dem komplexen Reimschema der Kehrzeilenstrophik
(Lieder von einer Insel [V], Unter dem Weinstock, Am Akragas). Mit der der Lyrik eigenen Semantisierung der Kategorie Geschlecht bringt Bachmann auf diesem Wege, jenseits der Sprecherposition, eine weitere Möglichkeit der geschlechtlichen Codierung der Sprache ins Spiel. Besonders eindrücklich setzt sich diese Semantisierung der Metrik in dem den Gedichtband abschließenden Zyklus Lieder auf der Flucht fort, nun aber in der gegenläufigen Tendenz, indem die metrischen Bindungen von innen heraus fortschreitend zerstört werden bis hin zu vokalischen und konsonantischen Rudimenten lyrischer Regelmäßigkeit, die als »konkrete Laut- und Stimmen-Musik« (Behre 1996, 38) bezeichnet werden können. Weisen die Neapel im Winter gewidmeten Lieder I und III noch die bekannte vierzeilige Volksliedstrophe mit halbem, männlichem Kreuzreim auf (Horn 1968, 278–281), so lässt sich diese, kommt der Erfahrungsraum des (weiblichen) Ich zur Sprache, nicht mehr durchhalten, sondern wird in vier Zweizeiler aufgespalten, so dass nur noch bedingt von einem halben, weiblichen Kreuzreim gesprochen werden kann: Ich aber liege allein im Eisverhau voller Wunden. Es hat mir der Schnee noch nicht die Augen verbunden. (W 1, 139)
Erst die Erinnerung an ein Wir der Liebe in den letzten Zeilen des VI. Gedichts ermöglicht dann die Wiederaufnahme metrischer Bindung im VII. Lied, nach den reimlosen Gedichten IV–VI. Dies geschieht nun in Form eines regelmäßigen Strophenschemas (2/5/2/8/2/5) und anaphorischer Verschränkung der Verse durch die achtmalige Wiederholung »Innen« (W 1, 142), so dass die Struktur dem musikalischen Rondo ähnelt (Thiem 1972, 174; Weigel 1999, 159). Die zu beobachtende Annäherung an die Musik in Anrufung des Großen Bären und den Gedichten aus dem Umfeld, augenfällig gemacht durch die Musiktitel – die Liederzyklen, Schwarzer Walzer und die von Hans Werner Henze vertonten Gedichte Aria I und Freies Geleit (Aria II) –, vollzieht sich also vornehmlich auf der Ebene lyrischer Ordnungsstrukturen in Versform, Reim und vor allem Strophenschema (Weigel 1999, 161–167; Eberhardt 2002, 227–230; Mayer 2002; Miglio 2007). Der solchermaßen gefestigte Liebesdialog gewährt dem Ich einen Ort, eine Sprache und sogar die Möglichkeit, den Tod zu überwinden: »Innen sind deine Augen Fenster / auf ein Land, in
8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld
dem ich in Klarheit stehe«; »Innen ist dein Mund ein flaumiges Nest / für meine flügge werdende Zunge«; »Innen sind deine Knochen helle Flöten, / aus denen ich Töne zaubern kann, / die auch den Tod bestricken werden ...« (W 1, 142). Jedoch muss die neu gewonnene Sprachmacht bereits im nächsten Gedicht wieder preisgegeben werden. Im Versuch, den ersprochenen Innenraum auf »Erde, Meer und Himmel« zu transzendieren, zerbrechen die lyrischen Formen: Die erste Strophe wird noch durch identischen Reim und die Kehrzeile »die Erde« zusammengehalten, die nachfolgenden fünf Strophen nur noch durch die variierte Kehrzeile »diese geschlagene Erde«, »diese rastlose Erde«, »diese betäubte und betäubende Erde« (W 1, 143). Die Lieder IX–XIII ziehen sich auf Strophenschemata zurück, bis schließlich, nach dem Verlust der Liebe, selbst das lyrische Ich der Zerstörung anheimfällt. Es sind nun die kleinsten, auch graphisch durch Kleinbuchstaben markierten sprachlichen Einheiten, die Vokale, von denen ausgehend im XIV. Lied ein lyrischer Sprachfluss erhofft wird, der die im Zyklus Gestalt gewordene Eiszeit überwindet, die Konsonanten zum Klingen bringt. Wart meinen Tod ab und dann hör mich wieder, es kippt der Schneekorb, und das Wasser singt, in die Toledo münden alle Töne, es taut, ein Wohlklang schmilzt das Eis. O großes Tauen! Erwart dir viel! Silben im Oleander, Wort im Akaziengrün Kaskaden aus der Wand. (W 1, 147, Hervorhebung M. S.)
Die mit dem Einbrechen der Eiszeit in den Südraum und dem Verlust der Liebe einhergehende Destruktion tradierter lyrischer Formen und deren Reduktion auf die kleinsten sprachlichen Einheiten birgt eine Sprachutopie, die jedoch jenseits des lyrischen Ich und jenseits eines Wir der Liebe angesiedelt ist: »Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen.« (W 1, 147).
Topographie Die Bedeutung des Topographischen in dem Gedichtband Anrufung des Großen Bären ist augenfällig, allein 15 von 31 Titeln bedienen sich dieser Metaphorik. Die
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topographischen Bewegungen der Landflucht im ersten und vierten Teil (Von einem Land, einem Fluß und den Seen; Lieder auf der Flucht) rahmen solche der Landnahme im zweiten und dritten Teil (Das erstgeborene Land). Die zyklische Struktur des Lyrikbandes wird neben dem biographischen Erzählmuster des Curriculum Vitae vorrangig durch die Sprachbewegung durch den Raum getragen: »Die Teile II und III sind nach den Leitmotiven Nacht/Winter/Norden versus Sonne/Sommer/Süden einander entgegengesetzt« (Koch 1995, 211). Der vierte Teil nimmt eine »Engführung der Nord-Süd-, Dunkel-Licht-, Eis-Hitze-Polarisierung« vor (ebd.); zudem ist die TagNachtmetaphorik hervorgehoben worden (Rapisarda 2013, 41–46). Bachmanns zweiter Lyrikband bietet damit dem in den Kulturwissenschaften vollzogenen spatial turn ein besonderes Anwendungsfeld, wobei Arturo Larcati zu Recht angemerkt hat, dass die Autorin in ihren Italiengedichten keine realen Orte schildere, sondern eine »literarische Landkarte« (Larcati 2006, 109; so auch Reitani 2016) des Landes zeichne. Allerdings spielt Reales in diese literarische Kartographie hinein. So können die Brechungen einer geläufigen Südmetaphorik in den Italiengedichten als Resonanz auf das filmische Italienbild des Neorealismus eines Luchino Visconti oder Roberto Rossellini oder auf die ethnologischen Arbeiten eines Ernest De Martino gelesen werden (Reitani 2016, 114; Miglio 2016, 134– 136). Laura Canali und Camilla Miglio haben Ingeborg Bachmanns lyrische Zeichnung Italiens als Südland in ihr vor dem Hintergrund von Pierre Noras Erinnerungsorten und Franco Morettis literarischer Kartographie entwickeltes Projekt einer »géo-poétique« aufgenommen, in der auf eigentümliche Weise »l’écriture« und »le réel« miteinander verwoben sind (Canali/Miglio 2016, 356). Die wechselseitige Konstitution von Land und Ich in dem Gedicht Das erstgeborene Land, der zufolge sowohl das Land als Erstgeburt des lyrischen Ich wie auch jenes als Erstgeburt des Landes erscheint (Thiem 1972, 80–84; Huml 1999, 182–187), macht darauf aufmerksam, dass Bachmanns Landschaften gleich dreifach codiert sind: als innere Landschaften, als »Geschichtslandschaften« (Höller 1987, 26) und schließlich als literarisierte Sprachlandschaften. Subjektive Erinnerungs- und Wahrnehmungsspuren überschreiben den konkreten Ort, lassen ihn zu einer »inneren Landschaft« oder »imaginären Topographie« werden (Fehl 1970, 196; vgl. Thiem 1972, 54; Weigel 1999, 247). So verwandelt sich z. B. Italien im Horizont des biographisch verbürgten Schlangenbisses zu einem Ort des
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»Grausens im Licht« (W 1, 119; vgl. Bothner 1986, 265). Darüber hinaus wird auch das Land in einen geschichtlichen Prozess eingebunden. Durch eine dem Ich analog gesetzte Todeserfahrung (»Erdbeben«) erwacht Italien zu neuem Leben: »Da ist der Stein nicht tot.« Und schließlich konstituiert sich das Sprachland Italien durch die Negation der geläufigen Südmetaphorik: »Da blüht kein Rosmarin« (W 1, 119 f.). Ein Signal für die geschichtliche Codierung des Raumes in Bachmanns zweitem Gedichtband setzt bereits das Eröffnungsgedicht Das Spiel ist aus. Hier zeigt sich der Einbruch der Geschichte in die kindlichen Wunschländer von »Schlaraffenland« und »Karfunkelfee« in der Bildlichkeit des Krieges: »Gib acht, vor den schwarzen Linien hier / fliegst du hoch mit den Minen« (W 1, 82). Die psychoanalytischen, auf das Inzestmotiv konzentrierten Deutungen des Gedichts (Politzer 1974; Bothner 1986, 201–224) greifen zu kurz und übersehen, mit welcher Vehemenz sich hier die kollektiv-historischen Kontexte in die Lebensgeschichte des Einzelnen einzeichnen, bis hinein in die Kinderträume (Höller 1987, 38–43). Das den zweiten Teil des Lyrikbandes einleitende Gedicht Landnahme führt die Geschichtlichkeit des Natürlichen vor Augen, Natur und Zivilisation werden so ineinander verschränkt, dass »die Natur in den Entfremdungsprozeß der menschlichen Gesellschaft einbezogen ist und nur dessen Aufhebung das Verhältnis des Menschen zur Natur verändern kann« (Höller 1977, 303). Dem vernarbten, verhärmten, von der Liebe verlassenen Weideland wird das Horn als Zeichen des poetischen Widerstands abgetrotzt: »Um dieses Land mit Klängen / ganz zu erfüllen, / stieß ich ins Horn, / willens im kommenden Wind / und unter den wehenden Halmen / jeder Herkunft zu leben!« (W 1, 98). In dem VIII. Lied des Zyklus’ Lieder auf der Flucht ist es die von den Zeichen industrieller Ausbeutung versehrte Erde, mit »Hochöfen«, »mit ihren zuckenden Magnetfeldern«, mit »bleiernen Giften« (W 1, 143), die vor Augen steht. Schließlich wird in dem 1957 veröffentlichten Zeitgedicht Freies Geleit (Aria II) im Kontext des beginnenden Widerstands gegen die atomare Rüstungspolitik ein humaner, an Freiheit (»freies Geleit«) und Solidarität (»Mit uns will sie die bunten Brüder / und grauen Schwestern erwachen sehn«) orientierter Umgang mit der Natur gefordert: »Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, / kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel« (W 1, 161; vgl. Höller 1987, 67–70; Kalisch 2015). Mit Nachdruck hat sich Bachmann in Interviews von der Naturlyrik, den »Gräserbewisperern« distanziert und hingegen auf
das »Geschichtsempfinden« (GuI, 45, 32) hingewiesen, das sich in ihren mit Geschichtszeichen markierten Landschaften Ausdruck verschafft. Gegen die sich in die konkrete Topographie einzeichnende historische Deformation setzen die Gedichte den U-topos der poetischen Sprache, indem im Durchgang durch die Referenzen auf geschichtliche Realität den Orten zugleich ein utopisches Gedächtnis der Literatur mitgegeben wird. Im Blick auf ihr Gedicht In Apulien hat Ingeborg Bachmann diesen Vorgang folgendermaßen beschrieben: »Natürlich war ich in Apulien; aber ›In Apulien‹ ist etwas andres, löst das Land auf in Landschaft, und führt sie zurück auf das Land, das gemeint ist. Es gibt wunderschöne Namen für die Ursprungsländer, die versunkenen und die erträumten, Atlantis und Orplid« (KS, 187; W 4, 305). So ist die literarisierte Sprachlandschaft Italien als Land der Initiation in Tod, Liebe und Sprache, die in der Anrufung des Großen Bären entsteht, zum Teil Zitat der literarischen Italienreisen des 18. Jahrhunderts (vgl. Huml 1999; Reitani 2000, 173 f.). In Anklang an Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud, der die archäologische Praxis der Psychoanalyse mit der »Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt« verglich (Freud 1991, 157), zieht auch Bachmann für ihre lyrische Archäologie die Analogie von Sprache und Stadt heran: »Die Sprache selbst, meine ich, wäre eine Stadt, und es wachsen eben außen neue Worte dazu, und die alten Gedichte sind aus dem alten Wortmaterial gemacht, die neuen Gedichte aus altem und neuem, würde ich sagen« (GuI, 17; vgl. KS, 141; W 4, 124). Insbesondere das 1957 erstveröffentlichte Gedicht Exil arbeitet durch die Metaphorik von der Sprache als Haus mit dieser Analogie: Ich mit der deutschen Sprache dieser Wolke um mich die ich halte als Haus treibe durch alle Sprachen (W 1, 153)
Durch die im Erfahrungsraum des Post-Holocaust nicht unproblematische Ausweitung des Exil-Begriffs auf die dichterische Existenz – das Gedicht trug zunächst den Titel Der ewige Jude (Weigel 1999, 242; vgl. Revesz 2007, 203–207) – erscheint der poetische U-topos als dem lyrischen Ich einzig noch verbleibender Raum. Durch die topographische Sprachbewegung, die den Gedichtband Anrufung des Großen Bären und die Gedichte aus dem Umfeld trägt, hat Bachmann die aus den Frankfurter Vorlesungen bekannte Wendung »Eine neue Sprache muß eine neue Gangart haben«
8 Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld
(KS, 263; W 4, 192) materialisiert. In diesem Verfahren der Überblendung von Topographie und Sprache, das den Orten sowohl ihre subjektive Erfahrungsdimension zurückgibt, wie es ihnen auch kollektive Geschichtszeichen einprägt, nähert sich die Lyrik dem an, was Paul Celan 1960 in seiner Meridian-Rede »Toposforschung [...] im Lichte der U-topie« genannt hat (Celan 1986, Bd. 3, 199).
Liebes- und Sprachutopie Die strukturelle Verbindung von Sprache, Kunst und Liebe in Bachmanns Lyrik ist am prägnantesten in ihrer Interviewaussage »Liebe ist ein Kunstwerk« gefasst (GuI, 109; vgl. Oberle 1990; Weigel 1999, 149–161). Dem Gestus der Liebe entspricht in der Anrufung des Großen Bären der Sprachgestus der Apostrophe, der Anrufung. Ist es in dem ersten Gedicht Das Spiel ist aus der Bruder, der die Position des angesprochenen dialogischen Du innehat, wie auch in Teilen des den Geschwistermythos weitertradierenden Zyklus’ Von einem Land, einem Fluß und den Seen, so sind es im Folgenden sowohl die Geliebte (Nebelland, Die blaue Stunde), der Geliebte (Lieder von einer Insel, Nord und Süd, Brief in zwei Fassungen, Lieder auf der Flucht), die Liebe selbst (Erklär mir, Liebe), aber auch die Sprache, die in die Position des Liebespartners rücken, wie in den poetologischen Gedichten Mein Vogel, Rede und Nachrede und dem 1957 veröffentlichten Gedicht Geh, Gedanke. Die den Begriff ›Liebeserklärung‹ unterlaufende Anrede »Erklär mir, Liebe« produziert semantische Offenheit. Wer ist angesprochen? »Die Liebe – personifiziertes Abstraktum – oder eine Frau, die sie ›Liebe‹ nennt?«, fragt Christa Wolf (1983, 128). Im Weiteren lässt sich der Titel als triadische, rhetorische Figur lesen, die mit dem ›Erklären‹ das docere, mit der ›Liebe‹ das delectare und im Appell das movere verbindet (Bossinade 1989, 187). Der Gegensatz von docere und delectare kehrt in der existentiellen Situation des lyrischen Ich wieder, das ausgeschlossen ist aus dem Liebesreigen der Natur – »die Welle nimmt die Welle an der Hand« –: sollt ich die kurze schauerliche Zeit nur mit Gedanken Umgang haben und allein nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun? (W 1, 110)
Aufgelöst wird dieser Gegensatz durch das movere, die Sprachbewegung des Textes, der einer dialektischen Argumentation gleich den als Refrain im Ge-
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dicht wiederholten Titel »Erklär mir, Liebe!« um das Attribut »was ich nicht erklären kann« ergänzt und schließlich in die Negation »Erklär mir nichts« überführt (W 1, 109 f.). Im Akt der sprachlichen Performanz realisiert sich die Liebeserklärung als Durchstreichung des diskursiven Elements der Erklär- und Begründbarkeit, wie dies auch der Vers »und er verwirft und wählt dich ohne Grund« (W 1, 158) aus dem Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil indiziert (Weigel 1999, 154). Die bereits am Titel beobachtete Verweigerung von Eindeutigkeit der Referenz setzt sich auch in Hinblick auf die geschlechtliche Codierung der Sprecherposition fort. Das in der ersten Strophe angesprochene Du kann sowohl den männlichen Geliebten wie auch die Selbstanrede meinen, so dass »das poetische Ich zweigeschlechtlich« erscheint (Bossinade 1989, 194; vgl. Pichl 2000). Lenkt die Deutung der Liebe als Form des Sprachverhaltens den Blick auf die Performativität des Sprechens, so lässt sich in diesem Kontext auch die in der Anrufung des Großen Bären Gestalt werdende Sprachethik mit ihren komplementären Elementen von Sprachkritik und Sprachutopie verorten. Die Appellstruktur der Texte realisiert sich in der Vielzahl der Akte sprachlicher Performanz: Sei es als Anruf (Horn 1969), wie in den Gedichten Anrufung des Großen Bären, Mein Vogel, An die Sonne, oder als Befehl, wie in Erklär mir, Liebe; Bleib; Geh, Gedanke, wie auch in den einander entgegengesetzten Gesten der Frage und des Befehls, die für Reklame konstitutiv sind (Höller 1977, 293–296). In Hervorkehrung der Differenz von Ich und Sprache wird die Sprache selbst als Partnerin angesprochen: »Geh, Gedanke, solang ein zum Flug klares Wort / dein Flügel ist« (W 1, 157); »Komm nicht aus unsrem Mund, / Wort, das den Drachen sät« (W 1, 116). In der antithetischen Struktur des Wechselgesprächs von Nachrede, Drachenwort und Rede, »Gunst aus Laut und Hauch« (Rede und Nachrede; W 1, 116 f.), wird das Wort tatsächlich im Munde umgedreht. Im spiegelbildlichen Strophenschema (5/4/4/4/3/3/4/4/4/5; vgl. Thiem 1972, 175; Oberle 1990, 79 f.; Weigel 1999, 165) mit der Mittelachse nach der fünften Strophe korrespondieren einander die Strophen entweder harmonisch, wie die ›Gebete‹ der vierten und siebten Strophe veranschaulichen: »Wort, sei bei uns / von zärtlicher Geduld«; »Wort, sei von uns, / freisinnig, deutlich, schön«, oder im Kontrast, wie die Umkehrung der einleitenden Verse »Komm nicht aus unsrem Mund, / Wort, das den Drachen sät« in der Schlussstrophe vorführt: »Komm und versag dich nicht, / da wir im
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II Das Werk – A Lyrik
Streit mit soviel Übel stehen.« In Abkehr von Urteil (6. Strophe) und mimetischem Sprachgebrauch (»Dem Tier beikommen wird nicht, wer den Tierlaut nachahmt«) wird die in der Appellstruktur des Textes angelegte Distanz zwischen Sprecher und Sprache produktiv gemacht: im Durchspielen der Gesten von Befehl, ›Gebet‹, Bitte bis zum Anruf als Ausdruck des Sprachglaubens: »Mein Wort, errette mich!« (W 1, 116 f.; vgl. Fehl 1970, 146 f.). Der in diesem Gedicht, wie auch in Reklame und Ihr Worte, zu beobachtende Gegensatz von »schöner Sprache« (W 1, 92), einem »Utopia der Sprache« (KS, 344; W 4, 268), und schlechter bzw. »Gaunersprache« (W 2, 108) vollzieht keine strukturelle, sondern eine ethisch-pragmatische Sprachkritik, die Sprachverzicht und Schweigen als adäquates Sprachverhalten in sich schließt. Das ersprochene Schweigen begleitet Rede und Nachrede, beschließt Reklame und vor allem die Gedichte aus den 1960er Jahren Ihr Worte, Enigma und Keine Delikatessen. Im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit Wittgensteins Sprachphilosophie, die sich in der Sprachspielmetapher in Das Spiel ist aus und Bleib dokumentiert, wendet sich Bachmanns lyrische Gebrauchstheorie der Sprache den konkreten Akten des Sprachverhaltens und mithin der pragmatischen Relation von Sprachzeichen und Sprecher zu: »Die Vorzüge jeder Sprache wurzeln in ihrer Moral, [...] die Worte sind was sie sind, sie sind schon gut, aber wie wir sie stellen, verwenden, das ist selten gut. Wenn es schlecht ist, wird es uns umbringen« (GuI, 25 f.). Den Zusammenhang von Schuld und Sprache thematisieren ebenso die in den Jahren 1956/57, im Umkreis der Anrufung des Großen Bären entstandenen Gedichte. In alttestamentarischer Motivik werden mit Kain und Abel (Bruderschaft) und Nach dieser Sintflut Sündenfall und Erlösung durch die Sprache (Exil, Mirjam) – durch ein »Blatt« bzw. ein »klares Wort« (W 1, 154, 157, 160) – aufgerufen. Stehen die Gedichte in dieser Hinsicht dem mythopoetischen Textverfahren des zweiten Gedichtbandes nahe, so verweist die auch am Sprachmaterial durch Reduktion der Versmöglichkeiten (Exil, Hôtel de la Paix) vollzogene Ästhetizismuskritik (Strömung; Geh, Gedanke) bereits auf die Lyrik der 1960er Jahre. Darüber hinaus eröffnet die hier erstmals vorgenommene Engführung des Sündenfalltopos mit der Mordmetapher, dem »Mörder Zeit« (W 1, 156; vgl. KS, 300; W 4, 231), die Poetologie der Todesarten. Quellen
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Freud, Sigmund / Breuer, Josef: Studien über Hysterie. Frankfurt a. M. 1991. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke, Bd. 7. Frankfurt a. M. 1986. Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, Bd. 7. Hg. von Klaus Briegleb. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981. Lasker-Schüler, Else: Sämtliche Gedichte. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1966. Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 6. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd. 1. Hg. vom RilkeArchiv und Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden 1955. Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Darmstadt/Neuwied 1983.
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II Das Werk – A Lyrik
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Marion Schmaus
9 Späte Gedichte
9 Späte Gedichte In den Jahren 1961 bis 1963 hat Ingeborg Bachmann in Interviews verschiedentlich nahegelegt, sie habe nach ihrem zweiten Lyrikband Anrufung des Großen Bären (1956) und der Gedichtgruppe in der Zeitschrift Botteghe Oscure (1957) »fast bewußt aufgehört, Gedichte zu schreiben« (GuI, 28). Damit schien die Autorin den öffentlichen Eindruck eines Gattungswechsels von der Lyrik zur Erzählprosa zu bestätigen, der durch ihren ersten Erzählband Das dreißigste Jahr (1961) entstanden war. Bei näherer Hinsicht erweist sich die vermeintliche Absage an die Lyrik jedoch als Ausdruck einer sprach- und literaturkritischen Selbstbesinnung der Autorin auf der Suche nach einer anderen, neuen lyrischen Sprache im Sinne der literaturtheoretischen Grundüberlegungen ihrer Frankfurter Vorlesungen (KS, 263; W 4, 192): »Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir der Verdacht kam, ich ›könne‹ jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe. Und es wird eben keine Gedichte mehr geben, eh’ ich mich nicht überzeuge, daß es wieder Gedichte sein müssen und nur Gedichte, so neu, daß sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen« (GuI, 40). Diesem strengen ethischen und ästhetischen Maßstab poetisch zu entsprechen, ist ihr in ihrer Lyrik der 1960er Jahre offenbar nur selten gelungen. Die wenigen von ihr publizierten späten Gedichte – vier Widmungsgedichte sowie die 1968 in der Zeitschrift Kursbuch veröffentlichten (Keine Delikatessen, Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen liegt am Meer) – gehören allerdings zum »bedeutendsten Teil ihres lyrischen Œuvres« (Höller in Bachmann 1998, 7). Sie verbinden den »rückhaltlose[n] Einsatz der eigenen Existenz« (Bartsch 1997, 123) mit sprachkritisch und ethisch begründeter poetologischer Selbstreflexion sowie mit der Erprobung ganz unterschiedlicher Formen lyrischen Sprechens. Den wenigen lyrischen Veröffentlichungen steht allerdings ein umfangreicher Korpus nachgelassener Gedichtentwürfe aus den 1960er Jahren gegenüber, der die Annahme eines ›Verstummens‹ der Lyrikerin (trotz der Schwerpunktverschiebung zur TodesartenProsa) zusätzlich widerlegt. Fünf nachgelassene Gedichtentwürfe aus den Berliner Jahren (1963–65) hat Hans Höller im Rahmen seiner Faksimile-Edition von Entwürfen zu drei der vier Kursbuch-Gedichte ediert (Bachmann 1998). Die gleichen fünf Gedichtentwürfe haben die Erben der Dichterin zusammen mit 99 anderen Entwürfen aus dem gesperrten Nachlass unter dem Titel Ich weiß keine bessere Welt herausgegeben
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(Bachmann 2000). Diese Auswahlausgabe, die seither erhebliches Forschungsinteresse gefunden hat (z. B. Franconi 2004; Schlinsog 2005; Nicolisi 2006; Larcati/ Schiffermüller 2010a; McMurtry 2012; Höller/Larcati 2016), umfasst vor allem zahlreiche stark autobiographische Gedichtentwürfe aus den Jahren 1962 bis 1964, in denen Bachmann die durch die schmerzhafte Trennung von Max Frisch ausgelöste Lebensund Schreibkrise verarbeitet. Daneben stehen u. a. Gedichte, die sich den Pragreisen des Frühjahrs 1964 (Bachmann 2000, 160–164) und der Ägyptenreise im April/Mai 1964 (ebd., 155–157, 165–169) verdanken, sowie einige deutlich spätere Entwürfe (ebd., 170– 175; vgl. zur editorischen Problematik der späten Gedichte Göttsche 2004). Die Publikation dieser Entwürfe hat in der literaturkritischen Öffentlichkeit eine vor allem in der Wochenzeitung Die Zeit ausgetragene Kontroverse um die Zulässigkeit solcher Nachlasspublikationen und den ästhetischen Status der Gedichte ausgelöst (vgl. Rameder 2006; Larcati/Schiffermüller 2010a). Mittlerweile hat die Diskussion jedoch dazu beigetragen, »das Bild von Ingeborg Bachmann als Lyrikerin grundlegend zu revidieren« (Larcati/Schiffermüller 2010b, 7) und jenen »kunstfernen Weg« (Höller 2010, 26) zu entdecken, mit dem die Autorin in den 1960er Jahre »aus den Gebrauchsformen der lyrischen Sprache der Nachkriegszeit auszubrechen« (Busch 2010, 96) und eine neue Poetik zu entwickeln sucht. Die Publikation von Bachmanns »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« aus den Jahren 1962 bis 1968 (Bachmann 2017) unter dem Titel »Male Oscuro« wirft nun zusätzliches Licht auf die nachgelassenen Gedichtentwürfe. Sie lässt die »eng[e] Verschränkung von Lebens- und Werkgeschichte« (Kommentar ebd., 146) und die motivisch-thematischen Querverbindungen genauer hervortreten, welche die späten Gedichte und Gedichtentwürfe mit diesen biographischen Zeugnissen sowie mit den Texten des Todesarten-Projekts verbindet (vgl. Schlinsog 2005; Rameder 2006; Höller/Larcati 2016; Kommentar in Bachmann 2017). Dadurch ist die späte Lyrik in den letzten Jahren ein neuer Schwerpunkt der BachmannForschung geworden.
Widmungsgedichte Vier der von Bachmann selbst veröffentlichten späten Gedichte sind Widmungsgedichte poetologischen Charakters an verehrte bzw. befreundete Lyriker und Komponisten. Das Gedicht Ihr Worte (1961) trägt die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_9
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Widmung »Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung« (W 1, 162). Es verdankt sich Bachmanns Begegnung mit Nelly Sachs am 25./26.5.1960 in Zürich (zusammen mit Max Frisch und Paul Celan) aus Anlass der Verleihung des Droste-Preises der Stadt Meersburg an Nelly Sachs am 29.5.1960 (Celan 2001, Bd. 2, 439 f.). Auf der Suche nach einer lyrischen Sprache, die weder der in der Gesellschaft herrschenden Rede- und Denkweise noch den Klischees der lyrischen Tradition erliegt, entwirft die poetologische Sprachkritik des Gedichts einen Spannungsbogen von dem Aufruf an die Lyrik als »Utopia der Sprache« (KS, 344; W 4, 268) – »Ihr Worte, auf, mir nach!, / und sind wir auch schon weiter, / zu weit gegangen, geht’s noch einmal / weiter, zu keinem Ende geht’s« – bis zur radikalen Absage an die »schlechte Sprache« (KS, 344; W 4, 268) formelhafter oder ideologischer Rede in dem »lyrische[n] Appell« (Mechtenberg 1978, 84): »Kein Sterbenswort, / Ihr Worte!« (W 1, 162 f.). Stärker ideologiekritisch ausgerichtet ist die poetologische Sprachreflexion in dem Gedicht Wahrlich (1965), das Bachmann Anna Achmatowa gewidmet und anlässlich der Verleihung des ›Premio Etna-Taormina‹ an diese russische Lyrikerin vorgetragen hat (Taormina, 12.12.1964). Hier bildet das Verstummen die sprachskeptische Voraussetzung literarischen Sprechens – »Wem es ein Wort nie verschlagen hat, / [...] dem ist nicht zu helfen« –, und doch lässt das diskursive Universum der Moderne keinen Raum mehr für eine ›absolute‹ Sphäre der Lyrik jenseits der gesellschaftlichen Sprachpraxis: »Einen einzigen Satz haltbar zu machen, / auszuhalten in dem Bimbam von Worten. // Es schreibt diesen Satz keiner, der nicht unterschreibt« (W 1, 166). Lyrik kann ihre utopische Kraft also nur in der kritischen Auseinandersetzung mit der gegebenen Diskursrealität entfalten. Das Gedicht In memoriam Karl Amadeus Hartmann (1965) aus dem Epitaph auf diesen mit der Autorin bekannten Komponisten setzt demgegenüber die überlegene Ausdruckskraft der Musik gegen die sprachlichen Rituale öffentlicher Trauer (Bachmann 1966). Auch das Kursbuch-Gedicht Enigma, das die Widmung »Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi« trägt, führt mit Zitaten aus Alban Bergs Peter Altenberg-Liedern und dem Frauenchor aus dem 5. Satz von Gustav Mahlers 3. Sinfonie einen vielschichtigen intermedialen Dialog mit der Musik, die angesichts der Endzeit (»Nichts mehr wird kommen«) am Rande des Verstummens der Sprache die letzte Ausdruckskraft bleibt (W 1, 171; vgl. Höller/Laracto 2016, 84–90; s. zu diesen musikalischen Widmungsgedich-
ten auch Kap. 46). Die Widmung bezieht sich auf Henzes fünfsätziges Instrumental- und Vokalwerk Ariosi nach Gedichten von Torquato Tasso (1963) und erinnert darin zugleich an die Zusammenarbeit der Autorin mit dem Komponisten (vgl. Burdorf 2001; Bielefeldt 2006; Petersen 2014, 106–115; s. Kap. 20). Zu den Widmungsgedichten können schließlich jene Nachlassgedichte (Bachmann 2000, 116–126) gerechnet werden, die der italienischen Dichterin Gaspara Stampa und durch eingeschlossene Zitate aus Giacomo Puccinis Oper Tosca (1900) zugleich der Opernsängerin Maria Callas gewidmet sind, die Bachmann im Januar 1956 in der Mailänder Scala erlebt hatte (vgl. Miglia 2010).
Autobiographische Gedichtentwürfe Die zahlreichen, aus dem gesperrten Nachlass veröffentlichten Gedichtentwürfe der Jahre 1962 bis 1964 (Bachmann 2000) zeigen zum einen, wie die Autorin in ihrer mit der Trennung von Max Frisch verbundenen Lebenskrise lyrische Rede therapeutisch verwendet. Insofern sind diese Gedichtentwürfe als autobiographische Dokumente zu lesen, in denen Bachmann die tradierten ebenso wie die selbst erarbeiteten lyrischen Sprechweisen rücksichtslos zerschreibt. Sie sprechen von der Enttäuschung ihrer Liebes- und Partnerschaftserwartungen, von traumatischen Erfahrungen, von Wut und Schmerz, Depression und Verzweiflung, aber auch von Widerstand und Neuorientierung. Zum anderen dokumentieren diese Entwürfe daher aber in der immer neuen Variation wiederkehrender Motive, Wendungen und Zitate das auch literarische Ringen um den lyrischen Ausdruck der erlittenen Verletzungen. Die Forschung spricht von der »doppelten Lesbarkeit« der Gedichte als »lebensgeschichtliche Dokumente einer Krankheit von Körper und Seele und als eigentümliches Manifest einer Poetik« (Schiffermüller 2010, 49; vgl. Höller 2010, 27). Für die Schreibende bedeutet ihre Lebenskrise notwendig auch eine Schaffenskrise – »als wären die Worte am Leben, als wäre das Leben am Wort« und »Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen« (Bachmann 2000, 126, 11) –, doch ermöglicht das Schreiben zugleich Gegenwehr und Selbstfindung: »Ich habe die Feder / wieder in der Hand / härter gespitzt [...]« (ebd., 89). Das leidende Ich dieser Entwürfe findet (wie später das Ich in Malina) in Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde ein ästhetisches Ausdrucksmodell (s. Bachmann 2000, 95–115),
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es spricht sich (wie später in Enigma) Trost zu mit dem Frauenchor aus Mahlers 3. Sinfonie (»du sollst ja nicht weinen«; ebd., 39, 51), identifiziert sich mit der verzweifelten Liebe der italienischen Dichterin Gaspara Stampa – das Zitat »vivere ardendo e non sentire il male« (ebd., 120), das zugleich Gabriele d’Annunzios Roman Das Feuer (1900) zitiert, wird in ähnlicher Ausdrucksfunktion in den Roman Malina eingehen (TKA 3.1, 542) – und ringt in diesem intertextuellen Dialog mit Musik und Literatur zugleich um »ein neues Leben« (Bachmann 2000, 107). Die existentielle Dimension der Gedichte aber ist verbunden mit der Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen des eigenen Leidens. So sieht sich das lyrische Ich der Entwürfe »zum Experiment / gemacht« in einer »Gesellschaft«, der es »die Revolution« wünscht (Bachmann 2000, 9 f.), setzt gegen »die schwachsinnige Moral der Opfer«, d. h. der Selbst-Opferung (ebd., 20), eine selbstbewusste »Politik der Schwäche« (ebd., 152) und analysiert in der eigenen ›Zutraulichkeit‹ die Voraussetzung der Zerstörung ihrer »prästabilierte[n] Harmonie« (ebd., 37). In thematisch-motivischer Nähe zu den (späteren) Todesarten-Texten (vgl. Rameder 2006) umkreisen die Entwürfe in diesem Sinne die Verschränkung von politischer Zeitgeschichte und sozialer Alltagserfahrung im Verhältnis der Geschlechter und erkennen in der seelisch-körperlichen Leiderfahrung des Ich zugleich die »Deportationen« und Vernichtungserfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus wieder: Dieses Ich ist »ganz ein Körper, auf dem die Geschichte / und nicht die eigne, ausgetragen wird« (Bachmann 2000, 60). Elke Schlinsog interpretiert diese Gedichtentwürfe daher als »Lyrische ›Todesarten‹« (Schlinsog 2005, 20), die ähnlich wie Theodor W. Adornos Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951) für ein zivilisationskritisches und mit Erinnerung gesättigtes Schreiben nach Auschwitz stehen (ebd., 43). Mit solcher Einbettung der Lebenskrise in einen geschichtlichen Horizont stehen jene Gedichtentwürfe in Verbindung, die (in motivischer Nähe zu der Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle) Erfahrungen aus dem »geteilten Berlin« des Kalten Krieges thematisieren, in dem »eine Ideologie die andere rammt« (Bachmann 2000, 133, 147). Der teils groteske, teils satirische Blick auf Berlin als symbolischen Ort des Unfriedens (ebd., 130–149) ist auch hier Teil einer literarischen Überkreuzung von individueller Verstörung und politischhistorischer Situation, wie sie besonders eindringlich in dem Gedichtentwurf Schallmauer zum Ausdruck kommt (Bachmann 1998, 19). Der fast körperliche
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Einbruch des Lärms startender und landender Flugzeuge in die Wahrnehmungswelt eines kranken Ich ist hier Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem »Wahn« einer vom technischen Fortschritt besessenen und von Gewalt geprägten Gesellschaft (vgl. Höller 1994). An der Schnittstelle zwischen dem Leben des lyrischen Ich und dem von Berlin verkörperten OstWest-Konflikt entwickeln die Gedichte eine prägnante »Ästhetik des Schreckens« (Schlinsog 2005, 28). Aus dem Komplex der autobiographischen Gedichtentwürfe hat Bachmann nur ein Gedicht, Eine Art Verlust, in der Form einer Lesung veröffentlicht (Hörfunkaufnahme der BBC London, 15.7.1967). Dieses Gedicht ist sowohl durch seine Vorstufe Mild und leise (N455), einem der wiederkehrenden Wagner-Zitate, als auch durch den Entwurf Memorial (Bachmann 2000, 42) mit dem Konvolut jener Entwürfe verbunden, in denen die Autorin ihre Trennung von Max Frisch verarbeitet. Das Autobiographische wird hier aber auf die allgemeinere Ebene einer existentiellen Reflexion von Partnerschaft und Abschied gehoben. Die Eingangszeile »Gemeinsam benutzt: Jahreszeiten, Bücher und eine Musik« eröffnet eine lebensgeschichtliche Gedächtnistopographie gemeinsamer Gegenstände, Interessen und Erfahrungen als Erinnerung an eine Liebe, die – hierin ist ihr »Absolutheitsanspruch« (Oberle 1990, 67) gesehen worden – zugleich eine ganze »Welt«, ja die gültige Welt des lyrischen Ich bedeutet: »Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt« (W 1, 170). Die Sublimierung der biographischen Verstörung in die Sprache der Melancholie exemplifiziert die in den Entstehungsprozessen der späten Gedichte insgesamt beobachtete »Unterdrückung von Unmittelbarkeit« zugunsten einer »sich durchsetzenden Werkidee« (Höller in Bachmann 1998, 9).
Gedichte in der Zeitschrift Kursbuch 1968 Eine weitere Spur aus dem nachgelassenen Entwurfskomplex führt zu dem am meisten diskutierten poetologischen Gedicht Ingeborg Bachmanns, dem Kursbuch-Gedicht Keine Delikatessen. Einer der vormals gesperrten Gedichtentwürfe verschränkt Lebenskrise und Schaffenskrise zu einem Verlust der bisherigen lyrischen Sprache: »Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen« (Bachmann 2000, 11). Der trauernde Abschied von den »schönen Worten, mit euren Verheißungen« verbindet sich hier mit dem Entwurf einer anderen, sarkastischen Sprache als lyrischer Antwort auf eine von Gewalt geprägte Welt: »es muß
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würziger sein, eine gepfefferte Metapher / müßte einem einfallen. Aber mit dem Messer im Rücken« (ebd.). In den Entwürfen zu Keine Delikatessen (Bachmann 1998, 46–79) lässt sich dann der Weg von einer poetologisch funktionalisierten Konsumkritik zu einer scharfen Abrechnung mit all jenen Formen der Lyrik verfolgen, die in ihrer rein ästhetischen Metaphernsprache oder im leerlaufenden Sprachexperiment gegenüber »Elend« und »Verzweiflung«, »Hunger / Schande / Tränen / und / Finsternis« in der Welt versagen: »Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? / Wer wird sich den Schädel zerbrechen / über so überflüssige Dinge – // [...] (Soll doch. Sollen die andern.) // Mein Teil, es soll verloren gehen« (W 1, 172 f.). Im Kontext des berühmten Kursbuch-Hefts 15, in dem Karl Markus Michel, Hans Magnus Enzensberger und Walter Boehlich ideologiekritisch den ›Tod‹ der ›bürgerlichen Literatur‹ verkündeten, ist Keine Delikatessen als Bachmanns »Abrechnung« mit der Lyrik schlechthin verstanden worden (Oelmann 1980, 74), und die Stellung des Gedichts in der Werkausgabe am Ende der Werkgruppe Lyrik hat das Missverständnis eines vollständigen Abschieds auch vom eigenen lyrischen Schaffen bekräftigt. Im Kursbuch jedoch eröffnet Keine Delikatessen die vier zuletzt veröffentlichten Gedichte, die als Zyklus verstanden werden können (Kaulen 1991), und es steht ihm am Schluss der Gruppe kontrapunktisch Bachmanns Hommage an die poetische Imagination in dem Gedicht Böhmen liegt am Meer gegenüber. Überzeugender sind daher Interpretationen, die das Gedicht in der werkgeschichtlichen Linie der poetologischen Gedichte als radikalisierte (Selbst-)Kritik lesen (z. B. Höller 1987; Bartsch 1997; Höller in Bachmann 1998; Reininger 2010, 62), als Absage an (traditionelle oder scheinbar avantgardistische) Formen der Lyrik, die Bachmanns kritischem Ethos nicht genügen, als »ikonographisches Manifest« (Carpi 2010, 135) und – in Auseinandersetzung mit der »massiven restaurativen Vereinnahmung ihrer Lyrik in den fünfziger Jahren« (Höller in Bachmann 1998, 82) – in diesem Sinne auch als Absage an jenen »Teil« des eigenen lyrischen Werks, in dem die Autorin sich nicht vollständig von der kritisierten ästhetischen Konsumierbarkeit und ideologischen Vereinnahmbarkeit glaubt befreit zu haben. In Interviews des Jahres 1973 hat Bachmann sich entsprechend – wie wohl schon 1968 in einem gesperrten Antwortbrief an Michel (N1523–1529; s. Kap. 30) – von der kurzschlüssigen Totsagung der Literatur distanziert und zugleich
gesagt, sie »stehe noch« zu ihren älteren Werken, »nur zu einigen Gedichten nicht mehr« (GuI, 125). Das kontrapunktisch gegen Keine Delikatessen gesetzte Gedicht Böhmen liegt am Meer gehört zusammen mit Prag Jänner 64 zu jenen Gedichten, die sich den beiden Pragreisen Ingeborg Bachmanns mit Adolf Opel im Januar und Anfang März 1964 verdanken. Im gleichen Kontext entstanden auch die nachgelassenen Gedichtentwürfe Wenzelsplatz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag (Bachmann 1998) und Heimkehr über Prag (Bachmann 2000); auch Enigma steht durch den Entwurf Auf der Reise nach Prag mit dieser Gruppe in Verbindung (Bachmann 1998, 137). Am Leitfaden der Reisestationen haben Hans Höller und Arturo Larcati diese sieben Gedichte als einen »Winterreise-Zyklus« interpretiert, der im Rückgang auf den multikulturellen Mythos vom »Haus Österreich« »Bachmanns Lebensmotiv« in neuer Intensität gestalte, nämlich das »zu Hause sein im Heimatlosen und im Aneinandergrenzen« (Höller/Larcato 2016, 11, 108). Ihre Monographie rekonstruiert im Detail die Entstehungsgeschichte dieser Gedichte anhand der überlieferten Entwürfe und kommentiert die biographischen, werkgeschichtlichen, literarhistorischen und politisch-historischen Kontexte. Im Kontrast zu Berlin als dem symbolischen Ort der Verstörung und des Kalten Krieges steht Prag in diesen »kleine[n], in sich brüchige[n] Utopien« (Höller in Bachmann 1998, 8) für die Wiederbegegnung mit jenem mythischen Habsburger Österreich, das Bachmann als ihre geistige Heimat entwarf (Schlinsog 2005, 176 f.; Höller/Larcati 2016). So führt beispielsweise der Weg vom Wenzelsplatz »nachhause« »in eine Gasse, die weit unten in meiner Vergangenheit endet / und mein Leben ist« bzw. »in der meine Herkunft ist« (Bachmann 1998, 23). Auch das im Kursbuch veröffentlichte Gedicht Prag Jänner 64 spricht diese Erfahrung der seelischen Wiederherstellung in einer »geistigen Heimkehr« (N2349, zit. nach Bartsch 1997, 127) aus: »Seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder, / böhmisch klingt es, / als wär ich wieder zuhause« (W 1, 169). In der symbolischen Topographie des Gedichts erstreckt sich der wiedergewonnene Raum von der Moldau über die Donau »bis zum Ural«. Das wichtigste Gedicht dieser thematischen Gruppe ist aber zweifellos Böhmen liegt am Meer, das in seinem Titel im Shakespeare-Jahr 1964 die unmögliche Topographie von Shakespeares spätem Drama The Winter’s Tale als »literarische Utopie« (Bartsch 1997, 127) zitiert und auf verschiedene Shakespeare-Stücke anspielt (Bothner 1986, 325–333; Cambi 2000). In teils klassischen, teils variierten antithetischen Alexandriner-
9 Späte Gedichte
Versen, deren Spiel von Ordnung und Normdurchbrechung der thematisierten »Gleichzeitigkeit von Zugrundegehn und Unverlorensein« »entspricht« (Neumann 1989, 384), im Zitat barocker Vanitas- und Vagantenmotive, in der für Bachmanns Werk leitmotivischen »Poetik des Aneinandergrenzens« der Kulturen und Sprachen sowie in der philosophischen Dialektik des Zugrundegehens als eines ›auf den GrundGehens‹ entwirft das Gedicht noch einmal »Bachmanns Mitteleuropa-Utopie« (Höller in Bachmann 1998, 126 f.) als Sinnbild von Freiheit und Frieden, als »Heimat aller Heimatlosen« (Neumann 1989, 386), als »Manifest der ›Lebensarten‹« im Gegensatz zu den »Todesarten« (Schlinsog 2005, 183) und »Sehnsuchtsfigur« der »›Rückkehr zu einem nie Gewesenen‹« (Weigel 1999, 357). In diesem Sinne hat die Autorin Böhmen liegt am Meer selbst rückblickend als ihr »letzte[s] Gedicht« und als ein »Geschenk« für »alle« bezeichnet, »die nicht aufgeben zu hoffen auf das Land ihrer Verheißung« (N2349, zit. nach Bachmann 1998, 119). Infolge seines Publikationsdatums ist dieses Gedicht rezeptionsgeschichtlich auch mit der Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus im ›Prager Frühling‹ in Zusammenhang gebracht worden (Neumann 1989; Oberle 1990; Cambi 2000; Höller/Larcati 2016, 119 f.).
Andere späte Gedichtentwürfe Auch der Reise Ingeborg Bachmanns nach Ägypten und in den Sudan im April/Mai 1964 verdanken sich einige nachgelassene Gedichtentwürfe, zunächst in der Antizipation (Bachmann 2000, 155–157), dann in der Auseinandersetzung mit Erfahrungen landschaftlicher und kultureller Fremde (ebd., 165–169). In einer motivischen Vorstufe zum kritischen Exotismus und der Neokolonialismuskritik des Wüstenbuchs und des Buchs Franza werden die exotistischen Topoi der ›wilden Liebe‹, der erotischen »Nacht in Ägypten«, der »Orgie« (ebd., 22, 156, 169) gegen die »bürgerliche Infamie« der westlichen Zivilisation und ihrer »niedrigen weißen Rasse« gehalten (ebd., 169). Die Nacht der Liebe, in der das lyrische Ich »wieder sprechen« und »gehen gelernt« hat (ebd., 157), fungiert widersprüchlich sowohl als »Rache [...] an allem, was weiß ist / weiß war, weiß sein wird«, als auch als eine Utopie, in der sich »die Rassen verschränken« (ebd., 165). In recht konventioneller exotistischer Topik imaginiert sich das Ich der Gedichtentwürfe als »Königin vom Sambesi« und Afrika als »terra nova, [...] ultima speranza« (ebd., 167 f.).
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Die letzten der aus dem Nachlass veröffentlichten Gedichtentwürfe (Bachmann 2000, 170–175) heben sich thematisch-motivisch deutlich von den früheren ab und dürften erheblich später entstanden sein. Neben einer Kritik des politischen Alltagsdiskurses (Soziologie) steht in Strangers in the Night – der Titel von Frank Sinatra wird auch in Simultan zitiert (TKA 4, 111) – eine durch Altersreflexionen melancholisch gefärbte Feier verjüngender Liebe, in An jemand ganz anderen ein weiterer Versuch eines Liebesgedichts und in Dein Tod, und wieder der Nachruf auf einen durch »fünf Schüsse« getöteten Freund (Bachmann 2000, 173). Im Wiener Nachlass befinden sich (nach Maßgabe der Datierung anhand von Maschinenschriftbildern) darüber hinaus noch mindestens zwei unveröffentlichte späte Gedichtentwürfe aus dem Zeitraum 1961–66, die radikale Mitte (N2484) und Meine Beatles (N3800); eine Abgleichung der aus dem gesperrten Nachlass veröffentlichten Gedichtentwürfe (Bachmann 2000) mit den verbleibenden Sperrungen in deren Umfeld bzw. im Konvolut der Lyrik (N1–500) lässt im Übrigen zahlreiche weitere unbekannte Gedichtentwürfe vermuten, angesichts der Sperrungspraxis und des Nachlassumfeldes möglicherweise auch solche aus den späten Jahren (Göttsche 2004). Eine endgültige Einschätzung wird daher erst möglich sein, wenn die späte Lyrik in der Salzburger Gesamtausgabe der Werke vollständig aus dem Nachlass ediert ist. Quellen
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II Das Werk – A Lyrik
Literatur
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Dirk Göttsche
B Erzählprosa 10 Frühe Erzählprosa Geschichte, Politik und Gesellschaft sind zentrale Themen nicht nur der Gedichte, sondern auch der Romane und Erzählungen Ingeborg Bachmanns. Die Kritik der faschistischen Ideologie bildet aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und ihrer intellektuellen Orientierung zeit ihres Lebens eine wichtige Konstante ihres Schaffens. Dabei lassen sich im Hinblick auf Bachmanns weltanschaulich-politische Orientierung drei Phasen ihrer geistigen und künstlerischen Entwicklung unterscheiden. In einer ersten Phase kritisiert sie den Faschismus von einem traditionell-konservativen Standpunkt aus, der im Wesentlichen den Wertekanon des bürgerlichen 19. Jahrhunderts gegen einen als vor- und antibürgerlich verstandenen Totalitarismus ausspielt. Künstlerische Qualität und ideologische Orientierung der in dieser Phase entstandenen frühen Erzählungen mögen die Anhänger der späteren Prosawerke zuweilen enttäuschen, doch für die Bachmann-Forschung ist es wichtig, ein zutreffendes Bild von der allmählichen Entwicklung der Autorin zu gewinnen, die in einem bürgerlichen, an traditionellen Werten orientierten Milieu aufwuchs. Bachmanns früheste Texte reflektieren noch keine inhaltliche Auseinandersetzung mit James Joyce, William Faulkner, André Gide oder vergleichbaren Autoren, sondern kombinieren im Wesentlichen bekannte Motive aus der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts. Die Autorin hat diese Texte später nie wieder publiziert, ja kaum noch erwähnt. Stilistisch sind sie teilweise durch eine gewisse Gesuchtheit von Verben und Adjektiven, durch den Verzicht auf raumzeitliche Konkretisierungen zur Suggestion überzeitlicher Relevanz und durch parabolische Handlungsstrukturen zur Erzielung einer geheimnisvollen ›dichterischen‹ Atmosphäre gekennzeichnet. Sie nähern sich dadurch jenem parabolischen Erzählstil an, den wir auch bei zeitgenössischen Autoren wie Ilse Aichinger, Hermann Kasack oder Marie Luise Kaschnitz finden.
Ihre endgültige Befreiung von dieser Traditionsorientierung datiert in die 1950er Jahre, an deren Ende mit den Erzählungen aus dem Band Das dreißigste Jahr erstmals entschiedene Kritik an faschistischer und bürgerlicher Ideologie geübt wird, und zwar vom Standpunkt eines demokratischen Pluralismus aus. An diese zweite schließt sich dann ab Mitte der 1960er Jahre eine dritte Phase an, in der die Todesarten-Romane und die Erzählungen des Simultan-Bandes entstehen und in der das Problem einer Übersteigerung dieses Pluralismus mit in Bachmanns politische und gesellschaftliche Kritik einbezogen wird. Als Heranwachsende waren der Autorin solche Perspektiven jedoch zunächst fremd. Von den vierzehn ihrer frühen Erzählungen aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren sind acht in der (damals relativ auflagenschwachen) konservativen Wiener Tageszeitung publiziert worden, dem »Zentralorgan der Österreichischen Volkspartei«, die von 1945 an ein Vierteljahrhundert lang den österreichischen Regierungschef stellte, ehe im April 1970 mit Bruno Kreisky zum ersten Mal ein Politiker der SPÖ das höchste Regierungsamt übernahm.
Die Fähre Diese vermutlich 1945 entstandene Kurzgeschichte wurde zuerst am 4.8.1946 – zusammen mit vier Illustrationen – in der Kärntner Illustrierten (Klagenfurt) abgedruckt. Eine zweite, in mehr als 80 Textdetails davon abweichende Fassung, der die Werkausgabe im Wesentlichen folgt, erschien am 24.4.1949 in der Wiener Tageszeitung (vgl. WA 2, 602). Das Werk schildert die Gedanken und Empfindungen des jungen Fährmanns Josip, der in einer ruhigen ländlichen Gegend Menschen und Lasten über einen breiten Fluss befördert. Am anderen Ufer befindet sich das Herrenhaus, dessen schon älterer Bewohner als mächtig und gut, aber auch als ruhelos charakterisiert wird. Josip sieht es mit Unbehagen, dass sich die tö-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_10
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II Das Werk – B Erzählprosa
richte und einfache junge Maria des Öfteren abends übersetzen lässt, um dem Herrn noch Beeren, Brot oder Honig zu bringen. Eines Abends kommt es dann zu einer schicksalhaften Wende. Denn Josip soll Maria übersetzen, ohne dass sie einen Auftrag zu erledigen hätte: »Er bemerkt, dass sie nichts bei sich trägt. Sie hat keinen Korb, keine Tasche, auch kein Tuch, das sich zum Bündel wölbt. Sie bringt nur sich« (W 2, 13). Maria ist also bereit, die Geliebte des Herrn zu werden. Doch Josip weigert sich nun, sie überzusetzen. Er ahnt und befürchtet, dass das Mädchen sein Herz an einen Mann hängen wird, dessen Ruhelosigkeit sie auf Dauer nicht zu befriedigen vermag. Josip selbst wird Maria im Winter zum Tanz einladen. Bachmann variiert hier das traditionsreiche Motiv des herkunftsbedingten Liebeskonfliktes, wobei der sozialpsychologische Gesichtspunkt in den Vordergrund gerückt wird. Nicht sozialer Neid oder direkte Eifersucht bewegt den Fährmann zu seiner Handlung, sondern die skeptische Einsicht in die Asymmetrie einer Liebesbeziehung, in welcher der Herr nichts, Maria aber sehr viel zu verlieren hätte. Josip sieht Marias Beziehung zum Besitzer des Herrenhauses nicht als Chance für einen sozialen Aufstieg, sondern nur als Gefahr. Er, dessen Augen »jung und scharf« sind (W 2, 10), will das als schlicht und naiv gezeichnete Mädchen, »who remains unaware of her subordination« (Eilittä 2008, 66), davor bewahren, die flüchtige Liebschaft eines Mannes zu werden, der von Ruhelosigkeit umgetrieben wird und in Maria mehr den Typus als das Individuum sehen könnte. Josips Weigerung verfehlt nicht ihre Wirkung. Nach einer »von Nachdenklichkeit erfüllten Minute« (W 2, 13) wendet sich Maria um und gibt ihr Vorhaben auf. Ist damit gesagt, dass eine Frau wie Maria gut daran tut, den ihr zustehenden Platz in der Gesellschaft zu kennen und zu behalten? Oder wird hier das »Zusammenspiel von sozialer Hierarchie und Geschlechterbeziehung« (Weigel 2003, 55) entlarvt und damit Kritik an jenen Herren geübt, die sich – wie schon bei Arthur Schnitzler (Liebelei) oder Hugo von Hofmannsthal (Der Tor und der Tod) – ihre Geliebten nur deshalb im Volk suchen, weil sie ihr egoistisches Bedürfnis nach Ruhe und Einfachheit befriedigen wollen, und die an deren sozialem Aufstieg keinerlei Interesse haben? Bachmanns Erzählung lässt diese Frage offen, bewegt sich aber so oder so innerhalb der Grenzen jener im bürgerlichen Zeitalter für überzeitlich erklärten Liebes- und Familienideologie, die vom Bürgerlichen Trauerspiel des späten 18. Jahrhunderts bis hin zum Realismus des späten 19. Jahrhunderts immer wieder
literarisiert worden ist. So verwundert es nicht, dass die Figur des ›Herren‹ Züge des Heimatdichters Josef Friedrich Perkonig aufzuweisen scheint (vgl. Böttiger 2017, 45), der in der 1944 von Bachmann besuchten NS-Lehrerbildungsanstalt Deutsch unterrichtete und von ihr in den allerersten Jahren ihres literarischen Schaffens als Vorbild und Autorität verehrt wurde (vgl. Hoell 2001, 33). In einzelnen Punkten, wie etwa in der Gestaltung des Schlosses als einer Sphäre nicht etwa von Luxus und Reichtum, sondern von Kunst und Literatur, scheint Bachmann allerdings auch schon in diesem frühen Text die »Fesseln der ›Heimatliteratur‹« zu sprengen (Schaunig 2016, 169). Eine alternative Deutung geht davon aus, dass der Herr die »unsinnliche Geistigkeit«, Josip dagegen die »vitale Natürlichkeit« verkörpert (Hapkemeyer 1982, 34). Die Erzählung endet nach dieser Lesart mit Marias Verzicht auf Transzendenzerfahrungen und ihrer Einsicht in die »Notwendigkeit, sich auf das Realitätsprinzip einzulassen« (ebd., 41). In dekonstruktivistisch-semiotischer Perspektive wurde die Erzählung als parabolische Darstellung jedweder Bedeutungsgenerierung interpretiert: »Die Bewegung der Frau und ihres Körpers gleicht [...] der Bewegung des Signifikanten, dessen Wertigkeit und Bedeutung erst durch seinen jeweiligen Ort bestimmt wird« (Weigel 2003, 55).
Das schöne Spiel Dieser am 1.4.1949 in der Wiener Tageszeitung gedruckte, aber nicht in die Werkausgabe aufgenommene Text beschreibt eine Gruppe von Kindern, die durch eine Trümmerlandschaft an den Stadtrand gehen, um »das verbotene, schönste Spiel« zu spielen, nämlich Krieg. Ein Schlachtplan wird ausgearbeitet, Stöcke werden geschnitten, und alte Konservenbüchsen dienen als Bombenersatz. Als eines der Mädchen seine Strümpfe zerreißt, erlischt zunächst die Begeisterung. Doch »der Kapitän«, der Anführer der Kinderschar, findet eine Lücke in der angrenzenden Friedhofsmauer und lässt seine Gefolgsleute eine Attacke gegen imaginäre Feinde führen, die sich in den Gräbern verschanzt haben sollen. Das Spiel findet ein jähes Ende, als ein halb real, halb irreal geschilderter Zug von Kriegsversehrten erscheint, der den Kindern das Grauen und den Ernst des Krieges vor Augen führt. Die Kinder »wollen das Spiel nicht mehr spielen« und lieber nach Hause gehen (Bachmann 1949a, 5). Ähnlich wie später in ihrer Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt beschreibt Bachmann die Kindheit
10 Frühe Erzählprosa
hier als Phase einer Naivität, die in kriegerischen Zeiten moralisch prekär werden kann. Zudem wird umgekehrt kriegerisches Handeln als ›kindlich‹, d. h. als unreif, gedanken- und verantwortungslos entlarvt.
Im Himmel und auf Erden Im Alter von 22 Jahren publizierte Bachmann (wiederum in der Wiener Tageszeitung, 29.5.1949) diesen Text, der das zentrale Thema ihres Todesarten-Zyklus’, wenn auch in mehr oder minder floskelhaften Wendungen, vorwegnimmt (vgl. Hapkemeyer 1982). Die Erzählung schildert das Ende der Beziehung zwischen der naiv-unselbständigen Amelie und ihrem tyrannischen Lebensgefährten Justin, der sie schlägt, demütigt und schließlich zum Werkzeug eines Diebstahls macht. Als Amelie endlich begreift, dass Justin sie schamlos ausgenutzt hat, »stürzte die Einfalt aus ihren Augen und wechselte mit einem Abgrund des Wissens, der mit einemmal ihn und sie und das Gefüge ihrer Beziehungen verschlang« (W 2, 18). Sie stürzt sich aus dem Fenster, während der heimliche Verursacher ihres Selbstmordes innerlich ungerührt zusieht. Die Charakterisierung beider Hauptfiguren kann als klischeehaft und holzschnittartig bezeichnet werden. Gleichwohl lässt sich von diesem Text aus eine thematische Linie bis zu Bachmanns letzten Prosawerken ziehen; beispielsweise »stellt die Erzählung die Beteiligung der Frau an der patriarchalischen Ordnung durch Unterordnung und Aufopferungsbereitschaft heraus« (Wöhrle 2011, 121). Dass eine inzestuöse Erfahrung sexueller Misshandlung den biographischen Hintergrund der Erzählung bilden könnte (vgl. Schaunig 2014, 49), bleibt eine bislang unbewiesene Annahme. Der Abdruck in der Werkausgabe weicht in drei (unbedeutenden) orthographischen Details vom Wortlaut der Erstveröffentlichung ab.
Das Ufer Diese am 3.7.1949 in der Wiener Tageszeitung gedruckte, nicht in die Werkausgabe aufgenommene Erzählung beschreibt den Selbstmordversuch der jungen Hanna, die ins Wasser gehen will, die aber von einem einsamen Mann mit Namen Simon am Ufer gefunden und mit in seine ärmliche Hütte genommen wird. Im Gespräch mit ihrem Retter enthüllt sie dort die Ursache ihrer verzweifelten Handlung: »Ich habe
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mich immer geängstigt. Vor jedem Windstoß, vor jedem Laut, vor dem kleinsten Weg, den der Uhrzeiger gemacht hat. [...] Ich habe manchmal geschrien, ganz, ganz leise, nur mit den Augen und den Nasenflügeln, vielleicht auch mit den Händen. Und das haben Sie gefühlt« (Bachmann 1949b, 5). Simon gewinnt demnach den Charakter eines Erlösers, der Hanna durch seine Rettungstat von einer tief sitzenden Existenzangst befreit. Durch die Entkonkretisierung von Raum und Zeit sowie durch den kryptischen Kommunikationsstil beider Figuren bleibt Hannas Angst aber in eine religiös-metaphysische Dimension entrückt. Politisch-gesellschaftliche Hintergründe, die ja in vielen Werken Bachmanns von zentraler Bedeutung sind, finden in diesem frühen Werk der Autorin kaum Beachtung. Bemerkenswert im Hinblick auf zentrale Motive in Bachmanns späteren Erzählungen ist jedoch der Hinweis auf die Ausdrucksnot Hannas, die ihre Ängste nicht durch Worte, sondern nur durch Blicke und Gesten zum Ausdruck bringen kann. Im Hinblick auf die Bedeutung des Angstmotivs kann zudem eine Parallele zur Literatur und Philosophie des zeitgenössischen (deutschen und französischen) Existenzialismus konstatiert werden.
Die Versuchung Dieser stark gleichnishafte Text (erschienen in der Wiener Tageszeitung vom 7.8.1949; nicht in die Werkausgabe übernommen) erzählt die Geschichte eines Bergwanderers mit Namen Jonas, der erschöpft in einem Schneefeld liegenbleibt und schließlich stirbt, der jedoch in seinen letzten Stunden einer fremden, als Verkörperung des Todes deutbaren Gestalt begegnet. Dieser rätselhafte Fremde, aus dessen Gliedern »der Wind das Fleisch geblasen haben muß«, geleitet ihn mühelos hinauf bis zum Gipfel und bleibt für die Dauer eines Gewitters bei ihm in einer Berghütte. Als Jonas an der Zigarette seines Begleiters ziehen will, kommt es zu einer Verwandlung: »Nur einmal wagt Jonas die Zigarette anzusetzen. Er gibt sie zurück, empfindet dumpf die Uebergabe als vollzogen. Durch seinen Mund fließt der Rauch wie ein schwerer Nebel.« Die hier erwähnte »Uebergabe« ist der letzte Schritt auf Jonas’ Weg in die Sphäre des Todes. Am nächsten Morgen hastet er, »ohne sich umzusehen«, abwärts. Im Tal jedoch findet er alles verändert vor. Der Fremde, mit dem er noch einmal sprechen wollte, ist verschwunden, und Jonas »stirbt weg, ohne Antwort, verwittert, versengt und verloren« (Bachmann
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II Das Werk – B Erzählprosa
1949c, 6). Der in der Bachmann-Forschung wenig beachtete Text ist ein für die Literatur der Nachkriegszeit nicht untypischer Versuch zur metaphysischexistentialistischen Überhöhung einer Grenzerfahrung, nämlich des mit dem Tod bestraften Versuchs, »sich über die Grenze des Menschlichen zu erheben« (Weigel 2003, 69).
Das Lächeln der Sphinx Diese stark gleichnishafte Erzählung, die zuerst in der Wiener Tageszeitung vom 25.9.1949 gedruckt wurde, greift das seit der Antike bekannte Motiv der mit Vernichtung drohenden Sphinx auf, die nur durch die korrekte Beantwortung von drei unlösbar erscheinenden Rätselfragen überwunden werden kann. Bachmanns Erzählung schildert die Geschichte eines Königs, der mit einer riesenhaften Sphinx »um das Fortbestehen des Landes und seiner Menschen zu ringen hatte« (W 2, 19). Das Fabeltier verlangt zunächst Auskunft über das Innere der Erde sowie über alles, was die Erde an Geschöpfen trägt. Beide Fragen kann der König mit der Hilfe seiner Hofgelehrten beantworten. Zuletzt will die Sphinx wissen, wie das Innere der Menschen beschaffen ist. Hier versagt die Wissenschaft des Königs und seiner Helfer. Auf der Guillotine lässt er schließlich seine sämtlichen Untertanen enthaupten, um ihr Inneres nach außen zu kehren. Die lächelnde Sphinx ist mit dieser Antwort zufrieden und entfernt sich. Eine Pointe dieser etwas bemüht wirkenden Parabel liegt in der Parallelisierung von wissenschaftlicher Rationalität und kriegerischem Massenmord, wie er durch das perfekt durchorganisierte Guillotinieren versinnbildlicht wird. Das Lächeln der Sphinx kann damit als literarische Umsetzung eines Grundgedankens der 1947 in Amsterdam publizierten Schrift Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno aufgefasst werden, in der »die zerstörerische Tendenz einer sich absolut setzenden Rationalität« (Weigel 2003, 75) entlarvt wird. Im lächelnden Weiterschreiten der Sphinx erkannte Sigrid Weigel allerdings auch den Ansatz einer Versöhnungsgeste (ebd., 79 f.). Für sie ist dieser Text eines der wichtigsten Frühwerke Bachmanns, das ihre Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie reflektiert und als »Markierung der Grenzen von Aufklärung und Aufklärungskritik« (ebd., 80) gelesen werden kann. Allerdings wurde Das Lächeln der Sphinx auch als eine moderne, eher an Franz Kafka als an Horkheimer/
Adorno angelehnte Mythenrevision interpretiert (vgl. Beicken 2001, 125). Joachim Eberhardt dagegen charakterisierte Bachmanns Umdeutung des Sphinx-Mythos als »antimodernistisch« und wies auf inhaltlichweltanschauliche Parallelen zum traditionalistischkonservativen Mythendiskurs von Max Scheler, Oswald Spengler und Friedrich Nietzsche hin (Eberhardt 2002, 104). Dagegen wurde wiederum eingewendet, dass Bachmanns Erzählung »zu den von Eberhardt angeführten Gewährsleuten für diesen Diskurs bei genauerem Hinsehen weniger Ähnlichkeiten aufweist, als seine Ausführungen es suggerieren« (Wöhrle 2011, 135). Einen interpretatorischen Neuansatz lieferte zuletzt Christine Lubkoll: Als Hauptfigur der Erzählung erscheint bei ihr die Sphinx selbst; der Text plädiert in dieser Lesart für eine »Bewahrung des Nicht-Befragbaren als eine notwendige Dimension menschlicher Existenz« (Lubkoll 2012, 142). Der Abdruck in der Werkausgabe weicht in drei grammatisch-orthographischen Details vom Wortlaut der Erstveröffentlichung ab.
Die Mannequins des Ibykus Einer antiken Legende zufolge wurde der griechische Lyriker Ibykos von Räubern erschlagen, was eine ihn begleitende Schar von Kranichen, die dem Übeltäter folgte, enthüllt. Friedrich Schiller, dessen Werke Bachmann in ihrer Jugendzeit intensiv studiert hatte, variierte den Stoff in seiner bekannten Ballade Die Kraniche des Ibykus, auf deren Titel Bachmanns Erzählung anspielt. Freilich unterwirft sie das Motiv einer harmlos-heiteren Kontrafaktur, denn anstelle der Kraniche sind es bei ihr – sehr kostbare, weil aus Porzellan gefertigte – Schaufensterpuppen, die den Übeltäter zur Strecke bringen, der einen der ihren umgestoßen und zerstört hat. Die Forschung sah in diesem unbedarft daher kommenden Text »ein im Literarischen bleibendes Spiel« (Eberhardt 2002, 91), erkannte aber auch, dass sich der darin zu findende Humor bis in Bachmanns späte Prosawerke nachverfolgen lässt: »Die Leichtigkeit und der Witz der ›Mannequins‹ geben einen Ton vor, der in der Rezeption von Bachmanns Literatur weitgehend überhört wird, den die Autorin aber fortgeschrieben hat und der in ihrem Werk im Kontext einer Ästhetik der Intertextualität und Dialogizität steht [...]« (Weigel 2003, 73). Inhaltliches Interesse kann die von Bachmann zweimal zur Publikation gebrachte Erzählung (Wiener Tageszeitung, 16.10.1949; Stimmen der Gegenwart 1 [Wien
10 Frühe Erzählprosa
1951], 74–77) wegen ihrer Darstellung des Zusammenhangs zwischen glänzender Schönheit und puppenhafter, todesähnlicher Erstarrung für sich beanspruchen. Dieser Gedanke wird später in Bachmanns Hörspiel Die Zikaden und in ihrer Erzählung Probleme Probleme wieder aufgenommen. Gegenüber dem Erstdruck (Bachmann 1949d) weist die Zweitveröffentlichung von 1951 (in »Stimmen der Gegenwart«) acht relativ unbedeutende Veränderungen in Wortlaut und Interpunktion auf.
Die Karawane und die Auferstehung Dieser vielleicht am deutlichsten christlich geprägte Text Bachmanns wurde zuerst unter dem Titel Karawane im Jenseits in einer Weihnachtsnummer der Wiener Tageszeitung veröffentlicht (25.12.1949; Bachmann 1949e). Drei Jahre später erschien in der Osterausgabe des Wiener Kuriers (12.4.1952) eine an mehr als 70 Stellen in Wortlaut und Interpunktion veränderte Fassung, in der die Metaphorik an die Jahreszeit und das andersartige festliche Ereignis angepasst worden war (z. B. »Es war Frühling« statt »Es fiel Schnee«). Die Werkausgabe folgt im Wesentlichen dieser optimistischeren Ostervariante. Der Text greift das schon im alten Orient geläufige Motiv der Totenkarawane auf, die ein als Wüstenlandschaft dargestelltes Jenseits durchwandert und dabei von bösen Dämonen, durch wilde Tiere, sexuelle Phantasien oder – wie hier bei Bachmann der Knabe – durch ungeheuren Lärm gepeinigt und aufgestört wird (vgl. Lindemann 2000, 45–54). Die Erzählung endet mit einer Verwandlungsszene, in der die Flamme eines verbrennenden unschuldigen Kindes einsam in einem »unermeßlichen Dunkel« weiterleuchtet, das alles ringsumher einschließlich der anderen Toten verschlungen hat. Die Forschung hat in dieser szenisch-metaphorischen Veranschaulichung des eigentlich nicht in Worte zu fassenden Leides der Kriegskinder den Vorausklang jener Wittgensteinschen Sprachkonzeption erblickt, die in den unmittelbar folgenden Jahren von der Autorin explizit ausformuliert wird (vgl. Pizer 2016). Darüber hinaus knüpft Bachmann in dieser Erzählung offenbar an die christlich-mystische Tradition der Veranschaulichung des transzendenten Unsagbaren sowie an die religiös-ethische Vorstellung an, dass nur die Reinheit eines kindlichen Herzens der Prüfung eines Totengerichtes standhalten kann. Später wird Bachmann diese optimistisch-rousseauistische Kindheitsauffassung in ihrer Erzählung Alles dementieren.
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Stadt ohne Namen: Der Kommandant und das Anna-Fragment Aus Berichten von Hans Weigel und Heimito von Doderer wissen wir, dass Bachmann am Ende ihrer Studienzeit einen Roman fertiggestellt hatte, der den Titel Stadt ohne Namen trug und den der Wiener HeroldVerlag unter bestimmten Bedingungen zu publizieren bereit war. Bachmann war jedoch mit den Änderungswünschen des Verlages offenbar nicht einverstanden und verzichtete auf eine Veröffentlichung. Über den weiteren Verbleib des Manuskriptes ist nichts bekannt. In Bachmanns Nachlass finden sich jedoch zwei Fragmente, die mit ihrem Roman in Verbindung stehen. Dabei dürfte Der Kommandant mit hoher Wahrscheinlichkeit eine eigenständige Erzählung sein, die ganz oder in Teilen als Grundlage für das erste Kapitel des verschollenen Romans diente. Das sogenannte Anna-Fragment, bei dem es sich nicht um eine Druckvorlage, sondern um eine frühere Bearbeitungsstufe handelt, kann dagegen nicht sicher in der Romanhandlung verortet werden (vgl. Kommentar in TKA 1, 501–505). Der gleichnishaft-kafkaeske Text Der Kommandant erzählt die Geschichte des »S.«, der zunächst dreimal eine Zugreise anzutreten versucht. Er vergisst jedoch jedes Mal seine Ausweispapiere und fasst deshalb den Entschluss, ohne Identitätsnachweis »auf dem Fußweg sein Ziel zu erreichen« (TKA 1, 4). An der Kontrollbarriere XIII verwickelt er die Grenzkontrolleure in ein Gespräch und schenkt ihnen Alkohol ein, bis sie ihn gegen alle Vorschriften ohne Widerstand passieren lassen. Auf seinem weiteren Fußweg, dessen Ziel ihm selbst nicht bekannt ist, gerät er an die Spitze einer marschierenden Kolonne, mit der er am Abend schließlich das monumentale Gebäude einer Kommandantur erreicht. Dort wird er zu seiner eigenen Überraschung als der neue Kommandant begrüßt und bezieht ein Spiegelkabinett als Arbeitszimmer. Zu seinen Aufgaben gehört auch die Aufklärung des Vorfalles an der Kontrollbarriere XIII, der von den perfekten Überwachungssystemen des Machtapparates, dem er dient, aufgezeichnet wurde. »S.« weiß nicht mehr, dass er selbst der Schuldige ist, der die Grenzkontrolleure überlistet hat. Er ermittelt mit aller Energie gegen sich selbst, gelangt jedoch zu keinem klaren Resultat. Irritiert von den ihn umgebenden Spiegeln, die aus allen Richtungen sein Konterfei zurückwerfen, eilt er wieder zur Barriere, darf aber wegen fehlender Papiere nicht passieren. Er macht sich zu Fuß auf den Rückweg und erlebt hierbei die Wiederholung des Ge-
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schehenen: Er gerät wieder an die Spitze einer Truppe, gelangt wieder zu einem monumentalen Gebäude und wird wieder als neuer Kommandant begrüßt. Die traumlogische Verknüpfung dieser phantastischen Handlungssequenzen wird in den ersten sieben Zeilen des Textes dadurch erklärt, dass S. als Schlafender gezeigt wird, der kurz aufschreckt, aber sogleich wieder in Müdigkeit zurücksinkt. Die Symbolsprache seines Traumes kann im Hinblick auf den historischen Kontext dieser Erzählung interpretiert werden: Durch ihre Übertragung kafkaesker Motive auf die Sphäre des Militärischen entlarvt die Autorin den totalitären Überwachungsstaat als scheinrationales Gebilde, in dessen Machtzentrum blanke Irrationalität herrscht und dessen Kommandeure keine Identität, keine Orientierung, keine Legitimation und keinen eigenen Willen besitzen. Bachmann bewegt sich damit im Rahmen einer Faschismusdeutung, die den Totalitarismus nicht auf ein Zuviel, sondern auf ein Zuwenig an Rationalität zurückführt. Am deutlichsten ausformuliert wurde diese Position von Georg Lukács in seinen Studien Goethe und seine Zeit (1947) sowie Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler (1954). Adorno, dessen Positionen Bachmann in späteren Jahren in vielerlei Hinsicht folgte, wandte sich gegen diese Irrationalismus-These und argumentierte, dass vielmehr ein leerlaufender instrumenteller Rationalismus den Nationalsozialismus gekennzeichnet habe (Dialektik der Aufklärung, 1947; The Authoritarian Personality, 1950). Damit war der Gesellschaftsanalyse von Stadt ohne Namen und Der Kommandant zumindest in Teilen die gedankliche Grundlage entzogen. Vielleicht liegt hier die Erklärung dafür, dass sich Bachmann in späteren Jahren nicht um eine Vollendung oder Neufassung des Romans bemühte, sondern nur einzelne Motive daraus in ihr TodesartenProjekt übernahm. Liest man die Erzählung als »Parabel eines Lebenswegs«, so mündet sie in eine Aufdeckung jenes Wechselspiels von »Selbstverkennung und Fremdbestimmung« ein (Kommentar in TKA 1, 503 f.), das die Biographie vieler Kriegsmitläufer, aber auch allgemein die des Individuums in der modernen Massengesellschaft prägt. In einem überzeitlichen Sinn thematisiert Bachmanns Prosafragment nach einer solchen Lesart »in Form eines parabolischen Angsttraumes die Identitätsproblematik des modernen Subjekts und beschreibt die menschliche Seinsungewissheit als Nährboden für ein totalitäres Machtsystem« (Steinhoff 2008, 224).
Das unvollendete Anna-Fragment schildert die Geschichte der jungen Anna, die von rätselhaften Fremden aus einer von Vernichtung bedrohten Stadt gerettet wird. Sie wendet sich auch innerlich von dem diese Stadt beherrschenden »Vater« (TKA 1, 14) ab und überquert den Fluss, der die Grenze zur Sphäre der Freiheit markiert. Ihre gefährliche Flucht gelingt. Am rettenden Ufer öffnet ihr eine – hier nicht die Sünde, sondern die Klugheit symbolisierende (vgl. Mt. 10,16) – »doppelköpfige Schlange« die Augen und führt eine durchgreifende innere Verwandlung Annas herbei: »Wo früher das Dunkel wie ein unentwirrbares Gestrüpp ihren Weg gesperrt hatte, hellte strahlendes Licht die Gegend auf [...]« (TKA 1, 20). Nach diesem, hier bei der frühen Bachmann noch als göttliche Offenbarung geschilderten Erkenntnisschock (TKA 1, 22) will Anna die Stadt retten, aus der sie geflohen ist. Mit einem Brandmal versehen, das ihre Verwandlung bezeugt, kehrt sie um und tritt – wie eine unbewaffnete Heilige Johanna – unerschrocken den Wachtposten entgegen, um ihren neuen wahren Glauben zu verkünden: »Glaubt mir, wir haben falsch gedient, einem Gesetz, das nicht geschrieben war!« (TKA 1, 24). Und tatsächlich bewirkt Anna eine Umkehr. Die Soldaten ändern ihren Sinn. »Er«, d. h. der Gott, der sich Anna offenbarte, ist nun »der neue Kommandant« der in letzter Minute geretteten Stadt. Im Hinblick auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Werkes liegt eine einfache Deutung auf der Hand. Gott bedroht die dem bösen, falschen Vater (Hitler) ergebenen Städte mit Vernichtung. Wer sich der Offenbarung öffnet, kann jedoch gerettet werden; eine innere Umkehr und Rückkehr zu Gott ist möglich und kann die Katastrophe abwenden. Heroische, von Gott gezeichnete Menschen wie das Mädchen Anna können die Soldaten umstimmen und dem geschriebenen Gesetz (Bibel) wieder Geltung verschaffen. Unterstellt man, dass das Anna-Fragment den Schluss des Bachmannschen Romans gebildet hätte, so wäre dieses Werk als zeittypisches Dokument einer christlichen Faschismuskritik zu lesen, wie man sie eher bei Elisabeth Langgässer oder Reinhold Schneider vermuten würde. Möglich ist es allerdings auch, dass die Anna-Geschichte nur eine Episode innerhalb des Romans Stadt ohne Namen bildete und dass am Ende auch die christliche Hoffnung als Illusion entlarvt worden wäre. Darauf deutet insbesondere der Umstand hin, dass »die totalitäre Vaterfigur durch einen ›Vater‹ ersetzt wird, dessen Erscheinung einer christlichen Wahrheitslehre entstammt [...], während
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die Gesten der Demut und Unterwerfung unter das Gesetz einer symbolischen Vaterinstanz gleich bleiben« (Weigel 2003, 66). So oder so dokumentiert der Text, »zu welch frühem Zeitpunkt die Autorin sich mit dem Problem individueller Verwicklung in einen historischen Schuldzusammenhang auseinandergesetzt hat« (ebd.), dass sie sich auch mit der zeitgenössischen, christlich fundierten Faschismus-Kritik beschäftigte und dass sie sich offenbar in späteren Jahren so weit von diesen gedanklichen Zusammenhängen und Traditionen emanzipierte, dass sie eine Vollendung oder Neufassung des Textes nicht in Erwägung zog, sondern nur einzelne Motive daraus (Vatergestalt in Malina, Wüstenstrandvision in Das Buch Franza) in ihrem Todesarten-Projekt wieder aufgriff (vgl. Kommentar in TKA 1, 501–505). Darüber hinaus bezeugt das Anna-Fragment Bachmanns allmähliche Emanzipation von ihrem früheren Mentor Hans Weigel sowie ihre Auseinandersetzung mit der christlich grundierten Totalitarismuskritik ihres Wiener Philosophieprofessors Alois Dempf (vgl. McVeigh 2016, 135–137).
Auch ich habe in Arkadien gelebt Der aus lateinischen Inschriften des 17. Jahrhunderts bekannte Satz ›Et in Arcadia ego‹ (›Auch ich [war] in Arkadien‹) wird in Texten von Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, E. T. A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff zitiert. Er bringt dort die wehmütige Erinnerung an das in Vergils Hirtengedichten zur Idylle verklärte Arkadien und allgemein an glückselige Zeiten und Orte zum Ausdruck. Bachmanns kurze Ich-Erzählung bezeichnet mit dieser Formel die Sehnsüchte eines Landflüchtlings, der in der Stadt zu Erfolg, Ehre, Ansehen und Vermögen gelangt und der trotzdem in sich einen »Ruf« (W 2, 39) vernimmt, der ihn zurück an die Stätte seiner Herkunft zieht. Sein Arkadien wird als eine statische Sphäre des Elementaren, Klaren, Ewigen und Schönen beschrieben, an dem das Getriebe der mobilen städtischen Gegenwartsgesellschaft spurlos vorbeigeht. Hierin liegt ein für die spätere Bachmann untypischer antimodernistischer Zug, zumal die Rückkehr nach Arkadien am Ende der Erzählung als eine Heimholung in den Himmel dargestellt und damit metaphysisch-religiös überhöht wird. Eine alternative Interpretation postuliert eine Anknüpfung Bachmanns an die 1936 von Erwin Panofsky beschriebene Tradition des Arkadien-Motivs, bei
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der die Formel ›Et in Arcadia ego‹ als Ausspruch des Todes gedeutet wird (Weigel 2003, 252–259). Der Text kann unter diesen Vorzeichen »als sehr früher, literarischer Kommentar Bachmanns zur Debatte über eine Dichtung nach ›Auschwitz‹ gelesen werden« (ebd., 259). Der Abdruck in der Werkausgabe weicht an zwei Stellen von der Interpunktion der Erstveröffentlichung ab (Bachmann 1952).
Ein Geschäft mit Träumen (Prosafassung) Dieses Werk stellt eine Prosafassung des im gleichen Jahr (1952) publizierten, wesentlich umfangreicheren Hörspiels mit der gleichen Überschrift dar. Es schildert die Erlebnisse eines Büroangestellten, der an einem Sommerabend auf seinem Heimweg in ein Geschäft tritt, in dem undefinierbare Waren verkauft werden. Die weitere Handlung lässt sich so interpretieren, dass es sich hierbei um Produkte der Traumfabrik, d. h. um Filme, handelt, von denen der Verkäufer ihm einen vorführt. Der Ich-Erzähler erkennt darin seine Geliebte Anna wieder, identifiziert sich also mit den fiktiven Geschehnissen und möchte den Film/ Traum daraufhin kaufen. Doch der Verkäufer erklärt ihm, dass seine Waren nicht mit Geld, sondern mit Lebenszeit bezahlt werden. Die kurze Erzählung erscheint demnach als eine zeittypische Kritik an der damals boomenden Traumfabrik Hollywood, die den Menschen in eine sekundäre, fiktive Welt versetzt, die außerdem seine Phantasie korrumpiert und die ihn damit um ein Stück seiner eigenen, eigentlichen Lebenszeit betrügt (vgl. Kresimon 2004, 42–57). Im Hinblick auf die Entwicklung von Bachmanns Erzählstil ist vor allem die stärkere Konkretion von Raum, Zeit und Milieu hervorzuheben. Wie viele der frühen Prosawerke der Autorin zeigt jedoch auch Ein Geschäft mit Träumen noch eine starke Tendenz zur parabolischen Darstellung und kann deshalb auch als prinzipielle, die Kulturindustrie nur als ein Beispiel unter vielen verwertende Konsum- und Kapitalismuskritik interpretiert werden. Die Präsentation der Träume ist nach dieser Lesart als erzählerisches Mittel der Innenweltdarstellung aufzufassen, und der kürzeren Prosafassung kann dann eine stärkere Betonung des inneren Wandels der Hauptfigur abgelesen werden, die anders als im gleichnamigen Hörspiel ganz am Ende des Textes zu profunder Selbsterkenntnis und Selbstinfragestellung gelangt (vgl. Steinhoff 2008, 85 f.).
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II Das Werk – B Erzählprosa
Der Hinkende Dieser Text greift das – von Thomas Manns Erzählung Tobias Mindernickel (1898) bis hin zu Thomas Bernhards Roman Das Kalkwerk (1970) – in zahlreichen literarischen Werken der Moderne verwendete Motiv des gesellschaftlichen Außenseiters auf, dessen aufgestaute seelische Spannungen sich in einem sinnlosgewaltsamen Befreiungsschlag entladen. Bachmanns Erzählung lässt allerdings offen, ob es sich um eine erfundene »Geschichte« (W 2, 79) oder um die Wahrheit handelt, wenn der Hinkende seiner Hotelnachbarin Anna berichtet, dass er als Kind einer Katze die Beine abgeschnitten habe, um sich mit diesem demonstrativsymbolischen Akt am Schicksal »zu rächen« (W 2, 81). So oder so erweist sich seine Gesprächigkeit aber als »Fehler« (W 2, 79), denn der Protagonist und Ich-Erzähler verliert Annas Freundschaft. Der Leser bleibt im Zweifel, ob Anna ihn wegen seiner Grausamkeit verlässt oder weil sie durchschaut hat, dass er mit seiner Behinderung nicht fertig geworden ist und sich mit dramatischen Lügengeschichten wichtig zu machen und ihr Mitgefühl zu sichern versucht. Der von der Bachmann-Forschung kaum beachtete Text liefert subtile Einblicke in die widersprüchlichen Empfindungen einer mit individuellen Zügen ausgestatteten Einzelgängerfigur. Er dokumentiert damit Bachmanns Abkehr von abstrakt-parabolischen Darstellungsformen, wie sie typisch für ihre Erzählungen der 1940er und frühen 50er Jahre waren, und deutet voraus auf ihre in den Texten des Todesarten-Projektes zur Meisterschaft entwickelte literarische Psychologie der nolens volens aus ihren familiären und gesellschaftlichen Bindungen herausfallenden Außenseitergestalten.
Ein Fenster zum Ätna Von dieser Erzählung Bachmanns sind lediglich fünf Nachlassfragmente aus den 1950er Jahren erhalten, deren Studium einen interessanten Einblick in die Werkstatt der Autorin gewährt. Sie schildern eine Sizilienreise zweier Männer, die sich vor zehn Jahren im Krieg kennengelernt haben, als – wie es im ersten Textbruchstück heißt – »der ältere bei einem Bombenangriff auf Messina sein Bein verloren 〈hatte〉 und durch die Umsichtigkeit und Hilfeleistung des ihm damals unbekannten Zürcher gerettet wurde« (TKA 1, 26 f.). Dieser Friedrich Zürcher, der im zweiten und dritten Fragment »Franz Wieser« und in den letzten
beiden Textzeugen »Fortner« heißt, hätte vermutlich die Hauptfigur des Werkes werden sollen. Der Plot des von der Bachmann-Forschung wenig beachteten Textes lässt sich nicht erahnen; sein Titel scheint nicht als Anspielung auf Alfred Hitchcocks Das Fenster zum Hof (1954) gemeint zu sein. Die beiden ersten Fragmente erinnern in erzähltechnischer und inhaltlicher Hinsicht an viele ähnliche Werke mit auktorialen Erzähleingängen aus der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts wie z. B. L ’ éducation sentimentale (1869) von Gustave Flaubert oder An International Episode (1878) von Henry James (vgl. auch Kommentar in TKA 1, 505–507; Bartsch 1998, 136). Quellen
Bachmann, Ingeborg: Das schöne Spiel. In: Wiener Tageszeitung, 1.4.1949a, 5. Bachmann, Ingeborg: Das Ufer. In: Wiener Tageszeitung, 3.7.1949b, 5. Bachmann, Ingeborg: Die Versuchung. In: Wiener Tageszeitung, 7.8.1949c, 6. Bachmann, Ingeborg: Die Mannequins des Ibykus. In: Wiener Tageszeitung, 16.10.1949d, 7. Bachmann, Ingeborg: Die Karawane im Jenseits. In: Wiener Tageszeitung, 25.12.1949e, 11. Bachmann, Ingeborg: Auch ich habe in Arkadien gelebt. In: Morgen. Monatsschrift freier Akademiker 7/4 (1952).
Literatur
Bartsch, Kurt: Das dreißigste Jahr und das Todesarten-Projekt. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige«? Lesarten zur Kritischen Ausgabe von Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Opladen/ Wiesbaden 1998, 130–140. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. Literaturwissen. Ditzingen 2001. Böttiger, Helmut: Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. München 2017. Eberhardt, Joachim: »Es gibt für mich keine Zitate.« Intertextualität im dichterischen Werk Bachmanns. Tübingen 2002. Eilittä, Leena: Ingeborg Bachmann’s Utopia and Disillusionment. Introduction. Helsinki 2008. Hapkemeyer, Andreas: Ingeborg Bachmanns früheste Prosa. Struktur und Thematik. Bonn 1982. Hoell, Joachim: Ingeborg Bachmann. München 2001. Kresimon, Andrea: Ingeborg Bachmann und der Film. Intermedialität und intermediale Prozesse in Werk und Rezeption. Frankfurt a. M. 2004. Lindemann, Uwe: Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000. Lubkoll, Christine: Schattenrätsel. Mythos als Aufklärung in Ingeborg Bachmanns Erzählung ›Das Lächeln der Sphinx‹. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.): Berüh-
10 Frühe Erzählprosa rungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur. München 2012, 137–144. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien. 1946–1953. Berlin 2016. Pizer, John: From allusive metaphysical silence to overt social critique. The war child in prose texts by Ingeborg Bachmann. In: German Life and Letters 69/4 (2016), 537– 550. Schaunig, Regina: »... wie auf wunden Füßen.« Ingeborg Bachmanns frühe Jahre. Klagenfurt 2014. Schaunig, Regina: Stilübungen und Revolten. Ingeborg
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Bachmann 1943–1946. In: Fabrizio Cambi u. a. (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Perspektiven der Forschung. Rom 2016, 151–171. Steinhoff, Christine: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes. Würzburg 2008. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses [1999]. München 2003. Wöhrle, Peter: Sprechen, Staunen, Schweigen. Ingeborg Bachmann und Max Frisch im Vergleich. Würzburg 2011.
Jost Schneider
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11 Das dreißigste Jahr und Erzähl fragmente aus dem Umfeld Im Verlauf der frühen 1950er Jahre emanzipierte sich Ingeborg Bachmann mehr und mehr von den traditionell-bürgerlichen Wertmaßstäben, die ihre Adoleszenz und ihre ersten Erzählungen noch geprägt hatten. Eigene Erfahrungen in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft, ihre geisteswissenschaftlichen Studien und die Begegnung mit Intellektuellen wie Paul Celan, Ilse Aichinger, Hans Werner Henze, Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Luigi Nono u. v. a. trugen maßgeblich dazu bei, dass die Autorin nicht nur ihren Stil fortentwickelte, sondern auch ihren dezidierten Antifaschismus anders und solider, nämlich aus dem Geist eines demokratischen Pluralismus heraus fundierte. Dabei konnte sie von der Erfahrung ausgehen, dass sich die geistige Liberalisierung und Pluralisierung nach 1945 offenkundig langsamer und stockender vollzog als die politische Demokratisierung im engeren Sinne, die ja von den Besatzungsmächten schlagartig realisiert und institutionell abgesichert worden war. Bachmanns Augenmerk richtete sich deshalb eher auf das Problem der nachzuholenden ›inneren‹ Demokratisierung als auf die Äußerlichkeiten der Parteienpolitik. Davon betroffen war nicht nur das politische Bewusstsein im engeren Sinne, sondern auch der Heimatbegriff, das Identitätskonzept, die Beziehung zwischen den Generationen, das Verhältnis zwischen Denken und Handeln, die Definition der Geschlechterrollen, der Realitäts- und Wahrheitsbegriff, die Sprach- und Kunstauffassung und vieles andere, wobei ihre Kritik an obsoleten Traditionen und Konventionen immer auch eine utopi sche Dimension enthält (vgl. Pilipp 2001, 126). Bachmanns Prosawerke dieser Zeit greifen zuweilen existentialistische Ideen auf, transponieren diese jedoch stets »in einen zeithistorischen und somit realitätskritischen Raum« (Kleinhans 2007, 87). Obwohl Bachmann von Beginn ihres Schaffens an immer auch Prosawerke verfasst und – an allerdings relativ entlegenen Stellen – publiziert hatte (s. Kap. 10), wurde sie nach dem durchschlagenden Erfolg ihrer 1953 und 1956 erschienenen Lyrikbände in der Öffentlichkeit hauptsächlich als Lyrikerin wahrgenommen. Es war deshalb für viele Kritiker eine Überraschung, als sie 1961 in dem Prosaband Das dreißigste Jahr sieben Erzählungen publizierte, die ihr Bild in der literarischen Öffentlichkeit nachhaltig veränderten. Im Feuilleton wurden diese z. T. schon vorab in
Hörfunk-Lesungen oder als Zeitschriftenbeitrag veröffentlichten Erzählungen ambivalent aufgenommen, d. h. in die bis dahin einmütig positive Rezeption Bachmanns mischten sich nun kritische Untertöne (vgl. Hotz 1990, 97–115; Schardt 1994, 52–89).
Jugend in einer österreichischen Stadt Wie schon nach dem Ersten so erschienen auch nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche literarische Werke, die sich mit der schwierigen Situation des Kriegsheimkehrers beschäftigten. Figuren wie Bertolt Brechts Soldat Kragler aus Trommeln in der Nacht (1922), Wolfgang Borcherts Unteroffizier Beckmann aus Draußen vor der Tür (1946) oder Alfred Döblins Invalide Edward Allison aus Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende (1956) verdeutlichten hierbei in ihrer Vielschichtigkeit, dass die Schwierigkeit, eine Heimat zu finden, nicht nur kriegsbedingt ist, sondern zu den grundlegenden Problemen einer modernen Gesellschaft gehört. Von der Relevanz dieser Thematik für die breite Öffentlichkeit legt insbesondere der sentimentale Heimatfilm Zeugnis ab, der in den 1950er Jahren einen beispiellosen Boom erlebte. Streifen wie Hans Deppes Schwarzwaldmädel (1950) oder Harald Reinls Rosen-Resli (1954) propagierten das nicht selten an die faschistische Blut-und-Boden-Ideologie anknüpfende Bild einer unzerstörten und unzerstörbaren Heimat, die den Fremden oder Heimkehrenden seiner Ängste und Zweifel entheben und seiner Identität versichern können sollte. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund derartiger Tendenzen in der Massenkultur ihrer Zeit ist der erste Text aus Ingeborg Bachmanns Prosaband Das dreißigste Jahr zu verstehen, die 1959 in der Zeitschrift Botteghe Oscure (Rom) erstmals publizierte Erzählung mit dem Titel Jugend in einer österreichischen Stadt, mit der Bachmann offen Stellung gegen die antimodernistische Verklärung von persönlicher Identität und Heimatideologie bezieht. Das Werk schildert in einer Rahmenhandlung die Gedanken und Gefühle eines Ich-Erzählers, der längere Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges seine – aufgrund der Erwähnung bekannter Sehenswürdigkeiten leicht identifizierbare – Geburtsstadt Klagenfurt besucht. Trauer, die Empfindung des Fremdseins und das Gefühl der Verlassenheit überfallen hierbei den Erzähler, der gegen Ende des Textes folgerichtig eine ernüchternde Lehre aus der Rückkehr in seine ›Heimat‹ zieht: »Das Wenigste ist da, um uns einzuleuchten, und die Jugend gehört
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_11
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nicht dazu, auch die Stadt nicht, in der sie stattgehabt hat« (W 2, 93). Zu diesem skeptischen Fazit passt es, dass die im durch Leerzeilen markierten Binnenteil der Erzählung geschilderte Kindheit als eine überwiegend von Unfreiheit und Orientierungslosigkeit geprägte Entwicklungsphase beschrieben wird, wobei die enge Bindung des Kindes an seine heimatliche Nahumgebung wie eine – besonders in Kriegszeiten – verhängnisvolle und bedenkliche Horizontverengung erscheint. Dass diese zumindest teilweise autobiographische Erzählung Bachmanns ersten Prosaband eröffnet, mag hierbei auch als Hinweis auf eine Selbstkritik der Autorin zu verstehen sein, die ihre geistige Emanzipation damit erst auf die Zeit ihres Wegzugs von Klagenfurt datiert. Das geistige und seelische Klima, von dem sich Bachmann zu lösen hatte, wurde von Uwe Johnson später in seiner detail- und kenntnisreichen Bachmann-Studie Eine Reise nach Klagenfurt (1974) dokumentiert. Über die autobiographische Dimension des Textes hinaus kann die Binnenhandlung der Erzählung als wichtiger Beitrag Bachmanns zur Thematisierung des Problems Kindheit im Faschismus aufgefasst werden. Besonders deutlich wird dies in der KindersprachenEpisode, bei der die Kinder das passende »Gegenwort« (W2, 89) zu »alles«, also das Wort »nichts«, nicht finden können. Obwohl sie von Tod und Vernichtung umgeben sind, fehlt den Kindern doch die bewusste Erfahrung des Nichts, des Todes oder Nichtseins, das sich aus ihrer kindlichen Perspektive noch nicht auf einen Begriff bringen lässt, was aber nichts daran ändert, dass Bachmann sie in dieser Erzählung – anders als in ihren ganz frühen Prosawerken – durchaus mit einer identifizierbaren, ganz eigenen Stimme sprechen lässt (vgl. Pizer 2016). Erzähltechnisch ist an Bachmanns Text besonders der ihn prägende Perspektivwechsel bemerkenswert, mit dem sich Bachmann in die durch Namen wie Walter Benjamin (Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, 1950) oder Wolfgang Koeppen (Jugend, 1976) bezeichnete Tradition eines dezidiert modernen autobiographischen Erzählens einreiht. Der Erzähler der Rahmenhandlung berichtet nicht selbst in der IchForm über seine Kindheitserlebnisse, sondern überlässt einer anonym bleibenden Erzählinstanz das Wort, die das Geschehen mit größerer Distanz, aus auktorialer Höhe beschreibt und kommentiert. Für den Leser heißt dies, dass er die Kindheit des Rahmenerzählers nicht als etwas untrennbar mit dessen Persönlichkeit Verbundenes präsentiert bekommt. Identität im Sinne einer Bejahung der eigenen Ge-
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schichte wird in dieser Erzählung nicht gestiftet; der Text bleibt stets des Risses eingedenk, der den Erwachsenen vom Kind, das Ich von heute vom Ich von gestern trennt. Er zeugt damit »von einer Distanz gegenüber jedem naturalisierenden Diskurs, der eine physische Heimat, sei es eine körperliche oder eine geographische, als feste Begründung konzeptualisiert, von der aus das Subjekt ein für allemal verstanden werden könnte« (Folkvord 2003, 80). Demgemäß endet Bachmanns Text mit einem expliziten Hinweis auf die Schwierigkeiten des Rahmenerzählers, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verbinden und als Geschichte ein und derselben Persönlichkeit zu verstehen. Nur wenn ein vor dem Stadttheater stehender Baum im Licht der Herbstsonne golden leuchtet, empfindet er wie einst und kann er sich in die Welt jenes Kindes, das er selbst einmal war, zurückversetzen. Aus motivgeschichtlicher Sicht könnte dieser Schluss des Werkes als Anknüpfung an die beschwichtigende Naturlyrik der Nachkriegszeit (Hermann Kasack, Oda Schaefer, Werner Bergengruen) interpretiert werden, die zu zeigen versuchte, dass die Welt trotz Krieg und Zerstörung im Kern heil geblieben sei. Doch eher ist im Falle Bachmanns an Katherine Mansfields berühmte Erzählung Bliss (1920) zu denken, in der ein prächtig blühender Baum ein Lebensglück symbolisiert, das sich schließlich als trügerisch erweist. Der auch im Sinne von Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1942) als ›Vergangenheitsbild‹ deutbare Baum wird damit – bei Mansfield wie bei Bachmann – zu einem mehrdeutigen Naturzeichen (vgl. Bannasch 1997, 190), das zwar ein ungetrübtes Glück meinen kann, das jedoch die Erinnerung an die Ephemerität und innere Fragwürdigkeit desselben mit aufbewahrt.
Das dreißigste Jahr Die bekannte Titelgeschichte aus Bachmanns erstem Prosaband zeichnet ein Porträt jener Generation, die in den 1920er Jahren geboren wurde und nach dem Krieg ein Restaurationsklima vorfand, in dem der Antimodernismus triumphierte und in dem demokratisch-pluralistische Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten erst noch durchgesetzt werden mussten. Obwohl Bachmann selbst zu dieser Generation gehört und obwohl sie sich persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen bedient, handelt es sich nicht um einen autobiographischen Text. Der dreißigjährige Protagonist des Werkes ist nicht mit Bachmann oder mit sonst
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einer konkreten historischen Person gleichzusetzen, was besonders die Typisierungstechnik veranschaulicht, derer sich die Autorin in dieser Erzählung bedient. Sowohl die Hauptfigur als auch die zahlreichen Nebenfiguren (Moll, Helena u. a.) werden nicht als Individuen, sondern als Typen gezeichnet, die etwas Allgemeines, für eine ganze Generation Charakteristisches verkörpern. Kompositorisch ist der Text insofern mit Jugend in einer österreichischen Stadt verwandt, als er eine Rahmenhandlung enthält, in die allgemeinere Reflexionen eingebettet sind, und zwar Reflexionen über die Situation der um 1960 Dreißigjährigen. Diese Rahmenhandlung schildert zwölf Monate im Leben eines Mannes, der nach Studium und Berufsausbildung, ziellosen Reisen und Gelegenheitsarbeiten plötzlich, mit Beginn seines 30. Lebensjahres, aus seiner bisherigen Sorglosigkeit und Unbekümmertheit erwacht und zu einer Italienreise aufbricht, die ihn der Selbstfindung und Reifung näherbringen soll. Die erhoffte Wirkung stellt sich jedoch nicht ein, weshalb er schließlich resigniert und eine Anstellung irgendwo im »Norden« (W 2, 133) annimmt. Als er auf dem Weg dorthin per Anhalter von Genua nach Mailand fahren will, kommt es zu einem Verkehrsunfall; der Fahrer stirbt, er selbst überlebt und entwickelt nun doch noch neuen Lebensmut und Tatendrang. Diese schnell rekapitulierten Geschehnisse bilden das äußere Handlungsgerüst, in das sehr ausführliche Deskriptions- und Reflexionssequenzen eingefügt sind (Schneider 1999, 182). In ihnen werden zahlreiche Missstände und Fehlentwicklungen aufgedeckt, die das geistige Klima in der restaurativen Nachkriegsgesellschaft prägen. Intoleranz, Konkurrenzdenken, Unaufrichtigkeit, Uniformität und manches andere wird hierbei angeprangert und durch exemplarische Handlungsepisoden veranschaulicht. Als ein wesentliches Problem für den Erzähler schält sich hierbei die Identitätsfrage heraus: »Auf der Weiterreise hörte er sich Geschichten eines Mitreisenden an, der ihm darlegte, wie viel Prozent aller Irren sich für Napoleon, wie viel für den letzten Kaiser, für Lindbergh, Hitler oder Gandhi hielten. Es erwachte Interesse in ihm, und er fragte, ob man sich denn ohne Schaden für sich selber halten könne und ob das nicht auch Irrsinn sei« (W 2, 125). ›Sich für sich selber zu halten‹ würde bedeuten, im Sinne einer vorpluralistischen, antimodernen Ich-Auffassung einen Persönlichkeitskern zu postulieren, der unveränderlich ist und der dem Individuum eine stabile psychische Identität garantiert. Schon in der Literatur der Jahrhun-
dertwende (Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke) war diese Vorstellung kritisiert und zugunsten einer moderneren Konzeption verabschiedet worden. Dieses freiheitlichere Persönlichkeitskonzept war allerdings im Nationalsozialismus wieder verdrängt worden. Und in der Nachkriegszeit war man nicht sofort auf den bis 1933 erreichten Stand zurückgekehrt, ja es hatte sogar Stimmen gegeben, die den Faschismus geradezu als eine Konsequenz aus der Identitätskrise des Jahrhundertbeginns deuteten. Zu nennen ist hier besonders Max Picards einflussreicher Essay Hitler in uns selbst (1946), in dem Autoren wie James Joyce und John Dos Passos als intellektuelle Wegbereiter des Faschismus dargestellt worden waren. Bachmann versuchte in dieser Situation, das solcherart verleumdete Identitätskonzept zu rehabilitieren und jene restaurative Gesellschaft zu kritisieren, die sich an die vorpluralistische Idee einer stetigen biographischen Kontinuität klammert. Ihr Dreißigjähriger beendet seine Italienreise deshalb, ohne zu einer endgültigen Selbstfindung zu gelangen, doch dies ist eben kein Beweis eines Scheiterns, sondern der Durchbruch zu jener moderneren Ich-Auffassung, die schon Schnitzler in seinen Dramen und Erzählungen thematisiert hatte. Stilistisch und erzähltechnisch konnte diese Identitätskonzeption nicht ohne Auswirkungen bleiben. Denn ein Individuum, das sich nicht mehr als jederzeit mit sich und seiner Geschichte identisch und einverstanden empfindet, wird sich teilweise von sich selbst distanzieren wollen. Folgerichtig bedient sich Bachmann einer hierzu passenden Erzähltechnik, die eine derartige Distanzierung ermöglicht und die geradezu als Dekonstruktion der uns in traditionellen Bildungsromanen und Autobiographien begegnenden, auf Abrundung und Widerspruchsfreiheit abzielenden Ich-Konstruktionen aufgefasst werden kann (vgl. Weigel 2003, 43; Rétif 2008, 125). Dazu gehört zunächst die Pluralisierung des Diskurses durch Einbeziehung zahlreicher Zitate und Anspielungen, etwa auf Ludwig Wittgenstein (vgl. Seidel 1979; Steutzger 2001) oder auf Franz Kafka und Arthur Rimbaud (vgl. Bartsch 1986). Vor allem aber ist auf den von Franz Stanzel in seiner Theorie des Erzählens (61995 [1979], 135–148) detailliert analysierten Ich-/Er-Wechsel hinzuweisen, der ansatzweise schon bei Charles Dickens und William M. Thackeray festzustellen ist, der jedoch erst im 20. Jahrhundert durch Autoren wie Joseph Conrad, Saul Bellow, Günter Grass oder auch Max Frisch zu einem zentralen Stilmittel der Erzählkunst fortentwickelt worden ist (zu Bachmanns inten-
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siver und kritischer Auseinandersetzung mit Frisch vgl. Albrecht 1989). In für den ungeübten Leser verwirrender Manier wird hierbei über ein und dieselbe Person mal in der ersten und mal in der dritten Person Singular gesprochen. Innensicht und Außensicht, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ergänzen sich und bilden ein vielschichtiges, nicht selten auch widersprüchliches Panorama der unterschiedlichen Persönlichkeitsfacetten des Protagonisten. Schon von der Form her wird damit veranschaulicht, dass Bachmann ihren Dreißigjährigen am Ende zu einer komplexeren Ich-Auffassung gelangen lässt, die ihn davor bewahrt, eine biographische Kontinuität zu imaginieren, eine stabile Identität zu postulieren und sich damit gegen alle Evidenz ›für sich selbst zu halten‹. Dass der Verzicht auf eine solche Identität zwar schmerzlich ist, letzten Endes jedoch zu einem zeitgemäßen und gut lebbaren Verständnis seiner selbst führen kann, verdeutlicht der optimistische Appell am Ende von Bachmanns Erzählung. Dieses Textende aktualisiert allerdings – wie aus feministischer Perspektive kritisch angemerkt wurde – »mit dem Verweis auf die Auferstehung einen Topos männlicher Autorschaftskonzepte« (Amstutz 2004, 128). Der Bibelton der Schlusspassage (Anspielung auf Mt 9,5) macht aber auch auf ein weiteres Stilmittel aufmerksam, dessen sich Bachmann in Das dreißigste Jahr bedient, um verschiedene Facetten der Persönlichkeit des Protagonisten voneinander abzugrenzen. Es handelt sich um den gezielt eingesetzten Wechsel der Stillage, der besonders in zwei lyrisch-monologischen Einschüben zu bemerken ist, in denen die intimsten Empfindungen und Sehnsüchte des Dreißigjährigen dargestellt werden (W 2, 112–114 und 126– 128). Die Durchsetzung einer demokratisch-pluralistischen Kultur in einem Klima der Restauration und des Antimodernismus wird darin als eine Befreiungstat gefeiert, die als Resultat von Bachmanns »Auseinandersetzung mit Camus’ Leitbegriff der Revolte« (Göttsche 2004a, 112) gelesen werden kann und dabei die existentialistischen Gesellschaftsutopien und Freiheitsvorstellungen teilweise aufgreift und teilweise dementiert: »In der Darstellung der Krisenerfahrung ihres Protagonisten bedient sich Bachmann also existenzialistischer Motive [...]; die Krisenüberwindung folgt jedoch nicht dem geläufigen existenzialistischen Strukturschema« (Göttsche 2004b, 386 f.). Andere philosophische Deutungen der Erzählung haben die Irrfahrten des Protagonisten in überzeitlichem Sinne als eine unabschließbare Suche nach Transzendenzerfahrungen interpretiert (vgl. Pilipp
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2001). Aus einer solchen Perspektive erscheint es fraglich, ob der Protagonist am Ende zu einer stabilen inneren Bejahung der modernen Identitätskonzeption gelangt (vgl. Wöhrle 2011, 192).
Alles Auch die dritte Erzählung aus Das dreißigste Jahr reflektiert den historischen Hintergrund des künstlerischen Schaffens von Bachmann, ihr Engagement für eine Ersetzung der bürgerlich-restaurativen durch eine demokratisch-pluralistische Gesellschaftsordnung. Das Problem einer durchgreifenden gesellschaftlichen Erneuerung wird hierbei am Beispiel eines in der ersten Phase des Pluralismus, den 1920er Jahren, entstandenen und in den 1950er Jahren wiederbelebten Phänomens erörtert. Näherhin handelt es sich um eine radikalrousseauistische Variante der Reformpädagogik, eine Variante, die man als messianisch oder soteriologisch bezeichnen kann. Das Kind wird hierbei als ein Erlöser betrachtet, der die Gesellschaft von Grund auf erneuern soll. In ihrem Vortrag über Frieden und Erziehung kleidete Maria Montessori diesen Gedanken schon 1932 in die Formulierung: »Wir müssen uns zum Kinde wenden als zu einem Messias, zu einem Retter und Erneuerer des Volkes und der Gesellschaft« (Montessori 1973, 13). Ziel dieser Pädagogik, die sich in den 1950er Jahren in Italien, Deutschland, Österreich und den USA stark ausbreitete, war ein ›neuer Mensch‹, eine neue Erziehungsmethode zur Heranbildung von anderen, besseren Menschen. Insofern die reformpädagogische Bewegung auf eine Verabschiedung der bürgerlichen Bildungsideale des 19. Jahrhunderts abzielte, konnte Bachmann mit ihr im Prinzip einverstanden sein. Doch der Weg, den Montessori und andere beschritten, war aus ihrer Sicht ein Irrweg. Nicht das Kind, sondern an erster Stelle der Erzieher musste nach ihrer Auffassung die gesellschaftliche Erneuerung zustande bringen. Bachmann akzeptierte also weitgehend das Ziel der Reformpädagogik, nicht jedoch die von ihr propagierten Mittel. In persönliche Berührung mit dieser Problematik kam Bachmann zur Entstehungszeit von Alles durch die Geburt der Tochter von Günter Eich und Ilse Aichinger, mit der sie befreundet war. Wie ihr 1957 entstandenes Gedicht Mirjam zeigt, stand sie der optimistischen, mit reformpädagogischen Konzepten eng verwandten Kindheitsphilosophie von Aichinger, die
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sich deutlich in deren Kurzgeschichten äußert, nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Bachmanns Erzählung wendet sich jedoch gegen die radikal-messianischen Aspekte dieses Denkens. Alles schildert die Gedanken und Erinnerungen eines Mannes, der sich Rechenschaft über sein Verhalten bei der Erziehung seines vor einer Weile tödlich verunglückten Sohnes zu geben versucht und der hierbei zu der Einsicht gelangt, die Bewältigung seiner eigenen tiefgreifenden Sprach-, Sinn- und Beziehungskrise wider jede Vernunft und Erfahrung von diesem seinem Kind verlangt zu haben (Schneider 1999, 198–200). Sein Sohn Fipps – der Name spielt auf Wilhelm Buschs Bildergeschichte Fipps, der Affe an – sollte »der erste Mensch« (W 2, 143), d. h. der erste wirkliche, neue Mensch, werden. Der natürliche Nachahmungstrieb und die ›normalmenschliche‹ Bösartigkeit des Sohnes machen jedoch diese überzogene Erlösungshoffnung des Vaters zunichte, dessen Beziehung zu Fipps sich deshalb in Hass und Gleichgültigkeit verwandelt. Nach dem plötzlichen Unfalltod des Sohnes gelangt der Vater dann zwar zu aufrichtiger und kritischer Selbsterkenntnis. Gleichzeitig muss er jedoch feststellen, dass sich seine als pragmatisch-realistisch geschilderte Frau Hanna unter stummen Vorwürfen innerlich von ihm abgekehrt hat. Dieser tragische, an August Strindbergs Erzählung Rückfälle (1884–85) erinnernde Handlungsverlauf impliziert nicht, dass Bachmann die reformpädagogische Erziehungsidee gänzlich diskreditiert. Auf erzähltechnisch raffinierte Weise streut sie immer wieder auffällige, in der zweiten Person Singular formulierte Appelle und Maximen in den Text ein, die im Sinne einer umfassenden Erziehungsutopie für die grundlegende Erneuerung der Gesellschaft werben (z. B. W 2, 145: »Lehr ihn die Wassersprache!«; W 2, 158: »Lern erst das Weitergehen.«). Eine zentrale Rolle spielt hierbei die in der (österreichischen) Literatur schon um 1900 sehr häufig thematisierte Sprachproblematik, deren Vorrang auch Fipps’ Vater erkennt: »Und ich wußte plötzlich: alles ist eine Frage der Sprache und nicht nur dieser einen deutschen Sprache, die mit anderen geschaffen wurde in Babel, um die Welt zu verwirren. Denn darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle, und in ihr ist schon all unser Unglück. Alles war eine Frage, ob ich das Kind bewahren konnte vor unserer Sprache, bis es eine neue begründet hatte und eine neue Zeit einleiten konnte« (W 2, 143). Was diese Idee betrifft, so folgt der Erzähler dem Vater, indem er an
den besagten Stellen den Erzählfluss unterbricht und (in der zweiten Person Singular) gleichsam in der ›neuen‹ Sprache in den Text hineinspricht. Der Erzähler schlägt sich also in bestimmter Hinsicht auf die Seite des Vaters, doch andererseits lässt der Handlungsverlauf keinen Zweifel daran, dass dessen Verhalten nicht durch die ihm zugrunde liegenden guten Absichten gerechtfertigt ist. Gegenüber seiner Frau hat sich der Vater ins Unrecht gesetzt. Vor allem aber kann ihm eine Mitschuld am Unfalltod seines Sohnes angelastet werden, einem Tod mit hohem Symbolwert. Durch den Sturz auf einen Felsen erleidet Fipps während eines Schulausflugs eine Kopfwunde, die zum Aufbrechen einer Zyste und damit zum Tod führt. Hiermit ist einerseits an die »Eiterquelle« (W 2, 150) des Bösen erinnert, das – wie in Wilhelm Buschs gleichnamiger Affenfigur – von Anfang an in Fipps steckt. Andererseits ist damit jedoch auch die Wegstoßbewegung des Vaters sinnfällig dargestellt, der sein Kind, als es seine übertriebenen Heilserwartungen nicht erfüllen kann, nach eigenem Bekenntnis »aus [seiner] Liebe fallen« lässt (W 2, 147). Einsicht und Reue des Vaters kommen demnach zu spät; sein fallengelassenes Kind ist gestorben, und seine pragmatisch-konformistische Frau, in der manche Interpreten allerdings eine positive Gegenfigur zum IchErzähler erkannten (vgl. Haberkamm 1989), hat sich von ihm abgewandt. Insgesamt liefert Bachmanns Text demnach keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Pro und Contra der Reformpädagogik. Insofern sie eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft anstrebt, kann Bachmann ihr zustimmen. Insofern sie diese Erneuerungsaufgabe jedoch dem Kind überträgt, macht sie sich einer unmenschlichen, Beziehungen zerstörenden und letzten Endes sogar todbringenden Überforderung schuldig. Dass für sich und die Gesellschaft nichts erreichen wird, wer seinem Kind alles abverlangt, ist eine Botschaft, die jedoch nicht im Sinne eines Bildungskonservatismus ausgelegt werden darf. Die appellierenden Einsprüche des Erzählers machen deutlich, dass über dem Gedanken an das Machbare nicht der Blick für das zu Verändernde verloren gehen darf. Bachmanns Erzählung knüpft mit dieser – im Vergleich zu anderen Texten der Autorin relativ explizit formulierten – ›Botschaft‹ an das traditionsreiche literarische Motiv des ›göttlichen‹, die Menschheit erlösenden Kindes an (vgl. Söntgerath 1967) und nimmt darüber hinaus wichtige Grundgedanken der in den 1960er Jahren entwickelten kritisch-emanzipatorischen Pädagogik (Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klaf-
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ki, Klaus Schaller) vorweg. Im neueren Schulunterricht hat sie deshalb viel Beachtung gefunden. Philosophische Deutungen sehen in dem Text die zeitunabhängige Gestaltung eines menschlichen Grundproblems, nämlich der Sehnsucht nach Erreichen eines – mit Robert Musil zu reden – ›anderen Zustandes‹, in dem außergeschichtliche und außergesellschaftliche Transzendenzerfahrungen zu machen wären (Baden 1962; Pilipp 1999).
Unter Mördern und Irren Teils aus pragmatischen, teils aus strategischen Erwägungen wurden die Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten schon in den 1950er Jahren reduziert und schließlich eingestellt. In Österreich geschah dies endgültig durch die sogenannte NS-Amnestie vom 14.3.1957. Nicht nur, aber auch aus diesem Grunde war in den Jahrzehnten nach 1945 die Erneuerung der Gesellschaftsordnung aus dem Geiste des demokratischen Pluralismus von innen heraus bedroht. Der politisch-institutionelle Rahmen für eine solche Erneuerung war zwar geschaffen und befestigt worden, doch eine entsprechende Veränderung der Mentalität ließ noch längere Zeit auf sich warten. Viele Ehemalige und Sympathisanten des NS-Regimes, darunter Professoren, Mediziner, Juristen und Wirtschaftslenker, rückten schnell wieder in ihre früheren Posten ein, während Verfolgte und Exilierte nach ihrer Rückkehr oftmals mit Integrationshemmnissen konfrontiert waren. Das Zusammenleben von Opfern und Tätern gestaltete sich verständlicherweise schwierig. Sollte der Mantel des Schweigens und des Vergessens über die Vergangenheit gebreitet werden? Konnten sich Opfer und Täter ohne weiteres an einen Tisch setzen? Oder bedurfte es eines fortgesetzten kompromisslosen Widerstandes, selbst um den Preis einer Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes? Bachmanns Erzählung Unter Mördern und Irren, die diese Problematik behandelt, schildert die Geschehnisse eines Freitagabends, an dem sich sieben Teilnehmer eines Herrenstammtisches mehr als zehn Jahre nach Kriegsende in einem Lokal in der Wiener Innenstadt einfinden. Vier der älteren Mitglieder des Kreises ergehen sich dabei in schwärmerischen Erinnerungen an ihre soldatischen (Un-)Taten und provozieren hierdurch Unmut und Verlegenheit bei den drei anderen, als »Juden« (W 2, 161) bezeichneten Teilnehmern der Runde, zu denen auch der – namenlos bleibende – Ich-Erzähler gehört. Er und sein
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Freund Friedl diskutieren im Waschraum der Gaststätte die Frage, ob sie sich mit den vier Kriegsenthusiasten überhaupt noch an einen Tisch setzen können. Sie finden jedoch kein zwingendes Argument gegen ihre »jämmerliche Einträchtigkeit« (W 2, 173) mit den in Anlehnung an Hannah Arendts Totalitarismusanalyse als gesellschaftlich integrierte Familienväter geschilderten Kriegsverbrechern (vgl. Wandruszka 2007, 64) und kehren letztlich doch wieder zu ihrer Wirtshausbank zurück. Dort hat sich unterdessen ein weiterer Gast eingefunden, ein geheimnisvoller Fremder von hünenhafter Gestalt, der dem Stammtischgespräch alsbald ein Ende macht, indem er schildert, was er als unfreiwilliger NS-Soldat erlebt hat und wie er wegen Feigheit vor dem Feinde und Wehrkraftzersetzung erst ins Gefängnis, dann in eine psychiatrische Klinik und schließlich in ein Lager gesteckt worden ist. Wie um diese provozierende Gegenrede zu beglaubigen, dringt der Unbekannte schließlich in eine im Nachbarraum stattfindende Jubiläumsfeier ehemaliger Frontkämpfer ein, wobei er den Tod findet. Der Anblick seiner blutenden Wunden bringt den herbeieilenden Protagonisten und Ich-Erzähler zu einer neuen, entschiedeneren Haltung hinsichtlich der Schuld- und Gewaltfrage (Schneider 1999, 212–213). Nach dieser Handlungsübersicht scheint es auf den ersten Blick, als plädiere Bachmanns Erzählung für jene Strenge und Kompromisslosigkeit, die der Unbekannte durch seine Opfertat an den Tag legt. Dem steht jedoch der Befund entgegen, dass dieser Unbekannte als gefühlloser geborener »Mörder« (W 2, 181–184) geschildert wird, der als halb-allegorische Figur kein typisches NS-Opfer repräsentiert, sondern eher, im Guten wie im Bösen, die Geisteshaltung des moralischen Rigorismus verkörpert. Zudem endet Bachmanns Erzählung mit ambivalenten Formulierungen, die sowohl diesen heroischen Rigorismus des Unbekannten als auch den ›jämmerlichen‹ Relativismus des Ich-Erzählers hinterfragen. Spürbar markiert durch einen Tempus- und Moduswechsel verlagert sich der Darstellungsfokus in der letzten Zeile des Textes vom Wahrnehmungs- und Bewusstseinshorizont des erlebenden auf denjenigen des erzählenden Ichs, um die größere Entschiedenheit, die das erlebende Ich unmittelbar nach der Tat gewinnt, wiederum zu relativieren: »Wer aber weiß das? Wer wagt das zu sagen?« (W 2, 186) Bachmanns Erzählung erteilt sowohl einer relativistischen Duldung der Täter als auch einer rigoristischen Konfrontationshaltung eine Absage. Sie liefert ein anschauliches Porträt von vier Unverbesserlichen mit autoritär-militaristischen Charakterstrukturen,
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unterzieht darüber hinaus aber auch den Typus des unschlüssigen Dulders und den des selbstgerechten Märtyrers einer kritischen Prüfung, an deren Ende sie sich im Gestus der Frage auf eine distanzierte, mit keiner dieser drei Haltungen zu identifizierende Position zurückzieht. Zur Erzielung dieses Distanzierungseffektes bedient sie sich raffinierter erzähltechnischer Mittel, die eine partielle Auktorialisierung des erzählenden Ichs bewirken. Dieses Ich blickt gelegentlich – besonders deutlich am Textanfang – aus unbestimmbarer zeitlicher und räumlicher Distanz auf die Vergangenheit zurück, als bewege es sich in einer ganz anderen Sphäre als ›seine‹ Figuren. Auch in der virtuos changierenden, die verschiedenen Ebenen der narrativen Kommunikation verwischenden Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Plural (W 2, 160 f.) macht sich die auktoriale Überlegenheit und Distanziertheit der Erzählinstanz bemerkbar; erzählendes Ich, erlebendes Ich, Nebenfiguren und impliziter Leser werden hier in unterschiedlichen Konstellationen unter der Bezeichnung »wir« zusammengefasst, wodurch der Erzähler seine Souveränität in puncto Perspektivwahl und Perspektivveränderung auf subtile Weise spürbar werden lässt (vgl. Schneider 1999, 217). Damit beantwortet Bachmanns Erzählung durch ihre formal-stilistische Gestaltung die inhaltlich offen bleibende Frage nach der Entscheidung zwischen Rigorismus und Relativismus. Weder das eine noch das andere, sondern nur eine habitualisierte Selbstreflexion und Selbstdistanzierung nach dem Muster des Erzählers ermöglicht es, sich zumindest zeitweise aus dem Kreis der Mörder und der Irren zu lösen (vgl. Stoll 1991). In dieser differenzierten Haltung hat die Forschung nicht zuletzt eine endgültige Abkehr vom rigorosen Anti-Kommunismus ihres früheren Mentors Hans Weigel erblickt, an den die Figur des Haderer in dieser Erzählung erinnert (vgl. McVeigh 2016, v. a. 189 f., 208 f.).
Ein Schritt nach Gomorrha Zu den tragenden Säulen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörte die Institution Ehe in ihrer am Ende des 18. Jahrhunderts von Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel u. a. konzipierten Spielart als unvergängliche und hochintensive Liebesbeziehung, in der die Partner eine zugleich sexuell-körperliche, emotional-seelische und geistig-intellektuelle Bindung eingehen. Höhere
Anforderungen an die räumliche, soziale und psychische Mobilität sowie die patriarchalische Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft zerstörten jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen, die eine Realisierung dieses Ideals ermöglichten oder ermöglicht hätten. Seit Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) und Henrik Ibsens Nora oder Ein Puppenheim (1879) wurde die Ehe deshalb immer wieder als ein goldener Käfig beschrieben, in dem vor allem die vom Arbeitsleben fern gehaltenen Frauen des gehobenen Bürgertums Zwang, Einsamkeit und Unverständnis statt körperlicher, seelischer und geistiger Erfüllung fanden. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in der Folge zahlreiche literarische Alternativentwürfe entwickelt und diskutiert, die im Sinne eines modernen Genderdiskurses emanzipatorisch auf eine Neudefinition oder Abschaffung der Institution Ehe abzielten (August Strindberg, Frank Wedekind, D. H. Lawrence u. a.). Im Nationalsozialismus wurde diese wichtige Diskussion zugunsten eines ebenso obsoleten wie verabsolutierten (klein-)bürgerlichen Familienideals unterbunden, das im restaurativen Geistesklima der 1950er Jahre nahezu unverändert seine Geltung behielt. Ingeborg Bachmann, deren unkonventioneller, unbürgerlicher Lebensstil von den Parteigängern des gesellschaftlichen Antimodernismus und Antipluralismus zuweilen als Provokation empfunden wurde, wandte sich im Leben wie in der Kunst offensiv gegen dieses Ideal. Ihre Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha beschreibt am Beispiel der Wiener Konzertpianistin Charlotte einen Emanzipationsprozess, an dessen Ende die Gewinnung einer neuen Liebes- und Lebensperspektive liegt. Im Gespräch mit der lesbischen Partybesucherin Mara entfremdet sich Charlotte nachhaltig von ihrem Ehemann Franz, der ihrer gemeinsamen Wohnung und allgemein ihrem Leben einseitig seinen Stempel aufgeprägt hat: »Bachmann shows how even a modern woman such as Charlotte may remain trapped within tradition« (Eilittä 2008, 71). Charlotte erfährt nun jedoch eine allmähliche innere Wandlung, die von der ängstlichen Abwehr gegen die sinnliche Ausstrahlung Maras über die Erkenntnis des Scheiterns ihrer Ehe und den Wunsch nach Umkehrung der konventionellen Geschlechterrollen bis hin zu einer ›Katzenjammer‹-Stimmung führt, in der Charlotte zwar mit der mädchenhaften Mara das Bett teilt, in der sie aber auch erkennt, dass die Homosexualität keine Lösung, sondern nur eine Verlagerung ihrer Beziehungsprobleme mit sich bringen würde (Schneider 1999, 225).
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Über den Einzelfall hinaus wird die Ehekritik in Bachmanns Erzählung in Richtung auf ein allgemeineres Grundproblem ausgeweitet. Ein Schritt nach Gomorrha »charts the oscillations and contradictions of a female subject’s negotiation with the Symbolic Order, also revealing the fragile grounds on which this order is constructed« (Jeremiah 2015, 457). Viel eher als die besonderen Schwächen ihres Ehepartners sind es so beispielsweise die allgemeinen Mängel der Institution Ehe, die Charlotte plötzlich bewusst werden und die sie dazu veranlassen, ihre Gemeinschaft mit Franz innerlich aufzukündigen. Hierbei ist es ohne Zweifel von großer Bedeutung, dass Charlotte ihre Begegnung mit Mara als eine Inversion der traditionell-bürgerlichen Geschlechterrollen erlebt und sich erstmals, besonders in ihrem Blaubart-Traum (W 2, 212), in die Position eines ›männlichen‹ Ehepartners versetzt sieht, der – wie sie nun bemerkt – von den Mängeln der Institution einseitig profitiert, indem er Macht ausüben kann, ohne diese Macht persönlich erwerben oder legitimieren zu müssen: »[It] is Charlotte who becomes an exemplary female Bluebeard, having taken on those negative stereotypes of male gender she had observed in men« (Krick-Aigner 2002, 152). Wichtiger als die äußerliche Trennung von Franz ist für Charlotte die Verweigerung der Identifikation mit ihrer bis dahin unhinterfragten Rolle als inferiore Dienerin eines in beiderseitigem Einvernehmen regierenden Herren. Ein Schritt nach Gomorrha spielt nicht eine idealisierte homosexuelle Liebe gegen obsolete Eheideale aus, sondern formuliert eine Kritik an sämtlichen Traditionen und Konventionen, die das eigentlich universale Liebesvermögen auf eine begrenzte Zahl ›zulässiger‹ Beziehungstypen einzuschränken versuchen (vgl. W 2, 205 f.). Die sprachliche Gestaltung des Textes ist relativ untypisch für Bachmanns Erzählstil dieser Jahre, da die personale Erzählsituation in ihm fast vollständig dominiert. Bachmann macht sehr reichen, virtuosen Gebrauch von den modernen narrativen Mitteln der Innenweltdarstellung (Innerer Monolog, Erlebte Rede) und lässt den Leser damit sämtliche Geschehnisse aus der Perspektive der Protagonistin erleben und wahrnehmen. Wo der Erzähler doch einmal spürbar hervortritt, formuliert er eine prinzipielle Ehekritik, die als Rechtfertigung der Emanzipationsbestrebungen Charlottes aufgefasst werden kann: »Wie immer eine Ehe auch geführt wird – sie kann nicht willkürlich geführt werden, nicht erfinderisch, kann keine Neuerung, Änderung vertragen, weil Ehe eingehen schon heißt, in ihre Form eingehen« (W 2, 203). Die Position
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der Protagonistin wird nicht, wie es sonst bei Bachmann fast durchgängig der Fall ist, von einem superior-externen Alternativstandpunkt aus kommentiert und kritisiert, weshalb hier ausnahmsweise eine identifikatorische Lektüre möglich und zielführend ist. Dies mag mit der besonderen Thematik des Werkes zusammenhängen, da unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen eine distanziertere, kritischere Darstellung womöglich Beifall aus der falschen Ecke nach sich gezogen hätte. Bachmann, unter deren persönlichen Freunden, Kollegen und Bekannten mehrere Homosexuelle waren, beschreibt Charlottes Konfrontation mit der Homosexualität nicht als eine Verwirklichung der ideal-utopischen Liebe, wohl aber als eine Möglichkeit zur Befreiung aus traditionellen bürgerlichen Beziehungsstrukturen, die in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft nicht mehr wünschenswert und realisierbar sind. Bachmanns Erzählung bleibt stets des Umstandes eingedenk, dass »die Geburt des ›neuen Menschen‹ den Tod, ja, die Tötung des ›alten Menschen‹ bedeutet« (Weder 2010, 256), und unterscheidet sich dadurch von manchen naiv-optimistischen Gesellschaftsentwürfen der Studentenbewegung. In frühen Rezensionen stieß Bachmanns Erzählung gleichwohl nicht selten auf Ablehnung und Unverständnis, da die Darstellung lesbischer Liebe in den 1950er und 1960er Jahren noch stark tabuisiert war (vgl. Marti 1992, 94 f.).
Ein Wildermuth Die Menschen der Spätmoderne leben in einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ihnen höchste räumliche, soziale und psychische Mobilität abverlangt. Wie Jugend in einer österreichischen Stadt zeigt, erfordert diese Mobilität ein verändertes Identitätskonzept; der Pluralismus macht sich im Inneren des Individuums als erzwungene geistig-seelische Flexibilisierung bemerkbar. Nicht nur die Selbst-, sondern auch die Wirklichkeitswahrnehmung wird von diesem Prozess erfasst. In ihr macht sich die Pluralisierung als erkenntnistheoretischer Relativismus oder Konstruktivismus geltend, so dass Menschen dieses Zeitalters typischerweise nicht mehr eine, sondern mehrere Wirklichkeiten (Lebenswelten), nicht mehr ›die‹, sondern höchstens ›eine‹ Wahrheit erkennen zu können glauben. Bachmanns Erzählung Ein Wildermuth thematisiert das Problem der Durchsetzung und Rechtfertigung eines solchen Relativismus, und zwar einerseits
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auf der Inhalts- und andererseits auf der Formebene. Der Text ist in eine kurze Einleitung und zwei nachfolgende, mit arabischen Ziffern markierte Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel schildert Vorgeschichte und Verlauf eines mehrtägigen Gerichtsverfahrens, in dem der Richter Anton Wildermuth über den Fall eines Namensvetters, des wegen Vatermordes angeklagten Landarbeiters Josef Wildermuth, befinden soll und das ein abruptes Ende erfährt, als der Richter inmitten der Verhandlung mit einem Schrei zusammenbricht. Die genaueren Ursachen und Hintergründe dieses Zusammenbruchs werden in diesem ersten Kapitel von der Warte einer externen Erzählinstanz aus in der dritten Person Singular dargestellt. Das nachfolgende zweite Kapitel ist demgegenüber in der ersten Person Singular verfasst und gibt die Sichtweise des Richters selbst wieder, der im Rückblick auf seine Lebensgeschichte und vermittels weit ausgreifender philosophisch-psychologischer Reflexionen Klarheit über die Entstehungsursachen seines Debakels gewinnen will. Der auktoriale Erzähler des ersten Kapitels trägt seine Erklärung des Falles in ruhiger und flüssig ausformulierter Form vor. Wildermuth selbst hingegen, der Ich-Erzähler des zweiten Kapitels, verfällt im Laufe seiner Darlegungen in einen immer zerrissener und akohärenter werdenden Stil, der seine innere Erregung widerspiegelt und der sprachlich veranschaulicht, dass er zu keiner stimmigen Erklärung gelangt. Bemerkenswerterweise münden seine Reflexionen und Empfindungen zuletzt in Fragen und Anredeformeln ein, die den Leser über alle Grenzen zwischen fiktionsinterner und fiktionsexterner Kommunikationsebene hinweg in Wildermuths Gedankengänge hineinziehen und zum Dialogpartner machen. Des IchErzählers Suche nach der Wahrheit führt also letzten Endes in ein dialogisches Sprechen hinein, in dem sich Züge des Mystizismus (vgl. Beicken 1988, 181), aber auch des erkenntnistheoretischen Relativismus erkennen lassen (vgl. Harris 1983, 61). Eine wichtige Rolle für die Gesamtdeutung des Textes spielt der den beiden nummerierten Kapiteln vorangestellte Einleitungsteil, in welchem ein personal-auktorialer, mit demjenigen des ersten Kapitels nicht notwendig identischer Erzähler vorgreifend das Verhalten des Richters in der Zeit nach seinem Zusammenbruch schildert. Diese Einleitung endet mit einem doppelsinnigen Hinweis auf Wildermuths Auffassung von den Zeitungsberichten, die sich mit seinem Fall beschäftigen: »Er las die Berichte und Stellungnahmen, kannte sie bald auswendig, versuchte, wie ein Unbeteiligter, die Geschichte in sich zu erzeu-
gen und dann in sich zu zerschlagen, die man für die Öffentlichkeit aus dem Vorfall gemacht hatte« (W 2, 215). Tatsächlich lesen sich die beiden nachfolgenden Kapitel wie der Versuch Wildermuths, (s)eine Geschichte »in sich zu erzeugen« (wohlgeformt-abgerundetes Kapitel 1) und anschließend »in sich zu zerschlagen« (zerrissen-uneinheitliches Kapitel 2); Bachmanns Erzählung gewinnt damit eine zusätzliche, selbstreflexiv-poetologische Dimension (s. Schneider 1999, 238–240, 246). Konstruktivismus darf in dieser Erzählung nicht mit Subjektivismus verwechselt werden, wie die Schilderung der Frau des Richters zeigt, deren phantasievolle Ausschmückung ihrer Beobachtungen und Erfahrungen als eine »Verdunkelung« (W 2, 237) der Tatsachen kritisiert wird. Für den Richter ist und bleibt die Wahrheit »nur zur Hälfte Menschenwerk, denn es muß ihr auf der anderen Seite etwas entsprechen, dort, wo die Tatsachen sind« (W 2, 248). Er orientiert sich damit an einem Korrespondenzmodell von Wahrheit, wie es – in Abgrenzung von jenen konkurrierenden Modellen, die Wahrheit als den Konsens der Sachverständigen oder als bloße Kohärenz im Sinne der inneren Stimmigkeit auffassen – in der Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts besonders von Ludwig Wittgenstein verteidigt worden war (vgl. Seidel 1979). Dass der Mensch die einmal erkannten Tatsachen nicht ohne weiteres auf den Begriff bringen kann, bedeutet für Bachmann nicht, dass es keine Tatsachen gibt. Ihre Erzählung plädiert nicht für die Verabsolutierung subjektiver Hirngespinste und nicht für eine absolute Übereinstimmung von Sein und Bewusstsein, sondern für Skepsis sowohl gegenüber egozentrischer Tatsachenverleugnung als auch gegenüber allen »Machtworte[n]« (W 2, 225), die auf einer derartigen Übereinstimmung zu basieren bloß vorgeben. Dazu passt es, dass der Zusammenbruch des Richters nicht wegen der Endlosigkeit des Gerichtsstreites, sondern angesichts einer möglichen Übereinstimmung zwischen Staatsanwalt, Geschworenen und Publikum erfolgt (W 2, 225). Wie die Namensgleichheit verdeutlicht, vollzieht der Richter im Laufe des Prozesses auf symbolischer Ebene den Vatermord des Angeklagten nach, denn der Vater des Richters wird als kompromissloser Anhänger eines rigoristischen Wahrheitsgebotes dargestellt, von dem sich der Sohn allmählich distanziert. Im Sinne einer modernen Epistemologie ist der Schrei des Richters damit ein vehementer Protest gegen die simplifizierende Vereinheitlichung einer vielgestaltigen, immer aus mehreren
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unterschiedlichen Perspektiven gleichzeitig zu betrachtenden Wirklichkeit. Philosophische Deutungen sehen in der Erzählung, besonders in der Gestaltung des Textendes, einen Ausdruck für Bachmanns Suche nach Transzendenzerfahrungen, nach einer stummen, absoluten Wahrheit, die in einer mystischen Einswerdung von Sein und Bewusstsein erfahrbar werden könne (Pilipp 1999). Auch wer das Identitätsthema zum Ausgangspunkt der Textdeutung macht, erblickt in Ein Wildermuth »nur am Rande eine Erzählung über ›Wahrheit‹ und ›Wahrheiten‹« (Eberhardt 2002, 211); Hauptthema der Ezählung ist dann vielmehr die Wiedergewinnung der Identität des Protagonisten unter Rekurs auf Vorstellungen aus Religion, Märchen und Mystik. Unter dem Gesichtspunkt einer Infragestellung der Ordnung des juridischen Diskurses liest sich Bachmanns Erzählung dagegen wie »an effort to think a critique of the mythic violence of law, and the implications of a true break with it« (Gölz 2006, 26). Nicht auf allgemeine rechtsphilosophische, sondern auf konkrete justizgeschichtliche Hintergründe rekurriert die These, dass Bachmann am Beispiel ihres Protagonisten »das juridische Erkenntnisvermögen der Nachkriegsära bloßstellt« (Solibakke 2012, 229).
Undine geht Schon das frühe 20. Jahrhundert hatte eine Sprach- und Wahrnehmungskrise durchlebt, wovon insbesondere Hofmannsthals Chandosbrief (1902) in eindrucksvoller und überzeugender Weise Zeugnis ablegt. Doch nach dem Holocaust war diese Krise für die Literatur ganz unabweisbar, ja existenzbedrohend geworden. Ihren prominentesten Ausdruck fand sie 1951 in dem vielzitierten Satz aus Theodor W. Adornos Essay Kulturkritik und Gesellschaft, wonach es »barbarisch« sei, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben« (Adorno 1998, 30). Mit ›Gedicht‹ war hierbei nicht im engeren Sinne die dritte literarische Hauptgattung neben Epik und Drama gemeint, sondern allgemein jede Kunst des schönen Scheins, die so tat, als sei nichts gewesen, die zur Tagesordnung zurückkehrte und weiterhin bedenkenlos an die künstlerischen Traditionen der letzten Jahrhunderte anknüpfte. Adorno plädierte demgegenüber für eine des Holocaust jederzeit eingedenk bleibende Kunst, eine sperrige Kunst, die nicht mehr mitspielt und die sich gleichsam aus jener Sprache zurückzieht, in der die Nazischergen ihre Kommandos gebrüllt und ihre Marschlieder gesungen hatten.
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Ingeborg Bachmann, die mit Adorno persönlich befreundet war, greift diese Problematik in ihrer besonders viel und kontrovers diskutierten (dazu Scholz 2001) Erzählung Undine geht auf, wobei ihre Undinenfigur nach Bachmanns eigener Erklärung die Kunst darstellt (vgl. GuI, 46), die sich nun, nachdem »helle Orte« (wie z. B. Weimar) in »Schandorte« (wie z. B. Buchenwald) verwandelt worden waren (W 2, 260), aus der Menschenwelt zurückzieht und die Kommunikation aufkündigt (vgl. Schneider 1999, 256 f.). Dabei endet der Text allerdings mit einem versöhnlichen Gestus, denn die letzten Zeilen der Erzählung bilden »une invitation adressée à l’autre, formulée dans l’espoir d’être entendue malgré la distance« (»eine Einladung an den Anderen, formuliert in der Hoffnung, trotz der Distanz gehört zu werden«; Dufresne 2002, 121). Näherhin handelt es sich bei Undine geht um eine Abschiedsrede, in der die Kunst über die Ursachen dieses Rückzuges reflektiert und ihre Erfahrungen mit den Menschen, die unter dem Sammelnamen ›Hans‹ angeredet werden, bilanziert. Die Betrachtung der Menschengesellschaft aus dem Blickwinkel eines fremdartigen Wesens eröffnet vielfältige Möglichkeiten zur Gesellschaftskritik, und in der Tat nutzt Bachmann diese Gelegenheit ausführlich, um ihre Undine über hohle Phrasendrescherei, vorgetäuschtes Familienglück, kleinliche Tagespolitik und allerlei sonstige Fehler und Mängel der menschlichen Gesellschaft klagen zu lassen. Undine weiß allerdings auch von Augenblicken des glückhaften Einverständnisses und der erfüllten Liebe zu berichten, so dass die Bilanz zunächst ausgeglichen zu sein scheint. Schließlich besinnt sich Undine jedoch auf jene grässlichen Ereignisse, die ihr das Bleiben unmöglich machen, nämlich die Mordtaten an den erwähnten ›Schandorten‹. Nicht ohne Bedauern nimmt sie Abschied und zieht sich endgültig in die Unterwasserwelt zurück. Bachmanns erzählstilistische Hauptleistung liegt in der sprachlichen Veranschaulichung dieses (unfreiwilligen) Rückzugs in eine ›Kunst der Kommunikationsverweigerung‹. Außer dem hierzu prädestinierten Undinenmotiv selbst und diversen Anspielungen auf die Tradition der literarischen Hermetik (besonders auf Paul Celans Büchnerpreisrede; vgl. Kann-Coomann 1988) benutzt sie hierzu am Ende des vieldiskutierten Textes den lyrikspezifischen Zeilenum bruch, um das Entrückte, Andersartige, Jenseitige der Unterwasserwörter zu verdeutlichen, mit denen sich die aus der Alltagswelt austretende Kunst an die Menschen wendet. Ihre Erzählung schließt gleichsam mit
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einem »Fade-out«, einer Technik, die Bachmann aus ihrer Zeit als Rundfunkautorin vertraut war (Schenk 2015, 309). Undine geht gilt in erster Linie als künstlerisches Manifest der Autorin, die darin u. a. auf poetische Weise beschreibt und begründet, weshalb ihre Texte nicht problemlos zu konsumieren sind, sondern schwer verständlich sein müssen. Dabei thematisiert die Erzählung nicht die Kunst im Allgemeinen, sondern liefert die präzise Beschreibung eines Grundproblems der Sprachkunst ihrer Zeit, nämlich die wellenhaft wiederkehrende, nicht ein für allemal herzustellende Vereinigung »des Elementar-Vorsprachlichen mit dem begrenzenden Sprachmedium« (Strohschneider-Kohrs 2003, 49), also eines im Prinzip überhistorischen Ausdruckswillens mit den je und je spezifischen, historisch geprägten und bedingten Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache einer Epoche. Françoise Rétif sah in der Erzählung das Plädoyer für »ein Denken, das Liebe ist« (Rétif 2009, 172), und damit zugleich eine Vorwegnahme der dekonstruktivistischen Positionen von Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy. Gerhard R. Kaiser (1993) hat auf kompositionstechnische Parallelen zwischen Bachmanns Erzählung und Marcel Prousts Le temps retrouvé bzw. allgemein zwischen der Anlage des Erzählbandes Das dreißigste Jahr und der Zyklenstruktur in Prousts A la recherche du temps perdu hingewiesen. Darüber hinaus ist die Erzählung feministisch gedeutet, diese Deutung aber auch aus verschiedenen Blickwinkeln kritisiert worden. So erblickte Christine Planté (1988) in Bachmanns Typisierungstechnik eine gelungene emanzipatorische Strategie, Susanne Baackmann (1995) interpretierte den Text als Absage an jede stereotype Festschreibung von Geschlechterrollen, und Lorraine Markotic attestierte Bachmann, dass ihre Erzählung »illustrates – often better than [Luce] Irigaray herself – the concerns of Irigaray’s extensive philosophical and feminist project« (Markotic 2008, 243). Bachmanns Undinenfigur, so formulierte es Hajnalka Nagy, »vereinigt in sich eine Suche nach der narrativen Selbstbestimmung als weibliche Erzählerinstanz und eine nach der existenziellen Selbstbestimmung als authentisches, weibliches Subjekt« (Nagy 2008, 43). Dorothe Schuscheng (1987) monierte demgegenüber, dass Bachmanns Undinenfigur das Klischee der Frau als Repräsentantin des unentfremdeten Seins reproduziere, nach Stefanie Golisch »deuten sich in Undine geht leider bereits die fragwürdigsten Klischees der späteren sogenannten ›Frauenliteratur‹ an« (Golisch 1997, 104), und für Shuangzhi Li »führt die My-
thenkorrektur nicht zur Subversion, sondern zur Resignation gegenüber den vorgegebenen Normen der Geschlechterordnung« (Li 2014, 182). Unstrittig ist, dass Undine geht werkgeschichtlich eine Schlüsselstellung attestiert werden kann, da sich hierin Bachmanns in den 1960er Jahren intensivierte Auseinandersetzung mit der Geschlechterrollenproblematik ankündigt. Unumstritten ist auch, dass Bachmanns Erzählung die Stofftradition um eine originelle neue Facette bereichert, wie der detaillierte Vergleich mit den Undine-Texten von Paracelsus, Friedrich de la Motte Fouqué, Jean Giraudoux und anderen zeigt (El Nawab 1993; Fassbind-Eigenheer 1994); die in sich paradoxe Stellung der Titelfigur zwischen Erden- und Wassersphäre, »zwischen Lebenswelt und Fiktion«, wird allererst »über mythisches Erzählen darstellbar« (Jagow 2003, 71). Bachmanns Undine ist die erste Wasserfrau in der europäischen Literatur, die nicht aufgrund eines Fluches oder Versprechens gehen muss, sondern von sich aus gehen will (s. Schneider 1999, 254 f.). Aus ökologischer Perspektive erblickte man in Bachmanns Text »eine Vision der künftigen Gleichheit und gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Natur und menschlicher Kultur und eine Vorausschau auf eine neue Form der Interaktion, die den Zyklus sich gegenseitig beschädigender Begegnungen unterbricht und ablöst« (Goodbody 2008, 254). Unter musikwissenschaftlichen Aspekten wurde konstatiert, dass in Bachmanns Erzählung anders als in Hans Werner Henzes vergleichsweise traditionalistischem UndineBallett »ein gegenwartsbezogener, kritischer Ton« dominiere (Petersen 2014, 71). Und aus katholisch-theologischer Perspektive erkannte man schließlich in der dem Text abzulesenden »dialektischen Gleichzeitigkeit von Schmerz und Sehnsucht, Klage und Verlangen [...] sowohl die Eigenart von Ingeborg Bachmanns poetischer Sprache der Liebe als auch deren theologische Relevanz« (Peters 2009, 89).
Portrait von Anna Maria Diese zwischen 1955 und 1957 entstandene unvollendete Erzählung aus dem Umfeld des Bandes Das dreißigste Jahr zeigt, wie die über eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im Umlauf befindlichen Gerüchte eine solche Eigendynamik entwickeln können, dass schließlich selbst über elementare Merkmale und Eigenschaften dieser Person ganz gegensätzliche Auffassungen existieren. Im Mittelpunkt der Erzählung
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steht die berühmte Malerin Anna Maria P., der die Ich-Erzählerin des Textes dreimal, in Draiano, Venedig und Rom, begegnet. Obwohl sich hieraus nur eine flüchtige Bekanntschaftsbeziehung entwickelt, werden diese Begegnungen zum Ausgangspunkt zahlreicher Phantasiegeschichten über die Beziehung zwischen beiden Frauen. Wenn die Ich-Erzählerin hiergegen gesprächsweise protestiert und sich dabei auf die »Wahrheit« (W 2, 54) beruft, hat es zunächst den Anschein, als folge Bachmanns Erzählung dem traditionsreichen Motiv der Klage über die Triumphe der auf Flügeln dahineilenden Fama. Doch die Wahrheitsgewissheit der Ich-Erzählerin selbst wird am Ende des Textes erschüttert, als sie die inzwischen verstorbene Malerin auf einer ihr von deren Mutter anvertrauten Photographie nicht mehr wiedererkennt, während ihr Freund das Porträt sofort als dasjenige der Malerin identifiziert (W 2, 57). Durch diese nachträgliche Infragestellung der Glaubwürdigkeit des erzählenden Ichs demonstriert Bachmann, dass es ›die‹ Wahrheit über eine Person nicht geben kann. Damit ist zunächst der biographistischen Kunstdeutung jede Grundlage entzogen, was für die damals schon unter intensiver Medienbeobachtung stehende Autorin selbst nicht ohne Belang war; zu Beginn der Erzählung wird explizit beklagt, dass »Künstler oft durch die Art ihrer Nebenbeschäftigungen die Phantasie der anderen weitaus mehr und nachdrücklicher beschäftigen und seltener durch das, wodurch sie es eigentlich tun sollten und wohl auch hin und wieder tun – durch ihre Arbeiten« (W 2, 48). Darüber hinaus dementiert die Erzählung aber auch in allgemeinerem Sinne die vorpluralistische Identitätskonzeption des bürgerlichen Zeitalters, die unterstellte, dass es einen unveränderlichen Wesenskern der individuellen Persönlichkeit geben müsse. Demgegenüber zeigt Bachmanns Portrait von Anna Maria, dass Individuen facettenreiche Gebilde sind, die sich nicht auf eine Quintessenz, auf einen ›Kern ihres Wesens‹, reduzieren lassen. Auch Jugend in einer österreichischen Stadt und Das dreißigste Jahr veranschaulichen diese pluralistische Persönlichkeitsauffassung der Autorin, die den Text unter der Regie von Egon Monk zu verfilmen plante (vgl. GuI, 35, 41); entsprechende Drehbuchentwürfe haben sich in Bachmanns Nachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten (vgl. Kresimon 2004, 165– 178). Wie Andreas Hapkemeyer postulierte, kann die Erzählung auch als »Kritik an der menschlichen Sprache überhaupt« interpretiert werden (Hapkemeyer 1982, 90).
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Der Schweißer In seiner Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft (1882) unterzieht Friedrich Nietzsche die Weltanschauung des bürgerlichen Zeitalters einer vernichtenden Kritik; der Gottesglaube, die Werteordnung und das Kulturideal der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts werden als Illusionen und Ideologien entlarvt. Dabei gelangte er allerdings zu einem oft als gesellschaftsabgewandt und fatalistisch kritisierten Ästhetizismus. In ihrer Erzählung Der Schweißer schildert Bachmann, die sich besonders in ihren Hörspielen engagiert gegen nietzscheanisch oder sonstwie gerechtfertigte »Austritte aus der Gesellschaft« (W 4, 276) gewandt hatte, welche Konsequenzen die Begegnung mit derartigen Fluchtphantasien haben kann. Der 35-jährige Andreas Reiter, Schweißer bei den Wiener Stadtwerken, bekommt zufällig Nietzsches Fröhliche Wissenschaft in die Hände, wird durch diese Lektüre seiner kleinbürgerlichen Umwelt entfremdet und begeht schließlich Selbstmord, da ihn seine intellektuelle Erweckung zur Vernachlässigung aller gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtungen – besonders seiner pflegebedürftigen Frau gegenüber – treibt. Reiter ist damit eine ambivalente Figur. Denn einerseits ist sein Erkenntnisschock, der ihn zu eigenständigem Nachdenken und zur Aufgabe seiner bürgerlichen, kranken-, unfall- und lebensversicherten Durchschnittsexistenz bringt (vgl. W 2, 69), ein Moment der inneren Befreiung und Verselbständigung. Andererseits gelangt er jedoch, und hier ist eine implizite Nietzsche-Kritik Bachmanns unüberhörbar, nicht zu einer Neubegründung von Sozialität und Moralität. Reiter löst sich vom Vergangenen, findet jedoch nicht ins Gegenwärtige, sondern treibt in ein Abseits. Dass er sich gefährlichen Lehrmeistern verschreibt, wird ihm als einem ungebildeten Orientierungssuchenden in Bachmanns Erzählung allerdings nicht angekreidet. Negativfigur ist vielmehr der Doktor, der den bei Bachmann häufigen Typus der versagenden Helferfigur repräsentiert und der den sinnsuchenden Schweißer mit Floskeln und Banalitäten abspeist. Die differenzierte Darstellung des Erweckungserlebnisses ihres Protagonisten macht es unmöglich, Bachmanns Stellung zu Nietzsche auf eine extreme Position festzulegen. Sie gehört weder zu den Nietzsche-Anhängern (Ernst Jünger, Gottfried Benn, Martin Heidegger u. a.), die den Amoralismus des Philosophen ignorierten oder marginalisierten, noch zu den Nietzsche-Gegnern (Alfred Kerr, Georg Lukács u. a.), die eine direkte Linie von Nietzsche zu Hitler
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ziehen wollten. Sie nähert sich damit der ambivalenten Position von Max Horkheimer und Adorno an, die in ihrer Dialektik der Aufklärung den Vernunftkritiker Nietzsche gegen den Antidemokraten Nietzsche verteidigten.
Eugen-Roman I Unter der Bezeichnung Eugen-Roman I versammelt die Kritische Ausgabe von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt acht nachgelassene Prosafragmente aus dessen Vorgeschichte, in denen Episoden aus dem Leben des jungen Eugen Tobai geschildert werden. Sie zeigen den etwa dreißigjährigen Protagonisten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Kriegsverwundeten in einem Prager Lazarett, als mittellosen Fremden in Rom, wo er eine Liebesaffäre mit der als extravagant geschilderten Deutsch-Italienerin Leda Steiner beginnt, und schließlich als Heimkehrer im Stadtpark von Wien. Obwohl die Skizzen für dieses Romanprojekt so unausgeführt blieben und/oder so lückenhaft überliefert sind, dass ein zusammenhängender Handlungsverlauf kaum erschlossen werden kann, verdienen die Fragmente Interesse, da sie die Entwicklung von Bachmanns Erzählstil dokumentieren. Wie Das Buch Franza so stellen auch diese Textbruchstücke eine Misch- und Übergangsform dar. Zeigt das erste Fragment noch den aus Das dreißigste Jahr bekannten, stärker auktorialen und generalisierenden Darstellungsstil, so weisen die Leda-Fragmente und das mit Stadtpark überschriebene Bruchstück schon die psychologisierende, personale Erzählweise auf, welche die Texte des späteren Todesarten-Projektes kennzeichnet. In der Unvereinbarkeit beider Darstellungsstile ist vielleicht die Ursache dafür zu suchen, dass Bachmann ihre Skizzen und Pläne nicht ausarbeitete und nur einzelne Motive und Formulierungen aus den Eugen-Fragmenten in ihre späteren Prosawerke übernahm (vgl. Kommentar in TKA 1, 509–514).
Geschichte einer Liebe Im Gefolge einer Kritik an den im bürgerlichen Zeitalter entworfenen Konzepten von Ehe, Liebe und Familie entstehen in der Spätmoderne vermehrt alternative Vorstellungen von Partnerbeziehungen, die nicht auf Liebe im Sinne der dauerhaften körperlichen, geistigen und seelischen Verbindung, sondern auf flüchtigen und zugleich intensiven Erlebnissen der Überein-
stimmung von Körper, Geist und/oder Seele basieren. Von D. H. Lawrence über Simone de Beauvoir und Henry Miller bis hin zu Botho Strauß und Elfriede Jelinek sind die mit diesem Wandel der Liebesauffassung einhergehenden Probleme in der Literatur des 20. Jahrhunderts immer wieder thematisiert worden. Bachmanns Geschichte einer Liebe, von der nur sechs Textfragmente aus dem Nachlass der Autorin erhalten sind, reiht sich in diese Tradition ein. Der Reiz der in ihr beschriebenen Wochenendbeziehung zwischen einer Wienerin und einem verheirateten Italiener besteht gerade in der Distanz, die zwischen beiden Partnern erhalten bleibt und die beiden ihre individuelle Freiheit sichert. So kann die Ich-Erzählerin im Nachhinein feststellen, dass ihr italienischer Geliebter für sie »kein Mensch«, sondern »nur ein Mann« gewesen sei (TKA 1, 49). Und ihm ist umgekehrt seine Wiener Freundin »oft so entrückt, dass er nicht mehr erschrocken gewesen wäre, ein Stück von einem Kometen, geschwärzt und kalt, in seinem Bett zu finden« (TKA 1, 57). Die Erzählung thematisiert auch die Gefahr, dass eine solche Liebe auf Distanz – zumal wenn eine Sprachbarriere die Partner trennt – zur Bildung von subjektiv-egozentrischen Projektionen und zur Entfernung von der historisch-gesellschaftlichen Realität führen kann. Bachmann knüpft damit einerseits an das Thema ihres Hörspieles Der Gute Gott von Manhattan an, weist aber andererseits schon auf eine Problematik voraus, die in einigen Texten ihres Todesarten-Projektes (Malina, Simultan, Drei Wege zum See) eine wichtige Rolle spielen wird. Das dritte, vierte und fünfte der Fragmente (TKA 1, 51–60) enthält Reflexionen über das Verhältnis zwischen individueller und allgemeiner Geschichte, die später im FranzaFragment (TKA 2, 270) wiederaufgenommen werden (vgl. Kommentar in TKA 1, 515–517).
Zeit für Gomorrha Dieses kurze Prosafragment umreißt die Geschichte der jungen und seelisch noch ungefestigten Justine, die in kriminelle Gesellschaft gerät und schließlich in einen Selbstmordversuch getrieben wird. Nach einer anschließenden Karriere als Schauspielerin »suchte sie nach einer Bindung« (TKA 1, 68) und geht eine Ehe ein, in der sie als Partnerin eines berühmten Mannes in der Bedeutungslosigkeit einer konventionellen Gattinnenrolle versinkt. Soweit die Kürze des erhaltenen Textbruchstückes solche Vermutungen zulässt, kann davon ausgegangen werden, dass Bachmanns
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Handlungsskizze auf die Darstellung einer jener Modernisierungsverliererinnen abzielt, die uns später im Todesarten-Projekt und in den Erzählungen des Simultan-Bandes immer wieder begegnen und die den in der Spätmoderne mehr und mehr brutalisierten Daseinskampf am eigenen Leib zu spüren bekommen. Darauf deutet auch der Name Justine hin, der an die gleichnamigen Opfergestalten aus Marquis de Sades La nouvelle Justine (1797) und aus der Romantetralogie The Alexandria Quartet (1957–60) von Lawrence Durrell erinnert. Bis auf den Titel und das Motiv der Passivität lassen sich kaum Überschneidungen mit der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha aus dem Dreißigsten Jahr erkennen (vgl. Kommentar in TKA 1, 517–520).
Sterben für Berlin Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer stellte der amerikanische Publizist Stewart Alsop in einem Spiegel-Artikel mit der Überschrift Sterben für Berlin? (15.11.1961) die Frage, ob es die Alliierten verantworten könnten, im Falle einer atomaren Eskalation des Ost-West-Konfliktes das Leben von 200 Millionen Menschen für die Verteidigung von 2 Millionen Berlinern aufs Spiel zu setzen. Bachmanns in Teilen autobiographische Prosafragmente, deren Titel diesen Artikel zitiert, beschreiben die Gedanken und Empfindungen eines Schriftstellers, der bei einem Besuch Westberlins und einer Stippvisite im Osten der Stadt etwas von der bedrohlichen und aggressiven Atmosphäre zu spüren bekommt, die hier herrscht und die auf eine tieferliegende, nicht mit tagespolitischen Ereignissen erklärbare Gewaltbereitschaft hindeutet. Der Text dokumentiert Bachmanns genaue Kenntnis der politischen Lage und enthält einige Motive, die später in ihrer Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle sowie in Texten des Todesarten-Projektes wieder aufgegriffen werden (vgl. Kommentar in TKA 1, 523 f.; Schlinsog 2005, 123; Lennox 2007).
Der Tod wird kommen Dieser unvollendete Prosatext, der zuerst in der Zeitschrift Jahresring 76/77: Literatur und Kunst der Gegenwart aus Bachmanns Nachlass veröffentlicht wurde, enthält die klarste und schärfste Abrechnung der Autorin mit jener idealisierten Vorstellung von der Familie, die schon in der – von Bachmann zitierten
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(W 2, 269) – Schrift Die Heilige Familie (1845) von Karl Marx und Friedrich Engels bzw. in der Studie Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) von Engels als Ideologem des bürgerlichen Zeitalters entlarvt worden war. Mit schneidendem Sarkasmus beschreibt der Ich-Erzähler seine Familie als »kopflose[s] Ungeheuer« (W 2, 269), das kontrolliert und bespitzelt, anklagt, verurteilt und alles beschwatzt, ohne dass ein wirklicher Austausch von Gedanken möglich wäre. Bachmann reiht sich damit in die lange, von Walter Hasenclever über Arnolt Bronnen und Franz Werfel bis zu Hermann Lenz oder Robert Walser reichende Reihe prominenter Autoren des 20. Jahrhunderts ein, die in ihren Werken gezeigt haben, dass die am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Familienauffassung des bürgerlichen Zeitalters unter den Bedingungen der (spät-)modernen Gesellschaft nicht zu halten ist. Quellen
Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften, Bd. 10.1). Hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt 1998. Montessori, Maria: Frieden und Erziehung [1932]. Hg. von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg/Basel/ Wien 1973.
Literatur
Albrecht, Monika: »Die andere Seite«. Untersuchungen zur Bedeutung von Werk und Person Max Frischs in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«. Würzburg 1989. Amstutz, Nathalie: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker. Köln/Weimar/Wien 2004. Baackmann, Susanne: »Beinah mörderisch wahr«. Die neue Stimme der Undine. Zum Mythos von Weiblichkeit und Liebe in Ingeborg Bachmanns Undine geht. In: The German Quarterly 68 (1995), 45–59. Baden, Hans Jürgen: Es gibt ein Reich ... In: Frankfurter Hefte 17 (1962), 559–561. Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach »Malina«: Ingeborg Bachmanns »Simultan«-Erzählungen. Würzburg 1997. Bartsch, Kurt: »Und der Fluchtweg kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten.« Zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr. In: Jean Paul Barbe/Werner Wögerbauer (Hg.): Ingeborg Bachmann. Actes du colloque 29, 30 et 31 Janvier 1986 Nantes. Nantes 1986, 127–150. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. München 1988. Dufresne, Marion: Ingeborg Bachmann. Undine geht. A la recherche d’un nouveau langage. In: Germanica 31 (2002), 113–129. Eberhardt, Joachim: »Es gibt für mich keine Zitate.« Intertextualität im dichterischen Werk Bachmanns. Tübingen 2002.
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II Das Werk – B Erzählprosa
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Jost Schneider
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II Das Werk – B Erzählprosa
12 Das Todesarten-Projekt im Über blick Der Sommer 1962, als Ingeborg Bachmann sich im August in die Wohnung in Uetikon am See zurückzog, um – wie sie ihrem Verleger mitteilt – sich dort »ein〈zu〉schließen« und »eine neue Arbeit anzufangen« (Briefe an Klaus Piper und Hans Rössner vom 7.8.1962, zit. nach TKA 1, 489, 618), bezeichnet vermutlich den Anfang jenes umfangreichen TodesartenProjekts, das seither im Mittelpunkt ihrer literarischen Arbeit stand. Diese Ausweitung war 1962/63, als Ingeborg Bachmann die frühesten Entwürfe zu ihrem ersten Todesarten-Roman um die Figuren Eugen, Fanny, Anton Marek und Karin Krause schrieb, aber sicherlich noch nicht abzusehen. Vielmehr ging es ihr zunächst darum, in der Wiederanknüpfung an ihre Romanversuche der 1950er Jahre, insbesondere an die Entwürfe um Eugen Tobai (Eugen-Roman I), eine Darstellungsform für das neue Sujet der »Todesarten« zu finden, der verborgenen, ›sublimen Verbrechen‹ der modernen Gesellschaft, die »täglich in unsrer Umgebung [...] stattfinden«, wie sie später in den Vorreden zum Buch Franza in Anlehnung an J. A. Barbey d’Aurevillys Erzählung Die Rache einer Frau aus dem Zyklus Les Diaboliques schreibt (TKA 2, 75). Entscheidende Impulse für das neue Schwerpunktthema der »Todesarten« dürften von Theodor W. Adornos im November 1959 veröffentlichtem Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« und seiner zentralen These von dem »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« (Adorno 1977, 555 f.) ausgegangen sein, der in der Folge eine Wende im bundesdeutschen Klima der Verdrängung einleitete und auf die in den 1960er Jahren einsetzende Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit vorausweist (vgl. Lennox 2006, Kapitel 10: »Bachmann and Cultural Studies: Gender and the Cold War«). Von Bachmanns lang anhaltender Auseinandersetzung gerade mit dieser Arbeit Adornos, die sie bereits bei ihrer Bekanntschaft mit ihm anlässlich ihrer Frankfurter Vorlesungen im Wintersemester 1959/60 kennengelernt haben dürfte (die Buchfassung von 1963 befindet sich in ihrer Bibliothek), zeugt nicht zuletzt die in den Vorreden zum Buch Franza formulierte Frage, »wohin der Virus Verbrechen gegangen« sei, der »doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unsrer Welt verschwunden sein« kann (TKA 2, 77). Eine frühe Interviewäußerung zu den Todesarten aus dem Mai 1965 bezieht die Arbeit am ersten Todes-
arten-Roman (Eugen-Roman II) ausdrücklich auf das lange Ringen um die ›große Form‹ des Romans zurück: »Ich denke schon seit vielen Jahren an diesem Roman herum, immer an demselben, mache mir Notizen und überlege seine Struktur« (GuI, 56). Dem Piper-Verlag, der schon vor dem Erscheinen von Bachmanns zweitem Gedichtband einen Roman zum Gegenstand des Verlagsvertrags machen möchte (Brief an Heinrich Böll, Anfang 1955) und spätestens seit 1958 immer wieder auf einen Roman drängt, hat die Autorin offenbar erstmals im Oktober 1963 definitiv von einem »Roman« berichtet und Todesarten als seinen Titel angegeben (Gesprächsprotokoll Otto Best vom Oktober 1963, Brief von Klaus Piper an Bachmann vom 30.10.1963); in einem Interview vom November 1964 gibt sie dann auch öffentlich an, »daß das nächste Buch ein Roman sein wird« (GuI, 46). Seinen Titel verdankt das Todesarten-Projekt wohl dem Abschnitt »Viele Arten zu töten« in Bertolt Brechts Me-Ti (Brecht 1995, 90; vgl. Bartsch 1982, 121). Dieses »Buch der Wendungen« hat auch bald nach Johnsons und Bachmanns gemeinsamem Berlin-Aufenthalt in der Redaktion von Uwe Johnson eine Neuauflage im Suhrkamp Verlag gefunden (Brecht 1965). Allerdings entfaltet das Todesarten-Projekt schon in der Arbeit am ersten Todesarten-Roman eine Eigendynamik, die die Planungen der Autorin (und ihrer Verleger) immer wieder durchkreuzt. Später wird Bachmann die »Verschiebung [ihrer] Baupläne« vorsichtiger jeweils nur so weit kommentieren, wie sie »den eigenen Plan absehen kann« (Brief an Klaus Piper vom 14.11.1970, zit. nach TKA 2, 359). Hatte die Autorin im September 1965 ihren ersten TodesartenRoman noch kommentiert – er hat »Wien zum Schauplatz, die Zeit ist die Gegenwart« und Österreich fungiert im Sinne Robert Musils als »geschichtliche[s] Experimentierfeld« der modernen Gesellschaft (GuI, 64) –, so hat sie diesen Roman im weiteren Verlauf des Jahres wohl zunächst zurückgestellt, dann aber vollständig aufgegeben, denn sein thematisch-motivisches Material, seine Figuren und seine Darstellungsmittel werden in den jüngeren Todesarten-Texten – im Buch Franza, im Requiem für Fanny Goldmann, später in Malina und im Goldmann/Rottwitz-Roman – neu verarbeitet. Schon im Herbst 1965 beginnt Bachmann mit der Arbeit an jenem zunächst ebenfalls Todesarten genannten Roman um Franziska Ranner, der posthum in der Ausgabe Werke (1978) unter dem Titel Der Fall Franza bekannt geworden ist, für den Bachmann im Verlagsbriefwechsel jedoch im Frühjahr 1966 den Titel Das Buch Franza festgelegt hat. Dieser Roman
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_12
12 Das Todesarten-Projekt im Überblick
»heißt« also nicht »mal ›Der Fall Franza‹, mal ›Das Buch Franza‹« (Weigel 1999, 513). Ähnlich wie die Herausgeberin des zweiten Bandes der Salzburger Bachmann Edition heute – den Stellenwert von verlagsinternen Notizen überschätzend – aufgrund eines Berichts von Siegfried Unseld vom Oktober 1970 Das Buch Franza in Das Buch Jordan umbenannte (Wandruszka 2017, 285), hatten sich die Herausgeberinnen der Ausgabe Werke offenbar der Präferenz des Verlegers Klaus Piper angeschlossen, der am 16.6.1966 an Ingeborg Bachmann geschrieben hatte, dass er Der Fall Franza dem Titel Das Buch Franza vorziehen würde. Der Titel Das Buch Jordan wird von Bachmann selbst jedoch nie, der Titel Der Fall Franza nur ein einziges Mal in der Verlagskorrespondenz genannt (Brief an Klaus Piper vom 3.6.1966), dort jedoch im Rückblick auf die beiden aufgegebenen Titelmöglichkeiten Franza oder Der Fall Franza, die später nicht mehr zur Debatte stehen (Brief an Klaus Piper vom 14.11.1970). Das Buch Franza ist der Quellenlage nach daher als der Werktitel letzter Hand anzusehen. Mit der Entscheidung, die Gegenüberstellung von Berlin und der Wüste für die Büchnerpreis-Rede zugunsten des Berlin-Textes Ein Ort für Zufälle aufzugeben, war der umfangreiche literarische Ertrag ihrer Reise nach Ägypten und in den Sudan im April/Mai 1964 sozusagen frei geworden. Hans Magnus Enzensberger, dem sie im Umfeld der Preisverleihung im Herbst 1964 davon erzählte und der sich in der Planungsphase seines Kursbuchs befand, war sehr daran interessiert – »schreib mir schnell [...], wann du mir die wüste schickst« (Bachmann/Enzensberger 2018, 162; vgl. auch 163–165) –, doch Bachmanns Plan war noch bis zum Sommer 1965, die Entwürfe zu einem »vorläufig das ›Wüstenbuch‹« genannten Band zu verarbeiten (GuI, 57; vgl. den Kommentar in TKA 1, 563–569). In einer Lesung in Zürich trägt Bachmann am 9.1.1966 bereits ein »Rohmanuskript« des neuen Romans vor (TKA 2, 18), bei einer Lesereise durch Norddeutschland im März 1966 dann schon weitgehend ausgearbeitete Fassungen der Kapitel »Heimkehr nach Galicien« und »Die ägyptische Finsternis«, letzteres zugleich eine Neuverarbeitung zentraler Motive aus dem Wüstenbuch (1964/65). Die für das Mittelstück des Kapitels »Die ägyptische Finsternis« vorgesehene Einarbeitung der mit Wadi Halfa assoziierten symbolischen Erfahrung einer utopischen Gegenwelt zur kritisierten europäischen Welt allerdings ist unausgeführt, und auch das Kapitel »Jordanische Zeit«, dessen konkurrierende Entwürfe teils im Umkreis der Le-
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sereise vom März 1966, teils erst im Sommer 1966 entstehen, bleibt fragmentarisch. Im Herbst 1966 wird das Buch Franza schließlich zurückgestellt, da »das Manuskript« der Autorin nun vorkommt »wie eine hilflose Anspielung auf etwas [...], das erst geschrieben werden muß« (Brief an den Lektor Otto Best vom 25.11.1966, zit. nach TKA 1, 626). Das »richtige Verarbeiten dessen, was schon da ist« (Brief an Hans Rössner vom 22.12.1966, zit. nach TKA 1, 626), führt statt zur Überarbeitung dieses Romans jedoch zu einem nochmaligen Neuansatz. Auch das 1966 parallel zum Buch Franza entstandene Requiem für Fanny Goldmann, die ausgelagerte und völlig neue Verarbeitung des Fanny-Stoffes aus dem ersten Todesarten-Roman, wird Ende 1966 als eigenständige Erzählung wieder aufgegeben. Sie wird jedoch in den seit dem Winter 1966/67 neu entstehenden Goldmann/Rottwitz-Roman eingearbeitet, der – das polyzentrische Strukturmodell des ersten Todesarten-Romans wiederaufgreifend – in seiner Rahmenhandlung um den Erzähler Malina und einen jungen österreichischen Schriftsteller auf der Frankfurter Buchmesse die »Todesarten« der österreichischen Schauspielerin Fanny Goldmann und der deutschen Journalistin Eka Kottwitz (später Aga Rottwitz) ineinander spiegelt. Gleichzeitig beginnt Ende 1966 auch die Arbeit an dem Roman Malina, der seit Mitte 1967 in Absprache mit Bachmanns neuem Verleger Siegfried Unseld ins Zentrum ihres Schreibens rückt und der einzige zu Lebzeiten abgeschlossene und veröffentlichte Todesarten-Roman werden sollte. Die weiblich-männliche Doppelfigur Ich/Malina und das imaginäre »Ungargassenland« bilden den Ausgangspunkt der Romanentstehung, bei einem Klagenfurtaufenthalt Ende 1967 findet Bachmann für den »Mittelteil« die Lösung des Traumkapitels (Brief an Siegfried Unseld vom 4.1.1968, zit. nach TKA 3.2, 792), und die Entwürfe und Reinschriften zeigen bis zuletzt die intensive Arbeit an der komplexen dialektischen, reflexiven und musikalischen Struktur dieses Romans, der 1971 als »Ouvertüre« zu einem geplanten Todesarten-Zyklus erscheint (GuI, 95). Die Erweiterung der Todesarten von einem einzelnen Roman zu einem geplanten Zyklus vollzieht sich bereits am Übergang vom ersten Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) zum Buch Franza. Schon im Februar 1966 ist im Verlagsbriefwechsel von den »weiteren Bänden des geplanten Zyklus« (jenseits des Franza-Romans) die Rede (Brief Hans Rössners an Bachmann vom 25.2.1966, zit. nach TKA 2, 393). In Vorrede-Entwürfen aus dem Frühjahr 1967 meint der
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II Das Werk – B Erzählprosa
»Titel« Todesarten, der Anfang 1966 noch den FranzaRoman bezeichnete, nun das geplante literarische »Kompendium der Verbrechen, die in dieser Zeit begangen werden«, als Ganzes, »ein Buch, das aus mehreren Büchern besteht« (TKA 2, 359, 361), und im Juni 1967 wird Malina ausdrücklich als »Beginn« bzw. »Introitus« dieses geplanten Todesarten-Zyklus festgelegt (Brief an Siegfried Unseld vom 26.6.1967, Brief Unselds an Bachmann vom 8.6.1967, zit. nach TKA 3.2, 791). Auf konkrete Äußerungen über die Zyklus-Komposition ließ Bachmann sich jedoch nicht ein und deutete lediglich an, dass auch bei ihr jenes typische Verfahren literarischer Zyklusbildung zu erwarten war, das sich an Honoré de Balzacs Romanzyklus La comédie humaine anlehnt und sich beispielsweise auch in Günter Grass’ Danziger Trilogie (1959–63) findet: Sie könne »nur sehr wenig« darüber sagen, gab sie nach dem Erscheinen der »Ouvertüre« Malina an, »außer daß einige Personen, die hier auftauchen und deren Namen fallen, daß die in den späteren Büchern vorkommen werden, aber dann dort Hauptrollen spielen oder wichtige Rollen haben« (GuI, 96, vgl. 127). Als Anschlusstexte an die »Ouvertüre« Malina plante die Autorin zuletzt eine Ausarbeitung des Erzählfragments Gier aus dem Umkreis der Simultan-Erzählungen und jenes Romans, der aufgrund der Spiegelfunktion seiner beiden »Todesarten«-Geschichten als zentralem Strukturmerkmal in der Historisch-Kritischen Edition des »Todesarten«-Projekts als Goldmann/ Rottwitz-Roman bezeichnet wurde. Beide Texte sind Fragment geblieben. Angesichts der mehrfachen Konzeptionswechsel, die den literarischen Arbeitsprozess an den Todesarten kennzeichnen, muss allerdings offen bleiben, welche Texte in welcher Gestalt und Reihenfolge den geplanten Zyklus tatsächlich ausgemacht hätten, wäre er durch den tragischen Tod der Autorin nicht vorzeitig abgebrochen. Im Zuge seiner Entfaltung umfasst das TodesartenProjekt jedoch mehr Texte als jene, die ausdrücklich Gegenstand der sich entwickelnden Zyklusplanung Ingeborg Bachmanns sind. Schon der erste Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) ist kein Teil des geplanten Zyklus, und doch hat er nicht nur den Titel Todesarten hervorgebracht, sondern ist zweifellos auch die wichtigste Keimzelle jenes Komplexes von Erzähltexten, die durch die Problemstellung der »Todesarten« miteinander verknüpft sind. In Abgrenzung von der engeren Zyklusplanung Ingeborg Bachmanns (Todesarten-Zyklus) meint der Begriff »TodesartenProjekt« daher all jene Texte, die unter dem Leitbegriff der »Todesarten« »thematisch-motivisch, genetisch
und zum Teil auch zyklisch aufs engste miteinander verknüpft sind« in jenem »übergreifenden literarischen Arbeitsprozeß, dessen Stationen und Ergebnisse in wesentlichen Teilen zu Lebzeiten unveröffentlicht« und Fragment blieben (Kommentar in TKA 1, 615). Hierzu gehören neben den bereits genannten Texten auch die Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle (1964), die in der Traumkonzeption ihrer frühen Entwurfsstadien auf das zweite Kapitel des Malina-Romans vorausweist, und das Wüstenbuch; beide Textgenesen sind zudem aufs engste miteinander und mit dem Buch Franza verflochten. Zum Todesarten-Projekt gehören in diesem weiteren Sinne auch die Simultan-Erzählungen und andere in diesem Umkreis entstandene Erzählentwürfe (Rosamunde, Freundinnen u. a.), an denen Bachmann in den Jahren zwischen 1966/67 und 1972 gearbeitet hat. Zwar hat sie in den Entwürfen zu einer Vorrede für die Simultan-Erzählungen gelegentlich nahegelegt, sie habe »in einer Zeit, in der [sie] finster und angestrengt versuchte, mit dem Buch Todesarten zurechtzukommen, vor allem mit dem ersten Band [Malina, M. A./D. G.] und dessen unsinnlichen Partien«, diese »komischen Geschichten« von »Wienerinnen« gewissermaßen zu ihrer eigenen »Entspannung« geschrieben (TKA 4, 3, 12). Wie viel Selbststilisierung sich in diesen für die Veröffentlichung geschriebenen Vorreden verbirgt, lässt sich jedoch nicht zuletzt in der gleichzeitig entstandenen Verlagskorrespondenz ablesen. Denn als der Verleger Klaus Piper ihr nach der Lektüre der Erzählungen seine Freude über den neuen leichten Tonfall der Erzählungen mitteilt, weist sie ihn dezidiert darauf hin, daß »man sich« eine »›leichte Hand‹ [...] nur sehr schwer erwirbt« (Brief an Klaus Piper vom 14.11.1970). Und vor allem schreibt sie in den gleichen poetologischen Entwürfen zum Simultan-Band ihren »Wienerinnen« ein »Abstürzen in die letzten Dinge« aus der »Banalität ihrer Existenz« zu (TKA 4, 3); diese Frauenfiguren, »die am Rande von meinem Hauptbuch lebten, aber dort keinen Platz fanden« (TKA 4, 12), sind mithin nicht nur durch das gemeinsame Figurennetz mit dem engeren Todesarten-Zyklus verbunden, sondern auch thematisch-motivisch und poetologisch. So entwirft Bachmann für die Simultan-Erzählungen in Anspielung auf Balzacs Zyklus La comédie humaine das Projekt einer literarischen Sittengeschichte der Zeit (TKA 4, 10, 15) und verweist damit unmittelbar auf ihr Verständnis der Todesarten als ein »Bild der letzten zwanzig Jahre [...], immer mit dem Schauplatz Wien und Österreich« (GuI, 66). Wie der geplante Zyklus »eine einzige große
12 Das Todesarten-Projekt im Überblick Todesarten 〈Eugen-Roman II〉 (1962/63–1965) EIN ORT FÜR ZUFÄLLE (1964/65) Wüstenbuch (1964/65) Ein Buch Franza (Todesarten) (1965/66)
Requiem für Fanny Goldmann (1966)
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Die nachfolgenden Kapitel widmen sich zunächst den Romanen Malina und Das Buch Franza, dann den übrigen Todesarten-Fragmenten (erster Todesarten-Roman, Requiem für Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman, Gier); die Simultan-Erzählungen werden in einem eigenen Kapitel behandelt, das Wüstenbuch und Ein Ort für Zufälle finden sich in Kapitel 25 (»Künstlerische und journalistische Prosa«). Quellen
MALINA (1966/67–1971)
〈Goldmann/RottwitzRoman〉 (1966/67 ff.)
›Wienerinnen‹ (1967/68ff.) Rosamunde (1964, 1967/1968) Freundinnen u. a. SIMULTAN: Simultan (1967/68–1972) Probleme Probleme Ihr glücklichen Augen Das Gebell Drei Wege zum See (1971/72)
Gier (1970 ff.)
Abb. 12.1
Studie aller möglichen Todesarten« werden sollte (GuI, 66), so befassen sich auch die Simultan-Erzählungen nach dem Verständnis ihrer Autorin mit den ›sublimen Verbrechen‹ der modernen Gesellschaft. Bachmann hat diese Erzählungen keineswegs »ausdrücklich aus dem Projekt herausgenommen« (Weigel 1996, 354), im Gegenteil, nach dem Erscheinen des Simultan-Bandes im Herbst 1972 und in Bezug auf diesen formulierte sie jenes Statement, das inzwischen als Programm der Todesarten gilt: »Zu sagen, was neben uns jeden Tag passiert, wie Menschen, auf welche Weise sie ermordet werden von den andern, das muß man zuerst einmal beschreiben, damit man überhaupt versteht, wie es zu den großen Morden kommen kann« (GuI, 116; vgl. Albrecht 1998, 31–34). Obwohl die Simultan-Erzählungen eine eigene Gruppe bilden und kein Bestandteil des geplanten engeren Todesarten-Zyklus sind, gehören sie also dennoch kontrapunktisch zum übergreifenden Todesarten-Projekt. In textgenetischer Hinsicht lässt sich die Verflechtung der Einzeltexte im Todesarten-Projekt wie in Abbildung 12.1 dargestellt veranschaulichen (vgl. TKA 1, 620).
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Monika Albrecht / Dirk Göttsche
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13 Malina Entstehung, Rezeption und Struktur Malina ist bekanntlich der einzige zu Lebzeiten Ingeborg Bachmanns publizierte Text aus dem geplanten Todesarten-Zyklus – und das mittlerweile am meisten interpretierte Prosastück der österreichischen Autorin. Als der Roman am 17.3.1971 erschien, beendete er eine mehrjährige Publikationspause. Dies und die »Malina-Promotion-Tour« (Hotz 1990, 152) – zwei Lesetourneen 1971, persönliche Werkkommentare Bachmanns in verschiedenen Interviews, stilisierte Lesungsberichte in den Feuilletons, die vor allem der Leseperformance und dem Äußeren der Autorin galten – ließen den Roman zum Zeichen eines glanzvollen Comebacks der einst vor allem als Dichterin gefeierten Schriftstellerin werden. Trotz seiner komplexen und nicht immer leicht verständlichen Struktur, trotz seiner ›Unzeitgemäßheit‹ vor dem Hintergrund des Politisierungsprozesses der 68er Revolution, der sexuellen Freizügigkeit und der zeitgenössischen Forderung nach Dokumentarliteratur, avancierte der »Außenseiter«-Roman wochenlang zum Bestseller – Kopf an Kopf mit Erich Segals Love Story und mit Hildegard Knefs Der geschenkte Gaul (»Autoren. Gut im Rennen«, in Wochenpresse, 14.7.1971). Zahlreiche Kritiker erhoben hingegen schwere Vorwürfe: Der Roman sei schwach und wirr, peinlich und gänzlich missraten (Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.9.1974 und 16.9.1980), er treibe einen kompliziert selbstgefälligen Schabernack mit Identitäten (Wirsing 1971), er sei diffus und wabere ins Ungefähre (Jürgen P. Wallmann in Die Tat vom 6.3.1971), rinne in leere Floskeln aus (Heißenbüttel 1994) und Ähnliches mehr. Zum Teil entbinden sich die Rezeptionswidersprüche, wo sie nicht einer Erwartungshaltung gegenüber der Lyrikerin Bachmann entspringen, aus dem Text selbst, der auf Vieldeutigkeit angelegt ist und durch dessen Genese ein heterogenes, schwer einzuordnendes Buch entstand, das »man aus alter Gewohnheit wohl Roman nennen wird« (Brief an den Verleger Klaus Piper vom 18.11.1970; TKA 3.2, 787). Diese Gewohnheit wird hier beibehalten, obwohl Bachmann die Bezeichnung ›Buch‹ bevorzugte. Die Anfänge von Malina datieren bis 1966 zurück, Vorformen einzelner Motive und Figuren entstanden bereits in den frühen 1950er Jahren. Ohne daraus gleich eine werkgenetische Entwicklungsteleologie ableiten zu müssen (vgl. die Kritik von Weigel 1996), lässt
sich Malina im Anschluss an diese lange Konzeptionsphase als Verdichtung, Verschiebung und Weiterentwicklung älterer Textentwürfe verstehen (Kommentar in TKA 3.2, 785–801): »Für mich spielt das eine große Rolle beim Schreiben«, so Ingeborg Bachmann 1971 in einem Interview, »daß alles ineinander verschränkt ist. Ich habe ja fast 1000 Seiten vor diesem Buch geschrieben, und diese letzten 400 Seiten aus den allerletzten Jahren sind dann erst der Anfang geworden, der mir immer gefehlt hat« (GuI, 96). Zu den fast 1000 Seiten vor dem Buch dürften auch die Traumnotate gehören, die teilweise unverändert in den Roman übernommen worden sind (vgl. Bachmann 2017). Als »Ouvertüre«, aber zugleich auch Endpunkt eines langen Schreibprozesses, bildet Malina den Kondensationspunkt einer zyklischen Struktur, die das gesamte Todesarten-Projekt prägt (vgl. Göttsche 1992, 188). Dabei erweist sich der Text in doppeltem Wortsinn als eine »Komposition«: Zum einen durchzieht Bachmann den Roman mit wiederkehrenden Themen, Motiven und Variationen und stellt die Parallelität ihres Verfahrens zur Komposition musikalischer Stücke bewusst aus – auch indem zahlreiche musikalische Intertexte (Noten, Libretti, Anspielungen auf Sängerinnen und Komponisten etc.) einmontiert werden. Zum zweiten lagert die (im Wortsinn) ›Zusammenfügung‹ und enge Verzahnung alter, oft fragmentarisch gebliebener Textkonzeptionen verschiedene narrative Ebenen übereinander und führt sie teilweise auch gegeneinander, so dass die Erzählperspektive nicht immer eindeutig ist. Resultat dieser Textgenese sind vielfache intratextuelle Bezüge innerhalb des Romans (vor allem im Hinblick auf die Handlung und das Personal), die auf andere Motive oder Texte des Todesarten-Projektes verweisen und den Roman gleichsam als Teil einer Gesamtkomposition und rhizomatischen Vernetzung kennzeichnen (Weigel 1999, 343). Verstärkt wird die so erzielte strukturelle Offenheit des Romans durch zahlreiche intertextuelle Verweise auf Literatur, Philosophie, Musik und Kulturgeschichte sowie durch die Auflösung der Gattungsgrenzen, die sich im widersprüchlichen Gegeneinander von Texten und Paratexten abzeichnet. Markiert etwa die Titelauszeichnung das Buch als einen Roman, so verweist dagegen die Auflistung der Personen zu Beginn des Textes sowie die Einheit von Zeit (»heute«) und Ort (»Wien«) auf ein Drama, während musikalische Anweisungen am Ende die Dialoge sogar partiell in Duette verwandeln. Partiell deswegen, weil nur die Partien der Ich-Figur mit Regulie-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_13
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rungen für Tempo, Lautstärke, Ausdruck und Emotionalitätsgraden versehen sind, die ihres Dialogpartners jedoch nicht. Andere Passagen, die als Text im Text graphisch hervorgehoben sind, lassen sich als Märchen deuten (»Es war einmal«; TKA 3.1, 348), werden jedoch als »Legende« bezeichnet (TKA 3.1, 347). Analog zu den Schwierigkeiten einer formalen Gattungsfestlegung bleiben auch die inhaltlichen Bestimmungen uneindeutig. Während der von Bachmann verfasste Text auf dem Rückumschlag der Originalausgabe eher von einer Mordgeschichte und einem Krimi kündet (TKA 3.2, 742), lässt die Innenseite des Klappentextes eine (unglückliche) Romanze und ein Buch über die Liebe erwarten (TKA 3.2, 740 f.). Ebenso vielschichtig und polyphon ist das narrative Verfahren. Ausgehend von einer schreibenden Ich-Figur, die jegliche Erzählmöglichkeit bestreitet, erweist sich das Verfertigen einer kohärenten Geschichte als problematisch, und diese Problematik schlägt sich in der offenen Struktur nieder. Zwischen lückenhaften ›Telefongesprächen‹, monologischen Duetten, Interviews, pseudotherapeutischen Traumanalysen, dem Legendentext mit seinen utopischen Projektionen, sowie zahllosen Zitaten und Anspielungen auf die Literatur- und Kulturgeschichte nähert sich die Ich-Figur zwar scheinbar ihrer eigenen »dunklen Geschichte« (TKA 3.1, 490), jedoch bleibt diese bis zuletzt ›verschwiegen‹ (TKA 3.1, 292) und narrativ nicht zu fassen. Weder erfährt der Leser oder die Leserin den Namen des sprechenden Ich, noch wird deutlich, um welche Geschichte es sich genau handeln könnte, noch wird eindeutig gesagt, worin der Grund für die Erzählund Erinnerungsschwierigkeiten liegt, mit denen die Ich-Figur sich von Anfang an auseinandersetzen muss. Geheimes Zentrum bleibt so eine Leerstelle, welche die Ich-Figur nicht zu füllen vermag – unter den Überschriften »Todesarten« oder »Die ägyptische Finsternis« (ein Verweis auf das Buch Franza) produziert sie lediglich leere Seiten (TKA 3.1, 333). Am Ende übergibt die Ich-Figur dem Titelhelden Malina resigniert alle ihre »Wortscherben« (TKA 3.1, 671): »Übernimm du die Geschichten, aus denen die große Geschichte gemacht ist. Nimm sie alle von mir« (TKA 3.1, 688 f.). Wie Bachmann in einem Interview erklärte, war mit dem zweiten Band des Todesarten-Projektes tatsächlich eine Art Fortsetzung von Malina mit neuem Erzähler geplant: »Ja. Malina wird uns erzählen können, was ihm der andere Teil seiner Person, das Ich, hinterlassen hat« (GuI, 96). Allerdings steht dieser Ankündigung entgegen, dass Malina, die neu gewonnene »objektiv[e]« und »souverän[e]« Position eines
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»total[en]« Erzählens (TKA 3.2, 740), am Ende des Romans das »Vermächtnis« der Ich-Figur zerreißt und wegwirft (TKA 3.1, 693). In der Bachmann-Forschung wird dies seit Beginn der feministischen Rezeption als Anklage gegen die typisch patriarchale Verdrängung weiblicher Autorschaft zugunsten eines männlichen Autors und als Kritik an der nur vorgeblich objektiven, auktorialen Erzählposition gedeutet. Nach Bachmanns eigener Aussage erwies sich das Ich (wohl mitsamt seinen Hinterlassenschaften) jedoch als »subjekt und unbrauchbar« (TKA 3.2, 740), und Malinas Handeln scheint als Ausdruck dieser Auffassung die radikale Überwindung einer verworfenen Erzählposition vorzuführen.
Figurenanlage und Inhalt Bereits die Verlagshinweise zur Erstausgabe vermerken explizit, dass die Ich-Figur und Malina – entgegen der gesonderten Aufführung im Personenverzeichnis zu Beginn des Buches – keine eigenständigen Personen darstellen. Vielmehr bilden sie offenbar zwei Aspekte eines (stereotypen) geschlechtlichen Binarismus. Wie in der Forschung wiederholt angemerkt wurde, repräsentiert das erzählende Ich dabei die weibliche, emotional-subjektive Seite, Malina hingegen die männliche, rational-objektive Seite. Auch die dritte Hauptfigur (Ivan) wurde bereits als eine weitere psychische Manifestation des erzählenden Ich gedeutet (Hartlaub 1994, 146; Summerfield 1976, 38). Bachmann selbst gab dafür in einem Interview erste Hinweise (GuI, 88). Der Roman ermöglicht so stets zwei Lesarten, ohne aber in einer völlig aufzugehen: die einer konventionellen Dreiecksgeschichte und die eines intrapsychischen Konfliktes. Auch andere Figuren werden nicht unbedingt eindeutig der einen oder anderen Möglichkeit zugeordnet. Die Haushälterin Lina etwa könnte, bereits durch den Namen als eine Abspaltung von Malina charakterisiert, ein weiterer Teilaspekt der Ich-Figur sein. Ellen Summerfield hat daher vorgeschlagen, den Roman durchgehend als Auflösung einer Einzelfigur zu lesen (ähnlich Schneider 1999, 268, der den Begriff der »Facettenfigur« bevorzugt). Dem entspräche zugleich die Heterogenität der Erzählfäden. Für die Theorie eines solchen ›Romans des Nebeneinander‹ wären jedoch alle Figuren zu überprüfen, auch die nicht im Personenverzeichnis aufgenommenen – beispielsweise der Vater, der die Träume der Ich-Figur im zweiten Kapitel beherrscht, die Schwester Eleonore, Melanie,
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Lily, Herr Ganz, Martin Ranner, Alexander Fleisser, Herr Mühlbauer, die Altenwyls, Fräulein Jellinek u. a. Insgesamt lassen sich außerhalb der Legenden-Erzählung über 70 Figuren ausmachen, die ein- oder auch mehrmals erwähnt werden (vgl. Hapkemeyer 1984, 353; Schleith 1996, 49–56) und zum Teil in anderen Todesarten-Texten wieder auftauchen. Abgesehen vom Personenverzeichnis, das also letztlich nur ein Teilverzeichnis darstellt, ist das Buch formal in weitere vier Teile untergliedert: drei Kapitel und ein Vorkapitel. Graphisch hervorgehoben, bildet zudem die Legende gleichsam einen vertikal zur horizontalen Achse der Kapitelgliederung angeordneten fünften Abschnitt. Das Vorkapitel erläutert die Gründe für die gewählte Zeit und den gewählten Ort der folgenden Erzählung und markiert sowohl die Figuren Malina und Ivan als auch die Ich-Figur als dramatis personae und fiktive Größen (TKA 3.1, 277). Da die Erzählfigur selbst als ›ich‹ spricht, sind die Grenzen zwischen erzählendem und erzähltem Ich von Anfang an unklar. Das Ich, so könnte man folgern, setzt sich gewissermaßen selbst, scheint mit und in der Erzählung erst zu entstehen. Ferner schildert das Vorkapitel die Anfänge der Bekanntschaft zwischen dem Ich und Malina, die sich gemeinsam eine Wohnung teilen, und deutet bereits die Dreiecksgeschichte zwischen Ich, Ivan und Malina an, die alle in derselben Straße leben. Diese Straße, das »Ungargassenland«, ist zugleich als imaginärer Ort gekennzeichnet, »weil sie nur in mir ihren Bogen macht« (TKA 3.1, 283). In dieser imaginären Topographie verklammern sich subjektive und objektive Wahrnehmungen, spiegelt sich Innen und Außen, Realität und Phantasie untrennbar ineinander. Neben den Signalen für das Fiktive und für das Imaginäre wird im Vorkapitel erstmals die Erinnerungsproblematik als strukturelle Voraussetzung für die nächsten Kapitel eingespielt. Denn obwohl die IchFigur bemerkt, alles störe sie in ihrer Erinnerung, wird paradoxerweise sogleich im ersten Kapitel, »Glücklich mit Ivan«, erzählt, wie die Beziehung zwischen dem Ich und Ivan begonnen hat. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem Haupttext, der die Ausschließlichkeit und heilende Macht der Liebe vorzuführen sucht, und einem im Verlauf des Kapitels immer dominanter werdenden Subtext, der das Scheitern dieser Liebeskonzeption präsentiert, die vor allem auf klaren geschlechtlichen Hierarchien sowie auf der Selbstaufgabe und der ›selbstgewählten Unmündigkeit‹ der Ich-Figur basiert (»Ich lebe in Ivan. / Ich überlebe nicht Ivan«; TKA 3.1, 323).
Der Heilungsprozess, den der Haupttext suggeriert, leitet ebenso die Überwindung einer körperlichen Selbstentfremdung ein wie die Überwindung einer Sprachkrise – beide Male erstattet Ivan (bekanntlich das russische Wort für ›Hans‹, dem Synonym für ›Mann‹ in Undine geht) dem Ich vorgeblich eine auf ungeklärte Weise verlorene Ganzheit zurück (TKA 3.1, 303 f., 309). Hinter den Verlusten verbirgt sich nach Einschätzung der Ich-Figur ein Krankheitsbild und eine Pathologie, welche die Ich-Figur nicht genauer benennt, jedoch als ansteckenden Infekt einschätzt (TKA 3.1, 308) – der Gedanke an das »Virus Verbrechen«, das im Buch Franza explizit benannt wird (TKA 2, 348), liegt nahe. Während die Bachmann-Forschung in den Sprachund Körpersymptomen in der Regel ein Angstsyndrom oder Hysterie diagnostiziert und geschlechtsspezifisch interpretiert (etwa Röhnelt 1990; Bauer 1998; Kanz 1999), dürften einige der pathologischen Indizien eher auf die ästhetische Moderne zurückzuführen sein: Der Heiler Ivan wäre dann die Antwort auf Hugo von Hofmannsthals ›Chandos-Brief‹ und dessen Befund, dass die Worte eben nicht mehr »fest und faßlich« (TKA 3.1, 304) sind, sondern wie modrige Pilze im Mund zerfallen. Doch obwohl die Ich-Figur mit Ivan angeblich eine ›andere‹ Sprache entwickelt, in der sich die »Dinge« gerade nicht »empfehlen und zurückziehen zu sich selber« (TKA 3.1, 307), bleibt das Glücksbuch, welches das Ich für Ivan verfassen will, ungeschrieben – und auch das Glückskapitel zeugt eher von scheiternder Kommunikation denn von einer neuen Sprache: »Ich bin / Was bist du? / Ich bin / Was? / Ich bin glücklich / [...] Es ist zu laut, ich kann nicht lauter / Was willst du sagen?« (TKA 3.1, 343 f.). Nebenbei verweist sowohl das zweimalige »Ich bin« als auch das Thema der Angst auf existenzphilosophische Problemstellungen: Einerseits soll die Versicherung der eigenen Existenz durch die Liebe erfolgen, andererseits scheitert diese Versicherung gerade im Entwurf einer possessiven Liebe, in der sich der/ die Liebende zum Objekt in der Welt des/der Anderen macht (darin diskutiert das Kapitel gleichsam die Entwürfe Gabriel Marcels und Jean-Paul Sartres). Nur kurz wird eine Lebenskunst entworfen (»mein Wille ›gut zu leben‹, um wieder brauchbar zu sein«; TKA 3.1, 365), bevor der Roman zunehmend die »Krankheit zum Tode« (Søren Kierkegaard) und das »Sein zum Tode« (Martin Heidegger) thematisch zu variieren scheint. Am Ende, in dem Kapitel »Von letzten Dingen«, entwirft Malina für das Ich schließlich den Zustand der reinen Existenz: »Du wirst dort so sehr du
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sein, daß du dein Ich aufgeben kannst« (TKA 3.1, 664). Inwiefern Malina eine existenzphilosophische Lösung durchspielt oder verwirft, müsste allerdings erst noch erforscht werden. Auf einer Parallel-Ebene wiederholt das Märchen von der Prinzessin von Kagran die Liebesgeschichte zwischen der Ich-Figur und dem Ungarn Ivan und verlagert sie zugleich auf eine andere Zeitebene, »mehr als zwanzig Jahrhunderte« zurück. Hier tritt ein Fremder auf, der die Prinzessin zweimal rettet, doch am Ende entwirft er »schweigsam« die erste Todesart und treibt ihr selbst den tödlichen Dorn ins Herz (TKA 3.1, 356 f.). In der zyklischen Anlage von chronologischer Vorzeit und narrativer Nachzeitigkeit – die Ich-Figur schreibt diese Geschichte im 20. Jahrhundert, und sie kennt Ivan bereits über ein Jahr lang – entsteht eine Begründungsstruktur der Wiederholung: Die Ich-Figur musste Ivan treffen und dieser wird nicht nur als Heiler, sondern auch als ›Mörder‹ der Ich-Figur auftreten. Diese Wiederholungsstruktur versucht das Ich im Roman durch die Setzung des ›Heute‹ still zu stellen, um sich so gegen »ein Morgen, das ich nicht will« (TKA 3.1, 468) zu verwahren. Aus dieser Stillstellung der Zeit erklären sich auch die Erinnerungs- und Erzählschwierigkeiten der Ich-Figur. Allerdings ist deutlich, dass das ›Heute‹ längst schon verloren ist (vgl. Hima 1995, 191). Und so lässt sich die Zukunft zwar noch kurzfristig mit paradiesischen Visionen neu entwerfen (Freiheit, Gleichheit, Liebe, Güte, Poesie unter den Menschen, Harmonie mit der Natur). Doch im Verlauf des Ivan-Kapitels reißen die Visionen immer wieder ab und setzen neu an, bis sie unmerklich in eine postapokalyptische Landschaft einmünden (vgl. TKA 3.1, 455). Mit dem Rückzug Ivans wird Malina zunehmend wichtiger für die Ich-Figur (vgl. TKA 3.1, 499). Im Anschluss an das Glück/Schlaf-Kapitel erzählt sie Malina ihre Träume, der sie sogleich analytisch zu bearbeiten sucht. Die Schilderung von 35 Traumsequenzen, in denen die Ich-Figur vom Vater gequält, getötet oder anderweitig zum Schweigen gebracht wird, ist daher immer wieder von kurzen Dialogszenen unterbrochen, in denen Malina nach der Wahrheit hinter den Träumen forscht (und mit ihm zahlreiche LiteraturwissenschaftlerInnen, vgl. etwa Stuber 1994, 153–206). Wie ein Psychoanalytiker versucht er, Deckerinnerungen und Traumsymboliken aufzulösen und dadurch die Ich-Figur zum (Ein-)Geständnis der ›richtigen‹ Erinnerung zu zwingen (TKA 3.1, 550). Während aber die Ich-Figur sich einer Erkenntnis nähert, welche scheinbar die Traumatisierung erklärt (»Blutschande. Das ist doch nicht zu verwechseln, ich weiß, was es
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heißt«; TKA 3.1, 552), beansprucht Malina die Deutungshoheit – und durchkreuzt damit die narrative Rekonstruktion einer ›authentischen‹ Vergangenheit und Identität des Ich: »Nein, nein, du weißt es eben nicht [...], du verwechselst sogar deine Leben. / Ich habe nur ein Leben. / Überlaß es mir« (TKA 3.1, 552). Damit wird das Ende des Romans erneut präludiert. Während im dritten Kapitel Malina und die Ich-Figur sich in zahlreichen Dialogen buchstäblich auseinander-setzen und Malina dabei einen zunehmend dominanteren Part erhält, zeigt sich die narrative Identität der Ich-Figur immer ungewisser: Ausgestattet mit fremden Geschichten und Erinnerungen (TKA 3.1, 584), erweist sie sich als ein »Ich ohne Gewähr« (KS, 288; W 4, 218). Auf Malinas Drängen hin gibt die Erzählfigur schließlich gänzlich den Anspruch auf ein ›ich‹ auf. Es folgt die Geschichtenübergabe an Malina, wenig später verschwindet das Ich in einem Riss in der Wand und wird zu einem stummen ›es‹: »es kann nicht mehr schreien, aber es schreit doch: Ivan!« (TKA 3.1, 693). Übrig bleiben Malina, der die persönlichen Gegenstände der Ich-Figur entsorgt, Ivan, der noch einmal die bekannte Nummer anruft, aber von Malina erfährt, dass es am anderen Ende keine Frau (mehr) gibt, und eine Erzählinstanz, die nach dem Verschwinden und Verstummen des erzählten Ich die letzten Passagen vorbringt und diese mit den viel zitierten Worten schließt: »Es war Mord« (TKA 3.1, 695). Für den Namen ›Malina‹ gibt es in der Forschung verschiedene Dechiffriervorschläge. Sie reichen von ›Himbeere‹ als Übersetzung aus einer slawischen Sprache über das anagrammatische Spiel mit den Worten ›anima‹/›animal‹ bis zu diversen intertextuellen Zitaten. Dem im Buch zitierten Genre des Kriminalromans entspricht aber wohl ebenso gut oder besser der dem russisch-jiddischen Jargon der Gaunersprache entstammende Gebrauch des Wortes ›malina‹ für (u. a.) ›Versteck‹. Es bezeichnete auch geheime Zufluchtsorte in jüdischen Ghettos, etwa solche zwischen doppelten Wänden (Boihmane 2014, 13, 38‒51; vgl. auch Kurmann 2016b, 80 f., offenbar in Unkenntnis von Boihmanes Arbeit, vgl. Boihame 2014, 110, Anm. 104). Diese Bedeutungsebenen reflektieren zum einen auf die dem Buch inhärente Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner in der österreichischen Nachkriegszeit verdrängten Geschichte. Zum zweiten (damit durchaus zusammenhängend) verweisen sie darauf, dass die Dichotomie von Opfern und Tätern hinterfragt werden muss. So lässt sich das Verhältnis zwischen Malina und dem Ich eben auch dergestalt deuten, dass das Ich sich in einer
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malina (oder in Malina) versteckt. Dem korrespondiert ein Textentwurf, demzufolge das Ich, bevor es Ivan kennengelernt hat, schon einmal untergetaucht war und zehn Jahre in einem Bunker gelebt hat (TKA 3.1, 42). Damit wäre das Ich nicht etwa Opfer einer Verdrängung (oder eines Mordes) durch Malina, sondern Malina wäre sein Schutzraum und seine Undercover-Identität. Dieser Spur ordnen sich diverse Hinweise im Text zu. Verschiedentlich seitens des Ich geäußerte Mordpläne oder seine nachrichtendienstliche Tätigkeit deuten dabei an, dass Verstecke nicht nur Opfern dienen – zumal die Kapitelüberschrift »Der dritte Mann« einen deutlichen intertextuellen Hinweis auf den gleichnamigen Thriller von Graham Greene (The Third Man, 1950; Verfilmung 1949, Regie: Carol Reed) gibt, in dem sich das vermeintliche Opfer als Kopf einer Verbrecherbande im NachkriegsWien entpuppt. Mit der Absage an die Konstruktion einer simplen Opfer-Täter-Opposition schreibt der Roman zudem das Thema der Erzählung Unter Mördern und Irren weiter (vgl. dazu auch Meyer 1998). Unter der Perspektive des Verstecks erweist sich der Buchtitel »Malina« als eine Chiffre, die dazu auffordert, das Verdeckte hinter dem Offensichtlichen zu suchen. Das Buch wäre dann zu verstehen als eine Art Schmuggelfach zwischen zwei Deckeln, als ein Kassiber für die »abominablen Geschichten«, die sich hinter oder vielmehr in der Erzählung »von Malina und mir« (TKA 3.1, 42) verbergen. In diesem Sinn enthält oder bildet das Buch ein Apokryph, wie die Figur Malina eines geschrieben hat. Oder eben genau dieses Apokryph. Nicht zufällig hatte Bachmann für den Roman ursprünglich den biblischen (oder eben apokryphen) Titel »Das Buch MALINA« (TKA 3.2, 799) vorgesehen. Damit reiht sich Malina ein in das reflexive, paradoxale und letztlich auch unendliche Spiel mit dem Buch im Buch, wie es seit der Romantik, besonders durch Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, paradigmatisch geworden ist (zu Bachmanns RomantikRezeption vgl. Bartsch 1991).
Erzählproblematik Insgesamt lassen sich drei im Roman miteinander verknüpfte Grund-›Todesarten‹ erkennen: Die »mörderische Vernünftigkeit« mit der daraus resultierenden »Unfähigkeit zur Liebe« (TKA 3.2, 741), die Gewalt (geschichtlich, gesellschaftlich, geschlechtsspezifisch) sowie die spätmoderne Subjektproblematik, die nicht nur mit der Frage nach Erinnerung und Identität ver-
bunden ist, sondern auch mit der (Un-)Möglichkeit des Erzählens. In den Frankfurter Vorlesungen hat Bachmann dieses Problem ausführlich behandelt und verschiedene Ich-Konzeptionen in der modernen Literatur vorgeführt: (1) den Versuch, auf die Erfindung des Ich zu verzichten und eine Identität zwischen Autor und Romanheld herzustellen (Henry Miller, Louis Ferdinand Céline), der sich besonders im Tagebuch als eine Maskerade mit der Ich-Form erweist; (2) die doppelte IchErzählung zwischen Rahmenhandlung und Ich-Bericht (Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewski) als ein leicht durchschaubares Versteckspiel, hinter dem das Ich sich umso besser preisgeben kann; (3) die Ich-Figur, die im Erzählen ihre Katharsis sucht, sich aber selbst schon nicht mehr geheuer ist (Italo Svevo); (4) IchMitteilungen, deren Subjektivität sich im Objektiven aufzulösen trachtet (Marcel Proust), und (5) Ich-Figuren, die sich depersonalisieren (Hans Henny Jahnn), bis sie schließlich im Versuch, gänzlich zu verschwinden, an die Grenze der Sprache vorstoßen (Samuel Beckett; vgl. KS, 287–306; W 4, 217–237). Jede dieser Ich-Konzeptionen lässt sich in Malina wiederfinden, und je nachdem welche (oder ob überhaupt eine) davon jeweils wahrgenommen wurde, variieren die Interpretationen. Von der autobiographischen Lesart bis zum poststrukturalistischen Zeichenspiel, von der feministischen Lektüre bis zur psychoanalytischen Diagnose, von der erzähltheoretischen Analyse bis zur intertextuellen Spurensuche wird dabei immer wieder eine Frage umkreist: Wer spricht – vor allem nach dem Verschwinden der Ich-Figur in der Wand? Aufgeworfen wurde die Frage bereits 1971 von Hans Mayer (1992), und sie provoziert bis heute immer neue Deutungsversuche. Dabei finden sich mittlerweile alle potentiellen Erzählpositionen besetzt: a) Die Stimme des weiblichen Ich erzählt über den Tod hinaus oder gegen ihn an (etwa Baumgart 1989, 148; Bossinade 1990, 207). Das erzähllogische Paradoxon wird dabei – vor allem in den frühen Kritiken – zumeist umgangen oder ignoriert (etwa Blöcker 1971; Krolow 1994; Wohmann 1971), oder aber es wird dahingehend gedeutet, dass eben gerade in diesem Paradoxon der Experimentcharakter und die Fiktionalität eines letztlich unmöglichen weiblichen Schreibens betont wird (Leonhard 1995, 143; Geesen 1998, 260). Andere narrative Analysen lösen das Problem mit unterschiedlichen Erzählebenen (Schneider 1999, 291): Fiktive Erzählrede und Figurenrede sind voneinander zu trennen (Schleith 1996), erzähltes
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und erzählendes Ich sind solange ununterscheidbar, bis die Figurenrede schließlich endet (Albrecht 1989, 199; Grimkowski 1992, 87). Das verwirrende Spiel zwischen Figurenrede und übergeordneter Erzählinstanz ermöglicht es, das Drama der inneren Zerrissenheit der Ich-Figur literarisch zu inszenieren (Göttsche 1990, 113). b) Da Malina als kontrollierende Instanz fungiert bzw. (aus feministischer Sicht) auf Kosten der Ich-Figur zum Erzähler avanciert, kommt nach deren Verschwinden in der Wand auch nur der titelgebende Held als Erzähler in Frage (etwa Bail 1984, 54, 79; Bartsch 1988, 142 f.; Bauer 1998, 26; Schmitz 1998, 15). Diese Deutung zieht sich so und ähnlich seit Erscheinen des Romans durch, wobei anfangs der Autorin Ingeborg Bachmann nicht selten der Vorwurf sprachlicher und narrativer Inkonsequenz gemacht wurde (vgl. etwa Wirsing 1971). c) Der Text spricht selbst: Die weibliche Figur verstummt, »aber der anklagende Text überlebt, um von einer veränderbaren Leserschaft rezipiert zu werden« (Boa 1994, 142). Am Ende verschwindet nicht nur die Ich-Figur, auch das Erzähl-Ich ist nicht mehr präsent, nachdem in der ›Säuberungsaktion‹ Malinas sogar die besitzanzeigenden Personalpronomen (»meine Brille«, »meine Augen«, »mein Vermächtnis«; TKA 3.1, 693) aus dem Text entfernt worden sind. Unversehens wurde das narrative Niveau gewechselt (Brachmann 1999, 194), und hinter dem narrativen Maskenspiel kann die Ich-Form verschwinden. Vielleicht reagiert das Ende des Romans damit bereits auf die poststrukturalistische These vom ›Tod des Autors‹. Dass Bachmann diese jedoch offenbar kritisch wertet (»Es war Mord«) und nicht als lustvolle jouissance, mag auch mit den geschlechtsspezifischen Codierungen zusammenhängen – schließlich ist es ein weibliches Autorsubjekt, über das sich ein männlich-paternaler Text hinweg fortschreibt (Herrmann 2001, 206 f.). d) Die souveräne Erzählposition hat sich zugunsten eines multiperspektivischen und polyphonen Erzählens aufgelöst (Summerfield 1976; Bossinade 1990, 221–225; Weigel 1999; ähnlich Grimkowski 1992, 131). Es lässt sich daher nicht feststellen, aus welcher Perspektive am Ende erzählt wird. Hinter der polyphonen Figurenrede erscheint – in den Brüchen und Leerstellen – eine ›andere Stimme‹, die das Erzählen im Modus der Unmöglichkeit dokumentiert (KohnWaechter 1992, 30, 44, 124) und den Einbruch des Semiotischen ins Symbolische markiert (Röhnelt 1990). e) Der ganze Roman wird als »Dokument einer Lebenskrise« (Hartung 1992) und Erzählkrise gelesen
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und (auto-)biographisch gedeutet. Dadurch wird der Kommentar der letzten Passagen überhaupt keiner Erzählinstanz, sondern der Autorin Ingeborg Bachmann selbst zugeschrieben. Trotz (oder gerade wegen) dieser Fülle an Interpretationen der letzten Roman-Passagen sowie überhaupt der Narrativik in Malina beansprucht jeder neue Beitrag für sich, nun endlich die ultimative Untersuchung zu diesem Thema zu präsentieren (vgl. etwa Grimkowski 1992, 1; Schneider 1999, 268; Brachmann 1999, 162). Die Erzählproblematik stellt sich in Malina aber nicht nur als ein formales, erzähltheoretisches Phänomen dar oder als Ausdruck einer weiteren Erzählkrise der Moderne, die – zwischen dem zeitgenössischen Slogan vom ›Tod der Literatur‹ und dem vom ›Tod des Autorsubjektes‹ – literarhistorisch eingebettet und begründet sein mag. Auf der Erzählebene selbst werden vielmehr zwei weitere Möglichkeiten angeboten: Erstens ist die »Begabung des Ich zur Erinnerung«, die für Bachmann etwa noch Prousts Protagonisten in der Suche nach der verlorenen Zeit auszeichnet (KS, 300; W 4, 230), im späten 20. Jahrhundert (nach zwei Weltkriegen, nach Vietnam und der Shoah) traumatisch gestört. Zweitens unterliegt das Ich, das bei Bachmann weiblich markiert ist, Redeverboten. Für Letztere macht in Malina die Ich-Figur ausdrücklich die männlichen Protagonisten verantwortlich: in den Träumen den Vater (den ›dritten Mann‹), ansonsten aber Malina, selbst Schriftsteller und Verfasser eines apokryphen Werks, und Ivan (vgl. TKA 3.1, 275, 287, 620). Beide Figuren stehen für unterschiedliche narrative Programme (Göttsche 1987, 199; Bossinade 1990, 152–170) und beide greifen in den Erzähl- und Schreibprozess der Ich-Figur, die ihrerseits an einem Todesarten-Projekt arbeitet, massiv ein: Obwohl bislang nur Überschriften existieren, weiß Ivan bereits, was das Ich für ein Buch schreiben will und fordert das exakte Gegenteil (TKA 3.1, 333 f.). Malina korrigiert die Art des Erzählens. Gleichzeitig stellen beide Figuren aber paradoxerweise die Voraussetzungen für das Erzählen bereit: Ivan hilft der IchFigur, ihre Sprachkrise zu überwinden (TKA 3.1, 304), Malina hält sie immer wieder dazu an, ihre Erinnerungen zu ordnen. Mit Malinas Hilfe scheinen im zweiten Kapitel auch die unbewussten Ursachen für die Erinnerungsstörung geklärt zu werden. Die geschilderten Träume handeln allesamt von zahllosen Gewalttaten seitens des Vaters. Sie reichen von Schreib- und Sprechverboten über Inzest bis zum Tod der Tochter in der Gas-
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kammer und rufen neben kulturell gängigen Vorstellungen über die Repressionsmechanismen des Patriarchats auch Bilder des Faschismus auf, um diese damit zu verknüpfen und als traumatische Urszenen für die Entschlüsselung der Erzählschwierigkeiten bereit zu stellen.
Psychowissenschaftliche Deutungszugänge und Erinnerungsarbeit Bereits zeitgenössische Rezensenten haben den Roman als »psychoanalytisches Seelendrama« (Kaiser 1992, 109) oder »Geschichte einer Neurose« (Heißenbüttel 1994, 129) gelesen. Analog dazu finden sich in der Bachmann-Forschung immer wieder Ansätze, den Roman als Produkt einer Verdrängung und die Konzeption der Ich/Malina-Doppelung als Ich-Spaltung zu deuten (vgl. etwa Ezergailis 1982 und die Forschungsdiskussion bei Zettl 1991, 123). Eine multiple Persönlichkeit also scheint in dieser Perspektivierung die Hauptfigur des Romans zu bilden, und das Erinnerungsproblem wäre dann als ein psychopathologisches Syndrom zu erklären. Indiz und körperliche Spur für die Verdrängungsleistung bilden die Angst- und Hysteriesymptome der Ich-Figur (etwa Bauer 1998, 11). Wie Malina versuchen manche InterpretInnen, die als Ursache vermutete ›dunkle Geschichte‹ ans Licht zu bringen, und wie die Ich-Figur finden sie diese in dem Wort »Blutschande« vorgegeben. Gegen vermeintliche Verharmlosungen in der Forschung, die den Vater weniger als reale denn als symbolische Figur interpretieren (und dafür entsprechende Hinweise im Text finden können), wird der Inzest mit dem Vater als primärer Grund des Tochter-Traumas hervorgehoben (Horn 1995) – bisweilen auch unter Ausdehnung auf biographische Spekulationen zur Autorin selbst. Die Leerstelle, um die der Roman kreist, wäre somit gefüllt, Malina erweist sich demnach als Erzählung und Drama eines Inzest-Opfers. Ausgeblendet wird dabei unter anderem der spezifisch faschistische Gebrauch des Wortes »Blutschande«. Alternative Lesarten des vielfach geschichteten Buchs gelten zudem als »rigorose Tabuisierung« durch die Germanistik (Schlich 2009, 179) – ein kaum belegbarer Vorwurf angesichts der dazu vorhandenen Studien (vgl. auch den Überblick bei Boihmane 2014, 30‒36). Derart einsinnige Diagnosen werden der komplexen Struktur des Romans wenig gerecht und können auch kaum der Endpunkt einer literaturwissenschaftlichen Analyse sein (ähnlich: von der Lühe 1993, 136).
Denn so deutlich und offensichtlich Bachmanns Text zunächst verschiedenen psychoanalytischen Mustern folgen mag – etwa C. G. Jungs Anima/Animus-Theorie, Sigmund Freuds Traumdeutung oder Jacques Lacans Sprachmodell (vgl. Zettl 1991; Costabile-Heming/Karandrikas 1997; Schottelius 1990) –, so sehr zitiert der Roman offenkundig genau diese Muster als literarische und narrative Modelle (neben vielen anderen) und ironisiert sie auch – z. B. wenn das erzählende Ich seine gesamte Lektüre und abendländische Bildung für ein Kochbuch auf den Abfallhaufen der Kulturgeschichte zu werfen bereit ist, »Freud, Adler und Jung« eingeschlossen (TKA 3.1, 371). Außerdem folgt die Suche nach der traumatischen Urszene offenkundig selbst schon einem literarischen Modell: William Faulkners Schall und Wahn (1929). Ingeborg Bachmann nimmt in ihren Frankfurter Vorlesungen ausdrücklich darauf Bezug, und Malinas seltsame Replik auf den Verdacht der »Blutschande« (um den auch Faulkners Roman kreist), die Ich-Figur verwechsle wohl ihre Leben (s. o.), verweist unmittelbar auf die komplizierte Zeitstruktur des Prätextes, importiert diese gleichsam in den neuen Kontext und markiert zudem eine intertextuelle Schnittstelle, die dem psychoanalytischen Zugriff auf vermeintlich verschüttete Ich-Erlebnisse literarische Fiktion unterschiebt. Letztlich schildert der Roman daher keine narrative Rekonstruktion der Erinnerung und der Identität (Bauer 1998, 5) – etwa durch eine Freudsche Redekur –, sondern gerade das Gegenteil: Erinnerung ist ein prinzipiell unabschließbarer, nicht normierbarer Vorgang und entzieht sich als assoziative, unstrukturierte und irrationale Gedächtnisbewegung einem linearen Erzählen. Als Prozess der Destruktion und Dekomposition zwingt die Erinnerung in Malina zur Gattungsauflösung, zu sprachlichen Entgrenzungen (von der Lühe 1993, 138 f.), zu Brüchen in der Erzählung (Stoll 1991), zur Dekonstruktion des Erzählens überhaupt (Göttsche 1987, 200) und mündet in der völligen Zerstörung des Ich (Grimkowski 1992, 170). Insofern wäre der Roman gerade als Absage an das Freudsche Projekt lesbar. Zudem haben die Untersuchungen zur Genese des Romans gezeigt, dass Malina entstanden ist, als die Arbeiten am zweiten Kapitel des Franza-Buches stockten, und dass Bachmann die spezifische »Technik« der Traumerzählungen für den Mittelteil erst relativ spät fand: Ihr voran ging zunächst die Idee eines »Fotoromanzos« (Kommentar in TKA 3.2, 792). Es liegt daher nahe, die Traumlogik als einen darstellungstechnischen Kunstgriff und als Lösung für ein narratives Problem zu deuten. Dieser Kunstgriff er-
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möglicht, wie es scheint, zwei Dinge: Einerseits Erinnerungsarbeit, Ich-Problematik und Erzählstruktur miteinander zu verketten und andererseits die vorgeführte Auflösung der Ich-Figur nicht allein als ein erzähltheoretisches oder ästhetisches Projekt der Moderne weiter zu führen und zu radikalisieren, sondern als traumatische Reaktion auf verschiedene Formen der Gewalt in ein ethisches Problem zu verwandeln, um »eine neue sittliche Möglichkeit zu begreifen und zu entwerfen« (KS, 267; W 4, 191).
Zeitgenössischer Kontext und Aufarbeitung der Geschichte Zum festen Bestand der Malina-Deutungen gehört der Hinweis auf strukturelle Parallelen zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Faschismus, der spätestens seit den 1970er Jahren zum common sense der feministischen Bewegung gehört und in Bachmanns Roman gleichsam seine Illustration gefunden hat. Vor allem in den Träumen des zweiten Kapitels werden immer wieder Analogien zwischen Shoah, sexueller Gewalt und ökonomischer Ausbeutung hergestellt und beides topisch in der Figur des Vaters zusammen geführt. Die Traumaszenarien und der narrativ umkreiste Erinnerungsverlust beziehen sich so keineswegs allein auf individualpsychologisch deutbare Geschehnisse, sondern auch auf die kollektive Kriegs- und Nachkriegsgeschichte (vgl. etwa Gehle 1995; Weigel 1999, 25). Malina kann einerseits als eine Reflexion über die mit dem ›Zivilisationsbruch Auschwitz‹ verbundene Krise des Darstellens gelesen werden. Andererseits zielt der Roman mit seiner dialektischen Bewegung von Erinnern und Vergessen auf eine ›Gedächtnisarbeit‹ in der Sprache, die das vermeintlich Entzogene der Shoah und die vermeintliche Vergangenheit des Krieges in die Gegenwart überführt: »Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß man nur in einem Krieg ermordet wird oder nur in einem Konzentrationslager – man wird mitten im Frieden ermordet« (GuI, 89). Insofern geht es in Malina weniger um die historischen Ereignisse der Nazizeit selbst als um das Fortwirken faschistischer Strukturen im Alltag der Nachkriegszeit (GuI, 144), um den historisch begründeten Utopieverlust (Vietta 1992, 109) und um das Psychogramm einer (post-)katastrophischen Befindlichkeit (Botz 1993). Für die Auseinandersetzung mit ›Auschwitz‹ gibt es sowohl biographische als auch literarhistorische Begründungen. So hat Ingeborg Bachmann den Einmarsch deutscher Truppen in Kärnten als traumati-
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sches Jugenderlebnis geschildert: »Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt« (GuI, 111). Als Erinnerungs-Urszene, die historisch nicht bezeugt ist – je nach Zeugenaussage lag Ingeborg Bachmann zu diesem Zeitpunkt mit Grippe im Bett bzw. mit Diphtherie im Krankenhaus oder war im Ski-Urlaub (Brokoph-Mauch 1997, 190; Weigel 1999, 316) –, markiert dieser nachträglich gesetzte Erinnerungsursprung eine biographisch bedeutungsvolle Zäsur in der Wahrnehmung eines historischen Kontinuums. Von noch größerer Bedeutung für das Bewusstsein gegenüber dem eigenen historischen Ort dürfte Bachmanns Begegnung mit Paul Celan gewesen sein (Weigel 1999, 25). Zugleich entsprechen Faschismuskritik und Ineinanderblendung von Privatem und Politischem gängigen zeitgenössischen Überzeugungen. Indem Bachmanns Roman Familie und Gesellschaft (den »allergrößte[n] Mordschauplatz«; TKA 3.1, 617), individuelle Traumatisierung der Ich-Figur und kollektive Geschichtsbilder miteinander verknüpft, ähnelt Malina jenen ab 1970 zahlreich entstehenden Versionen historischer und (auto-)biographischer ›Trauerarbeit‹, die nicht selten um eine (nationalsozialistische) Vaterfigur herum zentriert werden (Herrmann 2001). Dem Genre der ›Väterliteratur‹ entspricht auch, dass der Weg aus der Erzählkrise nach dem propagierten ›Tod der Literatur‹ ins jeweilige Innere der Hauptfigur führt und die literarhistorische ›Tendenzwende‹ weg von der ›littérature engagée‹ hin zu einer selbstbezüglichen ›Neuen Innerlichkeit‹ und ›Neuen Subjektivität‹ einleitet. Malina könnte mit seinem nach Innen verlegten Schauplatz als Teil dieser Bewegung verstanden werden. Ausdrücklich plädiert Bachmann denn auch 1971 für die Exhumierung der literarischen Scheinleiche (GuI, 78), nachdem sie bereits 1955 die Diskussion zwischen ›littérature pure‹ und ›littérature engagée‹ für veraltet erklärt hatte (GuI, 11). Andererseits lässt sich der Roman mit der aufgeworfenen Subjektproblematik und dem Verschwinden der Ich-Figur durchaus als eine frühe Kritik an einem ›subjektiven‹ Erzählen deuten. Profiliert wird die Reflexion über den Zusammenhang von individueller Geschichte und übergeordneter Historie in Malina vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität Österreichs und einer spezifischen kulturellen Identität. Der Roman dokumentiert so auch ein Stück österreichischer Zeit- und Alltagsgeschichte (vgl. Göttsche 1998). Neben dem Nationalsozialismus rekurriert der Roman dabei auf den »Zusammenbruch der Monarchie« (TKA 3.1, 298) als ei-
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nem weiteren wichtigen historischen Bezugspunkt, an den die zweite österreichische Republik in der Nachkriegszeit mit dem habsburgischen Mythos wieder anzuknüpfen suchte (zum Mythos vgl. etwa Magris 2000 und speziell zu Bachmann Dusar 2002). Der auch in Malina propagierte ›Austritt aus der Geschichte‹ wird von Bachmann entgegen zeitgenössischer Nostalgie und Verdrängungsstrategie jedoch gerade nicht in eine rückwärts gerichtete, konservative Geschichtsmanipulation überführt, sondern gleichsam als eine postnationale Utopie von Sprachen- und Kulturen vielfalt in einem »Haus Österreich« entworfen – grenzüberschreitend und deterritorialisiert (TKA 3.1, 391–398; vgl. Schmid-Bortenschlager 1984, 26). Mit dem Habsburger Mythos greift der Roman auf einen Topos österreichischer Literatur zurück, in den er sich auf vielfältige Weise einschreibt und von dem er sich zugleich distanziert. Deutlich wird dies etwa an der Legende und dem Volkslied vom edlen Ritter Prinz Eugen, der die Türken schlug und die Festung Belgrad einnahm. Nicht zufällig nennt die Ich-Figur in Malina ihr Alter Ego im Eingedenken an dieses erste erlernte Lied mit dem ersten erlernten Männernamen zunächst »Eugenius« (TKA 3.1, 288). Auf der Figurenebene spiegelt sich so noch einmal die Werkgenese der Todesarten, in welcher der Historiker Eugen Tobai früherer Romanentwürfe schließlich von dem – »aus Gründen der Tarnung« (TKA 3.1, 275) – im Heeresmuseum arbeitenden Malina abgelöst wird. Zudem wird mit dem Einüben des (ironischerweise von dem Deutschen Ferdinand Freiligrath verfassten) Liedtextes eine Art Urszene kultureller Identität präsentiert, in der bereits – wie im Roman selbst auch – die Geschlechterdifferenz mit Krieg und Gewalt zusammengebunden ist. Anders als der Historiker Eugen repräsentiert Malina eine doppelte Form der Geschichtsverwaltung: Als Militärhistoriker archiviert er die materiellen Relikte der österreichischen Historie – bis hin zum zerschossenen Automobil des in Sarajevo ermordeten Erzherzogs Franz Ferdinand (vgl. TKA 3.1, 496 f.). Als Schriftsteller ist Malina darüber hinaus potentiell auch für die immaterielle Seite der Überlieferung zuständig. Zwischen Geschichte und Poesie aber verwandeln sich die Fakten in Legenden und es entsteht das kulturelle Gedächtnis und ideologische Fundament einer Nation – das wusste schon Hugo von Hofmannsthal, der unter der in Malina zitierten Überschrift »Prinz Eugen, der edle Ritter« (TKA 3.1, 288) 1915 eine Legende veröffentlichte, die nicht nur eine Linie von den Schlachten Eugens zur Gründung und
Sicherung des Hauses Österreichs bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zog, sondern ausdrücklich zur Belebung des nationalen Gefühls gedacht war. Indem der Roman sowohl strukturell als auch inhaltlich auf die Topoi österreichischer Geschichtsmythen und Gründungslegenden verweist, sie variiert und zugleich ironisch ausstellt, schreibt er eine Art »kritische Heimatliteratur« (Brokoph-Mauch 1997). Die Nonkonformität der postnationalen und postimperialen Ideen etwa, die das Ich in einem Interview mit einem Journalisten entwickelt, werden an den abwehrenden Reaktionen des Gegenüber deutlich: »Zunehmendes Erschrecken von seiten des Herrn Mühlbauer, mir fällt die Wiener Nachtausgabe ein, Herr Mühlbauer bangt vielleicht schon um seinen Job, ich muß auch ein wenig an Herrn Mühlbauer denken« (TKA 3.1, 392). Die Komik zielt hier in ironischer Absicht auf einen von Mühlbauer verkörperten politisch opportunen, aufdringlich indiskreten und nichts weniger als investigativen Journalismus, der immer dieselben Fragen stellt (im Roman sind diese daher ausgespart und umgekehrt verwendet Bachmann in Interviews Versatzstücke aus den Romanantworten, vgl. etwa GuI, 80 und TKA 3.1, 391 f.), der nicht genehme Antworten löscht oder von vorneherein abzubiegen versucht. Doch der »bösartig liebevoll[e]« (GuI, 98) Humor Bachmanns richtet sich auch auf überkommene gesellschaftliche Verhaltensweisen. Während Mühlbauer vor allem mit seinen »Küß-die-Hand-Anrufen« (TKA 3.1, 382) daran partizipiert, erweist sich die ebenfalls »mit allen Mitteln der Lächerlichkeit« (GuI, 98) beschriebene High Society am Wolfgangsee als letzter Hort vergangener Zeiten. Vor allem die Altenwyls, die als Figuren eigentlich Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige (1921) entstammen und bei denen laut Roman »der Hofmannsthal und der Strauss [...] natürlich jeden Sommer« zu Besuch waren (TKA 3.1, 484), pflegen neben französischer Konversation die Alt-Wiener Küche und bevorzugen auch sonst die anachronistischen Zustände der Vorkriegszeit: das Haus ohne fließendes Wasser und Zentralheizung, die Handtücher aus handgewebtem Leinen. Das Bild einer anachronistischen und die Zeit des Nationalsozialismus ausblendenden Nachkriegsgesellschaft wird ergänzt durch Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse, die während der Entstehung des Romans von Bachmann stets aktualisiert und bis an die jeweilige Gegenwart des Arbeitsprozesses herangeführt wurden (Göttsche 1998, 195 f.). Auf diese Weise entsteht ein Österreich-, oder besser Wienroman, der die gesellschaftlichen Diskurse und Vor-
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stellungen dokumentiert und gleichermaßen als Satire darauf wie als Zeitstück gelesen werden kann. Durch diese Form der »kritischen Heimatliteratur« und durch die explizite Bezugnahme vor allem auf österreichische Autoren (vgl. GuI, 11 f., 80) grenzt sich Bachmann im Übrigen deutlich von Deutschland ab. Aus den unterschiedlichen kulturellen Identitäten resultiert für sie eine entscheidende Differenz in Sprache und Denken (GuI, 132). Ebenso distanziert sich Bachmann durch die Teilhabe an der österreichischen Literaturgeschichte vom deutschen Literaturbetrieb, der sie einerseits zwar unterstützt, andererseits jedoch auch stark vereinnahmt hat. Mit einem ironischen Seitenhieb heißt es denn auch in Malina: »die Deutschen fallen ja auf alles herein« (TKA 3.1, 473). Das Ineinander von Gewalt, Angst und Humor ist in der Malina-Forschung bislang wenig untersucht worden (vgl. Achberger 1998). Offenbar dient die gegenseitige Verschränkung des Tragikomischen einerseits der Kontrastierung, wohl auch der Steigerung des tragischen Geschehens sowie der Modellierung einer inneren Gespaltenheit der Ich-Figur: Gefühl und Intellekt, Anteilnahme und Distanz, objektives Erleben und subjektive Wahrnehmung finden sich seit langem in der Gattungstheorie jeweils dem Tragischen oder Komischen zugeordnet. Andererseits lässt sich vermuten, dass der Roman – so hat es Friedrich Hebbel zur Erklärung der tragikomischen Form seines Trauerspiels in Sizilien (1847) formuliert – »ein tragisches Geschick in untragischer Form« vorführt, da es längst keine sittliche Macht mehr gibt, »sondern ein Sumpf von faulen Verhältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen« (Hebbel 1963, 388). Bereits in der ästhetischen Anlage könnte Malina dann als ein ethisches Reflexionsmodell über die moderne Gesellschaft und die »Krankheit unserer Zeit« (GuI, 72) gelesen werden. Der Roman wäre vielleicht als eben solch ein »kühne[r] geschichtsphilosophische[r] Versuch« und »Roman der Weltanschauungskritik« noch zu erforschen, wie ihn Bachmann ihrerseits in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und dessen »bittere[r] Komik« vorgefunden hat (KS, 96, 115; W 4, 24, 94).
Feministische Zugänge Von der feministischen Bewegung hat sich Ingeborg Bachmann einerseits deutlich distanziert und erklärt, dass »sie von der ganzen Emanzipation nichts hält« (GuI, 109). Andererseits scheint jedoch die Wahl einer
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als weiblich markierten Ich-Perspektive in Malina darauf zu zielen, das »Gefühlstreiben« und »Unglück der Frauen« (TKA 3.1, 609, 613) den »Krankheiten« der Männer (TKA 3.1, 607) mit einigem Impetus gegenüber zu stellen: »Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau« (GuI, 144). Ähnlich zwiespältig verlief auch die feministische Rezeption von Malina: Während das Buch seit den 1980er Jahren zum feministischen Kultbuch avanciert ist, galt Bachmanns Weiblichkeitsbegriff zunächst als wenig progressiv: zu sehr dem Klischee vom weiblichen Masochismus und hilflosen Opfer verpflichtet, zu wenig auf gesellschaftliche Zwänge aufmerksam machend. Und da Bachmann im ›männlichen‹ Literaturgeschäft durchaus erfolgreich war, wurde sie – wie manch andere Autorin auch – in dem sich etablierenden Frauenliteraturbetrieb zunächst nicht rezipiert: Ihre Texte entsprachen »nicht den Emanzipationsvorstellungen und Lesebedürfnissen des feministischen Diskurses« (Weigel 1987, 28). Dies hat sich, nach dem Tod Bachmanns und seit Erscheinen der Werkausgabe 1978, grundlegend geändert. Gerade die Prosatexte schienen nun genuin weibliche Erfahrungen auf realistische Weise zu repräsentieren – zumal sie manchen auf Bachmanns Leben und Sterben zurückführbar schienen. Mit dem Wandel der feministischen Literaturtheorie von ihren ideologiekritischen Anfängen zur poststrukturalistischen Analyse richtete sich das Interesse der durch die feministische Literaturwissenschaft in hohem Maße intensivierten Bachmann-Forschung jedoch weniger auf identifikatorische Bezüge als auf symbolische Strukturen und Diskursformationen (vgl. Lennox 1992). Unter Rückgriff auf psychoanalytische Theorien wurde Malina deshalb seit den 1980er Jahren zum Erprobungsfeld zentraler Denkfiguren feministischer différence, vor allem solcher der Hysterie und der écriture féminine. Die diesen Figuren zugrunde liegenden Ansätze gehen davon aus, dass die Frau einerseits als Repräsentationsfigur des Weiblichen und als Darstellungsobjekt in der symbolischen Ordnung (im patriarchalen Zeichensystem ›Kultur‹) anwesend ist, andererseits aber als Subjekt daraus ausgeschlossen bleibt. Die Ich-Diffusion und der Zerfall eines einheitlichen Subjektes in Malina bietet die Möglichkeit, genau diese doppelte Position auszustellen und das Ich zugleich als Ich und als Nicht-Ich sprechen zu lassen. Dabei kommt das im logozentrischen Diskurs Verdrängte, das ›Andere‹ des Weiblichen, in einer écriture féminine zum Vorschein, die sich vom (aus dem Logos ausgeschlossenen) Kör-
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per her schreibt (Kohn-Waechter 1992, 104; Bauer 1998, 13 u. ö.). In »einer anderen Sprache [...] mit Haut und Haar« (TKA 3.1, 306) offenbart sich so in Bachmanns Roman scheinbar das widerständige Potential eines wiederholt von (paternalen) Redeverboten ins Verstummen getriebenen weiblichen Ich: Zwar braucht dieses Ich Malina, ohne den die Geschichte nicht in die symbolische Ordnung des Textes überführt werden kann, doch entsteht in dieser Verdoppelung eine neue Schreibweise (vgl. Weigel 1984; Röhnelt 1990, 4), in der gegenläufige Erzählstrategien und Stimmen sich durchkreuzen und überlagern. Die dabei entstehenden Brüche und Fragmentierungen markieren subversive Störungen in der symbolischen Ordnung. Trotz aller Repressionen durch den Vater, Ivan und Malina gelänge es demnach, die ›andere‹ Stimme zu erheben und Zeugnis abzugeben vom Opfertod im Widerstand gegen das Patriarchat (Leonhard 1995, 142; zur Stilisierung der Ich-Figur als Opfer in der Bachmann-Forschung vgl. Kohn-Waechter 1992, 36 f.). In nuce führt dies ein Vatertraum vor, in dem das Ich in einem Duett auf der Bühne steht, aber erkennt, dass nur der Mann zu hören sein wird, »weil mein Vater nur für ihn die Stimme geschrieben hat und nichts natürlich für mich« (TKA 3.1, 517). Die Ich-Figur singt auch ohne Vatertext, stürzt in den leeren Orchestergraben und bricht sich das Genick. Doch im Opern-Traum fehlt das Publikum, die Stimme verhallt ungehört, und ähnliche Situationen werden in den Träumen immer wieder durchgespielt (Höller 1987, 281). Nach dem Verschwinden der IchFigur entsorgt Malina den blauen Stein – Signum für ein antipaternales, widerständiges »Schreiben im Staunen« (TKA 3.1, 559) – und damit offenbar auch die letzte Hoffnung auf ein alternatives »weibliches Textbegehren« (Morrien 1996). Malina ließe sich daher durchaus als Absage an eine weibliche Utopie der ›anderen‹ Sprache deuten, und stützen könnte sich diese Lesart nicht nur auf die Gewinnung Malinas als titelgebender Erzählfigur, sondern auch auf die im Roman ebenfalls formulierte Einsicht in die Zukunftslosigkeit der Legendenerzählung von einer ›anderen‹, utopischen Zeit, in der die »Poesie« des weiblichen Geschlechts wiedererschaffen wird (TKA 3.1, 449): »[...] ich denke an mein Buch, es ist mir abhanden gekommen, [...] mir fällt kein Satz mehr ein. [...] Kein Tag wird kommen« (TKA 3.1, 651). Die »Legende einer Frau, die es nie gegeben hat« (TKA 3.1, 347) mahnt ohnehin zur Vorsicht: Nie gegeben hat es nicht nur die Legende, sondern auch die darin vorgestellte Frau, und da die Ich-Figur in der von
ihr selbst entworfenen Frauen-Fiktion ein potentielles ›Versteck‹ sieht, wäre zunächst die Frage nach der Geschlechterinszenierung in Malina zu stellen. Irritierenderweise erscheint nämlich die als weiblich markierte Ich-Figur selbst schon wieder geschlechtlich gedoppelt: »Bin ich eine Frau oder bin ich etwas Dimorphes?« (TKA 3.1, 619). Offenbar führt die geschlechtliche Ambivalenz und scheinbare Androgynität von Ich/Malina für die Ich-Figur zu einem gender trouble, der je nach Situation neu akzentuiert wird: Während Ivan das Ich als »sehr weiblich« (TKA 3.1, 454) wahrnimmt und im Traumkapitel der »Friedhof der ermordeten Töchter« (TKA 3.1, 502) die Ich-Figur als Tochter ausweist, muss sich das Ich in Distanz zu den männlichen Figuren vor dem Spiegel mit »Wässerchen« und Cremes erst als eine Frau entwerfen (TKA 3.1, 448), und schließlich wundert sich die Ich-Figur sogar, zusammen mit Malina als »Mann und Frau« wahrgenommen zu werden: »[...] wir wußten damit nichts anzufangen. Wir haben sehr gelacht« (TKA 3.1, 581). Statt die Zuordnung der Ich-Figur zu den hinlänglich bekannten Topoi der Weiblichkeit (Angst, Hysterie, Sprachlosigkeit, Liebe, Tod) stets neu zu wiederholen (vgl. auch Behre 1992), dürfte es daher gerade auch im Hinblick auf die Sprach- und Erzählstruktur sinnvoll sein, die – zum Teil deutlich ausgestellte – Konstruktion der geschlechtlichen Positionen durch eben solche Topoi in den Blick zu nehmen. Dies entspräche auch einer theoretischen Entwicklung von der feministischen Literaturwissenschaft zu den Gender Studies, die anstelle einer Weiblichkeit (oder Männlichkeit) die Vielfalt der Positionen im Feld der Geschlechterdifferenzen betonen. In Malina sind diese vermutlich erneut in dem Maße flexibel und widersprüchlich, wie die literarischen Prätexte wechseln: Die »›Antwort‹ auf das Bild der Frau bei Max Frisch« (Albrecht 1989, 129), der das Leben seiner ehemaligen Lebensgefährtin literarisch ausbeutete, dürfte anders aussehen als die Replik auf Hans Weigels Roman Unvollendete Symphonie und dessen subjektive, ›weibliche‹, mit Blick auf Bachmann entworfene Erzählperspektive (vgl. Brüns 1998, 207). Konterkariert werden diese (wie auch immer) biographisch konnotierbaren Weiblichkeiten zudem dadurch, dass Bachmann die Ich-Figur mit Bachmann-Klischees aus dem zeitgenössischen journalistischen Diskurs ausstattete. Diese entsprechen jedoch kaum dem Geschlechtermodell in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, der als ein wichtiger Intertext für Malina gilt. Musils geschlechtliches Doppel wiederum wird ergänzt durch das Verwirrspiel unein-
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deutiger Namen, wie es Bachmann in Faulkners Roman Schall und Wahn vorfindet: »Da gibt es [...] zweimal den Namen Quentin, einmal als männlichen, einmal als weiblichen Vornamen« (KS, 326, W 4, 251 f.). Die Reihe der potentiellen Intertexte ließe sich weiter fortsetzen und könnte die Analyse des Geschlechterarrangements in Malina neu beleben.
Intertextualität/Intermedialität Eine Reihe von Arbeiten erforscht die literarischen, musikalischen, philosophischen und wissenschaftlichen Prätexte, um so dem komplexen intertextuellen Bedeutungsgeflecht von Bachmanns Roman auf die Spur zu kommen. Bachmanns »Welt im Zitat« (Helbling 1995, 115) erstreckt sich dabei vom 19. Jahrhundert (Freiligrath, Friedrich Hölderlin, Gustav Meyrink, Rainer Maria Rilke, Tolstoi, Dostojewski, August Strindberg u. v. m.) bis zur Gegenwart und eröffnet so einen weiten diachronen Deutungsraum, der zudem intermedial angelegt ist und Film, Musik, Theater und Oper einschließt. Ausgehend von Bachmanns übrigen Arbeiten – Essays, Libretti, Hörspielen etc. – und anderen biographischen Hinweisen hat sich aber dennoch ein ›Kanon‹ an Intertexten etabliert, der immer wieder ins Blickfeld rückt – und die textanalytische Perspektive vielleicht auch allzu stark auf die Rezeption bestimmter Autoren und Texte fokussiert (Schneider 1999, 22): Heidegger, Ludwig Wittgenstein und auch Ernst Bloch – aber nicht so sehr Theodor W. Adorno, Kierkegaard und Friedrich Nietzsche; Komponisten und Sängerinnen (etwa Vincenzo Bellini, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Arnold Schönberg und Hans Werner Henze, Schwarzkopf und Callas) – aber selten Film-Regisseure wie etwa Ingmar Bergmann und Louis Malle (auch jene populären Spielfilme, zu deren Besuch die Ich-Figur Ivan überreden will, fallen aus dem Wahrnehmungsraster, vgl. TKA 3.1, 328; vgl. Schneider 1999, 22, 129; Albrecht 1992, 287); Musil, Frisch, Celan, Hofmannsthal, Arthur Rimbaud, Algernon Blackwood, Giuseppe Ungaretti, auch Thomas Mann – aber weniger Dante, de Sade, Hölderlin, Lewis Carroll, Bertolt Brecht, Faulkner, Beckett, Svevo, Thomas Bernhard u. v. a. m. Eine systematische Untersuchung der Intertexte wäre wünschenswert, ist vermutlich aber kaum durchführbar: Immer neue Zitate und Verweise lassen sich in Bachmanns Roman entdecken, und Bachmanns intertextuelle Praxis dürfte ohnehin weniger als aktualisierte Va-
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riante der Einflussforschung interessant sein denn als poetisches Verfahren (vgl. hierzu insgesamt Eberhardt 2002). Ein Verfahren zumal, das im Dienst eines kulturkritischen und analytischen Projekts der Moderne und als Untersuchung einer individuellen wie gesellschaftlichen Psycho-Logik mit ihren geheimen »unterirdischen Querverbindungen« (GuI, 79) zu verstehen ist. Diesen nachzugehen, ermöglicht nun auch der zweite Band der Salzburger Bachmann-Ausgabe (Male oscuro; Bachmann 2017), der zwar einerseits eine reduktionistische autobiographisch-psychologische Lektüre des Romans weiter befördern könnte, andererseits aber nicht nur die Rolle von Bachmanns Traumnotaten für den Roman und seine Genese verdeutlicht (vgl. Kienlechner 2018, 312), sondern zugleich aufzeigt, wie sehr dieses psychographische Projekt und das eigene Selbstverständnis selbst wieder durch kulturelle Formationen geprägt sind. Zu denen gehören erneut literarische Prätexte – zu nennen wäre hier insbesondere Guiseppe Bertos Il male oscuro (1964) –; die Ausgabe arbeitet aber viele weitere, bislang weniger bekannte intertextuelle Bezüge heraus (vgl. den Kommentar in Bachmann 2017), darunter etwa auch Aichingers Hörspiel Knöpfe (1953). Ausgehend von Bachmanns Hinweis auf den Kompositionscharakter ihres Romans ist die Parallele zwischen der musikalischen und der literarischen Strukturierung sowie die poetologische Funktionalisierung musikalischer Intertexte bereits des Öfteren herausgearbeitet (und auch kritisiert) worden (Achberger 1984; Greuner 1990; Spiesecke 1993; Caduff 1998; Eberhardt 2002, 212–262). Zu fragen wäre aber auch nach weiteren intermedialen Aspekten, etwa nach filmischen Zitaten (Kresimon 2004, 39‒161) und filmischer Perspektivierung (Blickregie, Rauminszenierung, Schnitte und Szenenwechsel), dramaturgischer Ausstattung der »Gedankenbühne« (Theatralität, Performativität) und der radiophonen Schreibweise (Stimmenführung, Sonalität; vgl. dazu Schenk 2015, 310 f.) – Letzteres auch vor dem Hintergrund, dass »Gedankenbühne« (TKA 3.1, 630) nicht nur auf den Innenraum des Ich, sondern auch auf das Hörspielkonzept der Nachkriegszeit verweist. Umgekehrt können (inter)mediale Adaptionen neue Interpretationsimpulse geben – so etwa Werner Schroeters heftig umstrittene Malina-Verfilmung von 1991, die nicht nur auf Bachmanns Roman, sondern auch auf Elfriede Jelineks Drehbuch und Schroeters eigener Textinterpretation beruht (Kresimon 2004, 199‒256). Die Kürzungen und Vereindeutungen (gerade auch im Hinblick auf den ›Geschlechterkampf‹) in
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diesem dennoch palimpsesthaften Plot können ebenso beklagt werden wie die auf das filmgeschichtliche Renommee hin kalkulierte Ausbeutung der Arbeit einer Schriftstellerin durch einen männlichen Regisseur (Seiderer 1994, 18). Doch der Kamerablick, der zwischen intimer Nähe und voyeuristischem Begehren immer wieder die Gesichter von »der Frau« und Malina dem Publikum präsentiert (wobei sich »die Frau« dem Framing wiederholt entzieht), spiegelt die Frage nach der Choreographie des Visuellen, dem Begehren des Vater-Regisseurs, aber auch des lesenden Publikums auf den Roman zurück. Und die Gestaltung der Räume (Farbe, Ausstattung, Verwischung der Grenze zwischen Innen- und Außenraum etc.; vgl. Gleichauf 1995, 165) könnte die Topographie der realen und imaginären Orte in Malina neu beleuchten, die bislang kaum untersucht ist. Ebenso wären radiophone oder theatrale Adaptationen ‒ Otto Brusatti: Malina Suite (ORF/WDR 1985) und Malina (Textfassung: SophieThérèse Krempl, Regie: Mizgin Bilmin, UA Bern 2018) – im Sinn einer Adaptationsforschung und medienvergleichenden Deutung zu berücksichtigen. Auch die Kommunikationsmedien und -formen (Telefon, Brief) innerhalb des Romans ließen sich sicher noch weiter erforschen. Vielleicht teilt nicht jede(r) die Überzeugung, dass Bachmann eine »geniale Medientheoretikerin und Diskursanalytikerin avant la lettre« war (Weigel 1999, 27). Doch intertextuelle Analysen des Romans, die noch stärker aus kulturwissenschaftlicher und (inter)medialer Perspektive erfolgen, dürften für die Malina-Forschung in jedem Fall eine wünschenswerte Bereicherung darstellen. Ein weiterer Ansatz besteht zudem darin, der intertextuellen Adaptation von Bachmanns Malina in anderen Texten nachzugehen, so etwa in dem Werk der vietnamesisch-französischen Schriftstellerin Linda Lê (Kurmann 2016b). Quellen
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Britta Herrmann
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14 Das Buch Franza
Struktur und Inhalt
Ingeborg Bachmann hat den Roman über die Figur Franziska Ranner (Franza), der (laut Brief an Klaus Piper; Kommentar TKA 2, 397) im März 1967 erscheinen sollte, nie fertig gestellt. Nach einer kritischen Relektüre dessen, was im Sommer/Herbst 1965 bis Mai 1966 unter vielfachen Rückgriffen auf das Wüstenbuch (1964/65) entstanden war, brach Bachmann die Arbeit ab, es folgte eine Reorganisation des TodesartenKonzeptes; die Suche nach einer neuen ästhetischen Struktur mündete einerseits in die Überarbeitung der 1966 entworfenen Fanny Goldmann-Erzählung, andererseits aber in die ersten Arbeiten am Malina-Roman (Kommentar TKA 2, 397). Als Der Fall Franza erschien das Romanfragment erstmals 1978 in der vierbändigen Werkausgabe. Ingeborg Bachmann hatte diesen Titel neben anderen erwogen. Wie die kritische Ausgabe des Todesarten-Projektes von 1995 belegt, stützt eine Reihe von Briefen jedoch die These, dass Bachmann sich zuletzt für Das Buch Franza entschieden hat (vgl. auch Schlinsog 2005, 197). Damit wäre der Fokus von der in der Forschung vielfach ausgemachten Fallgeschichte (medizinisch, kriminologisch) stärker auf die biblische Dimension verschoben, auf die im Fragment mehrfach deutlich angespielt wird (so etwa schon mit der Kapitelüberschrift »Die ägyptische Finsternis« oder dem Namen ›Jordan‹). Obwohl bereits 1978 Kritiker konstatierten, dass der ›Bachmann-Sound‹ der 1950er Jahre »ein wenig ins Altern gekommen« sei (Krolow 1994, 259), fehlte in der Forschung lange Zeit die historische Distanz (vgl. Albrecht 1998a, 61). Poststrukturalistisch und feministisch orientierte Literaturwissenschaftlerinnen entdecken in dem Charakter des Unfertigen ein »Verfahren der Dekomposition« (Schuller 1984, 150) und die Dekonstruktion der epischen Ordnung (vgl. Weigel 1984, 87). So avancierte der Roman für manche zum poetologischen und programmatischen Herzstück der Todesarten (vgl. Schuller 1984, 150). 1986 wurde er verfilmt (Regie Xaver Schwarzenberger), 1993 wurde ein Hörspiel daraus gemacht (Schweizer Radio DRS/NDR, Regie Stephan Heilmann). Beide Adaptationen sind bislang jedoch von der BachmannForschung weitgehend unbeachtet geblieben.
Mit den Schauplätzen Kärnten, Wien und Ägypten gliedert sich der Text formal zunächst in drei Kapitel, jedoch erprobt Bachmann in den verschiedenen Arbeitsphasen mehrere Strukturmodelle, die ihre fortlaufende Suche nach der geeigneten Komposition dokumentieren (vgl. Gutjahr 1988, 58; Albrecht 1998b, 37). Die »außerordentliche Landkarte« (KS, 313; W 4, 239) der jeweiligen Schauplätze z. B. ist dichotomisch angeordnet: Kairo und die Wüste wiederholen dabei in ihrer Kontrastierung von Stadt und Land, Kultur und Natur, Fremdbestimmung und Selbstbestimmung (bzw. Unbestimmbarkeit) die Opposition von Wien und dem (fiktiven) Kärntner Heimatdorf Galicien. Trotz ihrer vermeintlichen geographischen Lokalisierbarkeit und trotz autobiographischer Parallelen zu Bachmanns eigener Ägypten-Reise 1964 markieren die genannten Orte eine imaginäre Topographie (TKA 2, 78), in der die Grenze zwischen dem psychosozialen Drama der Protagonistin Franza und dem historischkulturellen Raum aufgehoben ist (vgl. Gutjahr 1988, 47 f.). So steht die Wüste als Metapher für die innere »Verwüstung« der Protagonistin (TKA 2, 272) dem idyllischen Kärntner Gailtal gegenüber, welches die frühere Ursprünglichkeit und Intaktheit Franzas repräsentiert. Vorgeführt werden Stationen einer Reise »durch eine Krankheit« (TKA 2, 77) und zugleich die verschiedenen Etappen in der Rekonstruktion eines Geschehens, mit dessen Ergebnis das Fragment unvermittelt einsetzt: »Der Professor, das Fossil, hatte ihm die Schwester zugrunde gerichtet« (TKA 2, 131). Indem das Franza-Fragment dem »geistigen Massaker« innerhalb der Gesellschaft (TKA 2, 73) und in den »makabren Familienzusammenhängen« (TKA 2, 160) nachspürt, unternimmt es den Versuch, ›Faschismus‹ als »Wort für ein privates Verhalten« (TKA 2, 53) gleichsam neu zu entdecken (vgl. Brinkemper 1985, 163; vgl. Weigel 1993, 17). Dabei werden zahlreiche Bilder und Denkfiguren entwickelt, die später im Malina-Roman wieder auftauchen: etwa der Gaskammertraum und der Friedhof der Töchter als Bilder für die strukturelle Identität von Patriarchat und Faschismus, die schizoide Spaltung der Ich-Figur, das Problem von Erinnern und Erzählen. Wie Bachmann in einer Vorrede verdeutlicht, hat Literatur die Aufgabe, den alltäglichen Verbrechen und sublimen Todesarten in der Zivilisation ihre »schreckliche Poesie« zurückzuerstatten (TKA 2, 72). Damit bezieht sich Bachmann auf die Idee einer Literatur als Sittengeschichte, wie sie Jules-Amédée Barbey d’Aurevilly in dem Er-
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zählband Les Diaboliques (1874) und Honoré de Balzac in seinem Zyklus La comédie humaine entworfen haben (Kommentar TKA 2, 473). Ästhetisch wie philosophisch setzt sich Bachmann zudem auf ähnlich komplexe Weise mit dem Zusammenhang von Psychoanalyse, Faschismus und Kapitalismus auseinander wie Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem (späteren) Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972). Ein vergleichender Blick auf die Schreibweise, das rhizomatische Denken und die politischen Entwürfe fehlt allerdings bislang. Einerseits markiert das Franza-Fragment die alltägliche Gewalt als zeitunabhängig und universal – etwa durch den Verweis auf das Blaubart-Märchen (Schneider 1996). Andererseits ist die Verknüpfung des Privaten mit dem Politischen einem konkreten historischen Kontext geschuldet: Kurz bevor die ersten ›Weiberräte‹ sich im Umfeld der Studentenbewegung formieren, und kurz bevor ab 1969 die Rede von der Frau als »Neger aller Völker« (Schrader-Klebert 1969, 1 f.) die feministische Runde macht, präsentiert Bachmann – vielleicht in Anlehnung an Simone de Beauvoirs bahnbrechendes Buch Das andere Geschlecht (1949) oder aus ihrer Beschäftigung mit Texten des historischen Materialismus (GuI, 109) heraus – das Geschlechterverhältnis und die Ehe als eine hierarchische Institution, die nach dem Modell der Klassengesellschaft und der Rassendiskriminierung funktioniert. Rekonstruiert wird in dem Franza-Fragment zunächst die Geschichte der in Kärnten aufgewachsenen Franziska Ranner, die nach Kriegsende in Wien Medizin studiert, dort den berühmten Psychiater Leopold Jordan heiratet, von ihm psychisch zerstört und als Fallgeschichte verwertet wird. Franzas ›Fall‹ bildet zugleich die Kehrseite ihres sozialen Aufstiegs in die Wiener Gesellschaft, der jeweils durch die Liaison mit renommierten Männern erreicht wird. Zu Beginn des Romans flieht Franza aus einer Wiener Klinik in den Kindheitsort Galicien, wo ihr Bruder Martin sie findet, der ihren ›Fall‹ detektivisch zu rekonstruieren trachtet. Trotz ihres desolaten physischen und psychischen Zustandes bringt Franza den zunächst ablehnenden Bruder dazu, sie auf eine bevorstehende geologische Studienreise nach Ägypten mitzunehmen. Nach einer Vergewaltigung stirbt sie in Kairo. Soweit die histoire oder die story, von der Bachmann selbst wiederholt gesagt hat, dass sie im modernen Roman einen Inhalt wiedergibt, »der nicht der Inhalt ist« (TKA 2, 74; vgl. Rauch 1992, 42). Indem das Erzählen im Franza-Fragment seinen Ausgang von der Zerstörung der Protagonistin
nimmt, wird eine Art negative (weibliche) Anthropologie entworfen (Gutjahr 1988, 35), die von der Ganzheit zur völligen Auflösung und – in Abwandlung der Stationenreihenfolge aus Dantes Göttlicher Komödie – vom Kärntner Paradies über die Wiener Hölle ins »Purgatorium« (TKA 2, 248) der Wüste führt (Gutjahr 1988, 137). Die Austreibung aus dem Paradies beginnt mit der Pubertät und dem erotischen Frühlingserwachen Franzas. Anhand der weiblichen Geschlechtswerdung wird so der Übergang von der Naturgeschichte zur Kulturgeschichte reinszeniert (vgl. Weigel 1999, 522). Der ›Fall Franza‹ erscheint damit (aus Martins Erzählperspektive) auch als Sündenfall (Gutjahr 1988, 137). Teil des von Martin erinnerten Kindheitsparadieses ist die elternlose und erotisch besetzte Gemeinschaft von Bruder und Schwester. Sie zitiert als geschwisterliche unio mystica den ›anderen Zustand‹ siamesischer Verdoppelung, den Bachmann in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften vorfand (W4, 100; vgl. Hapkemeyer 1982, 52; Weber 1986, 56–63; Gutjahr 1988, 86–88). Mit dem Verweis auf den ägyptischen Mythos vom königlichen Geschwisterpaar Isis und Osiris wird diese ›Dyade‹ in einen vorchristlichen Kontext zurück versetzt, in dem weder das göttliche Verbot, das der ›Vater‹ dem biblischen Ur-Paar gegenüber ausspricht, noch das Inzesttabu Gültigkeit haben. Zugleich impliziert der einstige Kultsatz der Geschwister (»Unter hundert Brüdern...«) – eine Zitatparaphrase aus Robert Musils Gedicht Isis und Osiris – die Auflösung der Geschlechterdifferenz durch gegenseitige kannibalistische Inkorporation. Jenseits des Sündenfalls und der Ödipusgeschichte wird so ein alternatives Liebeskonzept entworfen (ähnlich Lennox 1984, 167; Weigel 1984, 80), das jenes »Unbehagen in der Kultur« umgeht, bei dem im Laufe der Geschlechtswerdung die Ablösung der symbolischen Positionen Sohn/Mann/Vater und Tochter/Frau/Mutter stets neu vollzogen werden muss (vgl. Freud 1974, 232 f.). Bachmann erteilt dem ›anderen Zustand‹ jedoch eine Absage (anders Thau 1986): Mit Einsetzen von Franzas Pubertät und mit Beginn des Friedens »war etwas dazwischengekommen« (TKA 2, 153), Franzas Liebe zum ›Besatzer‹ und Vater/Mann »Lord Percival Glyde« (TKA 2, 188) überführt Isis und Osiris in die durch Besitz und Macht strukturierte Ödipusgeschichte und das Wiederfinden der Geschwister erweist sich als »Mythos einer Kindheit« (TKA 2, 158). Galicien – später auch Ägypten – bilden Gedächtnisräume, mit deren Hilfe Martin die Schwester als starke Figur zugleich erinnert und bildlich entwirft.
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Demgegenüber sind Franzas Erinnerungen zunächst durch Erzählungen strukturiert, die im Text jedoch von Martin paraphrasiert werden (TKA 2, 174). Auch die Fragmente aus der »Jordanischen Zeit« geben nur partiell Franzas Perspektive wieder, nicht selten übernimmt ein auktorialer Erzähler. Erzählstrukturell gesehen gilt Franza nicht als Subjekt ihrer eigenen Geschichte, sondern als erzähltes Objekt (Grimkowski 1992, 18). Dies mag damit zusammenhängen, dass im ursprünglichen Romanentwurf nicht Franza, sondern Martin als Hauptfigur geplant war (vgl. Tabah 1998, 99). Statt daher aus dem stärker monologisch strukturierten dritten Kapitel eine narrative Emanzipation Franzas zu rekonstruieren (so Hapkemeyer 1982, 61– 67; Tabah 1998, 104), lässt sich eher vermuten, dass der fragmentarische Text insgesamt verschiedene Erzählkonzepte erprobt. Die fließenden Übergänge zwischen verschiedenen Erzählperspektiven und Erzählhaltungen, das Fehlen von Sprechermarkierungen und das Verschalten verschiedener Textebenen erzeugen zudem eine Polyphonie, die jenem »Ich ohne Gewähr« (KS, 287; W 4, 218) entspricht, das Bachmann in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen umkreist hat, und einer modernen Ästhetik, wie sie von Hugo von Hofmannsthal über Samuel Beckett bis Michail Bachtin führt (Wilke 2007). Zugleich wird die Erzählproblematik im FranzaFragment mit der Erinnerungsproblematik enggeführt. Statt wie »früher« die Vergangenheit narrativ zu ordnen und verfügbar zu machen, wird Franza nach der »Jordanischen Zeit« von traumatischen Bildern und verdichteten Wiederholungsszenen der Gewalt überschwemmt (TKA 2, 213). In dieser ›anderen Erinnerung‹ bleibt die Vergangenheit auf distanzlose Weise präsent (Rauch 1992, 44). Dementsprechend vermischen sich im zweiten Kapitel die beiden Erzähltempi Präteritum und Präsens. Wie später im MalinaRoman liegt die adäquate Form der Darstellung letztlich in der Traumlogik (TKA 2, 228–230; vgl. Göttsche 1990, 110 f.). Teilweise wurde hier auch die narratologische Ordnung einer Hysterikerin ausgemacht (Runte 2005). Doch greift eine ausschließlich psychoanalytische Deutung zu kurz, findet hier doch auch eine Auseinandersetzung mit existenzphilosophischen Begriffen wie Angst (und Freiheit), Nichts (und Sein) statt. In diesem Zusammenhang ist nicht nur, wie in der Forschung üblich, auf Bachmanns Auseinandersetzung mit Heidegger zu verweisen (vgl. etwa Kellermann 2000), sondern überhaupt auf den philosophischen Diskurs über die Angst, insbesondere den französischen Existentialismus (Göttsche 2004).
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In der traumatischen Erinnerung überlagern sich individuelle und kollektive Geschichte. Denn indem Jordan Franza zum Versuchsobjekt macht, gleicht er den Angeklagten des Nürnberger Ärzteprozesses (s. dazu auch die Hinweise zu Bachmanns Lektüren bei Schlinsog 2005, 208‒216), und die von ihm gegen Franzas Willen eingeleitete Abtreibung wird zum verspäteten Euthanasieprojekt (Lennox 1984, 164). Als medizinischer »Spätschaden« (TKA 2, 215) rückt Franza durch metonymische Verschiebung in eben jene symbolische Position jüdischer Opfer, die ihr bereits durch ihren Herkunftsort und durch ihre Sprache zugewiesen wird: Mit der Umbenennung des Gailtals in Galicien hat Bachmann eine topographische Chiffre geschaffen, in der der Kärntner Lebensraum der deutsch-slowenischen Minderheit der Windischen mit der habsburgischen Enklave des polnischen Galizien verknüpft wird (vgl. Wertheimer 1996, 226 f.). Auf diese Weise erinnert Bachmann an den strukturellen Zusammenhang zwischen der Judenvernichtung und der ethnischen ›Homogenisierung‹, bei der 1941 annähernd tausend ›nicht eindeutschungswillige‹ Kärntner Slowenen gewaltsam vertrieben und in Lager ins ›Altreich‹ verschleppt wurden. Und obwohl sich Franza sehr wohl assimiliert – sie findet aus der windischen Sprache akzentfrei heraus und gibt sogar ihren Namen (erst den Vornamen, dann den Nachnamen) auf (TKA 2, 153) –, behält sie die Position der Marginalisierten und ethnisch Kolonisierten. Auf die verdeckte Wiederkehr des biologistischen, ›epidermisierten‹ Rassismus in der Konstruktion des soziokulturell Anderen hat 1952 Frantz Fanon hingewiesen (vgl. Fanon 1980, 120). Wie genau Bachmann mit dieser Diskussion vertraut war, ist noch umfassender zu erforschen (vgl. jedoch bereits Albrecht 1998a) und intertextuell auszuloten. Wenn Fanon etwa in seiner Kritik an C. G. Jung eine ethische Verschiebung vorführt, die das kolonisierte Subjekt spaltet in ein verinnerlichtes ›weißes‹ kollektives Unbewusste und in das Körperzeichen der ›schwarzen‹ Haut (Fanon 1980, 121), zeigt Bachmann die gleiche Diskrepanz zunächst zwischen der ›weißen Maske‹ von Franzas Wiener Existenz und ihrer »goldene[n] gallizische[n] Haut« (»ich ausgeweidet, mit Wiener Stroh ausgestopft«; TKA 2, 230). Als eine der »Eingeborenen« (TKA 2, 262) scheint die galicische »Wilde« in Ägypten, gleichsam von der kulturellen Entfremdung geheilt, wieder aufzuerstehen, die zitternde Franza – eben noch »tot und weiß« (TKA 2, 173) – wird zunächst »braun und fest« (TKA 2, 265). Doch dient die vorgebliche Entsprechung von Topographie und Kör-
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perzeichen vor allem dazu, die Dynamik der kulturellen (und geschlechtlichen) Diskriminierung zurück zu übersetzen in den Kontext von Rassismus und Kolonisation. Indem Bachmann die weiße Frau Franza als Metonymie der Freudschen Metapher von der Weiblichkeit als ›dunklem Kontinent‹ vorführt, verbindet sie das Jordansche Projekt psychischer Enteignung mit der Kolonisation Afrikas (Lennox 1998, 14). Bachmann wählt für den Prozess der Metamorphose die gleiche Metapher wie Verena Stefan 1975 in ihrem feministischen Bestseller Häutungen (TKA 2, 206). Aber im Buch Franza geht es weniger um einen Neuanfang als um die gewaltsame Formierung des Körpers durch Kultur und Geschichte, die Franzas Transformation auch beim zweiten Mal offen legt: ein Würgemal am Hals (TKA 2, 208), jedes Wort führt zu Erstickungsanfällen, die Haut wirft platzende Blasen (TKA 2, 206), bevor sie sich löst. Franzas körperliche Reaktionen markieren so die Schnittstelle zwischen einer somatischen Sprache des Unbewussten und ihrer historischen Deutung und Bedeutung (vgl. Weigel 1994, 49 f.). In Ägypten bilden sie zudem das Medium für ein aus der europäischen Geschichte ausgeschlossenes, ›fremdes‹ Gedächtnis. An die Seite der bisherigen hysterischen Anfälle treten nun magische Praktiken der Einverleibung, welche die Kolonialgeschichte gleichsam pars pro toto vorführt (vgl. Cassirer 1964): Indem Franza, das Wiener ›Strohpräparat‹ (TKA 2, 230), mimetisch zur »Mumie« wird (TKA 2, 269), vergegenwärtigt der von Jordan »beleidigt[e]« (TKA 2, 271) und geschändete Körper die Schändung der Pharaonengräber durch weiße Archäologen. Umgekehrt wiederholt die Störung der kultischen Totenruhe durch die Überführung der Mumien in das Kairoer Museum Jordans systematische Zerstörung von Franzas natur- und sprachmagischer Weltauffassung (TKA 2, 171, 230). »[I]m Übergang zu etwas nicht Erkennbarem« (TKA 2, 287) verdoppelt sich so nicht nur Franzas Körper (TKA 2, 283), sondern auch ihr Selbst. Seit Betreten der Wüste nimmt sie die Stimme eines ›anderen‹ Ich wahr, mit dem sie um ihre Identität ringt (TKA 2, 251). Nicht zufällig wird damit auf biblische Verkündigungsszenen angespielt (Weber 1986, 223): Sowohl zu Moses als auch zu Johannes dem Täufer, der die neuen Christen bezeichnenderweise im Jordan tauft (Mt 3,1– 6), auch den aus dem ägyptischen Exil nach Israel zurückgekehrten Jesus (Mt 3,13–17), bildet Franza eine Gegenfigur, und die zitierte Passion Christi (Zeller 1998, 34; Weber 1986, 222) mündet letztlich nicht in eine (weibliche) Heilsgeschichte, sondern – mit der
zerbrochenen Trinität von Vater, Gott und Leo Jordan (Patriarchat, Religion und Wissenschaft) – in die eigene »Dekomposition« (TKA 2, 287). Die »andre Stimme« (TKA 2, 323) wird endgültig freigesetzt, wenn Franza sich als Reaktion auf die erneute Vergewaltigung durch einen ›Weißen‹ den Kopf an einer der Pyramiden in Gizeh einschlägt. Nicht nur wird das Hirn als metonymischer Ort des Rationalismus und als Gegenbewegung zum geistigen Enteignungs- und Kolonialisierungsprozess »in einem braunen oder schwarzen Gehirn« zerstört (TKA 2, 278). Vielmehr versucht Franza offenbar auch, stellvertretend für die entfernten Mumien, gleichsam mit dem Kopf durch die Wand in das mythologische Totenreich der Ägypter zurückzukehren. Das nach dem Bau des Assuan-Staudammes vom Nil überflutete Wadi Halfa erscheint denn auch nicht nur deshalb als der eigentlich letzte Bestimmungsort Franzas (TKA 2, 328), weil sie dort – aufgehoben in einer utopisch gestalteten Völkergemeinschaft – am glücklichsten war, sondern Wadi Halfa wäre auch der Ort, mit dem Franza erneut und endgültig in jenem Nilschlamm verschwinden könnte, der als Symbol für den Totengott Osiris gilt. Darin angedeutet ist nicht nur eine Absage an die christlich-jüdische Religion und eine mythische Reinszenierung der geschwisterlichen Vereinigung, sondern auch ein Gegenmodell zum psychoanalytischen Projekt der Erkundung unbekannter Seelenräume – einer »Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee« (Freud 1991, 81): Im Nil, dem »Überschwemmer«, bleiben die Dinge im Verborgenen ›aufgehoben‹, die »ägyptische Finsternis [...] ist vollkommen«. Sie wird zum Zeichen für das Vergessen und für das Nicht-Repräsentierbare und birgt zugleich beides wie eine »Laterne« in sich (TKA 2, 333).
Kultur und Geschlecht Die von Bachmann vorgeführten »Todesarten« zielen auf Erfahrungen der Vergewaltigung, Unterwerfung und Enteignung in ihrer individuellen, historischen und gesellschaftlich-kulturellen Dimension und werden im Buch Franza entlang der Achsen von gender, race und (weniger offensichtlich) class vorgeführt (für eine Wiederentdeckung der letzten Achse plädiert Albrecht 2016). Indem diese Achsen jedoch jeweils ineinander verschoben werden, drohen die jeweiligen »Todesarten« ihren spezifischen historischen und kulturellen Kontext zu verlieren. Mit dem Rückzug aus der Geschichte in den Mythos, der Verknüpfung von
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Weiblichkeit und Magie, der Frau als Wildnis und Wilde sowie als Repräsentation des ›Anderen der Vernunft‹ verwendet Bachmann jene zeitlichen, topographischen und ideengeschichtlichen Topoi, mit denen auch feministische Ansätze versucht haben, eine weibliche Existenzweise zu entwerfen, die jenseits der Grenzen einer dominanten ›männlichen‹ Kultur liegen. Doch reproduzieren diese Topoi, wie nicht zuletzt die Kritik der black feminists seit den 1980er Jahren gezeigt hat, auf problematische Weise jenen männlichen, ›weißen‹ Blick, der seit der Aufklärung die »wahre[n] Wilde[n]« und das »Mysterium« in den Frauen sieht (Diderot 1953, 172 f.). Zudem wiederholt die Kontrastierung von ›weißem Rationalismus‹ und ›orientalischer‹ Entgrenzung innerhalb des Romans (Haschischrausch, [Homo-]Sexualität) jenes Bild des Orients, mit dessen Hilfe und durch dessen Ausgrenzung sich Europa konstituiert hat (Lennox 1998, 19) – auch wenn Bachmann im Wüstenbuch noch versucht, mit dieser Gegenüberstellung eine (von der Forschung bislang nicht weiter beachtete) transgeschlechtliche Liebesutopie zu entwerfen und die Gewalt zwischen den Geschlechtern als ein Produkt heterosexueller Männlichkeitskonstruktion vorzuführen (TKA 1, 247–249). Möglicherweise ist dies auch der Grund, warum der nachfolgende Malina-Roman auf den Schauplatz Wien beschränkt blieb: Es gibt im Franza-Text einige versteckte Hinweise auf die Fragwürdigkeit der Alteritätswahrnehmung der ProtagonistInnen (Albrecht 1998a, 85). So wird Franza, genauso wie ihr Bruder Martin (»ein Weißer [unter] Weißen«; TKA 2, 331), selbst als Teil der kritisierten kulturimperialen Weltsicht charakterisiert, und dies nicht nur aufgrund ihres CocaCola-Bedarfs in der Wüste (Lennox 1998, 20 f.): Zur Stabilisierung der eigenen Identität und aus Karrieregründen entwirft Franza sich etwa schon in Wien als heroische Retterin »der Neger oder der Überschwemmten« (TKA 2, 234). Sie konstruiert so jene Dichotomie von Opferposition und (kultureller) Überlegenheit, innerhalb derer sie später lediglich die Seiten wechselt, um sich dabei das selbst entworfene ›Andere‹ regelrecht einzuverleiben (vgl. etwa Weber 1993, 109). Dabei interpretiert Franza unter Vernachlässigung der historischen Fakten Teile der Kolonialgeschichte derart ichbezogen um, dass darin entweder ein narrativer Kunstgriff zur Figurencharakterisierung gesehen werden kann, der im Sinne eines »kritischen Exotismus« (Diallo 1998, 34) die europäischen ›Orientalismen‹ Franzas wiederholt und sie zugleich offen zu legen versucht (Lennox 1998, 15). Oder es steht zu vermuten, dass gerade die zuletzt eingefügten und
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nicht weiter überarbeiteten Passagen über den Genozid an den Aborigines lediglich das historische Wissen der Zeit widerspiegeln bzw. schlicht Fehlinformationen enthalten (Albrecht 1998). Dabei wäre auch genauer zu untersuchen, wie Bachmann mit der Sekundärliteratur, den zahlreichen hinzugezogenen Reiseführern und Dokumentationen über Ägypten verfährt (vgl. Weber 1993, 106 f.; Lennox 1998, 18). So werden die Verhaltensregeln für Europäer durchaus ironisiert (TKA 2, 258 f.), und der Filmbericht, den sich Martin bei den Altenwyls ansieht, ist »mit den erinnerten Bildern [nicht] übereinzubringen« (TKA 2, 329). In jedem Fall zeigt sowohl der Text als auch die lange Zeit unkritische Rezeption der in der BachmannForschung vielzitierten Selbstidentifikation Franzas (»ich bin eine Papua«; TKA 2, 232), mit welchen Topoi der europäische Diskurs und die ›weiße‹ Literatur Alterität konstruieren: Indem Bachmann Franza durch verschiedene intertextuelle Übernahmen und Verweise gleichsam in die Rolle des lyrischen Ich aus Arthur Rimbauds Prosagedicht-Zyklus Une saison en enfer einpasst, wiederholt Franza dessen hierarchisierende Setzung des Fremden als ein unterlegenes, aber utopisches Prinzip (vgl. Göttsche 1991, 149 f.; Lennox 1998, 16). Auch hier ist bislang unklar, ob der Verdacht der ›literarischen Kolonisation‹ (Brinker-Gabler 1993, 98; vgl. Weber 1993, 106) begründet ist, oder ob Bachmann zugleich Kritik an Rimbaud üben wollte. Ihr intertextuelles Verfahren beschränkt sich jedenfalls offenbar auf europäische Autoren – obwohl sich in Bachmanns Bibliothek zumindest auch Aimé Césaires Drama Im Kongo. Ein Stück über Patrice Lumumba (1966, dt. 1966 mit einem Essay von Jean-Paul Sartre) befand: Neben Dante, Barbey, Musil, Rimbaud und Max Frisch werden in der Forschung bislang vor allem Wilkie Collins’ Schauerroman The Woman in White (1860, dt. 1965) und T. E. Lawrences autobiographischer Bericht über den arabischen Aufstand (1916–18), The Seven Pillars of Wisdom (1926), genannt. Dabei bliebe noch zu erkunden, welche Rolle der Bezug gerade auf romantisierende Orientberichte und auf Autoren der europäischen Décadence spielt und inwiefern sich die Zitierpraxis im Franza-Fragment von dem gedenkenden Dialog mit Paul Celan im Malina-Roman unterscheidet (vgl. Weigel 1999, 411– 435). Offenbar entspringt die »andre Stimme« im Text nicht zufällig dem Kopf einer ›white lady‹ und bleibt als pure Negation der ›Weißen‹ erneut auf dieselben fokussiert, ohne einen interkulturellen Dialog in Gang zu setzen. Doch mag dies auch dem historischen Kontext geschuldet sein: Statt Bachmann vorschnell als
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postkoloniale Autorin vereinnahmen (oder kritisieren) zu wollen (vgl. dazu Uerlings 2006; Albrecht 2016), gilt es daher zunächst ihre Auseinandersetzung mit der sogenannten Neokolonialismus-Debatte in den 1960er Jahren zu untersuchen (Albrecht 1998a). In der Forschung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass es Franza als einziger Protagonistin der Todesarten möglich ist, sich ihrer doppelten Position als Opfer und Mittäterin bewusst zu werden und die ›weiße‹ Instanz in sich zu zerstören. Damit hätte Franza jene »blutige Operation« und jene Rückkehr zum »Eingeborenenstatus« vollzogen, die Sartre im Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde auf die Europäer zukommen sieht: »der Kolonialherr [wird] ausgerottet, der auch in jedem von uns steckt« (Fanon 1966, 20, 24). Fanons Buch erschien bereits 1961, wurde 1965 ins Deutsche übersetzt, in der Zeitschrift Kursbuch vorabgedruckt und 1966 im Suhrkamp-Verlag publiziert. In den frühen Entwürfen zum Franza-Roman wird das Bewusstsein der Mittäterschaft allerdings noch Martin zugeordnet, der Franza stellvertretend für alle Frauen als »willige Vertreterin eines verbrecherischen Systems« (TKA 2, 6) bezeichnet und so mit dem gängigen geschlechtsspezifischen Masochismusverdacht belegt. Ob es Franza tatsächlich gelingt, gerade durch ihren Tod jenes Denken zu überwinden, dass »zum Sterben führt« (TKA 2, 78; vgl. Lennox 1984, 163, 175; Weigel 1984, 83; Gutjahr 1988, 182; Riedner 1996, 328 f.), bleibt auch in der letzten Fassung fraglich: Im Roman verhallt die »andre Stimme« ungehört, eine konkrete Utopie wird nicht entworfen – es sei denn im Sinn einer Rückkehr vor die Geschichte der Kolonisation (Weigel 1984, 86). Eine solche regressive Wendung dürfte jedoch eher der europäischen Romantik als den antikolonialen Befreiungsszenarien der 1960er Jahre entsprechen (vgl. Fanon 1966, 45). Und auch im Wüstenbuch erscheint der Selbstmord durchaus nicht als Akt der Befreiung oder des Widerstandes, sondern als Verzweiflungstat aus »Ohnmacht« gegenüber dem Stärkeren, denn Frauen »können nur sich selber den Tod geben. Sie können nicht herausfordern, zum letzten Gefecht« (TKA 1, 248). Franzas Austritt aus der Geschichte – der historischen wie ihrer eigenen – erkennt die Macht des Stärkeren an und macht sie zugleich durch deren Reinszenierung sichtbar (vgl. Weigel 1993, 17). Symptomatisch hierfür ist etwa die Begegnung mit dem Nazi-Arzt Körner in Ägypten, nicht zufällig ein Mode-Arzt der »amerikanischen Kolonie« (TKA 2, 299), den Franza aufsucht, um die gleiche »toxische Dosis« (TKA 2, 315)
zu verlangen, die er den Opfern seiner Versuche während des faschistischen Euthanasieprogramms verabreicht hat. Ihm bringt sie damit – stellvertretend für Jordan – »das Fürchten« bei (TKA 2, 317), denn ihre »Ausmerzung« ruft als Wiederholungsakt genau das in Erinnerung, was in den historischen Nürnberger Protokollen – und im Gedächtnis der Täter – als Lücke markiert ist: »Und: das weiß ich nicht. Und: darüber war mir nichts bekannt« (TKA 2, 306).
Gedächtnis und Geschichte Franza leidet nicht nur an der in Wien erlittenen psychischen Zerstörung, sondern auch an einer »Krankheit des Damals« (TKA 2, 170), die mit dem Zusammenbruch des ›Hauses Österreich‹ begann, so dass sich letztlich die Frage stellt, wie die »Geschichten aller« und die »große Geschichte« zusammenpassen (TKA 2, 270). In ihren Frankfurter Vorlesungen hat Ingeborg Bachmann darauf hingewiesen, dass sich das Ich »nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält« (KS, 299; W 4, 230). Während in Malina vor allem die mit dieser Geschichtsvorstellung verbundene Erzähl- und Subjektproblematik in den Vordergrund rückt, betont das Franza-Fragment die geschichtsphilosophischen Implikationen. Dabei scheint Bachmann nicht zuletzt den Gedächtnistheorien Walter Benjamins verpflichtet zu sein, dessen Werke sich zum Großteil in ihrer Privatbibliothek befanden (vgl. Weigel 1994, 96). Wie Benjamin geht Bachmann (mit Freud) davon aus, »daß das Gedächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz« (Benjamin 1985, 486), und offenbar hat sich die Autorin auch an Benjamins Diktum orientiert, dass »die Erinnerung nicht erzählend«, sondern »episch und rhapsodisch« vorgehen müsse (ebd., 487). Anders als Benjamin erprobt Bachmann den Zusammenhang von Gedächtnisformen und Geschichtskonzepten anhand von geschlechtlich und kulturell divergierenden Modellen. So wird das Gedächtnismodell der Lagerungen, Schichten und Fundstellen dem Geologen Martin zugewiesen, der mit der Hinwendung zur Erdgeschichte aus einem linearen in ein vertikales Geschichtsmodell überwechselt. Individuelle wie kulturelle Verlust- und Schmerzerfahrungen werden dadurch zum Naturereignis (TKA 2, 191 f.). Das bei Benjamin mit dem Schichtungsmodell verknüpfte Ideal der »sorgsamsten Durchforstung« (Benjamin 1985, 486) hingegen wird dem Psychiater und
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Psychoanalytiker Jordan zugeordnet, wandelt sich dabei von der Selbst- zur Fremdbeobachtung und mündet in einen »Bedeutungswahn« (TKA 2, 216), der Franzas Erinnerungen zu Fehlleistungen erklärt (TKA 2, 186 f.). Auf diese Weise können Gedächtnis und Geschichte des (weiblichen, kolonialen) Anderen angeeignet und solchermaßen neu konstruiert werden, dass das vormalige Subjekt allenfalls noch als Objekt darin anwesend ist. Der Beobachter wird so gleichsam zum allwissenden Erzähler (Brinkemper 1985, 163). Als drittes Modell führt Bachmann die Mnemonik des Schmerzes vor, die sowohl an das Körpergedächtnis (TKA 2, 278) als auch an das Namensgedächtnis (TKA 2, 171) rückgebunden wird. Franzas Geschichtsmodell ist einerseits eines der Wiederholung, andererseits entspricht es dem österreichischen Nachkriegsmodell einer rückwärtsgewandten ›Heilung‹ und eines ›Austritts aus der Geschichte‹. Dieses negative Geschichtsmodell, in dem sich Franza – wie Österreich – ausschließlich als Opfer positioniert, enthält den Wunsch nach einem Schmerz- und »Gedächtnisverlust« (TKA 2, 170, 278), aber erst im Tod tritt Franza gleichsam in das »Haus Österreich« wieder ein und »in ihren wirklichen alten Namen« (TKA 2, 170). Wie der im Krieg gefallene Vater in Ägypten gestorben, wird sie nun bei der Mutter im ›antikolonialen‹, vielsprachigen Dreiländereck begraben. Bei der Beerdigung verweist Franzas verpasster Austritt aus der Kirche (TKA 2, 329) jedoch auf ihren (vergeblichen) Versuch, die (Religions-)Geschichte auf anti-paternale Weise neu zu lesen. Wenn sie etwa den von Martin anempfohlenen James Henry Breasted (TKA 2, 173), Autor von History of Egypt (1906) und The Dawn of Conscience (1934), zurückweist, so zielt dies indirekt auch gegen Sigmund Freuds Arbeit Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939). Freud entfaltet Breasteds These, dass die Wurzeln der monotheistischen Religion in Ägypten zu finden sind und auf die Regierungszeit jenes Pharaos zurückgehen, der nach Martins Einschätzung die Bildnisse seiner Vorgängerin Hatschepsut zerstören ließ. Indem sich die Wissenschaftlerin Franza mit deren Geschichte identifiziert, wird einerseits die Religionsgeschichte revidiert und eine ›weibliche‹, magisch-mythische Alternative angedeutet. Andererseits führt gerade diese Revision altbekannte eurozentrische Modelle der kulturgeschichtlichen Entwicklung vor, deren Stufen – magisch-mythisches Weltbild, Religion, Wissenschaft (Freud 1960, 108; Cassirer 1964, Bd. 2, 32 und Bd. 3, 91) – lediglich neue, umgekehrte Vorzeichen erhalten.
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Schrift und Lektüre Eng verbunden mit den Gedächtnisformen und Geschichtsmodellen ist die Frage der Repräsentation. Franzas somatisches und traumatisches Gedächtnis setzt ein, nachdem alles, was sie »je sichtbar getan hatte«, aus der symbolischen Ordnung verdrängt worden und unsichtbar geworden ist (TKA 2, 209). Als CoAutorin von Jordan aus dem gemeinsamen Buch über die Nürnberger Ärzteprozesse ausgelöscht, wird sie zum Objekt von Jordans Schrift und bildet nun selbst einen Text, den es zu deuten gilt: »zerblättert« (TKA 2, 208), gelesen und als ›Fall‹ in Jordans Stenokürzeln neu verschriftet. In der Forschung ist mit guten Gründen darauf hingewiesen worden, dass dies – wie überhaupt das ganze Fragment – als Teil einer Auseinandersetzung mit dem literarischen Verfahren Max Frischs gelesen werden kann (Albrecht 1989a, 112). Das sollte jedoch nicht zu biographischen Kurzschluss-Lektüren verführen. Denn zugleich entwickelt der Text ein alternatives Schriftmodell, das freilich nur bedingt als ›weibliche‹ Schreibweise und Dekomposition der Schrift (Schuller 1984; Weigel 1984) gedeutet werden kann, sondern – wie die Theorien der écriture féminine selbst auch – vielfach auf sprachphilosophischen Überlegungen der Moderne basiert. Statt nämlich wie Martin die von Jordan wegge schlossenen Brieffragmente Franzas, die wiederholt auf etwas verweisen, das sich nicht in Worte fassen lässt, als einen missratenen Text zu deuten (»ein unglücklich formulierter Satz [...]. Peinlich«; TKA 2, 146) oder als das graphologische Dokument einer verfehlten Entwicklungsstufe zu werten (TKA 2, 145, 216 f.) und auf diese Weise Schrift lediglich als Symbolsystem wahrzunehmen, scheint Bachmann dafür zu plädieren, das mimetische Vermögen der Sprache neu zu entdecken. Dies erfordert ein Lektüremodell, das Sprache nicht allein als »Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich [als] Symbol des Nicht-Mitteilbaren« begreift (Benjamin 1977a, 156). Und es erfordert eine Schrift, in der Subjekt und Objekt des Geschriebenen identisch sind. Eine solche Schrift findet Franza in den ägyptischen Hieroglyphen: »Ihr habt euch gut beschrieben« (TKA 2, 291). Ausschlagge bend ist für Bachmann jedoch offenbar weniger eine Rückkehr in ein Medium der sinnlichen Ähnlichkeit, die am Übergang zwischen Körperlektüre und alphabetischer Schrift steht (vgl. Benjamin 1977b, 213). Wichtig ist vielmehr das Material der Schrift: Im (Grab-)Stein bleibt noch in der Tilgung der Symbole das Ausgelöschte als »Lebenszeichen« sichtbar (TKA
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2, 291, vgl. 169 f.). Eine Lektüre solcher Leerstellen ermöglicht einerseits eine Geschichte der »Zerstörungswut« (TKA 2, 274), die am Ende offenbar auch Martin erlernt hat (TKA 2, 330), andererseits entziehen sich die »ausgekratzten Zeichen« (TKA 2, 274) der Reduktion auf die Symbolfunktion der Sprache (Weigel 1984, 85). Die Differenz zwischen Aufzeichnung und Gedächtnis zeigt sich am Ende auch in dem Ägyptenfilm, der mit Martins Erinnerungsbildern nicht übereinstimmt, und verweist zurück auf den Anfang des Romans. Hier wird ein poetologisches Programm entworfen, das aus der Fiktion Erkenntnisse über die reale Welt zu gewinnen sucht, denn das »Wortgeröll« spielt stets auf etwas an, »das es gibt, und auf anderes, das es nicht gibt« (TKA 2, 133). Diese narrative Doppelfunktion, die bekanntlich seit Aristoteles zur Aufwertung der Fiktion gegenüber der Geschichtsschreibung gedient hat, charakterisiert Bachmann in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen als Differenz zwischen symbolischer und imaginärer Ebene: In jedem großen literarischen Werk sei etwas »verblüht, verwittert« (KS, 333; W 4, 258), so dass ein Mangel entsteht, in den Neues eingetragen werden kann. Insofern eröffnet Literatur die utopische Möglichkeit, gerade das zu lesen, was nie geschrieben wurde (Benjamin 1977b). Quellen
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Literatur
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Britta Herrmann
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II Das Werk – B Erzählprosa
15 Andere unvollendete TodesartenTexte Neben dem Romanfragment Das Buch Franza, dem am weitesten ausgearbeiteten und am breitesten rezipierten der unvollendeten Todesarten-Texte, enthält der Nachlass der Autorin Entwürfe zu ihrem ersten Todesarten-Roman, der die Keimzelle des TodesartenProjekts darstellt, zu den beiden als Anschluss an die »Ouvertüre« Malina geplanten Teilen des TodesartenZyklus (dem parallel zu Malina entstandenen Goldmann/Rottwitz-Roman sowie der Erzählung Gier aus dem Umfeld der Simultan-Erzählungen) und zu der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann, einer Zwischenstufe zwischen der Fanny-Geschichte des ersten Todesarten-Romans und der Fanny Goldmann-»Todesart« des Goldmann/Rottwitz-Romans. Während Ingeborg Bachmann im Buch Franza und auch in Malina in der Tradition des Individualromans die »Todesart« einer weiblichen Figur zur Grundlage der Darstellung und Reflexion gesellschaftlicher Gewaltstrukturen in den Nachkriegsjahrzehnten macht, schließt sie im ersten Todesarten-Roman und im Goldmann/ Rottwitz-Roman an das vielfigurige, polyzentrische Strukturmodell des Gesellschaftsromans an. Mit der polyzentrischen Anlage ihres geplanten Gesellschaftsromans bringt Bachmann im Sinne einer kritischen literarischen Sittengeschichte die Gewaltstrukturen des Alltags, insbesondere der Geschlechterverhältnisse, und die Auseinandersetzung mit der europäischen und österreichischen Geschichte im Zeichen des Nationalsozialismus in einen ästhetischen Reflexionszusammenhang (Göttsche 1992 und 1998a). Die poetologischen Grundlagen dieses Zusammendenkens von privater Geschichte und Weltgeschichte hat Bachmann sich zum Teil schon früher erarbeitet, und zwar besonders in einer aus zwei komplementären Aspekten zusammengesetzten Denkfigur, die aus der Arbeit an den Frankfurter Vorlesungen und an den Erzähltexten derselben Zeit erwachsen ist (Albrecht 2003): Sie verbindet die Einsicht, dass die Geschichte im Einzelnen ihre Spuren hinterlässt (komprimiert in der vielzitierten Formel der »Geschichte im Ich«; KS, 299; W 4, 230), mit der Zurückführung der »politische[n] Geschichte auf den sozialen Alltag der Gesellschaft« (Göttsche 1998b, 56), die in der zeitgleichen Reflexion über die »eigene Geschichte« und »die große Geschichte« formuliert wurde (TKA 1, 60; vgl. auch 51 f., 53, 54 f.). Diese für das Todesarten-Projekt insgesamt leitmotivische wechselseitige Verschränkung
von Lebensgeschichte und politischer Zeitgeschichte, von Zeitkritik und Reflexion des Geschlechterverhältnisses ist in der dreischrittigen Ausgestaltung der Fanny Goldmann-Geschichte besonders augenfällig, während im Gier-Fragment die kriminalliterarischen Elemente der Todesarten-Texte einmal ganz in den Vordergrund rücken.
Erster Todesarten-Roman Ingeborg Bachmanns erster Todesarten-Roman (Eugen-Roman II), an dem sie in den Jahren 1962 bis 1965 gearbeitet hat, ist erst in der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts (1995) aus dem Nachlass rekonstruiert worden. Während sie in ihren Romanentwürfen der 1950er Jahre nach dem Modell des Entwicklungsromans die Nachkriegszeit im Spiegel der Erfahrungen von Kriegsheimkehrerfiguren reflektiert hatte (Ein Fenster zum Ätna, Eugen-Roman I), legt sie ihren ersten Todesarten-Roman als den »Entwurf eines vielfigurigen Wiener Zeitromans« an, »in dem sich unterschiedliche ›Geschichten‹ wechselseitig beleuchten« (Göttsche 2000, 23). Den Ausgangspunkt dieser polyzentrischen Zeitreflexion bilden zunächst die Erfahrungen des männlichen Protagonisten Eugen, einer veränderten Wiederaufnahme des Kriegsheimkehrers Eugen Tobai aus dem Romanfragment 〈Eugen-Roman I〉, nun konzipiert als ein habilitierter Historiker, der »die Geschichte« »zu verwalten« hat (TKA 1, 115, 162). Als Historiker verbürgt Eugen den zeitkritischen Blick des Romans auf die gesellschaftliche Entwicklung Österreichs (und insbesondere des Schauplatzes Wien in der Nachkriegszeit) und zugleich die Auseinandersetzung mit österreichischer Geschichte und österreichischem Geschichtsbewusstsein vom Zusammenbruch des Habsburgerreiches über die Erfahrung des Nationalsozialismus bis zum Kalten Krieg. In diesem Sinne erzählt das »I. Kapitel / Ein seltsamer Klub« von Eugens Initiation in einen politischen Geheimbund, der mit Hilfe einer Art symbolischer »Waschmaschinen« Österreichs »Austritt aus der Geschichte« betreibt und nach einer »andren Bestimmung« der Menschheit sucht (TKA 1, 97). Er bedient sich dabei aber auf zynische Weise jener Art von »Gefühlsversuche[n]«, »Liebesversuch[en]« und »Furcht- und Mut-Untersuchungen« (TKA 1, 99 f.), die an die Menschenversuche einer präfaschistischen Organisation im Berlin der 1920er Jahre erinnern, wie sie in Ingmar Bergmanns Film Das Schlangenei (1976; vgl. Bergmann 1977) thematisiert werden. Wenn-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_15
15 Andere unvollendete Todesarten-Texte
gleich eine potentielle gemeinsame Quelle von Bachmann und Bergmann für diese Versuche bislang noch nicht ermittelt ist, drängt sich doch der Gedanke auf, dass Eugens unmotivierte Anfälle von Todesangst auf einen entsprechenden Einfluss des ›seltsamen Klubs‹ und seiner diversen Versuchsreihen zurückgehen. Die Widmung »Für Ingmar Bergmann, der von der Wand weiss« (Bachmann 2000, 65) in einem handschriftlichen Entwurf aus dem Nachlass bezeugt zudem Bachmanns einschlägige Affinitäten (zu Bachmann und Bergmanns Film Wie in einem Spiegel [1960] vgl. Albrecht 1992, 287). In dem ersten Todesarten-Roman wird mit den Mitteln der aus Bachmanns Frühwerk vertrauten surrealistischen Parabolik eine »ironische Kontrafaktur« (Göttsche 2000, 31) von Robert Musils Modell des Habsburgerreiches als »geschichtliche[s] Experimentierfeld« (GuI, 64) der Moderne gestaltet, in dem »die Geschichte, obgleich die Uhren immer nachzugehen scheinen, sich in Wirklichkeit etwas weiter befand als an anderen Stellen der weniger empfindlichen Erdoberfläche« (TKA 1, 97). Mit seiner grotesken Verbindung von Österreichthematik und Zeitkritik – u. a. in der Form der von der »Austrotour« veranstalteten Wiener Stadtrundfahrten (TKA 1, 163 f.), wie Bachmann sie später in dem aus Malina herausgenommenen Text Besichtigung einer alten Stadt satirisch gestaltet –, von faschistoider Organisation und Technologie- bzw. Wissenschaftsgläubigkeit exemplifiziert der Geheimbund auf seine eigene, erschreckende Weise die »Krankheit unserer Zeit« (GuI, 72), die Thema schon des ersten Todesarten-Romans ist. Eugen ist jedoch nicht nur ein Historiker, der durch seine Verbindungen zum Seltsamen Klub als Integrationsfigur der Zeitkritik und der Geschichtsthematik fungiert, sondern zugleich eine männliche Parallel- und Vorläuferfigur der Todesarten-Protagonistinnen. Er erleidet alptraumhafte Todesangst-Erlebnisse, wie sie später Franza und die Ich-Figur in Malina erschüttern (TKA 1, 107–111), und lebt in der beständigen »Furcht, ermordet zu werden« (TKA 1, 106). Eugens Todesangst-Träume können daher als eine erste literarische Verarbeitung jener Alpträume interpretiert werden, die Bachmann in der Zeit ihrer Klinikaufenthalte und Psychotherapien zwischen 1963 und 1966 aufgezeichnet hat und die inzwischen unter dem Titel »Male Oscuro« aus dem Nachlass ediert worden sind (vgl. Kommentar in Bachmann 2017a, 151). Entsprechende Motivanalogien sind auch mit den gleichzeitig entstandenen nachgelassenen Gedichtentwürfen (Bachmann 2000) festgestellt
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worden (Schlinsog 2005, 102 f.; Rameder 2006, 49 f.). Während die entsprechenden Erfahrungen der weiblichen Figuren aber das Ergebnis von männlicher Machtausübung und eigenem weiblichen Rollenverständnis sind, also Motive im Diskurs der TodesartenRomane über das herrschende Geschlechterverhältnis in der Nachkriegsgesellschaft, brechen Eugens Verstörungen mit ebenso elementarer Unmotiviertheit über ihn herein wie über die Protagonisten in Bergmanns Film Das Schlangenei; seine TodesangstErlebnisse und seine Furcht vor Mord lesen sich insgesamt als Ausdruck eines existentialistischen Geworfenseins und der ›Ohnmacht‹ (TKA 1, 104) angesichts einer technisierten und ungesicherten Welt. Dennoch haben sie ihre Wurzeln – und möglicherweise sogar ebenso reale wie in Ingmar Bergmanns Film – in den gesellschaftlichen Gewaltstrukturen der Zeit. Wie die surrealistische Parabolik des Seltsamen Klubs exemplifiziert die Weiterführung existentialistischer Motive aus Bachmanns Werk der späten 1940er und 1950er Jahre mithin die Schwellenposition des ersten Todesarten-Romans (und insbesondere der Entwürfe der ersten Arbeitsphase 1962/63) zwischen ihrem früheren Erzählwerk und dem neuen Projekt der Todesarten. Eugens Todesangst-Erlebnisse verbinden ihn mit den Verstörungen der Protagonistinnen des ersten Todesarten-Romans, die ihren vorrangigen Grund nun allerdings im Verhältnis der Geschlechter haben. Dieser Zusammenhang geht im zweiten Band der Salzburger Bachmann Edition verloren: Zum einen wird der Ausgangspunkt der Entwürfe um die Figur Fanny dort auf Bachmanns Trennung von Max Frisch zurückgeführt (Wandruszka 2017, 309, 312, 325 u. ö.); zum anderen werden die Entwürfe des Jahres 1964 entgegen den sich wandelnden Konzeptionen der Autorin einem dort Das Buch Goldmann genannten Roman zugeordnet, aus dem die frühen Entwürfe der ersten Arbeitsphase 1962/63 (TKA 1, 83–116) um den »Seltsamen Klub« und Eugens erste Todesangst-Träume jedoch ausgeschlossen bleiben. So geht der entstehende Werkzusammenhang des ersten Todesarten-Romans verloren. Ähnliches gilt für Elke Schlinsogs Versuch, schärfer zwischen einer »Züricher (Sommer 1962 bis Winter 1962/63) und eine[r] Berliner Arbeitsphase (Herbst 1963 bis 1964)« zu unterscheiden (Schlinsog 2005, 92), wobei zugleich der als zu einseitig verworfene Behelfstitel »Todesarten (Eugen-Roman II)« durch die zum Romantitel aufgewertete Überschrift »Die gestohlenen Jahre« ersetzt wird (ebd., 9, 91 f.). In der Tat kommt es im Laufe der Arbeit an diesem ersten Todes-
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II Das Werk – B Erzählprosa
arten-Roman zu einer »Schwerpunktverschiebung von Eugen und dem Seltsamen Klub zu den weiblichen Hauptfiguren und der Problematik der Geschlechterverhältnisse« (ebd., 92 f.). Dies erlaubt jedoch keinen Ausschluss der in der (Züricher) Arbeitsphase 1962/63 entstandenen Entwürfe aus dem sich offen entwickelnden Romanvorhaben. Im Mittelpunkt der jüngeren Entwürfe des ersten Todesarten-Romans (Arbeitsphase 1964 in Berlin), mit denen der Band Das Buch Goldmann der Salzburger Ausgabe einsetzt, steht unter den Überschriften »Die gestohlenen Jahre« (TKA 1, 117; Bachmann 2017b, 15) und »Phase 2« (TKA 1, 142; Bachmann 2017b, 45) dann das Schicksal der ehemaligen PENSekretärin Fanny – ihr Nachname schwankt zwischen »P.«, »S.«, »Strotzky« und »Strotzka« –, die dem von ihr geliebten jungen Autor Anton Marek, einem skrupellosen gesellschaftlichen Aufsteiger aus der Provinz, zum erfolgreichen Beginn seiner literarischen Karriere verhilft, um sich dann von ihm in seinem ersten Roman als biographisches Material »ausgeschlachtet« zu sehen (TKA 1, 118; Bachmann 2017b, 16). »Fanny als Furie, als Rächerin ihrer Ehre« (TKA 1, 143; Bachmann 2017b, 46) bleibt eine groteske Phantasie; stattdessen verfällt dieses »Opfer der Literatur« (TKA 1, 135; vgl. auch 353; Bachmann 2017b, 37, 152) dem Alkoholismus und der Selbstzerstörung und veranschaulicht so die Zerstörbarkeit des von ihr verkörperten weiblichen Identitäts- und Rollenverständnisses. Vor der Folie der mittlerweile ebenfalls aus dem Nachlass veröffentlichten »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« der Autorin (Bachmann 2017a) und der Gedichtentwürfe aus denselben Jahren 1962– 64 (Bachmann 2000) lassen sich heute die »Abstraktions- und Verdichtungsprozesse« genauer verfolgen, mit denen sich Ingeborg Bachmann »in jeder Textstufe vom Biografischen entfernt, um schließlich eine paradigmatische Situation entstehen zu lassen – die der Todesarten der Gesellschaft« (Schlinsog 2005, 15, 101). So ermöglicht z. B. das groteske Verhalten der »PEN-Club-Sekretärin« dem Text eine »Distanzierung von Fannys hartnäckiger Fixierung auf ihr Unglück« und darin zugleich »komisch-boshaft[e] Schilderungen« des zeitgenössischen Literaturbetriebs als eines »mörderischen Markt[es]« (Wandruszka 2017, 313), wie sie im Goldmann/Rottwitz-Roman später dann die Rahmenhandlung bestimmen. Der erste Todesarten-Roman führt allerdings deutlich über Fannys Tod hinaus, beleuchtet dessen Resonanz in der dargestellten Wiener Gesellschaft und fügt Fannys »Todesart« im Sinne ihrer Repräsentativität
die Schicksale anderer Frauenfiguren hinzu, die auf ihre Weise ebenfalls die moralische »Krankheit unserer Zeit« veranschaulichen. Karin Krause, die anfangs nicht mehr als eine Negativfolie zu Fanny zu sein scheint, wird in ihrem Leiden an Mareks Rücksichtslosigkeit (als Präfiguration der Deutschen Aga Rottwitz im späteren Goldmann/Rottwitz-Roman) zur gleichgewichtigen Parallel- und Kontrastfigur, zumal sie sich als Deutsche in Wien ausgegrenzt und auch von Eugen ›verraten‹ sieht (TKA 1, 161; Bachmann 2017b, 67 f.). Der Dreieckskonstellation Fanny/Toni/ Karin lagern sich in den Paaren Britta und Wolf, Jordan und Elvira (»Eheduell«; TKA 1, 112; nicht in Bachmann 2017b) weitere potentielle »Todesarten« an, denen kontrapunktisch die humoristisch dargestellte Episode um Eugen und seine »neueste Affaire« (TKA 1, 139; Bachmann 2017b, 41) oder Mareks Briefwechsel mit Barbara von Pfaundler gegenüberstehen (TKA 1, 145–148; Bachmann 2017b, 47–50). So entsteht schrittweise ein ausgebreitetes Netz von vielfältig miteinander verbundenen Figuren und Paaren, die teils aus der psychologisierenden Innenperspektive, teils oder in anderen Kontexten aus der Außenperspektive einer Gesellschaftsdarstellung beleuchtet werden, wo sie neben solche typischen Zeitromanfiguren wie den Freimaurer und Stadtführer Gustav Hämmerle, Fannys »erste[n] Liebhaber« (TKA 1, 165; Bachmann 2017b, 72), oder den ehemaligen kommunistischen Kulturbeauftragten Stepanek treten, der nach dem Österreichischen Staatsvertrag an seiner Ächtung durch den neuen Antikommunismus zu zerbrechen droht (TKA 1, 100–106; nicht in Bachmann 2017b). Obwohl die Verschränkung von exemplarischen »Todesarten« und übergreifender Zeitkritik sowie das Konfigurationsprinzip der wechselseitigen Spiegelung im Fragment des ersten Todesarten-Romans also klar hervortreten, sind die überlieferten Entwürfe stilistisch ausgesprochen heterogen und zeigen deutliche Spuren der Suche nach geeigneten Darstellungsmitteln für das neue Sujet der »Todesarten«. Dies schlägt sich vor allem in den ersten (nicht in Bachmann 2017b eingegangenen) Entwürfen auch in einer Brechung des Erzählflusses durch poetologische Selbstreflexionen nieder, beispielsweise über den Begriff des Helden (TKA 1, 87), die »Theorie einer Figur« (TKA 1, 89) oder die Unabschließbarkeit des Erzählens, die hier bereits die Begründung für jenes zyklische Erzählen vorwegnimmt, das aus der Arbeit am ersten TodesartenRoman hervorgeht: Seit »Tausendundeine Nacht« wisse man, so der Erzähler, »daß an jedes Erzählte sich ein
15 Andere unvollendete Todesarten-Texte
weitres anhängen kann. Muß, es muß sich dran knüpfen, [...] denn alles Endliche zu erzählen, dazu würde keine Unendlichkeit der Erzählmöglichkeiten ausreichen« (TKA 1, 92). Diese Reflexion über die Unabschließbarkeit des Erzählens verweist nicht zuletzt auch auf Robert Musil, indem sie dessen Einsicht aufgreift, dass »alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet« (Musil 1978, 650). Vor der Erweiterung der Arbeit an einem einzelnen Todesarten-Roman zum Plan eines Todesarten-Zyklus begründet die poetologische Reflexion die polyzentrische Struktur des vielfigurigen Gesellschaftsromans, der in der Tradition der literarischen Moderne zugleich seine eigene Literarizität reflektiert. Die Auseinandersetzung mit der »französischen Tradition des Gesellschaftsromans« und insbesondere mit Marcel Prousts Zyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–27, dt. 1957) spielt in diesem Zusammenhang zweifellos eine wichtige Rolle (Schlinsog 2005, 95, 96 f.). Fanny wird in der verzweifelten Auseinandersetzung mit ihrer moralischen Zerstörung durch Toni Marek zur »Musterschülerin der neuen Literatur« und zur Sammlerin der Schicksale von weiblichen Opfern männlichen Schreibens (TKA 1, 135; Bachmann 2017b, 36). In werkgeschichtlicher Perspektive sind solche Motive nicht nur der Ausgangspunkt für die im Buch Franza und in Malina immer systematischer ausgeweitete Intertextualität, sondern auch für die Fokussierung der Zeitkritik auf den Literaturbetrieb in der Rahmenhandlung des Goldmann/ Rottwitz-Romans.
Requiem für Fanny Goldmann Parallel zur Arbeit am Buch Franza hat Bachmann 1966 auch den Fanny-Stoff des ersten Todesarten-Romans wiederaufgenommen und zu Entwürfen einer eigenen Erzählung mit dem Titel Requiem für Fanny Goldmann ausgeweitet, deren Material Ende 1966/67 dann aber in den Goldmann/Rottwitz-Roman eingearbeitet wurde. Durch die Ausgabe »Werke« (1978) wurde unter dem Titel Requiem für Fanny Goldmann zunächst eine kompilierende Zusammenstellung ausgewählter Entwürfe aus den ersten beiden Stufen der Fanny-Geschichte bekannt; die Salzburger Ausgabe Das Buch Goldmann (Bachmann 2017b) interpretiert Entwürfe aus allen drei sukzessiven Ansätzen zur Fanny- bzw. Fanny Goldmann-Figur als Teile eines Werkprojekts. In diesem Abschnitt geht es dagegen auf der
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Grundlage der Kritischen Ausgabe des TodesartenProjekts (1995) allein um jenes zweite, eigenständige Stadium dieses Arbeitsprozesses, das die Überschrift »Requiem für Fanny Goldmann« ursprünglich meint. In diesem Stadium konzentriert sich die Erzählung ganz auf die Titelfigur Fanny Goldmann, und entsprechend reduziert sich die Bedeutung ihrer Parallel- und Gegenfigur im ersten Todesarten-Roman, Karin Krause, auf ihre Funktion in der Dreieckskonstellation Fanny/Toni/Karin. Zugleich verschiebt sich das mit der Wiener Welt der Todesarten verbundene Figurennetz. Die Figur Eugen tritt von nun an ganz zurück und taucht nur noch in einem autoreflexiven Rückblick auf die Genese der Titelfigur in dem Roman Malina auf (TKA 3.1, 288). Dagegen geht nicht nur die Figur Martin (Ranner) aus dem gleichzeitig entstehenden Buch Franza in das Requiem für Fanny Goldmann ein, die Arbeit an dieser Erzählung bringt vor allem auch die Figur Maria Malina hervor (Albrecht 1998, 43–46), deren dort ebenfalls schon genannter Bruder in der Folge zu einer Zentralfigur der Todesarten und zur Titelfigur der »Ouvertüre« Malina werden sollte. Die Wiederaufnahme des Fanny-Stoffes aus dem ersten Todesarten-Roman geht mit einer entschiedenen Neuanlage der Protagonistin und einer zeitge schichtlichen Vertiefung ihres Schicksals einher. Aus der ehemaligen PEN-Sekretärin Fanny P./S./Strotzky/ Strotzka wird Fanny bzw. Stephanie Theres Wischnewski, die älteste Tochter eines in die Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß in dem nationalsozialistischen Putsch 1934 verstrickten Oberst aus dem gehobenen Wiener Bürgertum. Sie nimmt als Schauspielerin in den ersten Nachkriegsjahren den Namen Fanny Goldmann an, also den Namen ihres Mentors und zeitweiligen Ehemannes Harry/ Ernst Goldmann, eines jüdischen Remigranten, der als amerikanischer Kulturoffizier nach Wien zurückkehrt (TKA 1, 289 f.; Bachmann 2017b, 80). Die Neukonstruktion der Figur bedeutet also zunächst eine schärfere soziale Verortung, die ihren spezifischen »Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus« (GuI, 63) und damit die lebensgeschichtlichen und moralischen Voraussetzungen ihrer Verführbarkeit und Zerstörbarkeit durch den ›Mörder‹ Anton Marek erhellt, wie umgekehrt auch dieser deutlicher als das Produkt kleinbürgerlicher Aufstiegsmentalität dargestellt wird (TKA 1, 288, 304 f.; Bachmann 2017b, 78 f., 97 f.). Mit der lebensgeschichtlichen Vertiefung von Fannys Schicksal verbinden sich ausführliche Retrospektiven in die erste Nachkriegszeit, die mit der Formel »in einer längstvergangenen Zeit« (TKA 1, 289 f.; Bachmann 2017b, 80)
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von nun an als Einleitung der Goldmann-Geschichte fungieren und Fannys persönliches Drama in die zeitgeschichtliche Perspektive einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der österreichischen Nachkriegsgesellschaft rücken. Im Zentrum steht hier die Welt des Theaters, in der Fanny dank ihrer Haltung, ihrer Schultern und ihres »Tonfalls« (TKA 1, 291; Bachmann 2017b, 82) einen begrenzten Erfolg als Schauspielerin erlebt, bevor sie zur »schönen Statistin« herabsinkt, während ihr in Maria Malina, der nachmaligen Schwester des späteren männlichen Erzählers Malina, eine wahrhaft »große Schauspielerin« gegenübersteht (TKA 1, 294; Bachmann 2017b, 85). Fanny, die lediglich ihre Schönheit, ihre »Manieren« und ihren »Konversationston« (TKA 1, 313, 309; Bachmann 2017b, 106, 102) auf die Bühne trägt, ist als Schauspielerin demgegenüber nur das Produkt der nostalgischen Österreich-Phantasie des Remigranten Harry Goldmann (TKA 1, 296; Bachmann 2017b, 87 f.) und repräsentiert theatergeschichtlich die restaurative Wiederanknüpfung an das klassizistische bürgerliche Vorkriegstheater (Göttsche 1998a, 175). Dennoch hält sie bis zuletzt an diesem Selbstentwurf »einer Frau mit Haltung« und »den unsterblichen Schultern der 1950er Jahre« fest (TKA 1, 287, 311; Bachmann 2017b, 77, 104). So entgleitet sie als »Antiquität« (TKA 1, 320; Bachmann 2017b, 114) mehr und mehr der sich verändernden Wirklichkeit der Nachkriegsjahrzehnte. Nicht zufällig vermag sie der Auseinandersetzung ihres geschiedenen Mannes Ernst Goldmann mit seiner jüdischen Herkunft und der »Geschichte der Juden« später nicht mehr zu folgen (TKA 1, 299 f.; Bachmann 2017b, 90 f.). Daher gehört sie trotz der partiellen Emanzipation aus dem sozialen Milieu ihrer Herkunft in zeitgeschichtlicher Hinsicht zu den »Strategen des Vergessens« (Heidelberger-Leonard 1994, 119), denen die Erzählung in der Figur Harry/Ernst Goldmann die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den Problemen jüdischer Identität im deutschsprachigen Raum entgegenstellt (Heidelberger-Leonard 1998). Angesichts der Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963–65) entwirft Bachmann die zeitgeschichtliche Vertiefung der Fanny-Erzählung also als ein ›Schreiben nach Auschwitz‹.
Goldmann/Rottwitz-Roman In den späteren 1960er Jahren experimentierte Ingeborg Bachmann mit unterschiedlichen Realisationsformen und Schreibweisen ihrer Todesarten-Poe-
tologie. Kontrapunktisch zu der Dekonstruktion des traditionellen Erzählens in dem gleichzeitig begonnenen reflexiven Bewusstseinsroman Malina hat sie an den Entwürfen zu dem breit angelegten Goldmann/ Rottwitz-Roman gearbeitet, der die konsequenteste Verwirklichung des in den Todesarten verfolgten Projekts einer kritischen Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags im Spannungsfeld von individueller Lebensgeschichte und politischer Zeitge schichte darstellt (Göttsche 1998a, 179). In einer Rahmenhandlung im Umfeld der Frankfurter Buchmesse erzählt Malina dem jungen Schriftsteller Klaus Jonas die »Todesarten« der österreichischen Schauspielerin Fanny Goldmann und der deutschen Journalistin Eka Kottwitz/Aga Rottwitz, die sich im Sinne einer Poetik der »Analogie[n]« (TKA 1, 389) wechselseitig spiegeln und zugleich auf das verborgene Drama von Malinas Schwester Maria verweisen (Albrecht 1989, 244– 255; Albrecht 1993). In seiner überlieferten Form ist dieses Romanfragment erst durch die Kritische Ausgabe des Todesarten-Projekts bekannt geworden (1995), während die Ausgabe der »Werke« (1978) unter der Überschrift »Aus den Entwürfen zur Figur Malina« nur eine Zusammenstellung von Teilen der Rahmenhandlung bot (W 3, 525–554). Der zweite Band der Salzburger Bachmann Edition nimmt ebenfalls wenig Rücksicht auf den ästhetischen Strukturzusammenhang des Romanfragments und konstruiert aus dem heterogenen, um unterschiedliche und sukzessive Figurenkonzepte namens »Fanny« kreisenden Entwurfsmaterial seit den frühen 1960er Jahren einen Roman, dem der Titel Das Buch Goldmann gegeben wird. Begründet werden Titelwahl und Textzusammenstellung mit dem Hinweis auf eine Verlegernotiz von 1970 sowie dem Anliegen, »der poetischen Imagination der Schriftstellerin zu folgen« (Wandruszka 2017, 288, 290). Der Preis dieser Editionsentscheidungen sind die Kompilation unterschiedlicher Werkvorhaben aus dem mehrstufigen Arbeitsprozess an den Todesarten sowie eine fragwürdige Titelwahl, die problematischerweise suggeriert, auf die »Ouvertüre« Malina hätte eine Reihe von Individualromanen um weibliche Figuren folgen sollen, die polyzentrische Anlage des Fragments als vielfiguriger Zeit- und Gesellschaftsroman also verdeckt. Anders als im Fall des fragmentarischen Franza-Romans, dessen Titel von Bachmann nicht nur immer wieder mit ihren beiden Verlegern, sondern auch mit Freunden wie etwa Hans Magnus Enzensberger diskutiert wurde (Bachmann/Enzensberger 2018, 173) und der im Verlagsbriefwechsel bis zuletzt Das Buch Franza
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lautet (Brief an Klaus Piper vom 14.11.1970), ist die Situation der Titelsuche für den nach Malina geplanten Roman keineswegs eindeutig und der Status der Reisenotizen des Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld sollte nicht überschätzt werden. Zahllose Absprachen und Pläne in den Briefwechseln mit dem Piperund dem Suhrkamp-Verlag, aber auch anderen Verlegern, Zeitschriften und Rundfunksendern, belegen, wie wenig verbindlich solche Aufzeichnungen sind. Anders als Das Buch Franza bleibt das Goldmann/ Rottwitz-Romanprojekt auch nach der einmaligen Nennung des Titels Das Buch Goldmann in den Verlagsbriefwechseln namenlos bzw. heißt nur stichwortartig »Goldmann« (so etwa in einem Brief Siegfried Unselds an Ingeborg Bachmann vom 14.2.1972, zit. nach Wandruszka 2017, 284). Der Goldmann/Rottwitz-Roman geht in seinem Motivbestand aus der Weiterentwicklung und Neukomposition älterer Motive, Figuren und Handlungselemente und in seiner Grundidee aus dem Konzept des Malina-Romans hervor (Albrecht 1993). Als Bachmann ihren ersten Roman als »Ouvertüre« der Todesarten bezeichnete, fügte sie hinzu: »Malina wird uns erzählen können, was ihm der andere Teil seiner Person, das Ich, hinterlassen hat« (GuI, 95 f.). Diese Interview-Aussage korrespondiert mit dem Schluss des Malina-Romans, an dem dieses weibliche Ich seine »Geschichten« dem männlichen Alter Ego Malina übereignet (TKA 3.1, 688). Der Plan, Malina in diesem Sinne die Hinterlassenschaft des weiblichen Ichs antreten zu lassen, hat die um 1966/67 begonnene Arbeit am Goldmann/Rottwitz-Roman tatsächlich bis zuletzt begleitet. Noch im Jahr 1973 gab Bachmann an, dass die Malina-Figur sogar »durch alle Bände« durchgehen solle (GuI, 127). Bei dieser Idee, die männliche Hälfte der Doppelfigur Ich/Malina als Erzähler der »Todesarten« auftreten zu lassen, handelt es sich um einen ebenso virtuosen wie einfachen Kunstgriff: »Eine Figur bringt durch ihr bloßes Vorhandensein den gesamten Bedeutungshorizont der ›Ouvertüre‹ in einen Erzähltext ein und begründet das Wechselspiel zwischen dem Malina-Roman und den im folgenden geplanten Romanen« (Albrecht 1998, 37). Eine der Implikationen dieser Rückbindung der Malina-Figur an die Todesarten-Ouvertüre ist die Übernahme der dort im letzten Satz (»Es war Mord«) angedeuteten Erzählmotivation in den als Anschluss geplanten Roman: Sowohl in Malina (TKA 3.1, 287 f.) als auch im Goldmann/Rottwitz-Roman ist Malinas Schwester Maria auf der Ebene der fiktiven Realität das Opfer eines »perfekte[n] Mord[es]« (TKA 1, 382)
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geworden, eines Mordes, bei dem es keine Zeugen gibt und ein Hai die Leiche beseitigt hat. Malina wird im Goldmann/Rottwitz-Roman als Sammler und Erzähler von »Geschichten mit letalem Ausgang« vorgestellt, nicht zuletzt von Geschichten von Frauen, denen »dasselbe passiert ist« wie seiner Schwester (TKA 1, 388; Bachmann 2017b, 191), nicht durch einen Hai, aber doch so, dass der Mörder juristisch nicht haftbar gemacht werden kann. Damit gravitiert der gesamte Goldmann/Rottwitz-Roman im Grunde um den Mord an der Schwester Malinas und des weiblichen Ich aus dem Malina-Roman (Albrecht 1998, 43–45). Über solche zentralen Strukturmerkmale hinaus lassen sich jedoch aus dem hinterlassenen Stadium der Fragmente schwerlich Rückschlüsse auf eine endgültige Gestalt des Goldmann/Rottwitz-Romans ziehen. Gerade hinsichtlich von Malinas Erzählerrolle hat Bachmann immer wieder neue Möglichkeiten durchprobiert, und vor allem bei sehr fragmentarischen Texten ist oft nicht auszumachen, wer sie erzählt, Malina oder ein anonymer, in Konkurrenz zu Malina auftretender Erzähler, dessen Perspektive sich kaum von der Malinas unterscheidet (Albrecht 1998). In der zuletzt entstandenen Einleitung, die das jüngste überlieferte Konzept des Romans in nuce enthält (Albrecht 1989, 244–255), eröffnet dieser allwissende Erzähler den Roman und stellt Malina zunächst als Figur unter Figuren vor: »Aus der Paßkontrolle näherten sich zwei Männer«, und dabei handelt es sich um den jungen Schriftsteller »Klaus Jonas [...] und Malina« (TKA 1, 396; Bachmann 2017b, 193 f.). Vor allem in der Rahmenerzählung finden sich, wie schon im ersten Todesarten-Roman, poetologische Reflexionen, die hier bereits auf den entsprechenden Überlegungen zu den vorangehenden TodesartenTexten aufbauen können – etwa die in Anlehnung an J. A. Barbey d’Aurevillys Erzählung Die Rache einer Frau entwickelte These von den verborgenen, ›sublimen Verbrechen‹ der modernen Zivilisation, um die es schon im Buch Franza gehen sollte (TKA 2, 75). Im Kontext der eben genannten Romaneinleitung erinnert Bachmann sozusagen ex negativo an diese Prämisse, wenn es heißt, »unsere Erzähler [wollen] uns weismachen [...], daß nichts mehr stattfindet oder sich alles, was stattfindet, als zu langweilig und unwichtig erweist, um berichtet zu werden« (TKA 1, 398; Bachmann 2017b, 197). Mit diesem Seitenblick auf »unsere Erzähler« dürfte sie an jene ›realistischen‹ Zeitgenossen gedacht haben, die, wie Arno Schmidt erstmals in einem Radio-Nachtstudio Mitte der 1950er Jahre, darauf bestanden, »daß ›in Wirklichkeit‹ viel weniger
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›geschieht‹, als die katastrophen-freundlichen Dramatiker uns weismachen wollen« (Schmidt 1989, 131). Darüber hinaus wirken die poetologischen Reflexionen in dem Rahmenteil des Goldmann/Rottwitz-Romans oft so, als habe Bachmann – in Anlehnung an das ›offen-artistische Erzählen‹ von Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) – der MalinaFigur Gedanken zur Komposition des im Entstehen befindlichen Textes in den Mund gelegt (z. B. TKA 1, 431 f.; Bachmann 2017b, 246; vgl. Frisch 1976, 327). Wie alle Todesarten spielt auch der Goldmann/Rottwitz-Roman (in seiner Rahmenerzählung) etwa in der Zeit seiner Entstehung und entwirft zugleich ein »Bild der letzten zwanzig Jahre« nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus (GuI, 66). Die erzählte Zeit der frühen Entwürfe ist sogar eindeutig auf den Herbst 1966 datierbar, wenn Bachmann auf ein Ereignis anspielt, das sich »ein halbes Jahr zuvor« abgespielt hat (TKA 1, 340; Bachmann 2017b, 138), nämlich Peter Handkes spektakulärer Auftritt bei der Frühjahrstagung der Gruppe 47 an der Princeton University. Mit dem vierzigjährigen Malina kontrastiert der auf den jungen Peter Handke verweisende »kleine Revoluzzer« und »Rebell« Klaus Jonas (TKA 1, 340, 397; Bachmann 2017b, 138, 195) nicht zuletzt als Vertreter einer neuen Generation und der Umbruchsituation der 1960er Jahre. Dennoch bleiben der gesellschaftliche Wandel und die Politisierung des kulturellen Lebens hier noch ebenso unthematisiert wie die Diskussion um den vermeintlichen ›Tod der Literatur‹, die Außerparlamentarische Opposition und die Studentenrevolte. Damit zielt dieser Aspekt des Romans insgesamt wohl eher »auf den Vorabend und Beginn dieser gesellschaftlichen Krise« (Göttsche 1998a, 184). Die Rahmenerzählung besteht, neben den Dialogen von Malina und Jonas, in die die Binnengeschichten eingebettet werden sollten, vor allem aus einer Reihe von Szenen im Umfeld der Frankfurter Buchmesse, die den Literaturbetrieb der 1960er Jahre unter dem Stichwort »Literatur und Verbrechen« (TKA 1, 388; Bachmann 2017b, 191) kritisch und zum Teil satirisch beleuchten. In der Begegnung zwischen Malina und Jonas ist dagegen nicht zuletzt das Potential eines ›anderen Literaturbetriebs‹ angelegt, das »literarische Denkmodell eines Dialogs der Generationen«, den Bachmann zwar als scheiternden darstellt, der generell jedoch »geeignet wäre, eine andere Literaturtradition als die der vom Buchmarkt gesteuerten Richtungen zu etablieren« (Göttsche 1998a, 185). Die Gegenüberstellung von zwei sich gegenseitig erhellenden Binnengeschichten, die im Goldmann/Rott-
witz-Roman von der Person und der Erzählmotivation der Figur Malina zusammengehalten werden, hat ihre Wurzeln in dem Strukturmodell des ersten Todesarten-Romans (Albrecht 1993, 136), erfolgt hier jedoch als Konzentration auf die Geschichten jeweils einer deutschen (Aga Rottwitz) und einer österreichischen Frauenfigur (Fanny Goldmann), die zu »Opfer[n] der Literatur« (TKA 1, 353; Bachmann 2017b, 152) geworden sind wie so viele andere von jenen, die »sich ein Leben mit einem Künstler« zugemutet haben (TKA 1, 360; Bachmann 2017b, 161). Mit der Figur der ›roten Gräfin‹, der politisch links stehenden Journalistin Aga Gräfin Rottwitz, die zunächst Eka Kottwitz heißt (und damit in verwandtschaftlichem Verhältnis zu einer Figur aus Heinrich von Kleists Drama Der Prinz von Homburg zu denken ist), wird der Schauspielerin Fanny Goldmann nunmehr eine ganz neue Komplementärfigur an die Seite gestellt, die vor allem eine Fülle neuer Details aus dem Szenario der hier als »Machtkampf« (TKA 1, 419; Bachmann 2017b, 230) dargestellten Geschlechterverhältnisse in den Roman einbringt (Albrecht 1993, 143). Die Binnengeschichte um die deutsche Journalistin besitzt allerdings in den überlieferten Entwürfen (noch?) nicht »die gleiche zeitgeschichtliche Tiefendimension wie die österreichische« (Göttsche 1998a, 180), während die späten Entwürfe zur »ersten Nachkriegszeit« in der Goldmann-Geschichte darauf schließen lassen, dass Bachmann zumindest dort eine »erhebliche Ausweitung der zeitgeschichtlichen Retrospektive im Sinne der Struktur des Goldmann/Rottwitz-Romans als eines Zeitromans« geplant hatte, die nicht zuletzt auch die an die Figur des Remigranten Harry/Ernst Goldmann gebundene Thematik der Shoah und der jüdischen Identität betreffen sollte (Göttsche 1998a, 178). Damit stellt sich Bachmanns Gesellschaftsdarstellung im Goldmann/Rottwitz-Roman einmal mehr »in eine österreichische Tradition [...], die Ethik und Ästhetik verbunden wissen will« (Wandruszka 2017, 382). Das Romanfragment, das »als Zeitroman, Österreich-Roman, als Sittenroman der Nachkriegsgesellschaft, als Literaturroman oder als Kriminalroman gelesen werden kann« (Wandruszka 2017, 339), hat in der Forschung bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden (vgl. ebd., 301). In ihrem Kommentar zur Salzburger Ausgabe geht Marie Luise Wandruszka vor allem Bachmanns intertextueller und poetologischer Anknüpfung an Hugo von Hofmannsthals Komödien und der damit verknüpften Österreich- und Theaterthematik nach (ebd., 344– 372). Mit Recht stellt sie fest, dass »das immer noch
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vorherrschende tragische Bachmannbild« bislang den Blick auf »das Tragikomische« (ebd., 308), auf die wiederkehrende Verwendung von Komik, Ironie und Humor in Bachmanns Zeitkritik verstellt hat. Komische Elemente spielen im Goldmann/Rottwitz-Roman ebenso eine Rolle wie in Teilen des Romans Malina (z. B. der herausgenommenen Besichtigung einer alten Stadt) und der Simultan-Erzählungen (Probleme Probleme; Ihr glücklichen Augen) und sind entsprechend als ein vernachlässigter Aspekt von Bachmanns Erzählen neu zu bewerten.
Gier Gemäß der Absprache mit dem Verleger Siegfried Unseld sollte die Erzählung Gier im Mai 1973 als nächste Publikation nach dem Roman Malina (Frühjahr 1971) und dem Erzählband Simultan (Herbst 1972) erscheinen. In dem Verlagsprospekt für das erste Halbjahr 1973 war die Erzählung über ein »Eifersuchtsdrama« mit tödlichem Ausgang (TKA 4, 505) bereits als Neuerscheinung in der Reihe »Bibliothek Suhrkamp« angekündigt. Trotz des mehrfachen Drängens des Verlags hat Bachmann den Text jedoch nicht abgeschlossen. Das hinterlassene Entwurfsmaterial ist, mit Ausnahme einiger kurzer, für den Verlag entworfener Texte (Kommentar TKA 4, 614), im Wesentlichen bereits in jenem Sommer 1970 entstanden, in dem Bachmann bei einem längeren Aufenthalt in Kärnten »das Milieu gefunden [hatte], das [sie] schon lange darstellen wollte, das der wirklich ›Reichen‹, die in diesem Lande die großen Jagden und ihre Jagdhäuser haben« (Brief an Hans Rössner [Piper Verlag] vom 12.8.1970, zit. nach TKA 4, 606). Die erste kritische Edition der Erzählung (Bachmann 1982) folgte der Ordnung der Nachlassentwürfe in der Österreichischen Nationalbibliothek, die sich jedoch als revisionsbedürftig erwies. Im vierten Band der Kritischen Edition der Todesarten (1995) wurde die Erzählung Gier daher aus dem Nachlass neu rekonstruiert. Bachmann hat bereits während ihres Aufenthalts in Klagenfurt im Sommer 1970 mit der Arbeit an Gier begonnen. Wenngleich die Erzählung zu diesem Zeitpunkt offenkundig bereits auf ein katastrophales Ende hin angelegt war (Albrecht 1997, 334), geht das Motiv des Doppelmordes mit anschließendem Selbstmord des Täters auf den tatsächlichen römischen ›Mordfall Casati‹ zurück, von dem Bachmann bei ihrer Rückkehr nach Rom Anfang September 1970 aus der Presse erfahren hat (vgl. die Quellenzeugnisse im Kommen-
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tar der Kritischen Edition; TKA 4, 607–612). Bei der Weiterarbeit an der Erzählung haben die Berichte über diesen Mordfall, der die italienische Presse wochenlang beschäftigte, Bachmann offensichtlich als eine Art »Neuer Pitaval« gedient, »an dessen Material das Vorhaben einer literarischen Sitten- und Bewußtseinsgeschichte im Geiste Balzacs und Barbeys ansetzen konnte« (Kommentar TKA 4, 612). Im Sinne eines figurenbezogenen Verfahrens der literarischen Zyklusbildung (GuI, 96, 127) taucht auch die Protagonistin der Erzählung Gier, Elisabeth Mihailovics, bereits in anderen Erzähltexten auf. Sie ist die »Cousine« der Hauptfigur Beatrix in der Erzählung Probleme Probleme (TKA 4, 161), in Übereinstimmung mit dieser (TKA 4, 172) berichtet das Ich in Malina, dass Elisabeth mit Anton Marek zusammen war, bevor sie »an den Bertold Rapatz geraten ist« (TKA 3.1, 616), und vor allem läuft sie kurz vor ihrem Tod Elisabeth Matrei, der Protagonistin der Erzählung Drei Wege zum See, über den Weg (TKA 4, 354–356). Diese liest dann noch während ihres Besuchs in ihrem Elternhaus in Kärnten in der Zeitung, dass Elisabeth Mihailovics und ihr »Liebhaber« von ihrem Ehemann Bertold Rapatz ermordet worden seien, der sich anschließend selbst erschossen habe (TKA 4, 449–454). In der Erzählung Gier stehen die kriminalliterarischen Elemente des Todesarten-Projekts (Höller 1987, 229 f.) ganz im Vordergrund. Während die subtilen psychischen Morde in den Todesarten-Texten ansonsten nach außen als Selbstmord oder Selbstzerstörung erscheinen, geht es in dem Erzählfragment Gier um eine tatsächliche Bluttat, um »einen Doppelmord, für den der Täter auch juristisch hätte haftbar gemacht werden können, wenn er sich nicht jedem gesetzlichen Zugriff durch seinen Selbstmord unmittelbar nach der Tat entzogen hätte« (Albrecht 1997, 334). Bevor es jedoch sozusagen als Abschluss eines langen Prozesses zu dem Mord kommt, wird in den überlieferten Entwürfen zu der Erzählung Gier die »Geschichte einer Persönlichkeitszerstörung« erzählt, »bei der die Protagonistin sich auf ein ihr völlig fremdes Leben einlässt, dabei alles Eigene aufgibt und mehr und mehr zu einer willenlosen Marionette wird« (ebd., 336). Offenkundig ging es Bachmann auch in dieser Erzählung neben einer Darstellung rücksichtsloser Tätermethoden um die Zerstörbarkeit des von der Protagonistin verkörperten weiblichen Identitäts- und Rollenverständnisses und damit um die Mitwirkung des Opfers an der ›Ermordung‹, die in diesem Fall allerdings tatsächlich in einem grausigen Blutbad ihr Finale findet.
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Quellen
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Monika Albrecht / Dirk Göttsche
16 Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld
16 Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld Im Verlauf der 1960er Jahre sah sich Bachmann zu einer erneuten Weiterentwicklung ihres politisch-gesellschaftstheoretischen Denkens veranlasst, und zwar sowohl durch die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung (Studentenbewegung) als auch durch persönliche, besonders schmerzhafte Erfahrungen mit gescheiterten und problematischen Sozialbeziehungen (v. a. die Trennung von Max Frisch). Zwar lässt sich auch für diese Zeit noch konstatieren, dass Bachmann u. a. scharfe Kritik an faschistischer Ideologie und konservativ-bürgerlichen Wertvorstellungen äußert, so wie dies auch schon in dem Erzählband Das dreißigste Jahr der Fall gewesen war (zu den ›Problemkonstanten‹ in ihrem Prosawerk vgl. insbesondere Battiston 2009; Nagy 2009). Als ein neues Motiv tritt nun jedoch eine Kritik des demokratischen Pluralismus im Sinne einer Bestimmung seiner Grenzen und Risiken hinzu, wie sie aus gesellschaftstheoretischer Perspektive in neuerer Zeit etwa von Richard Sennett (The Corrosion of Character, 1998) beschrieben worden sind. Insofern Frauen von diesen Risiken oftmals stärker betroffen sind als Männer, kann es nicht verwundern, dass Bachmann diese Thematik am Beispiel von Frauenschicksalen entfaltet. Darüber hinaus spiegelt sich in dieser stärkeren Akzentuierung der Geschlechterthematik aber auch die Fortentwicklung des feministischen Denkens in den 1960er Jahren wider. So vertritt etwa Susanne Böhmisch die These, dass Bachmann in den Simultan-Erzählungen »einer Ethik der sexuellen Differenz, die wir bei Hélène Cixous poetisch und theoretisch formuliert finden, Ausdruck verleiht« (Böhmisch 2002, 217). Auch Françoise Rétif sieht Bachmann als »feministische Vordenkerin« (Rétif 2006, 584), betont jedoch, dass die Autorin nicht auf eine bestimmte Schule oder Richtung festgelegt werden dürfe. Hinsichtlich eines möglichen Vorbildcharakters der Hauptfiguren unterscheiden sich die drei Binnenerzählungen sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht von der ersten und der letzten Erzählung des Bandes, denn nur deren Protagonistinnen, Nadja und Elisabeth, erreichen eine »greater awareness and integration« (O’Regan 2000, 112); »the point of view is one-dimensional« (ebd., 113) in den drei Binnenerzählungen, in den – in der Forschung vielleicht auch deshalb besonders viel diskutierten – Rahmengeschichten dagegen vollständig polyphon.
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Auch der Erzählband Simultan ist demnach von Bachmanns utopischem Denken geprägt, denn »the volume begins and ends on a positive note« (ebd.). Leena Eilittä zufolge demonstriert Bachmann nichtsdestotrotz in allen fünf Erzählungen des Bandes, »that women tend to internalise their subordination thus embedding it deeply within their psychic structure« (Eilittä 2008, 86). Und auch für Monika Albrecht war Bachmann zwar eine Vordenkerin der Emanzipation, jedoch in Teilen stärker vom restaurativen Zeitgeist geprägt, als es oft behauptet werde; in Bachmanns poetologischen Entwürfen zum Simultan-Band erkennt sie einen »blind spot in her analysis of gender conflicts« (Albrecht 2004, 138). In ihren poetologischen Entwürfen zu den Simultan-Texten (TKA 4, 3–20) hat Bachmann unterstrichen, dass es sich nicht um ein »Buch für Frauen«, sondern um ein »Buch für Menschen« handelt (TKA 4, 11; vgl. auch TKA 4, 18; Bannasch 1997). Unter Anspielung auf die von Honoré de Balzac und Gustave Flaubert begründete Tradition des realistisch-naturalistischen Gesellschaftsromans (TKA 4, 8, 15) bekennt sie sich zu dem Ziel, »das simultane Denken und Fühlen der Personen, die zusammenhängen« (TKA 4, 7), beschreiben zu wollen, also eine Art Mentalitätsge schichte der Nachkriegsjahrzehnte am Beispiel Wiens zu liefern. Dazu gehört auch die Kunst, unbedeutende Personen – wie es ähnlich etwa die Filmästhetik des italienischen Neorealismus und das von Bronisław Malinowski entwickelte, in der zeitgenössischen Ethnologie viel diskutierte Konzept der ›teilnehmenden Beobachtung‹ forderten – mit ihren alltäglichen Leiden zu schildern, ohne sie einerseits zu ironisieren oder andererseits zu idealisieren. Die Protagonistinnen des Simultan-Bandes werden also zwar in ihrer »psychischen Beeinträchtigung« dargestellt, jedoch »nicht zum Fall gemacht« (Otto 2009, 363). Sie sind »keine Karikaturen« (Wandruszka 2011, 129), d. h. die Autorin betrachtet sie trotz ihrer offenkundigen Schwächen und Fehler mit Empathie und weise-wissender Humanität (so v. a. Stauf 2017). Um die hierzu erforderliche Mischung aus Distanz und Nähe herzustellen, bedient sich Bachmann in diesen Texten der ständigen Perspektivverschiebung (dazu ausführlich Schneider 1999, 159–169). Befördert werden soll dadurch in erster Linie »das ethische Vermögen zur Empathie, das sich narratologisch manifestiert als Verzicht auf die Ich-Perspektive zugunsten der personalen Rede« (Dusar 2006, 88). Innerhalb eines Abschnittes, ja oft sogar innerhalb ein und desselben Satzes wechselt Bachmann deshalb von Erzähler-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_16
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bericht und direkter Rede zu Erlebter Rede oder Innerem Monolog und umgekehrt. Die Figuren kommen einerseits ausführlich selbst zu Wort, werden aber andererseits auch von einer Außenperspektive aus beschrieben. Insofern dieses Verfahren für alle Texte des Todesarten-Projektes charakteristisch ist, kann von einer gestalterisch (und natürlich auch thematisch) sehr engen Anbindung der Simultan-Erzählungen an Malina und die späten Romanfragmente der Autorin gesprochen werden (vgl. Bannasch 1997). Darüber hinaus wurde diese Gestaltungstechnik Bachmanns insofern als ein spezifisch ›weibliches Erzählen‹ interpretiert, als in ihren Erzähltexten »auf der Ebene der narrativen Gestaltung nicht eine herrschende oder beherrschende Stimme und Sicht etabliert ist« (Otto 2009, 306; kritisch dazu Göttsche 2011, 498–500). Als Nebenprodukte ihrer Arbeit an den Todesarten-Romanen stehen die Erzählungen des SimultanBandes auch in poetologischer Hinsicht in engem Zusammenhang mit Bachmanns dort manifest werdendem Versuch, unter Anknüpfung an die Tradition des klassischen Gesellschaftsromans (v. a. Balzac) die Sitten einer Zeit zu charakterisieren. Die Vielgestaltigkeit und partielle innere Widersprüchlichkeit der aktuellen Gesellschaftsordnung sollte durch eine Auswahl sich ergänzender Porträts von Individuen aus den unterschiedlichsten Bildungs- und Gesellschaftsschichten veranschaulicht werden (vgl. TKA 4, 547– 555). Der Titel des Prosabandes rückt insofern den – in Bachmanns erstem Prosaband noch nicht thematisierten – Aspekt der Gleichzeitigkeit von Neuem und Altem, Zeitgemäßem und Unzeitgemäßem in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Feuilleton fanden die z. T. schon vorab in Hörfunk-Lesungen oder als Zeitschriftenbeitrag veröffentlichten Erzählungen ein differenziertes Echo; Bachmann war (erst) jetzt als Prosaistin akzeptiert (vgl. Hotz 1990, 157–171; Schardt 1994, 163–192).
Simultan Die erste der fünf Erzählungen dieser Sammlung schildert einige Tage im Leben der äußerlich erfolgreichen, innerlich jedoch unglücklichen Simultandolmetscherin Nadja, die im Anschluss an einen beruflich bedingten Aufenthalt in Rom eine mehrtägige Ausflugsfahrt an die Westküste Kalabriens unternimmt. Sie wird hierbei von Ludwig Frankel, einem hohen Funktionär der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) begleitet, den sie gerade erst in Rom
kennengelernt hat und der – wie sie selbst auch – aus Wien stammt. Kommt ihr der Aufbruch aus Rom hierbei zunächst noch »wie der in ein übliches Abenteuer« vor (TKA 4, 113), so entwickelt sich die Ausflugsreise für Nadja schon bald zu einer schweren seelischen Strapaze, denn einerseits erwecken einzelne Wahrnehmungen auf der Fahrt immer wieder ihre Erinnerung an den katastrophalen Verlauf früherer Liebesbeziehungen, und andererseits entpuppt sich ihr Begleiter, mit dem sie sich in der vertrauten Sprache der gemeinsamen Heimat verständigen zu können gehofft hatte, mehr und mehr als unsensibler Tölpel, der alle Anzeichen ihrer seelischen Bedrängnis ignoriert oder missversteht. Ihren dramatischen Höhepunkt findet die Handlung in der Beschreibung einer von Frankel initiierten Besichtigungsfahrt zu dem hoch über dem Golf von Policastro thronenden monumentalen Christus-Standbild von Maratea Superiore, einer Fahrt, in deren Verlauf Nadja einen schweren Anfall von Höhenangst erleidet (vgl. Dierick 1981). Dass ausgerechnet eine Christusstatue derartige Empfindungen auslöst, macht deutlich, dass auch die Religion keinen solchen Halt mehr zu geben vermag. Außerdem enthüllt die Höhenangst-Episode noch einmal besonders deutlich die gedanken- und teilnahmslose Haltung Frankels, der die Symptome von Nadjas durchdringender Vernichtungsangst verkennt und von der leichten Seite nimmt. Wenn Bachmann ihre Protagonistin zuletzt nach außen hin die Fassung wiedergewinnen lässt, erweckt sie insgesamt dennoch den Eindruck, dass diese intensiver Hilfe und Zuwendung bedarf. Die erzähltechnische Gestaltung des Werkes zielt darauf ab, den Leser zu solcher Hilfeleistung zu befähigen. Hierin liegt ein gewichtiger Unterschied zwischen den Texten des ersten und des zweiten Erzählbandes der Autorin (Schneider 1999, 294–297). Denn während Das dreißigste Jahr von der Prämisse auszugehen schien, dass die darin behandelten Probleme letzten Endes durch bloßes Nachdenken zu lösen seien, führt uns Bachmann in den Werken des SimultanBandes Figuren vor, die der Hilfe bedürfen, die also nicht aus eigener Kraft zu einer solchen Lösung gelangen können (ausführlich dazu Schneider 1999). Eine Aufgabe des Lesers besteht darin, die versteckten Hilferufe wahrzunehmen, die diese Figuren aussenden, und sich auf diese Weise auf entsprechende Hilfeleistungen einzustellen und vorzubereiten. Folgerichtig tritt der auktoriale Erzähler in den Simultan-Erzählungen, verglichen mit den Texten aus Das dreißigste Jahr, merklich zurück. Stattdessen rückt die Innenweltdarstellung im Rahmen personaler Erzählsitua-
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tionen stark in den Vordergrund. Durch Erlebte Rede und Inneren Monolog werden dem Leser direkte Einblicke in das Denken und Empfinden der Protagonistinnen ermöglicht (vgl. O’Regan 2000). Diese Figuren soll er gleichsam ›aushorchen‹, soll sich aber nicht mit ihnen identifizieren. Wenn sich Nadja an der Bar als kapriziöses Geschöpf präsentiert (TKA 4, 131) oder eiskalt den Tod ihres lästigen Reisebegleiters imaginiert (TKA 4, 122), handelt es sich um offenbar gezielt eingesetzte Mittel der Sympathielenkung, mit denen Bachmann demonstriert, welche Probleme in puncto Sozialität und Moralität im Umgang zwischen flexiblen Menschen neuen Typs entstehen können. Nadja ist aber keine Schurkenfigur, sondern das charakteristische Produkt jenes »neuen globalen Kontexts« (Lennox 2009, 190), der Narzissmus, Bindungsschwäche und Egozentrik geradezu fördert und erfordert. Deutlichstes Symptom dieser Krisensituation ist der Verlust an Geltungshaftigkeit, den Nadjas Sprache erfährt. Dass sie von Beruf Simultandolmetscherin ist, verdeutlicht, dass sie keine eigene Sprache zu sprechen versteht, dass ihr in der Fremde auch die eigene Sprache – anders, als dies oftmals in der Exilliteratur beschrieben wird – keine feste und sichere Heimat mehr sein kann: »She does not, however, really live in the various language worlds, but in the space between them« (Brinker-Gabler 2004, 195). Nicht in der Figurenrede, sondern nur in der Sprache der Erzählinstanz zeichnet sich eine Lösung dieses Problems ab, denn nur darin wird »mythisches Erzählen als Darstellung dessen gezeigt, was nur in anderer Sprache darstellbar wird: die verschüttete Identität Nadjas« (Jagow 2003, 191). Nadjas Suche nach sprachlicher Wahrhaftigkeit bleibt also erfolglos, weil eine solche für Bachmann nur in der Literatur realisiert werden kann. Simultan ist nach dieser Lesart die Tragödie einer Person, die eigentlich selbst Schriftstellerin sein müsste, die jedoch aufgrund ihrer zwar außerordentlichen, aber ganz andersartigen Sprachbegabung keine Möglichkeit zu eigenständiger künstlerischer Sprachverwendung findet (dazu v. a. Bossinade 2004, 179, 205). Zu einer positiveren Einschätzung der Sprachproblematik in dieser Erzählung gelangte Giulia Radaelli; ihr zufolge gewinnt Nadja durch den »Wechsel in eine andere Sprache die Möglichkeit, die eigene Geschichte anders zu erzählen und damit ein anderes Verständnis ihrer selbst zu gewinnen« (Radaelli 2011, 282). Mit ähnlich optimistischer Tendenz deutete Alexander Nebrig die Anspielungen auf Goethes Faust als Indiz für Bachmanns »Glauben daran, dass Glück möglich ist« (Nebrig 2014, 353). Und auch Sayaka Oki attes-
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tierte Nadja eine erfolgreiche »Subjektbildung« (Oki 2015, 107), da diese zwar in der gesprochenen Sprache als Dolmetscherin den Vorgaben ihrer überwiegend männlichen Auftraggeber unterworfen bleibe, jedoch in der geschriebenen Sprache zu selbstbestimmter Rede gelange, was sich insbesondere bei ihrer Übersetzung des Bibelsatzes zeige (der allerdings so in der Bibel nicht zu finden ist; vgl. Radaelli 2012). Bachmanns Erzählung wurde zuerst als Hörfunkaufnahme des NDR Hannover (7. Oktober 1968) und dann in der Neuen Rundschau (1970, 448–469) veröffentlicht (vgl. zur Entstehungsgeschichte der Simultan-Erzählungen jeweils den Kommentar in TKA 4, 547–606).
Probleme Probleme Diese Erzählung Bachmanns schildert einen Tag im Leben der zwanzigjährigen Wienerin Beatrix, die ihre schulische Ausbildung ohne Abschluss vorzeitig beendet hat und die nun in bescheidenen Verhältnissen von den geringen Mieteinkünften ihrer nach Südamerika verheirateten Mutter lebt. Über ihren Vater erfährt der Leser nichts. Freundschaftliche Beziehungen pflegt Beatrix nur zu Erich, einem unglücklich verheirateten, 35-jährigen Angestellten der österreichischen Luftfahrtgesellschaft AUA, für den sie jedoch im Innersten wenig Zuneigung empfindet und dessen Sorgen und Hoffnungen zu teilen sie bloß vorgibt. Ihr Leben verstreicht so in Eintönigkeit, ohne dass Beatrix jedoch unter der Monotonie ihres Daseins zu leiden scheint, denn ihre große Passion ist der tiefe, traumlose Schlaf, der sie das als grauenvolle Belastung empfundene Alltagsleben vergessen lässt. Offensichtlich spielt Bachmann mit diesem Motiv auf den OblomowRoman von Iwan Gontscharow an, der zuerst eine ähnlich schlafsüchtige Figur in den Mittelpunkt einer Romanhandlung stellte. Nur im Schönheits- und Frisiersalon René, den sie mindestens einmal in der Woche aufsucht, verwandelt sich Beatrix in eine muntere und selbstbewusste Frau, die ihre »Angst vor dem Leben« (TKA 4, 194) vorübergehend meistern kann. Wie die meisten anderen Protagonisten aus Bachmanns Simultan-Band verkörpert auch Beatrix den Typus der – zur Vermeidung einer identifikatorischen Lektüre mit Bedacht nicht durchgängig sympathisch gezeichneten – Modernisierungsverliererin, deren negative Eigenschaften als eine Folgeerscheinung traumatischer Verletzungen aufzufassen und zu erklären sind. Um Hinweise auf derartige Traumata zu geben
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und um gleichzeitig die diesbezügliche Aufmerksamkeit und Sensibilität des Lesers zu schulen, beschreibt Bachmann einen normalen Tag im Leben ihrer Protagonistin, die um halb zehn von einem Anruf ihres Freundes Erich geweckt wird, die aber erst gegen Mittag aufsteht und die dann am Nachmittag ihren Schönheitssalon aufsucht. Zu einer aufschlussreichen Durchbrechung ihrer Lebensroutine kommt es nur, als Beatrix von einer neu angestellten Kosmetikerin zu »hurenhaft« (TKA 4, 205) geschminkt wird, woraufhin sie in Weinen ausbricht und den Salon überstürzt verlässt. Es bedarf keiner psychologischen Spezialkenntnisse, um zu bemerken, dass sexuelle Probleme hier eine gewichtige Rolle spielen (Schneider 1999, 311–313). Tatsächlich durchzieht die Sexualitätsthematik das Werk auf mehreren Motiv- und Symbolebenen. In ihrem Verhalten gegenüber Erich zeigt Beatrix »eine unbezähmbare Lust zu aufreizenden Spielen«, aber »eine noch wildere Abwehr« hindert sie innerlich daran, den Akt zu vollziehen und sich ganz auf die Beziehung mit Erich einzulassen (TKA 4, 172). Sie bleibt deshalb, wie es unter Anspielung auf den Titel eines 1894 erschienenen Romans von Marcel Prévost heißt, eine »demi-vierge« (Halbjungfrau) (TKA 4, 173). Die übermäßige lusthemmende Abwehr der Protagonistin könnte auf eine erzwungene frühe Entwicklungsbeschleunigung verweisen. Doch letzten Endes gibt Bachmanns Text keine Gewissheit, ob diese Frau ein Mädchen sein will, weil sie als Mädchen vor der Zeit zur Frau wurde. Auf eine eindeutige Diagnose wie Kindesmissbrauch oder Ähnliches zielt Bachmanns Text nicht ab. Vielmehr richtet die Autorin ihr Hauptaugenmerk auf das komplexe, widersprüchliche Innenleben der in den Mittelpunkt ihrer Simultan-Erzählungen gerückten Verliererinnenfiguren, die ihre Leidensgeschichte nicht offen vor sich her tragen, sondern die sich zurückziehen, eine Fassade aufbauen und ihre seelischen Narben – bei René oder sonst wo – überschminken lassen. Die Besonderheit der Beatrix-Figur besteht nun allerdings gerade in ihrer Passivität, in ihrem (anscheinend erzwungenen) Nicht-denken-Wollen. Erzähltechnisch hat dies zur Folge, dass sich Bachmann einer besonders subtilen Form der Rede- und Gedankenwiedergabe bedienen musste. Hierbei leiht der Erzähler einer selbst nur wenig nachdenkenden Figur seine Stimme, um ihre gleichsam latent bleibenden, nicht aktuell realisierten Gedanken und Empfindungen zu formulieren. Vielfach artikuliert der Erzähler also nicht das, was die Figur aktuell denkt und meint, sondern das, was sie gedacht hätte, sofern sie überhaupt
gedacht hätte. Dieses diffizile, von der Erzählforscherin Ann Banfield (1982) theoretisch analysierte Darstellungsverfahren spiegelt auf stilistischer Ebene den Inhalt des Werkes wider und ist als zusätzliches Mittel der impliziten Figurencharakterisierung aufzufassen. Insgesamt liefert Probleme Probleme das erzähltechnisch raffinierte Porträt einer traumatisierten jungen Frau, die aufgrund seelischer Nöte nicht den gegenwartstypischen Anforderungen an räumliche, soziale und psychische Mobilität gerecht zu werden vermag. Beatrix bleibt im Bett, konzentriert sich ganz auf Erich als ihre einzige Bezugsperson und denkt gar nicht oder nur das, was sie schon immer dachte. Diese durch ihre kosmetische Maske veranschaulichte Unflexibilität und todesähnliche Erstarrung (vgl. Meyer 1995, 102) ist jedoch keine Lösung, sondern führt letzten Endes in den Zusammenbruch. Beatrix möchte sich im Schönheitssalon ihrem Ich-Ideal näher bringen lassen, aber Bachmanns Erzählung demonstriert, dass dieses Ideal äußerst fragwürdig ist und dass darüber hinaus »die Macht gesellschaftlicher Identitätskonstrukte nicht gebrochen werden kann dadurch, daß ihnen mit einem ›privaten‹ und für authentisch ausgegebenen Identitätskonstrukt begegnet wird« (Meyer 2001, 217). Bachmann zeigt uns in Gestalt ihrer Protagonistin Beatrix eine Figur, die sich ändern müsste und sollte, die dies aber aus eigener Kraft nicht zuwege bringen kann. Hilfe muss von denen kommen, die aus dem oberflächlichen Gerede einer solchen Person jene versteckten Hinweise und Hilferufe herauszuhören vermögen, die auf die verborgenen Ursachen ihrer Passivität verweisen. Dies gilt auch, wenn man, wie Claude Heiser, die beständig frustrierte, aber dennoch von ihr selbst nicht in Frage gestellte Erwartungshaltung der Protagonistin nicht als Folge historisch-gesellschaftlicher Umstände oder psychischer Prägungen und Dispositionen, sondern als Veranschaulichung einer existentialistischen Grundhaltung interpretiert, wie sie ähnlich auch in anderen Prosawerken Bachmanns dargestellt werde (vgl. Heiser 2007, v. a. 192).
Ihr glücklichen Augen Das Leben in der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft erfordert die Fähigkeit, nicht nur die vertrauten eigenen, sondern auch andersartige Milieus und Lebensformen wahrzunehmen und sich immer wieder aufs Neue ein realitätsnahes Bild von der Vielfalt des teils vertrauten und teils befremdlichen Alltags der
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unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu verschaffen. Zu einer Überforderung kann es hierbei kommen, wenn die Balance zwischen Vertrautem und Befremdendem gestört und Letzteres als dominant wahrgenommen wird. Dies ist der Fall bei Miranda, der Protagonistin des dritten der fünf Simultan-Texte, der zuerst in einer Hörfunkaufnahme des NDR Hannover vom 7. November 1969 veröffentlicht und dann in der Zeitschrift Merkur vorabgedruckt wurde (Jg. 25, Heft 7 vom Juli 1971). Bachmanns Erzählung schildert die letzte Phase der Beziehung zwischen Miranda und ihrem Liebhaber Josef, der sie mit ihrer Freundin Anastasia betrügt und schließlich ganz verlässt. Miranda, die dies schon sehr früh kommen sieht, versucht sich ihrerseits rechtzeitig von Josef zu lösen und sich ihre tiefe innere Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Als sie jedoch später, nach der erfolgten Trennung, Anastasia und Josef, die jetzt »ein Paar« sind (TKA 4, 272), zufällig in einem Salzburger Café begegnet, kommt es zu einer jener Katastrophen, die so charakteristisch für das Ende der Simultan- und TodesartenTexte sind und die der inneren Zerstörung und Vernichtung ihrer Protagonistinnen noch einmal sinnfällig Ausdruck verleihen. Beim übereilten Aufbruch aus dem Café tritt Miranda gegen die Richtung in eine Glasdrehtür und bleibt aus Mund und Nase blutend am Erdboden liegen. Ihren besonderen Symbol- und Ausdruckswert bezieht diese Unfallkatastrophe aus ihrer unmittelbaren Verknüpfung mit dem Motiv der absichtlichen Sehund Erkenntnistrübung, das in dieser Erzählung, deren Titel das Türmerlied aus Goethes Faust II zitiert, von herausragender Bedeutung ist (vgl. Pichl 2004, 119; Burdorf 2010). Miranda übersieht nicht nur die Glastür, die ihr zum Verhängnis wird, sondern vieles andere in ihrer Umgebung. Sie ist stark kurz- und zerrsichtig, wagt es aber nicht, ihre Brille zu gebrauchen, da sie »die Wirklichkeit nicht toleriert« (TKA 4, 258) und sich ihrer Lebenswirklichkeit nicht auszusetzen vermag. Mit Brille erkennt sie hinter der Normalität des Alltags die nackte Fratze des permanenten Krieges, der in der nur äußerlich befriedeten Gesellschaft herrscht. Miranda kann sich dieser Erkenntnis nicht ständig aussetzen, ohne zugrunde zu gehen. Sie bedarf der – mehr oder minder – freiwilligen Seh- und Erkenntnistrübung, um in einer als feindlich wahrgenommenen Umgebung überhaupt existieren zu können (Schneider 1999, 327–328). Bachmann lässt ihre Protagonistin also das Gestaltungsmittel der Unschärfe nutzen, wie es gleichzeitig in der Malerei etwa
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von Gerhard Richter und mehreren Repräsentanten der Pop Art eingesetzt wurde (vgl. Wagner 2008, 117 f.). Ihre Miranda erinnert zudem stark an die blinde Gertrude aus André Gides Symphonie pastorale (1919), die Selbstmord verübt, nachdem sie durch eine Augenoperation sehend geworden ist und dadurch das Böse und Sündhafte der Welt wahrzunehmen vermag. Zweifellos stellt Bachmanns Theorem des permanenten Krieges, zu dem sie sich in Interviews auch persönlich immer wieder bekannt hat (vgl. GuI, 89, 97, 110, 111, 116, 128 u. ö.), ihre radikalste und schärfste Kritik an der Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre dar. Bachmann selbst hielt es für zumutbar, sich der Wahrheit dieses Krieges auszusetzen, um ihn aktiv und nachhaltig bekämpfen zu können; in Miranda schildert die Autorin hingegen eine Figur, die von dieser Einsicht überwältigt wird, die keine realistische Auffassung von den Möglichkeiten ihrer neuen Lebenssituation gewinnt und die deshalb auf Hilfe von außen angewiesen bleibt: »Miranda weiß nicht, was ihr fehlt, und sie möchte sagen, so hilf mir doch!« (TKA 4, 258). Über ihre Funktion innerhalb des konkreten Handlungszusammenhanges hinaus verweist diese Formulierung auf das sprachliche und geistigseelische Grundproblem, das in den Simultan-Erzählungen thematisiert wird. Miranda und die übrigen Protagonistinnen bleiben selbst im Ungewissen über die Natur ihrer Leiden, weshalb potentielle Helfer einer besonderen Sensibilität bedürfen, um die in ihrem Sprechen und Verhalten versteckten, unbewussten Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophen erkennen zu können. Um diese Sensibilität bei ihren Lesern zu schulen, bedient sich Bachmann im Simultan-Band und ergo auch in Ihr glücklichen Augen ausgiebig der verschiedenen modernen Techniken der literarischen Innenweltdarstellung. Erlebte Rede, Innerer Monolog und auktorialer Gedankenbericht treten an die Stelle von Aktionssequenzen. Äußerlich geschieht nur wenig, während sich im Inneren der Hauptfigur seelische Tragödien ereignen, an deren Ende sie genauso gründlich zerstört und vernichtet ist, als wenn sie körperlichen Schlägen und Schmerzen ausgesetzt gewesen wäre. Auch hier ist allerdings das Wegschauen für Bachmann keine Lösung. Sie widmete ihre Erzählung dem – aufgrund der autoritär-antidemokratischen Züge seines Denkens allerdings sehr umstrittenen – Arzt und Psychologen Georg Groddeck, der 1918 im 97. seiner »Vorträge« beschrieben hatte, wie das Unbewusste die Wirklichkeitswahrnehmung beeinflussen
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und bis hin zur Erblindung zensieren kann (Groddeck 1986). Das Fragment eines von Bachmann nicht publizierten Essays über Groddeck (KS, 430–438) belegt, dass die Autorin mit dessen unkonventioneller Psychologie vertraut war. Nicht ihre Abneigung gegen Brillen, sondern ihre psychisch bedingte Fehlsichtigkeit ist vor dem Hintergrund dieser psychosomatischen Theorie das Hauptproblem Mirandas. Insofern ihre psychischen Probleme gesellschaftlich bedingt sind, können feministische Interpretationen in Bachmanns Erzählung nicht zuletzt eine Studie über das Funktionieren jener patriarchalen Sanktionsmechanismen erkennen, die eine Disziplinierung und Normierung des weiblichen Sehens sicherstellen sollen (vgl. Kleinspehn 1991, 103–108). Darüber hinaus kann die Krankheit im Sinne von Bachmanns Groddeck-Essay als eine künstlerische Produktion aufgefasst werden (KS, 433), wodurch Miranda nicht nur als Modernisierungsverliererin, sondern auch – bis zu einem gewissen Grade – als Vorbildfigur erschiene, die sich der als scheinhaft erkannten modernen Welt gezielt verweigert (Dusar 1994; kritisch dazu Bannasch 1997, v. a. 8, 11–13, 35–39, 209). Durch ihre – letztlich fatalen – Versuche, »eine Geschichte für alle [zu] erfinden, die erträglich und schöner ist als die wirkliche« (TKA 4, 262), kann Miranda darüber hinaus als eine poetologische Reflexionsfigur gedeutet werden, die das Scheitern eines interessegeleitet-idealisierenden Geschichtenerzählens vor Augen führt.
Das Gebell Die Generation der um 1900 Geborenen musste sich im Laufe ihres Lebens auf drei Gesellschaftssysteme einstellen. Zunächst erlebte sie bis 1918 das Ende jener bürgerlichen Ära, deren Wertvorstellungen von 1945 bis gegen Ende der fünfziger Jahre vorübergehend wiederbelebt wurden. Sie machte dann die Zeit der Naziherrschaft durch, die in mancher Hinsicht vorbürgerliche, feudalistisch-autoritäre Strukturen wiederaufleben ließ. Und sie wurde Zeuge jener Demokratisierung und Pluralisierung, die zuerst zwischen 1918 und 1933 stattfand, die nach 1945 institutionell wiederbelebt und von den 1960er Jahren an, nach einem durchgreifenden Mentalitätswandel, intensiver mit Leben erfüllt wurde. Fragen der geistig-seelischen Identitätsfindung, der Orientierung in Wert- und Gesellschaftsordnungen sowie der Schaffung einer eigenen kulturellen und sozialen Lebenswelt stellten sich für diese Generation immer wieder und in verschärf-
ter Form. Die neuere Mentalitätsgeschichte lehrt, dass einige den turbulenten äußeren Entwicklungsgang der Gesellschaft innerlich nicht vollständig mit vollzogen und deshalb geistig nie oder zumindest verspätet im demokratischen Pluralismus ankamen. Bachmanns Erzählung Das Gebell, die in der Süddeutschen Zeitung (13./14.5.1972) vorabgedruckt wurde, verdeutlicht diese Problematik am Beispiel der 85-jährigen Frau Jordan, einer in bescheidenen Verhältnissen lebenden Witwe, die vor dem Ersten Weltkrieg als Gouvernante in einer reichen griechischen Familie arbeitete und die nach dem Tod ihres Mannes und der Erziehung ihres Sohnes isoliert in einer heruntergekommenen Einzimmerwohnung in Wien lebt. Obwohl dieser Sohn, der aus Bachmanns Todesarten-Zyklus bekannte Erzschurke Leo Jordan, ein berühmter und wohlhabender Psychiatrieprofessor ist, lässt er seine Mutter in Armut und Einsamkeit ihr Dasein fristen. Gleichwohl bleibt die schon etwas verwirrte, gebrechliche und lebensuntüchtige Alte in unkritischer Bewunderung für ihren Sohn befangen. Nur ihre sich steigernden akustischen Halluzinationen – sie hört lautes Bellen wie von ihrem früheren Hund Nuri, der Leo wütend anzubellen pflegte – veranschaulichen ihren stummen inneren Protest gegen das rücksichtslose Verhalten ihres Sohnes und illustrieren gleichzeitig Bachmanns Verfahren der Umfunktionierung surrealistischer Darstellungstechni ken (vgl. Trufin 2016). Leo Jordan verkörpert hierbei das entfesselte Konkurrenzverhalten, das den freien Wettbewerb als Freibrief für die egomanische Durchsetzung eigener Interessen und Machtansprüche missbraucht. Dem weiß seine Mutter nichts entgegenzusetzen, weil sie sich innerlich nicht fortentwickelt und sich nicht an die neuen Gegebenheiten angepasst hat. Ihre Glanzzeit als geliebte Gouvernante, an die sie nostalgische Erinnerungen pflegt, liegt vor dem Ersten Weltkrieg, also in jenem bürgerlichen Zeitalter, das die Ideologie des Familiensinns kultivierte und der Frau eine inferiore Position als Mutter, Geliebte und Hausfrau zuteilte. Bachmanns Erzählung ist allerdings keine Abrechnung mit dieser Unflexibilität, sondern eine Kritik an jenen, die flexibel genug sind, um über Leichen zu gehen. Denn es wird nicht wie eine persönliche Schuld, sondern wie eine verständliche Schwäche geschildert, dass die alte Frau Jordan mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebt. Bedeutend problematischer ist der Fall ihrer Schwiegertochter, der im Mittelpunkt von Bachmanns Romanfragment Das Buch Franza stehenden Franzis-
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ka, die sich anschickt, die Opferrolle ihrer Schwiegermutter zu übernehmen und fortzusetzen. Durch ihre innere Wesensverwandtschaft und die Ähnlichkeit ihres Verhaltens gegenüber Leo erweisen sich beide Frauen als Vertreterinnen des gleichen, nur durch Alter und äußere Lebensumstände voneinander unterschiedenen Charaktertyps (Schneider 1999, 341–343). Als eine Grundthese von Das Gebell lässt sich demnach festhalten, dass die weibliche, letzten Endes der Familienideologie des bürgerlichen Zeitalters entstammende Opferrolle manchmal unterschwellig von Generation zu Generation vererbt und wiederholt wird. Durch ein hohes Maß an Innenweltdarstellung (auktorialer Gedankenbericht und Erlebte Rede) macht Bachmanns Erzählung die Gedanken und Empfindungen beider Frauen transparent und liefert damit einen wichtigen, kritisch-emanzipatorischen Beitrag zu einer literarischen Psychologie von Viktimisierungsprozessen. Dabei wird auch explizit auf das – letzten Endes ökonomische – »Interesse« verwiesen (TKA 4, 288), das beide Frauen an Leo kettet. Doch die akustische Halluzination des wütenden, gegen Leo gerichteten Hundegebells, in der die alte Frau Jordan zuletzt versinkt, artikuliert jene innere Abwehr, die den unfreiwilligen Komplizen vom Täter unterscheidet. Anstatt sich gegenseitig über Leos wahren Charakter aufzuklären, täuschen allerdings beide Opfer sich selbst und ihr Gegenüber über das Ausmaß ihrer inneren Verwundungen hinweg. Sie gewinnen bei aller Distanzierung von Leo bis zuletzt nicht genügend Klarheit über das Geflecht der Zwänge und Interessen, in dem sie sich verheddern, und bleiben dadurch letztlich »tragische Gestalten« (Nowara 2006, 572). Franziskas löbliche Solidarität mit ihrer vernachlässigten Schwiegermutter reicht nicht aus, um der aggressiven Egomanie Jordans wirkungsvoll und nachhaltig entgegenzutreten. Die von der Bachmann-Forschung vergleichsweise wenig beachtete Erzählung ist in diesem Sinne ein Plädoyer für einen reflektierteren, wirkungsvolleren weiblichen Widerstand gegen die skrupellose Tyrannei des Vaters, des Sohnes und des Ehemannes auf dem Wege einer Bewusstmachung und Überwindung von Restbeständen der obsoleten patriarchalischen Familienideologie des bürgerlichen Zeitalters im Bewusstsein der Frau. Bachmann knüpft damit in vielerlei Hinsicht an die Familien- und Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule an, wie sie schon in der vielzitierten Studie über Autorität und Familie (1936) von Max Horkheimer ausformuliert und soziologisch begründet worden war.
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Drei Wege zum See Diese letzte Erzählung des Simultan-Bandes rekurriert mehrfach explizit auf den Habsburg-Mythos, der besagt, dass in der K. u. K.-Monarchie die verschiedenen Ethnien Österreich-Ungarns bis zum Ersten Weltkrieg friedlich miteinander gelebt hätten (vgl. Magris 1988). Bachmanns Protagonistin ist in dieser Hinsicht desillusioniert (vgl. TKA 4, 416), doch als politisch-gesellschaftliche Utopie behält dieser Mythos für sie seine Faszinationskraft. Er steht für die Möglichkeit, den Pluralismus des demokratischen Zeitalters – im Privaten wie im Öffentlichen – friedlich zu gestalten und nicht in einen offenen oder versteckten Verdrängungswettbewerb umschlagen zu lassen. Drei Wege zum See schildert einige Tage im Leben der in Paris wohnenden 49-jährigen Elisabeth Matrei, einer international tätigen und erfolgreichen Fotojournalistin, die nach der Teilnahme am Hochzeitsfest ihres in London lebenden Bruders für einige Tage zu ihrem Vater nach Klagenfurt fährt und die dort auf langen einsamen Waldspaziergängen über ihre beruflichen und privaten Schwierigkeiten nachsinnt. Wie der Leser hierbei erfährt, erregt die Heirat ihres wesentlich jüngeren Bruders in Elisabeth nicht nur Gefühle der Freude und des Glücks, denn mit Robert ist sie früher in einer fast inzestuösen, die Grenzen der normalen Geschwisterliebe überschreitenden Weise verbunden gewesen, so dass sie seine Vermählung als direkten Liebesverlust empfindet. Darüber hinaus führt ihr das Eheglück des Bruders erneut das eigene Unglück in Liebesangelegenheiten vor Augen. Ihre Liebe zu Franz Joseph Trotta ist mit Missverständnissen belastet und führt zu keiner dauerhaften Verbindung, wobei Name und Genealogie der Trotta-Figur an Joseph Roths Romane Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938) anschließen, in denen der Niedergang des Habsburgerreiches und die Ambivalenz des Habsburg-Mythos geschildert werden (vgl. Omelaniuk 1983; Lensing 1985; Bannasch 1997, 150– 152; Hoell 2000, 83–179; Krylova 2013). Dabei schwelgt Bachmann keineswegs in obsoleter K. u. K.Nostalgie, sondern ist bemüht, »den Habsburg-Mythos seiner historischen Bindung und seiner rückwärtigen Perspektive zu entkleiden« (Stuckel 2001, 38; ähnlich Spencer 2008, 221). Elisabeths Ehe mit Hugh, einem jungen New Yorker Architekten, ist nur von kurzer Dauer, weil dieser seine homosexuelle Neigung nicht mit einer heterosexuellen Verbindung zu vereinbaren vermag. Und von Philippe, ihrem aktuellen, erst 28 Jahre alten Geliebten, plant sie sich zu
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II Das Werk – B Erzählprosa
trennen. Gleichwohl lässt es sie nicht unberührt, als Philippe ihren Plänen noch zuvorkommt und ihr nach der Rückkehr aus Klagenfurt gesteht, die Tochter eines gemeinsamen Bekannten, mit dem Elisabeth früher kurz liiert war, geschwängert zu haben und nun heiraten zu müssen. Irritation und Verzweiflung der Protagonistin kann es deshalb nicht mindern, als ihr ein jugoslawischer Vetter Trottas bei einem überraschenden Zusammentreffen am Wiener Flughafen eröffnet, sie seit Jahren heimlich zu lieben (Schneider 1999, 352–354). Elisabeth ist, wie diese Handlungsübersicht verdeutlicht, in der Tat der ›flexible Mensch‹ (Sennett 1998) par excellence, ein typisches »Produkt der dominanten Kultur« ihrer Zeit (Mahrdt 1996, 45). Als »a victim of the system« ist sie »incapable of saying a single true word about her life« (Lennox 2004, 217). Ihre extreme räumliche Mobilität macht sich im ständigen Wechsel ihrer Wohnorte bemerkbar, wird aber besonders durch ihre vergeblichen Bemühungen veranschaulicht, auf den im Titel des Werkes genannten ›drei Wegen‹ den Wörther See zu erreichen. Diese drei falsch kartographierten Wanderwege stehen offenkundig für Elisabeths verschlungene Lebenswege und sind durch die Erinnerungen der Protagonistin jeweils mit bestimmten Partnerschaften, Wohnorten und Berufsfeldern assoziiert, die sich für sie als Irrwege oder Sackgassen entpuppt haben. Elisabeths soziale Mobilität zeigt sich darin, dass sie inzwischen einer anderen Bildungs- und Gesellschaftsschicht angehört als ihr Vater, weshalb ihnen die gemeinsame Denk- und Sprechweise als Basis für eine intimere Verständigung abhanden gekommen ist. Als rechtschaffener und biedersinniger, aber zugleich etwas rückständiger und schlichter Alt-Österreicher steht Herr Matrei dem Kosmopolitismus seiner Tochter, die sich als »Exilierte« versteht (TKA 4, 384), mit hilflosem Unverständnis gegenüber. Wenn Elisabeth ihrem Vater bei einem Schwimmausflug »I love you« zuruft (TKA 4, 445), ohne akustisch und sprachlich von ihm verstanden werden zu können, äußert sich darin eine nur noch emotionale, kommunikativ nicht mehr vermittelbare Anhänglichkeit. Elisabeths psychische Mobilität und Flexibilität tritt am deutlichsten bei der Beschreibung ihrer zahlreichen Liebesbeziehungen zutage. Keine ihrer vielen Partnerschaften erweist sich als dauerhaft; die große Liebe ihres Lebens, dieses Grundelement der Familienideologie des bürgerlichen Zeitalters, erblickt sie heute in diesem und morgen in einem anderen Partner. Intensive Liebesbeziehungen wechseln mit ober-
flächlichen Abenteuern und problematischen Freundschaften ab. Darin liegt kein Versagen oder gar eine moralische Schuld der Protagonistin, sondern eine Anpassung an ihre spezifischen Lebensumstände, die ihr keine Aufrechterhaltung dauerhafter Sozialbeziehungen gestatten und letztlich eine »Identitätsstörung« hervorrufen (Bombitz 2008, 81). Die Auflösung des traditionellen Familienmodells beinhaltet sowohl die Chance zur Befreiung als auch das Risiko der Vereinsamung. Beides veranschaulicht Bachmann im Lebensgang ihrer Protagonistin, an dessen Ende »Elisabeth has given up trying to look for certainties in life, whether in her career, personal relationships, hiking map or narratives of national identity« (Krylova 2013, 58 f.). So überrascht es nicht, dass sie sich zuletzt in einen gefährlichen Heroismus flüchtet und eine riskante journalistische Mission nach Saigon übernimmt. Mit einem Zitat von Ludwig Anzengruber hat Sigmund Freud 1915 in seiner Studie Zeitgemäßes über Krieg und Tod die Geisteshaltung, in der sich Elisabeth ganz am Ende des Werkes befindet, in die Formel »Es kann dir nix gschehn!« gekleidet, eine Formel, die Bachmann offenkundig in den letzten zwei Sätzen ihrer Erzählung zitiert (TKA 4, 471; vgl. Freud 1993, 56). Drei Wege zum See verdeutlicht damit noch einmal, dass der eigentlich wünschenswerte Pluralismus in Daseinskampf und brutalen Verdrängungswettbewerb ausarten kann, wenn er nicht von Sozialität, Moralität, Altruismus begleitet wird. Elisabeths Beziehungspersonen sind hierzu nur in eingeschränktem Maße fähig und gewillt. Neben ihrer offensichtlichen gesellschaftskritischen hat Bachmanns viel diskutierte Erzählung auch noch eine poetologische Dimension. In Gesprächen mit ihrem Freund Trotta kommt Elisabeth zu der Einsicht, dass in ihrer Tätigkeit als Kriegsberichterstatterin »etwas Beleidigendes« liegen könne und dass ihre Fotos von Kriegsopfern »nicht zur Stimulierung für Gesinnung« missbraucht werden dürften (TKA 4, 386). Dies impliziert zunächst eine scharfe Kritik an den Massenmedien, wie sie in ähnlicher Form auch bei Walter Benjamin und Siegfried Kracauer zu finden ist (Bannasch 1997, 106 f.). Bachmanns Formulierungen lassen sich aber auch auf die Todesarten- und Simultan-Texte selbst anwenden. Denn Bachmann führt dem Publikum darin Gestalten vor, die im permanenten alltäglichen Krieg harte Blessuren davontragen. Eine Beleidigung wäre es, daraus nur phrasenhafte politische Bekenntnisse abzuleiten und die Betroffenen sich selbst zu überlassen. Vielmehr muss die
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Hilfsfähigkeit des Rezipienten ganz unmittelbar angesprochen und geschult werden. Dass Bachmann dies für möglich hielt, zeigt der im Text enthaltene Hinweis auf Jean Amérys Essay Die Tortur (Merkur, 1965), in dem es dem Autor gelungen sei, »was mit ihm geschehen war, in der Zerstörung des Geistes aufzufinden« (TKA 4, 390) und authentisch zu versprachlichen (vgl. Hoell 2000, 83–179). Demnach stellen auch die Texte des Simultan-Bandes einen Versuch dar, Leiderfahrungen zu formulieren, ohne dabei Sensationslüsternheit oder politische Gesinnungsäußerungen zu provozieren oder auch nur zu ermöglichen. Der Stil dieser Erzählungen und so auch von Drei Wege zum See ist deshalb erzähltechnisch komplex. Das hohe Maß an Innenweltdarstellung erzwingt dabei eine besondere Konzentration und Aufmerksamkeit. Bachmann lässt ihre Figuren denken und sprechen, ohne in offene Anklagen zu verfallen. Vielmehr zeigt ihr Text eine »charakteristische Offenheit der Perspektivierung, bei der die Verantwortung für eine Kritik der Reproduktion von Weiblichkeitsklischees dem Leser überlassen wird« (Folkvord 2003, 196). Auf subtile Weise wird in ihrer Erzählung das feine Gewebe aus Selbsttäuschungen und Selbsttröstungen dargestellt, in das sich Viktimisierte oftmals einzuweben versuchen und das der Leser erst durchdringen muss, um aus der Fülle der Bewusstseinsinhalte dieser Protagonistinnen die entscheidenden Hinweise herauszufiltern, die den Grund ihrer Leidenserfahrungen enthüllen: »Der Leser wird zum Detektiv, angewiesen auf die Indizienketten einer verräterischen Sprache« (Bannasch 1997, 111). Von großer Bedeutung ist hierbei Bachmanns ausgefeilte Technik der Sympathielenkung, denn ihre Verliererfiguren werden nicht einseitig positiv gezeichnet, sondern mit all ihren Schwächen, die geeignet sind, potentielle Helfer abzuschrecken. Auch Elisabeth ist in dieser Hinsicht ein ambivalenter Charakter, was besonders ihre Haltung gegenüber ihrer neuen Schwägerin und ihre Hintergedanken gegenüber Philippe verdeutlichen. Drei Wege zum See unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich von einem frühen Text wie Jugend in einer österreichischen Stadt, der ja in Thematik und Motivik viele Ähnlichkeiten aufweist, der aber auf der Prämisse basiert, dass der Leser durch plötzliche gedankliche Einsichten (dort: in die ideologische Funktion des Heimatgedankens) positiv beeinflusst werden kann. Optimistischere Interpretationen der Erzählung argumentieren, dass »in Elisabeth’s gradual shedding of illusions and growing independence of mind there is a movement toward, in Adorno’s sense, ›Mündig-
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keit‹ und ›kritischer Selbstreflexion‹« (Spencer 2008, 235) bzw. dass die »Lebensform Elisabeths [...] Analogien zur jesuanischen bzw. christologischen Existenz [aufweist]« (Peters 2009, 117). Postuliert wurde auch, dass in Drei Wege zum See trotz aller Skepsis ein utopisches Moment erhalten geblieben sei, denn der Text beinhalte zwar »keine alternativen Wege für Elisabeth, aber die Forderung, dass es sie geben müsste« (Waldschmidt 2010, 222).
Rosamunde Im Umkreis der Arbeit am Simultan-Band sind eine Reihe von Erzählfragmenten entstanden, die Ingeborg Bachmann nicht mehr für diese Buchpublikation ausgearbeitet hat (vgl. Kommentar in TKA 4, 547–555). Hierzu gehört die relativ weit gediehene Erzählung Rosamunde, deren überlieferte Entwürfe (wie die der übrigen Erzählfragmente aus dem Simultan-Umfeld) in der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts ediert worden sind. Bis auf die finale Katastrophe, mit der alle fertiggestellten und publizierten Texte des Simultan-Typs enden, sind sämtliche Elemente eines späten Bachmannschen Prosawerkes erkennbar. Der Text erzählt die Geschichte der dreißigjährigen Dr. Rosamunde Ranner, die als Assistentin am Psychologischen Institut der Wiener Universität arbeitet und die kurz vor einem seelischen Zusammenbruch zu stehen scheint. Ihr Fehler ist es, »die Ideen ganz andrer Jahrhunderte mit sich zu schleppen« (TKA 4, 26) und sich in Träumereien zu verlieren, die in konzentrierter, verschärfter Form die Liebesauffassung und das Geschlechterrollenideal des bürgerlichen 19. Jahrhunderts umkreisen. Dazu gehört insbesondere eine ans Masochistische grenzende Vorstellung von weiblicher Inferiorität, die durch krasse Vergewaltigungsphantasien veranschaulicht wird (TKA 4, 24; vgl. Kommentar 562–564), sowie eine romantische Vorstellung vom Traummann als einem Erlöser, der unter der Schale den Kern, in der Assistentin die Prinzessin entdeckt und der ihr auf diese Weise zur Vollendung ihrer weiblichen Identität verhilft (TKA 4, 25). Bachmanns Erzählung zielt darauf ab, diese Liebes-, Weiblichkeitsund Identitätskonzeption als unzeitgemäß und Vernichtung bringend zu entlarven. Zu diesem Zweck werden Rosamundes Gedanken und Empfindungen jedoch nicht aus auktorialer Perspektive kritisiert oder gar im Stile Theodor Fontanes oder Thomas Manns ironisiert. Vielmehr werden sie – wie in allen Texten des Todesarten-Projektes und des Simultan-Bandes zu
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II Das Werk – B Erzählprosa
beobachten – im Rahmen einer personalen Erzählsituation mit einem hohen Anteil an Innenweltdarstellung (Erlebte Rede, Innerer Monolog) in ihrer fatalen, auf die Katastrophe zusteuernden Konsequenz offengelegt und erzählerisch objektiviert. Seine besondere Bedeutung gewinnt der Text durch den Umstand, dass die Betroffene selbst Psychologin ist, ohne daraus Vorteile im Hinblick auf ihre Chancen zur Selbstreflexion oder Selbsterkenntnis ziehen zu können. Es kann als scharfe Kritik Bachmanns an der wissenschaftlichen Psychologie ihrer Zeit aufgefasst werden, dass Rosamunde, obwohl sie alles über Neurosen und Projektionen weiß, diese Lehren und Erkenntnisse nicht für die Lösung ihrer eigenen Probleme fruchtbar machen kann. »Die Psychologie hat doch noch gar nicht angefangen«, lässt Bachmann ihre Protagonistin am Ende des fünften Textfragmentes denken (TKA 4, 41). Im Hinblick auf die im Text genannten Schulen der Psychologie (v. a. Psychoanalyse und Behaviorismus) könnte dies in die provozierende These einmünden, dass die Lehren von Freud, Wilhelm Reich und John B. Watson der Kultur des bürgerlichen 19. Jahrhunderts zugerechnet werden müssen und keine Lösung für die psychischen Probleme des Menschen der Gegenwart bereithalten (vgl. Bannasch 1997, 8, 18–22). Zu diesen Problemen gehören vor allem die Identitätsauffassung und die Neugestaltung sozialer Beziehungen. Beides spielt in Rosamunde eine bedeutende Rolle. Die innenperspektivische Erzählweise Bachmanns erlaubt es, immer wieder auf Rollenkonflikte der Protagonistin hinzuweisen, die letzten Endes feststellt, dass in ihr keine Prinzessin schlummert, sondern ein »riesiger freier Raum« (TKA 4, 39) existiert, den sie nicht auszufüllen weiß. Rosamunde steht ihrer eigenen beruflichen, aber auch ihrer privaten Existenz mit Distanz gegenüber; sie erlebt die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit nicht als Freiheitsge winn, sondern als Wesensverlust. Auch die Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen enthüllt den für sie charakteristischen, von Bachmann erzähltechnisch objektivierten Gegensatz zwischen Sein und Schein. Der ichbezogene, ehrgeizige Theaterkritiker Sigurd Wawra, mit dem sie liiert ist, hat keine Vorstellung davon, was in ihrem Inneren vor sich geht, und wird von ihr mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachtet. Wenn Rosamunde Wawras Hand küsst, mit der er sie im Affekt geohrfeigt hat (TKA 4, 28), entlarvt dies noch einmal ihre Vorstellung von Liebe, Sexualität und Weiblichkeit. Dass »Nachdenken nicht ihre Stärke war« (TKA 4, 31), wird Rosamunde zum Verhängnis,
weil sie keine Helfer findet, die sich in ihre Gedanken und Empfindungen hineinversetzen und die Gefahr, in der sie schwebt, erkennen können. Wie Nadja, Beatrix oder Elisabeth geht damit auch Rosamunde der sicheren Katastrophe entgegen. Rosamunde ist ein für Bachmanns späte Poetik charakteristisches, über eine bloße Entwurfsskizze weit hinausreichendes Prosafragment von hohem literarischen Wert, das den vollendeten und publizierten Texten des Simultan-Bandes an die Seite gestellt zu werden verdient.
Kleinere Erzählfragmente aus dem Simultan-Umfeld Das kurze Prosafragment Die ausländischen Frauen (TKA 4, 44 f.) schildert ein Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau in einem Salzburger Restaurant, in dessen Verlauf die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, äußerlichem Einverständnis und innerer Distanz zwischen den beiden enthüllt wird. Der Mann führt das große Wort und prahlt mit seinen Liebeserfahrungen in Italien, Amerika und Frankreich. Die Frau verhält sich defensiv, stimmt allem zu und lässt sich von ihm belehren, doch ihre in Erlebter Rede und auktorialem Erzählerbericht enthüllten Gedanken und Empfindungen beweisen, dass sie nicht bei der Sache ist, von den ihr aufgezwungenen Gesprächsthemen abschweift und innerlich unberührt bleibt. In welchen Handlungszusammenhang Bachmann diese Episode hätte stellen wollen, ist nicht rekonstruierbar, doch Szenerie, Inhalt und Darstellungsstil des Textbruchstückes sind so charakteristisch für die späte Prosa der Autorin, dass in jedem der Todesarten- und Simultan-Texte (mit Ausnahme von Das Gebell) Platz für diese oder eine ähnliche Szene gewesen wäre. Demgegenüber schildert das sogenannte Sissi-Fragment die bis zur Identitätskrise gehenden Spannungen und Widersprüche im Inneren einer jungen Frau namens Sissi, die ihre Freunde Barbara und Lajos und deren Kinder Felicitas und Peter besucht. Sissi hat mit Lajos ein Verhältnis, das sie jedoch zu beenden versucht, weil sie ihr eigenes Verhalten »ungerecht« und »widerwärtig« findet (TKA 4, 47 f.), gleichzeitig aber Schwierigkeiten hat, sich endgültig innerlich von Lajos zu lösen. So gerät sie in eine »unendlich[e] Entfernung [...] zu ihrem eigenen Ich« (TKA 4, 48); ihre »unhaltbare Situation« (ebd.) bleibt letzten Endes ungeklärt. Das Textfragment enthält keine Hinweise auf die Ursachen dieser Adaptionsstörung oder auf mögliche Lösungen des seelischen Konfliktes der Protagonistin. Es ist da-
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mit in den weiteren Problemhorizont einer Neuordnung der Partnerbeziehungen unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Pluralisierung einzuordnen, wie Bachmann ihn immer wieder thematisiert hat. Das kurze Prosafragment Freundinnen schließlich entlarvt den Mythos des ›Gesprächs unter Freundinnen‹, indem es die Äußerungen von Marietta und der sie besuchenden Gisi mit den Hintergedanken beider Frauen kontrastiert: »Nein, zwischen uns [Marietta und Fritz] ist alles ganz gut, wie immer, murmelte sie, und sie dachte, warum erzähle ich ihr [Gisi] denn nicht, wie es wirklich ist, und warum lasse ich Gisi andauernd im Glauben, ich sei mit Fritz zusammen, wenn ich doch jeden dritten Tag Lucien treffe, aber schließlich seh ich doch nicht ein, warum ich das dieser Frau erzählen soll, es geht schließlich nur uns beide was an« (TKA 4, 54). Die Heuchelei und Unaufrichtigkeit beider Freundinnen wird hierbei nicht als individuelle Schwäche oder Charakterfehler dargestellt. Im Hintergrund steht vielmehr das in Bachmanns Spätwerk immer wieder thematisierte Problem der Rollenkonflikte. Auch die Begegnung mit der ›besten Freundin‹ erweist sich als Rollenspiel: In beiden Protagonistinnen bleibt deshalb eine innere Distanz gegenüber der anderen erhalten. Den sich hieraus ergebenden Chancen der seelischen Verselbständigung werden in Bachmanns Text auch die Nachteile und Risiken gegenübergestellt. Marietta bekennt sich explizit zu einer äußerst liberalen Sexualmoral (TKA 4, 55), ist jedoch gleichzeitig »tiefverletzt« (TKA 4, 54), wenn Gisi an alte Wunden rührt und sie an vergangene unglückliche Liebesbeziehungen erinnert. Das Textfragment gehört aufgrund seiner thematischen Ausrichtung offenkundig in den Umkreis der Simultan-Erzählungen. Quellen
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Jost Schneider
C Andere Werke 17 Jugendwerke Schon in ihren Schuljahren begann Ingeborg Bachmann literarisch zu schreiben, verfasste Gedichte, Dramen und Prosa und komponierte Lieder. Im Rückblick hat sie die Musik an den Anfang ihres Schreibens gestellt: »Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper sein sollte, habe ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen singen sollten, also habe ich es selbst schreiben müssen. Dann ist es lange Jahre nebenher gelaufen. Aber dann habe ich ganz plötzlich aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles weggeworfen, weil ich gewußt habe, daß es nicht reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Und dann habe ich nur noch geschrieben« (GuI, 124). Einige Notenschriften im literarischen Nachlass in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien scheinen dieses frühe Ineinander von Schreiben und Komponieren zu bezeugen. Doch überliefert der Nachlass auch die literarischen Arbeiten der Schülerin nur in jener äußersten Selektion, die diese frühen Versuche in der Zeit zwischen ihrem Abitur und dem Aufbruch nach Wien, also zwischen Sommer 1944 und September 1946, erfahren haben. Vom eigentlichen Jugendwerk ist nur weniges erhalten, so das Drama Carmen Ruidera, die Erzählung Das graue Haus oder die Gedichte Goethe, Ostern und Wunsch. Der ganz überwiegende Teil der als ›Jugendwerke‹ bezeichneten Texte, die aus dem elterlichen Haus in Klagenfurt bzw. dem großelterlichen Haus in Obervellach in den Wiener Nachlass gelangt sind, entstand in den beiden Jahren, die die Schwelle zwischen dem Jugendwerk und der frühen Phase des Hauptwerks bezeichnen. Vor allem die oftmals datierten Gedichtentwürfe dokumentieren für diese Zeit bereits die intensive Arbeit am literarischen Text in mehreren Fassungen und teils handschriftlichen (z. B. in einem Schulheft), teils maschinenschriftlichen Ab- und Neuschriften. Gedichtentwürfe aus dem Frühjahr 1945 werden im Sommer in Obervellach wieder aufgenommen, Fas-
sungen aus diesem Sommer während des ersten Studiensemesters in Innsbruck im Herbst überarbeitet usw. Gelegentlich hat die angehende Autorin diesen Arbeitsprozess sogar selbst festgehalten. So führt ein Entwurf zu dem Gedicht Offenbarung z. B. die Angabe »Februar 45 / Neubearbeitet Okt. 45 Arzl« (N5581), ein anderer zu dem Gedicht Depressionen die Datierung »25.XI.45 (Vom 9.II.45)« (N6289). Der mit dem Studienwechsel nach Wien verbundene Eintritt in das literarische Leben Nachkriegsösterreichs bezeichnet dann das Ende dieser Übergangsphase, in der das jugendliche Schreiben schriftstellerische Ernsthaftigkeit gewinnt und trotz der unverkennbaren Spuren der Bachmann damals zugänglichen literarischen Traditionen bereits deutliche Ansätze der Eigenständigkeit entwickelt.
Jugendwerke aus der Schulzeit Schon in Bachmanns Jugendwerk stehen Lyrik und Prosa nebeneinander, entsprechend der traditionellen Gattungstrias ergänzt durch das Drama. Insbesondere die frühesten überlieferten Texte zeigen den deutlichen Einfluss von Schullektüren wie Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, Heinrich von Kleist und Joseph von Eichendorff (vgl. Hapkemeyer 1990, 19– 22). Die wohl frühesten im Nachlass zugänglichen Gedichtentwürfe – Goethe (N5388) und Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust (N5391) aus dem Sommer 1942 – sind unmittelbar von Goethe inspiriert (Bartsch 1997, 36; Schaunig 2014, 112–119). Im gleichen Jahr entsteht »als Historisierung der aktuellen Erfahrung eines ›besetzten Landes‹« (Weigel 1999, 57) das historische Versdrama Carmen Ruidera. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen aus dem spanischen Unabhängigkeitskampf gegen Napoleon 1808, das seinen Ton und sein Freiheitspathos von Schiller übernimmt und mit Kleists Pflichtethos verknüpft. Der Widerstand Zaragozas gegen die französische Besatzung dient als Folie für den tragischen Konflikt von Pflicht (nationa-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_17
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II Das Werk – C Andere Werke
ler Freiheit) und Liebe (privatem Glück), dessen Opfer die Titelheldin wird. Bemerkenswert an der verwickelten Handlung, an deren Ende der französische Besatzungsoffizier Rimaut seine Geliebte Carmen im Zorn ersticht, ist vor allem die »Vertauschung der traditionellen Geschlechterrollen« (Höller 1999, 16): Während Rimaut einen Kompromiss zwischen privatem Glück und nationalem Gehorsam sucht, erklärt Carmen »abstrakte Pflicht« für »das wahrhaft Schöne« (N5512), opfert ihre Liebe »dem geschichtlichen Gesetz« (Höller 1999, 16) und wird so zur »Heiligen« des spanischen Freiheitskampfes (N5516). Dieser naiven Verklärung des Nationalismus gegenüber bedeutet die ebenfalls in den napoleonischen Kriegen spielende historische Erzählung Das Honditschkreuz (Ende 1943), wie Hans Höller herausgearbeitet hat, »den entscheidenden Schritt zum literarischen Bruch mit der NS-Heimat-Ideologie« und »ein bisher kaum gewürdigtes Werk der inneren Emigration« (Höller 1999, 14 f.). Offenbar kam die Anregung von Bachmanns Vater, der ihr »das Heimatbuch ›AltHermagor. Geschichtliche Erinnerungen‹ (1931) von Hubert Pietschnigg als Vorlage« empfahl (Hoell 2001, 30). Waren die Befreiungskriege gegen Napoleon von der nationalsozialistischen Geschichtspropaganda – z. B. in einer Klagenfurter »Grenzlandausstellung« (1943) – deutschnational vereinnahmt worden, so entwirft Bachmann in dieser Jugenderzählung aus dem Dreiländereck Südkärntens dagegen ihre »Idee einer Heimat im Aneinandergrenzen« (Höller 1999, 13, 15). Gegen den nationalsozialistischen Rassismus zeigt die Erzählung in ihrem Schauplatz Hermagor/ Gailtal – dem Raum von Bachmanns Ferienaufenthalten im großelterlichen Obervellach – ein Miteinander der Volksgruppen, als deren Inbegriff die deutsch sprechenden Slowenen, die »Windischen«, bezeichnet werden: »Mit ihrem Dasein ist es, als wollten sie die Grenze verwischen, die Grenze des Landes, aber auch der Sprache, der Bräuche und Sitten« (W 2, 491). Bemerkenswert ist dieser Text aber auch in seiner souveränen Handhabung des Genres der historischen Erzählung. Mit Hilfe der seit Walter Scott charakteristischen Figur des ›mittleren Helden‹, dessen intellektuelle und soziale Sonderstellung ihm Zugang zu verschiedenen Seiten des historischen Konflikts eröffnet, gelingt Bachmann eine lebendige Darstellung der napoleonischen Besatzung in Südkärnten sowie der Anfänge des Befreiungskrieges, an deren Opfer (auf österreichischer wie französischer Seite) am Schluss ein lokales historisches Gedenkzeichen – das Honditschkreuz – erinnert. Der innere Konflikt des Pro-
tagonisten Franz Brandstetter, an dessen ›sinnlosen Tod‹ das Honditschkreuz auch gemahnt (Gehle 1995, 69), zwischen seiner Ausbildung zum Theologen auf der einen Seite, seiner nationalen »Erregung« (W 2, 514) und seiner Liebe zu einer jungen Kellnerin auf der anderen Seite wird nicht mehr (wie in Carmen Ruidera) abstrakt, sondern psychologisch glaubhaft als Problematik jugendlicher Selbstfindung dargestellt und im Sinne der historischen Topik der Zerrissenheit entfaltet. Die realistische Darstellungstechnik und die breite Verwendung dialektaler Ausdrücke (Hapkemeyer 1982, 11 f.) sowie die an Franz Brandstetter entwickelte »Grundspannung« von »Distanzierung« und »Rückkehr« (Gehle 1995, 69) verbinden die Erzählung mit der Tradition der Dorfgeschichte. Ihr wird jedoch eine »tödliche Dynamik von Heimat und Moderne« eingeschrieben, in der die »Welt der Frauen« den »Gegenpol« zu den »militärischen und ideologischen Kämpfe[n] der Männer« bildet (ebd., 75, 70).
Werke aus der Übergangszeit zwischen Matura und Studienbeginn (1944–1946) Aus der Zeit nach Bachmanns Matura 1944 datiert dann der Großteil der überlieferten Gedicht- und Prosaentwürfe, die durch vielfältige Themen und Motive miteinander verknüpft sind. Charakteristisch für die Lyrik ist die jugendliche Pendelbewegung zwischen dem (oft an Goethes Werther erinnernden) Alleinheitsgefühl im Naturempfinden und vollständiger Verzweiflung, zwischen Freiheitsdrang und Melancholie, zwischen poetischem Gottesanruf und nicht minder topischem Nihilismus, zwischen Apotheose der Dichtung und Sprachlosigkeit. Die Unbedingtheit jugendlicher Selbstbehauptung – »Sklaverei ertrag ich nicht / Ich bin immer ich / Will mich irgend etwas beugen / Lieber breche ich« (W 1, 623) – steht neben ekstatischer Naturerfahrung – »Und bebend brennt sich mir das Himmellachen / Kreisend und glühend in mein Sein / Und meine Sinne sind der Last enthoben / Und fliegen frei in diesen Tag hinein!« (N6245) – und Entfremdungserlebnissen: »Schauriger Tag, der mir zürnt / Und tödlich schaurige Nacht / Bald fällt der Schnee mit stillem Tod, / Dann werd ich auf immer verstummen« (N6261). Erst im Herbst 1945 ist in dieser existentialen Dialektik auch eine Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen »Lastbewußtsein« (W 1, 626) der Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges zu spüren, so in den Gedichten Ich frage und Ängste und insgesamt in der »Kälte-, Einsam-
17 Jugendwerke
keits-, Nacht- und Schattenmetaphorik« (Bartsch 1997, 39; vgl. Höller 1987, 170–181; Höller 1999, 38; Bothner 1986; Weidenbaum 1992). Am Übergang zu jener existentialen Chiffrierung zeitgeschichtlicher Erfahrung, die die Lyrik der Wiener Jahre charakterisieren wird, überlagert der Ausdruck von Todesangstund Verletzungstraumata am Schluss der Übergangsphase 1944–46 die verbleibenden utopischen Momente. Die These eines »beharrliche[n] Kreisen[s] um gleichbleibende Themen« anstelle »stufenweise[r] Entwicklung« (Schaunig 2014, 99) wird solchen poetologischen Verschiebungen vom Jugend- zum Frühwerk ebenso wenig gerecht wie die spekulativ-biographistische Festlegung der Trauma-Thematik auf »eine[n] eventuell in der Jugend an ihr [Bachmann] verübten sexuellen Missbrauch« (ebd., 51). Aufschlussreich für den Widerstreit originären Ausdruckswillens mit der zugleich erprobten Sprache der literarischen Tradition ist die Überarbeitung des Gedichts Nach grauen Tagen, dessen erster überlieferter Entwurf die Datierung »10. Oktober 1944, Klagenfurt« trägt. Dort lautet der Beginn des Gedichts: »Eine einzige Stunde frei sein! / Frei, fern! / Wie Nachtlichter in den Sphären ... / In freien Sphären atmen. / Hochfliegen über Tagen / Über Zeit, Not und Glück! / Frei, frei!« (N6334). In einer späteren Reinschrift ist dieser emphatische, aber auch begriffliche Ausdruck jugendlichen Freiheitsdranges dann in poetische Bildlichkeit übersetzt, motivisch gebrochen und zugleich an die literarische Tradition zurückgebunden: »Eine einzige Stunde frei sein! / Frei, fern! / Wie Nachtlieder in den Sphären. / [...] über das dunkle Wasser gehen / nach weißen Rosen, / meiner Seele Flügel geben / und, oh Gott, nichts wissen mehr / von der Bitterkeit langer Nächte, / in denen die Augen groß werden / vor namenloser Not« (W 1, 624). Mit solchen literarischen Arbeitsprozessen, in denen Ansätze einer eigenen lyrischen Sprache mit konventioneller Topik ringen, verbindet sich im Übrigen die Konzeption von Gedichtzyklen wie Bewegung des Herzens, die die Lyrik an der Schwelle vom Jugend- zum Hauptwerk insgesamt prägt (vgl. Behre 1991 und s. Kap. 6). Wie in den Gedichtentwürfen der Jahre 1944 bis 1946 die Anklänge an die Naturlyrik seit Goethe, an Rainer Maria Rilke und nur ausnahmsweise auch an Georg Trakl und den Expressionismus (Zwischen Tag und Nacht; N6177) unübersehbar sind, so ist Bachmanns erste, im Juli 1946 veröffentlichte Erzählung Die Fähre, deren nachgelassener Entwurf »Klagenfurt, 8. Juli 1945« datiert ist (N5852), von der Tradition der Heimatliteratur und der Dorfgeschichte ge-
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prägt, in der auch der Kärntner Heimatschriftsteller Josef Friedrich Perkonig stand, ihr literarischer Mentor im Winter 1944/45 und eine »zwiespältige Persönlichkeit« aus dem »kulturellen Establishment des Austrofaschismus« (Stoll 2013, 69; s. Kap. 10). Regina Schaunig (2014, 127, vgl. 75, 156 u. ö.) sieht »Stilelemente und Szenen« aus Perkonigs Romanen auch in anderen Jugendwerken zitiert. Der zeittypische Heimatdiskurs gehört zu jenen ›Mustern‹ aus der Literaturgeschichte in Bachmanns Jugendwerk, die auch aus heutiger Sicht problematische Aspekte des Denkens ihrer Zeit spiegeln (vgl. Stoll 2013, 72 f.; Schaunig 2014, 127, 130). Zu der Verbindung von symbolischer Landschaftsdarstellung aus Bachmanns Südkärntner Heimatraum, sozialer und erotischer Thematik in Die Fähre kommt in anderen Prosaentwürfen der auch in der Lyrik ausgedrückte Problemkomplex jugendlicher Selbstfindung zwischen Selbstbestimmungsverlangen und Verzweiflungserlebnissen. Ein typisches Stück zeitgenössischer Teenagerprosa stellt das älteste der Prosafragmente, Das graue Haus, dar (einer der Entwürfe trägt die Datierung »5.III.1944«). Es handelt von den Schul-, Freundschafts- und ersten Liebeserfahrungen der künstlerisch veranlagten Schülerin Karoline, die in augenblickshaften Naturerfahrungen ihre Sinnlichkeit genießt und die »Nachtseite des Körpers« entdeckt (N5856), ohne dass Sexualität ausdrücklich thematisiert wird. Gegen ihre Neigung zu pubertären Selbst- und Weltzweifeln stellt Karoline den »Wunsch, nur einmal dieses Leben so zu leben, daß jede Stunde eine reizvolle Erinnerung blieb« (N5762). Weniger eindeutig autobiographisch angelegt ist der größere, wiederum an die Dorfgeschichte anknüpfende Erzähleingang mit dem symbolischen Titel Tagwerden, der die Datierungen »8. Nov. 1944« und »Jänner 45« trägt (N5625), also aus Bachmanns Zeit in der Lehrbildungsanstalt vor Kriegsende stammt. Der 36-jährige Maler Chrysanth Ulcar, den seine Freundin verlassen hat, lernt auf einem ländlichen Hof die selbständige 18-jährige Waise Dorothea Skoff kennen. Das großartige Südkärntner Landschaftspanorama dieser Entwürfe erhält durch das Auge des Malers besondere Bedeutung, und es deutet sich für die junge Frau die Geschichte einer doppelten, künstlerischen und erotischen Initiation an. Dagegen scheint der kleine Entwurf Der Spion (datiert »Vellach, 8.I.45«; N5734) auf die tragikomische Geschichte eines entlaufenen geistig Verwirrten zu zielen, der fälschlich mit großem Aufwand als feindlicher Spion gesucht wird.
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II Das Werk – C Andere Werke
Bereits in der Innsbrucker Zeit entstehen dann Entwürfe zu der Erzählung Cälian Hambrusch, die das soziale Motiv der Fähre mit der interkulturellen Thematik des Honditschkreuzes verbinden (Datierung »26. IX.45«; N5754a). Vielleicht durch das Schotterwerk ihres Onkels angeregt, entwirft Bachmann hier aus der Perspektive der jungen männlichen Titelfigur das Sozialbild eines ländlichen Steinbruchs, in dem Slowenen und Italiener unter mutmaßlich deutschsprachiger Leitung einer harten Arbeit nachgehen (N5738–39). Die wohl etwas spätere Erzählung Hel Dörrias dagegen (Datierung »6.XI.45«; N5772) wendet sich wieder der Thematik jugendlicher Sozialität und Selbstfindung zu. Was an Entwürfen zu einer nicht ganz klaren Handlungsskizze ausgeführt ist, zeigt den Protagonisten Hel als einen nachdenklichen jugendlichen Intellektuellen – dessen ›problematische Natur‹ (Friedrich Spielhagen) wiederum durch seinen Status als Waise, durch den Verlust des Vaters, motiviert wird – im Gespräch mit seinem leichtlebigeren Dorffreund und »Lehrer« Cölestin (N5609), beim Gang durch die befremdlich wirkende Stadt und zusammen mit seiner Freundin Margarethe beim Baden und Bootsfahren auf dem ungenannten (Wörther-)See. Die Namensgebung lässt vermuten, dass der Entwurf Margarete Holm (N5518) hier zuzuordnen ist. Im Gegensatz zu der surrealistisch geprägten, von Ilse Aichinger und Franz Kafka beeinflussten Bildsprache und Parabolik, derer sich Bachmann in den Erzählungen ihrer Wiener Jahre und in den überlieferten Fragmenten ihres ersten Romans Stadt ohne Namen bedient, stehen ihre Erzählungen auf der Schwelle vom Jugend- zum Frühwerk (1944– 46) noch im Horizont realistischer Traditionen. Neben einer Reihe kleinerer Erzählentwürfe – Schwestern, Stadtgift, Dämmerstunde – sind darüber hinaus zwei Kurzprosastücke im Jugendnachlass überliefert, In meinem Herbst und Auf Reisen. Das erste drückt in naturlyrischer Prosa Einsamkeit in Naturerfahrung aus und mündet in Zeilen des Gedichts Nach grauen Tagen (N5522–28); das zweite dürfte angesichts seiner Motivik einer verschlossenen, surreal anmutenden Stadt in der »Pest: Hochsommer« (N5855) erst später in den Wiener Jahren der Arbeit an dem Roman Stadt ohne Namen und der Lektüre von Albert Camus’ Roman La peste (1947) entstanden sein. Einige Entwürfe naturlyrischer Prosa (N5816–19) zeigen dagegen ebenso Bachmanns frühe Neigung zu Grenzüberschreitungen zwischen Lyrik und Prosa wie die zwischen Mai 1945 und April 1946 datierten Briefe an Felician (Bachmann 1991). Solche Grenzüberschreitungen werden später z. B. in den Erzählungen des
Bandes Das dreißigste Jahr wiederkehren, und die Formen der modernen Kurzprosa mit ihrem Spannungsfeld zwischen essayistischem ›Denkbild‹ (Walter Benjamin) und Prosagedicht bezeichnen eine wichtige Linie ihres Werks im ganzen (vgl. Göttsche 2006). Der Name Felician – möglicherweise aus Perkonigs Roman Bergsegen (1928/43) übernommen (Höller 1999, 34 f.; Schaunig 2014, 84) – bietet zugleich einen Datierungsanhalt für Bachmanns Entwürfe zu ihrem zweiten, nun in Prosa gefassten Drama, das auch wegen seiner Wiederaufbaumotivik kaum vor Sommer 1945 entstanden sein kann. Unter dem Titel Das Denkmalamt entwerfen zwei Inhaltsangaben zwar noch keinen dramatischen Konflikt, aber doch Varianten einer Handlungsführung. In beiden ist der »Wiederaufbau des Domes, der vom Denkmalamt zur Vergabe gelangt« (N5346), der eine, die Liebe des phantasievollen und unkonventionellen Mädchens Carola zu dem wiederum viel älteren Architekten Andreas (zuerst Felician genannt) der andere Pol des Geschehens. Die eine Handlungsskizze zeigt den Architekten als einen vergeistigten Intellektuellen, der die Ausführung seiner Wiederaufbaupläne einem Praktiker »ohne tieferes Verständnis für die aus den Zeitlängen gewachsene Konstruktion des Domes« überlässt, denn: »Der Gewissenhafte kann nicht handeln« (N5345), also frei nach Goethes Maxime: »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende« (Goethe 1981, 399). In der zweiten Skizze erwartet derselbe »vornehme Mensch« den Bauauftrag, und Carolas freizügige Durchbrechung der Tradition – die Hobbyschneiderin schockiert ihre Pflegemutter mit einer »ihrer Phantasie entsprungenen Nonnentracht« – tritt gleichgewichtig neben ihn (N5346). In den ausgeführten Entwürfen kontrastiert die Andreas/ Felician zugeschriebene Verbindung von Überlegenheit des Älteren, (kunst-)geschichtlichem Kontinuitätsbewusstsein und intellektuellem Lebensüberdruss – »Ich bin von einer ausweglosen Trübe und Müdigkeit« (N5366) – aufs schärfste mit Carolas Lebendigkeit und Frische als etwas naive Repräsentantin der ersten Nachkriegsgeneration: »Wir sind doch [...] im Anfang. Hinter uns ist alles zusammengebrochen« (N5372). Es deutet sich in der Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit also ein Generationendrama an. Dass ältere Dramenentwürfe in Schülerhandschrift, die andere Namen verwenden (N5479; 5750; 5752), und die Skizze zu einem vieraktigen Handlungsaufbau (ebenfalls mit anderen Namen und ohne erkennbaren Bezug; N5354) dem Dramenentwurf Das Denkmalamt zuzuordnen sind, ist unwahrscheinlich.
17 Jugendwerke
Vermutlich handelt es sich um Fragmente zweier weiterer Dramenpläne aus dem Jugendwerk, die ebenfalls nicht zur Ausführung gelangten. Noch bis in die späten 1950er Jahre wird Bachmann den Plan, ein Theaterstück zu schreiben, nicht aufgeben (s. Briefe an H. Böll vom 14.6. und 28.12.1958).
Kriegstagebuch und Briefe an Felician In welchem Maße Bachmann den Einmarsch der Alliierten in Österreich und das Kriegsende als Befreiung erlebt hat, zeigt ihr Kriegstagebuch (Bachmann 2010), dessen überlieferte maschinenschriftliche »Abschrift – vielleicht ein Auszug? – von wahrscheinlich handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen« (Kommentar in Bachmann 2010, 97 f.) in zwei Teilen den Winter 1944/45 und den Mai/Juni 1945 dokumentiert. Der erste Teil aus den Monaten des Abiturientenkurses an der »verhasste[n] Lehrerbildungsanstalt« in Klagenfurt (Bachmann 2010, 9) spiegelt den wachsenden Widerstand gegen das Naziregime in den letzten Kriegstagen und endet markant mit derselben ideologischen Distanzierung von der Elterngeneration wie das Dramenfragment Das Denkmalamt: »Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden« (ebd., 15). Der zweite Teil zeigt den begeisterten Neuanfang in dem »schönste[n] Sommer meines Lebens« (ebd., 23), in dem die Beziehung zu dem britischen Besatzungssoldaten und jüdisch-österreichischen Emigranten Jack Hamesh, dessen »Liebe [sie] freilich nicht erwidern konnte« (Kommentar in ebd., 88), zusammentrifft mit der geistigen Befreiung neuer Lektüren und Perspektiven: »Ich werde studieren, arbeiten, schreiben! Ich lebe ja, ich lebe. O Gott, frei sein und leben [...], es ist eine herrliche Zeit« (ebd., 23). Der Herausgeber Hans Höller verweist auf die motivischen Bezüge zur späteren Todesarten-Prosa, vor allem die symbolische Vater-Figur des Traumkapitels in Malina und die kontrapunktische Erinnerung des »schönsten Frühling[s]« (TKA 2, 183) im Buch Franza (Kommentar in Bachmann 2010, 83, 93 f.). Im engeren Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit bereitet der Dialog mit Hamesh die Begegnung mit jüdischen Remigranten wie Hermann Hakel und mit Paul Celan im Wien der Jahre 1946–48 vor. Auffällig ist der Kontrast zwischen dem Widerstands- und Befreiungsgestus des Kriegstagebuchs und den fiktiven prosalyrischen Briefen an Felician, deren Datierungen (16.5.1945 bis Mai 1946; Bachmann 1991) sich mit dem Tagebuch überschneiden. Die
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merkwürdige »Trennung und Parzellierung, bei der das Tagebuch nichts von den Briefen weiß und die Briefe nichts vom Tagebuch« (Höller 1999, 35), wird zudem durch den Kontrast zwischen dem jüdischen Emigranten Hamesh im Tagebuch und der Widmung eines der Typoskripte zu den Briefen an Felician an den deutschnationalen Heimatdichter und Mentor Perkonig unterstrichen (vgl. ebd., 34). Die Unterwerfungsgesten des weiblichen lyrischen Ich unter ihren ›Liebsten‹ und ›Herrn‹, dem sie »dienen« will (Bachmann 1991, 13, 29 u. ö.), sowie die »heillos das Heil suchend[e] Erlösungsmetaphorik« erinnern an »jene monströsen Fantasien absoluter männlicher Macht [...], die doch erst die Grundlage der NS-Hierarchien gebildet hatten« (Stoll 2013, 72 f.) und von denen sich die Autorin schon im Jugendwerk distanziert hatte. Solche Widersprüche spiegeln sich auch in den Briefen selbst, wenn das lyrische Ich beklagt: »Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den andern nicht« (Bachmann 1991, 41). Liest man die Briefe an Felician nicht biographisch, sondern als Kunstanstrengung in der Tradition europäischer Liebeslyrik, dann ließe sich das lyrische Ich in Analogie zu den ›großen Liebenden‹ bei Rilke, wie der italienischen Dichterin Gaspara Stampa oder der portugiesischen Nonne Marianna Alcoforado (z. B. in den Duineser Elegien oder dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910), verstehen: Seine Unterwerfungsgesten wären dialektisch als Selbstbefreiungsakt eines weiblichen Ich zu interpretieren, das des männlichen Gegenübers schließlich gar nicht mehr bedarf, da es »die Arbeit der Liebe« allein zu leisten vermag (Rilke 1996, Bd. 3, 550). Diese Utopie vermag Bachmann allerdings nur noch in der Brechung durch die Erfahrung einer Welt der Gewalt zu zitieren. Quellen
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II Das Werk – C Andere Werke
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Dirk Göttsche
18 Die Radiofamilie und andere frühe Rundfunkarbeiten
18 Die Radiofamilie und andere frühe Rundfunkarbeiten Bachmann beim Sender Rot-Weiß-Rot Wien Noch vor ihrem literarischen Durchbruch auf den Tagungen der Gruppe 47 in den Jahren 1952 und 1953 erzielte Ingeborg Bachmann beim Sender RotWeiß-Rot (RWR), dem amerikanischen Besatzungssender in Wien, eine gewisse Anerkennung als Radioautorin. Zwar stellte ihre neue Arbeit als Redakteurin und Script Writer bei diesem Sender keineswegs die Erfüllung eines beruflichen Zieles dar, denn sie hoffte noch auf eine akademische Laufbahn (GuI, 112). Als sie jedoch im März 1951 von einer viermonatigen Paris- und London-Reise nach Wien zurückkehrte und ihre Freundin und Mentorin Elisabeth »Bobbie« Löcker ihr eine Stelle im Sekretariat der amerikanischen Information Services Branch (ISB) in Wien vermittelte, war dies der erste Schritt zu einer beruflichen Laufbahn im Dienst der amerikanischen Besatzungsmacht, der dann mehrere Monate später »aus heiterem Himmel heraus« (so Bachmann, zit. nach McVeigh 2016, 77) die Einladung zur Mitarbeit beim RWR folgte. Im September 1951 trat Bachmann ihre Stelle im Script Department des Senders an, wo sie neben den Journalisten Jörg Mauthe und Peter Weiser, die ihr schon aus der Runde um Hans Weigel im Café Raimund bekannt waren, für das Kultur- und Unterhaltungsprogramm zuständig war. Etwa fünf Monate lang dauerte ihre Ausbildung nach amerikanischem Muster, in der sie u. a. aus einer Sammlung von Hand- und Lehrbüchern aus den USA das Schreiben für das Radio erlernte. Dennoch habe die neue Radioautorin, die, so Weiser, »nie Radio hörte«, von Anfang an ein »untrügliches Gefühl für die Möglichkeiten dieses Mediums« besessen (Weiser 1984, 104). Bachmann wurde bald zum kreativen Herzen des Teams, wie Weiser berichtet: »Wir gaben ihr jedes Manuskript zu lesen und berücksichtigten jeden ihrer Einwände; [...] Sie hatte die Gabe, die nur Genies eignet: Ideen sich nicht nur multiplizieren, sondern potenzieren zu lassen« (ebd.). Während ihrer ersten Monate beim Sender arbeitete Bachmann an Unterhaltungssendungen, Filmkritiken für das Programmheft des Senders, der Großen Österreich-Illustrierten (GÖI), sowie auch an der Produktion literarischer und kultureller Sendungen mit. Schon am 10. November 1951 schrieb sie an Paul Celan über das Programm ihrer Abteilung: »Was ich
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zustandebringe ist nicht immer schlecht, für Oesterreich ist es sogar ziemlich gewagt, was wir unseren Hörern vorsetzen, von Eliot bis Anouilh, aber wir haben merkwürdigerweise sogar Erfolg damit« (Bachmann/Celan 2008, 37). In ihrer Funktion als Redakteurin hatte sie auch über eingesandte Manuskripte zu entscheiden und konnte sich so für ein modernes Kulturprogramm einsetzen (vgl. McVeigh 2016, 113; Mauthe 1973, 252). Wir besitzen leider nur spärliche Zeugnisse ihrer Arbeit im Script Department, denn das Archiv des Senders RWR wurde im Jahre 1955 bei der Übergabe der Einrichtungen an die österreichische Regierung zum größten Teil aufgelöst bzw. vernichtet. Eine bedeutende Ausnahme bilden die Skripte der populären Unterhaltungssendung Die Radiofamilie, die zu den wenigen Sendungen zählte, die der Österreichische Rundfunk vom amerikanischen Sender übernahm und bis Januar 1960 weiter ausstrahlte. Die Skripte der Sendung wurden Ende der 1990er Jahre in Mauthes Nachlass wieder entdeckt. Darunter war auch ein von Mauthe verfasstes Verzeichnis, das Autor, Titel und Sendedatum jeder Folge auflistet. Laut dieser Liste schrieb Bachmann zwischen Februar 1952 und Juli 1953 elf Folgen der Sendereihe als alleinige Verfasserin und weitere vier in Zusammenarbeit mit Mauthe oder Weiser. Im Frühjahr 1952 bringt der Sender zum ersten Mal einzelne Sendungen aus der Hand Bachmanns. Innerhalb von sechs Wochen zwischen dem 16. Februar und dem 25. März werden fünf von Bachmann verfasste bzw. bearbeitete Texte ausgestrahlt: am 16. Februar die zweite Folge der Unterhaltungssendereihe Die Radiofamilie, am 28. Februar ihr erstes Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen, am 4. März ihre Bearbeitung des unveröffentlichten Dramas Das Herrschaftshaus (Mannerhouse, 1948) von dem amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe, am 15. März die vierte Folge der Radiofamilie, und am 25. ihre Bearbeitung der Novelle Der Tod des Kleinbürgers von Franz Werfel (vgl. Höller 1999, 47). Dank ihrer Englischkenntnisse, die sie schon im Sommer 1948 als Übersetzerin der Kulturzeitschriften Der Turm und Europäische Rundschau ausgebaut hatte, profilierte sie sich beim Sender zuerst durch ihre Adaption von Wolfes Stück, das den Untergang einer Südstaaten-Familie im amerikanischen Bürgerkrieg darstellt. Zu der Übersetzung dieses Werkes ins Deutsche und dessen Bearbeitung für das Radio äußerte sich Bachmann in einem Interview mit der Programm-Zeitschrift des Senders (GÖI) kurz vor der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_18
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Ausstrahlung des Stückes. Sie nennt die Übertragung »meine bisher schönste schriftstellerische Arbeit« und geht auf die Probleme der Bearbeitung ein: »Es ging mir vor allem darum, die Wolfesche Diktion im Deutschen zu treffen, den Ton, den Rhythmus seiner Sprache, die sich manchmal dem Blankvers nähert. Schwieriger hingegen war es, das Drama für den Rundfunk zu bearbeiten. Denn es schien mir in diesem Fall nicht richtig, Wesentliches zu ändern, um ein ›funkgerechtes‹ Hörspiel herauszubringen, wie wir es sonst anstreben« (GÖI, 16.–22.3.1952). Bachmann bearbeitete 1954 auch Peter Sandbergs Übersetzung dieses Stückes für den Bayerischen Rundfunk, die unter dem Titel Herrenhaus gesendet wurde. Ein halbes Jahr nach ihrer Bearbeitung des Wolfeschen Stückes folgt eine weitere Übersetzung Bachmanns für das Kulturprogramm des Senders, das Hörspiel Der dunkle Turm (1946) von Louis Mac Neice. Die Ausstrahlung im Sender RWR wurde ursprünglich für den 8.10.1952 angekündigt, musste jedoch wegen schwieriger Verhandlungen über die Musikrechte der Ursendung in der BBC – die Musik stammte von Benjamin Britten – auf den 17.12.1952 verschoben werden, wobei ein neuer Komponist, der Österreicher Josef Stieber, engagiert wurde (GÖI, 14.–20.12.1952). In Anlehnung an Robert Brownings Gedicht »Childe Roland to the Dark Tower« (1855) behandelt diese Parabel Themen wie Pflicht, Versuchung und Selbstaufopferung, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bezüge zum Jüngstvergangenen aufkommen lassen. Sieben Jahre später nahm Bachmann eine letzte Bearbeitung für den Rundfunk vor, diesmal die Komödie von Robert Musil Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1923), die 1959 in einer gemeinsamen Produktion von Radio Bremen und dem Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Ingeborg Bachmann war sich von vornherein bewusst, dass ihre Arbeit beim amerikanischen Sender einen eindeutig politischen Charakter hatte. Schon bei ihrer Anstellung im Sekretariat des amerikanischen Nachrichtendienstes empfindet sie ihren neuen Arbeitsplatz sowie die Arbeit selbst als eher befremdlich (vgl. McVeigh 2016, 75). Zwanzig Jahre später schreibt sie im Roman Malina, das Gebäude des amerikanischen Nachrichtendienstes habe die »Unheimlichkeit eines Mordschauplatzes« ausgestrahlt, und die Arbeit für die US-Besatzungsmacht habe als Teil einer damals grassierenden »universelle[n] Prostitution« im Dienst des Kalten Krieges gestanden (TKA 3.1, 594, 596; vgl. McVeigh 2004b).
Die Radiofamilie Den Script Writers des Senders RWR fiel die Aufgabe zu, die politischen Botschaften des Propagandasenders möglichst unauffällig und unterhaltsam zu gestalten und so ein großes Hörerpublikum für den Sender zu gewinnen (vgl. Wagnleitner 1991, Kap. 4). In diesem Sinne kamen Mauthe, Weiser und Bachmann im Spätherbst 1951 auf die Idee einer Sendereihe, die eine bürgerliche Familie darstellen sollte, die »imstande sein mußte, das kleine und große Geschehen der Zeit mit einem Anflug von Ironie, vielleicht sogar Persiflage, widerzuspiegeln: die 4 Alliierten, den Kalten Krieg, die Entnazifizierung, den beginnenden Wiederaufbau, den zu Ende gehenden Schleichhandel, den beginnenden Postenschacher, die sichtbar werdende Korruption und – die Festigung der wieder gewonnenen österreichischen Identität« (Weiser 1990, 249). In einer Rekonstruktion der Geburtsstunde der Sendereihe zitiert Weiser seinen Kollegen Mauthe zum politischen Vorhaben der Sendung: »Es wird eine politische Sendereihe werden, ohne dass der Hörer kapiert, dass sie es ist, es wird eine erzieherische Sendereihe werden, ohne dass der Hörer kapiert, dass sie es ist, es wird eine gesellschaftsprägende Sendereihe werden, ohne dass der Hörer kapiert, dass sie es ist, und es wird eine lustige Sendereihe werden, und das wird das einzige sein, was der Hörer kapiert« (zit. nach Weiser 1994, 26). Joachim Hoells Behauptung, in Bachmanns Radioarbeit beim Sender RWR sei »kaum Kritik an den Dogmen der fünfziger Jahre zu erkennen« (Hoell 2001, 79), trifft nur bedingt zu. Viele der von Bachmann verfassten Skripte zu der Sendung stellen zwar Themen aus dem bürgerlichen Alltag in den Mittelpunkt, wie z. B. eine Geburtstagsfeier, Ferienpläne oder Weihnachtseinkäufe. Die Autorin weicht jedoch manchmal von dieser Strategie ab, wie z. B. in der zwanzigsten Folge, in der die Situation der osteuropäischen Flüchtlinge in Wien aufgegriffen wird. Hier tritt ein junger Serbe als Hausierer auf, der die Klage erhebt, in Wien mit ausgeprägtem Fremdenhass konfrontiert zu sein: »Das goldene Wienerherz – ich sag Ihnen, da hab ich nichts davon gesehen [...]. Wien ist eine harte und böse Stadt, Herr Richter – o ja, für einen Fremden ist sie das [...]« (Bachmann 2011, 147–148). Der anklagende Ton steht hier im klaren Gegensatz zu den »optimistischen Gedanken der Nachkriegszeit«, die, so Walter Davy, Regisseur der Sendung, die weltanschauliche Grundlage der Radiofamilie bilden sollten (Eripek 1999, 105). Die Sendung hat jedoch ein Happy End, als sich herausstellt, dass der junge Mann österreichische Verwandte hat.
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Eine weitere thematische Ausnahme bildet die moderne Kunst. In den Bachmannschen Folgen der Sendung durchläuft die Familie Floriani eine Art Bildungsprozess zum Verständnis der modernen Kunst. In der ersten Bachmann-Folge (Folge 2) würdigen die Florianis eine ihnen angemessene konservativ-bürgerliche Kunstrichtung. In der 24. Folge hingegen verteidigt Hans Floriani das Existenzrecht der modernen Kunst im Gespräch mit einem Kollegen, der sich auf Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte (1948) beruft, in dem die moderne Kunst als »die hemmungsloseste aller Künste« verurteilt wird (zit. nach Bachmann 2011, 372). Die Diskussion der modernen Kunst unter dem Aspekt von Sedlmayrs Kritik ist hier ein Vorverweis auf Bachmanns erste Frankfurter Vorlesung, Fragen und Scheinfragen (1960), in der die These Sedlmayrs nochmal auf- und angegriffen wird (W 4, 185; KS, 256). In der vorletzten Bachmann-Folge (Nr. 54), an der auch Mauthe mitarbeitete, wird die moderne Kunst nun zum arrivierten Mainstream erklärt, indem die Florianis im Gespräch mit einer jungen Malerin den eigentlichen Wert dieser Kunst anerkennen. Von dem oft erörterten »Bild der zertrümmerten Kindheit« (Hoell 2001, 24) oder dem »Lastbewusstsein« (Höller 1999, 32) der Dichterin ist in der Radiofamilie keine Spur zu finden. Die Arbeit an der Sendung bot ihr ein geeignetes Vehikel, um sich geschützt durch den humorvollen Ton auf diskrete Weise mit Persönlichem und Familiärem – kurz, mit ihren Dämonen – auseinanderzusetzen, was sie damals in ihren namentlich gezeichneten Schriften noch weitgehend vermied. Im Mikrokosmos der Florianis wirken familiäre Krisen und widrige Umstände nur kurzzeitig und nie tiefgreifend, nicht zuletzt wegen der von allen Familienmitgliedern geübten Solidarität untereinander, die auch den ehemaligen Nationalsozialisten Onkel Guido einschließt. Für Bachmann selbst bedeutete die Darstellung eines solchen Familienpanoramas gewissermaßen auch die symbolische Wiederherstellung der eigenen durch den Krieg verlorengegangenen familiären Idylle und erlaubte zugleich eine Auseinandersetzung mit den Ursachen für diesen Verlust. Joseph McVeigh (2004a, 2011, 2016) sieht in Bachmanns Gestaltung der Figur des ehemaligen NS-Mitglieds Onkel Guido die symbolische politische Rehabilitierung des eigenen Vaters, Matthias Bachmann. Im ersten Auftritt Guidos in der zweiten Folge der Sendung ist seine Rehabilitierung schon vollzogen; der Familie gegenüber gesteht er seine politischen Fehler ein und stößt auf Verständnis. Die Familie sieht in seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus kei-
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nen Akt der politischen Überzeugung, sondern vielmehr die Verführung eines Individuums: »Im Grunde seines Herzens, seines Wesens, seiner ganzen Lebenseinstellung war er etwas anderes, beinahe das Gegenteil davon« (Weiser 1994, 30). Angesichts der Haltung Bachmanns in Bezug auf die NS-Zeit und das Nachleben des Faschismus in Österreich in ihrem übrigen Werk kann in der Radiofamilie von einer generellen Absolution aller ehemaligen NS-Mitglieder kaum die Rede sein. Nur wenn die versöhnliche Charakterisierung Guidos sich auf Bachmanns Vater bezieht, wird eine solche Darstellung nachvollziehbar. Dass Bachmann in der Sendereihe nicht den Familienvater Hans Floriani als symbolischen Stellvertreter der NS-Vergangenheit Österreichs gewählt hat, sondern einen Onkel, verrät eine besondere Tarnabsicht, deren sie sich auch später in der unvollendeten Erzählung Der Tod wird kommen (1965) bedient (vgl. McVeigh 2016, 163 f.). Hier beschreibt Bachmann die verschiedenen politischen Richtungen, die während der Kriegsjahre typischerweise in einer Großfamilie vertreten waren, unter anderem den Nationalsozialismus. Diese fiktive Familiengeschichte, die »unter dem Siegel der Verschwiegenheit« (W 2, 272) steht, lässt den Familienvater nirgendwo sichtbar werden; er wird nicht einmal erwähnt. Das NS-Kapitel der Familiengeschichte wird hingegen in der Figur eines Onkels thematisiert. Wie Bachmanns eigener Vater ist auch Onkel Sepp schon früh in den 1930er Jahren der illegalen österreichischen NS-Partei beigetreten; er wird aber hier, wie Onkel Guido in der Radiofamilie, eher als ein Mitläufer dargestellt, der zugleich Opfer des Nationalsozialismus war (W 2, 269). Zu Guidos Wiedereingliederung in die Familie trägt besonders die Tochter Helli Floriani bei, was vielleicht als eine Selbstprojektion Bachmanns gelesen werden kann. Sie ist es in der Radiofamilie, die wiederholt versucht, ihren geliebten Onkel von seinen Wahnvorstellungen abzuhalten. Sie lässt zum Beispiel einen Versuch Guidos, seine Verführung durch den Nationalsozialismus als die Erscheinung seiner »faustischen« Natur zu entschuldigen, nicht gelten und entgegnet: »[D]er war aber ganz anders als du« (Bachmann 2011, 16). Guido verteidigt sich gegen die Ernüchterungsversuche Hellis, indem er behauptet, »daß mir das Mögliche höher steht als das Wirkliche und ich spiele eben immer mit Möglichkeiten« (Bachmann 2011, 393). Sieben Jahre später greift Bachmann in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden (1959) diese Idee in erweiterter Form wieder auf.
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Radioessays und Auslandskorrespondenz In ihrem letzten Jahr bei RWR wendet sich Bachmann der Form des Radioessays zu. Einen Text über Musils Roman Mann ohne Eigenschaften schreibt sie nach Erscheinen des Romans im Dezember 1952, doch der Sender und das Sendedatum dieses Essays sind unbekannt. Drei weitere Essays schrieb sie 1953–54 für den Bayerischen Rundfunk: Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins, gesendet am 16.9.1954, Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simon Weils, gesendet im Frühjahr 1955, und Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in das Pandämonium, der am 13.5.1958 ausgestrahlt wurde. Rückblickend auf die Zeit nach ihrer Abreise aus Wien bemerkte Bachmann 1971 im Interview: »Ich habe fast zu früh mit der festen Arbeit aufgehört, schon 1953« (GuI, 112). Sie nahm daher 1954 eine journalistische Arbeit wieder auf, um sich finanziell durchzuschlagen. In der Zeit zwischen Juli 1954 und Juni 1955 arbeitete sie als Auslandskorrespondentin von Radio Bremen in Rom und lieferte dem Sender unter dem Pseudonym Ruth Keller 34 Berichte, die Ende der 1990er Jahre wiederentdeckt und veröffentlicht wurden (Bachmann 1998). Die Meldungen berichten von dem politischen Tagesgeschehen in Rom sowie diversen anderen Themen zu Leben und Kultur in der italienischen Hauptstadt. Ihr reges Interesse an dem Treiben der Kommunisten in Italien zeugt in einigen Berichten von dem fortwährenden Einfluss ihrer politischen »Bildung« unter Hans Weigel in der Denkart des Kalten Krieges. 1954 bietet sie auch Friedrich Torberg, dem Herausgeber der Wiener antikommunistischen Zeitschrift Forum, einen Artikel über die »rosarote« italienische Literatur an (vgl. McVeigh 2016, 209). Ingeborg Bachmanns frühe Erfahrung als Rundfunkautorin kam ihr nach 1953 sehr zugute, insbesondere im Bereich des Hörspiels. Sie plante im selben Jahr ein weiteres Hörwerk mit dem Arbeitstitel Die Strasse der vier Winde, das jedoch nicht zustande kam. Kritische Erfolge erlangte sie dennoch im Lauf der 1950er Jahre im Rundfunk mit ihren letzten beiden Hörspielen Die Zikaden (1955) und Der gute Gott von Manhattan (1958).
Quellen
[Anonym]: »Das Herrschaftshaus« [Interview mit Ingeborg Bachmann]. In: Große Österreich-Illustrierte (GÖI) 4 (16.– 22.3.1952), 18. [Anonym]: »Der dunkle Turm« Große Österreich-Illustrierte (GÖI) 4 (14.–20.12.1952), 18. Bachmann, Ingeborg: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hg. von Jörg-Dieter Kogel. München/Zürich 1998. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg: Die Radiofamilie. Hg. von Joseph McVeigh. Berlin 2011.
Literatur
Eripek, Ursula: Ein überzeugter und überzeugender Wiener. Ein Beitrag zur Biographie von Jörg Mauthe (1924–1986). Diplomarbeit, Universität Wien 1999. Hoell, Joachim: Ingeborg Bachmann. München 2001. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 1999. Lennox, Sara: Hörspiele. In: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2002, 83–96. Mauthe, Jörg: Script Department – Was ist das? In: Wolfgang Kudrnofsky (Hg.): Vom dritten Reich zum dritten Mann. Helmut Qualtingers Welt der vierziger Jahre. Wien 1973, 247–255. McVeigh, Joseph: »My Father, ... I would not have betrayed you ...«. Reshaping the Familial Past in Ingeborg Bachmann’s Radiofamilie-Texts. In: New German Critique 93 (2004a), 131–144. McVeigh, Joseph: Die Stille um den »Mordschauplatz«. Ingeborg Bachmann, der Kalte Krieg und der Sender RotWeiß-Rot. In: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.). »Über die Zeit schreiben« 3. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg 2004b, 55–68. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953. Berlin 2016. Wagnleitner, Reinhold: Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 1991. Weiser, Peter: Wien. Stark bewölkt. Wien/München 1984. Weiser, Peter: Geschichte der Familie Floriani. In: Jörg Mauthe/Peter Weiser: Familie Floriani. Ein wienerischer Lebenslauf in dreißig Bildern. Wien 1990, 248–252. Weiser, Peter: »Die Familie Nr. 1«. Hörspiel. Versuch einer Rekonstruktion. In: Peter Bockskanl u. a.: Jörg Mauthe. Sein Leben auf 33 Ebenen. Erinnerungen und Visionen. Wien 1994, 25–33.
Joseph McVeigh
19 Hörspiele
19 Hörspiele Als Ingeborg Bachmann im März 1959 für ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen wurde, nahm sie dies zum Anlass, sich in ihrer Preisrede eingehend mit der Aufgabe des Schriftstellers auseinanderzusetzen. Dem Titel der Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar entsprechend beharrte sie darauf, dass diese Aufgabe nicht darin bestehen könne, Trost zu spenden oder Leid zu lindern. Stattdessen müsse der Schriftsteller zum Verständnis des »großen geheimen Schmerz[es], mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet ist«, beitragen und »ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen« (KS, 246; W 4, 275). Sie gesteht zu, dass sie in Der gute Gott von Manhattan einen »Grenzfall« darstelle, der aber gerade in seiner extremen Suche nach dem Unmöglichen erhellend sei: »Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind« (KS, 247; W 4, 276). Durch den Blick auf das Utopische werde es den Menschen ermöglicht, nach etwas jenseits des Gegebenen zu streben, was gerade die Kriegsblinden sehr gut nachvollziehen könnten: »Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, daß man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, daß man enttäuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben vermag« (KS, 248; W 4, 277). Die Wirklichkeit könne uns zwar nicht die alternativen Welten der Kunst bieten, doch hat die Kunst gerade die Funktion, eben jene Ideale zu postulieren, nach denen die Menschen streben können. Bachmann fasst dies in einer inzwischen vielzitierten Formulierung zusammen: »Es ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten« (KS, 247; W 4, 276). In diesem Sinne können die drei von Bachmann publizierten Hörspiele als jeweils unterschiedliche Erkundungen dieses Spannungsverhältnisses zwischen Unmöglichem und Möglichem, aber auch als »Dialektik von kollektiver Ordnung und individueller Freiheit« (Hinterberger 2006, 271) gelesen werden. Alle
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drei betonen das essentielle Gebundensein der Menschen an die jeweilige Gesellschaftsordnung, setzen jedoch auch das Bedürfnis voraus, die Grenzen dieser Ordnung zu überschreiten. Anders als in den Untersuchungen von Hilde Haider-Pregler (1986) und Kurt Bartsch (1979), die Bachmanns Hörspiele ebenfalls im Kontext der Preisrede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar untersuchen, lassen sich diese Hörspiele (wie auch Bachmanns Werke im Allgemeinen) auch als Kritik an der Ausschließlichkeit eben jener beiden Paradigmen lesen, die so oft zum Verständnis ihrer Texte herangezogen worden sind. Im Kontext des einen Paradigmas (etwa Sigmund Freudscher oder Herbert Marcusescher Provenienz) geht das Verlangen nach Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaft auf eine Quelle außerhalb dieser zurück und wird als der Gesellschaft entgegengesetzt und feindlich verstanden, im Kontext des anderen (aus Michel Foucaultscher Perspektive) ist der Widerstand als Effekt der Gesellschaftsordnung selbst zu verstehen. Bachmanns eigener Standpunkt liegt jedoch dazwischen. Der Wunsch oder auch Versuch, aus der Ordnung auszutreten, wird als Kritik an der Ordnung aufgefasst, die zur Veränderung der Ordnung führen kann, aber trotz allem werden die Menschen letztendlich »in der Ordnung bleiben müssen«. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ist es nicht verwunderlich, dass Bachmann nicht nur Faschismus oder Kommunismus, sondern – besonders deutlich in Der gute Gott von Manhattan – jede »Ordnung« als totalitär betrachtete. Alle drei Hörspiele stellen den Widerstand gegen die bestehende Ordnung zwar als möglichen dar, bestehen aber auch darauf, dass dieser Widerstand zugleich ein von der Ordnung ›kontaminierter‹ ist. Bachmanns Texte zeigen, dass gerade die Figuren, die sich außerhalb der Ordnung zu stellen versuchen (Jennifer, Wildermuth, die Hauptfigur in Alles, Franza, vielleicht sogar das Ich in Malina) zum Scheitern verurteilt sind, während sich die Überlebenden in der Welt, wie sie ist, zurechtfinden (Malina, Hanna, Jan, die Hauptfigur in Das dreißigste Jahr: »Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen«; W 2, 137). Bachmann war allerdings weder bereit, sich mit der bestehenden Ordnung zu versöhnen, noch auf das Visionäre zu verzichten. Das kommt beispielsweise in ihrem Statement in dem Fernsehfilm Ingeborg Bachmann in ihrem erstgeborenen Land zum Ausdruck, wo sie sich ausdrücklich zu den märchenhaften Partien in Malina bekennt: »Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ›ein Tag wird kommen‹« (GuI, 145). Auf einer profaneren Ebene beklagt sie sich bei Hans Wer-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_19
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ner Henze über die sozialdemokratische Kritik an ihrer politischen Einstellung: »[...] ich glaube doch, dass unsre Ansprüche, Ideen und Forderungen sich über den Tag erheben müssen, wie eine tune – also ich bleibe unbelehrbar, und ich glaube, dass wir diesen Ideen, auch wenn niemand es verlangt, treu bleiben müssen, weil man nicht existieren kann ohne den Absolutheitswahn, den Grass zum Beispiel mir vorwirft« (Brief vom 29./30.8.1965; Bachmann/Henze 2004, 267). Entsprechend lässt sich Bachmanns Darstellung des Möglichen und Unmöglichen als ganz konkrete Auseinandersetzung mit dem lesen, was in der Entstehungsgeschichte der Hörspiele, also während des Kalten Krieges, als möglich und unmöglich galt.
Ein Geschäft mit Träumen Bachmann kam im September 1951 als Angestellte der amerikanischen Besatzungsmacht zum Radio, zunächst als Schreibkraft und dann als Scriptwriter und Redakteurin beim Wiener Sender Rot-Weiß-Rot (RWR). Kulturell konservative wie modernistische Tendenzen vermischten sich im Programm des Senders und erzeugten eine neue Medienlandschaft mit diversen kulturellen Impulsen und Formen. Schon am 10.11.1951 schrieb Bachmann an Paul Celan über das Programm des Script Departments: »Was ich zustandebringe ist nicht immer schlecht, für Oesterreich ist es sogar ziemlich gewagt, was wir unseren Hörern vorsetzen, von Eliot bis Anouilh, aber wir haben merkwürdigerweise sogar Erfolg damit« (Bachmann/ Celan 2008, 37). Die modernistischen Aspekte des Programms seien jedoch, so Jörg Schuster, auf der Verfahrensebene des Rundfunks zwischen 1930 und 1960 »nie wirklich unterbrochen« gewesen (Schuster 2016, 194) und wurden im literarischen Hörspiel nach 1945 schnell wieder aufgegriffen. Nach einer mehrmonatigen Ausbildung beim Sender im Schreiben für den Rundfunk erlebte Bachmann im Frühjahr 1952 ihren ersten Auftritt als Radioautorin. Nachdem ihre erste selbst verfasste Radioarbeit, eine Folge der Sendereihe Die Radiofamilie, am 16. Februar gesendet worden war, folgte knapp zwei Wochen später am 28. Februar die Premiere ihres ersten literarischen Hörspiels Ein Geschäft mit Träumen, unter der Regie von Walter Davy und mit Musik von Walter Schlager. Abgesehen von einer neuen Inszenierung unter der Regie von Heinz von Cramer, die am 20.12.1975 im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde, war das Hörspiel selbst fast vergessen, bis es in Bach-
manns Nachlass entdeckt und 1976 zum ersten Mal veröffentlicht wurde (Bachmann 1976). Aller Wahrscheinlichkeit nach entstand dieses Hörspiel – oder die anfangs gleichnamige Erzählung – im Spätherbst 1951, da der Titel sowie der Name der Autorin schon am 26.11.1951 im Programm eines von Hans Weigel organisierten »Österreichischen Abends« erscheint, der die Werke junger Wiener Autoren vorstellte (Privatbesitz der Erben). Bachmanns Beitrag zu diesem Abend wird vom Schauspieler Hans Thimig vorgelesen, der im darauffolgenden Frühjahr auch die Rolle von Hans Floriani in der Sendereihe Die Radiofamilie spielt. Da nur eine männliche Stimme für das Vorlesen des Textes vorgesehen war, handelte es sich vermutlich um die Erzählung, denn die Prosa-Version wird aus der Perspektive des Protagonisten Laurenz erzählt; eine weibliche Stimme kommt nicht zu Wort. Zwei Jahre später am 31.10.1953 – Bachmann war zu dieser Zeit schon aus Wien abgereist – organisiert Weigel einen weiteren »Österreichischen Abend« mit Lesungen von Werken junger AutorInnen. Bachmanns Beitrag in absentia zu dieser Veranstaltung hat nun den Titel Laurenz träumt von der Liebe, wird jedoch mit dem Vermerk »Aus dem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen« ergänzt (Privatbesitz der Erben). Den Text lesen diesmal zwei Schauspieler, Ernst Deutsch und Hilde Mikulicz, was dafür spricht, dass es sich hier tatsächlich um einen Ausschnitt aus dem Hörspiel handelt. Die Erzählung wurde am 3.11.1952 im NWDR Hannover vorgelesen (W 2, 604) und 1953 unter dem Titel Laurenz träumt von der Liebe in der von Hans Weigel herausgegebenen Anthologie Stimmen der Gegenwart zum ersten Mal gedruckt (Bachmann 1953, 41–48). Für die Annahme, die Erzählung habe Bachmann als Vorstufe zum Hörspiel gedient, spricht auch, dass in der Prosafassung die ersten beiden Träume fehlen und der dritte Traum nur im Umriss vorhanden ist. Die Schlussszene der Erzählung, in der Laurenz erfolglos versucht, den Liebestraum zu kaufen, und danach tagelang wie gelähmt im Bett liegt, fehlt im Hörspiel, und die Folge dieser »wohltätigen« Krankheit – seine Kündigung – wird im Hörspiel nur angedeutet, als er zum Chef bestellt wird. Lange Zeit glaubte man, die Originalaufnahme des Hörspiels im Sender RWR sei nicht mehr auffindbar, oder mindestens nicht zugänglich. Hilde Haider-Pregler berichtet jedoch von einer Aufzeichnung der ersten Sendung des Hörspiels, die in der »Sammlung Franz Hiesel« bzw. dem Internationalen Hörspielarchiv des ORF aufbewahrt wurde und einmal in Hiesels Sendereihe »Hörspielmuseum« ausgestrahlt wurde (Haider-
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Pregler 1986, 78). Heute ist jedoch auch ein Mitschnitt der Ursendung über die Österreichische Mediathek des Wiener Technischen Museums zugänglich, allerdings die Aufzeichnung der ersten Wiederausstrahlung der Ursendung im Sender RWR vom 28.1.1953. Der Titel des Hörspiels deutet bereits an, dass es in einer Zeit spielt, die von Konsum und Werbung geprägt ist. Viele Bachmann-ForscherInnen haben Ein Geschäft mit Träumen (ebenso wie Der gute Gott von Manhattan) mit Bachmanns Gedicht Reklame aus dem Jahre 1956 in Verbindung gebracht. Reklame endet mit den Zeilen: und wohin tragen wir am besten unsre Fragen und den Schauer aller Jahre in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt (W 1, 114).
Die kursiven Zeilen evozieren Slogans der Radiowerbung, während der Terminus »Traumwäscherei« an jene amerikanischen ›Seifenopern‹ denken lässt, die der Radiofamilie als Modell gedient haben. Der Diktion nach erinnert das Lied des Drehorgelmannes, der die Traumladensequenzen einleitet, ebenfalls an das Gedicht Reklame: »Zwischen heute und morgen / liegt die Nacht und der Traum, / macht euch drum keine Sorgen, / macht euch drum keine Sorgen [...]« (W 1, 193). Vor allem betonen sowohl das Gedicht als auch das Hörspiel den Vorrang kommerzieller vor existentiellen Fragen, und es geht, wie Neva Šlibar betont, um die »thematische Gegenüberstellung und Verschränkung von omnipräsenter Konsumwelt und konstanten bohrenden Fragen nach dem Sinn des Seins« (Šlibar 1995, 113). Diese Auslegung des Titels Ein Geschäft mit Träumen, wie fast alle Interpretationen dieses Hörspiels, basieren auf der Druckfassung, die in einigen Punkten von der Ursendung abweicht. Das Lied, das Laurenz in der Druckfassung des Hörspiels etliche Male vor sich hinsummt – »’s ist Zeit, ’s ist Zeit, ins Wasser schnell, / auf Erden wird’s dunkel, im Wasser hell ...« (W 1, 185) und das Šlibar (1995, 115) als ein Werbejingle versteht, ist z. B. in der Ursendung nirgends zu finden. Ähnlich gibt es in der Druckfassung kurz nach dem Werbejingle einen Hinweis auf die Seifenmarke »Lux Seife« (W 1, 185), der in der Originalfassung nicht vorkommt. Das Fehlen solcher Elemen-
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te in der Ursendung könnte bedeuten, dass Bachmann ihre Kritik an der Konsumgesellschaft der Aufbauzeit danach noch verstärkt hat. Auch die Massenmedien werden dieser Lesart nach ins Visier genommen, vor allem in der Figur der Sekretärin Anna, die durch ihre ständigen Hinweise auf die Illustrierten am Anfang der Handlung eine »Verdummung durch die Medien« (Steinhoff 2008, 54) bzw. eine »Aushöhlung des Menschen durch die Unterhaltungsindustrie« (Bartsch 1988, 82) darstellen soll. Insbesondere die Straßenszenen mit den vielen Stimmen der Passanten verraten eine »preoccupation with gossip and horror scenarios that satisfies both their desire for cheap entertainment und distraction from their own life« (Schreckenberger 2012, 220). Bachmann hatte selber mit ihrer Arbeit beim Sender RWR Erfahrung mit der Gestaltung von Illustrierten, da sie für die illustrierte Wochenschrift des Senders, die Große Österreich Illustrierte, wöchentliche Filmkritiken schrieb (vgl. Bachmann/Celan 2008, 37). Ähnlich sieht Andrea Kresimon in dem mysteriösen Traumladen – eine Art Kino, in dem das Licht ausgeschaltet wird, um die Bilder vorzuführen – eine symbolische Darstellung der »Traumfabrik« der Filmindustrie (Kresimon 2004, 44). Hans Schwitzke hat schon 1961 auf die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Film und Hörspiel verwiesen, vor allem im Gebrauch von Blende und Schnitt (Schwitzke 1961, 23 f.). Und Jost Schneider sieht in den Laurenz angebotenen Träumen Elemente von populären Filmen der damaligen Zeit: Der erste Traum z. B. ähnele mit seinen Verfolgungsszenen einem Action-Film, der zweite mit dem Raketenflug einem Science-FictionFilm und der dritte einem phantastischen Melodrama (Schneider 1999, 132–134). Die Verbindung zwischen Film und Gewöhnung an die herrschenden Verhältnisse der Nachkriegsgesellschaft, wie sie in Laurenz verkörpert wird, kritisiert Bachmann im vierten Teil ihrer Frankfurter Vorlesungen, indem sie von der Möglichkeit einer »Veränderung durch die Kunst« (KS, 267; W 4, 196) spricht. Was dagegen wirke, so Bachmann, sei eine gewisse »Gewöhnung [...], eine Abstumpfung oder eine Sucht, wie nach einer Droge, ein wenig schockiert zu werden« (KS, 268; W 4, 197). Heute brauchen die Menschen nicht mehr »Poesie wie das Brot«, sondern »die Leute brauchen heute Kino und Illustrierte wie Schlagsahne« (ebd.). Laurenz’ Verhältnis zu seinen Träumen spiegelt schwere Turbulenzen im Leben der Autorin wider, vor allem das Scheitern ihres Traums von einem festen Halt in der Liebe (McVeigh 2016, 145–153). Das plötzliche
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Ende einer »sehr intensive[n] Freundschaft« (Weigel 1979, 15) mit ihrem Mentor Hans Weigel im Juli 1951 sowie auch wenige Monate später das vorläufige Scheitern einer Liebesbeziehung mit ihrem Dichterfreund Paul Celan finden in Laurenz’ Verzicht auf die Möglichkeit einer ekstatischen Liebe ihren Niederschlag. Bachmann nennt diese Periode ihres Lebens »die Phase des heroischen Nihilismus« (Brief an Hans Weigel, 2.8.1951; zit. nach McVeigh 2016, 153), was ihr allerdings Anlass gibt, ihre Zukunft in Wien zu überdenken. Ihre Unentschiedenheit in der Frage, ob sie die feste Arbeit beim Sender gegen ein materiell riskanteres Leben als freie Schriftstellerin austauschen soll, drückt sich in dem im Frühjahr 1952 entstandenen Gedicht Wie soll ich mich nennen? aus (»Aber in mir singt noch ein Beginnen / – oder ein Enden – und wehrt meiner Flucht«; W 1, 20; vgl. McVeigh 2016, 155–158). Wenn menschliche Existenz, Bachmanns Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden zufolge, im Spannungsfeld zwischen Unmöglichem und Möglichem lokalisiert ist, dann ist Laurenz, der Protagonist des Hörspiels, bis zu seiner Entdeckung des Traumladens noch völlig der Sphäre des Möglichen verhaftet. In dem Hörspiel geht es jedoch um seine Begegnung mit dem Unmöglichen. Jürgen P. Wallmann bemerkt in seiner Rezension der gesammelten Hörspiele: »Schon in diesem ersten Hörspiel Ingeborg Bachmanns findet man die so typische Verbindung von Realem und Irrealem, die Übergänge zwischen Traum und Wachen« (Wallmann 1994, 194). Es ist bereits mehrfach betont worden, dass diese Akzentuierung nicht nur für Bachmann, sondern für das Hörspiel dieser Zeit überhaupt typisch war. Heinz Schwitzke, ein ausgezeichneter Kenner des Hörspiels der frühen Nachkriegszeit, hat 1961 darauf hingewiesen, dass Günter Eich mit seinem 1950 entstandenen Hörspiel Träume »der eigentliche Durchbruch« der neuen Gattung gelungen war (Schwitzke 1961, 13). Möglicherweise kannte Bachmann, etwa durch ihre Freundin Ilse Aichinger, Eichs Hörspiel, das am 19.4.1951 im NWDR zur Aufführung kam, als sie ihren Erstling schrieb, denn, so Kurt Bartsch: »Die Präferenz für den Traum als modus procedendi im Hörspiel hat zweifellos mit dem Selbstverständnis der traditionellen Ausprägung des literarischen Radiogenres, genuine Ausdrucksform für Konflikte zu sein, die auf einer ›inneren Bühne‹ ausgetragen werden, und mit den dementsprechenden, in den fünfziger Jahren aktuellen hörspieldramaturgischen Vorstellungen zu tun. Die dem Medium Hörfunk wesenhafte ›Abstraktion von einer sichtbar gegenständlichen Welt‹
[...] und die Möglichkeit, dank der radiotechnischen Gestaltungsmittel und vermöge seiner akustischen Ausdrucksmittel zwischen verschiedenen Zeitebenen sowie zwischen realen, irrealen oder traumhaften Räumen auch überzeugend zu wechseln, erleichtern die Darstellung psychischer Grenzsituationen und existentieller, eben auf einer ›inneren Bühne‹ stattfindender Konflikte« (Bartsch 1988, 80; Bartsch zitiert Werner Klose: Didaktik des Hörspiels. Stuttgart 1974, 77). Bachmanns Verwendung des Traummaterials unterscheidet sich jedoch wesentlich von der Eichs, und zwar auf eine Weise, die auch für ihre spätere Arbeit von Bedeutung ist. In ihrem wachen Leben erscheinen Eichs Figuren normal und zufrieden, und erst ihre unheilvollen und bedrohlichen Träume verraten, was sich hinter der Normalität der frühen 1950er Jahre verbirgt. Für Bachmanns Figur Laurenz dagegen ist das alltägliche Leben eine einzige Kränkung, und die Träume, die in dem Traumladen vor ihm entfaltet werden, enthüllen auf sehr konkrete Weise, wie und warum er leidet (wie im zweiten Kapitel von Malina das Ich) und wonach er sich sehnt (wie im Fall des Ich in den »Geheimnissen der Prinzessin von Kagran«). Als einfacher Angestellter in einem von einem tyrannischen Generaldirektor beherrschten Büro ist Laurenz fast obsessiv bemüht, seine Arbeit einwandfrei zu erledigen. Bartsch beschreibt Laurenz »als Produkt kleinbürgerlicher Erziehung [...], eingeübt ins Stillhalten, ins passive Erdulden der bestehenden Verhältnisse, gegen die er sich jede bewußte ›Revolte‹ versagt. Er nimmt widerspruchslos die Erniedrigungen seiner beruflichen Stellung auf sich, in der er trotz der geradezu mustergültigen Erfüllung der bürgerlichen Tugenden von Fleiß und Bescheidenheit (W 1, 183) der Willkür des Generaldirektors ausgesetzt ist« (Bartsch 1979, 317). Weil die Träume nicht in dieser Arbeitswelt angesiedelt sind, erscheinen sie zunächst als deren Gegensatz. Doch drückt sich in ihnen keineswegs das Unerreichbare menschlicher Hoffnungen aus, und sie stehen damit auch nicht für das ›Unmögliche‹ im Sinne von Bachmanns Rede. Im ersten Traum, »in dem einer bekannten Traumsymbolik (Tunnel, Flucht, Blut) Erinnerungszeichen der jüngsten Geschichte (Bomben) hinzugefügt sind« (Weigel 1999, 262), leitet der Generaldirektor einen Luftkrieg, löst Bomben aus und »greift unser Herz an« (W 1, 196). Von seinem eigenen Schrei »Erbarmen!« (W 1, 197) wird Laurenz geweckt. In Traumsprache übersetzt, zeigt sich hier, was der tyrannische Direktor seinen Untergebenen tatsächlich antut, und gleichzeitig werden Laurenz’ geheimste Wünsche aufgedeckt, indem er sich im Traum in einen
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verlässlichen Führer verwandelt, auf den seine weniger mutigen Kollegen angewiesen sind. Den rasenden, sich immer schneller nähernden Zug im ersten Traum deutet Helga Schreckenberger als Metapher der unaufhaltsamen Macht der Geschichte, vor der man in den Nachkriegsjahren mittels der Unterhaltungsmedien Radio und Film fliehen wollte, sowie als Metapher des Fortlebens des Faschismus nach dem Krieg (Schreckenberger 2012, 221). Vor dem Hintergrund seiner tatsächlichen Situation sind der zweite und der dritte Traum schon eher ›unmöglich‹. Im zweiten Traum wird er selbst zum Generaldirektor, dem der Rest seiner ›Welt‹ Anerkennung zollt und auf dessen Launen eingegangen werden muss. Während der tatsächliche Generaldirektor sich vor ihm tief verbeugt, erinnert ihn Laurenz daran, dass er einmal »Generaldirektor eines lächerlichen Konzerns [war], den ich übernommen, was sage ich, hinaufgeführt, zu einer der gigantischsten, einer noch nie dagewesenen weltumspannenden Organisation gemacht habe« (W 1, 202). Der dritte Traum ist noch phantastischer. Sowohl Bartsch als auch Hans Höller verstehen Laurenz’ dritten Traum als Vorwegnahme des Gegensatzes, auf dem Bachmanns spätere Hörspiele, besonders Der gute Gott von Manhattan beruhen. Für Höller ist es der »Gegensatz zwischen dem ›anderen Zustand‹ der Liebe und der geschichtlich gewordenen ›Ordnung‹, dem gesetzlich abgesicherten System der Institutionen und Konventionen des Bestehenden« (Höller 1987, 75 f.). Bartsch schreibt: »Im dritten Traum des Laurenz wird der latente Wunsch des kleinen Angestellten manifest, den kleinbürgerlichen Zwangsverhältnissen und den in der alltäglichen Realität verschleierten, in den ersten beiden Träumen jedoch aufgedeckten zerstörerischen Kräften zu entkommen und die Erfüllung in der totalen mystischen Vereinigung mit der geliebten Frau zu finden« (Bartsch 1988, 82). Der dritte Traum enthält Motive, die häufig bei Bachmann anzutreffen sind – Schiffsreise, Wasser, Unterwasserwelt – und in denen sich hier die herbeiphantasierte Beziehung zu der Sekretärin Anna ausdrückt. Als Verkörperung noch großartigerer Phantasie als derjenigen, die Laurenz sich auszudrücken erlaubt, gibt sich Anna als Sirene-Figur keineswegs mit den Freuden einer Privatsphäre der 1950er Jahre zufrieden, in der Laurenz sich am Ende seines Arbeitstags erholen könnte. Annas Schiff geht in einem gewaltigen Sturm unter und Laurenz findet sie in Gestalt einer Undine-ähnlichen Meerjungfrau am Meeresboden wieder. Bartsch bemerkt dazu: »Mit dem
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Eintauchen in das fremde Element und mit der Auflösung der Körperlichkeit vollzieht sich die mystische Vereinigung« (Bartsch 1988, 83). In einer Sprache, die an Der gute Gott von Manhattan oder sogar an »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« erinnert, erklärt Laurenz schwärmerisch: »Ja, wir werden ewig jung sein und nie sterben. Wir werden für immer beisammen sein, und nichts soll uns trennen. Unser Haus wird auf den Quellen des Lebens stehen, wir werden in allen Geheimnissen seiner wechselnden Mauern wohnen. Und in den Spiegeln des Grundes kann ich deine schöne Gestalt vertausendfältigt sehen« (W 1, 212). Höller versteht die dahinter verborgenen Wünsche als die nach einem »Dasein ohne Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Natur, geschichtslose[m] Sein im Einklang mit der Natur, Schönheit, die im Rhythmus der Übereinstimmung und vielfältigen Spiegelung der ›schöne(n) Gestalt‹ des andern, der der Geliebte ist, liegt, Zeitlosigkeit, die den Tod hinter sich hat und das Sterben nicht mehr kennt« (Höller 1987, 89). Da diese Phantasie mit seiner Arbeitswelt nicht das geringste gemein hat, ist das der Traum, den Laurenz sich wünscht. Da sich die meisten Interpretationen auf Laurenz’ Machtphantasie im zweiten und die »mystische Vereinigung unter Wasser« im dritten Traum konzentrieren, wird die erniedrigende Behandlung Annas durch Laurenz im zweiten Traum oft übersehen, die sie buchstäblich in den Selbstmord treibt, aber auch die roboterhafte Kälte der Sirene Anna in der ersten Hälfte des dritten Traumes. Die psychischen Turbulenzen im Leben der Autorin zur Zeit der Entstehung des Hörspiels (McVeigh 2016, 152 f.) veränderten im Verlauf der Jahre 1951 und 1952 Bachmanns Verständnis der Liebe auf eine Weise, die für die Darstellung im späteren Werk von Bedeutung ist: Im Ansatz ist dies bereits im zweiten Traum des Hörspiels zu sehen. In einem Interview aus dem Jahr 1971 bestätigte Bachmann mit einer Aussage über die weibliche Hauptfigur im Roman Malina (1971) die Bedeutung dieser frühen Periode ihres Schaffens für das weitere Werk; damit eröffnet sich auch ein möglicher Interpretationsspielraum für die Träume in diesem Hörspiel: »Es wird von ihrer Jugend gesprochen, aber was sich in den entscheidenden Jahren von 18 bis 25 ereignet hat, die Zerstörung ihrer Person, das wird in Träume verlegt« (GuI, 108). Die »entscheidenden Jahre«, auf die sie hier verweist, fallen in ihrem eigenen Leben in ihre Wiener Jahre (1946–53). Und der literarische Niederschlag dieser »Zerstörung« ihrer Person findet sich nicht nur in späteren Werken wie in der Erzählung Undine geht, im
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Roman Malina oder in den Todesarten-Texten, sondern im Ansatz auch in den Träumen ihres ersten Hörspiels Ein Geschäft mit Träumen. Dass Bachmann bis zu ihrer Abreise aus Wien den gescheiterten Traum eines festen Halts in der Liebe aufgibt und sich noch stärker ihrer Arbeit zuwendet (vgl. McVeigh 2016, 145–167), hat im Verzicht Laurenz’ auf seinen eigenen Traum der Liebe und der Rückkehr in den Arbeitsalltag eine Parallele. In der Bachmann-Forschung besteht jedoch weder über die Bedeutung des Hörspielschlusses noch über die Beziehung zwischen dem Hörspiel und der gleichnamigen Erzählung Einigkeit. Im Hörspiel ist Laurenz nicht bereit, die Zeit für den Traum zu bezahlen, die der Traumverkäufer verlangt. Als der Verkäufer ihm erklärt, »Träume kosten Zeit, manche sehr viel Zeit«, protestiert Laurenz, dass er schon »für den kleinen Traum« keine Zeit übrig hat: »ich muß arbeiten, und meine Arbeit geht meiner Zeit vor« (W 1, 213). Höller verbindet Laurenz’ Weigerung, den Traum zu kaufen, mit seiner Männlichkeit: »Im ersten Hörspiel ist es ebenfalls bereits der Mann, der – wie in der späteren Erzählung Undine geht oder im Roman Malina – jenen anderen Zustand in der Liebe, jene eigentümlichen Seins- und Zeitverhältnisse des utopischen Moments zugunsten der gesellschaftlichen Institutionen und ihrer durch Arbeit und Herrschaft sanktionierten Zeitverhältnisse verrät« (Höller 1987, 91). Für Bartsch dagegen bedeutet Laurenz’ Unwille, seine Phantasien zu verwirklichen, dass seine klassenspezifische Sozialisation sogar die Sehnsucht nach jenem »Unmöglichen« vermindert, das Bachmanns Auffassung nach das Spektrum von Alternativen im Rahmen des »Möglichen« erweitern könnte: »An der Ablehnung des Handels – gerade Zeit meint Laurenz nicht entbehren zu können – macht Bachmann die nachhaltige Verinnerlichung der Normen- und Wertvorstellungen der Gesellschaft besonders durch den sogenannten kleinen Mann deutlich: Laurenz zögert keinen Augenblick, das freudlose Leben und die Arbeit unter entwürdigenden Bedingungen der Verwirklichung eines Wunschtraumes vorzuziehen« (Bartsch 1988, 83 f.). Sigrid Weigel beurteilt Laurenz’ Unfähigkeit, sich auf seine Phantasien einzulassen, allerdings weniger nachsichtig: »Damit wird implizit die Zeit als ›echter Wert‹ über das Geld als Scheinwert gestellt. So gelesen hat das Hörspiel Teil an dem kulturkonservativen Diskurs darüber, was man alles für Geld nicht kaufen könne, ein Diskurs, der selbst schon zum Stereotyp geworden ist« (Weigel 1999, 262 f.). Für Weigel bietet die Erzählung Ein Geschäft mit Träumen, deren Entstehungs-
zeit sie nach der des Hörspiels ansetzt, eine komplexere Lösung an: »Zwar gilt auch in der Erzählung, daß man Träume nicht kaufen kann, aber die dagegen gesetzte Äquivalenz von Zeit und Traum ist zugleich komplizierter geworden, denn daß Träume Zeit kosten, heißt noch lange nicht, daß man mit Hilfe von Zeit auch über Träume verfügen könne« (ebd., 264). Bartsch dagegen meint, dass in der Erzählung der Traum Laurenz grundlegend verwandelt hat: »Er ist jedoch vom letzten Traum derart betroffen, daß er sich in den normalen Arbeitsprozeß nicht wieder einzugliedern vermag« (Bartsch 1988, 84). Bei derart unterschiedlichen Ansätzen wird jedoch übereinstimmend davon ausgegangen, dass Laurenz aus Gründen, die auf seine eigene psychische Konstitution zurückzuführen sind, unfähig bleiben wird, auf irgendeine Weise die außerhalb seiner Arbeitswelt liegenden und qualitativ davon verschiedenen Phantasien zu verwirklichen, die seine Träume versprechen. Da Laurenz glaubt, dass er es sich nicht leisten kann, sich auf das »Unmögliche« einzulassen, ist ihm das »Widerspiel des Möglichen mit dem Unmöglichen« verwehrt, das ihm erlauben könnte, seine Möglichkeiten zu erweitern. Es sind jedoch noch weitere Lesarten möglich. Ausgehend von Bachmanns Behauptung, »daß wir in der Ordnung bleiben müssen«, heißt es bei Bartsch: »Würde dem dritten Traum des Laurenz Dauer verliehen, bedeutete dies ›den Austritt aus der Gesellschaft‹ (W 4, 276), und der ist [...] nicht möglich« (Bartsch 1988, 84). Doch auch im dritten Traum sind Laurenz’ Phantasien so sehr von der »Ordnung« unterwandert, dass sie ihn daran hindern, sich eine tatsächliche Alternative zu eben dieser bestehenden Ordnung auch nur vorzustellen. Das bedeutet, dass Laurenz’ Träume nicht als das Gegenteil seiner »kleinbürgerlichen Wünsche, Ängste und Wertvorstellungen« (ebd., 83) aufzufassen sind, sondern wenigstens zum Teil als ihre phantasievolle Darstellung. Während Laurenz in seinen ersten beiden Träumen ganz offenkundig eins ist mit den ihn verfolgenden Mächten, zeigt sein dritter Traum auf subtilere Art, dass selbst seine Vorstellung von unbedingter Liebe ein Produkt gerade jenes autoritären männlichen Systems ist, dessen Opfer er ist. Der Traum erreicht seinen Höhepunkt, als Anna aufhört, ihn sadistisch zu quälen, seinen Mut und seine Opferbereitschaft anerkennt, ihm ewige Liebe verspricht (»Ich werde dich lieben um deiner Treue willen, und ich werde dir treu sein um deiner Liebe willen«; W 1, 212) und sich selbst sogar für unwürdig erklärt: »Mein Gott, ich verdiene dein Bleiben nicht« (W 1, 211).
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Was die akustischen Mittel betrifft, so zählt Sigrid Weigel zu den hervorragenden Qualitäten des Hörspiels »[d]ie Perfektion ihrer dramaturgischen Anweisungen, de[n] Einsatz von Geräuschen, Musik, Lautstärke, Hall und Filter sowie die Stimmenführung von Hintergrund und Hauptfiguren« (Weigel 1999, 260). Ein Geschäft mit Träumen entstand zu einer Zeit, in der Bachmann und ihre Kollegen im Script Department des Senders mit Formen, Inhalten, akustischen und technischen Möglichkeiten experimentierten. Insbesondere die Straßenszenen mit den vielen Stimmen der Passanten waren nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich als Spiegel der Wiener Nachkriegsgesellschaft besonders geglückt. Die Einführung von »Mann-auf-der-Straße«-Sendungen in den österreichischen Rundfunk durch den Sender RWR, in denen Reporter Passanten über aktuelle Themen der Politik, Filmen, Persönlichkeiten usw. befragten, mag Bachmann als Vorbild für diese Szenen vorgeschwebt haben. Jedoch waren es eben diese akustischen Aspekte, die Bachmann und dem Sender, der solche Innovationen förderte, scharfe Kritik eintrugen. Die Wiener Arbeiter-Zeitung bemängelte z. B. an Bachmanns erstem literarischem Hörspiel, »die alte Geräuschkulisse, nur etwas lauter und emsiger vorgeführt als sonst« (AZ, 9.3.1952, 10). Bachmann nahm die Kritik ihres unkonventionellen Klangteppichs in Ein Geschäft mit Träumen offenbar zur Kenntnis und reduzierte in ihren späteren Hörspielen die Anwendung von nichtmusikalischen akustischen Mitteln drastisch. Zur akustischen Struktur des ersten Hörspiels gehört auch die Musik, die eigentlich nur an wenigen Stellen auffällt, z. B. die »leise irritierende Musik [...], die als Leitmotivsmusik immer wieder kommt, sobald wir uns dem Traumladen nähern« (W 1, 191). Sie funktioniert nicht als Überbrückung von der einen Szene zur anderen, sondern wird in die Handlung selbst eingebaut und signalisiert den Übergang in den dunklen Bereich der Träume. Akustisch könnte jedoch der Übergang in die Traumwelt schon etwas früher in der Straßenszene vorgezeichnet worden sein, in der die Stimmen der Passanten, des Rasierklingenmannes und des Drehorgelmannes »nicht real, sondern unter Hall« (W 1, 193) klingen (vgl. Schuller 1984, 51). Denselben Effekt verwendet Bachmann am Ende des Hörspiels, wenn Anna, wieder im Büro, den vom Kollegen Mandl für seine Frau gekauften Schal mit dem Wort »traumhaft« beschreibt, mit der Regieanweisung: »Das Wort ›traumhaft‹ hallt jetzt bis zum Schluß durch Filter nach« (W 1, 216).
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In der Zeit zwischen dem ersten Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen und dem nächsten, Die Zikaden (1954 geschrieben), plante Bachmann im Sommer 1953 ein weiteres mit dem Titel Die Straße der vier Winde, das sie in einem Brief an die Zeitschrift Merkur erwähnt (Brief an Hans Paeschke vom 30.7.1953). Dieses Hörspiel ist jedoch, falls es jemals über das Planungsstadium hinaus gelangt ist, zumindest unter diesem Titel nicht erhalten. Im Nachlass Ingeborg Bachmann befindet sich allerdings der Entwurf zu einem Hörspiel mit dem Titel Wohnen, Weiterwohnen (N3688–3692); als Titel für ein Projekt des weiblichen Ich ist dieser Entwurf in den Roman Malina eingegangen (TKA 3.1, 598; vgl. Kommentar TKA 3.2, 958).
Die Zikaden Bachmanns Übersiedlung nach Italien im Sommer 1953 war für sie zunächst kein geplanter Umzug. Einer Einladung des Komponisten Hans Werner Henze, den sie im Herbst zuvor in Mainz auf der Tagung der Gruppe 47 kennengelernt hatte, mit ihm nach Italien zu ziehen, folgte sie aus verschiedenen Gründen nicht sofort. Im September 1952 machte sie z. B. mit der Schwester Isolde eine Italienreise, die für sie sehr enttäuschend verlief. Über die Reise schreibt sie ihrem Freund Herbert Eisenreich am 11.11.1952: »Ich war vier Wochen in Italien [...] und, alles in allem, sehr verloren. Komisch, dass es Leute gegeben hat, die einmal ein ›Italienerlebnis‹ hatten« (zit. nach McVeigh 2016, 183). Zudem zögerte sie weiterhin und bis zum Frühjahr 1953, ihre feste Arbeit bei RWR gegen die Unsicherheiten eines freien Künstlerlebens einzutauschen. Bestenfalls könne sie auf drei Monate weg, schrieb sie Ende Februar/Anfang März 1953 an Henze, und sie sei unschlüssig, ob sie ihre Stelle aufgeben solle (Bachmann/Henze 2004, 14). Dieser Plan änderte sich rasch, als Hans Weigel offenbar versuchte, eine Zusammenarbeit Bachmanns mit Henze zu verhindern. Henze schreibt am 17.6.1953 an Bachmann: »weigel in wien sagte, ich müsse gewärtig sein, dass Sie in der nächsten zeit plötzlich nicht mehr an sich glauben und mich bitten, Sie zu entschuldigen, aber leider seien Sie doch nicht geeignet, den ›idiot‹ zu schreiben« (Bachmann/Henze 2004, 18). Dieser Vorfall könnte Bachmann das erwünschte Startsignal zur Abreise aus Wien geboten haben. Zwei Wochen später schreibt sie an Henze: »Inzwischen geht alles dem Ende zu, ich fange an, meine Sachen zu packen und das
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Zimmer zu räumen, damit ich am 1. August gleich weg kann« (Bachmann/Henze 2004, 19). Wie Bachmann suchte Henze, der die Musik zu dem Hörspiel Die Zikaden komponierte, auf der Insel die Möglichkeit, in Ruhe und Freiheit zu arbeiten (vgl. GuI, 59). Jedoch wurde die relative Isolation der Künstlerkolonie auf der Insel für ihn bald zur Belastung. Henze schreibt im Rückblick: »ich ging aus Deutschland weg, sobald ich es mir erlauben konnte [...]. So baute ich in Italien um meine Person und meine Arbeit eine eigene Welt auf, aus meinen Vorstellungen, meinen Wünschen und Träumen. Ich merkte nicht, wie ich mich dabei zusehends isolierte. [...] Mit einem Mal hatte ich den Eindruck [...], daß ich in einer Einöde lebte [...]« (zit. nach Höller 1987, 100). Die Einsicht, dass der sichere Zufluchtsort eine Illusion war, traf schließlich auch Bachmann und bot reichen Stoff für das zweite Hörspiel. Bachmann begann 1954 in Rom mit der Arbeit an diesem zweiten, vom Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg in Auftrag gegebenen Hörspiel Die Zikaden und beendete es im Winter 1954/55 in Neapel (Uraufführung im NWDR Hamburg am 23.3.1955). Man kann das Hörspiel als Bachmanns Versuch verstehen, sich mit ihrer Flucht aus Wien und ihren Erfahrungen auf der Insel Ischia auseinanderzusetzen, die wie die meisten Mittelmeerinseln in der heißen Jahreszeit vom ›Gesang‹ der Zikaden widerhallt. In den 1950er Jahren lebten auf Ischia auch viele Künstler wie W. H. Auden, Truman Capote, Anthony Hecht, Chester Kallman, Pier Paolo Pasolini, Ernst Schnabel – Leiter der Abteilung Wort beim NWDR, von dem sie den Auftrag zu diesem Hörspiel erhielt –, William Walton u. a. (Hapkemeyer 1990, 65; Höller 1999, 84). Das zentrale Bild des Hörspiels geht auf einen Dialog in Platons Phaidros zurück: »Man erzählt aber, daß diese Zikaden einstmals Menschen waren, ehe es noch Musen gab. Aber als die Musen entstanden und der Gesang an den Tag trat, da wurden einige von jenen so hingerissen vor Lust, daß sie singend Speise und Trank vergaßen und, ohne es innezuwerden, dahinstarben. Von diesen stammt seitdem das Geschlecht der Zikaden, das von den Musen dies Geschenk empfing, von ihrer Entstehung an keinerlei Nahrung zu bedürfen, sondern ohne Speise und Trank sogleich zu singen, bis sie sterben, dann aber zu den Musen kommen, um ihnen zu melden, wer von den Menschen hier eine von ihnen verehre« (zit. nach Spiesecke 1993, 63). Hartmut Spiesecke betont jedoch, dass Bachmann an Platons Mythos bedeutsame Änderungen vorgenommen hat: »Während Platons Zikaden das Lebensnotwendi-
ge über dem Singen vergaßen, hören die Zikaden des Hörspiels absichtlich mit dem Leben auf, sie flüchten in den Gesang. Und während Platons Zikaden ihr Leben lang ihrer Lust des Singens nachgeben können und dürfen, sind Ingeborg Bachmanns Zikaden zum Singen ›verzaubert, aber auch verdammt‹« (ebd., 64). Der Bruch mit ihrem Mentor Hans Weigel nach dem Scheitern ihrer Liebesbeziehung im Sommer 1951 führte Bachmann auch zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses zwischen Leben und Kunst (vgl. McVeigh 2016, 184 f.). Zwischen Spätsommer 1951 und Frühjahr 1953 entzog sie sich langsam Weigels Einfluss und gelangte schließlich zu einer neuen Einsicht über ein Leben in der Dichtung, wie sie am 11.11.1952 an Herbert Eisenreich schrieb: »Ich habe jetzt nach langer Zeit wieder zu schreiben angefangen, mit einem guten Gefuehl; alles ist deutlicher und klarer, und vielleicht wird noch ein Mensch aus mir. Das wuensche ich mir sehr. Denn ich bin draufgekommen, dass das das Erste ist und die Literatur erst das Zweite oder Letzte, wenn Sie wollen« (zit. nach McVeigh 2016, 184). Das Primat der Menschwerdung vor der Kunst, das aus dem Brief an Eisenreich hervorgeht, stellt genau die ideelle Grundlage dar, vor deren Vernachlässigung im zweiten Hörspiel gewarnt wird. In Die Zikaden geht es nicht um Künstler, obwohl ein solcher zu den Flüchtlingen auf der Insel zählt, sondern um Menschen, deren Leben aus ihrer Sicht unerträglich geworden ist, die »den großen geheimen Schmerz« (KS, 246; W 4, 275) empfinden und in deren Gesichter »viele Grenzübertritte gestempelt sind« (W 1, 222). Bartsch hebt hervor, dass das Hörspiel »als Absage an Kunst als Selbstzweck gedeutet werden [kann]. Ein solches l’art pour l’art ist in den Augen der Autorin ›unmenschlich‹ [...] und im Sinne ihrer Ausführungen in der ersten Frankfurter Vorlesung auch unmoralisch« (Bartsch 1988, 91). In dieser Hinsicht ist auch Höllers Beobachtung wichtig, dass das Hörspiel auf eine thematische Akzentverschiebung in Bachmanns Schriften hinweist: »Das Hörspiel Die Zikaden, kurz nach dem Erscheinen des Lyrikbandes Die gestundete Zeit geschrieben, steht werkgeschichtlich [...] zwischen zwei entschieden voneinander abhebbaren Utopie-Konzeptionen. In Anrufung des Großen Bären vollzieht sich der kritische Bruch mit den traditionellen räumlich-geographischen Zeichen der Ausfahrtsund Insel-Utopie, die im ersten Lyrikband eine wichtigen Bedeutung hatten« (Höller 1987, 94). Die moralische Botschaft des Hörspiels wird noch betont durch einen Erzähler – ein Kunstgriff, der an das epische
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Theater erinnert und sonst nur selten in Bachmanns Schriften vorkommt. Der Gute Gott von Manhattan im gleichnamigen Hörspiel und der Sprecher in Bachmanns Radiofamilie-Skripten haben jedoch eine ähnliche Funktion. Der Erzähler in Die Zikaden stellt den Schauplatz vor, sinnt über seine eigene Vergangenheit nach und unterstreicht gleichzeitig die allegorische Bedeutung des Hörspiels: »[...] warum spreche ich von diesen Leuten? Ich kenne sie ja nicht. [...] Sie kommen aus der ganzen Welt. Und ich kenne sie alle« (W 1, 222). Ähnlich auch am Schluss des Hörspiels: »Die Insel und die Personen, von denen ich erzählte, gibt es nicht. Aber es gibt andere Inseln und viele Menschen, die versuchen, auf Inseln zu leben. Ich selbst war einer von ihnen [...]« (W 1, 267). Höller sieht in der von dem Erzähler vertretenen Position Bachmanns »Wendung gegen die irrationalistischen Tendenzen des Hörspiels der fünfziger Jahre«. In diesem Sinne können auch die Regieanweisungen als ein »Instrumentarium kritischer Verfremdung« verstanden werden (Höller 1987, 95): »Keine der Personen soll deklamieren oder in den Text Geheimnisse hineinlegen, die nicht vorhanden sind« (W 1, 219). Zwar sieht es so aus, als hätten sich die Figuren des Hörspiels aus persönlichen Gründen auf die Insel zurückgezogen: Mrs. Brown hat ein Kind durch eine ungewollte Abtreibung verloren, Mr. Brown einen Sohn im Krieg; Prinz Ali musste auf den Thron verzichten, und Jeanette wünscht sich ewige Jugend und Schönheit. Doch Bachmann war, wie nicht zuletzt aus ihren Ausführungen über die »Geschichte im Ich« in den Frankfurter Vorlesungen hervorgeht (KS, 299; W 4, 230), lange vor der Entstehung des feministischen Slogans davon überzeugt, dass ›das Private politisch‹ ist. Tatsächlich sind diese Figuren regelrecht Objekte einer für die 1950er Jahre typischen Satire (und nicht zuletzt der »Versprechungen der Fremdenverkehrsindustrie«; Bartsch 1988, 91); sie stehen für das Repertoire persönlicher ›Tragödien‹, von denen die Boulevardpresse (nicht nur) in dieser Zeit mit Vorliebe berichtet. Überdies haben die Figuren dieses Hörspiels ganz offensichtlich die Sitten der Gesellschaft mitgebracht, die sie hinter sich lassen wollten. Schon die Sehnsucht nach dem Fremden, dem Süden, dem Exotischen, dem Anderen ist seit je ein fester Bestandteil nordeuropäischer Phantasien. Das wird besonders deutlich in den Dialogen der Figuren mit dem ›Eingeborenen‹ Antonio, auf den sie ihre intimsten Wünsche projizieren und der sie letztendlich immer mit einem schroffen »Nein« abweist. (In dieser Hinsicht sind die Figuren, worauf Höller, ein Gedicht Bachmanns zitierend, hinweist,
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tatsächlich im Wortsinn »des Kontinentes Gefangene«; Höller 1987, 97; vgl. W 1, 57.) Daher ist es wohl auch nicht ohne Bedeutung, dass die Inselzeitung nur Lokalnachrichten bringt, denn, wie es später bei Bachmann heißt, in der ›kleinen Geschichte‹ ist schon ›die große‹ enthalten (TKA 2, 270; W 3, 433). Die Figur Robinson, eine der beiden Hauptfiguren des Hörspiels, hat wie die anderen »das Vergessen gesucht« (W 1, 230), aus der Sicht des Erzählers allerdings geht sein »endgültiger Austritt aus einer Gesellschaft, die sich fortgesetzt an meinem Leben vergriffen hat« (W 1, 259), »ein wenig zu weit« (W 1, 230). Auch Robinson hat seine Vergangenheit mitgebracht: Schon sein Name erinnert an Daniel Defoes Schiffsbruchsgeschichte Robinson Crusoe. Der »Gefangene«, Robinsons Gegenspieler, wird dagegen unfreiwillig auf der anderen Insel gefangen gehalten, die ironischerweise »Ort der Erlösung« genannt wird (W 1, 223), eine Bezeichnung, die an den Slogan erinnert, der über dem Tor von Auschwitz steht: »Arbeit macht frei«. Der Gefangene ist sich darüber im Klaren, dass er auch im Exil oder in der Gefangenschaft dem Panoptikum der Gesellschaft nicht entkommt: »sie hat mich nur versetzt, transferiert auf den Außenposten. Sie hat ihre Augen immer auf mir« (W 1, 262). Er fungiert als moralische Kontrastfigur zu den trägen Inselbesuchern, denn er weiß, was es bedeutet, gewaltsam aus der Gesellschaftsordnung ausgeschlossen zu werden. In gewisser Hinsicht haben die Inselbewohner sich für das »Unmögliche« entschieden, und in dieser Position sind sie nicht in der Lage, einen künstlerischen oder anderweitigen Beitrag zur Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten zu leisten. Das ist jedoch die Forderung, die der Gefangene Robinson hinterlässt: »Willst du nicht aufstehen und sehen, ob diese Hände zu gebrauchen sind? Oder willst du dir die Welt erlassen und die stolze Gefangenschaft? / Such nicht zu vergessen! Erinnre dich! Und der dürre Gesang deiner Sehnsucht wird Fleisch« (W 1, 267). Roland Heger nennt Die Zikaden »das formal vollendetste der drei Hörspiele« (Heger 1977, 174), und dies liegt vor allem an der integralen Rolle der Musik, die Henze vermutlich in enger Zusammenarbeit mit Bachmann komponierte. Im Spiel des lyrischen Idioms mit der Musik in diesem Hörspiel blickt Bachmanns »besonderes Verhältnis zur Musik« durch (GuI, 124), »in dem sich Sprachreflexion und Musikästhetik poetologisch ergänzen« (Soproni 2008, 115). In Bachmanns Essay Musik und Dichtung aus dem Jahr 1959 hebt die Dichterin diese besondere Funktion der Musik in ihren Hörspielen hervor: »Die Wor-
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te suchen ja längst nicht mehr die Begleitung, die die Musik ihnen nicht geben kann. Nicht dekorative Umgebung aus Klang. Sondern Vereinigung« (KS, 250 f.; W 4, 60). So gewinnt die Sprache in diesen Werken durch die Musik an »Überzeugungskraft« (KS, 251; W 4, 60) und – hier für das Hörspiel Die Zikaden besonders zutreffend – »eine menschliche Stimme« (KS, 252; W 4, 62). Spieseckes Untersuchung des Hörspiels ist eine der wenigen, die die Originalproduktion hinzuziehen und die Beziehung von Text und Musik thematisieren. (Aus unerfindlichen Gründen ist die Komposition von Henze, wie Spiesecke bemerkt, »weder im Druck erschienen noch überhaupt in einem Werkverzeichnis aufgeführt«; Spiesecke 1993, 56.) Die Musik, die im Hörspiel zweiundzwanzigmal vorkommt, »fungiert hier als Teil der Konstruktion und ist damit nicht, wie häufig, Klangkulisse, sondern konstitutiv für die Form« (ebd., 57). Spiesecke betont auch, dass Henzes Musik erst vom Schluss des Hörspiels aus verstanden werden kann: Erst dann wird klar, dass die Dissonanz der Henzeschen Musik der Dissonanz der Zikaden entspricht, als dem »wilde[n], frenetische[n] Gesang« (W 1, 216) von KünstlerInnen, die es als Folge ihres Rückzugs in utopische Bereiche aufgegeben haben, die menschlichen Möglichkeiten zu erweitern, sich dabei selbst zur Bedeutungslosigkeit verurteilend.
Der gute Gott von Manhattan In den Frankfurter Vorlesungen spricht Bachmann von der Diskrepanz zwischen dem privaten Lebensentwurf und einer gesellschaftlichen Realität, der die menschliche Selbstverwirklichung gleichgültig ist: »Sie können in Ihren vier Wänden ein Familienglück patriarchalischen Stils pflegen oder die Libertinage, oder was immer Sie wollen – draußen rotieren Sie in einer funktionellen Nützlichkeitswelt, die ihre eigenen Ideen über Ihre Existenz hat. [...] Hie Innerlichkeit und Sinnbezüge, Gewissen und Traum – da Nützlichkeitsfunktion, Sinnlosigkeit, Phrase und sprachlose Gewalt« (KS, 268 f.; W 4, 198). Das war auch das Thema von Bachmanns letztem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, in dem privates Glück im Kampf mit einer vollständig verwalteten Gesellschaft liegt und von ihr zunichte gemacht wird. Einmal mehr gehen Ereignisse aus Bachmanns Leben in das Hörspiel ein: Im Sommer 1955 nahm sie an einem von Henry Kissinger geleiteten Harvard International Seminar teil, dessen Ziel es war, »Personen zwischen fünfundzwanzig und vierzig
Jahren, die auf dem Weg zu Führungspositionen in ihren Heimatländern sind«, »Amerikas grundlegende Werte« nahezubringen (Harvard Summer School International Seminar Annual Reports, 2). Eine Exkursion des Seminars nach New York im August, an der Bachmann teilnahm, stellt den biographischen Ausgangspunkt des Hörspiels dar. Kritiker der 1970er Jahre haben diesem Hörspiel vorgeworfen, dass es »allemal die Realität unbeschädigt« lasse (Wondratschek/ Becker 1970, 190), doch inzwischen wurde dies Urteil revidiert. Andrea Stoll etwa bezeichnet Der gute Gott von Manhattan als »Rebellion, deren blasphemische Sprengkraft nur von wenigen Zeitgenossen wahrgenommen wurde« (Stoll 2013, 190), und auch Sigrid Weigel attestiert diesem Werk »radikale Gesellschaftskritik« (Weigel 1999, 224). Im Frühjahr 1957 beginnt Bachmann die Arbeit an einer »balladesken Liebesgeschichte« mit dem Arbeitstitel »Manhattan-Ballade«, in der sie »[d]as geheimnisvolle Dasein Manhattans« darstellen will (GuI, 24). Das Hörspiel hat eine mögliche Vorlage in einer um diese Zeit verfassten unvollendeten Erzählung, die in einer frühen Fassung den Titel »Prozeß einer Liebe« trug (Weigel 1999, 224). Eine weitere mögliche Vorlage könnte die Arbeit an einem Theaterstück mit dem Titel »Wiener Ballade« darstellen: »Eine Schauergeschichte mit Mord [...], konkret und doch gegen das Traditionelle [...]. Und halt sehr dämonisch – das unheimliche Österreich« (Brief an Hans Weigel vom 15.8.1950; zit. nach McVeigh 2016, 108), die, von Bachmann 1950 entworfen, leider nicht erhalten ist. Die Ursendung von Der gute Gott von Manhattan erfolgte in einer gemeinsamen Produktion des Bayerischen und des Norddeutschen Rundfunks am 29.5.1958. Die Antagonisten des Hörspiels sind der Gute Gott von Manhattan, Personifizierung eines allmächtigen Prinzips gesellschaftlicher Herrschaft, und Jan und Jennifer, ein leidenschaftliches Liebespaar, dessen ›anderer Zustand‹ ekstatischer Erotik die Stabilität des Systems bedroht, für das der Gute Gott steht. Die Liebesaffäre der beiden wird gewöhnlich als Darstellung der Sphäre des Unmöglichen im Sinne von Bachmanns Kriegsblindenrede gelesen. Danach ist Jennifer (als weibliche Figur sozusagen die ›natürliche‹ Verkörperung des Anderen) die zum Scheitern verurteilte Befürworterin einer subversiven, im Widerspruch zur Zivilisation stehenden Sexualität, die deshalb vom Guten Gott eliminiert werden muss. Jan dagegen kann dieser Lesart zufolge den ›anderen Zustand‹ nicht durchhalten und bestätigt am Schluss wieder seine Lo-
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yalität gegenüber der alltäglichen Ordnung des Guten Gottes, indem er Jennifer verlässt. Dieses Verständnis der Beziehung zwischen »Triebstruktur und Gesellschaft« entspricht deutlich dem von Herbert Marcuses gleichnamiger Studie, die in dem Jahr in Boston veröffentlicht wurde, in dem Bachmann dort an dem genannten Sommerseminar teilnahm (Lennox 2000, 17). Bachmanns Darstellung spiegelt das allgemeine Verständnis von Freiheit und Unfreiheit auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, der die Welt in zwei ›totalitäre‹ Blöcke teilte. Widerstand, wenn er überhaupt noch existierte, war lediglich als Produkt jenes einzigen Bereichs vorstellbar, der als noch nicht von der sozialen Ordnung geprägt galt: der Erotik als dem intimsten Schauplatz des Privatlebens. Wie in dem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen und im Gedicht Reklame umgibt Bachmann ihr Liebespaar mit ›Stimmen‹ der Massenkultur. Mit jedem Schritt des Liebespaars in Richtung ekstatische Liebe und mit jedem Umzug in ein höher gelegenes Stockwerk im Hotel werden die Liebenden von der losen Assoziationskette dieser Stimmen begleitet, die mit diversen Alltagsphrasen und Redeweisen, die typischerweise auf den Straßen von New York zu hören und sehen sind, an die allgegenwärtige und allumfassende Ordnung der Dinge erinnert. Das Streben des Liebespaares nach einer neuen Sprache steht folglich im klaren Kontrast zu der Sprache der Stimmen. Eingebettet in diese wirren, meist nicht zusammenhängenden Wörter und kurzen Sätze liegt auch leitmotivisch die eigentliche Botschaft für Jan und Jennifer: »Denk daran« oder »Denk daran, solange es Zeit ist« (u. a. W 1, 298). Doch die jungen Menschen achten nicht darauf oder nehmen die Botschaft einfach nicht ernst. Zudem wirken die Stimmen um so schwächer, je höher sie im Hotel aufsteigen, wie der Gute Gott dem Richter erklärt: »Oben ist die Luft dünner. Die Geräuschwellen gleiten ab an den Mauern« (W 1, 303). Ob als »Ausdruck für das unpersönliche Aneinandervorbeihasten und für die Kommunikationslosigkeit der Menschen in der Großstadt« (Haider-Pregler 1986, 68) oder als Werbeslogans dokumentieren sie die allgegenwärtigen Auswirkungen der amerikanischen (oder allgemeiner: modernen) Massenkultur auf das tägliche Leben. Dieses ebenfalls als Rahmenerzählung aufgebaute Hörspiel (der Richter fungiert oft als Erzähler, der allerdings nicht außerhalb der Handlung steht) beginnt an einem heißen Augusttag der 1950er Jahre in einem New Yorker Gerichtssaal. Der Angeklagte ist ein alter Mann, dem Verbrechen zur Last gelegt werden, die nicht nur abscheulich, sondern auch sinnlos scheinen,
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nämlich Bomben auf Liebespaare geworfen und zuletzt eine junge amerikanische Studentin namens Jennifer hingerichtet zu haben. Im weiteren Verlauf des Verhörs unterhält sich der alte Mann mit dem Richter zunehmend wie mit seinesgleichen, und dieser erkennt ihn als den Guten Gott von Manhattan. Gegen Ende des Hörspiels erklärt der Gute Gott in dem, was er sein »Glaubensbekenntnis« nennt, dass die Liebe der Hauptgegner der gesellschaftlichen Ordnung sei: »Ich glaube an eine Ordnung für alle und für alle Tage, in der gelebt wird jeden Tag. / Ich glaube an eine große Konvention und an ihre große Macht, in der alle Gefühle und Gedanken Platz haben, und ich glaube an den Tod ihrer Widersacher. Ich glaube, daß die Liebe auf der Nachtseite der Welt ist, verderblicher als jedes Verbrechen, als alle Ketzereien« (W 1, 318). Die Liebenden verletzen die Ordnung der »domestizierte[n] Liebe« (Broser 2009, 117) in den Konventionen Heirat, Kinder, Stabilität. Das Verhältnis zwischen Jan und Jennifer ist insofern ein »Grenzfall«, eine »asoziale Liebe« (ebd., 120), als solche Ziele für sie nicht in Frage kommen. Die Aufrechterhaltung dieser Ordnung verlangt also die Hinrichtungen derjenigen, die, wie Liebespaare, es wagen, sie zu übertreten: »Es geschah nur Recht« (W 1, 306). Am Ende kommen der Richter und der Gute Gott darin überein, dass sie lediglich zwei verschiedene Formen desselben Herrschaftsprinzips verkörpern: »Richter Es gibt nicht zwei Richter – wie es nicht zwei Ordnungen gibt. / Guter Gott Dann müßten Sie mit mir im Bund sein, und ich weiß es nur nicht. Dann war es vielleicht nicht beabsichtigt, mich außer Gefecht zu setzen, sondern etwas zur Sprache zu bringen, worüber besser nicht geredet werden sollte. Und zwei Ordner wären einer« (W 1, 319). Steht der Richter mit dem Guten Gott im Bund, so dient die Figur der Zigeunerin, »die von nirgends herkommt und nirgends zuhause ist und diese Horste begünstigt« (W 1, 303), als Symbol der absoluten Freiheit und daher neben den Liebenden als einzige wirkungsvolle Gegenkraft zum Guten Gott. Der Hinweis auf das Nest eines Adlers deutet auf die immer höher steigende Liebesekstase von Jan und Jennifer in den jeweils höheren Stockwerken des Hotels hin. Diese mysteriöse und doch klischeehafte Figur ist »[s]chon nicht mehr zu finden, wo sie eben war« (ebd.), taucht plötzlich bei dem Liebespaar auf, vermag aber wegen der verletzten Handfläche von Jennifer die Zukunft der jungen Frau nicht vorherzusagen, was deren kommenden Tod vorzeichnet. Zu Jan hingegen sagt sie, ohne auf seine Hand zu blicken: »Sie werden lange leben, junger Herr, und Sie werden nie vergessen« (W 1, 280).
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II Das Werk – C Andere Werke
In den Eichhörnchen Frankie und Billy, die Anführer einer Bande von dieser in New York allgegenwärtigen Tierart, hat der Gute Gott »teuflische Sekundanten« (Weigel 1999, 221), die kryptische Nachrichten vom Guten Gott an das Liebespaar übermitteln und ihn wiederum mit Informationen beliefern. Insofern tragen sie wie die Raben Huginn und Muninn, die in der nordischen Mythologie dem Gott Wotan dienen, eine ähnliche Funktion als Boten aus (vgl. Beicken 1988, 119). Die Namen der »blutrünstigen« (W 1, 293), aber auch humoristischen Tiere – »zum Teil an die Brüder Grimm, zum Teil an Disney erinnernd[]« (Lennox 2000, 44) – sind hier möglicherweise eine Anspielung auf die damals in den USA populäre Ballade Frankie and Johnny, in der eine Liebesbeziehung mit einer Mordtat endet (vgl. Songfacts). Die von den Eichhörnchen an Jennifer und Jan gelieferten Warnungen zitieren oft aus Goethes Gedicht Selige Sehnsucht: »Sag es niemand!« (vgl. Seim 1989, 398). Weitere Hinweise auf die Weltliteratur, und insbesondere auf eine unglücklich endende Liebesbeziehung, kommen in einem von Frankie und Billy veranstalteten Marionettentheater im Zentralpark von New York vor, dem Jan und Jennifer beiwohnen, wo die Schicksale von Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Orpheus und Eurydike und anderen Liebespaaren als Schreckensbeispiel vorgeführt werden. Die Moral dieser Vorstellung ist klar: Liebe außerhalb der jeweils bestehenden gesellschaftlichen Normen führt notwendigerweise in den Tod, was Hans Höller als einen frühen Hinweis auf das »Todesarten«-Motiv versteht (Höller 1987, 111). Wie der Richter und der Gute Gott offenbar den beschränkten Bereich des Möglichen bewohnen, so wird die Beziehung von Jan und Jennifer meist der Aussage des Guten Gottes entsprechend als Darstellung von dessen Gegenteil verstanden. Nach der ersten Begegnung in der Grand Central Station, dem New Yorker Hauptbahnhof, entwickelt sich die Beziehung langsam vom Flirt zu etwas sehr viel Bedeutsameren. Jennifer, das emanzipierte amerikanische »girl« der 1950er Jahre (zumindest wie Europäer es sich vorstellten), ergreift gegenüber einem zunächst zögernden Jan die Initiative und macht die ersten Avancen. Während sie aber von Nacht zu Nacht vom Erdgeschoß eines billigen Stundenhotels zu einem Zimmer im siebenundfünfzigsten Stockwerk mit Aussicht auf Manhattan aufsteigen – ein indianisches Wort, das Jan zufolge »himmlische Erde« bedeutet (W 1, 279) – und die erotische Ekstase immer intensiver wird, gibt auch Jan schließlich seinen Widerstand auf. »Jetzt waren sie
beim Spielen«, berichtet der Gute Gott: »Spielten: Liebe. [...] Aber es erging ihnen beim Spiel wie beim Lachen. Sie verstießen gegen jeden vernünftigen Brauch, den man davon machen kann« (W 1, 292). Von Leidenschaft überwältigt verkündet Jan schließlich die Ankunft einer neuen Welt, die auf dem Verzicht auf Zweckmäßigkeit basiert: »Ich weiß nichts weiter, nur daß ich hier leben und sterben will mit dir und zu dir reden in einer neuen Sprache; daß ich keinen Beruf mehr haben und keinem Geschäft nachgehen kann, nie mehr nützlich sein und brechen werde mit allem, und daß ich geschieden sein will von allen anderen« (W 1, 321). Als er aber einen kurzen Augenblick lang den Liebesort verlässt, um sein Schiffsticket für die Rückreise nach Europa zurückzugeben, erliegt er der momentanen Versuchung, in eine Bar zu gehen: »Weil er plötzlich, als die Entscheidung gefallen war, Lust verspürte, allein zu sein, eine halbe Stunde lang ruhig zu sitzen und zu denken, wie er früher gedacht hatte, und zu reden, wie er früher geredet hatte an Orten, die ihn nichts angingen [...]. Er war rückfällig geworden, und die Ordnung streckte einen Augenblick lang die Arme nach ihm aus« (W 1, 326 f.). Daher ist Jan nicht in dem Hotelzimmer, als die Bombe des Guten Gottes explodiert; es ist Jennifer allein, die um der Liebe willen stirbt, und mit ironischem Echo in Bezug auf das Ende von Goethes Faust erklärt der Gute Gott Jan als »gerettet«, denn er hat nicht grundsätzlich gegen die Ordnung verstoßen: »Die Erde hat ihn wieder« (W 1, 327). Am Ende des Hörspiels entsteht also der Eindruck – und so wird das Hörspiel auch meist gelesen –, dass Jan, trotz seiner überschwänglichen Beteuerung des Gegenteils, mit dem Machtprinzip des Guten Gottes in Verbindung steht. Macht wird nicht nur mit der Moderne und der Rationalisierung, sondern auch mit Männern in Verbindung gebracht. Im Gegenzug bleibt die Frau, deren erotische Selbstüberschreitung sie zum Tode verurteilt, als Verkörperung einer subversiven und grenzüberschreitenden Sexualität zurück, die das totalitäre Ordnungsprinzip des Guten Gottes bedroht. In einer komplexeren Deutung dieses Hörspiels ließe sich die Beziehung zwischen dem »Möglichen« und dem »Unmöglichen« jedoch nicht nur als Antagonismus (etwa im Sinne von Marcuse vs. Foucault) verstehen, sondern eher als »Widerspiel«. Denn wie Laurenz in dem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen und die Inselbewohner in dem Hörspiel Die Zikaden steht auch Jennifer nicht völlig außerhalb der Ordnung, der sie zum Opfer fällt. (In dieser Hinsicht könnte man auch an die Vorrede zum Buch Franza denken, in der Bachmann erklärt, dass es zwei Vari-
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anten eines verbrecherischen Systems gibt, ein »Denken, das zum Verbrechen führt«, und eines, das »zum Sterben führt«; TKA 2, 78; W 3, 342) Man könnte sogar argumentieren, dass für Jennifer die Unterwerfung unter den Mann, also der weibliche Masochismus, die Grundvoraussetzung einer weiblichen Erotik ist, die um der Liebe willen die eigene Auslöschung und Zerstörung anzunehmen bereit ist (vgl. z. B.: »Ich werde bald nichts mehr sein«; W 1, 320). Jennifer drängt Jan dazu, seine Fingernägel in ihre Handflächen zu graben, obwohl er protestiert: »Hast du mich nicht aufgefordert zu allem? Es ist mir noch nie in den Sinn gekommen, jemand so weh zu tun« (W 1, 283). Einmal verliebt, überlässt diese unabhängige junge Frau dem Mann vollkommen die Initiative; Jan übernimmt die Führung, er bestimmt den Verlauf der Liebesaffäre und entscheidet, wann sie zusammen bleiben und wann sie sich trennen. Er quält und verhöhnt sie, während sie sich seinen Forderungen und Launen beugt. Als er droht, sie zu schlagen, weil sie gewagt hat, seinem Verlangen nach Trennung zuzustimmen (»Ich sollte dich schlagen vor allen Leuten, schlagen werde ich dich ...«; W 1, 301), willigt sie begierig ein. Ähnlich wie in dem Romanfragment Das Buch Franza wird die Eroberung von Jennifers Körper als eine Entdeckungsreise in die jungfräuliche Neue Welt dargestellt, die sich wiederum ihrem kolonialen Herrn willig überlässt: »Könnt ich mehr tun, mich aufreißen für dich und in deinen Besitz übergehen [...]« (W 1, 315). In ihrem letzten gemeinsamen Zusammensein unterwirft Jennifer sich Jan vollkommen – gegen seinen Willen – und macht ihn damit zu einem traditionellen Patriarchen, dem sie sich unterordnen will: »Jan entsetzt Was tust du? Tu das nicht! / Jennifer Auf den Knien vor dir liegen und deine Füße küssen? Ich werde es immer tun. Und drei Schritte hinter dir gehen, wo du gehst. Erst trinken, wenn du getrunken hast. Essen, wenn du gegessen hast. Wachen, wenn du schläfst« (W 1, 321). Diese Beispiele legen nahe, dass Jennifer keine vor- und außersoziale Sexualität verkörpert, sondern vielmehr als Produkt eines schon existierenden Diskurses von ›gender‹ und Sexualität zu verstehen ist. Innerhalb dieses Diskurses ist die weibliche Sexualität nur vorstellbar als eine, die jener des Mannes von vornherein unterlegen ist. Man könnte behaupten, dass die beiden Diskurse über Sexualität, der an Marcuse und der an Foucault angelehnte, sich schlichtweg widersprechen und innerhalb des Hörspiels nicht zu vermitteln sind (vgl. Lennox 2000). Unabhängig von der Frage, ob dies tatsächlich Bachmanns ›Intention‹ entspricht, lässt
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sich das Hörspiel aber auch als Kritik an Jennifers Überzeugung lesen, ›dass es den Austritt aus der Gesellschaft gibt‹, da sowohl ihr eigenes Verhalten als auch das von Laurenz und Robinson beweisen, dass das nicht der Fall ist. Vielleicht geht es um das ›Widerspiel des Möglichen und des Unmöglichen‹, nicht um das Unmögliche schlechthin (das wäre auch eine Erklärung dafür, dass das Ich am Schluss von Malina in die Wand verschwinden muss). Vielleicht ist es nicht unbedingt ein Verrat an der Ekstase und der Freiheit, wenn man sich gelegentlich wünscht, wie der Gute Gott von Jan behauptet, »normal, gesund und rechtschaffen wie ein Mann [zu sein], der vor dem Abendessen ein Glas in Ruhe trinkt und aus seinem Ohr das Geflüster einer Geliebten und aus seinen Nüstern den hinreißenden Geruch verscheucht hat – ein Mann, dessen Augen sich wieder beleben an Druckerschwärze und dessen Hände sich schmutzig machen müssen an einer Theke« (W 1, 327). Zumindest würde diese Deutung der drei Hörspiele ein neues Verständnis von Bachmann jenseits der mittlerweile veralteten Entweder/Oder-Polaritäten des Kalten Krieges ermöglichen. Bachmanns Interesse am Medium Rundfunk und die Arbeit an ihren eigenen Hörspielen fallen, wie Bartsch zu Recht betont, »zeitlich mit der Blütezeit der literarischen Rundfunkgattung im deutschen Sprachraum in den fünfziger Jahren zusammen« (Bartsch 1988, 77). Materielle Bedingungen waren zum guten Teil für den damaligen Vorrang des Hörspiels verantwortlich, da »der Hörfunk das einzige Medium war, das nach den kriegsbedingten Zerstörungen des literarischen Distributionsapparates einen relativ großen Rezipientenkreis erreichen konnte (die Bevölkerung war noch aus der nationalsozialistischen Zeit mit Empfangsgeräten bestens versorgt)« und weil »es für die Autor(inn)en auch die finanziell einträglichste Veröffentlichungsmöglichkeit bot«. Anfang der 1960er Jahre, als die Verlage wieder rentabel waren und das Fernsehen die Medienvorherrschaft übernahm, »schwindet mit dem Interesse der Rezipienten auch das der Schriftsteller(innen) am Hörfunk« (ebd.). Auch Bachmann wandte sich nach der Ausstrahlung ihres letzten Hörspiels dieser Gattung nicht mehr zu, obwohl die Einführung der Stereophonie im Radio wenige Jahre nach dieser Debatte neue akustische Möglichkeiten für Hörwerke zu bieten versprach. Wie viele ForscherInnen bereits bemerkt haben, entsprechen Bachmanns Hörspiele auch formal und thematisch den Schwerpunkten der damaligen Gattung. Schon 1971 heißt es zum Beispiel
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bei Wolfgang Hädecke: »[...] die Hörspiele der Ingeborg Bachmann sind geradezu Musterbeispiele jenes Typs Hörspiel, das dem Zuhörer eine innere Bühne, einen Innenraum der Imagination und Identifikation schuf, ihn mitten ins Spiel hineinnehmen wollte; Exempel einer Kunstform des Hörens, die dennoch alles Hörbare, das außerhalb von Handlung und Rolle lag, nur sparsam, untermalend, leitmotivisch einsetzte, auch die Musik niemals um ihrer selbst willen verwendete [...]« (Hädecke 1989, 126). 1932, also fast vierzig Jahre früher hatte schon Richard Kolb eine Besonderheit dieser Gattung erkannt, die Bachmanns Hörspiele kennzeichnet: »Die entkörperte Stimme des Hörspielers wird zur Stimme des eigenen Ichs« (zit. nach Simons 2008, 152). Die Stärken und auch die Schwächen des Hörspiels der 1950er Jahre, wie sie in Bachmanns Texten zum Ausdruck kommen, entsprechen den darstellerischen Möglichkeiten der Zeit, womit nicht nur die aus heutiger Sicht ziemlich schlichte technische Ausrüstung und der Mangel an Rundfunkerfahrung gemeint sind, sondern auch – und dies ist genauso wichtig – der Mangel an Begriffen zur Erfassung der Nachkriegserfahrung in einer Zeit, in der Zweifel an den Denkschemata des Kalten Krieges als gleichbedeutend mit Verrat betrachtet wurden. (Das ist an den oft vorsichtigen politischen Formulierungen vieler Hörspiele ebenso abzulesen wie an den vielen Missverständnissen, denen sie ausgesetzt waren.) In diesem Zusammenhang ist Bachmann gelungen, was sie in den Frankfurter Vorlesungen formulierte: »zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsentieren, und etwas zu präsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist« (KS, 267; W 4, 196). Quellen
Bachmann, Ingeborg: Laurenz träumt von der Liebe. In: Stimmen der Gegenwart, Bd. 3. Hg. von Hans Weigel. Wien 1953, 41–48. Bachmann, Ingeborg: Die Hörspiele. München 1976. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Der Briefwechsel. Hg. von Bertrand Badiou u. a. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004.
Literatur
Bartsch, Kurt: Die Hörspiele von Ingeborg Bachmann. In: Kurt Bartsch u. a. (Hg.): Die andere Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag. Bern/ München 1979, 311–334. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachman. Stuttgart 1988. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. München 1988. Broser, Patricia: Ein Tag wird kommen ... Utopiekonzepte im Werk Ingeborg Bachmanns. Wien 2009.
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Joseph McVeigh / Sara Lennox (2002)
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II Das Werk – C Andere Werke
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Ein Monolog des Fürsten Myschkin
Zwar hat Ingeborg Bachmann nach eigener Aussage schon als Kind versucht, eine Oper zu schreiben (GuI, 124). Den Ausgangspunkt und die Grundlage ihrer Arbeit als Librettistin bildete jedoch erst die Freundschaft mit dem gleichaltrigen Komponisten Hans Werner Henze, den sie bei der Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1952 auf Burg Berlepsch bei Göttingen kennenlernte. Seit den im Sommer 1953 gemeinsam auf der Insel Ischia verbrachten Wochen verband Bachmann und Henze eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit, in der das »›Ineinanderarbeiten‹ von Librettistin und Komponist« in ähnlich glücklicher Weise gelingt wie bei Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss (Plachta 2001, 301). Henze führte Bachmann nicht nur in die Welt des Musiktheaters ein, für das sie ein »besessenes Interesse« entwickelte (KS, 424; W 1, 433), seit sie im Januar 1956 in Mailand die Sängerin Maria Callas in Verdis Oper La traviata erlebt hatte; er teilte mit ihr in den 1950er Jahren auch jenes gesellschaftskritische Kunstverständnis, das sie beispielsweise in ihrem Essay Musik und Dichtung oder der Preisrede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar formuliert hat: Musik und Literatur als Infragestellung herrschender Ordnungen im Rahmen einer traditionsbewussten, weiterentwickelten Moderne, als ästhetische Opposition gegen die Restaurationsgesellschaft vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrung verstanden, Musik als eine ›andere Sprache‹ der Freiheit, die in Verbindung mit Stimme und Wort utopische Qualität gewinnt (vgl. Henze 1984 und 1996; s. Kap. 27). Erst als sich ihre politischen und ästhetischen Anschauungen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auseinanderentwickelten, indem Henzes politische Radikalisierung mit Bachmanns sprachkritischer Auffassung von der ästhetischen Eigenständigkeit der Literatur und Kunst in Widerspruch geriet, endete auch die künstlerische Partnerschaft. In dem Maße, wie Bachmanns Interesse an der Musik im Laufe der 1990er Jahre ein neuer Forschungsschwerpunkt wurde, ist auch die Zusammenarbeit zwischen Bachmann und Henze zunehmend Gegenstand der Untersuchung geworden, wobei nach der Jahrtausendwende germanistische Analysen durch musikwissenschaftliche und interdisziplinäre ergänzt worden sind.
Das erste Zeugnis dieser künstlerischen Zusammenarbeit ist Bachmanns lyrische Neufassung des Textbuchs zu Tatjana Gsovskys Ballettpantomime nach Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Idiot (1868/69), zu der Henze die Musik geschrieben hatte (Uraufführung der ursprünglichen Fassung am 1.9.1952 im Hebbel-Theater Berlin). Gsovskys Textbearbeitung stieß allerdings auf Kritik, und auch der Komponist war unzufrieden und bat Bachmann daher, einen »neuen Text [zu] schreiben« (Brief vom 28.4.1953; Bachmann/Henze 2004, 15 f.). Bachmanns Neufassung führt Dostojewskis Protagonisten in lyrischem Monolog durch sieben Bilder, die sich zu einer freien Paraphrase des Romans zusammenziehen. Myschkin erscheint zunächst als ein außenstehender Kommentator, als Puppenspieler in einem Marionettentheater, der dann aber in den Tanz der anderen Figuren hineingezogen und durch deren Leidenschaften auf der Suche nach Liebe, Wahrheit und Freiheit in den endgültigen Wahnsinn getrieben wird. Motive wie die Verweigerung intentionalen als entfremdeten Handelns – »dies ist das Ziel, von uns selbst / nicht besessen zu sein / und jedes Ziel zu verfehlen« (W 1, 67) –, der »Abgesang / einer Geschichte, / die unsre Opfer verachtet« (W 1, 73) oder Myschkins Darstellung als Ausgestoßener auf seinem »Weg durch die Gegenwart« in einer zerstörten Welt mit »zerrissenen Sonnen« (W 1, 72) – solche Motive exemplifizieren die Verbindung von Elementen des Existentialismus mit einer Kritik am mangelnden Geschichtsbewusstsein der Nachkriegszeit, die der surrealistischen Parabolik von Bachmanns lyrischer Dostojewski-Adaptation eingeschrieben ist. Petra Grell (1995) und Thomas Beck (1997) haben das Verhältnis von Bachmanns lyrischem Textbuch zu Gsovskys Prosafassung (wie sie in dem Exposé Panoptikum in Bachmanns Nachlass dokumentiert ist; N3843–3871) und Dostojewskis Roman untersucht und den dramaturgischen wie sprachlichen Konzentrationsprozess herausgearbeitet, den Gsovskys Vorlage in Bachmanns lyrischer Bearbeitung erfährt. Während Gsovsky »Bruchstücke von DostojewskyZitaten aus verschiedenen Abschnitten des Romans – und somit unterschiedlichen Sinnzusammenhängen – mit einer eigenen interpretierenden Zusammenfassung des Geschehens [verbindet]«, »[komprimiert] Bachmanns metaphorische Sprache [...] das Geschehen« und verleiht ihm durch Bezüge zum zeitgeschichtlichen Kontext der Nachkriegsjahre wie zu
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_20
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ihrer gleichzeitigen Lyrik zusätzliche Bedeutungsdimensionen im Sinne der »Darstellung existentieller Grundkonstellationen« (Grell 1995, 73 f., 87). Schon Hans Egon Holthusen hatte in der Ballettpantomime den »existenzialistisch getönte[n] Weltschmerz« einer Jean »Cocteauschen Orphée-Stimmung« entdeckt (Holthusen 1989, 26). »Kreisform des Geschehens«, Sprachproblematik, »Licht- und Kältemetaphern« verleihen Bachmanns Dostojewski-Adaptation formale und motivische Geschlossenheit (Beck 1997, 140 f.). »Puschkins Ballade vom armen Ritter« (W 1, 71), die Dostojewski in seinem Roman zitiert, wird bei Bachmann »zum ›Abgesang‹ Myschkins auf die untergegangenen Ideale einer Literatur« der Balladenwelt, »die längst Geschichte wurde« (Beck 1997, 142). Christian Bielefeldt hat ergänzend den »selbstreflexive[n] Zug des Monologs, die kritische Haltung des Textes zum Wort und zum Sprechen selber« herausgestellt (Bielefeldt 2003, 75), die sich über das Thematische hinaus auch »performativ« in dem »Rekurs auf tradierte lyrische Metaphern und Sprachformeln« niederschlägt (ebd., 78), so wie Henzes Komposition serielle Verfahren mit dem als Erinnerung konzipierten Zitat historischer Klangfiguren vermittelt (ebd., 74). Dies zeige sich besonders deutlich in der von Bachmann »hinzugefügte[n] Schlusssequenz«, in der sie »gegen das platonische Reinheitsmodell des Romans – wie die Musik, durch deren serielle Textur deutlicher noch als zuvor das Bach-Thema zu hören ist – und für die notwendige Unreinheit einer Kunst [votiert], deren Ziel trotz allem der Aufweis menschlichen Schmerzes bleibt« (ebd., 97). Unter dem Titel Ein Monolog des Fürsten Myschkin hat Bachmann ihr lyrisches Textbuch im Oktober 1953 bei der Tagung der Gruppe 47 in Schloss Bebenhausen bei Tübingen vorgetragen und zugleich in ihrem Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) gedruckt. Ihre Uraufführung erlebte diese Neufassung der Ballettpantomime jedoch erst am 8.1.1960 in der Städtischen Oper Berlin, wobei die Choreographin Tatjana Gsovsky »die Rolle des Fürsten Myschkin« allerdings »in einen Tänzer und einen Sprechpart aufteilte« (Grell 1995, 56). Spätere Inszenierungen greifen aber wieder auf Bachmanns Konzeption Myschkins »als dem einzigen Schauspieler unter Tänzern« (N3796, zit. nach Beck 1997, 140), als Grenzgänger in der experimentellen Vereinigung von »Musik, Dichtung und Tanz« zurück (Kommentar Henzes zur Wiener Inszenierung 1988, zit. nach Grell 1995, 57).
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Belinda-Libretto In die ersten italienischen Jahre der engen Zusammenarbeit mit Henze in Ischia, Rom und Neapel fallen auch die Anfänge von Bachmanns Arbeit für die Oper. Marie Luise Kaschnitz gegenüber erzählt Bachmann 1956 in Rom »von ihren Operntexten, dem 1., verworfenen, Homer-Bruchstück, das sie sehr dramatisch fand, aber die Herren vom Südwestfunk keineswegs. Dem 2., jetzigen, die Schönheitskönigin, die wahnsinnig wird« (Kaschnitz 2000, Bd. 1, 555). Anhand des Briefwechsels zwischen Bachmann, Henze und dem Südwest-Funk (SWF), namentlich Heinrich Strobel als Leiter der Musikredaktion, hat Antje Tumat das nachgelassene Libretto-Exposé Anchises und Aphrodite (N3003–3007), das zuvor als fremder Text eingestuft worden war, als das fragliche »Homer-Bruchstück« identifiziert (Tumat 2006), über das Bachmann und Henze sich auch in ihrem Briefwechsel vom Oktober bis Dezember 1955 austauschen (Bachmann/ Henze 2004, 60–79). Es handelt sich um den Entwurf zu einem mythologischen Singspiel in sechs Bildern, eine moderne, als Schäferspiel inszenierte Variante der Liebe zwischen der Göttin Aphrodite und dem Troerfürsten Anchises, das mit dem »Gegensatz von Schein und Wahrhaftigkeit« und der angedeuteten »Dialektik von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit« (Tumat 2006, 167, 170) bereits die Thematik des Belinda-Librettos um eine »Schönheitskönigin« vorwegnimmt. Eine Zwischenstufe bilden ein Exposé und zwei Szenenentwürfe unter dem Titel Der Pakt mit dem Teufel (N6159–6165), in denen die Thematik in die Gegenwart und die Welt der Medien und der Werbung transponiert und dadurch kapitalismuskritisch gewendet wird (Tumat 2006, 161 f., 167, 177). Ein Manuskript dieser Zwischenstufe hat Bachmann am 17.5.1956 an den SWF geschickt (ebd., 179), doch waren sie und Henze offenbar unzufrieden mit dem »Gleichgewicht zwischen dem realistischen und dem poetischen« in dem Entwurf (Brief Bachmanns an H. Strobel vom 28.5.1956, zitiert ebd., 168), so dass die Autorin mit dem Librettoprojekt um den Filmstar Belinda, von dem Bachmann Kaschnitz erzählt hat, einen Neuansatz unternahm. Dieses Libretto hat sie nach Maßgabe des Briefwechsels von Henzes Vorschlag einer gemeinsamen Oper an (23.4.1955, Bachmann/Henze 2004, 51) bis in den Januar 1957 beschäftigt (ebd., 141). Der Plan beruht auf einem Auftrag des SWF an Henze, eine »Kammeroper mit grösserem Orchester zu schreiben« (Brief H. Strobel an [K. A.] Hartmann vom 6.7.1955, zit. nach
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Tumat 2006, 165); die Oper sollte ursprünglich bei den Donaueschinger Musiktagen 1956 aufgeführt werden. Es handelt sich (in Henzes Worten) um »die Geschichte eines aus dem neapolitanischen Proletariat aufsteigenden Filmstars« (Interview 1986, zit. nach Spiesecke 1993, 83), dessen tragisch verirrtes Freiheits- und Glücksverlangen die Folie einer scharfen Kritik an den modernen Medien, insbesondere dem Film, sowie an ihrer Kommerzialisierung in Kunstbetrieb und Medienwirtschaft der 1950er Jahre bildet. Einen entscheidenden Anstoß erhielt dieses Projekt durch den Besuch dreier Opernabende in der Mailänder Scala gemeinsam mit Henze im Januar 1956, darunter insbesondere eine Generalprobe zu Luchino Viscontis Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper La traviata mit Maria Callas in der Hauptrolle (24.1.1956). Dieses Erlebnis bezeichnet Bachmann als »bei weitem das Schönste, was ich je auf einer Opernbühne gesehen habe« (Brief an K. Piper vom 5.2.1956), und es veranlasst sie und Henze, bei der Sopran-Rolle der geplanten Belinda-Oper an Maria Callas zu denken (Henze-Interview 1986, zit. nach Spiesecke 1993, 83). Da die nachgelassenen Entwürfe ungedruckt sind, empfiehlt sich hier eine charakterisierende Inhaltsangabe auf der Grundlage des zweiten Librettokonzepts (N3505 ff.) in Verbindung mit den entsprechenden ausgeführten Szenen (vgl. die Neuordnung der Libretto-Fragmente in Spiesecke 1993, 223–229, und die operntechnisch akzentuierte Zusammenfassung sowie die Arienzitate in Beck 1997, 144–146): (1) Das erste Bild zeigt eine »kleine meridionale Dorfpiazza« im südlichen Italien, wo Belinda »als Angestellte der Bar [...] Kaffee im Friseurladen [serviert]« und von einem Manager auf der Talentsuche für seinen Schönheitswettbewerb entdeckt wird (N3505). Von Freiheitssehnsucht und Fernweh zerrissen (N3495), folgt Belinda diesem Angebot sofort und ohne Rücksicht auf den sie liebenden Tommaso, der sich nach ihrem überstürzten Aufbruch auf die Suche nach ihr begibt. (2) In einer Schneiderwerkstatt wird Belinda für den Schönheitswettbewerb vorbereitet; sie erlebt ihre Verwandlung in ein Kunstprodukt und Medienereignis mit »wallende[n] Vorgefühle[n] eines kommenden Triumphes« (N3501). (3) Schon unmittelbar nach der »Vorstellung« wird die neue Schönheitskönigin einer »Diva« immer »ähnlicher« und von Reportern und Pressefotografen umringt. Während der Manager auf einer Pressekonferenz »unwahre und sensationelle Einzelheiten über die Vergangenheit Belindas« lanciert, gelingt dem Filmstar Canetti die »Eroberung Belindens«, die Tommasos Einspruch ›stolz‹ missachtet
(N3482). (4) Das vierte Bild zeigt Belinda bei Filmaufnahmen mit Canetti zu einer Rokoko-Liebesszene, die ihr erst gelingt, als sie bei dem Liebhaber an Tommaso denkt (N3471). (5) Das fünfte Bild bildet dann den Höhepunkt der Medienreflexion als Grundlage einer umfassenden Kommerzialisierungs- und Technologiekritik und zugleich den librettistischen Rahmen für ein Ensemble Neuer Musik im Stile Luigi Nonos: »Im Reklameturm« befinden sich »Glaswände, Stahlrohrmöbel, Neonlicht, Mikrophone, Telephone, Me gaphone. Man muss sich einen Raum vorstellen, der ein Gemisch aus Luxushotelhalle, Atomstation und Rundfunkaquarium ist.« Darüber hinaus soll er Züge einer »Nervenklinik« aufweisen, in der »die Beschäftigten alle in weissen Kitteln auftreten« und eine »Rotationsmaschine« »laufend grosse Plakate mit dem Bild Belindas« projiziert. Während »der Manager und sein Schatten« »gleichzeitig mehrere Mikrophone« und »eines der ständig läutenden Telephone« »bedienen«, bildet eine »Kontrapunktstudie für drei bis vier Grammophone (durch Lautsprecher übertragen)« die Klangfolie für »abwechselnd vom Tenor und vom Sopran vorgetragene Schlager und Sinfonieorchester«. Währenddessen bewirbt Belinda in grotesker Puppenhaftigkeit zugleich in einer »Reklamesendung« »sonderbare Dinge zu sonderbaren Zwecken«, hält dann zu allem Überfluss auch noch eine »Ansprache an die Soldaten« und singt »ein Lied für die Truppen« (N3473). Mitten in diesem Lied bricht sie jedoch ab, schickt eine Art Hilferuf an Tommaso »über den Äther« (N3558) und versucht, »einen Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden« (N3473). (6) Von diesem Wendepunkt an tritt die Selbstentfremdung Belindas in ihrer Medienrolle als ein innerer Konflikt in den Vordergrund, der in der Dreieckskonfiguration mit Canetti und Tommaso ausgetragen wird. Im »Bühneneingang eines Lichtspielpalastes« bleibt Tommaso nach der Premiere von Belindas und Canettis Film zunächst verborgen, während die Filmstars ihre Verlobung ankündigen (N3474). (7) Bei der Premierenfeier in Belindas Haus lässt Tommaso durch den Portier im Wissen um die Differenz zwischen »Belindas Fühlen und Handeln« und den »Gesetzen« der Medien-»Scheinwelt« dann einen Ölzweig überreichen (N3476). (8) Belinda, die auf der Premierenfeier in ihrem »roten Salon« selbst die Enttäuschung ihrer Erwartungen empfindet, versteht den Ölzweig paradoxerweise als »Zeichen« für den »Tod« (N3477); in »Rede und Gegenrede« rücken Belinda und Tommaso »immer näher zusammen«, bis Tommaso ein Messer zückt und vom Manager und anderen »eleganten Her-
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ren« überwältigt wird, während sich die Bühne in einen »grossen und weiten Raum voller Lichtreklamen« verwandelt (N3478). (9) Im Raum dieser »rotierende[n] Lichtreklamen« zeigt das letzte Bild »Belinda allein« »in einem leuchtenden Wahnsinn, in dem ihre Persönlichkeit aufs Höchste gesteigert erscheint«, indem sie im Licht des anbrechenden Morgens nun die »Alleinherrschaft über ein Reich unverletzbarer Schönheit« gewinnt (N3478). Dass das Absolute nur im Wahnsinn jenseits der sozialen Welt gewonnen wird, markiert einen Grenzübertritt, wie ihn wenige Jahre später das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und die Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr vielfältig thematisieren. Raumstruktur, »Konfliktmuster«, Figurenkonstellation und Motivik des Belinda-Librettos werden durch eine »bipolare Kontraststruktur« geprägt, die »der natürlichen und ehrlichen Welt des Heimatdorfes« die »verlogene Schein-Sphäre der Stadt« mit ihrer »synthetisch-sterilen Konsum-Welt« gegenüberstellt (Beck 1997, 148, 152). Natursymbole (blühender Baum und Sternschnuppe im 1. Bild), Opernrequisiten (das weiße Schultertuch, das Belinda Tommaso überreicht) und mythologische Motive (Zerbrechen des Spiegels, Ölzweig) strukturieren und visualisieren das Operngeschehen. Die Arientexte weisen »großenteils auf höchstem lyrischen Sprachniveau« (ebd., 149) enge Bezüge zu den Gedichten des gleichzeitig entstehenden zweiten Gedichtbandes Anrufung des Großen Bären auf. Thomas Beck hat die Handlung des Librettos »gleichsam als dramatische[n] Reflex« des Gedichts Reklame interpretiert und die motivischen Überschneidungen zwischen Belindas Arie (im 2. Bild) und der von Henze 1957 vertonten, erweiterten Fassung des Gedichts Im Gewitter der Rosen (Aria I) herausgearbeitet; diese Arie ist zugleich geradezu eine »konkrete Vorstufe« des Gedichts Aria II (W 1, 160 f.; Beck 1997, 153, 150 f.). Trotz dieser »lyrischen und deshalb im librettistischen Sinne problematischen Sprache« hat Beck zudem im Hinblick auf die beiden ersten, ausgeführten Bilder Bachmanns »dramatische Begabung« herausgestellt (Beck 1997, 147), während Hartmut Spiesecke vor allem die strukturellen Probleme des Belinda-Librettos benennt: die unzureichende Exposition der Protagonisten, die ›zu konzentrierte‹ Überlagerung unterschiedlicher Darstellungsintentionen, das »Mißverhältnis von dramatischer und realer Zeit«, die unausgearbeitete Simultaneität paralleler Szenen und die Komplexität der lyrischen Sprache (Spiesecke 1993, 76 f., 80 f., 92; vgl. Grell
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1995, 251 f., 260). Vor der Folie der Kulturkritik der 1950er Jahre ist dieses Librettofragment gleichwohl ein bemerkenswerter Versuch, die Kommerzialisierung der Kunst und die technologische Revolution der Medienwelt als künstlerische Herausforderungen ernst zu nehmen und im Anschluss an die Neue Musik in eine Erneuerung der Oper umzusetzen. Im Rückblick hat Bachmann das Scheitern dieses ambitionierten Versuchs zu einem Originallibretto mit der künstlerischen »Sonderstellung des Librettos« und ihrem eigenen Lernprozess als Librettistin begründet (KS, 424; W 1, 433). In ihrem »ersten Libretto« habe sie »Arien mit Gedichten, Rezitative mit Dialogen usf.« verwechselt, während es in Wahrheit entscheidend auf das »Hintanstellen der eigenen Arbeit unter die allein wichtige des Komponisten« gehe (KS, 425; W 1, 434). Schon in einem nachgelassenen EssayEntwurf aus dem Kontext des Belinda-Librettos stellt sie fest, dass »der Text« »notwendiger Weise hinter der Musik zurückbleiben [muß]«, da »die wirkliche Begebenheit [...] in der Musik [sei], die Freude, der Schmerz in der menschlichen Stimme« (N3519). Der Entwurf, der mit dieser Überlegung auf die Apotheose der menschlichen Stimme in dem Essay Musik und Dichtung (1959) vorausdeutet, schließt mit einer Kritik an Bertolt Brechts Opernkritik. Brecht habe trotz ›bewundernswürdiger‹ Intention »die Rechnung ohne die Musik gemacht«: »Es gibt keine lehrhafte Musik« (N3519). Musik und Libretto konstituieren in dem »lyrischen Theater« der Oper (KS, 425; W 1, 434) eine Kunstwelt mit eigenen ästhetischen Gesetzen, in der die »Rechtfertigung« des Librettos »nur von der Musik kommen [kann]« (KS, 358; W 1, 373), wie Bachmann 1960 in ihrem Kommentar zur Kleist-Oper Der Prinz von Homburg schreibt. Tumat macht allerdings deutlich, dass es wohl auch andere, pragmatische Gründe für das Ende des Belinda-Projekts gab: Am 8.11.1956 sagt die Programmdirektion des SWF in einem Brief an Bachmann »ein[e] Oper mit dem vorgesehenen Stoff« schließlich ab (zit. nach Tumat 2006, 176), nachdem der Leiter der Musikredaktion Heinrich Strobel zuvor bereits Einwände vor allem gegen den Schluss erhoben hatte. Als »Programmplaner der Donaueschinger Musiktage, [...] Chefredakteur der Zeitschrift Melos und über 12 Jahre Präsident der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik« (Tumat 2006, 172) war Strobel einflussreicher Repräsentant einer »objektivistisch-antiexpressiven Ästhetik«, der sich hinsichtlich der Oper an Brechts anti-illusionistischem epischen Theater orientierte, während Bachmann und Henze genau ge-
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genläufig an die frühromantische Musik- und Sprachtheorie, an die italienische Oper des 19. Jahrhunderts und an »atonal-expressiv[e] Musik des 20. Jahrhunderts« anschlossen (ebd., 172, 174). Es tat sich also ein grundlegender musikästhetischer Dissens zwischen dem Auftraggeber einerseits und Bachmann und Henze andererseits auf.
Der Prinz von Homburg Einer Anregung des italienischen Regisseurs Luchino Visconti folgend (Henze 1984, 76; Bachmann/Henze 2004, 176), setzen Bachmann und Henze ihre künstlerische Zusammenarbeit 1958/59 mit der Umarbeitung von Heinrich von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg (1811) in die Oper Der Prinz von Homburg fort (Uraufführung am 22.5.1960 an der Staatsoper Hamburg). Angesichts des literarischen Rangs der Vorlage sah Bachmann es einerseits als ihre Aufgabe an, »die Dichtung so unbeschädigt wie möglich der Musik zu übergeben [...] für ein zweites Leben in der Musik und mit der Musik« (KS, 357; W 1, 372). Andererseits reflektiert sie in dem Programmtext Entstehung eines Librettos die Chance und Notwendigkeit jener kritischen Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte von Kleists Drama, zu der Henze und sie sich herausgefordert sahen und die zugleich eine Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und deutschem Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert darstellt. Aufgrund einer »trotz Abweichung vom Kleistschen Wortlaut übereinstimmenden Textstelle (im Grab-Erlebnis Homburgs)« ist darüber hinaus vermutet worden, dass Bachmann das Homburg-Libretto (1935) des Komponisten und NSDAP-Funktionärs Paul Graener (1872–1944) gekannt haben könnte, so dass ihre »humanistisch-pazifistische« KleistBearbeitung u. a. auch als Gegenentwurf gegen den militärischen Nationalismus und Führerkult von Graeners Kleist-Oper zu lesen wäre (Beck 1997, 195, 163). Dies wäre dann ein konkretes Beispiel für jene ideologische Funktionalisierung Kleists, der Bachmann in ihrem Libretto entgegentritt, indem sie sich rezeptionsgeschichtlich in die Spannung zwischen Heinrich Heines ästhetischer Bewunderung für Kleists Schauspiel und Brechts ideologiekritischer Kleist-Lektüre stellt (KS, 354 f.; W 1, 369 f.). Gegen den preußisch-soldatischen Patriotismus der Vorlage und seine Vereinnahmung durch Nationalismus und Nationalsozialismus, »gegen neu aufkeimende obrigkeitsstaatliche und militaristische
Tendenzen in den fünfziger Jahren« (Bartsch 1997, 91) akzentuiert Bachmanns Libretto die »Luft der Freiheit« und Gerechtigkeit in Kleists Drama (KS, 3356; W 1, 371). Sie transformiert sein preußisches Staatsideal im Sinne ihrer Auffassung der »Literatur als Utopie« (KS, 348; W 4, 271) aktualisierend in eine »human-aufgeklärte« Staatsutopie (Achberger 1980, 124 f.). Dies zeigt sich nicht nur in der weitgehenden Kürzung des Militärischen (Spiesecke 1993; Beck 1997), sondern auch in der Hervorhebung des »Konflikt[s] zwischen Gesetz und Gefühl« (Grell 1995, 188) und in entsprechenden pointierten Umformulierungen, durch die Bachmann »die heroische Welt und ihren trügerischen Anspruch« entlarven und dem »Mißverständnis« Kleists als eines »nationalen, patriotischen Dichter[s]« entgegentreten will (KS, 356, 358; W 1, 371, 374). So ist die Lehre, die der Kurfürst in Homburgs Gewissenhaftigkeit verkörpert sieht, nun nicht mehr die von »Kriegszucht und Gehorsam« (Kleist V.5), sondern jene, »Was Freiheit und was Würde sei« (W 1, 362). Entsprechend entfällt Homburgs ausdrückliche Berufung auf »das heilige Gesetz des Kriegs« (Kleist V.7), und am Schluss des Librettos wiederholen die Damen – anders als in der Vorlage – die Einsicht der Offiziere, »Daß die Empfindung einzig retten kann!« (W 1, 367, vgl. 363 bzw. Kleist V.5). An die Stelle der »gegenseitige[n] Durchdringung von Legalität und Individualität« in Kleists Drama (und insbesondere auch in der Figur des Kurfürsten) hat man in der Oper die Tendenz zu einem kurfürstlichen Gnadenakt als einseitigem Sieg des Gefühls gesehen (Beck 1997, 195, 191). Bachmanns Kritik des Legalitätsdenkens im Zeichen des Freiheitsbegriffs und der moralischen »Empfindung« hat aber gleichfalls den vernünftigen Ausgleich von Staats- und Individualinteressen im Auge, der den Wertekonflikt des Dramas bestimmt. Daher kann sie – nach mehreren unterschiedlichen Entwürfen zum Ende des Librettos (vgl. Tumat 2004, 299–309; vgl. Bachmann/Henze 2004, 223 f.) – schließlich auch den berühmten Schlusssatz von Kleists Drama – »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« (W 1, 368) – übernehmen, denn er bedeutet angesichts der Militarismuskritik des Librettos keine »opernhaft[e] naiv[e] Apotheose« des Nationalismus mehr (W 1, 374; vgl. KS, 359), sondern den Ausblick auf ein utopisches »Ideal-Land« innerer Freiheit (Henze 1984, 79). Bielefeldt spricht daher von einer »rettende[n] Lektüre«, die die »Rückgewinnung des Utopischen« in dem Kleistschen Drama allerdings mit dem »Preis einer weitgehenden Zurückdrängung des konkreten zeit-
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geschichtlichen Gehalts« bezahlt (Bielefeldt 2003, 170, 174). Tumat betont dagegen das Zusammenspiel des Textes mit Henzes Musik, in der die überraschende und feierliche Wiedereingliederung Homburgs in die preußische Elite – Homburg und das Hofensemble singen den Schlusssatz gemeinsam – im Anschluss an die italienische Operntradition des 19. Jahrhunderts »als märchenhaft künstlich und bewußt theatralisch« markiert ist: »Dadurch wird eine gesellschaftliche Utopie beschworen und gleichzeitig negiert, ganz im ursprünglichen Sinne Bachmanns« (Tumat 2004, 323). Zwar hat die Forschung die »Immanenz musikalischer Strukturen in Kleists Drama« (Schmidt-Wigstoff 2001, 94) und die Opernnähe etlicher Szenen hervorgehoben (vgl. ebd., 93–103). Dennoch geht die Adaption in Bachmanns Libretto notwendigerweise mit Straffung und Umarbeitung einher: Kürzung des Texts um ca. zwei Drittel auf zehn Bilder in drei Akten, Zusammenfassung von Nebenfiguren und Ensemblebildung, szenische Inszenierung verdeckter Handlung, Auflösung dialogischer Strukturen, gestischer Affektausdruck, operntypische Änderungen der Textzuordnung und Montage von Versen, verbunden mit punktuellen Interpolationen aus Kleists Dramen Amphitryon, Penthesilea und Die Familie Schroffenstein, Vereinfachung und Entpoetisierung der Sprache (vgl. Kreutzer 1977; Schlütter 1977; Achberger 1980; Spiesecke 1993; Grell 1995; Beck 1997; Schmidt-Wigstoff 2001, 103–153; Tumat 2004, 188–215). Diese Umarbeitung bringt mithin eine »eigene Interpretation« der Vorlage hervor (Achberger 1980, 122), die über eine bloße ›Literaturoper‹ hinausführt (Grell 1995, 233) und sogar als »eine vollkommene Neuformung der Vorlage bei weitgehender Beibehaltung des Kleistschen Wortlautes« betrachtet worden ist (Beck 1997, 156; vgl. zu den nachgelassenen Libretto-Entwürfen Spiesecke 1993; Grell 1995). Entschiedener als die Vorlage arbeitet die Oper mit der kontrastierenden »Gegenüberstellung der ›Traum-Sphäre‹ Homburgs mit der ›Gesetzeswelt‹ des Kurfürsten« (Beck 1997, 166), die sich in der kontrapunktischen Motivtechnik von Henzes Komposition (vgl. de la Motte 1960; Bielefeldt 2003, 178–197) ebenso spiegelt wie in der traditionellen Stimmfachbesetzung mit ihrem Gegeneinander von Schicksalsbariton (Homburg) und Tenor (Kurfürst) als »Verkörperung des Un- oder Übermenschlichen« (Beck 1997, 182; Grell 1995, 174). Entsprechende Umstrukturierungen betreffen sowohl die Konfiguration (so verliert der Obrist Kottwitz als sympathischer Repräsentant des Soldatentums an relativem Gewicht) als auch die Figurenanlage: Natalie
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verkörpert als »›emanzipierte‹ Frauengestalt« nun »den für das Libretto zentralen Begriff der ›Freiheit‹« (Beck 1997, 174 f.) und gewinnt dadurch mehr Gewicht als in der Vorlage (Tumat 2004, 204). In diesen Zusammenhang gehört insbesondere auch die existentialistisch geprägte Auffassung des Prinzen von Homburg selbst als »der erste moderne Protagonist« (KS, 355; W 1, 371) und »deutscher Hamlet« (Henze im Programmheft der Hamburger Uraufführung, zit. nach Plachta 2001, 299), der im Libretto deutlicher noch als im Drama in den Mittelpunkt rückt. So wird beispielsweise die Konfrontation mit dem eigenen Grab, die Homburg bei Kleist nur rückblickend erzählt, in der Oper in einem neu eingefügten Bild als »existentielle Grenzerfahrung von Todesangst« (Bartsch 1997, 90) visualisiert, und die »innere Homburghandlung« tritt insgesamt in den Vordergrund (Schlütter 1977, 242). Analog hebt die Traum-Motivik, die das Drama einrahmt und die Henze in der Oper musikalisch unterstreicht (Spiesecke 1993, 110 f.; Bielefeldt 2003, 197–208), das konzentriertere Geschehen im Libretto auf die symbolische Ebene eines ästhetischen Reflexionsmodells der moralischen Grundlagen der Gesellschaft im problematischen Ausgleich von »Staats- und Individualinteressen« (Spiesecke 1993, 119). Die Uraufführung an der Hamburgischen Staatsoper unter der Regie von Helmut Käutner allerdings unterlief durch naturalistische Schlachtenbilder und die visuelle Inszenierung der »militaristische[n] Dimension des Preußentums« (Bielefeld 2003, 170) die politische Stoßrichtung von Bachmanns und Henzes seinerzeit provozierender »Umdeutung« und »Humanisierung« des Kleistschen Dramas (Tumat 2004, 328). In den acht weiteren Neuinszenierungen zu Bachmanns Lebzeiten ist eine »fortschreitend[e] Neigung zur Entpolitisierung und Ästhetisierung« festgestellt worden (ebd., 336).
Der junge Lord Fanden Bachmann und Henze mit ihrer Kleist-Oper bei Publikum und Kritik bereits große Beachtung, so gelang ihnen mit der 1963/64 entstandenen komischen Oper Der junge Lord (Uraufführung am 7.4.1965 an der Deutschen Oper Berlin) ein regelrechter Bühnenerfolg. Ursprünglich hatte Henze für seinen Kompositionsauftrag von der Deutschen Oper Berlin an eine Bearbeitung von William Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost gedacht, doch hat ihm Bachmann
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stattdessen ein Originallibretto nach der Parabel Der Affe als Mensch aus Wilhelm Hauffs Märchenzyklus Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven (1827) vorgeschlagen (Henze 1984, 111). Die in Text und Musik zitathafte Evokation einer Biedermeierwelt verbindet sich in den sechs tableauartigen Bildern, in denen Bachmann und Henze Hauffs frührealistische Gesellschaftssatire auf das Philistertum der Restaurationsepoche adaptieren, mit einer tragikomischen Reflexion der individuellen und kollektiven Gefährdungen hinter der bürgerlichen Ordnung. Charakteristisch sind bereits die typisierende Umbenennung von Hauffs Handlungsort Grünwiesel in das partikularstaatlich klingende »Hülsdorf-Gotha« (in den Entwürfen zunächst »Schaumburg-Lippe«; N15303) und die Umdatierung des Geschehens in das Jahr der Julirevolution 1830 (W 1, 378), das die Gefährdung der bürgerlichen Ordnung signalisiert (Spiesecke 1993, 148). Die Forschung hat Henzes musikalische Charakterisierungskunst, die figurengebundene Leitmotivtechnik, die Verarbeitung von opera buffa-Konventionen, die gestische Deutlichkeit tonmalerischer Bildinszenierung und die dramaturgisch funktionalisierten Zitate aus der europäischen Musiktradition von Wolfgang Amadeus Mozart (Die Entführung aus dem Serail) bis zu Gustav Mahler und Igor Strawinsky herausgearbeitet (Spiesecke 1993, 150–175, 179 f.; Grell 1995, 98 f.; Beck 1997, 244–251; Schmidt-Wigstoff 2001, 299–303; Bielefeldt 2003, 215–262). Grell und Beck haben darüber hinaus den Entstehungsprozess des Librettos in den nachgelassenen Entwürfen im Verhältnis zur literarischen Vorlage rekonstruiert und auf der Grundlage entsprechender Arbeitsnotizen insbesondere auch gezeigt, wie Bachmann zeit- und milieutypische Zitate aus Hauffs Mitteilungen aus den Memoiren des Satan und Motive aus dem Leben Lord Byrons, möglicherweise auch aus dem Tagebuch von Mary Shelley (zu John Edward Trelawny) und aus Freiherr Adolph Knigges Buch Über den Umgang mit Menschen in ihr Libretto einarbeitet (Miller 1982; Grell 1995, 99–163; Beck 1997, 214–244; in Bachmanns Bibliothek erhalten ist der Band: Byron: Briefe und Tagebücher. Ausgewählt und eingeleitet von Friedrich Burschell. Frankfurt a. M./Hamburg 1960 [= Fischer-Bücherei 341]). Das Libretto erzählt von der großartigen Ankunft eines englischen Lords und seines Hausstands in einem deutschen Provinzstädtchen, dessen Bürgertum ihn, als er alle hochgesteckten geselligen Erwartungen durch völlige Verweigerung enttäuscht, xenophobisch ausgrenzt, zumal als er statt der Bürger eine Zirkus-
gesellschaft in sein Haus einlädt. (Für die burleske Zirkusszene hatten Bachmann und Henze zunächst an eine Balletteinlage gedacht, wie überhaupt im Inventar und Figurenensemble Elemente der Commedia dell’arte-Tradition der opera buffa ausgemacht werden können [Beck 1997, 214–129].) Die Ankunft und gesellschaftliche Einführung seines angeblichen Neffen Lord Barrat, des unter größten Peinigungen dressierten Zirkusaffen, der Bachmann »dargestellt, nur in der Oper denkbar« schien (KS, 426; W 1, 435), macht diesen vermeintlichen jungen Lord in einem vollständigen Affektwandel dann jedoch zum dämonisch-animalischen Verführer einer Zerrüttung und Enthemmung der bürgerlichen Sitten. Seiner scheinbar nur exzentrischen Norm äfft vor allem die örtliche Jugend nach, bis das vermeintliche Vorbild sich in einem furiosen Tanzfinale als der Affe entpuppt, der der guten Gesellschaft den satirischen Spiegel vorhält. Das gilt auch in sprachlicher Hinsicht, da Lord Barrats versatzstückartige Goethe-Zitate die Formelhaftigkeit der Bürgersprache und ihren Bildungsdünkel parodieren (Beck 1997, 272). Diese Zitate sind zugleich ein Beispiel dafür, wie die »atemberaubende Fülle an Wortspielen und Doppelsinnigkeiten« die »Plattitüden der Bürger« nicht nur betonen, sondern ihnen zugleich auch »entgegenwirk[en]« (Bielefeldt 2003, 229). Obwohl Bachmann sich im Handlungsgrundriss und in vielen Einzelmotiven – bis hin zu der »Sprache«, die »leicht rhythmisiert« ist (KS, 426; W 1, 435) – an ihre Vorlage hält, erfährt Hauffs Parabel im Zuge der operntypischen Konzentration des Geschehens doch eine deutliche Uminterpretation im Sinne eines »diabolische[n] Experiment[s]« (KS, 427; W 1, 436), das über die satirische Entlarvung der bürgerlichen Gesellschaft hinaus zwei gegensätzliche Welten aufeinanderstoßen lässt (Spiesecke 1993, 97; Grell 1995, 149; Schmidt-Wigstoff 2001, 188). Bachmann hat die notwendige Raffung der Handlung – aus zehn Jahren wird ein Zeitraum von wenigen Wochen und Monaten im Herbst/Winter 1830, die zahlreichen Visitentouren, Wirtshaus- und Ballbesuche, bei denen der vermeintliche junge Lord in der Vorlage in die Provinzgesellschaft eingeführt wird, werden in der komischen Oper in zwei Gesellschaftsabende zusammengezogen – in diesem Sinne mit einer nachhaltigen Umstrukturierung der Konfiguration verbunden. Die Librettistin verwandelt Hauffs einsamen Fremden in einen englischen Lord, der mit großem exotischen Gefolge seinen spektakulären Einzug in die Provinzstadt hält. Sie hat dadurch die individuelle Konstellation von Gesellschaft und Außenseiter aus der Vorlage
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zum kulturellen Zusammenprall von Fremdem und Eigenem ausgestaltet, wobei die Überblendung von sozialer, nationaler und kultureller Differenz den komischen Kontrast der Welten plastisch überhöht. Der koloniale Exotismus des neu eingeführten Personals – der exotischen Tiere, des requisitenhaften ›Mohren‹ (W 1, 376) und der komischen Köchin aus Jamaica – hat hier ebenso seine Funktion wie der Auftritt des Lords als eine stumme Figur, die durch ihren Sekretär spricht bzw. singt, als Ausdruck der Sprachlosigkeit zwischen seiner Welt und der des deutschen Bürgertums (Spiesecke 1993, 154). Dies ist Teil der das ganze Libretto durchziehenden Sprachkritik, die mit den Mitteln des Humors und der Ironie Uneigentlichkeit und Phrasenhaftigkeit der gesellschaftlichen Rede entlarvt und so »die Problematik des grundsätzlichen und in alle Bereiche drängenden Nicht-Verstehens« zu einem zentralen »Thema des Werks« macht (ebd., 235), das sich formal z. B. in dem operntypischen »Durcheinander- und Gleichzeitigsprechen« des Ensemblegesangs spiegelt (ebd., 243). Darüber hinaus führt Bachmann eine Liebeshandlung ein, die – als genregerecht unstandesgemäße Verbindung eines gebildeten jungen Adeligen (des Studenten Wilhelm von Thingen) mit dem bürgerlichen Mündel (Luise) der tonangebenden Baronin Grünwiesel tragisch angelegt – die ›Affenparabel‹ begleitet und psychologisch vertieft, indem Luise in den Bann des jungen Lords gerät und Wilhelm dadurch eifersüchtig macht. In der Form einer konventionellen Dreieckskonstellation veranschaulicht die Liebeshandlung mithin an der tragikomischen Faszination Luises die von dem Affen auf animalische Weise verkörperte Gefährdung bürgerlicher Geschlechtsidentität und Sozialität durch die »Wildnis von Gefühlen« (W 1, 424). Zugleich wird an Wilhelm eine kritische Außenperspektive auf die Verführung und Verführbarkeit der Gesellschaft durch den provozierenden neuen Tonangeber, den vermeintlichen Lord, entworfen. Erst in letzter Minute finden die Liebenden genregerecht wieder zusammen. Insofern fungiert die groteske Gestalt des dressierten Affen als ein Katalysator, der die Brüchigkeit der scheinbar so gesicherten bürgerlichen Ordnung aufdeckt. Die Überschreitung des Komischen ins Groteske entlarvt »das immanent Diabolische im scheinbar Gemütlichen«; »deutsches Spießertum erscheint als Nährboden für eine Unmenschlichkeit, die im Animalischen Lord Barrats ihre bühnengerechte Verkörperung findet« (Beck 1997, 258). Mit Rücksicht auf das Leiden dieser gepeinigten Kreatur kann diese Gesellschaftskritik allerdings auch
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dialektisch gelesen werden: Der verkleidete und gewaltsam dressierte Affe erscheint dann als groteske Inkarnation des Menschlichen, an der sich »die Grausamkeit der Bürger, die die Menschlichkeit fordern, zeigt« (Spiesecke 1993, 163). Musikalisch spiegelt sich der Gegensatz zwischen romantischer Liebe und Animalität in der Kontrapunktik von »Zweistimmigkeit und Homophonie« in den Duetten von Wilhelm und Luise einerseits und dem wilden Schrei des Affen andererseits, der »nicht nur Grenzfall artikulierten Sprechens, sondern auch Diffusionspunkt musikalischer Parameter« ist (Bielefeldt 2003, 250, 252). In jedem Fall verleiht das »Spannungsfeld zwischen traditionell verwendeter komischer Opernmotivik und ihrer zunehmend grotesken Verzerrung« (Beck 1997, 253) der Oper die beklemmenden Zügen der bedrohlichen Phantastik und des ›schwarzen Humors‹ E. T. A. Hoffmannscher Prägung; durch die Nachricht von einem gebildeten jungen Mann in Hoffmanns Kreisleriana hatte sich Hauff ursprünglich zu seiner Parabel anregen lassen (Miller 1982; Schmidt-Wigstoff 2001, 179). Schon bei Hoffmann fungiert der Brief eines gebildeten Affen als quasi-exotistisches Medium der Kritik europäischer Kultur, Bildung und Wissenschaft bis hin zu einer Parodie des bürgerlichen Musikbetriebs. Das Komische in Bachmanns Libretto ist also abgründig, und die opera buffa verwandelt sich in ein Medium gesellschaftskritischer Reflexion. »In dieser engen Stadt [...], in der keine Freiheit ist«, wie Wilhelm klagt (W 1, 382), sind die Grundlagen gewaltfreier Sozialität und individueller Entfaltung gefährdet. Nicht zufällig erinnert die Oper an die katastrophische Erfahrung des Nationalsozialismus, wenn Sir Edgars Haus nachts mit dem Wort »Schande« beschmiert wird (W 1, 403; vgl. Bartsch 1997, 91; Grell 1995, 138). Sie assoziiert so die sensationslüsterne Verführbarkeit des biedermeierlichen Bürgertums mit den politischen Massenmanipulationen des 20. Jahrhunderts. Selbst Nebenmotive wie das Spottlied der Kinder auf den »Mohren« (als Anspielung auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; W 1, 404) variieren das Thema gesellschaftlicher Gewalt in einer autoritär denkenden, hierarchisch strukturierten Gesellschaft, die – wie die Formelhaftigkeit und Uneigentlichkeit ihrer Rede zeigt – »Gewalt durch Sprache« (Beck 1997, 262) ausübt. Die komische Oper besitzt in der »Anfälligkeit des deutschen Bürgertums für den Faschismus« und in den impliziten Parallelen zwischen der dargestellten Restaurationsepoche und den »restaurative[n] Tendenzen in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945« (Bartsch 1997, 92) eine deutliche
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zeitbezogene Problemfolie, die es Bachmann erlaubte, auf einen ausdrücklich didaktischen Schluss (wie in Hauffs Parabel) zu verzichten. Der junge Lord ist als der »Höhepunkt des gemeinsamen künstlerischen Schaffens Bachmanns und Henzes« angesehen worden (Schmidt-Wigstoff 2001, 299). Während die »Qualität des Bachmannschen Librettos, dessen Aktualität und politische Brisanz« (ebd., 171) von der Opernkritik durchweg gelobt wurden, wurde Henze wegen seines Rückgriffs auf das traditionelle Genre der komischen Oper und vermeintlich ›konservative‹ Prinzipien der Tonalität einer musikalischen ›Restauration‹ bezichtigt (ebd., 167–178; vgl. zu den gleichwohl vorhandenen seriellen Elementen Bielefeldt 2003, 222–228). Ein Jahr später sollte er »einen radikalen Kurswechsel hin zu konkret gesellschaftspolitisch ambitionierten Kompositionen« unternehmen (ebd., 217). Quellen
Archiv des Suhrkamp-Verlags (Frankfurt a. M.), Verlagsbriefwechsel. Deutschen Literaturarchiv (Marbach), Briefwechsel mit dem Piper Verlag. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. Henze, Hans Werner: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984. Hg. von Jens Brockmeier. München 1984. Henze, Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt a. M. 1996. Kaschnitz, Marie Luise: Tagebücher aus den Jahren 1936– 1966. 2 Bde. Hg. von Christian Büttrich, Marianne Bütt rich und Iris Schnebel-Kaschnitz. Frankfurt a. M. 2000.
Literatur
Achberger, Karen: Literatur als Libretto. Das deutsche Opernbuch seit 1945. Mit einem Verzeichnis der neuen Opern. Heidelberg 1980. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 21997. Beck, Thomas: Bedingungen librettistischen Schreibens. Die
Libretti Ingeborg Bachmanns für Hans Werner Henze. Würzburg 1997. Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann. Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld 2003. de la Motte, Diether: »Der Prinz von Homburg«. Ein Versuch über die Komposition und den Komponisten. Mainz 1960. Grell, Petra: Ingeborg Bachmanns Libretti. Frankfurt a. M./ Bern 1995. Holthusen, Hans Egon: Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bachmanns [1958]. In: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil, nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München/Zürich 1989, 24–52. Kogler, Susanne/Dorschel, Andreas (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien 2006. Kreutzer, Hans-Joachim: Libretto und Schauspiel. Zu Ingeborg Bachmanns Text für Henzes Der Prinz von Homburg. In: Klaus Kanzog/Ders. (Hg.): Werke Kleists auf dem Musiktheater. Berlin 1977, 60–100. Miller, Norbert: »Geborgte Tonfälle aus der Zeit«. Der junge Lord oder Keine Schwierigkeiten mit der komischen Oper. In: Sigrid Wiesmann (Hg.): Für und Wider die Literaturoper. Laaber 1982, 87–104. Plachta, Bodo: Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Das ›Ineinanderarbeiten‹ von Librettistin und Komponist. In: Ders. (Hg.): Literarische Zusammenarbeit. Tübingen 2001, 285–302. Schlütter, Hans-Jürgen: Ingeborg Bachmann: Der Prinz von Homburg. Akzentuierungen eines Librettos. In: Sprachkunst 8 (1977), 240–250. Schmidt-Wigstoff, Katja: Dichtung und Musik bei Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Der »Augenblick der Wahrheit« am Beispiel ihres Opernschaffens. München 2001. Spiesecke, Hartmut: Ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ingeborg Bachmanns musikalische Poetik. Berlin 1993. Tumat, Antje: Dichterin und Komponist. Ästhetik und Dramaturgie in Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes »Prinz von Homburg«. Kassel/Basel 2004. Tumat, Antje: Ingeborg Bachmanns Belinda-Fragment. Vom Scheitern der ersten Oper mit Hans Werner Henze. In: Susanne Kogler/Andreas Dorschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien 2006, 161–183.
Dirk Göttsche
21 Übersetzungen
21 Übersetzungen ›Übersetzen als Menschenrecht‹ »Übersetzen ist die erste Pflicht, auch wenn sie nicht in 〈die〉 Charta der Menschenrechte aufgenommen ist« (TKA 4, 17). Ingeborg Bachmann äußert ihr emphatisches Eintreten für ein solches ›Menschenrecht‹ nicht im Zusammenhang mit einer Übersetzung, sondern in einem Entwurf aus dem Nachlass, der ihren Prosaband Simultan begleiten sollte. In diesem Kontext wird das ›Übersetzen‹ auch zu einer metaphorisierenden Beschreibung der Verständigung: Nadja, die Heldin der Erzählung, ist Dolmetscherin und wechselt mühelos zwischen verschiedenen Sprachwelten: Französisch, Englisch, Italienisch, Russisch sind die Sprachen ihres Alltags. Das Deutsche, »den alten Singsang« (TKA 4, 101), wird sie erst im Laufe der Erzählung als eigene Sprache wiederentdecken. Dem »seltsame[n] Mechanismus« (TKA 4, 115) des Sprachwechsels ist in der Erzählung neben translatorischen Aufgaben auch noch eine Form identitätskonstituierender Authentizität zu eigen. Übersetzen wird »auf dem Weg zu einer Verständigung mit dem anderen lebensnotwendig« (Dressler 2000, 111). Nadjas letzter und in diesem Sinne erster wirklicher Übersetzungsversuch eines Satzes aus der Bibel scheitert dementsprechend: »Ich bin nicht so gut, ich kann nicht alles, ich kann noch immer nicht alles. Sie hätte den Satz in keine andere Sprache übersetzen können, obwohl sie zu wissen meinte, was jedes dieser Wort bedeutete und wie es zu wenden war, aber sie wußte nicht, woraus dieser Satz wirklich gemacht war« (TKA 4, 143). Die metaphorische Bedeutung des ›Übersetzens‹ in der Erzählung Simultan entspricht einer grundlegenden poetologischen Struktur, die bei der Auseinandersetzung mit den Bachmannschen Übersetzungen mitbedacht werden muss. »Ausgangspunkt einer autobiographischen Poetologie in ihrer übersetzerischen und essayistischen Arbeit« (Goßens 2000, 43) ist dabei immer die Konfrontation mit dem Anderen.
Hörspiele: Übersetzungen und Funkein richtungen Ungeachtet dieser grundlegenden poetologischen Dimension hat Bachmann verhältnismäßig wenig übersetzt. Sie selbst nennt in einem Interview 1965 die publizierte Sammlung mit Gedichten des italienischen Lyrikers Giuseppe Ungaretti als ihre einzige Überset-
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zung (GuI, 57). Allerdings übersetzte sie anscheinend schon in den frühen Wiener Jahren aus dem Englischen. So weist sie in einem Brief an Hans Weigel (11.8.1948) auf ihre Übersetzung eines Essays aus dem wöchentlichen Kulturmagazin der BBC über Die heiligen Stätten Palästinas hin, der in der Monatszeitschrift Der Turm erschien (Anonym 1948; vgl. McVeigh 2016, 64; Abdruck ebd., 261–265). Im Rahmen ihrer Redakteurstätigkeit für den Turm relativiert sie auch schon früh ihre Englischkenntnisse: »kein Mensch weiß, ob ich aus dem Englischen übersetzen kann, aber man nimmt es einfach an« (McVeigh 2016, 64). Im Nachlass finden sich weitere Arbeiten, die jedoch vor allem als Produkte ihrer Beschäftigung beim Radio zu sehen sind. Radiokulturprogramme waren in den 1950er Jahren für die Vermittlung moderner und besonders auch fremdsprachiger Dichtung ein wichtiger Faktor. Das Übersetzen gehörte zu den alltäglichen Aufgaben der Redakteure, die sich nicht auf die Produktionen des Buchmarktes verlassen konnten. Von dieser Radioarbeit zeugt auch Bachmanns Übertragung von Thomas Wolfes Das Herrschaftshaus (posthum W 1, 445–512), das, wie auch das bislang unpublizierte Hörspiel Der schwarze Turm von Louis MacNeice, 1952 im Radiosender Rot-Weiß-Rot uraufgeführt wurde (Sendetermine 4.3.1952/8.10.1952). Zwei weitere Manuskripte sind im Nachlass den Übersetzungen zugeordnet: Unter dem Titel Herrenhaus findet sich 1953 Peter Sandbergs Übersetzung von Wolfes Schauspiel. Für den Südwestfunk (SWF) übernahm Bachmann 1958 die Funkeinrichtung einer Hörspielfassung (Sendetermin 7.1.1958). Im Oktober des gleichen Jahres produzierte der Sender außerdem ihre Bearbeitung eines Theaterstückes von Albert Camus: Belagerungszustand, 1948 in Paris als Schauspiel uraufgeführt, wurde am 31.10.1958 vom SWF in der Funkeinrichtung Ingeborg Bachmanns produziert (Auskunft SWR-Archiv Baden-Baden).
Späte Übersetzungen aus dem Italienischen Während die erste Phase übersetzerischer Arbeit von ihrer Redakteurstätigkeit bei Presse und Radio geprägt ist, ist ein zweites Übersetzungskonvolut des Nachlasses eng mit ihrem Leben in Italien verbunden. Bachmann lebte 1953–57 in Ischia, Rom und Neapel, 1959–60 u. a. gemeinsam mit Max Frisch in Rom und ließ sich 1965 endgültig dort nieder. Italien wird zum sprachlichen und sozialen Lebensmittelpunkt der Dichterin. Auch die deutschsprachige Kulturland-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_21
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schaft nimmt die weiterhin auf deutsch schreibende Bachmann zunehmend in ihrem italienischen Umfeld wahr. Der Band Fazit Rom. Das literarische Profil von Rom, den Gerald Bisinger und Walter Höllerer 1970 für das ›Literarische Colloquium Berlin‹ zusammenstellten, präsentiert Ingeborg Bachmann als einzige deutschsprachige Autorin neben der versammelten italienischen Avantgarde. Die 1966 entstandene Übersetzung von fünf Werbetexten für die Firma Olivetti, die sich im Nachlass erhalten hat, ist sicherlich ein Kuriosum, das dieser Situation zu schulden ist. Ob diesen Versuchen jedoch, wie ein dem Nachlasskonvolut beiliegender Brief des Auftraggebers angekündigt (N1547), weitere Aufträge gefolgt sind und ob die Texte jemals innerhalb einer Werbekampagne Verwendung fanden, konnte bislang nicht festgestellt werden. Eine Publikation war auch für die Nachlass-Übersetzung eines Essays mit dem Titel Fataler Monolog (1969) von Roberto Calasso nicht nachweisbar. Der Germanist und Adelphi-Verleger Calasso, mit dem Bachmann seit Mitte der 1960er Jahre eng befreundet war, skizziert in diesem poetisch-historischen Essay die letzten Turiner Tage des Philosophen Friedrich Nietzsche. Das Italienische war mittlerweile zur Alltagssprache der Dichterin geworden, die sie zunehmend besser beherrschte. Gerade in dieser Zeit weist Bachmann häufig auf ihren vertrauten Umgang mit der italienischen Sprache seit Kindheitstagen hin: So tritt die Topographie des Geburtsortes an der »italienisch-jugoslawischen« Grenze neben die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Vater zwischen dem Deutschen und dem Italienischen gewechselt sei: »schon für meinen Vater war es selbstverständlich italienisch zu sprechen, er hat auch gewünscht, daß ich es lerne« (Bachmann 1970, 76). Ihr eigenes Sprachvermögen im Italienischen entwickelte sich allerdings erst allmählich. Noch in einem späteren Entwurf weist sie auf ihr »fehlerhaftes Italienisch« (KS, 472) hin, das sie um 1960 zunächst vor der Begegnung mit Giuseppe Ungaretti zurückschrecken ließ. Die späte Erzählung Simultan (1972) zeigt dann jedoch ein multilinguales Sprachprofil, das neben dem Deutschen vor allem vom Italienischen geprägt ist.
Die Ungaretti-Übersetzung Die Übersetzung der Gedichte Giuseppe Ungarettis bedeutet einen (auch auf biographischer Ebene) wichtigen Schritt in Bachmanns italienischen Assimilationsbemühungen: Durch Ungaretti wird sie auch in
Rom zunehmend Beachtung und Anerkennung finden. Giuseppe Ungaretti (1888–1970) gilt seit den 1920er Jahren als einer der Hauptvertreter moderner italienischer Lyrik und wurde seitdem verschiedentlich in Zeitschriften und Anthologien übersetzt (vgl. Dressler 2000; Goßens 2000, 16–51). Seit dem Ende der 1950er Jahre bemühten sich zahlreiche Übersetzer verstärkt um eine möglichst umfassende Übertragung der Gedichte Ungarettis ins Deutsche: Verschiedene Übersetzungsprojekte, die häufig auf private Initiative zurückgingen, stellten seine Gedichte in bibliophilen Ausgaben oder Zeitschriften vor. Diese frühen Bemühungen fanden ihren ersten Höhepunkt nun in der Auswahl Ingeborg Bachmanns, deren Übersetzung Giuseppe Ungaretti: Gedichte 1961 als 70. Band in der »Bibliothek Suhrkamp« erschien. Gemeinsam mit der 1968 erschienenen Übersetzung der späten Gedichte durch Paul Celan steht Bachmanns Übersetzung bis heute beinahe synonym für den deutschsprachigen Ungaretti und trug entscheidend zu jener Prominenz des Italieners in Deutschland bei, die andere italienische Hermetiker wie Eugenio Montale oder Salvatore Quasimodo deutlich übertrifft. Bachmann möchte mit ihrer Auswahl aus den Ungaretti-Gedichten einen Schattenriss der poetologischen Genese des ›vita d’un uomo‹ geben. Neben 38 Gedichten aus Ungarettis erstem Gedichtband L ’allegria (1919/42) wählt sie einige Gedichte aus dem mittleren und späteren Werk aus: Auf je sechs Gedichte aus Sentimento del tempo (1936/43) und Il dolore (1947) folgen zwei Gedichte aus dem späten Band Il taccuino del vecchio (1960) und abschließend das Finale aus La terra promessa (1950). Seine frühen Gedichte haben Ungaretti in Italien bekannt gemacht und seinen Ruhm als ›Ahnherr‹ des Hermetismus begründet. Hier zeichnet sich die frühe Entwicklung des jungen Dichters ab, der, aus Ägypten kommend, sich den Kreisen der französischen Avantgarde anschließt. Seine ersten Gedichte kommen immer wieder auf die Stationen dieses existentiellen wie poetologischen Werdeganges zurück. Die Gedichte aus der Kriegszeit, die Ungaretti zunächst auf dem Karst, dann an der ChampagneFront schrieb, zeigen dagegen eine aufs äußerste verkürzte Form menschlichen Sprechens. In diesem Kontext entstand das Gedicht Mattina – vielleicht das bekannteste Gedicht Ungarettis, auf jeden Fall eines der kürzesten Gedichte der Weltliteratur: »M’illumino / d’immenso«, von Bachmann als »Ich erleuchte mich / durch Unermeßliches« übersetzt (W 1, 514 f.; vgl. Hudde 1996). Eine solche sprachliche Kürze und unmittelbare Nüchternheit, die zugleich existentielle
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Grunderfahrungen menschlichen Seins anspricht, kannte die italienische Literatur bis dahin nicht. Die späteren Gedichte, von denen Bachmann nur wenige auswählte, werden die Reflexion über menschliche Existenz weiter in den Mittelpunkt rücken, daneben aber auch die Möglichkeiten einer modernen Lyrik in ihrem Bezug zu traditionellen Formelementen (Metrum, Reim), zur Religion und zum Mythos vorführen. Auch wenn ihre äußere Form im italienischen Original den revolutionären Gestus des Frühwerks zurücknimmt, erkennt Bachmann hier Ungarettis Versuch, »mit der abgemühten, überladenen und dekorativen Sprache im italienischen Gedicht« zu brechen (KS, 363; W 1, 620). In ihrer Übersetzung verfährt sie entsprechend und übersetzt in freien Versen und reimlos. Sie betont gerade diese initiatorische Bedeutung der frühen Gedichte und führt damit ihre Genealogie poetischer Avantgarde, die sie zur gleichen Zeit in ihrer ersten Frankfurter Poetik-Vorlesung entwickelt (W 4, 182– 199), fort: »Denn in den frühen Gedichten sind alle die neuen Töne und Gesten da, die wir zuerst kennenlernen sollten, alle die neuen Möglichkeiten, die Ungaretti in seiner Sprache entdeckte« (KS, 362; W 1, 618). In ihrer Auswahl setzt sie einen thematischen Akzent und wählt Gedichte, in denen Ungaretti seine Kriegserfahrungen und den Tod von Freunden und Verwandten thematisiert. Auch in den ausgewählten späteren Gedichten finden sich diese persönlichen Verlusterfahrungen immer wieder. Mit der chronologischen Anordnung der Gedichte folgt Bachmann einem Ordnungsprinzip Ungarettis und lässt auch die Auswahl als ›Tagebuch‹ des ›vita d’un uomo‹ erscheinen, in dessen Mittelpunkt die traumatischen Lebenserfahrungen des Dichters stehen. Die konzentrierte Sprachwelt und poetische Realisierung dieser Erfahrungen bilden dabei nur das Gerüst für die »eigene schöne Biographie« (KS, 361; W 1, 618). Für Bachmann ist diese Rekonstruktion biographischer Elemente ein wichtiges Anliegen aller großen Dichter, die sie zu den poetischen Vorfahren Ungarettis rechnet. Ungarettis Dichtung gleiche damit den Versuchen Dante Alighieris, Francesco Petrarcas und Giacomo Leopardis, »das erste Erzittern über all das, was sie erfuhren und was ihnen widerfuhr, in die italienische Sprache« (KS, 364; W 1, 620) zu bringen. Der Erkundungsversuch in einem autobiographischen Feld verbindet Bachmanns Ungaretti-Auswahl eng mit ihren eigenen literaturtheoretischen Reflexionen. Der biographische Blick gerät zum Prospekt einer autobiographischen Selbstinszenierung: »Über-
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setzt Ingeborg Bachmann Gedichte von Giuseppe Ungaretti, befinden wir uns sprachlich mitten im Ausdrucksbereich der Verwundung und Zerstörung, der das semantische und thematische Zentrum ihrer literaturtheoretischen Reflexionen bildet. Es dürfte die Affinität zur traumatischen Erfahrung der geschichtlichen Realität im Krieg sein, die sie zu Autoren hinzieht, die sich rückhaltlos den destruktiven Gesetzen ihrer Zeit aussetzen« (Höller 1987, 164). Bachmann möchte ihren Lesern diese autobiographische Parallele vermitteln und skizziert in ihrem Nachwort das Bild des »uomo di pena«, des Schmerzensmannes, als Destruktionsgeschichte eines lyrischen Subjektes, dessen »[v]oce vivente« immer auf der Suche nach dem »Wesentlichen an einem Gedicht« ist (KS, 363 f.; W 1, 619 f.). So verstanden entspricht die Ungaretti-Übersetzung den Forderungen, die Bachmann an ein ›Menschenrecht für Übersetzung‹ stellt: Sie ist ein Angebot zum Dialog auf der Ebene autobiographischer Parallelität. ›Wörtlichkeit‹ als linguistische Form der Annäherung ist nicht das Ziel der Bachmannschen Übersetzung. Vielmehr muss man Übersetzung als eine Form der ›Kritik‹ im Sinne Walter Benjamins verstehen, in der die Übersetzerin versucht, den Entsprechungen des Fremden in der eigenen Sprachwelt nachzugehen. Dennoch ist sie nach Abschluss der Übersetzung skeptisch und stellt Hans Magnus Enzensberger »Mitte Feber 1962« die Frage, »ob es Dir nicht ein wenig wie mir mit dem Ungaretti gegangen ist, nämlich dass man an manchen – weiß Gott nicht allen − Stellen sich manchmal einen Ruck geben muss, um den freudigen Uebersetzereifer nicht absterben zu lassen, weil man die Gedichte plötzlich so bedeutend nicht finden kann. Anyway« (Bachmann/Enzensberger 2018, 120). Diese übersetzerische Skepsis entspringt ihrer durchweg perfektionistischen Beziehung zu ihren schriftstellerischen und damit auch übersetzerischen Arbeiten und ist nicht durch das Wissen über Ungarettis Beziehung zu Benito Mussolini und seine Nähe zum faschistischen Regime veranlasst. Bachmann hatte während der Arbeiten an der Übersetzung durch Enzensberger davon erfahren (vgl. Bachmann/ Enzensberger 2018, 104 f., Brief vom 25.1.1961) und beschlossen, ihr Nachwort noch vor der Drucklegung an einer Stelle zu ändern: »Denn ich habe nun, durch Zufall, erfahren, dass Ungaretti nicht nach Brasilien ging, weil er es in Italien nicht mehr aushalten konnte (diesem Irrtum ist ja auch Mang [= H. M. Enzensberger, P. G.] erlegen). Er war Faschist, ein gemäßigter, wenn man so will, Böses angerichtet hat er grade
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nicht, aber immerhin. Brasilien war keine Emigration, er war gut bezahlt von daheim, hat 1924 Benito Mussolini ein Gedicht gewidmet [...]« (zit. n. Bachmann/Enzensberger 2018, 275). Zu dieser Zeit war Ungarettis enge Beziehung zu Mussolini noch weitgehend unbekannt: Er hatte Mussolini schon 1915 kennengelernt und ihn zunächst aufrichtig bewundert, 1922 bat er ihn persönlich um ein Vorwort für seine Gedichtsammlung Il porto sepolto (1923; vgl. Petrocchi 1997, 165–202). Auch in den kommenden Jahren arrangierte er sich mit dem faschistischen Regime und war nicht ins Exil nach Brasilien gegangen, sondern dorthin auf einen Lehrstuhl für italienische Literatur berufen worden, bevor er noch 1942 nach Rom zurückkehrte. In der zweiten Auflage seines Museums der modernen Poesie änderte Enzensberger die Passage über den Brasilienaufenthalt in der biographischen Notiz zu Ungaretti entsprechend (vgl. Kommentar zu Bachmann/Enzensberger 2018, 275 f.); ähnlich dürfte auch Bachmann gehandelt haben, wobei die Erstfassung des Nachwortes bislang nicht auffindbar war. Für Bachmann bedeutete das Wissen um Ungarettis Vergangenheit jedoch keinen Abbruch ihrer Beziehung zu Ungaretti, im Gegenteil: Beide werden weiterhin einen sehr intensiven persönlichen Kontakt pflegen, auf den Bachmann in ihrer biographischen Notiz anlässlich von Ungarettis Tod hinweist (KS, 468–473) und den auch Freunde und Bekannte, u. a. Reinhard Baumgart (2004, 214 f.) oder Enzensberger, betonen: »Dann gingen wir tanzen, mit Ingeborg Bachmann, die ein glitzerndes Paillettenkleid trug, Arm in Arm mit Ungaretti« (Enzensberger 2014, 213). Bachmann hat Ungarettis Gedichte seit Jahreswende 1959/60 übersetzt. Eine erste Auswahl von fünf Gedichten aus Ungarettis erstem Gedichtband L ’allegria publizierte sie 1960 in Enzensbergers Museum der modernen Poesie; diese wie auch einige an anderer Stelle erschienene Vorabdrucke (vgl. Dressler 2000, 292 f.) geben einen Blick in die Werkstatt der Übersetzerin. Im Vergleich mit dem späteren Erstdruck der Gedichtauswahl finden sich hier einige Übersetzungsvarianten. Bis zur zweiten Auflage der Ungaretti-Auswahl (1963) wird Bachmann immer wieder Korrekturen an den Übersetzungen vornehmen. Unter textkritischen Gesichtspunkten sind diese Vorabdrucke von gleicher Relevanz wie die wenigen, im Nachlass erhaltenen Typoskripte, die freilich einen noch deutlicheren Einblick in den Arbeitsprozess der Autorin geben. So lautet das Gedicht Phase (W 1, 533) in einer frühen, im Nachlass erhaltenen Fassung:
Phase Geh geh wiedergefunden hab ich den Abgrund der Liebe Im Aug von tausendundeiner Nacht hab ich geruht An den verlassenen Gärten [ging] sank diese Nacht wie eine Taube Zwischen der Luft des Mittags der eine Ohnmacht war hab ich ihr gepflückt Orangen und Jasmine (N3327, Hervorhebungen P. G.)
Ungarettis Gedicht erschien erstmals 1916 in der Auswahl Il porto sepolto, später auch im gleichnamigen Binnenzyklus des Bandes L ’allegria. Obwohl die Gedichte 1915/16 im Schützengraben des Karstes entstanden sind, kann man sie dennoch nicht als Kriegsgedichte bezeichnen: »Nella mia poesia non c’è traccia d’odio per il nemico, né per nessuno: c’è la presa di coscienza della condizione umana [...]« (»In meiner Dichtung gibt es keine Spur des Hasses auf den Feind noch sonst auf irgend jemanden: Es gibt die Bewußtwerdung der conditio humana [...]« Ungaretti 1969, 520 f.; dt.: Ungaretti 1993, 445). Aus dem Hafen des Opaken tritt hier die Erinnerung an das Leben in Ägypten und die Imagination an eine »presenza femminile con la quale feci esperienza di forsennata lussuria« (»weibliche Präsenz, die ich mit wilder Lust erlebte«; 524, dt. P.G) hervor. Nur durch den Entstehungsort des Gedichtes und seine Datierung – »Mariano, il 25 guigno 1916« (32) – wird die erotische Illusion aufgebrochen und mit der Gewalt des Krieges konfrontiert. Bachmanns Arbeitsweise wird an dieser Übersetzung recht anschaulich: Die erste Fassung bleibt nahe am italienischen Original. Bachmann erarbeitet im Sprachlichen wie im Grammatikalischen eine Wörtlichkeit, die auch später nur an einzelnen Stellen zugunsten eigener Formulierungen zurückgenommen wird. Rhetorische Figuren, wie die Iteration zu Beginn des Gedichtes, versucht sie möglichst beizubehalten. Im Erstdruck wird sie dann sogar italienische Spracheigenheiten wie die Hiatvermeidung in »mill’una« auf das Deutsche übertragen: Aus der ursprünglichen Fassung »tausendundeiner« wird in der Druckfassung »tausend’einer«. Im Übersetzungsprozess ist vor allem
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die erhebliche Korrektur in der vierten Strophe auffallend: Die Übersetzung folgt anfangs der sprachlichen Vorgabe und wird als Fünfzeiler übersetzt. Im Druck nimmt Bachmann eine entscheidende Änderung vor: Aus »des Mittags / der eine Ohnmacht war« wird »des ohnmächtigen Mittags« (Ungaretti 1960, 35). Durch die attributive Reduktion verkürzt Bachmann das abschließende Quintett des Originals auf ein Quartett. An anderen Stellen tritt jedoch die von Bachmann selbst konstatierte sprachliche Unsicherheit hervor: So ist »ella« (V. 8) eher als personifizierende Imagination der Geliebten oder der Liebe zu verstehen und weniger als syntaktischer Bezug zu »notte« (V. 5), den Bachmann mit der Übersetzung in »diese Nacht« suggeriert. Im Vergleich mit der ersten Fassung der Übersetzung tritt das Gedicht in eine eigenständige Distanz zum Original. Es zeigt Bachmanns Bemühen, sich von den Vorgaben des Originals zu lösen und Ungarettis Gedicht in die eigene poetische Sprachwelt zu übertragen. Diese ›Aktualisierung‹ wird auch durch die nicht übersetzte Datierung des Gedichtes deutlich, die im Original den Bruch zwischen imaginierter Vergangenheit und gegenwärtiger Erfahrung markiert. Bachmann vermeidet damit eine Historisierung der Übersetzung und überträgt das poetische Bild in ihre gegenwärtige Sprachwelt. Als ›übersetzerisch identisch‹ ist entsprechend weniger eine linguistische als vielmehr eine analytische Qualität zu bezeichnen, die das Übersetzen direkt neben andere Formen philologischer Kritik rückt. Bachmann gelingt hier der Versuch, zwei dichterische Biographien auf dem Weg der Übersetzung zu parallelisieren. Das Erscheinen der Ungaretti-Übersetzung stieß im deutschsprachigen Feuilleton auf durchgehend positive Resonanz. Trotz aller vorherigen Bemühungen anderer Übersetzer wurde erst die Bachmann-Auswahl von einem größeren Publikum wahrgenommen: »So registriert man mit Genugtuung, daß zumindest eine Probe seines Œuvres nun auch bei uns erhältlich ist« (Brandt 1961; vgl. Musa 1962, 2). Die Dominanz des Frühwerkes wie auch die teilweise fehlerhafte Übersetzung wird jedoch in fast allen Besprechungen kritisiert. Alice Vollenweider (1962, 139) wirft Bachmann in ihrer Rezension mangelnde Sorgfalt vor und listet Fehler und Missverständnisse ausführlich auf. In der zweiten Auflage ihrer Übersetzung (1963) wird Bachmann diese und andere Fehler korrigieren. Die Literaturwissenschaft widmet sich erst seit dem Ende der 1970er Jahre der Ungaretti-Übersetzung: Lea Ritter-Santini (1981) stellt die Übersetzung 1979 bei einem Ungaretti-Symposion vor und deutet die Feh-
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lerleistungen als ›kreativen Irrtum‹. Bernhard Bö schenstein vergleicht »das absichtslose, der Prosa zustrebende, Fremdheiten der Sprache des Originals mildernde Übersetzungsverfahren Ingeborg Bachmanns« mit »Paul Celans Betonung einer sprachlichen Eigenwelt des Übersetzers, der das Original noch viel weniger abzubilden trachtet, sondern sich ihm in einer gewollten syntaktischen Abweichung selbstständig gegenüberstellt« (Böschenstein 1982, 315). Der Vergleich der drei von beiden Dichtern übersetzten späten Gedichte (Cantetto senza parole, Per sempre, Finale) avanciert zum beliebten Thema vieler Übersetzungsanalysen und bereichert den sogenannten ›CelanBachmann-Diskurs‹ bis heute um weitere Facetten (vgl. La Guardia 2002; Brunner 2009; Disanto 2011). Am Beispiel Ungarettis vergleichen die Interpreten dann häufig nicht die jeweilige Übersetzung des italienischen Gedichtes als vielmehr die beiden deutschsprachigen Übersetzer miteinander. Dagegen konzentriert sich Christoph Baehrs Analyse (1991) in ausführlichen Interpretationen auf elf von Bachmann übersetzte Gedichte und ist, neben der früheren Dissertation Werner Menapaces (1980), lange Zeit die umfangreichste Arbeit zu Bachmanns Übersetzungen. Neun Jahre später wird Stephanie Dressler (2000) die Übersetzung auch in ihrer Wechselbeziehung zum dichterischen Werk untersuchen. Neben der sprachlichen Valenz interessieren sie vor allem die poetischen Dimensionen der Übersetzung. Dressler versteht die Übersetzung als Kunstwerk, das als impliziter Bestandteil des Bachmannschen Œuvres zu begreifen ist und seine Spuren auch in ihren späteren Arbeiten hinterlassen hat. Heimgartner (2013, d. i. Dressler) geht in einem Abriss der deutschsprachigen Ungaretti-Rezeption nochmals auf Bachmann ein, wogegen Larcati (2009, 104 f.) in einem Essay über die Bachmann-Rezeption in Italien die von Paul Celan stammende Übersetzung der späten Cori di Didone irrtümlich Bachmann zuschreibt. Federico dal Bo (2004 und 2006) dagegen kann in seinen vergleichenden Übersetzungsanalysen der von Celan und Bachmann übersetzten Gedichte auf Grundlage einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der deutsch- und italienischsprachigen Forschungsliteratur neue Akzente setzen. Eine Reihe anderer Arbeiten, besonders auf Seiten der italienischen Literaturwissenschaft, beschäftigten sich mit Bachmanns Ungaretti-Übersetzung im Allgemeinen (Falconi 2009; Dammiano/Rueff 2010; Giannini 2012) oder betten diese in einen werkimmanent poetologischen Kontext ein (Pogatschnigg 2009; Seisenbacher 2011; Schilling 2014). Eine über die bisherigen
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Grundlagenarbeiten hinausgehende Darstellung der Ungaretti-Übersetzung wird aber wohl bis zur Edition der italienischen Korrespondenzen (vgl. Larcati 2016), aber auch der Verlagskorrespondenz sowie der kritischen Edition der Übersetzungen und ihrer Varianten auf sich warten lassen. Quellen
Anonym: Die heiligen Stätten Palästinas [Nach ›The Listener‹. Übersetzt von Ingeborg Bachmann]. In: Der Turm 3 (1948), H. 1, 31 f. Bachmann, Ingeborg: Zugegeben, hier habe ich erlernt, mit den anderen auszukommen. In: Das literarische Profil von Rom. Hg. von Gerald Bisinger und Walter Höllerer. Berlin 1970, 76–77. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Enzensberger, Hans Magnus: Tumult. Berlin 2014. Ungaretti, Giuseppe: [Übersetzungen von Ingeborg Bachmann:] Mattina (22); Fase (26); Allegria di naufragi (76); Finale (81); Sono una creatura (226). In: Museum der modernen Poesie. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1960. Ungaretti, Giuseppe: Gedichte. Italienisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann. Frankfurt a. M. 1961, 21963. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo. Tutte le poesie. Hg. von Leone Piccioni. Milano 1969. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo. En Menschenleben. Werke in sechs Bänden, Bd. 1: L ’allegria. Die Freude. [...] Gedichte 1914–1934. Italienisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Michael von Killisch-Horn. München 1993. Wolfe, Thomas: Ein Herrenhaus. Deutsch von Peter Sandberg. Hamburg 1953.
Literatur
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zione e poesia nell’Europa del Novecento. Rom 2004, 447– 470. Dal Bo, Federico: Il poeta traduttore. Paul Celan e Ingeborg Bachmann si confrontano con Ungaretti. In: Comunicare 6 (2006), 197–219. Dammiano, Enza/Rueff, Martin: Deux langues pour une seule voix. Ingeborg Bachmann traductrice de Giuseppe Ungaretti. In: Po&sie 131/132 (2010), 29–36. Disanto, Giulia A.: ›Per sempre‹. Ungaretti nella traduzione di Ingeborg Bachmann e Paul Celan. In: Andrea Csillaghy (Hg.): Un tremore di foglie. Scritti e studi in ricordo di Anna Panicali. Udine 2011, Bd. 2, 231–242. Dressler, Stephanie: Giuseppe Ungarettis Werk in deutscher Sprache. Unter besonderer Berücksichtigung der Übersetzungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Heidelberg 2000. Falconi, Francesca: La Poetessa traduce il Poeta. Ingeborg Bachmanns Ungaretti-Übersetzungen. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 41/1 (2009), 47–64. Giannini, Stefano: In pursuit of ›Allegria‹. Ingeborg Bachmann meets Giuseppe Ungaretti. In: Karl Ivan Solibakke/ Karina von Tippelskirch (Hg.): Die Waffen nieder! Ingeborg Bachmanns Schreiben gegen den Krieg. Würzburg 2012, 185–194. Goßens, Peter: Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. Edition und Kommentar. Heidelberg 2000. Heimgartner, Stephanie: Die Rezeption Ungarettis in Deutschland als Beispiel für die Interferenz literarischer Systeme. In: Irene Fantappiè/Michele Sisto (Hg.): Deutsche und italienische Literatur 1945–1970. Felder, Polysysteme, Transfer. Rom 2013, 255–272. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a. M. 1987. Hudde, Hinrich: Mich erhellt die Weite. Übersetzungsbemühungen um Ungarettis berühmtes Kurzgedicht. In: Italienisch 35 (Mai 1996), 72–75. La Guardia, Giovanni: ›Cantetto senza parole‹ e ›Per sempre‹ di Giuseppe Ungaretti tradotte da Ingeborg Bachmann e da Paul Celan. In: Università degli Studi di Napoli l’Orientale. Annali. Sezione germanica 12/1 (2002), 193–214. Larcati, Arturo: Meisterin der »Literatur der Innerlichkeit« oder »ritterlose Dame«? Ingeborg Bachmann in der italienischen Gegenwartsliteratur. In: Brigitte E. Jirku/ Marion Schulz (Hg.): »Mitten ins Herz«. KünstlerInnen lesen Ingeborg Bachmann. Frankfurt a. M. u. a. 2009, 101– 122. Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns italienische Korrespondenz. Vorbemerkungen zu einem Editionsprojekt. In: Fabrizio Cambi u. a. (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Rom 2016, 33–57. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953. Berlin 2016. Menapace, Werner: Die Ungaretti-Übersetzungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Innsbruck 1980. Musa, Gilda: Ungaretti in Germania, presentato da Ingeborg Bachmann. In: La fiera letteraria 17/5 (4.2.1962), 1–2. Petrocchi, Francesca: Scrittori italiani e fascismo. Tra sindicalismo e letteratura. Rom 1997. Pogatschnigg, Gustav-Adolf: Allegria, Freude, Schmerz. Die
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Seisenbacher, Maria: Yoko Tawada und Ingeborg Bachmann. Das Bild der Übersetzerinnen in ausgewählten Texten von Yoko Tawada und Ingeborg Bachmann in Bezugnahme der Poetik und der theoretischen Schriften von Yoko Tawada. Diplomarbeit Wien 2011. Vollenweider, Alice: Der Meister im Hintergrund. In: Neue Deutsche Hefte 9 (1962), Heft 85, 134–139.
Peter Goßens
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22 Briefwechsel Ingeborg Bachmann als Briefschreiberin Ingeborg Bachmanns Brief-Nachlass ist eines der umfangreichsten späten Zeugnisse einer zu Ende gehenden Briefkultur und von großer kulturgeschichtlicher und literarischer Bedeutung. Die Briefe Bachmanns tragen die Spuren der Zeit nach 1945. Sie sind von einer unverwechselbaren Brief-Sprache und einem eigensinnigen Verhältnis zum Briefgeheimnis bestimmt. Die Autorin gehört, um mit Theodor W. Adorno zu sprechen, zu jener aussterbenden Spezies des 20. Jahrhunderts, die über »archaische Fähigkeiten« verfüge, nämlich Briefe schreiben zu können, obgleich sich »eigentlich [...] keine Briefe mehr schreiben [...] lassen« (Adorno 1962, 129). In ihrem Tagebuch-Essay setzt sich Bachmann mit der epistolographischen Tradition auseinander und benennt zugleich die Besonderheiten und gesellschaftlichen Bedingungen der Briefkultur nach 1945: Man schreibe heute keine druckreifen Briefe mehr »über die komplizierten Dinge der Kunst [...] und die Besorgtheit über das Werk, das man vorbereitet«. Eine »sakrale Briefkunst« sei zu Ende gegangen (KS, 390 f.). Diese Entwicklung stelle zwar eine »Verarmung« dar, aber, so fährt sie fort, manchmal fühle »man sich einfach nicht aufgelegt, zwischen dem Ausfüllen der Steuererklärung und einem Gang zum Bäcker, die Goldfeder in die Tinte zu senken und Ewigkeit herzustellen oder überlegen Zeichen zu geben von Person zu Person« (KS, 391). Die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende und im 20. Jahrhundert deutlich zunehmende Beschleunigung von Mobilität, Verkehr und Kommunikation führte zu neuen Möglichkeiten und Formen des mündlichen und schriftlichen Austausches. Auch Bachmann bediente sich neben dem traditionellen Medium Brief moderner Kommunikationsmittel wie Telegramm und Telefon (in Arbeitsphasen wurde es abgestellt; vgl. Weigel 2003, 543–549), um in Anbetracht häufig wechselnder Wohnorte (u. a. Wien, Rom, München, Zürich, Berlin) das soziale Netzwerk von Verwandten, FreundInnen, KollegInnen und GeschäftspartnerInnen lebendig zu erhalten. Die neuen Technologien begannen nach 1945 den sogenannten ›privaten‹, den ›persönlichen‹ Brief zu verdrängen, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts »als Schriftform des Gesprächs« (Mattenklott 1988, 10) die Briefkultur für zwei Jahrhunderte prägte. Bachmanns kolloquialer, bei aller Literarizität unprätentiöser Sprachgestus
verbindet ihr Briefwerk mit dieser Tradition. Assoziativ, dialogisch, nuanciert beziehungsvoll – sie schlägt z. B. bei jedem Gesprächspartner einen eigenen Ton an, passt sich immer wieder auch dem Ton des anderen an – thematisiert sie Reisepläne, Orte bzw. Ortswechsel, körperliche Befindlichkeiten, Arbeitsprojekte, Lektüreerlebnisse und -empfehlungen, Poetologisches, Verlagsangelegenheiten, Alltägliches und Familiäres. Nicht nur ihr Werk, sondern auch ihre Briefe sind Zeugnis einer nie endenden Auseinandersetzung mit der Lebensrealität ihrer Zeit, die immer auch den gelebten Alltag und die Beziehungen zu den ihr nahe stehenden Menschen miteinschließt. Bachmann verfügte bei all der ihr eignenden Diskretion – so behielt sie z. B. gerne das ›Sie‹ bei – über die Fähigkeit, eine wie selbstverständlich anmutende Vertrautheit mit ihren BriefpartnerInnen herzustellen; das Zutrauen in die Vermittelbarkeit ›wahrhaftiger‹ Nähe nahm jedoch in den letzten Lebensjahren deutlich ab. In jenen Briefen Bachmanns von »ganz intimer Natur« (TKA 3.1, 572) tritt hingegen eine Tendenz zum Monologischen hervor, die sich vor allem als radikale Selbstanalyse, als »Psychogramm [ihres] Schreiber-Ichs« (Schönborn 2013, 358) äußert, sowie in Form einer sich um Verständnis und Verständigung bemühenden Analyse schwieriger Beziehungs- und Liebesdynamiken. Bachmanns ambivalente Haltung gegenüber den Verständigungsmöglichkeiten des Mediums Brief, das der »medientheoretische[n] Problematisierung« (Schuster/Strobel 2013, XXI) anderer Autoren des 20. Jahrhunderts ähnelt, äußert sich z. B. in ihrem Brief vom 20.12.1959 an Gisèle Celan-Lestrange: »Ich fürchte Briefe mehr und mehr, weil sie uns unbeugsam ansehen, wenn man nur das lebendige Wort sucht – und sogar den lebendigen Widerspruch« (Bachmann/Celan 2008, 188; vgl. auch Bachmann/Enzensberger 2018, 132). Bereits neun Jahre zuvor kündigte sie in einem Brief an Paul Celan den Besuch einer gemeinsamen Freundin an, die mit ihm besprechen sollte, »was ich schwer in einem Brief sagen kann« (Bachmann/Celan 2008, 16). Auch ihre Brief-Schreibhemmung dürfte damit in Zusammenhang stehen. Immer wieder lässt sie BriefpartnerInnen auf Antwort warten und im Arbeitszusammenhang entzieht sie sich dem Druck des Verlags oder den Anfragen ihrer SchriftstellerkollegInnen durch Schweigen; denn, so die Autorin im Brief an Oswald Döpke (Mai 1956): »Manchmal weiss ich nicht, warum ich lang nicht schreibe, auch wenn ich gerne möchte, aber diesmal weiss ich es, denn erst Krankheit und dann zuviel Arbeit haben mich so gelähmt in den letzten Wochen« (Döpke 1994, 36). Ein anderer, von
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_22
22 Briefwechsel
Fleur Jaeggy berichteter Umstand war Bachmanns Umgang mit postalischen Sendungen: »Ihr Tisch in der Via Bocca di Leone war übersät mit ungeöffneten Briefen« (Jaeggy 1994, 63). Max Frisch soll gesagt haben: »Und Ingeborg liest nie ihre Post, sie stopft alles in eine Schublade, und da liegen die wichtigsten Briefe für Wochen« (Feltrinelli 1994, 63). Im fiktionalen Raum des Romans Malina reflektiert die Ich-Erzählerin systematisch und radikal den Zusammenhang zwischen dem konsequent gedachten Briefgeheimnis – »das Unerlaubte zu begreifen, das darin bestehen könnte, einen Brief zu lesen« (TKA 3.1, 574) – und der sich daraus geradezu zwingend ergebenden Hermetik des Mediums Brief: »Auf diese Briefe, die ich alle nicht abschickte, kommt es mir aber an. Ich muß in diesen vier, fünf Jahren etwa zehntausend Briefe geschrieben haben, für mich allein, in denen alles stand« (TKA 3.1, 573). Wenn sich auch in Bachmanns Briefnachlass nicht annähernd so viele nicht abgeschickte Briefe finden lassen, gibt es dennoch einige Briefentwürfe, in denen vieles von dem steht, was für Bachmann unerträglich, ja unbesprechbar geworden ist: die fatale Verquickung von Liebe, Verrat, Geld, männlicher Gewalt und Literatur. Diese Briefentwürfe in Gestalt eines eigentlich dialogischen Mediums haben die Intimität von Tagebuchaufzeichnungen. Die Übergängigkeit der Briefe und Briefentwürfe zum fiktionalen Werk zeigt sich auf exemplarische Weise in den ›poetischen Korrespondenzen‹ mit dem Leben und Werk Paul Celans. In Malina, Bachmanns zentralem Text über die »Krise der Post« (TKA 3.1, 571) und des Schreibens von Briefen, werden einzelne Briefwechsel fortgeführt und der im Roman begegnende und widersprüchlich sich ausnehmende Wunsch, »das Briefgeheimnis wahren«, aber auch »etwas hinterlassen« zu wollen, realisiert sich in der literarischen Form des den Texten eingeschriebenen persönlichen ›Briefgeheimnisses‹ (TKA 3.1, 682); die Erzählung Drei Wege zum See nimmt Formulierungen aus dem Briefwechsel mit Hans Werner Henze auf (vgl. Harrasser 2008, 59 f.); der legere, am mündlichen Sprachduktus angelehnte Ton ihrer Briefe findet sich als signifikantes Stilmerkmal in ihrer Prosa wieder, so z. B. im Erzählfragment Das Buch Goldmann (vgl. Kommentar zu Bachmann 2017, 291). Da Briefe auch dokumentarischen Charakter haben, sind sie für die Genese, die Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Werke, aber auch für die (Re)Konstruktion einer BachmannChronik unverzichtbar. Dies trifft vor allem auf die Korrespondenzen mit Klaus Piper und Siegfried Unseld sowie den Lektoren der beiden Verlage zu. Die
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Briefe sind so ergiebig, weil Bachmann, hierin Thomas Bernhard ähnlich, auf ein »altmodisches Verlegerbild paternalistischer Prägung« (Eybl 2018, 283) rekurriert, auf einen Verleger, der ›seiner‹ Autorin väterlich schützend (Piper) bzw. freundschaftlich, aber fordernd (Unseld) zugewandt ist. Im Unterschied zu Bernhard werden in diesen Korrespondenzen private Beziehungen und Sachverhalte jedoch nicht ausgespart. Konflikte entzünden sich bei Bachmann weniger an Fragen des verlegerischen Engagements, des Honorars und der Tantiemen als an unvereinbaren ethischen Haltungen.
Überlieferung und Materialität Der Großteil der nachgelassenen Korrespondenz Ingeborg Bachmanns (mit Ausnahme der über 1000 Korrespondenzstücke umfassenden Familienbriefe), eine Schenkung der Geschwister Isolde Moser und Heinz Bachmann an die Republik Österreich, wurde von 1978 bis Ende 2013 in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) aufbewahrt. Seit Anfang 2014 wird sie vom Literaturarchiv der ÖNB betreut und liegt seit Ende 2014 katalogisiert vor. Zu diesem Bestand gehören weitere 500 gesperrte Blätter, die sowohl Briefentwürfe als auch autobiographische Notizen enthalten. Den BenutzerInnen des Online-Katalogs der ÖNB stehen durch die Katalogisate Eckdaten wie Namen der KorrespondenzpartnerInnen, Zeitraum und Umfang zur Verfügung. Die unveröffentlichten Briefe bleiben bis zu ihrer Publikation in der Salzburger Bachmann Edition, spätestens aber bis 2026, gesperrt. Lediglich den BandherausgeberInnen der Salzburger Bachmann Edition, die auf Wunsch der Erbengemeinschaft an der Salzburger Bachmann Forschungsstelle im Literaturarchiv Salzburg unter der Gesamtherausgeberschaft von Hans Höller, Irene Fußl und Uta Degner entsteht, sind die Kopien des gesperrten Nachlasses für ihre Arbeit an den einzelnen Werk- und Briefbänden vor Ablauf dieser Frist zugänglich. Der Briefnachlass dürfte rein quantitativ dem Werknachlass gleichkommen bzw. ihn sogar übertreffen. An die zweitausend Personen haben entweder an Bachmann geschrieben und/oder Briefe von ihr erhalten. Neben heute völlig unbekannten Namen liest sich die Liste ihrer KorrespondenzpartnerInnen wie ein ›Who’s Who‹ der zeitgenössischen Avantgarde der europäischen Kunst-, Literatur- und Verlagsszene. Zu nennen sind u. a. Adorno, Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Thomas Bernhard, Heinrich Böll, Marguerite
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II Das Werk – C Andere Werke
Caetani, Roberto Calasso, Hilde Domin, Günter Eich, Herbert Eisenreich, Erich Fried, Max Frisch, Günter Grass, Wolfgang Hildesheimer, Walter Höllerer, Walter Jens, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Kesten, Alexander Lernet-Holenia, Luigi Nono, Klaus Piper, Hans Werner Richter, Nelly Sachs, Hilde Spiel, Friedrich Torberg, Giuseppe Ungaretti, Siegfried Unseld, Martin Walser, Hans Weigel und Simon Wiesenthal. Wie zu erwarten, finden sich zahlreiche Briefe Bachmanns bei den KorrespondenzpartnerInnen bzw. in den zuständigen Archiven (u. a. Archiv der Akademie der Künste Berlin, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Max-Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek Zürich, Monacensia im Hildebrandhaus München, Wienbibliothek im Rathaus etc.); einige bedeutende Briefwechsel konnten bereits vervollständigt werden. Wie groß die Anzahl der ›fehlenden‹ Briefe tatsächlich ist, entzieht sich der Kenntnis, da Bachmann anders als z. B. Uwe Johnson im privaten Kontext nur wenige Durchschläge und keine Abschriften angefertigt hat. Belegt ist, dass sie einen großen Teil der Briefe von Max Frisch »vernichtet« und ihre eigenen Briefe »zurückerbeten« hat (Briefentwurf an Unseld, Incipit: »Mein lieber Siegfried, manchmal ist man zu müd«), auch an Hans Magnus Enzensberger hat sie diese Bitte gerichtet (vgl. Bachmann/Enzensberger 2018, 88 f., 262). Die Frage, ob und wie viele andere Korrespondenzstücke eventuell ›kompromittierenden‹ Inhalts von Bachmann entfernt wurden, bleibt offen. Der Briefnachlass vermittelt jedoch den Eindruck, dass sie auch weniger bedeutende Schreiben aufgehoben hat; es gibt zumindest keine weiteren Anzeichen dafür, dass sie Korrespondenzen gezielt vernichtet hat, wie z. B. Sigmund Freud (vgl. Schröter 2006, 229). Da Ingeborg Bachmann aufgrund ihres plötzlichen Todes keine Gelegenheit hatte, ihren Nachlass zu ordnen, sind wir auf Vermutungen angewiesen, in welchem Umfang sie ihre Korrespondenz der Nachwelt hätte überliefern wollen. Zwar nannte sie bereits 1966 ihre Geschwister als Rechtsnachfolger, dürfte aber lediglich in Hinblick auf eine einzige Korrespondenz Wünsche geäußert haben (vgl. Briefentwurf an Unseld, Incipit: »Lieber Siegfried, ich habe wohl gespürt,«). Soweit bekannt, hat Bachmann anders als z. B. Adalbert Stifter oder Rainer Maria Rilke keine Veröffentlichung ihrer Korrespondenzen geplant – Stifter hatte damit seinen Verleger Gustav Heckenast, Rilke den Inselverlag betraut (vgl. Wagner 2017, 185; Storck 2004, 500). Der Arbeits-Briefwechsel mit Hans Werner Henze zur Entstehung der Oper Der junge Lord, »der bei Rowohlt hätte erscheinen sollen, blieb
ein nicht realisierter Gedanke« (Höller 2004a, 424). Offensichtlich waren Briefe für Bachmann kein Mittel, um für die Nachwelt ein selbststilisiertes Autorbild zu entwerfen. Gerade auch vor diesem Hintergrund ist ihre kompromisslose Haltung dem Briefgeheimnis und der Intimität von Briefen gegenüber plausibel. Dass sich Bachmann der atmosphärischen Wirkung der Materialität von Briefen bewusst war, geht besonders aus dem Briefwechsel mit Paul Celan hervor (vgl. Wiedemann 2010, 196–215; Wiethölter 2010, 21 f.), aber auch aus den Ausführungen des weiblichen Ich über »feinere und feinste Unterschiede bei der Adreßschreibung« in Malina (TKA 3.1, 572; vgl. 544). Auf den ersten Blick scheint die Autorin wenig Wert auf die Ästhetik ihrer Briefschaften gelegt zu haben, auch wenn sie die materialen Konventionen, etwa die Wahl von Papier und Schreibwerkzeug, die Verteilung der Schrift auf der Schreibfläche, den Umgang mit Änderungen u. a. m., gekannt haben dürfte. So z. B. den Usus, dass im freundschaftlichen Umgang getippte Briefe als unhöflich wahrgenommen werden könnten (vgl. Wiedemann 2010, 202); an Celan schreibt sie am 4.7.1951 entschuldigend: »Nimm mir vor allem nicht übel, daß ich die wichtigsten Briefe immer mit der Maschine geschrieben habe. Das Tippen ist mir so zur Gewohnheit – oder viel mehr als das – geworden, daß ich kaum mehr fähig bin, Worte, die mir am Herzen liegen, mit Tinte aufs Papier zu malen« (Bachmann/Celan 2008, 21). Typoskripte, meist auf gewöhnlichem Schreibpapier in A4 oder A5 sowie in italienischem Format (22 × 28 cm), überwiegen daher im Briefwerk Bachmanns Manuskripte. Der Wechsel zur Handschrift hat häufig äußere Gründe, z. B. wenn sie auf Reisen keine Schreibmaschine zur Verfügung hatte. Bachmanns Korrespondenzen haben selten Reinschriftcharakter, sie schickt handschriftlich korrigierte Typoskripte ab oder belässt die durch Übertippen gelöschten Formulierungen im Brieftext, immer wieder fehlen auch Datierungen, sind unvollständig oder ungenau (vgl. auch Weigel 2003, 553 f.). Alfred Andersch bemerkt dazu im Brief vom 6.11.1954: »Liebe Ingeborg, herzlichen Dank für Deinen wie stets undatierten Brief aus Rom«. Für ihre handschriftlichen Briefe verwendet sie u. a. Papier mit Leinenstruktur, Papier vom Abrissblock, Papier mit dem Briefkopf des Hotels, in dem sie nächtigte oder dünnes Flugpostpapier. Das einzige bisher bekannte Papier mit dem aufgedruckten Briefkopf »ingeborg bachmann/ 1 berlin 33 (grunewald)/ koenigsallee 35« verwendete sie für Werktyposkripte (vgl. TKA 1, 690). Sowohl die Typoskript- als auch die Manuskriptblätter sind meist in
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linksbündigem Flattersatz beschrieben, einzelne Zeilen grenzen an den rechten Blattrand, das Schriftbild von Buchstaben und Zeilen neigt sich leicht nach rechts bzw. rechts unten. Hin und wieder ist der linke Rand breiter als üblich, so dass das Schriftbild jenem in den Gedichtniederschriften gleicht. In den Typoskripten sind die Abstände 1- und 1,5-zeilig, die Zeilenabstände in den handgeschriebenen Briefen zeichnen sich durch eine erstaunliche Ebenmäßigkeit aus. Die Abstände zwischen den Absätzen sind unterschiedlich, manchmal gibt es auch Absatzeinrückungen in Typoskript und Manuskript. Die Lesbarkeit der Handschrift variiert stark. Der Umfang der Briefe liegt durchschnittlich zwischen einer und vier Seiten, längere Briefe sind die Ausnahme und stehen häufig im Dienst eines gesteigerten Selbst(er)klärungsbedürfnisses. In einigen Briefentwürfen zeigt sich ein ähnlicher Mangel an ›orthographischer Disziplin‹ wie in manchen Werkentwürfen aus dem Nachlass. Die zahlreichen Schreibversehen, Folge des rasanten Tippens (Anschlagen benachbarter Tasten, Vernachlässigung der Interpunktion), ihrer körperlich-seelischen Verfassung (vgl. Kommentar zu Bachmann 2017, 293) und der Tatsache, dass die Typoskripte keiner »wiederholenden Reinschrift« (Wiedemann 2010, 204) unterzogen wurden, blieben unkorrigiert stehen. Anstelle von Briefkonzepten und Abschriften von Reinschriften sind Briefentwürfe erhalten, die entweder in anderer Form oder überhaupt nicht abgesendet wurden. Mehrmals weist Bachmann darauf hin, viele ihrer Briefe erst gar nicht abgeschickt zu haben, es gibt aber auch den im Briefwechsel Herzzeit dokumentierten Fall, dass nicht abgeschickte Briefe später beigelegt wurden (vgl. ebd., 212). Geschäftsbriefe und Antworten auf die sogenannte ›Fanpost‹ dürften zunehmend von Sekretärinnen erledigt worden sein. Das Telegramm, neben dem Telefon das rascheste Kommunikationsmittel der Zeit, erfüllte häufig, aber nicht nur, eine pragmatische Funktion. Die nach 1945 beim Durchschnittsbürger so populäre Bildpostkarte, die den persönlichen Brief zu ersetzten drohte (vgl. Nickisch 1991, 65), spielt in Bachmanns Korrespondenzverhalten hingegen lediglich eine marginale Rolle.
Editionsgeschichte Die konsequente Sperrung des Briefnachlasses in der ÖNB durch die Erbengemeinschaft, gleichsam eine ›kodifizierte‹ Fortsetzung von Ingeborg Bachmanns
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Briefgeheimnis (zu ihrer im Briefwechsel mit Hans Weigel geäußerten »›Nachlassangst‹« vgl. McVeigh 2016, 131 f.), hatte weitreichende Folgen für die Editionsgeschichte ihrer Korrespondenzen. Vor der punktuellen Aufhebung der Sperrung für die Briefwechsel mit Hans Werner Henze (2004) und Paul Celan u. a. (2008) hatten ForscherInnen wie interessierte Öffentlichkeit keinen Zugang zu diesem Teil des Nachlasses. Nur in Ausnahmefällen kam es zur verstreuten Veröffentlichung von Briefen bzw. Briefausschnitten, die sich aber im Besitz des Briefempfängers oder wie bei Uwe Johnson auch als eigene Durchschläge im Besitz des Verfassers befanden (vgl. Johnson 1974). So erschienen z. B. in der Bachmann-Sondernummer der Zeitschrift Du (September 1994) u. a. Ausschnitte aus Briefen Ingeborg Bachmanns an Oswald Döpke (vgl. Döpke 1994, 36–39). Das strikt gehandhabte Persönlichkeitsrecht steigerte das Interesse der literarischen Öffentlichkeit an den biographische Aufschlüsse versprechenden Briefdokumenten und erzeugte eine Spirale von Erwartungen und Mutmaßungen. Aus editionsphilologischer Sicht erwuchs daraus freilich auch ein Mehrwert, insofern als sich in der Publikationsgeschichte der Autorin keine selektiven Auswahlbände und keine textphilologisch mangelhaften Briefausgaben finden, die ihr Bild in der Öffentlichkeit maßgeblich hätten prägen können. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Editionsphilologie in den letzten Jahrzehnten ist auch die Editionspraxis von Briefausgaben textkritischen Standards verpflichtet. Aufgrund des von der Erbenge meinschaft genehmigten Zugangs zum gesperrten Briefnachlass für die BandbearbeiterInnen der Salzburger Bachmann Edition ist nun die Erschließung ihres Briefwerks möglich. Die Edition der Briefe hat sowohl für das Verständnis der privaten Dimension der geschichtlichen und kulturellen Erfahrung nach 1945 als auch der literarischen Spezifik ihres Werks einen zentralen Stellenwert. Geplante Briefeditionen sind u. a. die Korrespondenzen mit Ilse Aichinger/ Günter Eich, Alfred Andersch, Heinrich Böll, Hilde Domin/Marie Luise Kaschnitz/Nelly Sachs, Max Frisch, mit den italienischen Freunden (Marguerite Caetani, Roberto Calasso, Luigi Nono, Giuseppe Ungaretti u. a.) sowie die Verlagsbriefwechsel mit Piper und Suhrkamp. Mit der parallelen Publikation von Werk- und Briefausgaben kann die Korrespondenz der Autorin mit ihrem Werk »erscheinungstechnisch verzahnt« werden (Eybl 2018, 284): ein editorischer Glücksfall in Anbetracht der bei Bachmann besonders engen Verflechtung von Leben und Werk.
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II Das Werk – C Andere Werke
Briefwechsel mit Hans Werner Henze (1926–2012) Der Briefwechsel mit Hans Werner Henze, der 2004 von Hans Höller unter dem Titel Briefe einer Freundschaft herausgegeben wurde, bezeugt eine ganz besondere Freundschaft zwischen zwei gleichermaßen nach persönlicher Freiheit und künstlerischem Erfolg strebenden Künstlern. Beide waren geprägt durch ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus, beide hatten sich bereits während der Naziherrschaft von deren Ideologie distanziert. Der Briefwechsel umfasst die Jahre 1952 bis 1972, ist aber allein nicht in der Lage, die große Nähe zwischen den beiden zu dokumentieren, denn sie wohnten oft am selben Ort: auf Ischia, in Neapel, in Rom, telefonierten und sahen einander häufig. Auch ist die Überlieferung ungleichmäßig verteilt. So stehen 33 von Bachmann erhaltene Briefe 219 Briefen Henzes gegenüber, von denen rund ein Viertel aufgrund der Entscheidung des Herausgebers wegen Redundanzen, dem Überhang von Organisatorischem, Formelhaftigkeit bei Ansichtskarten etc. nicht abgedruckt wurde. Aus Henzes Antwortbriefen wird ersichtlich, dass zumindest doppelt so viele Briefe Bachmanns existierten, die aber nicht überliefert sind. Der Briefwechsel fasziniert durch seine Sprachenvielfalt; Bachmann und Henze schrieben einander nicht nur auf Deutsch und Italienisch, sondern auch auf Englisch und Französisch. Die Edition bietet alle umfangreicheren anderssprachigen Original-Stellen in einem Anhang, im Textteil hingegen wurden die Briefe mit Ausnahme ganz kurzer Stellen in graphisch abgehobener deutscher Übersetzung abgedruckt. In seiner Rezension lobt Kurt Bartsch diese Vorgangsweise und meint, dass die Lektüre ein »lebendiges Bild des in vielerlei Hinsicht Grenzen überschreitenden Briefwechsels« (Bartsch 2004, 411) biete. So ist z. B. jener Brief, in dem sich Henze offen über seine Homosexualität äußerte (vgl. Bachmann/Henze 2004, 156–158), in artistischer Sprachverschränkung komponiert. Der spielerische Charakter und die zugleich ›anbetende‹ Haltung Henzes zeigt sich am eindrücklichsten in der Kreativität der Briefanreden, von der hier nur einige wenige Beispiele genannt seien: »illustres zartes bachtier« (36); »grosse und nicht schlecht erleuchtete bachstelze« (44); »Dearest Sweetie« (149); »liebes ingelchen« (178); »liebe wildente, und liebe ingebach borckmann« (189); »göttliche, karfunkelsteinhafte« (199); »meine angebetete tochter« (206); »Liebste Ingeborg am See« (227); »Liebster Irrwisch« (230); »Liebe Ingelilililili« (275); »Meine
Begnadete« (278); »Mia cara povera piccola Gran dhissima« (334). Gemeinsame Themen in den Briefen sind u. a. die Liebe zu Italien und die Arbeitsmöglichkeiten in dieser Wahlheimat, persönliches Befinden, gemeinsame Freunde, Geldnöte, die gegenseitig und abwechselnd gemildert wurden, und sehr bald auch die Arbeit an den Libretti (gemeinsames »operln«, wie Henze es nennt; Bachmann/Henze 2004, 194) und Vertonungen von Texten Bachmanns. 1953 schreibt Bachmann für Henzes Ballettpantomime Der Idiot (nach Fjodor M. Dostojewski) einen neuen Text, nachdem die ursprüngliche Textfassung der Choreographin Tatjana Gsovsky bei der Uraufführung 1951 nicht überzeugen konnte. 1955 komponiert Henze die Musik zu Bachmanns Hörspiel Die Zikaden, 1957 entstand der Orchestergesang Nachtstücke und Arien. Nach Gedichten Ingeborg Bachmanns. Die gemeinsamen Opern Der Prinz von Homburg (nach Heinrich von Kleist) und Der junge Lord (nach Wilhelm Hauff) wurden 1960 und 1965 uraufgeführt, 1967 folgte die Chorfantasie zu Bachmanns Liedern von einer Insel. Die Arbeitsbriefe zu diesen gemeinsamen Projekten belegen auch, dass sich die direkte Zusammenarbeit aufgrund der sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen mitunter schwierig gestaltete: »Du solltest mir nicht so viel vorwerfen, auch wenn vielleicht meine Art zu arbeiten verschieden ist von der Deinen« (105), schreibt Bachmann, die in Zeiten, in denen es ihr psychisch schlecht ging, nicht gut arbeiten konnte. Henzes Strategie war es hingegen, sich durch Arbeit zu ›retten‹: »Wir sind da, um kreativ zu sein, das ist die heilige Wahrheit, alles andere ist unwichtig« (257). Für Bachmann und Henze standen die jeweiligen Kunstformen wie sie selbst in einem geschwisterlichen Verhältnis zueinander. So bezeichnet Henze in seinem Telegramm als Reaktion auf die Malina-Lektüre den Roman als Bachmanns erste »SINFONIE WELCHE DIE ELFTE VON MAHLER IST« (Bachmann/Henze 2004, 286); ihre Gedichte zitierte Henze auch in öffentlichen Reden. Bachmann wiederum verwendete gerne musikalische Vergleiche, wenn sie über Kunst sprach. Mindestens zweimal planten sie zu heiraten, obwohl sie, wie Bachmann es ausdrückt, »eine andere Liebe« verband, »rein und brüderlich« (154). Sie äußert sich Henze gegenüber sehr klar dazu, dass sie eine Ehe als unvereinbar mit ihrem Leben begriffen hätte, auch wenn sie sie zeitweise gewünscht habe: »dass die notwendige Transformation mein Gesetz verletzt oder mein Schicksal« (244 f.). Es blieb eine ganz besondere Verbindung, die sie einander suchen
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ließ, wenn es ihnen schlecht ging, sei es aufgrund von Arbeitskrisen oder aufgrund persönlicher Niederlagen. Als Bachmann nach einem Selbstmordversuch nicht mehr weiter wusste, rief sie nach dem Freund und wünschte sich nur noch, von ihm abgeholt zu werden und mit ihm zu reisen, denn sie »weiss niemand«, mit dem sie das sonst »kann und können möchte ausser Dir« (245). Auch wenn Bachmann im Herbst 1956 an Henze schreibt: »Mir ist völlig klar, dass die Freundschaft mit Dir die wichtigste menschliche Beziehung ist, die ich habe« (123), so gab es dennoch Sorgen, die sie ihm nicht anvertraute, weil sie glaubte, damit allein fertig werden zu müssen (vgl. 69). Auffallend ist, dass sie ihre Verbindung mit Paul Celan dem Freund Henze gegenüber all die Jahre mit keinem einzigen Wort erwähnte (Höller 2004b, 404).
Briefwechsel mit Paul Celan (1920–1970) Die unter dem Titel Herzzeit 2008 edierte Korrespondenz zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan besteht aus 196 Briefen, die von den Herausgebern Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann um die Umfeldbriefwechsel Bachmanns mit Gisèle Celan-Lestrange (25 Korrespondenzstücke) und Celans mit Max Frisch (16 Korrespondenzstücke) ergänzt wurden. Insgesamt sind mehr Briefe und Briefentwürfe Bachmanns erhalten, was eine der wenigen Ausnahmen in ihrer Korrespondenz darstellt. In den frühen 1950er und 60er Jahren bemüht sich Bachmann sehr um Celan, was den zahlenmäßig größeren Anteil ihrer Briefe erklärt; im Jahr 1957, nach dem Wiederaufleben der Liebesbeziehung, ist es Celan, den es drängt, ihr Briefe und Gedichte zu senden. Der Briefwechsel setzt – sehr charakteristisch für die Beziehung – mit einem Widmungsgedicht Paul Celans an Ingeborg Bachmann zu ihrem 22. Geburtstag im Juni 1948 ein und er endet de facto Ende 1961, danach sind nur zwei kurze Briefe Paul Celans erhalten. Die beiden hatten sich in Wien kennen gelernt, wo Bachmann studierte und Celan sich ein halbes Jahr aufhielt, bevor er nach Paris weiterreiste. Das Widmungsgedicht In Ägypten drückt bereits den inneren Konflikt der Liebesbeziehung zwischen dem jüdischen Dichter, dessen Eltern ermordet wurden, und der Tochter eines NSDAP-Mitglieds aus. Celan spricht in einem Brief von ihrer Liebe als einem »Vergehen« (Bachmann/Celan 2008, 41), Bachmann vom »Exemplarische[n]« (25): »es ist zuviel und zu schwer« (24). Die Anziehung zwischen Bachmann
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und Celan war außergewöhnlich stark, aber von vornherein so belastet, dass eine glückende Beziehung – selbst freundschaftlicher Art – unmöglich war. So zeigt der Briefwechsel die wohl dunkelste und tiefste Facette der Briefsprache Ingeborg Bachmanns. Sie führt immer wieder ins Verstummen, setzt sich aber im Werk fort. Bei Bachmann geschieht dies von Anfang an bewusst und in einem Zwiegespräch mit der Lyrik Paul Celans. Sie widmet ihm im Dezember 1953 ihren ersten Gedichtband Die gestundete Zeit mit Worten aus einem seiner Gedichte (Aus Herzen und Hirnen): »Für Paul – / getauscht, um getröstet zu sein« (56). Celan hingegen scheint erst in der Phase der wieder aufgeflammten Liebe ab 1957 erkannt zu haben, wie stark Bachmann in seinen Gedichten präsent ist: »Denk an ›In Ägypten‹. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst« (64). Nun widmet er ihr 23 Gedichte aus dem bereits 1952 erschienenen Band Mohn und Gedächtnis und erstmals nimmt er auch ihre Gedichte wirklich wahr: »Und weiß auch, endlich, wie Deine Gedichte sind« (77). In dieser Zeit der gegenseitigen größten Anerkennung kommt es zu einem bewussten Zwiegespräch im Werk. Die Bedeutung der Briefwechseledition für die Bachmann- wie für die Celan-Forschung ist enorm, denn nun können etliche vermutete Bezüge in den Gedichten belegt werden: »Ist ›Köln, Am Hof‹ nicht ein schönes Gedicht? [...] Durch Dich, Ingeborg, durch Dich. Wäre es je gekommen, wenn Du nicht von den ›Geträumten‹ gesprochen hättest. Ein Wort von Dir – und ich kann leben« (65). Das Ringen um Worte nach der Shoah dominiert diesen Briefwechsel. Die Sprache ist »durch tausend Finsternisse todbringender Rede« (Celan 1983, 186) gegangen; für beide Dichter stellt sich die schwierige Aufgabe, sie wieder neu zu ›beleben‹. So findet das Gespräch zwischen Bachmann und Celan auch über die Gedichte statt. Und Bachmann ist es wichtig, seine Gedichte von ihm persönlich zu erhalten: »Ich kann sie besser lesen als die andern, weil ich Dir darin begegne« (Bachmann/Celan 2008, 10), schreibt sie im Frühjahr 1949, und auch im Herbst 1958 befürchtet sie, in der fehlenden Sendung eine Abwendung Celans zu erkennen: »Du hast die Gedichte nicht geschickt! Entzieh mir Deine Hand nicht, Paul, bitte nicht« (96). Umgekehrt genügen in den Zeiten des Einverständnisses oft Chiffren, die ebenfalls Gedichten entstammen, um Einigkeit zu vermitteln: »Und wir – ach Paul, Du weißt ja, und ich weiß nur jetzt
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kein Wort dafür, in dem es ganz stünde, was uns hält« (91, Hervorhebung S. B./I. F.). Von Anfang an – das zeigt das Gedicht In Ägypten eindrücklich – steht die Beziehung zwischen Bachmann und Celan in einem »Opfer-Täter-Diskurs«. Celan sieht seine Rolle als »Ankläger und Anwalt der Toten« (Schönborn 2013, 361), später erlebt er sich auch als Opfer erneuter antisemitischer Verfolgung. Bachmann sorgt sich in dieser Zeit sehr um Celan, scheitert aber, wie auch seine Frau Gisèle und die Freunde, an seinem hohen Anspruch. Sie schreibt am 27.9.1961 in einem letzten Resümee: »Von den vielen Ungerechtigkeiten und Beleidigungen, denen ich bisher ausgesetzt [war,] sind mir am schlimmsten immer die Du mir zugefügt hast – auch weil ich sie nicht mit Verachtung oder Gleichgültigkeit beantworten kann, weil ich mich nicht schützen kann dagegen, weil mein Gefühl für Dich immer zu stark bleibt und mich wehrlos macht. [...] Und ich frage mich eben, wer bin ich für Dich, wer nach soviel Jahren?« (Bachmann/Celan 2008, 153). »Ich bin oft sehr bitter, wenn ich an Dich denke, und manchmal verzeihe ich mir nicht, dass ich Dich nicht hasse, für dieses Gedicht, diese Mordbeschuldigung [Wolfsbohne], die Du geschrieben hast. Hat Dich je ein Mensch, den Du liebst, des Mordes beschuldigt, ein Unschuldiger? Ich hasse Dich nicht, das ist das Wahnsinnige, jedoch wenn je etwas gerad und gut werden soll: dann versuch auch hier anzufangen, mir zu antworten, nicht mit Antwort, sondern mit keiner schriftlichen, sondern im Gefühl, in der Tat« (156). Bezeichnenderweise wurde dieser Entwurf nicht abgeschickt, wie überhaupt ihre klarsichtigsten Briefe Celan nie erreichten. Dazu gehört auch ein Entwurf Bachmanns, der erst im Zuge der Arbeiten an der Salzburger Bachmann Edition in ihrem Nachlass gefunden wurde. Es handelt sich bei dem Blatt um das eindringlichste Liebesbekenntnis mit u. a. jenem fundamentalen Bekenntnis: »ich liebe Dich mehr als mein Leben« (N3639), das sich mit der – aus einer anderen Perspektive – wortgleichen Passage in Malina deckt (TKA 3.1, 524). Nachdem sie von seinem Suizid erfahren hatte, arbeitete sie »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« in das bereits fertiggestellte Manuskript von Malina ein. Wie der Fremde war auch Paul Celan nicht zu retten. Einer der engsten Freunde Celans, Klaus Demus, schrieb ihm im Juni 1962 in einem Brief liebevoll und vorsichtig, aber doch in der Deutlichkeit, die die Freundschaft verlangte: »Paul, ich habe den entsetzlichen ganz gewissen Verdacht, dass Du an Paranoia erkrankt bist« (Celan/Demus 2009, 435). Auch Bachmann erkannte, dass Celan in
seinem Wahn, wenn nicht direkt »auf dem Transport«, so doch »im Fluß« der antisemitischen Verfolgung »ertrunken« war (TKA 3.1, 524). Zehn Jahre nach Erscheinen von Herzzeit gibt es immer noch öffentliche Lesungen. Ruth Beckermanns Film Die Geträumten (2016), der sich fast ausschließlich auf die Brieftexte stützt, ist ein besonders wirkmächtiges Rezeptionsdokument dieses Briefwechsels und verdeutlicht einmal mehr die außergewöhnliche Dichte dieser Texte.
Briefwechsel mit Hans Magnus Enzens berger (*1929) Der Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger, schreib alles was wahr ist auf, herausgegeben von Hubert Lengauer, erschien 2018 als erster Briefwechsel im Rahmen der Salzburger Bachmann Edition. Er besteht aus 130 Korrespondenzstücken und reicht von 1957 bis 1972. Mit 53 Briefen von Bachmann und 77 von Enzensberger ist der Briefwechsel ausgewogener als jener mit Hans Werner Henze, aber auch hier fehlen Briefe Bachmanns. Im Sommer 1960 hatte sie Enzensberger zwar gebeten, ihre Briefe zu vernichten, was aber offensichtlich nur eingeschränkt geschah. Auch hier fällt die Sprachenvielfalt auf: Neben der überwiegenden deutschen Sprache wird öfter ins Italienische gewechselt, mitunter gibt es auch englische und französische Abschnitte. Die Korrespondenz setzt 1957 mit einem Brief Enzensbergers ein, in dem er halb ernst, halb scherzhaft die Arbeit an einem gemeinsamen Buch vorschlägt. Wenig später empfiehlt Bachmann Enzensberger für die Nummer der Botteghe Oscure, die sie im Winter 1957 gemeinsam mit Paul Celan vorbereitete. 1960 übersetzt sie für Enzensbergers Anthologie Museum der modernen Poesie Gedichte von Giuseppe Ungaretti, 1961 schreibt sie für den Band Nelly Sachs zu Ehren das Widmungsgedicht Ihr Worte. Das 1968 von Enzensberger herausgegebene Kursbuch 15 avanciert auch dank ihrer Gedichte (Keine Delikatessen; Böhmen liegt am Meer; Prag Jänner 64; Enigma) zum Kultbuch, jedoch endet damit der Briefwechsel, nachdem sich Enzensberger über zwei Jahre lang hartnäckig um die Übersendung der Gedichte bemühen musste. Danach sind nur zwei Entwürfe Bachmanns aus dem Jahr 1972 erhalten, die Enzensberger aber nicht erreichten. Neben den ›Geschäftsbriefen‹ zu den gemeinsamen Projekten hält Enzensberger Bachmann über seine Arbeiten auf dem Laufenden, Bachmann kommen-
22 Briefwechsel
tiert seine Gedichte und schätzt ihn als ernsthaften Gesprächspartner in Fragen der Literatur: »Ich glaube, ich habe Ihnen nie gesagt, warum ich Sie gerne und nicht nur für Stunden, sondern oft, sehen möchte. Weil ich mir nämlich einbilde, dass wir über alles reden sollten, worüber man sonst wenig Lust hat, noch mit irgend jemand zu reden, und dass es einen Sinn hätte. Ich möchte mit Ihnen sogar über das Schreiben, sogar über Gedichte und wie alles veränderbar wäre, reden, und was zu tun ist und warum, ohne Plan und Voraussetzung und erstarrte Ansicht« (Bachmann/ Enzensberger 2018, 38 f.). Enzensberger wie Bachmann sind politisch interessiert und engagiert, diskutieren das Zeitgeschehen, reisen 1960 in die DDR (Leipzig), arbeiten gemeinsam an den Vorbereitungen zu der internationalen Zeitschrift Gulliver, die dann doch nicht zustande kommt. Sie tauschen sich über Literatur aus und sparen in den Briefen auch nicht mit intertextuellen Anspielungen. Im Sommer 1959 deutet alles auf eine ›Affäre‹ in Lanuvio bei Rom hin; ab Juli 1959 duzen sie einander in der Korrespondenz und es gibt Nähesignale wie »meineinge borg« (Bachmann/Enzensberger 2018, 46) und »deinmang« (54), »Augenküsse« (58) und »grüße an deine wimpern« (68), spielerische Rätsel (44) und »Morsezeichen« (98). Bald danach finden sie wieder zu einem freundschaftlichen Ton zurück. Der Bitte Enzensbergers, auch von ihrem Alltag, den Gästen und den Mahlzeiten zu erzählen (54), kommt sie nach und schreibt über das selbstgekochte Weihnachtsessen (69) und die ersten Ausfahrten nach der Fahrprüfung (34) ebenso wie über die Angst vor den Frankfurter Vorlesungen (57). In den Zeiten der Krankheit wirkt die Freundlichkeit und Gelassenheit Hans Magnus Enzensbergers wohltuend, und es sind seine Briefe, die sie nicht zu fürchten braucht: »Ich habe auch nie Angst, wenn ich einen Brief von Dir aufmache, und sonst habe ich meistens Angst, wenn auch unbegründete oft« (132). Am 1.12.1962 bricht Bachmann nach »zwei selbstmörderischen Monaten« (136) in einem Brief an Enzensberger ihr Schweigen über die Trennung von Max Frisch. Doch in einer »nachschrift« bedauert sie dann wieder, ihn damit zu »belasten« (138). Er antwortet erleichtert, endlich ins Vertrauen gezogen worden zu sein, und ist empört über den Rücknahmeversuch. Das Gesprächsangebot und die Fürsorge, die sie von Enzensberger erfährt, wird auch von ihr erwidert. In der Phase der größten Dunkelheit in ihrem Leben rund um den Jahreswechsel 1962/63 appelliert der Freund an sie, keine Tabletten mehr zu nehmen, und, wenn sie gar nichts mehr erheitere, »greif in gottes na-
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men zu dem papier und der maschine und zu den wörtern und schreib alles was wahr ist auf. [...] versprich, daß wir uns nicht verschonen wollen« (139). Quellen
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Ingeborg Bachmann, Briefwechsel mit Alfred Andersch und Siegfried Unseld. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin: Piper/Suhrkamp 2017. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. Celan, Paul/Demus, Klaus und Nani: Briefwechsel. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisèle CelanLestrange und Klaus und Nani Demus. Hg. von Joachim Seng. Frankfurt a. M. 2009. Döpke, Oswald: »Ich weiss nämlich gar nicht, wohin ich gehen soll«. Ingeborg Bachmann in Briefen aus den Jahren 1956 und 1957. In: Du 9 (1994), 36–39. Feltrinelli, Inge: Sein und Schein. In: Du 9 (1994), 63. Jaeggy, Fleur: Reise ans Meer. In: Du 9 (1994), 63–64.
Literatur
Adorno, Theodor W.: Nachwort. In: Walter Benjamin (Hg.): Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. Frankfurt a. M. 1962, 119–128. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft [Rezension]. In: Sprachkunst 35/2 (2004), 408–411. Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gedichte III, Prosa, Reden (= Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3). Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1983, 185–186. Eybl, Franz M.: Briefausgaben. In: Martin Huber/Manfred Mittermayer (Hg.): Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2018, 279–285. Harrasser, Karin: Bachmanns Liebespost. In: Oliver Simons/ Elisabeth Wagner (Hg.): Bachmanns Medien. Berlin 2008, 46–60. Höller, Hans: Kommentar. In: Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004a, 417–526. Höller, Hans: Nachwort. In: Ingeborg Bachmann/Hans Wer-
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ner Henze: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004b, 402–416. Johnson, Uwe: Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt a. M. 1974. Mattenklott, Gert (Hg.): Deutsche Briefe 1750–1950. Frankfurt a. M. 1988. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953. Berlin 2016. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief. Stuttgart 1991. Schönborn, Sibylle: Nous deux encore? – Zu zwei Briefen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan aus dem Herbst 1957. In: Waltraud Wiethölter/Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a. M. 2010, 351–361. Schröter, Martin: Briefe. In: Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2006, 220–231. Schuster, Jörg/Strobel, Jochen (Hg.): Briefkultur. Texte und Interpretationen – von Martin Luther bis Thomas Bernhard. Berlin 2013. Storck, Joachim W.: Das Briefwerk. In: Manfred Engel (Hg.):
Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2004, 498–506. Wagner, Karl: Briefe. In: Christian Begemann/Davide Giuriato (Hg.): Stifter-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, 184–189. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses [1999]. München 2003. Wiedemann, Barbara: »auch ich schreibe jetzt mit Durchschlag...«. Reflektierte Materialität im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. In: Waltraud Wiethölter/Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a. M. 2010, 196– 215. Wiethölter, Waltraud: Rolle rückwärts? Von der brieflichen Typographie zum Brief. In: Waltraud Wiethölter/Anne Bohnenkamp (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a. M. 2010, 7–23. Wiethölter, Waltraud/Bohnenkamp, Anne (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Frankfurt a. M. 2010.
Silvia Bengesser / Irene Fußl
23 Autobiographisches
23 Autobiographisches Textkorpus Dem Sammelbegriff ›Autobiographisches‹ kann ein relativ begrenztes Korpus von Texten und Aufzeichnungen Bachmanns zugeordnet werden, die – so sei schon zu Beginn vorweggenommen – nicht der traditionellen Gattung der Autobiographie angehören, wenn man diese der einschlägigen Literatur nach als lebensgeschichtliche Erzählung definiert, in der Erzähler, Autor und Protagonist identisch sind (WagnerEgelhaaf 2000, 8; Tippner/Laferl 2016, 9–20). Bachmanns Schreiben stellt den »autobiographischen Pakt« (Lejeune 1994) von Grund auf in Frage. Dennoch lassen sich zunächst, was die publizierten Schriften betrifft, zwei kurze autobiographische Texte im engeren Sinn nennen, nämlich die Skizze Biographisches, die am 3.11.1952 im NWDR Hannover gesendet wurde und auch in einer späteren modifizierten Fassung vorliegt (KS, 4–6, 7–9; W 4, 301 f.), sowie der fragmentarische und zu Lebzeiten unveröffentlichte Versuch einer Autobiographie, der vermutlich zwischen 1964 und 1966 entstanden ist (KS, 402–405). Dazu kommen die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass der Geschwister, die sich im sogenannten Kriegstagebuch der Jahre 1944–45 zu einer lebensgeschichtlichen Narration verbinden. Einen weiteren Teil des Textkorpus bilden einige Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit, die im ersten Band der neuen Salzburger Ausgabe unter dem Titel Male oscuro veröffentlicht wurden. Im Rahmen dieser Ausgabe ist ein Band autobiographischer Schriften geplant, der auch bisher nicht publizierte Aufzeichnungen enthalten soll.
Kriegstagebuch Im sogenannten Kriegstagebuch, das als Schreibma schinentyposkript überliefert ist (Bachmann 2011, »Editorischer Bericht«, 97), verbinden sich Bachmanns Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten Kriegsmonaten und aus der Zeit der Befreiung Kärntens durch die ›British Army‹ zu einer autobiographischen Erzählung von einem euphorisch erlebten Kriegsende. Die historischen Ereignisse sind genau datierbar: Der erste Teil beginnt im September 1944 mit Bachmanns Eintritt in die Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt und handelt vom Bombenangriff auf Klagenfurt am 15.3.1945, der zweite Teil betrifft die unmittelbare Nachkriegszeit, genauer den Juni 1945,
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als Bachmann im Büro der ›Field Security Section‹ in Hermagor dem britischen Besatzungssoldaten Jack Hamesh begegnet und sich in den Sohn einer exilierten jüdischen Familie aus Wien verliebt. »Mein geliebtes Tagebuch, jetzt bin ich gerettet« (Bachmann 2011, 9), so lautet der Beginn der Aufzeichnungen, in denen die Stimme eines achtzehnjährigen Mädchens aus der österreichischen Provinz ihren spontanen und manchmal fast noch kindlich anmutenden Ausdruck findet. Das Motiv der Rettung gewinnt im gegebenen Kontext mehrfache Bedeutung: Konkret ist zunächst die Rettung vor dem sogenannten ›Reichsarbeitsdienst‹ gemeint, dem Bachmann durch die Anmeldung in der an sich »verhasste[n] Lehrerbildungsanstalt« (9) entgehen kann, gemeint ist weiter die Rettung vor den Bomben, die auf Klagenfurt fallen. Bachmann spricht vom »Weltuntergang« und von ihrem eigenen Weg, die Angst zu überwinden: »Vielleicht ist es sündhaft, einfach sitzen zu bleiben und in die Sonne zu schauen. Aber ich kann nicht mehr in den Bunker gehen [...]. Der Gedanke, dort womöglich mit allen wie in einer Viehherde zugrundezugehen, ist mir schauerlich. Wenigstens im Garten. Wenigstens in der Sonne« (12). Emblematisch ist die zitierte Gartenszene, die als »literarische wie biographische Urszene« (Stoll 2013, 34) bezeichnet wurde, auch deshalb, weil hier die mögliche Rettung ganz dem Medium der Lektüre von Rainer Maria Rilkes Stundenbuch und Charles Baudelaires Fleurs du Mal anvertraut wird: »Ich habe einen Sessel in den Garten gestellt und lese. Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomben kommen« (Bachmann 2011, 11). Bachmanns Tagebuchnotizen sind das Dokument eines physischen wie geistigen Überlebens, das sich vor dem Terror des Krieges und der NS-Erziehung retten kann. Der erste Teil des Tagebuchs erzählt vom »Bruch mit der Kriegswelt der Väter« (Bachmann 2011, Nachwort, 80) und schließt mit den Vorbereitungen zur Desertion aus einem Land, das die Nazis noch besetzt halten. Der zweite Teil berichtet von der Begegnung mit Jack Hamesh, die anfangs ganz im Zeichen der Scham steht, wie eine emblematische Episode zeigt. Befragt zu ihrer Mitgliedschaft im »Bund Deutscher Mädel« antwortet die junge Bachmann wahrheitsgetreu mit einem entschiedenen »Nein« und errötet dennoch »vor Verzweiflung«; im Rückblick kommentiert sie: »Es ist ganz unverständlich, warum man auch rot wird und zittert, wenn man die Wahrheit sagt« (17). Problematisch erscheint schon in dieser frühen Reflexion die autobiographische Wahr-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_23
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heit, die nicht nur die verifizierbaren Fakten betrifft, sondern auch das Zeugnis dessen, was dem Ich widerfährt und in seiner unbewussten Körpersprache Ausdruck sucht. Wiederum ist es die Literatur, die eine gemeinsame Sprache zwischen der Tochter eines NS-Offiziers und dem jüdischen Opfer ermöglicht: »Ich weiss auch nicht mehr, was wir am Anfang geredet haben, aber dann auf einmal von Büchern, von Thomas [Mann] und Stefan Zweig und Schnitzler und Hofmannsthal. Ich war so glücklich, er kennt alles und er hat mir gesagt, er hätte nie gedacht, dass er ein junges Mädchen finden würde in Österreich, das trotz der Nazierziehung das gelesen hat. Und auf einmal war alles ganz anders« (20). Bachmanns Kriegstagebuch endet mit dem Ausdruck eines euphorischen Glücks, das aus der tödlichen Bedrohung des Krieges hervorgeht: »Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde [...] Frieden, Frieden!« (23). Das Erlebnis vom Kriegsende wird in den Franza-Roman eingehen, in dem vom »schönsten Frühling« (TKA 2, 183) erzählt wird. Die Stimme des autobiographischen Ich wird später allerdings in dieser Unmittelbarkeit kaum mehr zu hören sein.
Biographisches und Versuch einer Autobiographie In der Skizze Biographisches, die im Sommer 1952 entsteht und im November desselben Jahres im Rundfunk gesendet wird, inszeniert sich Bachmann erstmals als öffentliche Person und Schriftstellerin. Der stilistisch sehr bewusst durchkomponierte Prosatext, der am Beginn von Bachmanns literarischer Laufbahn steht, verzichtet weitgehend auf biographische Fakten und Namen, er enthält dagegen schon jene Motive und individuellen Mytheme, die Leben und Werk der Autorin prägen sollten. Diese verortet ihre Herkunft in der deutsch-slowenischen Topographie des Kärntner Dreiländerecks und bestimmt ihre Kindheitslandschaft als »Heimat an der Grenze« (KS, 4; W 4, 301). Mit der kulturellen Vielfalt und Mehrsprachigkeit, vor allem aber mit der »Grenze der Sprache« (ebd.), an der sich das autobiographische Ich ansiedelt, werden zentrale Themen von Bachmanns Schreiben vorgegeben. Als entscheidenden Impuls ihrer Schriftstellerexistenz, in der sich die Erinnerung an den lebensgeschichtlichen Ursprung mit der Utopie eines vergangenen Vielvölkerstaates verbindet, bezeichnet Bachmann das Fernweh, das sie am Ende des Krieges aus der Enge ihres Heimattals nach Wien führte. Unter den wichtigen
literarischen Einflüssen, die sie von da an geprägt haben, nennt sie nicht nur Namen moderner Autoren wie André Gide, Paul Valéry, Paul Eluard oder William Butler Yeats, sondern vor allem auch »die mythenreiche Vorstellungswelt« ihrer Heimat, die »ein Stück echtes, kaum realisiertes Österreich« (KS, 6) sei. In einem zweistufigen Neueinsatz der Skizze Biographisches, der etwa Mitte der 1950er Jahre entsteht (KS, 7–9), wird nicht nur Rom als weitere Lebensstation hinzugefügt, anstelle der Erinnerungen an die Heimat tritt nun auch eine unpersönliche poetologische Reflexion über den Zeitbezug der poetischen Sprache, wie er im Titel von Bachmanns erster Gedichtsammlung Die gestundete Zeit angesprochen ist. Wie schon in der ersten Fassung so wird auch hier das autobiographische Schreiben explizit problematisiert: »Weil das Leben selbst sich nicht auf das Mitteilbare beruft [...]« (KS, 8). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass in Bachmanns biographischer Skizze ein Ereignis keine Erwähnung findet, das erst retrospektiv in den späten Interviews als entscheidender lebensgeschichtlicher Bruch bezeichnet wird, nämlich der »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt«, der ihre »Kindheit zertrümmert« (GuI, 111) habe (vgl. Hartwig 2017, 169). Der wesentlich später entstandene fragmentarische Text Versuch einer Autobiographie, der auf den Zeitraum zwischen 1964 und 1966 datiert werden kann (vgl. KS, 608 f.), liest sich zumindest teilweise wie eine Revokation von Bachmanns biographischen Ursprungsmythen, die in nüchternem Tonfall beginnt: »Geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt« (KS, 402). Genannt werden im Folgenden verifizierbare Orte, Personen und Namen: der Vater, der aus einer Bauernfamilie stammt und Lehrer war in Mauthen und Krumpendorf, Fotos aus dem Strandbad (»daß wir dort oft den ganzen Tag verbrachten und kalte Schnitzel aßen und harte Eier«), die »Durchlaßstraße« der frühen Kindheit, die mit »schweren ältesten Erinnerungen beladen« ist (KS, 402), die auch in die Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt eingehen. Bruchstückartig werden kurze Episoden erinnert, die sich vor allem auf die »Übersiedlung ins eigene Haus« (KS, 403) beziehen, auf die Gegenwart der Schwester, die »Vergötterei« (KS, 404) des kleinen Bruders und den Ärger der Mutter darüber; hervorgehoben wird im Besonderen die Sparsamkeit der Eltern und deren vorbildliche Erziehung: »der Mangel an Luxus, aber nicht an Freude, nie ein ordinäres Wort, fast keine Spielsachen, keine Verwöhnung, keine Hilfe in Schuldingen, keine Beachtung der Noten« (KS, 404). Bachmanns Versuch einer Autobiographie, der möglicher-
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weise im Kontext ihrer Therapieversuche (vgl. Bachmann 2017, 117–132) entstanden ist, wirkt wie eine kritische Reduktion der früheren biographischen Selbstinszenierung. Er bringt die Erinnerung an die Fakten der eigenen Lebensgeschichte ungeschützter, fragmentarischer und zugleich konkreter. Explizit ist schließlich auch von kindischen aber »verzeihlichen Lügen« die Rede, zu denen sich die angehende Schriftstellerin »verpflichtet« gefühlt habe, wenn man sie nach den literarischen Einflüssen befragte; »Eluard, Apollinaire und Eliot und Yeats« (KS, 404) aber habe sie damals nur dem Namen nach gekannt.
Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit Dem Versuch einer Autobiographie geht die lebensgeschichtliche Zäsur des Jahres 1962 vorher, die mit der Trennung von Max Frisch und mit einer radikalen Krise und Krankheit Bachmanns zusammenfällt, die ihre weitere Existenz bestimmen wird. In einer autobiographischen Notiz vom 5.8.1962 spricht die Autorin von ihrer »Agonie«, vom »Untergehen, Auslöschen, Krankwerden«, und zieht Bilanz über die vergangenen Jahre und über das autobiographische Schreiben: »Der letzte Versuch, ein Tagebuch zu führen. Ich bin 36. Ich hätte eines schreiben sollen in den letzten vier Jahren, in denen ich nur noch in mich hinein reagiert habe und unfähig war, etwas zu schreiben« (N2413). Auf einen Zusammenbruch und Selbstmordversuch Ende des Jahres 1962 folgen wiederholte Klinikaufenthalte und Therapieversuche (vgl. Bachmann 2017, 105–132). Bachmanns physische und psychische Krankheit bedeutet jedoch nicht das Ende des Schreibens, sondern den Beginn eines literarischen Großprojekts, das unter dem Titel Todesarten bekannt wurde. Zugleich mit dem Konvolut des Spätwerks entsteht im Zeitraum zwischen 1962 und 1973 eine Reihe von intimen Aufzeichnungen, die im Band Male oscuro 2017 aus dem Nachlass publiziert wurden. Es handelt sich um nicht autorisierte Texte, die sich schon deshalb kaum den konventionellen autobiographischen Gattungen zuordnen lassen, die jedoch im gegebenen Kontext als Zeugnisse einer Dissoziation und Selbstentfremdung des autobiographischen Subjekts von Interesse sind. Ein eigenes Genre bilden zunächst die Traumnotate, die später in überarbeiteter Form ins Traumkapitel von Malina eingehen. Sie verbinden sich zu einer Art von Traumtagebuch, in dem Traumbericht, Gedankenassoziation und Selbstreflexion eng miteinander verflochten sind und bezeugen so die emotionale Ver-
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letzung und Verstörung nach der Trennung von Max Frisch. In einer Traumreflexion erinnert Bachmann beispielsweise die dominierende Rolle, die ihre Familie in den Träumen spielt, ihren Horror vor den Inzestträumen, in denen Max Frisch mit dem Vater verwechselt wird, oder die dramatischen Angstträume, in denen Mutter und Schwester als stumme Zeugen auftreten, während das Traum-Ich verzweifelt um Ausdruck kämpft (Bachmann 2017, 44). Eine zweite Gruppe von Texten dieser Zeit bilden die Aufzeichnungen, in denen die Symptome der Krankheit dokumentiert werden, Ohnmacht, Schwindel und Übelkeit, oder »das Furchtbare« eines Angstanfalls, der dem schreibenden Ich die Sprache raubt, der aber letztlich eine beginnende Traumerzählung nicht verhindern kann: »Ehe ich zu schreiben aufhörte, ist mir der Traum so schrecklich vorgekommen, den ich erzählen wollte. Frauen sind ermordet worden, lauter arme Frauen« (24). Eindrucksvolle Dokumente dieser Todesangst, die das autobiographische Ich der Zerstörung aussetzt, sind auch die Schilderungen der Panikattacken (»2 Vorfälle, bei denen mir schlecht wurde«; 75–78), die Bachmann für ihren Therapeuten Dr. Helmut Schulze aufzeichnet. Als eigentümlich hybride Texte stellen sich schließlich zwei Entwürfe einer Rede an die Ärzteschaft dar, in denen von der Entmündigung des Patienten in der Klinik berichtet wird. Die Psychiatrie-Erfahrung sowie die Fakten der eigenen Krankengeschichte (»Aufregung, Weinkrämpfe, Schreie, Verzweiflung [...] EKG, Schlafspritze [...] Erstickungsanfälle«; 83–85) können hier im Schutz der Fiktion zur Sprache gebracht werden: »Der Patient, Sie dürfen immer ruhig mich an dessen Stelle setzen« (84). Bachmanns Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit kommunizieren in mehrfacher Hinsicht mit der Prosa der Todesarten. Wie die Autorin in den Interviews betont hat (GuI, 73), soll hier das autobiographische Schreiben in einem neuen Sinn verstanden werden (vgl. Höller 2001, 131; Weigel 1999). In den Todesarten setzt sich Bachmann bewusst ab vom herkömmlichen »Erzählen von Lebensläufen, Privatgeschichten und ähnlichen Peinlichkeiten« (GuI 88), um die Bedrohung der Identität und die Selbstzerstörung des autobiographischen Ich zu dokumentieren. Doch nicht nur Bachmanns späte Aufzeichnungen, schon ihre biographischen Skizzen und Tagebuchnotizen sind vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil sie eine erweiterte Sicht des Autobiographischen nahelegen, die einem »Ich ohne Gewähr« (W 4, 218) Rechnung trägt.
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Quellen
Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2011. Bachmann, Ingeborg »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Zürich/Berlin 2017.
Literatur
Hartwig, Ina: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. Frankfurt a. M. 2017. Hemecker, Wilhelm/Mittermayer, Manfred (Hg.): Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Wien 2011.
Höller, Hans: Die »unvermeidliche dunkle Geschichte« hinter den Texten. Überlegungen zum Verhältnis von Werk und Biographie bei Ingeborg Bachmann. In: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6 (2001), 126–136. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994 (frz. 1975). Stoll, Andrea: Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit. Biographie. München 2013. Tippner Anja/Laferl, Christopher F. (Hg.): Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie. Stuttgart 2016. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Isolde Schiffermüller
D Kritische Schriften 24 Philosophische Essays und Dissertation Ingeborg Bachmanns Dissertation Nach nicht ganz einjähriger Arbeit reicht Ingeborg Bachmann ihre Dissertation Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers am 19.12.1949 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien ein (vgl. Pichl 1986, 173). Es handelt sich um einen Forschungsbericht, der die bis dato vorliegenden Heidegger-Kritiken, vor allem zu Sein und Zeit, Kant und das Problem der Metaphysik sowie der Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, referiert. Das Spektrum reicht vom logischen Positivismus (Rudolf Carnap), dem Historischen Materialismus (Theodor Hartwig, Günther Anders) über den Neukantianismus (Ernst Cassirer, Heinrich Rickert) und die Diltheyschule (Georg Misch) bis zur Dialektischen Theologie und dem Neuthomismus. Die Positionen werden weitgehend ohne eigenständige Thesen vorgestellt, aber aus einer deutlich zu erkennenden Heidegger-kritischen Perspektive. In einem Interview äußert Bachmann 1973 rückblickend, sie habe »gegen Heidegger dissertiert«, und begründet ihre Absage, auf Heideggers Wunsch ein Gedicht zu seiner Festschrift zum 70. Geburtstag beizusteuern, mit der von seinem Werk ausgehenden »Verführung [...] zum deutschen Irrationaldenken« (GuI, 137). Der »Anti-Heidegger-Affekt« wird jetzt »politisch-historisch« akzentuiert und im Erfahrungsraum des »Post-Holocaust« verortet (Gehle 1993, 249, 251; vgl. Weber 1986, 39 f.). Über das philosophiegeschichtliche Interesse an einer umfassenden Darstellung der frühen HeideggerKritiken hinaus ist die Dissertation für die Forschung vor allem dadurch beachtenswert, dass Ingeborg Bachmann hier ein philosophisches Spannungsfeld eröffnet, an dem sich ihr gesamtes literarisches Werk von der Lyrik (vgl. Behre 1990; Weber 1986, 45–55) über die Hörspiele (Wallner 1985, 186 f. und 1990, 151–
154) und die Erzählungen des Dreißigsten Jahres (Seidel 1979; Bartsch 1980, 530; Weber 1986, 28–39; Hunt 1990) bis zum Todesarten-Projekt (KohnWaechter 1991 und 1992; Steutzger 2001) und Simultan (Dusar 2006) abarbeiten wird: Heideggers Existentialismus und Ludwig Wittgensteins Sprachphilo sophie. Es zeichnet sich ein Komplementärverhältnis von Heidegger und Wittgenstein ab, das schematisch mit der Unterscheidung von Inhalt und Form umrissen werden kann. Der Gegenstandsbereich von Heideggers Philosophie wird als legitim anerkannt: »die unaussprechbaren, unfixierbaren Unmittelbarkeiten des emotional-aktualen Bereichs des Menschen« (Bachmann 1985, 114 f.), worunter Heideggers Grunderlebnisse von Tod, Angst und Sorge fallen. Die Methode hingegen, »Metaphysik«, »die die Form einer Theorie«, d. h. den Anschein eines Begründungszusammenhangs annimmt und mit dem Systemanspruch einer prima philosophia auftritt, wird als »gefährliche Halbrationalisierung einer Sphäre« gebrandmarkt, »die mit einem Wort Wittgensteins berührt werden kann. ›Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen‹« (Bachmann 1985, 115; vgl. KS, 76, 132; W 4, 114, 373). Wittgensteins Schweigen wird als philosophisch adäquater Ausdruck jenes Erfahrungsraumes benannt, dem »die Kunst mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in ungleich höherem Mass« entgegenkommt (Bachmann 1985, 116). Francisco Goyas Bild Kronos verschlingt seine Kinder und das abschließend zitierte Sonett Charles Baudelaires Le gouffre werden als »Darstellungsmöglichkeit des ›Unsagbaren‹« gefasst, »in dem sich die Auseinandersetzung des modernen Menschen mit der ›Angst‹ und dem ›Nichts‹ verrät« (Bachmann 1985, 116). Damit akzentuiert der Schluss der Studie noch einmal prägnant, was als gemeinsamer Tenor nahezu aller Kritiken herausgestellt wurde, nämlich die philosophische Rechtfertigung des künstlerischen Ausdrucks angesichts der Existenzanalyse Heideggers (vgl. ebd., 9 f., 40, 48, 58, 103). Heideggers mit den Hölderlin-Interpretationen vollzogene Kehre zur Dichtung als Seins-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_24
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entwurf, auf die die Dissertation nur marginal in Fußnoten und im Literaturverzeichnis verweist, erscheint somit als notwendige Konsequenz aus der Interessenlage von Sein und Zeit (vgl. Weber 1986, 45–53). Dieser ästhetische Standpunkt führt dazu, dass Bachmann, entgegen der Forschungsmeinung (vgl. Wallner 1985, 177 f., 185; Mazzarella 1995, 154; Świderska 1989, 14 f.), Heidegger durchaus gerecht wird. Die Auseinandersetzung mit ihm trägt »entscheidend zur poetologischen Selbstreflexion der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann bei« (Göttsche 2004, 374). Die eigentümliche Spannung von Bachmanns Dissertation zwischen neopositivistischer Heidegger-Kritik und Kunstemphase dürfte auch durch die biographischen Umstände ihrer Entstehung bedingt sein. Zunächst hatte sie eine Dissertation zum Thema »Der Heilige bei C. F. Meyer, Nietzsche und J. Burckhardt« bei Alois Dempf geplant (Brief an die Eltern vom 2.2.1948, zit. nach McVeigh 2016, 42), ein Vorhaben, das wohl durch die Berufung Dempfs nach München 1949 vereitelt wurde (vgl. Pichl 1986, 171 f.; Kühn 2014, 276; McVeigh 2016, 47 f.). Ihr Philosophiestudium an der Universität Wien war von den »katholischen Existenzphilosophen Alois Dempf und Leo Gabriel« (Kühn 2014, 271) geprägt, in diesem Kontext sind die erste Beschäftigung mit Heidegger-Texten und ihre durchaus zeittypische Faszination für existenzphilosophische Themen wie Angst, Sorge, Zeitlichkeit und Tod zu verorten (vgl. Pichl 1986, 172; Göttsche 2004, 369–373, 375 f.; Heiser 2007, 25–31, 321). Dass Ingeborg Bachmann den in Österreich nach 1945 erkennbaren Bestrebungen einer Heidegger-Rezeption und -Popularisierung (vgl. Kühn 2014, 73–276) dennoch nicht unkritisch gegenüberstand, davon zeugt ihre pseudonym veröffentlichte Rezension von René Marcics Heidegger-»Broschüre« Martin Heidegger und die Existenzialphilosophie (1949), in der die damalige Studentin selbstbewusst »die provinzielle Unbefangenheit«, die »volkstümliche Darstellung« sowie den »üble[n] Jargon« einer »derartigen Popularisierung« eines »ohnehin umstrittenen und mißverstandenen Denker[s] wie Heidegger« (KS, 3) anprangert und auch ihr Befremden gegenüber ihrem akademischen Lehrer Gabriel bekundet, der ein Vorwort beigesteuert hatte. Mit dem Weggang Dempfs aus Wien war ein neuer Betreuer und ein neues Dissertationsthema zu finden, so dass Bachmanns vorliegende Dissertation als ein »Kompromiß« zwischen »kontradiktorischen Konzeptionen ›und‹ Lehrerpersönlichkeiten« (Pichl 1986, 172 f.) erscheint, zwischen Victor Kraft und positivistischer Heidegger-Kritik einerseits sowie Alois
Dempf und der Faszination für die Themen der Existenzphilosophie andererseits. Denn mit dem Wechsel zu Victor Kraft als Betreuer, einem der »letzten alten Männer [des] ›Wiener Kreises‹« (GuI, 82), war auch eine »Vorentscheidung getroffen: jene Instanzen zusammenzurufen, welche zur Überwindung der Philosophie Heideggers einen Beitrag leisten könnten« (Wallner 1990, 179). Der in Bachmanns Dissertation beschrittene Mittelweg verbindet schließlich die im stark referierenden Gestus vorgetragene Heidegger-Kritik mit einer Positionierung durch Akzentuierung ästhetischer Tatbestände. Die Kehrseite der die Dissertation abschließenden »Kunstemphase« ist jedoch, dass Kunst als »bessere Metaphysik« einem »antiintellektuellen Kunstverständnis« folgt, indem diese in einen Ausdrucksbereich verwiesen wird, »in den das Denken nicht hinreicht« (Weigel 1999, 90; vgl. Lennox 1989, 609 f.; Wallner 1990, 148). Dies gilt allerdings nur, wenn Bachmanns Dissertation, wie bislang geschehen, auf das neopositivistische Philosophieverständnis verkürzt wird. Weitaus eindringlicher und raumgreifender wird in der Doktorarbeit hingegen eine kulturphilosophisch-hermeneutische Richtung vorgestellt, die als Vermittlungsfigur zwischen Heidegger und dem logischen Positivismus fungiert und die zugleich die Kritik beider Positionen ermöglicht. Mit Paul Hofmanns »verstehende[r] SinnWissenschaft« (Bachmann 1985, 47), die dem Sinn in symbolischen Ausdrucksformen nachspürt, Wilhelm Grebes Handlungstheorie und Georg Misch als Vertreter der Diltheyschule gewinnt ein Philosophietypus Gestalt, der einerseits Existenzanalyse nicht in Heideggersche Wesensschau überführt, andererseits einen Ausdruck findet, der dem »mechanistischen Dogmatismus« (ebd., 98) des Wiener Kreises entgeht. Bachmanns Äußerung, hier werde »Schweigen 〈über das〉 Sprechen von Existenz« (ebd., 42) gelegt, macht darauf aufmerksam, dass eine adäquate Sprachform – ein »positives« (KS, 138; W 4, 120), artikuliertes Schweigen – für das gefunden ist, wovon Heidegger nur in gefährlicher Halbrationalisierung, der logische Positivismus als »ausschliesslich[e] Analyse der naturwissenschaftlichen Sprache« (Bachmann 1985, 2) gar nicht reden kann. Gegenstand der Reflexion ist die »Totalität des Seelenganzen« eines »sein konkretes Leben erlebend spürendes Ich«, das einer zergliedernden »›psychologischen‹ Beschreibung« verschiedener »Erleb〈ens〉weisen« oder Ich-Funktionen« (ebd., 43, 47, 45) zugänglich ist. Es handelt sich um eine vorläufige, am Historismus Wilhelm Diltheys geschulte Philosophie, gemäß dem Diktum: »was der Mensch sei, das er-
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fahre er nur durch die Geschichte« (ebd., 70). In Grundzügen deutet sich hier im Referat eine am »›Ich in der Geschichte‹ und der ›Geschichte im Ich‹« (Göttsche 2004, 375) interessierte ästhetische Philosophie an, die zwar in Bachmanns philosophischen Essays keine explizite Fortsetzung findet, wohl aber in nuce die literarische Philosophie des Prosawerks entwirft. Diesen Spuren nachzugehen, bleibt ein Forschungsdesiderat (vgl. Wallner 1985, 188 f.). Der im literarischen Werk weitergeführte »Ferndialog« mit Heidegger (Agnese 1996, 75–101) verortet diesen Denker nicht nur zunehmend historisch-politisch (Göttsche 2004, 377–380), sondern bindet ihn auch »in ihre Reflexionen über die Geschlechter und über Kunst« (Dusar 2006, 84) ein.
Die philosophischen Essays als Rede von letzten Dingen Viele der in der Dissertation vorgestellten Philosopheme werden von Bachmanns Gedankenbühne nicht mehr abtreten, sondern in einem Vorgang der Existentialisierung als Gestalten zum literarischen Leben erweckt und in die Geschichte gestellt. Erste Schritte in diese Richtung vollziehen die Essays zu Ludwig Wittgenstein und Simone Weil (vgl. Weber 1986, 26– 28), indem in der Einheit von Theorie und Praxis, von Werk und Leben gleichsam imaginäre Biographien gezeichnet werden. Diese Essays lassen sich als Weiterführung des ursprünglich anvisierten Dissertationsthemas über den Typus des Heiligen verstehen, denn Wittgenstein und Weil werden nach einem »neuen Typus der Heiligkeit« (KS, 182; W 4, 152) porträtiert (vgl. Agnese 1996, 236 f.; Świderska 1989, 11 f.). Auffällig sind die skizzierten Gemeinsamkeiten: Beide erscheinen als intellektuelle Außenseiter, die exemplarisch die Extreme ihrer Zeit in sich vereinen: Wittgenstein die Polarität von Wissenschaft und Mystik (KS, 134 f.; W 4, 116 f.), Weil diejenige von Vernunft und Bekenntnis (KS, 156; W 4, 129). Darin rücken Wittgenstein und Weil in die Nähe zu Robert Musil (Weber 1986, 74 f., 77, 79; Bartsch 1980). Beider Werk führt mit dem deus absconditus Traditionen der negativen Theologie weiter (vgl. KS, 64 f., 135–138, 176 f., 182, 183; W 4, 22 f., 117–120, 147 f., 152, 154; Weber 1986, 25 f., 74–79). Beiderseits wird die Literarizität des Philosophierens hervorgehoben (vgl. KS, 67, 123, 126 f., 139 f., 156 f.; W 4, 15, 103, 107, 122 f., 129 f.). Der spätere Rundfunkbeitrag zu Simone Weil lässt erkennen, dass die philosophischen Essays eine
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Einheit in komplementärer Entgegensetzung bilden: »Da alles, was die ›letzten Dinge‹ betrifft, von der Art ist, daß es entweder dem Schweigen oder dem Bekenntnis überlassen ist« (KS, 156; W 4, 129). Während Wittgensteins Philosophie schweigend auf die letzten Dinge hinweist, spricht Simone Weils Werk unge schützt im Modus des Bekenntnisses von ihnen.
Das Schweigen: Die Wittgenstein-Essays Durch ihre Essays zu Ludwig Wittgenstein Anfang der 1950er Jahre und die von ihr initiierte Suhrkamp-Ausgabe des Tractatus und der Philosophischen Untersuchungen 1960 hat Ingeborg Bachmann entscheidend an der Wiederbelebung der Wittgenstein-Rezeption im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg mitgewirkt (vgl. GuI, 58; Weigel 1999, 86, 88; Agnese 2006). Dokumente der »geistigen Begegnung« (GuI, 12) mit der Sprachphilosophie Wittgensteins sind die in die Werkausgabe aufgenommenen Essays Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte (1953) und Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins (im Hörfunk gesendet am 16.9.1954; KS, 502; W 4, 377) sowie die in den Kritischen Schriften publizierten frühen Essays, in denen Bachmann Wittgenstein noch gänzlich im Kontext des Wiener Kreises wahrnimmt: Philosophie der Gegenwart und der Radio-Essay Der Wiener Kreis. Logischer Positivismus – Philosophie als Wissenschaft (gesendet am 14.4.1953; KS, 545; vgl. Lennox 1989, 604–611; Weigel 1999, 87, 93 f.). Im Hinblick auf die beiden letztgenannten ist kritisch festzuhalten, dass sie in weiten Teilen als »scheinbare Plagiat[e]« (KS, 544) von Victor Krafts Studie Der Wiener Kreis (1950) zu werten sind, wobei zumindest im Hinblick auf den Radio-Essay auch der Adressatenbezug auf ein heterogenes Publikum sowie andere Standards der Textverarbeitung im Rundfunk in Anschlag zu bringen wären. Ingeborg Bachmanns Prägung durch die Rundfunkarbeit seit ihrer Tätigkeit beim Sender Rot Weiß Rot, die ebenso ihre eminent intertextuellen Arbeitsweisen zwischen Plagiat und Dialogizität einschließt, wäre erst noch umfassend in den Blick zu nehmen. Georg Gimpl kritisiert die auch fachphilosophisch anzutreffende, »aphoristische« Bachmann-Lektüre Wittgensteins, die »jeweils bloß das Ihre herauspick[e] und hineingeheimniss[e]« (Gimpl 2007, 50), wobei er aber Bachmanns Wittgenstein-Deutung von den Rändern seines Werkes, dem Mystischen und der Einheit von Leben und Werk, aus
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durchaus würdigt (ebd., 36 f., 57–59). Dem in Briefunterlagen dokumentierten Rundfunkbeitrag Logik als Mystik (vgl. KS, 548 f.; W 4, 406 f.) konnten Nachlassmanuskripte zugeordnet werden, die »ca. 65–70 % dieses verschollen geglaubten Radio-Essays« (KS, 549) beinhalten und die nun in den Kritischen Schriften ediert vorliegen. Charakteristisch für die zu Lebzeiten veröffentlichten Wittgenstein-Essays ist, dass Bachmann im Porträt eines modernen Mystikers den Akzent auf sein ›ungeschriebenes‹ Werk, den Lebensvollzug als »Versuch eines heiligmäßigen Lebens« legt (KS, 64; W 4, 12). Gegenstand ist mithin die »›Mystik des Herzens‹, die mystische Wirklichkeitserfahrung der ganzen Person, die vor oder hinter dem Denken steht« (KS, 135; W 4, 117; vgl. Steutzger 2001, 99–102). Dabei wird Wittgensteins Mystisches von »Heideggers Seinsmystik« (KS, 78, 132) deutlich abgegrenzt. In ihrer ethischästhetischen Lektüre des Tractatus erweist sich Bachmann insofern als kongeniale Leserin Wittgensteins, als dieser selbst im Brief an Ludwig von Ficker 1919 das »Ethische« als eigentlichen Sinn und ungeschriebenen »zweiten Teil« seines Buches bezeichnet, der »von Innen her begrenzt« (Wittgenstein 1969, 35) werde. Die den Tractatus prägende doppelte Mitteilungsstruktur des Sagens und Zeigens wird fruchtbar gemacht: Neben der Philosophie als Wissenschaft, d. h. als Kontrolle der naturwissenschaftlichen Erfahrungssätze, tritt die ethisch-historische Dimension der Sprachkritik Wittgensteins zutage, die näherhin als Protest »gegen das metaphysisch verseuchte westliche Denken, vor allem das deutsche«, und zugleich »gegen die wissenschafts- und fortschrittsgläubigen Tendenzen« (KS, 143; W 4, 126) des Neopositivismus bestimmt wird. Somit nimmt Wittgenstein nun einen dritten Ort jenseits der in der Dissertation entfalteten Opposition von Heidegger und Neopositivismus ein (vgl. Weigel 1999, 98). Im Sinn einer Grenzüberschreitung wird Wittgensteins Satz aus dem Tractatus – »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (5.6) – für Bachmann zum Movens einer kritischen Arbeit an der Alltagssprache, die den Philosophischen Untersuchungen gemäß als in Sprachspielen sedimentierte »Lebensform« (KS, 141; W 4, 124; vgl. Lennox 1989, 614–616) verstanden wird. An diesem Punkt nimmt Bachmann eine Abgrenzung zur »Existenzphilosophie« vor, die zwar »die Philosophie als Lebensform« akzentuiert habe, dabei jedoch noch zu stark an Wesensbestimmungen hafte, während mit Wittgenstein der linguistic turn zu den »Lebensformen [der] Sprachen« (KS, 88) zu vollzie-
hen sei. Vor allem in den Radio-Essays perspektiviert Ingeborg Bachmann die Einheit von Wittgensteins Werk, indem der Tractatus von der Warte der Philosophischen Untersuchungen aus gelesen wird (vgl. KS, 84 f., 88 f., 140 f.; W 4, 123 f.; Agnese 2004). Diese Kontinuität unterstreicht auch die jüngere Wittgenstein-Forschung (vgl. Steutzger 2001, 73 f.). Es wird der performative Charakter seines Philosophierens hervorgehoben, dieses sei mit Wittgenstein als »Therapie« (KS, 87, 141; W 4, 124) philosophischer Krankheiten zu verstehen, von Scheinproblemen und -fragen sowie vom »Kampf der abendländischen Metaphysiken« (KS, 142; W 4, 125), und er rege dazu an, durch seine Philosophie hindurch- und über sie hinauszugehen (KS, 86 f., 137; W 4, 119). Ihren eigenen »einen Schritt« (KS, 135; W 4, 117) über Wittgenstein hinaus markiert Bachmann vor allem in den Rundfunk-Essays. Die Bewegung des Denkens wird verkehrt: Wittgenstein zufolge begrenzt die klare Darstellung des Sagbaren das Unsagbare von innen, bei Bachmann wird das Unsagbare zur Möglichkeitsbedingung des Sagbaren (vgl. KS, 134; W 4, 116; Weigel 1999, 96). Dieser eine Schritt über Wittgenstein hinaus bedeutet zugleich Bachmanns Austritt aus der Philosophie, wie dies ihre Resignifikation von Wittgensteins Schweigen veranschaulicht, das als artikuliertes »positive[s] Schweigen« (KS, 138; W 4, 120) in ihrem literarischen Werk zur Sprachform des »sich Zeigenden« wird (KS, 143; W 4, 126). Diente die Abgrenzung von Heidegger in der Dissertation der poetologischen Selbstverständigung als Schriftstellerin, so schärfen Bachmanns Wittgenstein-Essays ihr Verständnis einer Sprachethik, die sich den in Sprachspielen sedimentierten Lebensformen widmet, sowohl in kritischer Abarbeitung an der »Verhexung« durch »Sprache« (KS, 141; W 4, 124) als auch auf der Suche nach einem »Wort«, »auf das es ankommt« (KS, 74; W 4, 23). Bachmanns Diskurswechsel zur Literatur liegt in zweifacher Weise in der Konsequenz Wittgensteins. Denn zum einen war er der Überzeugung: »Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten« (Wittgenstein 1977, 53; vgl. Steutzger 2001, 97–99), und Bachmann akzentuiert die Literarizität des Tractatus als Aphorismensammlung (KS, 37, 123; W 4, 103) und jene der Philosophischen Untersuchungen als »sokratisches Gespräch« (KS, 140; W 4, 122). Diesem sokratischen Gespräch gibt sie in der Polyphonie der Sprecherrollen der Radio-Essays eine eigene mediale Form: jeweils 1. und 2. Sprecher, Kritiker sowie in zudem Professor wie bereits in Der Wiener Kreis, in
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Sagbares und Unsagbares zudem Wittgenstein. Zum anderen war Wittgenstein der Ansicht, dass von den aus der Philosophie ausgeschlossenen Lebensproblemen, der Ethik nur »in der ersten Person« (Waismann 1989, 116) gesprochen werden könne. Damit ist der von Bachmann in ihren philosophischen Essays beschrittene Weg vom Schweigen zum Bekenntnis vorgezeichnet.
Das Bekenntnis: Der Simone Weil-Essay Ist Wittgenstein bei Bachmann das Schweigen über die letzten Dinge zugeordnet, so wird in dem 1955 gesendeten Radio-Essay Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils das Werk der französischen Philosophin unter dem Vorzeichen des Bekenntnisses gelesen (KS, 156; W 4, 129). Ihrem Werk ist etwas eigen, was Wittgenstein fehlt: ihr »soziales und politisches Denken« (KS, 160; W 4, 132). Wittgensteins vita contemplativa wird mit Weils vita activa ein Ideal weltlicher Askese entgegengesetzt (KS, 161; W 4, 133). Obwohl in der Forschung bislang vornehmlich die Wittgenstein-Essays im Hinblick auf Bachmanns Poetik Beachtung gefunden haben, ist es dieser philosophische Essay, der Grundzüge der Todesarten präfiguriert (vgl. Agnese 1996, 223 f., 236 f.; Belluzzo 1996, 69–71, 79 f.), sowohl deren Gegenstandsbereich als auch deren literarische Form: ein soziales und politisches Denken im Modus der Bekenntnisrede in Form einer »imaginären Autobiographie« (GuI, 73). Weils Wendung gegen jegliche Totalitarismen, das »Große Tier« der Ideologien als Personifikation all dessen, »was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat« (KS, 179; W 4, 149), kehrt in der Figur des Vaters/Mörders der Todesarten wieder. Ihre Analyse des »Unglücks« des Arbeiters, dieser paradoxen »nackten Existenz« ohne Zukunft und Ziel, jedoch ›ausgezeichnet‹ durch das Bedürfnis nach Schönheit und Poesie als »tägliche Substanz seines Lebens« (KS, 171, 173, 268; W 4, 142, 144, 197), bestimmt erweitert zum Unglück des Menschen und spezifischer noch der Frau die Täter-Opfer-Dialektik der Todesarten. Vor allem die Charakterisierung des weiblichen Ich in Malina nimmt Momente von Weils Analyse der Arbeiterexistenz auf (TKA 3.2, 960). Mit Simone Weils Fabriktagebuch gewinnt ein Theorietypus Gestalt, der konsequent induktiv, »von vielen Besonderheiten auf das Allgemeine« schließend, vom Einzelnen, dem »bestimmte[n] Arbeiter« und nicht dem »abstrakten« (KS, 163, 168; W 4, 135, 139) ausgehend, erfahrungsbezogen und geschichts-
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gesättigt ist. Ein zentrales Moment der Denk- und Sprachkritik des Todesarten-Projekts, die durch abstrakte Denksysteme vollzogene »geistige Enteignung« (TKA 3.1, 438), die Sprachverlust bedingt, tritt in Weils Kritik der »Psychotechnik« in Erscheinung, durch deren statistische Berechnungen »die Versklavung« des Arbeiters »perfekt werde« (KS, 168; W 4, 139). Eine Folge solcher Abstraktion ist auch, dass der Arbeiter nicht in seiner Sprache über sein Unglück sprechen kann, sondern nur »in den Phrasen von Menschen, die keine Arbeiter sind« (KS, 169; W 4, 141). Gesellschaftskritik schlägt hier direkt in eine Sprachform um, die auch den Anderen als Anderen bestehen lässt in der Annahme, dass er »etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest« (KS, 180; W 4, 150). In Bachmanns Versuch, »Simone Weils Werk im Sinn echter Aktualität auszulegen«, wird deren religiöses Bekenntnis in ein säkularisiertes ethisches Bekenntnis überführt: »Das Eintreten für die Einschränkung des Bösen«, des Großen Tiers, »wird dann zu einer echten Pflicht der Gesellschaft gegenüber« (KS, 184; W 4, 153 f.). Dieser Verpflichtung ist Bachmann im Todesarten-Projekt nachgekommen, das das philosophische Werk insofern abschließt, als ihm ein Philosophieverständnis zugrunde liegt, das – in Kontinuität zum Weil-Essay und in radikaler Abgrenzung gegenüber der früheren positivistisch-wittgensteinschen Fassung der Philosophie als Wissenschaft – diese als dem »Schweigen oder dem Bekenntnis« überlassene Verhandlung über die »letzten Dinge« (KS, 156; W 4, 129) versteht. Die mit »Von letzten Dingen« überschriebene Auseinandersetzung zwischen Malina und Ich, in deren Lebens- und Sprachform Ludwig Wittgenstein (vgl. Bartsch 1980, 530 f.; Kohn-Waechter 1992, 23 f., 112–114; Weber 1986, 32; Steutzger 2001, 252 f.) und Simone Weil (vgl. Belluzzo 1996, 69 f., 79 f.) ihre Fortsetzung finden, macht dies deutlich. Quellen
Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation Wien 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich Wallner. München/Zürich 1985. Wittgenstein, Ludwig: Briefe an Ludwig von Ficker. Hg. von Georg Henrik von Wright und Walter Methlagl. Salzburg 1969. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Hg. von Georg Henrik von Wright und Heikki Myman. Frankfurt a. M. 1977. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt a. M. 1980.
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Literatur
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Marion Schmaus
25 Künstlerische und journalistische Prosa
25 Künstlerische und journalistische Prosa Ingeborg Bachmanns essayistische Prosa ist in der Forschung sowohl auf Theodor W. Adornos Aufsatz »Der Essay als Form« (1958) als auch auf Robert Musils Begriff der ›essayistischen Existenz‹ im Mann ohne Eigenschaften bezogen worden: »Die Rechtfertigung der Bezeichnung Bachmanns als Essayistin scheint aber gerade in der begrifflichen Unbestimmtheit, in der Undefinierbarkeit des Essays zu liegen, die einerseits eine alte, traditionsreiche literarische Gattung ist, andererseits im 20. Jahrhundert zum Essayismus als einer Lebenshaltung erweitert wurde« (Świderska 1989, 93). Diese Unbestimmtheit lässt sich genauer fassen als ein Spannungsfeld, das sich zwischen den literaturkritischen Arbeiten und der künstlerischen Kurzprosa Bachmanns eröffnet. Dient in den literaturkritischen Arbeiten die Form des Essays dazu, die Kritik zum »Schauplatz geistiger Erfahrung« (Adorno 1958, 29) zu erweitern, so erprobt die Autorin in ihrer künstlerischen Kurzprosa dagegen literarische Modelle ›essayistischer Existenz‹ im Sinne Musils (Musil 1978, 253). Die künstlerische Kurzprosa Bachmanns lässt sich so näherhin als eine spezifische, die Gattungsgrenzen überschreitende literarische Experimentalform bestimmen, die im Laufe der Werkentwicklung ganz unterschiedliche Gestalt annimmt.
Römische Reportagen In der Zeit vom Sommer 1954 bis zum Herbst 1955 verfasst Bachmann, inzwischen nach Rom übersiedelt, kurze journalistische Beiträge über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Italien. Unter dem Pseudonym Ruth Keller entstehen insgesamt 34 Rundfunkbeiträge und 8 Zeitungsartikel, die erst 1998 als Arbeiten Bachmanns wiederentdeckt und unter dem Titel Römische Reportagen zusammengestellt wurden (vgl. Kogel 1998). Die Reportagen berichten über aktuelle Tagesereignisse in Italien wie die Wahl des Staatspräsidenten, einen Skandal in der italienischen Oberschicht oder greifen Meldungen aus dem Wirtschaftsteil italienischer Zeitungen auf. Diese Ereignisse sind stets in ihren jeweiligen sozialpolitischen Kontext eingebettet, so dass den Hörern und Lesern in Deutschland zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse des Nachbarlandes deutlich werden. Informationen zum Durchschnittseinkommen und zu
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spezifisch ›italienischen‹ Lebensgewohnheiten stehen neben der Erläuterung politischer Strukturen. Die Römischen Reportagen, denen die Forschung bislang kaum Beachtung geschenkt hat (vgl. jedoch kritisch Lennox 2006, 303; s. Kap. 29), zeichnen sich weder durch intellektuelle Eigenwilligkeit in der Darstellung der geschilderten Verhältnisse noch durch eine besondere sprachliche Originalität aus; eine Reihe von Formulierungen sind italienischen Zeitungen entnommen und lediglich ins Deutsche übertragen (Höller 1999, 91). Dass Bachmann selbst diese journalistischen Arbeiten kaum anders denn als Finanzierungsgrundlage für ihr ›eigentliches‹ literarisches Schaffen eingeschätzt haben dürfte, dafür spricht nicht zuletzt ihre Entscheidung, sie unter Pseudonym zu veröffentlichen – ganz im Gegensatz zu den unter ihrem eigenen Namen ausgestrahlten Radioessays über Robert Musil, Marcel Proust, Simone Weil und Ludwig Wittgenstein, die zugleich Fragestellungen behandeln, die für ihr eigenes Schreiben von zentraler Bedeutung sind. Dies ist in den Römischen Reportagen nicht in gleichem Maße der Fall. Gleichwohl lassen sich auch hier motivische Bezüge zum übrigen Werk feststellen. »Die Erinnerung an Pomp und Bildhaftigkeit,« so heißt es beispielsweise in einem Beitrag vom 12. Mai 1955, »an prunkhafte Repräsentationen in monarchischen Zeiten kann man nicht durch eine unsinnliche und bildfeindliche Bürokratie verdrängen. Der Staat, in diesem Fall die Republik, braucht augenfällige, ja augenfällige [sic!] Symbole. [...] Auf den Straßen Roms hört man, es sei besser, einen Kopf im Hermelinmantel auf dem Thron zu haben als einen Hermelinmantel ohne Kopf« (Bachmann 1998, 74 f.). In dem undatierten Entwurf [Jede Jugend ist die dümmste] aus dem Nachlass greift Bachmann diese Überlegungen zur Ästhetik des Politischen wieder auf, wenn sie fragt: »Wo ist die marxistische Mode. Der Armenkittel der Bürgertracht, die blaue Jacke und die Ledermäntel – oh nein, sie sind der letzte Triumph von Klassen, die die untersten Klassen zur Schäbigkeit verurteilt haben. Rote Federn müßte man sich an den Kopf stecken, in gelbblaugrünen, in violetten und hinreißenden Farben, in kultischen Bemalungen die Befreiung feiern. [...] Der Kommunismus muß Luxus sein, oder er wird nicht sein« (KS, 428; W 4, 333). Die (Wieder-)Entdeckung der Römischen Reportagen ist weder unter poetologischen noch unter literarischen Aspekten bedeutsam zu nennen. Dass Teile der Literaturkritik sie dennoch als geradezu spektakulär empfanden, hängt vielmehr damit zusammen, dass sie
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_25
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wesentlich zu der längst überfälligen Korrektur eines klischeehaften Bachmann-Bildes in der Öffentlichkeit beitrugen. Das Klischee der hilf- und ratlosen Frau, das Bachmann spätestens seit den Frankfurter Vorlesungen im Wintersemester 1959/60 anhaftete, wurde nun endgültig hinfällig. Denn zum einen belegen die Römi schen Reportagen, dass Bachmann durchaus in der Lage war, politische und alltagspragmatische Zusammenhänge zu beobachten, zu analysieren und auf eine ebenso verständliche wie informative Weise zu versprachlichen. Zum anderen bezeugen sie Bachmanns Professionalität, auf diese Weise ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dass sie, die vermeintlich weltabgewandte Dichterin, sich zeitlebens den pragmatischen Anforderungen, die eine Existenz als freie Autorin mit sich bringt, bewusst gewesen ist und sie auch zu meistern verstand, war ihr so wichtig, dass sie immer wieder ausdrücklich darauf hinwies (vgl. GuI, 109, 145).
Autobiographische Essays als literarische Prosa Von ihren frühen literaturkritischen Radioessays bis zur Anton-Wildgans-Preisrede von 1972 betont Bachmann den engen Zusammenhang von eigener Erfahrung und Schreiben. Die Einarbeitung autobiographischen Materials in das künstlerische Werk zeigt, dass damit nicht das ungebrochene Aufzeichnen von ›Selbsterlebtem‹ gemeint ist – nicht zuletzt deshalb, weil Bachmann der eigenen Erfahrung immer auch Lektüreerlebnisse zurechnet. Die Herausgeber der kritischen Ausgabe des Spätwerks sehen ein Merkmal der Arbeitsweise Bachmanns gerade darin, »von der Thematisierung autobiographischer Details zur ästhetischen Bewältigung eigener Erfahrung« (TKA 1, 565) zu gelangen. Auch für die biographischen Selbstauskünfte lässt sich diese künstlerische Überformung aufzeigen. Dies gilt für den kurzen und nur vermeintlich rein informativen Text Biographisches (KS, 4–9; W 4, 301 f.) ebenso wie für den einige Jahre jüngeren Text Der Tod wird kommen (W 2, 266–276). In dem Text Biographisches, den Bachmann im November 1952 einer Lesung von Gedichten für den Nordwestdeutschen Rundfunk voranstellt – und der vermutlich deshalb etwas abrupt mit einem Abschnitt über das Verfassen von Gedichten endet –, beschreibt sich Bachmann als eine Autorin, die in dörflicher Abgeschiedenheit in einem Grenzgebiet aufgewachsen ist. Ihr Leben erscheint als eine fortgesetzte Überschreitung dieser frühen Grenzen, die jedoch mehr
sind als nur Ländergrenzen: Die Kindheit verläuft als ein Leben zwischen zwei bzw. drei Landes- und Sprachgrenzen, und der Wechsel der jungen Erwachsenen aus dem Gailtal in die Stadt Wien wird zu einem Umzug an eine neue Grenze »zwischen Ost und West, zwischen einer großen Vergangenheit und einer dunklen Zukunft« (KS, 4; W 4, 301). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich in Biographisches alles Folgende: »Und wenn ich später auch nach Paris und London, nach Deutschland und Italien gekommen bin, so besagt das wenig, denn in meiner Erinnerung wird der Weg aus dem Tal nach Wien immer der längste bleiben« (W 4, 301; vgl. KS, 4). Über die Metapher der Grenze entwirft sich Bachmann hier als eine ›typische‹ Angehörige des ›Hauses Habsburg‹. Der auf eine lange Tradition in der österreichischen Literatur zurückgreifende Mythos vom ›Haus Habsburg‹ (Magris 1988) beschwört »ein Stück echtes, kaum realisiertes Österreich« (KS, 6; vgl. W 4, 302), die Utopie einer Völkergemeinschaft, in der die friedliche Koexistenz verschiedener nationaler Gruppen möglich wäre. Bachmanns zwanzig Jahre später entstandene Erzählung Drei Wege zum See wird mit der Figur der weitgereisten Elisabeth Matrei, die ihren Vater im Haus ihrer Kindheit besucht, diese Zusammenhänge wieder aufgreifen und – auf nicht unproblematische Weise (Bannasch 1997, 131–137) – weiter ausführen. Der ursprünglich für den Erzählband Das dreißigste Jahr vorgesehene, erst aus dem Nachlass in der Zeitschrift Jahresring (1976/77) veröffentlichte künstlerische Prosatext Der Tod wird kommen berichtet zwar in der Ich- bzw. Wir-Form von ›der Familie‹, bietet aber keine biographischen Mitteilungen. Er fragt vielmehr nach den Möglichkeiten der Überwindung des Todes in einer säkularen Welt, in der die Familie – nicht von ungefähr, wie der Text entwickelt – »gewissermaßen [...] eine heilige [ist], denn sie wird viel im Mund geführt, sie scheint etwas Untadeliges, Göttliches zu sein« (W 2, 269). Die Familie, die sich mit ihren sozialen und sprachlichen Ritualen, ihren Sprichworten und Redensarten der eigenen Gruppenidentität versichert, erscheint in Bachmanns Text als Mikrokosmos der Gesellschaft schlechthin. In ihrem überzeitlichen Alltagswissen ebenso wie den überkommenen Vorurteilen, als deren Trägerin sie fungiert, wird die Familie zum konstituierenden Ort einer bürgerlichen Gedächtniskultur, die auf diese Weise gewissermaßen den Tod überwindet. Die Redensarten, die das Familiengedächtnis prägen, werden im Text literarisch inszeniert und, insbesondere im Schlussteil der Erzählung, mit einer Sprache, die Anleihen an biblische For-
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mulierungen unternimmt, kontrastiert. Dieses poetische Verfahren kennzeichnet bereits Bachmanns 1961 in dem Band Das dreißigste Jahr erschienene Titelerzählung. Zu Recht ist daher auch der Text Der Tod wird kommen in der Werkausgabe von 1978 in den zweiten Band aufgenommen worden, der Bachmanns Erzählungen versammelt.
Die Rom-Essays In insgesamt drei Texten entfaltet Bachmann als österreichische Schriftstellerin in Rom das Bild von Rom als einem anderen Ort, einem Ort, an dem sich die »Utopie in Permanenz« ereignet (W 4, 337). Diese Utopie gestaltet sie jedoch nicht als einen traumhaften Gegenentwurf zur schlechten Realität, sondern vielmehr als einen unspektakulären Ort, an dem ›Normalität‹ in einer ansonsten ›wahnsinnigen‹ Welt herrscht. Ein Vergleich dieser literarischen Rom-Texte mit der Darstellung der römischen Verhältnisse in den Römischen Reportagen macht den Unterschied zwischen journalistischer und künstlerischer Prosa in Bachmanns Werk einsichtig. Was ich in Rom sah und hörte von 1955, der 1957 für Radio Bremen fertiggestellte Entwurf [Ferragosto] (vgl. Kogel 1998, 86) und das 1969 entstandene Zugegeben lassen dabei nicht nur stilistisch einen anderen Duktus erkennen als die journalistischen Berichte. Sowohl in der Verwendung und Ausgestaltung einiger für das Früh- und Spätwerk zentraler Motive als auch durch ihr poetisches Verfahren und ihre Poetologie ergänzen, erläutern und entwickeln diese Texte Überlegungen des Bachmannschen Werks; nicht zuletzt das späte Entstehungsdatum von Zugegeben belegt diese Kontinuität. Der Essay Was ich in Rom sah und hörte zeichnet das Porträt Roms als einer Stadt, die nicht den idealisierten Klischees entspricht, wie sie Reiseführer den Besuchern anpreisen. »In Rom sah ich, daß dem Palazzo Cenci, in dem die unglückliche Beatrice vor ihrer Hinrichtung lebte, viele Häuser gleichen. Die Preise sind hoch und die Spuren der Barbarei überall. Auf den Terrassen morschen die Oleanderkübel zugunsten der weißen und roten Blüten; die möchten fortfliegen, denn sie kommen gegen den Geruch von Unrat und Verwesung nicht auf, der die Vergangenheit lebendiger macht als Denkmäler« (KS, 146; W 4, 30). Mit seinen Bauwerken und Ruinen hebt Rom nicht nur die eigene Geschichte ins Bewusstsein der Bewohner. An den Spuren der Gewalt, die an den zerstörten und verfallenen Bauwerken sichtbar werden, zeugt Rom von den
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Möglichkeiten eines bewussten Umgangs mit der erinnerten Erfahrung von Leid und Verfall. Das Leben in der Stadt wird zur alltäglichen Einübung kollektiver und individueller Erinnerungsstrategien jenseits gewaltsamer ›Vergangenheitsbewältigungen‹ und Verdrängungsleistungen. Sigmund Freuds Essay Das Unbehagen in der Kultur wird in diesem Zusammenhang als ein für Bachmanns Rom-Essay wichtiger Bezugstext plausibel (Höller 1987, 192). Freud führt Rom mit seinen sich überlagernden Bauschichten als ein Gleichnis für die menschliche Psyche an, da in Rom wie in einem ›psychischen Wesen‹ mit »ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit [...] nichts, was einmal zustandegekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen« (Freud 1982, 202). In eben diesem Sinne macht Bachmanns Essay Was ich in Rom sah und hörte die »Ewige Stadt« als »eine Totalität des menschlichen Gedächtnisses erfahrbar« (Höller 1987, 192). Die Stadt Rom wird so in diesem Essay zu einem »Gedächtnisbild«, das »durch die Zeiten hindurchgreift« und die psychoanalytische Frage aufwirft, »wann Erinnerung transformativ wird« (Felka 2010, 28, 47). Was ich in Rom sah und hörte ist ein von zahlreichen Allgemeinplätzen deutscher Italiensehnsucht durchzogener Text. Diese sprachlichen Klischees und literarischen Topoi werden nun Absatz für Absatz demontiert. Der Essay scheint zunächst im aufklärerischen Bemühen um ein von verklärenden Klischees bereinigtes Rom-Bild einer Ästhetik des Hässlichen das Wort zu reden. »Wir erleben über den Versuch, die Augen offen zu halten und hinter die ›schöne‹ Fassade Roms zu sehen, einen Wandel mit: weg von einem rein ästhetischen Sehen über den schwierigen Prozeß der Erkenntnis, der den Versuch, die Augen zu verschließen, nicht ausläßt, hin zu einem Gebrauch der Augen im verantwortlichen Austausch mit der Welt« (Huml 1999, 216). Das zur Floskel verkürzte Alltagswissen wird durch die Wahrnehmungen des Ich konterkariert; formelhaft wird jeder neue Textabschnitt mit dem Hinweis darauf eingeleitet, was das Ich entgegen seinen Erwartungen gesehen hat. Indem der Text diese Verweigerungen des Ich gegenüber den Redensarten mit einem rituellen Sprachgestus inszeniert, artikuliert er zugleich den ›Gegenzauber‹ zu allen Redensarten und Allgemeinplätzen, die der Text vorführt (Huml 1999, 220–266); die abschließende Passage mündet in eine einzige Aneinanderreihung von Sprichworten. Der letzte Satz aber setzt mit Pathos noch einmal dem Hörensagen das Wissen um eine Möglichkeit der Wahrnehmung eines ›tatsächlichen‹ Wissens entge
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II Das Werk – D Kritische Schriften
gen, das Wissen darum, »daß uns die Augen zum Sehen gegeben sind« (KS, 151; W 4, 34). Die poetologische, aus der besonderen Bedeutsamkeit des Sehens resultierende Problematik, die Bachmann hier gegen das Hörensagen und die Alltagssprache ausspielt, teilt den Text in zwei einander letztlich widersprechende Textebenen, die der sprachlichen und die der thematischen Gestaltung. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, wenn ›die Sprache‹ gegen ›die Sprachlosigkeit‹ innerhalb eines literarischen Textes gestellt wird, zeigt sich in der paradoxen poetologischen Konstruktion des Essays, der in diesem Punkt den wenig später entstandenen Erzählungen, wie insbesondere der Erzählung Alles, entspricht. Sigrid Weigel stellt in ihrer umfangreichen Untersuchung des essayistischen Werks Bachmanns Essay Was ich in Rom sah und hörte an den Anfang ihrer Ausführungen. Sie bestimmt ihn als einen ersten Wendepunkt im essayistischen und literaturkritischen Schaffen der Autorin, an dem diese die »doppelte Autorposition, die mit der doppelten Lektüre von Literatur und Philosophie korrespondiert«, aufgebe (Weigel 1999, 88). Weigel versteht damit bereits den frühen Rom-Essay – und nicht erst die Arbeiten des Spätwerks (Schmidt 1989) – als eine Antwort auf Walter Benjamin. Tatsächlich lassen sich insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung des Rituals und die Konzeption eines rituellen Sprechens (Huml 1999, 220– 228) die Spuren der Benjaminschen Schriften aufzeigen. Das Jahr 1955, in dem der Text entsteht, mit Weigel als einen einschneidenden Wendepunkt im gesamten Schaffen Bachmanns herauszustellen, bedeutet allerdings, den Text unnötig überzustrapazieren; nicht zuletzt deshalb, weil bereits Bachmanns kurzer Text Das Lächeln der Sphinx von 1949 als die Erprobung einer »Schreibhaltung vis-à-vis der geschichtsphilosophischen Reflexionen kritischer Theorie« (Weigel 1994, 23) charakterisiert werden kann, der deutliche Spuren der Benjamin-Lektüre erkennen lässt. Auch muss es fraglich erscheinen, ob es eine »doppelte Lektüre von Literatur und Philosophie« in den Schriften Bachmanns überhaupt je gegeben hat. Vielmehr bezeugen der ›poetische‹ Abschluss der Dissertation ebenso wie die ›literarische‹ Sphinx-Parabel, dass sie zu keinem Zeitpunkt ihres Schaffens literarisches und philosophisches Denken voneinander getrennt hat (Agnese 1996). In ihrer Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, die Bachmann 1959 zur Verleihung des Kriegsblindenpreises hält, greift sie die Unterscheidung in (Alltags-)Sprache und Sehen, wie sie sie in
dem Essay Was ich in Rom sah und hörte entwickelt, als eine zwischen zwei Formen des Sehens – eines äußerlichen und eines inneren Sehens – wieder auf. An der unterschiedlichen Bildlichkeit, die Bachmann in beiden Texten wählt, um den Abstand zwischen ›wahrer‹ und konventionalisierter Wahrnehmung anschaulich zu machen, lässt sich jedoch keine grundsätzliche Differenz zwischen beiden Texten ablesen. Vielmehr belegt der kurze Rom-Text [Ferragosto], der im August 1957 von Radio Bremen gesendet wurde (Kogel 1998, 86), dass im Frühwerk Bachmanns Sehen und Hören einander nicht ausschließen müssen; in [Ferragosto] heißt es, dass das Ich in Rom sehen und hören gelernt habe (KS, 154; W 4, 336). Lediglich um der Anschaulichkeit willen, so lässt sich daher vermuten, werden in der literarischen Inszenierung von Was ich in Rom sah und hörte Sehen und Hören gegeneinandergestellt. Thematisch geht es in [Ferragosto] ebenso wie in Was ich in Rom sah und hörte darum, die sinnliche Wahrnehmung gegen das Buchstabenwissen auszuspielen. Das paradoxe Widerspiel von verzauberndem und klarem Sehen, von Möglichem und Unmöglichem, das Bachmann in ihrer Kriegsblindenpreisrede entfaltet, zeichnet sich damit von seiner Thematik her schon in beiden frühen RomTexten ab. Erst im Spätwerk verzichtet Bachmann darauf, lyrische ›Formeln‹ als die Hoffnungsträger einer ›anderen Sprache‹ in die ›Alltagssprache‹ ihrer Prosatexte einzulassen. Erst dort gewinnt die geschwätzige Alltagssprache die Qualität einer eigenen Beredtheit, die sich nicht nur ›hinter‹, sondern auch in den Floskeln selbst zu erkennen gibt. So setzt auch erst der 1969 entstandene Rom-Text Zugegeben, der nun ausdrücklich die Situation der in Rom arbeitenden und über Wien schreibenden Autorin der Todesarten reflektiert, der Gegenüberstellung von Hörensagen und Sehen, von konventionell übermitteltem und unverstellt gewonnenem Wissen, wie sie in den beiden frühen Rom-Texten entwickelt wird, eine andere Auffassung entgegen. In genauer Entgegensetzung zu den Texten der 1950er Jahre (bis hin zu dem Erzählband Das dreißigste Jahr) formuliert Bachmann in Zugegeben das Bekenntnis zu einem selektiven Rom-Bild, das den (Augen-)Schein mit seiner verklärenden Schönheit der Wahrheit vorzieht. So heißt es dort: »Zugegeben, die Leute sind etwas schöner und sehr freundlich, aber man weiß ja, was dahintersteckt. Weiß man es wirklich? Man weiß doch gar nichts. Mir genügt es, daß die Leute nicht unfreundlich sind, sondern freundlicher sind« (KS, 478; W 4, 340). Mit diesem selbstreflexiven Bekenntnis zu
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einer gegen die gesellschaftliche Realität gesetzten ›Oberflächlichkeit‹ erweist sich das motivisch eng mit den frühen Rom-Texten verwandte Zugegeben als ein Teil des Spätwerks. Der genaue Blick auf die sichtbare Welt wird nun abgeblendet, denn die Sicht auf die ›ganze Wahrheit‹ ist nicht zu ertragen. Sie ist zu schrecklich, als dass mit und in ihr zu leben möglich wäre. In der späten Erzählung Ihr glücklichen Augen greift Bachmann diese Thematik des ›wahren‹ und des verklärenden bzw. eines die Wahrheit ›korrigierenden‹ Sehens explizit noch einmal auf, wenn sie die Weigerung der Protagonistin, ihre Brille aufzusetzen, als die einzig mögliche Überlebensstrategie beschreibt; auch die übrigen Simultan-Erzählungen spielen diese Thematik in verschiedenen Variationen durch. So fällt im Spätwerk Bachmanns dem Sehen nicht mehr das Privileg zu, für die Evidenz des ›unmittelbar‹ Geschauten zu bürgen. Aus dem voraussetzungslosen, eine unmittelbare Sicht auf die ›ganze Wahrheit‹ eröffnenden Sehen des Frühwerks wird im Spätwerk eine hochartifizielle Leistung, die einem künstlerischen Schöpfungsvorgang gleichkommt.
Ein Ort für Zufälle (Büchnerpreisrede) (1): Entstehung, Thematik, Stil In dem künstlerischen Prosatext Ein Ort für Zufälle, mit dem sich Bachmann 1964 für die Verleihung des Georg-Büchner-Preises bedankt, entwickelt die Autorin mit der ›kranken‹ Stadt Berlin das Gegenmodell zu dem ›gesunden‹ Rom. Grundiert von der allgegenwärtigen nationalsozialistischen Vergangenheit Berlins beschreibt Bachmann die Großstadt vermittelt über eine Zusammenstellung von zwar verfremdeten, doch als konkret erkennbaren ›politischen Schlüsselereignissen‹, wie sie in der Zeit ihres eigenen Berlin-Aufenthalts stattfanden, also in der Zeit zwischen Frühjahr 1963 und Oktober 1965. Trotz dieser Verweise auf konkrete Ereignisse der Zeitgeschichte handelt es sich jedoch um einen fiktionalen Text, »wenn ›fiktional‹ hierbei nicht mit ›erfunden‹ übersetzt, sondern – etwa im Sinne Isers – als ›zugleich real und imaginär‹ definiert wird« (Schneider 2000, 137). Die literarische Gestaltung des Textes trägt der durch Büchners Lenz (1836) vorgegebenen Wahnsinnsthematik Rechnung: Berlin erscheint als ein Ort, an dem sich der Wahnsinn – der Büchnersche ›Zufall‹ im Sinne vom Anfall – kristallisiert. Bachmann schließt mit ihrer Rede eng an Büchners Lenz an, wenn auch sie das Leiden ihrer Kranken als ein durch äußere soziale Bedingungen verursach-
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tes charakterisiert. Bleibt bei Büchner der Wahnsinn jedoch auf einen Einzelnen beschränkt, so wird er bei Bachmann als ein kollektives Leiden aufgefasst (Bartsch 1985, 136). Die sprachliche Gestaltung der Großstadtdarstellung erscheint als eine einzige Abfolge von Übertreibungen: Sind die hoffnungsvollen Ausblicke aus der Stadt ins Utopische überhöht, so wird zugleich die Wahrnehmung der Großstadt selbst von ungeheurer Lärmbelästigung, schreienden Reklametafeln, flutendem Autoverkehr und massenhaftem Alkoholkonsum charakterisiert. Beängstigender aber als diese ins Traumatische getriebene Großstadterfahrung wirkt die unbestimmte Wahrnehmung der Kranken, dass da »etwas« ist (ebd., 139). Sie zieht sich durch den gesamten Text und ruft den Eindruck einer unterschwelligen, doch gerade deshalb umso gefährlicheren Bedrohung hervor. Mit der verharmlosenden Behauptung des Pflegepersonals »Es ist nichts« wird der schizophrene Zustand der Stadt jedoch all denen gegenüber zu leugnen gesucht, die an den ›kranken‹ Verhältnissen selbst ›krank‹ und schizophren geworden sind. Bachmann beginnt mit den Vorarbeiten zu ihrer Rede unmittelbar im Anschluss an die Mitteilung der Preisvergabe nach der Rückkehr von einer längeren Ägyptenreise (April/Mai 1964). Vorausgegangen war dieser Reise ein einjähriger Stipendienaufenthalt in Berlin seit April 1963. Der Berlin-Aufenthalt verknüpft sich für Bachmann mit persönlichen traumatischen Erfahrungen. Ein Entwurf aus dem Nachlass, in dem sie über ihre Berliner Begegnungen mit Witold Gombrowicz berichtet, schließt mit der lapidaren Bemerkung, dass sie schließlich sehr »krank« geworden sei (KS, 485; W 4, 330). Nach den Andeutungen in Adolf Opels Bericht über ihre gemeinsame Ägyptenreise (Opel 1996) gibt die Publikation der »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« (Bachmann 2017) genaueren Einblick in Bachmanns medizinische und psychische Probleme zur Entstehungszeit der Büchnerpreisrede. Dennoch ist die unmittelbare Verknüpfung von persönlichem und gesellschaftlichem Wahnsinn in Ein Ort für Zufälle alles andere als nur ein selbsttherapeutischer Versuch, wie schon Bachmanns intensive Arbeit an der literarischen Form des Textes zeigt. Die Vorgeschichte der Büchnerpreisrede ist kompliziert. Die ersten Entwürfe zeigen, dass Bachmann ursprünglich vorhatte, ihre Rede enger auf das Werk Büchners – auch auf seine naturwissenschaftlichen Schriften – zu beziehen. Davon rückt sie zunehmend ab; es bleibt die Verbindung über die Wahnsinnsthematik in Büchners Lenz, wie sie schließlich auch in dem Titel der Endfassung ihrer Rede mit der Formu-
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lierung Ein Ort für Zufälle zum Ausdruck kommt. Zudem wird deutlich, dass Bachmann in der Büchnerpreisrede zunächst zwei verschiedene Stoffkreise – das ›verwüstete‹ Berlin und die ägyptische Wüste – eng miteinander verbunden zur Darstellung bringen wollte. Die ägyptische Wüste setzt den Verwüstungen der Großstadt ihr heilsames Nichts entgegen. Diese beiden antagonistischen Wüstenlandschaften, die Großstadtwüste Berlin und die ägyptische Wüste, sind in den ersten Entwürfen der Büchnerpreisrede durch ein visionäres Traumgeschehen miteinander verzahnt. So erläutert Bachmann noch in einer frühen Fassung, »daß von Absatz zu Absatz sich zwei Bewegungen überschneiden. Daß ich Sie einerseits nach Berlin transportiere, und im nächsten in die Wüste« (TKA 1, 181). In den späteren Textstufen gibt Bachmann die enge Verknüpfung von Stadt und Wüste, von Krankheit und Heilung weitgehend auf. In der Endfassung der Büchnerpreisrede erinnert nur noch der Ritt, den die Kranken auf dem Rücken der dem Zoo entflohenen Kamele in die märkische Wüste unternehmen – also auch: aus dem von der Mauer umgrenzten Westteil der Stadt in das ostdeutsche Umland hinaus –, an die einstige Gegenüberstellung der beiden Wüsten. Die thematische Gegenüberstellung von Krankheit und Heilung, wie sie die ersten Entwürfe vorsehen, wird in der Schlussfassung also stark zurückgenommen. Den Wüstenstoff gliedert Bachmann zunächst in das geplante Wüstenbuch aus; er bildet schließlich die Vorarbeiten für das Fragment gebliebene Buch Franza. Nach der kritischen Ausgabe (TKA 1, 549–563) gibt der umfangreiche Kommentarband von Christian Däufel (2013) Einblick in die Komplexität der Entstehungsgeschichte. Er rekonstruiert »die subtilen und zugleich eminent provokanten Anspielungen auf aktuelle Ereignisse oder öffentliche Debatten« in einer »umfassende[n] zeit- und mentalitätsgeschichtliche[n] Rekontextualisierung anhand von Zeitungen und Rundfunkübertragungen, Archivdokumenten und Chroniken, historischen Studien und anderen zeitgenössischen Texten« (Däufel 2013, 57). Auf diese Weise werden neue Zugänge zu Bachmanns Text eröffnet, Anspielungen auf vergangene Ereignisse und Konstellationen werden für die Interpretation (wieder) verständlich gemacht. Doch statt »in eine abschließende Identifikation zu münden, die einer ärztlichen Diagnose gleichkäme, repräsentiert der Text in seiner Machart die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens ausgerechnet im Rückgriff auf medizinische Diskurse und die in der Textwirklichkeit durchgängig präsente Kliniksphäre und setzt somit der begrifflichen Fixierung
eine kalkulierte Darstellungsweise entgegen, die den Leser in den Prozess der Bedeutungszuschreibung mit einbezieht. Dabei bedient sich Bachmann zugleich einer Bildersprache, die immer wieder auf zentrale Ikonen und Wahrzeichen Berlins hindeutet, die so konstituierte symbolische Ordnung der Nachkriegsgesellschaft jedoch mit Hilfe grotesker Verfahren unterläuft und auf diese Weise den Prozess aufzuzeigen vermag, wenn Verdrängtes, Verschleiertes oder Vergessenes an die Oberfläche dringt« (ebd., 550). Dem umfangreichen Kommentar ist ein detaillierter Forschungsüberblick sowie eine konzise Einleitung beigegeben. Däufels Arbeit leistet einen unverzichtbaren Forschungsbeitrag zu Bachmanns Büchnerpreisrede. Mit der thematischen Einschränkung verändert sich auch die sprachliche Gestaltung der Rede. Bachmann rückt vom Traumcharakter der ersten Entwürfe ab und entscheidet sich für die Form der überzeichnenden »Prosagroteske« (Bartsch 1985, 135). Die Großstadt potenziert die Vielzahl zur erdrückenden Menge: In überfüllten Straßen bewegen sich hektisch unzählige Menschen und Autos, der Lärm ist unerträglich und der ›normale‹ Drogenkonsum floriert. Die groteske Form der Darstellung, für die sich Bachmann in der Überarbeitung des Textes für die Redefassung entscheidet, ist als der Versuch gelesen worden, die verkehrte Welt in einer paradoxen Wendung ›zurückzuverkehren‹ und der Gesellschaft in der »übersteigerten Simulation« einen »Zerrspiegel« vorzuhalten (Bossinade 2004, 10, 93). Andrew J. Webber (2007, 112) spricht analog vom »subversive mode« der Büchnerpreisrede, der weniger den grotesken als den satirischen Charakter hervorhebt. Frauke Meyer-Gosau, die in ihrer Bachmann-Biographie die Autorin programmatisch nicht nur von ihrer dunklen Seite zeigen, sondern sie als eine »handelnde, aktive, fordernde, womöglich auch heitere Person« in Erscheinung treten lassen möchte, unterstreicht in diesem Sinne auch die komische Seite der Rede (Meyer-Gosau 2008, 9).
Ein Ort für Zufälle (2): Werkkontext und Erinnerungsdiskurs Die Fassung der Büchnerpreisrede, die Bachmann im Oktober 1964 bei der Preisverleihung vorträgt, überarbeitet sie für eine Einzelveröffentlichung in Buchform (Bachmann 1965). Sie streicht die einleitenden Worte, überarbeitet einige Formulierungen geringfügig und fügt einige wenige besonders ›berlinspezifi-
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sche‹ Passagen ein – so etwa eine Passage über den Stadtteil Kreuzberg oder die architektonische Besonderheit des ›Berliner Zimmers‹. Beigegeben sind dieser Veröffentlichung Zeichnungen von Günter Grass, die sich nur zum Teil unmittelbar auf den Bachmannschen Text beziehen, darüber hinaus aber mit ihren überdimensionalen Insekten, Käfern, Vögeln und Würmern, die sich vor grauen Brandmauern in der Großstadtkulisse Berlin bewegen, auch durchaus eigene Bilder entwerfen (Däufel 2013, 129–139). Damit reagieren sie gleichermaßen auf die im Text vorgegebenen bildhaften Motive – etwa die Krankenschwester oder die Kamele – wie auf die sprachliche Gestaltung des Textes als Groteske, auf die sie mit ihren unwirklichen (Über-)Zeichnungen antworten. Die ersten Entwürfe der Büchnerpreisrede zeigen, dass Bachmann zunächst geplant hatte, unmittelbar an die poetologischen Ausführungen der Frankfurter Vorlesungen und der Kriegsblindenpreisrede anzuknüpfen. Hier geht es ihr noch darum, ihre poetologischen Überlegungen zur Funktion der Literatur als einer Möglichkeit, das menschliche Fassungsvermögen zu erweitern, genauer auszuführen und zu erläutern. Im Vergleich mit den Frankfurter Vorlesungen spiegeln die Vorarbeiten zu Ein Ort für Zufälle eine Schwerpunktverlagerung. Im Hinblick auf die Literatur tritt der Versuch, das Leiden zu erfassen, deutlich in den Vordergrund. Zwar verfolgt Bachmann in ihrem Werk von Anfang an die Auffassung einer sich vom Leiden herschreibenden Dichtung. Nun aber werden die Worte verstärkt daraufhin geprüft, ob sie das Ausmaß des erlittenen Schmerzes erfassen können und so – das ist die Hoffnung, die sich von nun an mit der Wirkung von Literatur verbindet – möglicherweise auch zu ertragen helfen. In den kommenden Jahren rückt jedoch zunehmend die Einsicht ins Zentrum, dass ›die Kraft des Menschen‹ oftmals nicht ›weiter reicht als sein Unglück‹ (wovon Bachmann in der Kriegsblindenrede noch überzeugt war; KS, 248; W4, 277). Sein Unglück – das, bis auf wenige Ausnahmen, in den folgenden Werken mit der Geschlechterfrage verknüpft ihr Unglück sein wird – ist in den Romanfragmenten und in Malina ein unheilbares und tödliches. Im Blick auf das Todesarten-Projekt kommt der Büchnerpreisrede daher eine Schlüsselfunktion zu; es ist der »erste Prosatext«, der aus diesem Arbeitsprozess an die Öffentlichkeit gelangt (Schlinsog 2005, 106; zur engen Verschränkung der Büchnerpreisrede mit dem Todesarten-Projekt vgl. auch TKA 1, 549– 563; Lennox 2006; Gürtler 2006). Darüber hinaus las-
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sen sich enge motivische und thematische Bezüge zu den zu Lebzeiten Bachmanns unveröffentlicht gebliebenen Gedichtentwürfen aufzeigen, die im Nachlassband Ich weiß keine bessere Welt veröffentlicht wurden, ebenso zu den 1968 in der Zeitschrift Kursbuch erschienenen letzten Gedichten (Däufel 2013, 64). Mit der Einführung der Krankheitsthematik bezeichnet die Büchnerpreisrede damit einen Wandel, der sich in den Frankfurter Vorlesungen bereits angekündigt hatte. Bachmann definiert hier die Leiderfahrung nicht nur – wie in der Ghetto-Passage des frühen Rom-Textes Was ich in Rom sah und hörte – als der literarischen Gestaltung vorgängig, sondern als jeder literarischen Gestaltung vorrangig. In diesem Sinne ist der Verzicht auf jede poetologische Unterfütterung der Büchnerpreisrede als ein programmatischer zu verstehen. Die Streichungen der poetologischen Passagen aus den frühen Entwürfen stützen diese Annahme und belegen die Tendenz, »auf dem Hintergrund einer sich verschärfenden Sprachskepsis das Sprechen über Literatur in das literarische Sprechen selbst zurückzunehmen« (Göttsche 1990, 198). Darin, dass Bachmann in der Endfassung ihrer Büchnerpreisrede jede poetologische Betrachtung wieder gestrichen hat, liegt die eigentliche Besonderheit dieses Textes im Vergleich zu den literaturkritischen Arbeiten. Mit seiner experimentellen Form und seiner Poetik des Leidens weist Ein Ort für Zufälle so auf die Todesarten voraus. Die Spaltung des Ich in ein beobachtendes und ein betroffenes bereitet die Aufspaltung in Franza und die Erzählerfigur Martin im Buch Franza und schließlich in das Ich und den das Ich überlebenden Malina als dem Erzähler der Todesarten vor (Höller 1987, 210). Die Büchnerpreisrede zeigt auch mit ihren politischen Anspielungen, dass Bachmann diese Poetologie nicht als eine privatistische verstanden wissen möchte, sondern in einen konkreten gesellschaftlichen Kontext einbettet. Dies gilt insbesondere auch für die der Rede eingeschriebene Auseinandersetzung mit der Hypothek des Nationalsozialismus (Kienlechner 2000). Wie Celan, der Büchnerpreisträger von 1960, der seine poetologischen Reflexionen vom »20. Jänner«, dem Datum der Wannseekonferenz, ausgehen lässt, so bestimmt auch Bachmann in ihrer Büchnerpreisrede mit Auschwitz ein Ereignis, von dem sich ihr Selbstverständnis als Autorin herschreibt. Der ursprüngliche Titel »Deutsche Zufälle«, den Bachmann zunächst für ihre Rede wählt und den sie erst für die Veröffentlichung 1965 in Ein Ort für Zufälle abändert (vgl. hierzu kritisch Höller 1987, 209), verweist aus-
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drücklich auf die Rückbindung der Berlin-Beschreibung an die nationalsozialistische Vergangenheit und ihre Fortwirkung bis in die 1960er Jahre, die hier grotesk veranschaulicht wird: »Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt. [...] Im Café Kranzler [...] halten die Frauen die Filztöpfe fest über die Augen gezogen, sie kauen und greifen zu, seit damals« (TKA 1, 219). Beide Büchnerpreisreden, die Bachmanns mit ihrer in die Gegenwart hineinreichenden deutschen Vergangenheit und die Celans mit ihrem impliziten Verweis auf die Wannseekonferenz, haben mit der nationalsozialistischen Täterschaft denselben Bezugspunkt. Dennoch verfolgen sie, wie Böschenstein in seinem Vergleich der beiden Reden ausführt, unterschiedliche Zielsetzungen: »hier die Darstellung der eigenen Dichtung, dort die Entblößung der Realität, die den Grund, auf dem sie sich erhebt, zudeckt, so daß alles Erscheinende unwahr, unwesentlich, in einem exhibitionistischen Sinn verrückt wird. Die Art ihres Bezugs auf Lenz als Maßstab für die Erkenntnis der eigenen Zeit beweist indes, daß beide letztlich dieselben Geschehnisse, Erfahrungen und Gefahren in den Blick nehmen« (Bö schenstein 1997, 269). Doch ist diese Gemeinsamkeit keineswegs ungebrochen. In Der Meridian nennt Celan die Wannseekonferenz einen historischen Einschnitt, unter dessen Eindruck die Gegenwart und die Literatur nach 1945 steht. Bachmann hingegen geht von einem Fortleben des Nationalsozialismus aus (Kienlechner 2000). In den Romanentwürfen des Spätwerks und schließlich in Malina wird Bachmann diesen Gedanken der Kontinuität weiterführen und konkretisieren. Im Verhältnis der Geschlechter wird sie schließlich versuchen, das Fortleben nationalsozialistischer Täterschaft aufzuzeigen.
Das Wüstenbuch Die im Sommer 1964 von Bachmann vorübergehend ins Auge gefasste Verknüpfung von Berlin- und Wüstenthematik, wie sie sich in den Vorarbeiten zur Büchnerpreisrede niederschlägt, ist nur von kurzer Dauer. Ihr geht die Absicht voraus, eine eigenständige Bearbeitung des Wüstenstoffs vorzunehmen; auf diese greift Bachmann zurück, nachdem sie den Wüstenstoff weitgehend aus den Entwürfen für die Büchnerpreisrede ausgegliedert hat. So schreibt sie im April 1965 an ihren Verleger Klaus Piper, sie plane, ein kleines Buch über ihre Ägyptenreise zu schreiben. Im
Herbst desselben Jahres zeichnet sich dann jedoch bereits ein Konzeptionswandel auf den Franza-Roman hin ab, für den das Wüstenbuch als Materialgrundlage zu dienen beginnt (Kommentar TKA 1, 564, 568). In Auseinandersetzung mit der Tradition europäischer Orient-Berichte und dem literarischen Orientalismus (Göttsche 1991, 110 f.) konzipiert Bachmann das Wüstenbuch zunächst als einen Reisebericht. Wie der Rom-Essay so weisen auch diese Entwürfe eine Doppelstruktur von touristischer Erwartungshaltung und ihrer Enttäuschung auf der einen Seite und der Entstehung einer individuellen Aneignung des zunächst als fremd Erlebten auf der anderen Seite auf. Vor dem Hintergrund der Zusammenführung von Genderund Kolonialismusthematik (Lennox 1984, 108), wie sie Bachmann im Wüstenbuch unternimmt, ist dieses Verfahren nicht unproblematisch; Hermann Weber spricht kritisch von einer »vorschnellen Identifikation« (Weber 1986, 109) des zerstörten weiblichen Ich mit den ›primitiven‹ Bewohnern des als exotisch wahrgenommenen Landes (s. Kap. 14). Bachmann führt die Reise des Ich von Kairo über Luxor und Assuan an den Stationen einer klassischen Ägyptenreise – und ihrer eigenen vom April/Mai 1964 – entlang. Von Anfang an verknüpft sie die reale Reise des Ich mit der inneren Reise durch eine Krankheit. Die Wüste metaphorisiert Bachmann in der christlich-mystischen und philosophischen Tradition (Weber 1986, 123), in Anspielung auf Rimbaud (Göttsche 1991, 153) und auf das Wüstenmotiv in den Gedichten Ungarettis (Hoell 2001, 108) zu einem großen Purgatorium, in dem das Ich seiner Vernichtung ausgesetzt ist und zugleich Heil(ung) sucht. Die Sonne schließlich soll das weibliche Ich des Wüstenbuchs in seinen Anstrengungen unterstützen, Licht in das Dunkel des Verbrechens zu bringen, das ihm widerfahren ist. »Das ist vorbedachter Mord, und die Sonne, die Sonne, die bringt es an den Tag. [...] Die Sonne hat alle Unterlagen, die Dokumentenlage könnte nicht besser sein. Hier ist ein vorbedachter Mord geschehen. Es war mehr als eine Verwechslung. Ich war gemeint. Ich. Ich. Welch ungeheuerliche Konspiration wird hier aufgedeckt« (TKA 1, 254). Tritt die Idee einer zielgerichteten Reisebewegung vorübergehend in der zweiten Arbeitsphase zurück – vermutlich zu jenem Zeitpunkt, als Bachmann eine Verknüpfung von Berlinund Wüstenthematik für die Büchnerpreisrede erwägt (Kommentar TKA 1, 567) –, so kehrt Bachmann in der dritten Arbeitsphase wieder zur ursprünglichen Konzeption zurück. Scheint der dritte Entwurf zunächst mit der Endstation in der »Hölle« (TKA 1, 275)
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des durch die Weißen bereits zerstörten Assuan zu enden, so führt Bachmann den Entwurf weiter bis hin zu dem utopischen Erlebnis des Ich in Wadi Halfa, bei dem Weiße und Schwarze ein Essen teilen: »es ist der bewußteste Augenblick, der natürlichste, das erste und einzige Essen hat stattgefunden, findet statt, es ist das erste und einzige gute Essen, wird vielleicht die einzige Mahlzeit in einem Leben bleiben, die keine Barbarei, keine Gleichgültigkeit, keine Gier, keine Gedankenlosigkeit, keine Rechnung, aber auch keine, gestört hat« (TKA 1, 282). Das geographische Ziel der Reise erscheint angesichts dieses Erlebnisses schließlich gleichgültig. Anders als in dem Roman Das Buch Franza erzählt Bachmann im Wüstenbuch aus der Ich-Perspektive. Der Konzeptionswandel vom Reisebuch zum Roman bringt einen Wechsel der Erzählhaltung und die Hinzunahme der Bruderfigur mit sich, die die (männliche) Erzählerfigur der (weiblichen) Todesarten präfiguriert. In den Wüstenbuch-Entwürfen dagegen steht noch nicht diese poetologische Fragestellung, sondern die Krankheitsthematik im Zentrum, und zwar als Zentralmetapher eines kritischen Rückblicks auf die Struktur europäischer Zivilisation im Raum einer fremden Natur und Kultur, in deren Wahrnehmung sich prägnante Beobachtungen und abendländische Blickprägungen überlagern (s. zur Motivtradition der Wüste Weber 1986; zum kritischen Exotismus Diallo 1998). Nicht erst seit der Büchnerpreisrede, sondern schon seit dem Text Was ich in Rom sah und hörte mit seiner Beschwörung der römischen ›Normalität‹ sind Krankheits- und Wahnsinnsthematik im Werk Bachmanns nicht mehr voneinander zu trennen. Im Unterschied zum Frühwerk – insbesondere zu der Erzählung Unter Mördern und Irren, die den Tätern die ›normalen‹ Menschen entgegenstellt – verschiebt sich jedoch die Zweiteilung der Welt im Spätwerk Bachmanns: Mörder und Irre sind nun zweierlei Menschen, das Irrewerden an der Welt ist Zeichen von Integrität; unter diesen Vorzeichen kann von ›Gesundheit‹ nicht mehr gesprochen werden. Die »Tollheit ist doch nichts weiter als der physische, psychische Ausdruck für etwas Unerträgliches, also der Ausdruck einer Niederlage vor der Realität. Aber es ist zugleich die Niederlage der Realitäten vor dem Geist, der sich eher verrücken läßt, als daß er nachgibt [...]« (TKA 1, 175). Der Irrsinn, so entwickelt es Bachmann in der Büchnerpreisrede und in den folgenden Prosawerken, kommt von außen und fährt in die Menschen ein. Die Kranken jedoch sind nicht allein Opfer dieses Wahnsinns, der von ihnen Besitz nimmt, sondern in ihrer Krankheit artikuliert sich zugleich ei-
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ne schöpferische Potenz. In einem späten Essay über die psychosomatischen Schriften Georg Groddecks erläutert Bachmann diesen Zusammenhang: »Groddecks erste und kühnste Vermutung hat sich als richtig erwiesen, es gibt keine Krankheit, die nicht vom Kranken produziert wird, auch kein Beinbruch, kein Nierenstein. Es ist eine Produktion wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas« (KS, 433; W 4, 351). Zeigen sich in der Büchnerpreisrede die Symptome einer Krankheit noch an einer Stadt, so wird im Wüstenbuch, später in den Romanfragmenten und schließlich in Malina der (weibliche) Körper zum Ort dieser Symptome. Unter dem Vorzeichen dieser existentiellen Beschädigung findet sich in den Wüstenbuch-Entwürfen erstmals eine explizite Absage Bachmanns an die Poetologie ihres Frühwerks. In einem Interview zu Undine geht hatte Bachmann im November 1964 formuliert: »Die Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um es mit Büchner zu sagen, ›die Kunst, ach die Kunst.‹ Und der Autor, in dem Fall ich, ist auf der anderen Seite zu suchen, also unter denen, die Hans genannt werden« (GuI, 46). Das Wüstenbuch greift diese Formulierung mit ihrem Bezug auf Büchner – und damit auch auf Ein Ort für Zufälle – auf. Das weibliche Ich in der Wüste hat mit dem kunstsuchenden Hans nichts mehr gemein, weder das Geschlecht noch das Ziel seiner Sehnsucht: »Im Tal der Könige, in dieser Totenstadt, was suchst du. Doch nicht die ›Kunst‹, ach die Kunst. Was suchst du in dieser ungeheuerlichen Stadt in diesen Gräbern, bei diesen Zeichen, angesichts dieser Wüste, die deine Ziele in Frage stellt, deine Reiseziele, deine Ziele aus Jahren. Was, so sprich doch, suchst du hier!« (TKA 1, 250 f.).
Andere Kurzprosa – Poetologie der Pathetik Im Werk Bachmanns kommt der Frage nach dem ekstatischen Leben, dem schönen wie dem schrecklichen, und dem Schreiben darüber – der Frage nach der »Kunst, ach der Kunst« – eine zentrale Bedeutung zu. Auch die kurzen Entwürfe Tagebuch, Leipzig, Die blinden Passagiere sowie [Jede Jugend ist die dümmste], und [Auf das Opfer darf sich keiner berufen] aus dem Nachlass kreisen aus verschiedenen Perspektiven um diese Frage. Der nach der Teilnahme an einem Lyrik-Symposion der Universität Leipzig im Frühjahr 1960 entstandene Text Leipzig beschreibt als einziger die Abwesenheit jeder Form von Ekstase. Die »aus dem Erotischen evakuierte[n] Menschen« (KS, 352; W 4, 338) leben,
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hässlich geworden von den erlittenen Enttäuschungen, in einer Stadt ohne Schönheit. Selbst Rauschmittel tragen in Leipzig keine ›berauschenden‹ Namen mehr: »Sowjetischer Sekt, sowjetischer Kognak, die Worte fehlten nie, und ich war einmal drauf und dran zu sagen, ›russischer‹, unterdrückte das Wort aber als unpassend und sagte, ›Ja, so einen‹, weil mir das Wort sowjetisch nicht über Lippen wollte im Zusammenhang mit Kognak« (KS, 352 f.; W 4, 339). Der Text Die blinden Passagiere dagegen inszeniert die Spannung zwischen glanzloser Alltagsroutine und Ekstase. Mit dem Titel des 1955 geschriebenen Essays bezieht sich Bachmann programmatisch auf die Bedeutung, die dem Sehen in ihrem Frühwerk zukommt. Es handelt sich nämlich bei diesen Passagieren um Reisende, die keinen Blick mehr für das Außergewöhnliche haben, um Fluggäste, die so routiniert sind, dass ihnen das Wunderbare und Vermessene des Fliegens gar nicht mehr zu Bewusstsein kommt. Der Text hingegen berichtet von einem Ich, das zum ersten Mal fliegt und durch die erregte Wahrnehmung dieses Ich hindurch ›belebt‹ der Text zugleich das Flugzeug. »Die Motoren gehen schon schneller, die Maschine bebt und wird von einer Wildheit erfaßt, als wollte sie bersten, die mit silbernen Nägeln vernähten Teile absprengen, die Eingeweide unter Flammen ausspucken – als wollte sie sich selbst vernichten und an Ort und Stelle in die Erde oder zur Hölle fahren« (KS, 194; W 4, 37). Der Text Die blinden Passagiere beschwört das Wunderbare wie das Vermessene des Fliegens nicht nur als eine individuelle Erfahrung, sondern auch in seiner mythisch verbürgten Qualität. Die Geschichte des Ikarus, über die sich ein Vater mit seinem Sohn im Flugzeug unterhält und die gewöhnlich als eine Geschichte menschlicher Vermessenheit erzählt wird, wird in dem Gespräch zwischen Vater und Sohn in eine Geschichte über menschliche Berauschtheit und Ekstase (um)gedeutet. Denn nicht der technischen Unzulänglichkeit der Mittel wird die Schuld am Sturz des Fliegenden ins Meer zugeschrieben, sondern seinem naiven Irrglauben, dem überschwänglichen Glücksgefühl des Fliegens vernunftbestimmt standhalten zu können. »Der Vater: ›Die Flügel schmolzen in der Sonne.‹ Pause. Der Vater: ›Er wollte eben fliegen.‹ Das Kind: ›Wie konnte er nur! Ein Herz ist kein Motor‹« (KS, 196; W 4, 39). Im Unterschied zu den der Routine ergebenen und auf die Routine vertrauenden Erwachsenen weiß das Kind um die Anfälligkeit des Menschen für Rausch und Ekstase: Das Herz des Menschen ist keine Maschine.
Bachmanns kurzer Text erweist sich als die Fortführung eines Musilschen Gedankens im Mann ohne Eigenschaften. Im Anschluss an einen Dialog über die Differenz zwischen tagheller Mystik und diffuser ›Intuition‹ wählt Ulrich das Beispiel des Ikaros, um seine Position zu erläutern. »Nach seiner Überzeugung«, so heißt es bei Musil, »war nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildungen nachgab, die einer überlegten Nachprüfung nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen« (Musil 1978, 765 f.). In den beiden literaturkritischen Essays über Musils Mann ohne Eigenschaften, die Bachmann verfasst hat, wird diese Passage zitiert (W 4, 26, 100). In ihrem Kurzprosatext Die blinden Passagiere kehrt Bachmann die Passage in einer auf ›essayistische Genauigkeit‹ bedachten dialektischen Bewegung um, wenn sie die Fluggäste wieder an ihren einstigen Traum vom Fliegen erinnert. In dem kurzen undatierten Text [Jede Jugend ist die dümmste] aus dem Nachlass wird deutlich, welche Bedeutsamkeit der Ekstase zukommt. Bachmann entwirft hier – wie bereits, wenn auch sehr viel nüchterner, in den Römischen Reportagen – die kultische Feier der Ekstase als die Voraussetzung eines Lebens jenseits des Wahnsinns. Es ist ein Leben, das sich nicht nach der Zeitrechnung von Uhren und Kalendern bemessen lässt, sondern das sich durch einen unkontrollierbaren Überschwang und Überfluss im ›Heute‹ auszeichnet. Die literarische Form, das Pathos, die diesem Leben in Leiden(schaft) entspräche, ist jedoch verschwunden. »Die Freude ist verschwunden, das Pathos auf einer Papierlandschaft, auf Spruchbändern verendet. Pathetisch sind nur wir. Der Cortex ist Pathos. [...] Der Cortex ist luxuriös, das Geäst, die Nervenbahnen, die dramatischen Abläufe, die Depressionen, die Hochzeiten müssen verwirklicht werden können« (KS, 428; W 4, 333 f.). Für ihren Versuch, dem Pathos in der Literatur (wieder) zu seinem Recht zu verhelfen, hat Bachmann mit dem nicht selten geäußerten Vorwurf der Larmoyanz ebenso viel unberechtigte Ablehnung erfahren wie die Anerkennung eines vermeintlich unmittelbaren ›Einfühlungsvermögens‹ an ihrem Schreiben vorbeigeht. Die pathetischen Formulierungen und Passagen im Werk Bachmanns sind nicht sprachlicher Fahrlässigkeit oder gefühlvollem Überschwang geschuldet, sondern zeugen von dem Versuch, Leiden(schaft) sprachlich zu fassen und literarisch zu gestalten. In ihrer Hommage à Maria Callas formuliert Bachmann in diesem Sinne von
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der großen Operndiva: »sie ist groß in jedem Ausdruck, und wenn sie ihn verfehlt, was zweifellos nachprüfbar ist in manchen Fällen, ist sie immer noch gescheitert, aber nie klein gewesen« (KS, 410; W 4, 342). Entscheidend für eine klarere Konturierung dieser ›Poetologie der Pathetik‹ ist, dass sich Bachmanns Bemühen um Pathos auf die Sprache, nicht aber auf Inhalte richtet. Deutlich wird diese Differenz in der Ablehnung einer Poetisierung des Leidens. Es darf, so formuliert sie in ihrem undatierten Entwurf [Auf das Opfer darf sich keiner berufen], »keine Opfer geben (Menschenopfer), Menschen als Opfer, weil der geopferte Mensch nichts ergibt. Es ist nicht wahr, dass die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen« (KS, 351; W 4, 335). Mit einer vergleichbaren Formulierung von dem »Opfer zu nichts« (W 2, 178) weist Bachmann auch in den Erzählungen Unter Mördern und Irren und Jugend in einer österreichischen Stadt den Opfergedanken zurück (Bartsch 1982; Gehle 1995, 154–161). Die Poetisierung des Leidens kommt seiner Funktionalisierung gleich: der sinnlose Tod bekommt einen Sinn zugeschrieben. Mit ihrer ›Poetologie der Pathetik‹, die an der sprachlichen Gestaltung einzigartiger Leiden(schaften) interessiert ist, versucht Bachmann dieser Gefahr zu entgehen. Bachmann steht dabei mit ihren Bemühungen nicht allein. In der deutschsprachigen Nachkriegslyrik ist es zunächst neben Nelly Sachs vor allem Paul Celan, der sich mit dem Pathos als einer sprachlichen Form auseinandersetzt, in dem nach der Shoah Leiden zur Sprache gebracht werden kann (Epping-Jäger 2012). Zu diesen für sein Werk wie für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur insgesamt zentralen Fragen befindet sich Celan im brieflichen und persönlichen Austausch mit der deutsch-jüdischen Philosophin Margarete Susman. Susman hatte bereits vor 1933 Überlegungen zur sprachlichen Form des Pathos entwickelt und diese mit der generischen Form des Essays verknüpft (Rochus 2016). Wie es aus Tagebuchaufzeichnungen und ihrer Biographie hervorgeht, brachte Susman dem Werk Bachmanns große Wertschätzung entgegen. Für Bachmann, aber auch für andere ihr nahe stehende Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit wie etwa Jean Améry und andere handelt es sich bei der Frage nach dem sprachlichen Pathos um eine, die das Zentrum ihres essayistischen und literarischen Schreibens betrifft (Markgraf 2018, 133). In den Kahlschlag-Debatten der Nachkriegszeit wird dieser Diskurs zum sprachlichen Pathos, wenn er
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überhaupt zur Kenntnis genommen wird, als ›unangemessen‹ diskreditiert. Von der Forschung wurde dieses Verdikt weitgehend übernommen. Es verstellte lange Jahre den Blick auf jene Autorinnen und Autoren, für welche die Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Pathos und der generischen Form des Essays Ausdruck ihrer Suche nach einer ›angemessenen‹ sprachlichen Form für das Schreiben vom Leiden ist. Erst die jüngere Forschung öffnete den Blick dafür, dass den Forderungen nach Kahlschlag und Nüchternheit selbst ein eigenes, überaus nachdrückliches Pathos innewohnt (Jacob 2012). Vor dem Hintergrund dieser Einsichten können die beiden PathosDiskurse nun in ihren unterschiedlichen Akzentuierungen wahrgenommen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Als Beitrag für eine seit dem Sommer 1961 geplante deutsch-französisch-italienische Zeitschrift, die unter dem Namen »Gulliver« herausgebracht werden sollte, konzipiert Bachmann den Text Tagebuch; die Werkausgabe datiert den Text auf April 1963. Die wechselvolle Geschichte dieses Projekts bis hin zum Scheitern der Verhandlungen mit den ausländischen Kollegen dokumentieren Notizen aus dem Nachlass Bachmanns sowie der Briefwechsel zwischen dem Sprecher der deutschen Gruppe Uwe Johnson und seinem Verleger Siegfried Unseld (Johnson/Unseld 1999, 1094– 1136; dazu Weigel 1999, 386–395). Wie Johnsons Schreiben von 15.8.1961 zeigt, ist Bachmann von Anfang an neben Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Johnson Mitglied der deutschen Delegation, bis zum Schluss bleibt sie an dem Projekt beteiligt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Paris am 29.4.1963 einigen sich die Autoren darauf, die ursprünglich als Probenummer gedachte Zusammenstellung der Artikel beizubehalten und 1964 als ein Heft der Zeitschrift Il menabo di lettura (No. 7) in italienischer Sprache zu veröffentlichen. Elio Vittorini, Mitglied der italienischen Delegation, hebt die Sprachskepsis der deutschen Gruppe als ihr besonderes ›Gruppenmerkmal‹ hervor. Die Mitglieder der Gruppe, so Vittorini, »scheinen anzunehmen, dass die Politik, die im Nazismus ihren Höhepunkt fand, all dem, was in Deutschland von Goethe an gesagt worden ist, jede Gültigkeit einer positiven Tradition genommen hat; so daß auch die Worte, die wir oder die Franzosen oder ich weiß nicht wer sonst noch für grundlegend seit Hegel halten, ihnen trügerisch und gefährlich erscheinen; und sie fühlen sich nur ganz ruhig bei den Aufklärern und Barockdichtern« (Johnson/Unseld 1999, 1136).
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Bachmanns emphatische Beschwörung der Möglichkeiten sprachlicher Verständigung, die sie in Tagebuch vornimmt, lässt sich nicht unter diesen Eindruck subsumieren. Vielmehr formuliert Bachmann ihren Wunsch nach einer gelingenden Verständigung zwischen den Nationen als ein Plädoyer für die essayistische Form sowohl im Sinne Adornos wie auch Musils, in der die Sprachutopie in einen konkreten historischen Kontext eingebettet ist. »Denken, gewiß, auch historisch denken und vor allem utopisch denken, daß die Risse eines Tages wirklich aufspringen, dort wo sie aufspringen müssen und die Grenzverläufe sich zeigen müssen, als ideologische, wenn man so will, als Risse auch im Gebrauch von Sprache, die nicht nur den Schreibenden betreffen, aber den Schreibenden zuerst betreffen, weil er nicht mit einem nationalen Fertigprodukt ›Sprache‹ oder einem internationalen Wunschprodukt ›Sprache‹ umgehen kann und es gebrauchen kann, sondern, von ihr geprüft und sie prüfend, ein Abenteuer mit der Sprache hat, dessen Ausgang ungewiß ist« (KS, 388; W 4, 70). Quellen
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M. 1958. Bachmann, Ingeborg: Ein Ort für Zufälle. Mit Zeichnungen von Günter Grass. Berlin 1965. Bachmann, Ingeborg: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hg. von Jörg-Dieter Kogel. München/Zürich 1998. Bachmann, Ingeborg: »Male Oscuro.« Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017. Freud, Sigmund: Studienausgabe, Bd. IX. Hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M. 1982. Johnson, Uwe/Siegfried Unseld: Briefwechsel. Hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger. Frankfurt a. M. 1999. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978.
Literatur
Agnese, Barbara: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996. Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach »Malina«: Ingeborg Bachmanns »Simultan«-Erzählungen. Würzburg 1997. Bartsch, Kurt: Geschichtliche Erfahrung in der Prosa von Bachmann. Am Beispiel der Erzählungen Jugend in einer österreichischen Stadt und Unter Mördern und Irren. In: Hans Höller (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Wien/München 1982, 111–124. Bartsch, Kurt: Ein Ort für Zufälle. Bachmanns Büchner-
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25 Künstlerische und journalistische Prosa Meyer-Gosau, Frauke: Einmal muss das Fest ja kommen. Eine Reise zu Ingeborg Bachmann. München 2008. Lennox, Sara: Geschlecht, Rasse und Geschichte in »Der Fall Franza«. In: Text + Kritik (1984), 156–179. Lennox, Sara: Cemetery of the Murdered Daughters. Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. Amherst/Boston MA 2006. Opel, Adolf: Ingeborg Bachmann in Ägypten. »Landschaft, für die Augen gemacht sind«. Fotografiert von KurtMichael Westermann. Wien 1996. Rochus, Gerhild: »Wir sind absolut und ganz im Exil« – Exil als conditio humana in der Essayistik Margarete Susmans. In: Bettina Bannasch/Helga Schreckenberger/Alan E. Steinweis (Hg.): Exil und Shoah. München 2016, 54–72. Schlinsog, Elke: Berliner Zufälle. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Würzburg 2005. Schmidt, Tanja: Beraubung des Eigenen. Zur Darstellung geschichtlicher Erfahrung im Erzählzyklus Simultan von Ingeborg Bachmann [1986]. In: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein
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Bettina Bannasch
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II Das Werk – D Kritische Schriften
26 Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen Das Verständnis der essayistischen Schriften Ingeborg Bachmanns ist angewiesen auf eine besondere Berücksichtigung der Form, die mit ihrer im Anschluss an Theodor W. Adorno und Robert Musil entwickelten Auffassung des Essays einhergeht. Zeugt der Schluss ihrer Dissertation von der grundlegenden Kritik an dem Versuch, die Unzulänglichkeit wissenschaftlicher Begrifflichkeit mit ›Intuition‹ überbieten zu wollen (Bartsch 1988, 19), so dokumentiert Bachmanns Auseinandersetzung mit den Schriften Ludwig Wittgensteins einen Gegenentwurf zu dieser Art des unbestimmten Denkens im bewussten Umgang mit dem Wissen um die Vorbegrifflichkeit der Sprache. Diese Auffassung bestimmt auch Adornos Ausführungen über den »Essay als Form«, auf die Bachmanns literaturkritische Arbeiten und die Frankfurter Vorlesungen immer wieder bezogen worden sind (bes. Świderska 1989, 6–8). Der Essay, so formuliert Adorno, zeugt »vom Überschuß der Intention über die Sache und damit jener Utopie, welche in der Gliederung der Welt nach Ewigem und Vergänglichem abgewehrt ist. Im emphatischen Essay entledigt sich der Gedanke der traditionellen Idee von Wahrheit« (Adorno 1958, 25). Dieser sprachphilosophische Ansatz Adornos und seine Betonung der utopischen Qualität des Essays bestimmen Bachmanns Auffassung maßgeblich. Die Bezugnahme auf sein Utopieverständnis bleibt für Bachmann zentral, andere philosophische Entwürfe – insbesondere Ernst Bloch (Mechtenberg 1978, 17 f.) – treten dahinter zurück. Auch zum Beschluss ihrer dritten Vorlesung bezieht sich Bachmann mit der Formulierung vom Ich in der Literatur als dem »Platzhalter« der menschlichen Stimme (KS, 306; W 4, 237; vgl. Gutjahr 1993, 308) auf Adorno, der – allerdings in anderer Akzentuierung – vom »Künstler [...] als Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts« (Adorno 1958, 195) spricht. Neben Adorno erweist sich der Einfluss Robert Musils und seiner Konzeption einer ›essayistischen Existenz‹, wie er sie in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften entwickelt (Bartsch 1988, 24), als mindestens ebenso wesentlich; ausführlich bezieht sich Bachmann in der letzten ihrer Frankfurter Vorlesungen über »Literatur als Utopie« auf Musil. Im Mann ohne Eigenschaften gibt Musil seine Definition des Essays als »die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Ge-
danken annimmt« (Musil 1978, 253). Bis ins Spätwerk teilt Bachmann die hier von Musil formulierte Auffassung, dass Leben und Werk eng aufeinander zu beziehen sind. Dabei geht es ihr keineswegs um eine biographistische Spurensuche, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit den Werken der von ihr behandelten Autorinnen und Autoren als deren ›geistige Autobiographien‹ – so wie sie selbst den Roman Malina als ihre eigene »geistige, imaginäre Autobiographie« (GuI, 73) ausgewiesen hatte. Ihre Radio-Essays wurden in diesem Sinne beispielhaft herangezogen, um »die postmoderne Auflösung der traditionellen Abgrenzung theoretischer und literarischer Texte zu veranschaulichen« (Bognár 2017, 180).
Literaturkritik der 1950er Jahre (1): Frühe Rezensionen, Kafka, Musil Die Buchbesprechungen, die Bachmann im Januar, August und Dezember 1952 sowie im Januar 1953 für Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur vorlegt, zeigen, dass sie der Frage nach den Möglichkeiten eines Schreibens nach Auschwitz nicht nur im Hinblick auf die eigenen Arbeiten, sondern auch in ihrer Beurteilung der Werke anderer Autoren einen zentralen Stellenwert zumisst. Lebenshaltungen und Werke, die von dem Wissen um Auschwitz unberührt scheinen, kennzeichnet Bachmann als von ihrer Zeit überholt (s. auch Kap. 28). In ihrer ersten Rezension zu José Orabuenas Kindheit in Cordoba (1951) ist es die Rede von der »Behaglichkeit«, die Bachmann nicht mehr gelten lassen kann. Wo, so argumentiert sie, die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit so tief empfunden wird wie in der Nachkriegszeit, ist der Versuch einer Vermittlung zwischen diesen beiden ›Zeiten‹ notwendig. Die Geste behaglichen Zurücklehnens dagegen, wie Orabuena sie vorführt, erscheint deplatziert. »Daß die klaffenden Risse in der Welt und die Einbrüche aus dunklen Bezirken, die ernste Stellungnahme erfordern, mit einer kindlichen Geste des Vertrauens geschlossen werden, kann nicht mehr unsere Sache sein. [...] Die Vorstellung, ›religiöses Behagen‹ zu empfinden, muß heute Unbehagen auslösen, wie denn das Wort ›Behagen‹ überhaupt aus unserem Vokabular gestrichen worden ist« (KS, 12; W 4, 311). Die zweite Rezension stellt Werken wie dem Orabuenas mit Heinrich Böll das positive Beispiel einer ›zeitgemäßen‹ Nachkriegsliteratur gegenüber. Bachmann nimmt in ihrer Rezension Bölls Roman Der Zug
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_26
26 Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen
war pünktlich (1949) zum Anlass, um ihre Auffassung von einem Schreiben zu skizzieren, das aus der Sache selbst seine Wahrhaftigkeit bezieht, eine Wahrhaftigkeit, die sich im »Stil« artikuliert. Das »Fehlen einer einheitlichen stilistischen Durchformung« begreift Bachmann als eine charakteristische Stärke des Romans: »Wo jedoch die Unsicherheit der Hand des Schreibenden von der Sicherheit des zu Schreibenden mitgerissen wird, entsteht so etwas wie Stil« (KS, 15). Zum Zeitpunkt der Entstehung der Rezension war Bachmann bereits persönlich mit Böll bekannt, für die 1950er Jahre ist ihr enger Austausch mit ihm dokumentiert (Kommentar in KS, 541). In ihrer Rezension hebt sie hervor, dass es sich bei den Romanen Bölls – obgleich sie den Krieg und das Kriegsende zum Gegenstand haben – nicht eigentlich um »Kriegsbücher« handle, »denn der Krieg ist ihm nur Anlaß zur Prüfung des Menschen; sie [die Bücher] sind unpolitisch, denn die historische Zeit ist reduziert auf die Zeit des einzelnen« (KS, 14). Bereits in diesem frühen Text findet sich somit die Unterscheidung zwischen der ›großen Geschichte‹ und der Geschichte des Einzelnen, die im Spätwerk, insbesondere im Franza-Fragment, zentral werden wird. Auch die folgende Besprechung von zwei im Jahr 1952 erschienenen Romanen – Thea Sternheims Sackgassen und Horst Langes Ein Schwert zwischen uns – knüpft hier an. Bachmann bezeichnet Thea Sternheim ebenso wie Böll als exemplarische Vertreterin einer Generation, der die Schuld an zwei großen Kriegen zugeschrieben wird, der es jedoch gelingt – und darin unterscheiden sich Sternheim und Böll bei aller Verschiedenheit von Orabuena –, die Kluft zwischen den Zeiten zu überbrücken. Bezogen auf den Roman Thea Sternheims formuliert Bachmann: »Ihr geistiges, religiöses und politisches Abenteuer wird sichtbar und macht das Folgende verständlich« (KS, 16). Die Gottessuche, die Bachmann Sternheim attestiert, grenzt sie scharf ab von der »verengte[n] Fortsetzung«, die diese durch Lange erfährt. Dessen Roman Ein Schwert zwischen uns erscheint Bachmann zwar überzeugend in der Erzählweise, in seinem für den Magischen Realismus charakteristischen Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit. Seine Schwäche sieht Bachmann in der Handlungsführung. Auch hier erkennt sie wieder eine Kluft zwischen den »Gespenster[n] der jüngsten Vergangenheit« und jenen der »älteren, schon präzisierten, erzieherischen von vorgestern« (KS, 16 f.). Als nicht weniger unzeitgemäß charakterisiert Bachmann schließlich in ihrer vierten und letzten Rezension für Wort und Wahrheit die Neuauflage der
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Dichtungen Alfred Momberts aus einer Anthologie mit dem Titel Der himmlische Zecher (1909). Das Unzeitgemäße des wiederaufgelegten Werks erläutert sie zum einen im Hinblick auf die Lesenden, die nicht mehr hinter die Erfahrung von Auschwitz zurückgehen können; zum anderen im Hinblick auf den Autor Mombert selbst, dessen im Anschluss an Nietzsche und George entwickelte Geniekonzeption schließlich von der eigenen Lebenswirklichkeit und seinem notwendig gewordenen Rückzug ins Exil eingeholt wurde. »Auf der Flucht aus der Zeit ist wieder ein Werk von der Zeit überholt worden: die ›Traum-Himmel‹ und ›Äther-Gewölbe‹ sind zusammengestürzt, und es zeigt sich, daß auch Dichter, die den Schöpferthron einzunehmen meinten, fallen können – ›in die Donnerhallen des Lebens‹ ...« (KS, 19; W 4, 315). Die hier geäußerten, mit ihrer gefährlichen Nähe zum nationalsozialistischen Verständnis des ›Herrenmenschen‹ begründeten Vorbehalte gegen jede Art einer ›übermenschlichen‹ Geniekonzeption in der Kunst wird Bachmann in ihrer zweiten Frankfurter Vorlesung an einer Reihe weiterer beispielhaft genannter Autoren und Künstlergruppen konkretisieren und ausführen. Bachmanns kleiner, für zwei Sprecher eingerichteter Radiobeitrag über Franz Kafkas Romanfragment Amerika hingegen, der im Dezember 1953 vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wird, lässt nicht nur ihre Bewunderung für das Werk erkennen, sondern auch – wie in allen ihren größeren literaturkritischen Arbeiten – die Nähe des eigenen Werks zum jeweils besprochenen. Gegen die undurchdringlichen Verhältnisse, denen sich Kafkas Protagonist ausgeliefert sieht, stellt Bachmann die Klarheit der Sprache Kafkas und die literarische Form der komischen Groteske. »Freilich will es gelegentlich scheinen, als beruhe der Eindruck des Humorvollen, des manchmal geradezu Harmlosen auf einer optischen Täuschung. Die verwirrte Welt, in der sich Karl Roßmann befindet, ist nicht weniger grauenerregend, nicht weniger feindselig als alle anderen Welten, die Kafkas magische Phantasie je ersann« (KS, 90; W 4, 316 f.). In ihrer Büchnerpreisrede wird Bachmann sich ebenfalls für die Form der Groteske entscheiden, nun jedoch das umgekehrte Verfahren wählen, wenn sie das scheinbar Harmlose als eine ›optische Täuschung‹ zur Darstellung bringt. Von einer die Romanhandlung grundierenden Leid- und Schmerzerfahrung einerseits und dem utopischen Gehalt des Romans andererseits geht Bachmann auch in ihrer Deutung des Manns ohne Eigenschaften aus. Das Gewicht ihres ersten Kurzbeitrags zu
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II Das Werk – D Kritische Schriften
Robert Musil, der anlässlich der 1952 von Adolf Frisé herausgegebenen Ausgabe des Romans als einer von drei Beiträgen in der Zeitschrift Akzente im Februar 1954 erscheint, liegt dabei auf der Erläuterung des Musilschen Utopieverständnisses. Bachmann markiert diese Akzentuierung bereits durch die Überschrift ihres Essays: Ins tausendjährige Reich. »Der Rückgriff des Manns ohne Eigenschaften«, so führt sie in ihrem Beitrag erläuternd aus, »auf die Idee vom tausendjährigen Reich, sein Verlangen nach dem ›anderen Zustand‹ der unio mystica, ist weniger befremdend, wenn man sie mit Musil als eine mögliche Utopie begreift und die Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung vor Augen hat« (KS, 98 f.; W 4, 27). Bachmann deutet die nachgelassenen Romanentwürfe des Manns ohne Eigenschaften, die über die Erfüllung der Liebesutopie und über die getrennte Fortsetzung der Lebensläufe von Ulrich und Agathe berichten, als das Scheitern der Geschwister an der Unmöglichkeit, ekstatische Liebe auf Dauer zu stellen. Der Austritt aus der Ordnung – so entwickelt es Bachmann auch in ihrem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und in der Rede zur Verleihung des Kriegsblindenpreises – ist nicht möglich. Die in der einsamen ekstatischen Erfahrung gewonnene ›Moral vor jeder Moral‹ (Musil) muss vielmehr mit der Moral der Gesellschaft vermittelt werden. Sehr viel ausführlicher kann Bachmann diese Überlegungen in ihrem längeren, im Frühjahr 1954 entstandenen (vgl. Weigel 1999, 203; KS, 553) und für vier Sprecher eingerichteten Radioessay darlegen. Nicht nur der ironische und satirische Gehalt des Manns ohne Eigenschaften rückt nun stärker in den Vordergrund, sondern auch ein wesentlicher Strang der Gesamtkonzeption des Romans, die ›Parallelaktion‹, die die Romanhandlung auf den Krieg zulaufen lässt. Die einzelnen (Männer-)Figuren werden von Bachmann als Akteure der Parallelaktion charakterisiert und den Hörern vorgestellt. Die Funktion der Frauenfiguren hingegen, die in ihrem Verhältnis zu Ulrich verschiedene Möglichkeiten und Qualitäten von Liebesverhältnissen durchspielen (vgl. Pekar 1989), wird von Bachmann vernachlässigt. Ihr Interesse gilt nicht so sehr der Genese der Liebesgeschichte zwischen Ulrich und Agathe als dem Verhältnis der »letzten Liebesgeschichte« zum Krieg, den sie als das »umfassende Problem des Romans« versteht (KS, 121; W 4, 101). Es kommt Bachmann in ihrer Deutung darauf an, die ›Moral vor aller Moral‹, die von den Liebenden erfahren wird, mit der gesellschaftlichen Moral vermittelt zu finden. »Wir haben«, so zitiert sie Musil, »nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele,
sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele« (KS, 116; W 4, 95). Bachmanns Auseinandersetzung mit Musils Werk, von der auch die zwischen 1955 und 1958 entstandenen Rundfunkbearbeitungen zweier seiner Dramen zeugt – Die Schwärmer und Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer –, schlägt sich in einer Fülle von impliziten Verweisen und expliziten Zitaten nieder. Sie durchziehen das gesamte Werk von den Kurzprosatexten (Die blinden Passagiere), den Frankfurter Vorlesungen und den frühen Erzählungen – und hier besonders der Titelerzählung Das dreißigste Jahr – über die Eingangspassage der Büchnerpreisrede (Höller 1987, 209) bis hin zur Konzeption des Geschwisterpaares Franza und Martin in Das Buch Franza (Bannasch 1997, 164 f.) und zur aufgespaltenen Erzählerposition in ein Ich und einen ›unverständigen‹ Malina in Malina (Rußegger 1993, 324 f.). Wie Musil so bestimmt auch Bachmann ihren Utopiebegriff als einen immer wieder neu herzustellenden ›Richtungsbegriff‹. »Dieses utopische Richtungnehmen ist für Bachmann eine, ja die entscheidende Funktion von Literatur« (Bartsch 1988, 29). Barbara Agnese (1996) kann in ihrer Arbeit über das »philosophische Vermächtnis« der Autorin zeigen, dass sich eine Reihe von Musilschen Formulierungen in den Frankfurter Vorlesungen wiederfinden, ohne dass Bachmann eigens – wie in der fünften Vorlesung – explizit auf Musil verwiese. So etwa die Formulierung vom »lebendige[n] Urteil«, das dem »objektiven« gegenübergestellt wird (KS, 333; W 4, 259), von der schlechten Sprache des Lebens, die gegen die der Literatur ausgespielt wird (KS, 344 f.; W 4, 268), bis hin zur utopischen Existenz des Schreibenden (Agnese 1996, 105 f.).
Literaturkritik der 1950er Jahre (2): Weil, Proust, Entwürfe Bachmanns auf den Spuren von Wittgenstein und Musil unternommene Suche nach einer Metaphysik, die den »Heilige[n] mit und ohne Religion« (Musil 1978, 254) gerecht wird, führt sie zu den Schriften der französischen Philosophin Simone Weil. In ihrem Radiobeitrag Das Unglück und die Gottesliebe – der Weg Simone Weils, der 1955 vom Bayerischen Rundfunk gesendet wird, beschreibt Bachmann Leben und Werk Weils als die Vita einer modernen Heiligen. Sie schildert Weils soziales und politisches Engagement als hervorgegangen aus einer Anteilnahme, die keine Grenze zwischen dem Leiden anderer und dem eige-
26 Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen
nen Ich zu ziehen vermag. Das Leben der Philosophin, die das Leben einer Fabrikarbeiterin führt, geht, so zeigt Bachmann Weil zitierend, vollkommen in der Gegenwart auf, »›denn ich hatte meine Vergangenheit wirklich vergessen und ich erwartete keine Zukunft mehr, da mir die Möglichkeit, diese Erschöpfungszustände zu überleben, kaum vorstellbar erschien‹« (KS, 186 W 4, 155). Umgekehrt formuliert Weil das Vergessen von Vergangenheit und Zukunft nicht nur als die Folge, sondern auch als die entscheidende Voraussetzung, um die »heilsame Wirkung des Unglücks« (KS, 178; W 4, 149) erfahren zu können. Die Heilsamkeit dieses Unglücks liege in dem Weg der ›negativen Utopie‹, für den sich Weil entscheidet: »dieser unendliche Abstand, den sie durch die Annahme des äußersten ›Unglücks‹ gebracht wird, soll es ihr möglich machen, Gott nicht als Individuum, als Persönlichkeit negierend, zweifelnd oder glaubend gegenüberzustehen, sondern als ausgelöschte und nackte Existenz die Gnade zu erfahren. So wird uns also, unter den Händen, ihr vielseitiges und vielschichtiges Werk zum Zeugnis reiner Mystik, vielleicht dem einzigen, das wir seit dem Mittelalter erhalten haben« (KS, 177; W 4, 147). Unter Bezugnahme auf Weils Formulierung von den Menschen, die ›Poesie wie Brot‹ benötigen (KS, 172 f.; W 4, 143), wählt Bachmann in der Schlusspassage der ersten Frankfurter Vorlesung das Bild des Schläfers, der von den literarischen Werken geweckt werden möchte: »Poesie wie Brot? Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen« (KS, 268; W 4, 197 f.). Ebenso wie die Simone Weil des Radioessays sind auch die Protagonistin des Franza-Fragments, das Ich in Malina und Miranda in der Erzählung Ihr glücklichen Augen nicht in der Lage, sich von den Leiden ihrer Mitmenschen abzugrenzen. Spezifischer jedoch als diese Unfähigkeit zur Grenzziehung ist Bachmanns Interesse an Weils Leben als einem, das in der unbedingten Gegenwart geführt wird; das Ich in Bachmanns Roman Malina wird in dieser unbedingten Gegenwart des »Heute« leben. Wie Weil wird es sich den »letzten Dinge[n]« (KS, 156; W 4, 129) zuwenden und an der Unbedingtheit seines Denkens und der mit seinem Denken unauflöslich verschränkten Lebensführung zugrunde gehen. Der Entwurf zu einem kleinen [Beitrag zum 80. Geburtstag von Rudolf Alexander Schröder] (1957) ist ei-
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ne Gelegenheitsarbeit, zu der Bachmann vom Suhrkamp-Verlag aufgefordert wurde, der eine durch junge Lyriker zusammengestellte Auswahl von Gedichten Schröders veröffentlichen wollte. Bachmann würdigt Schröder, indem sie ihr inniges Verhältnis zu zwei von ihm verfassten Gedichtzeilen beschreibt, die bei ihr nach der Lektüre der Geistlichen Gedichte »vor Jahren [...] hängen geblieben« sind und sich seither zuverlässig einstellten, »wenn ich ihrer bedurfte«. Es handelt sich um die Anfangszeilen des Gedichts Im Schatten: »Noch keine Schwelle, keine Spur; / Und doch ist alles Spur und Schwelle« (KS, 216). Die hier skizzierte emphatische Aneignung einiger weniger Zeilen und Sätze, auf die Bachmann in den Werken anderer Autorinnen und Autoren stößt, beschreibt sie auch in den Frankfurter Vorlesungen. Dort fasst sie ihre Wertschätzung in den Wunsch, selbst gern die zitierten Worte gefunden zu haben. Er lässt sich nicht zuletzt als Ausdruck der sehr persönlichen Dimension verstehen, die Bachmann der spezifischen Fassungskraft der in den Werken anderer aufgefundenen Worte für ihr eigenes Denken und Schreiben zumisst. Bachmanns Proust-Lektüre, die sie in ihrem Radioessay Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium vom 13.5.1958 vorstellt, erzählt die Handlung des Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–27) als eine neuartige Darstellung von Liebe und ihrer »Kristallisation« (KS, 226; W 4, 163), die schließlich auf den Krieg zuläuft. Bereits in diesem Radioessay fokussiert Bachmann Prousts Roman auf Themen, die in ihrem literarischen Werk bedeutsam werden: die Darstellung der ›großen Geschichte‹ in der individuellen ›kleinen Geschichte‹, die Metaphorik des Krieges und die Spiegelung des Krieges in der Sprache und schließlich die Krise der Erfahrung bzw. die Genese des Kunstwerks aus der leidvollen Erfahrung. Die Momente von Glück, die der Roman schildert, beschreibt sie als mystische Versenkungen. So charakterisiert Bachmann Proust zwar als »Positivist und Mystiker, für den nur die Welt der Kunst absolut war und der sich aus der Gefangenschaft hier keinen Ausblick und keine Hoffnung erlaubte«, doch sie schließt mit der Zitation einer Auferstehungsszene, in der »Bücher wie Engel mit entfalteten Flügeln« als ein »Symbol der Auferstehung« ihres Autors erscheinen (KS, 241; W 4, 180). Sigrid Weigel konstatiert, »daß die Klammer von Bachmanns Proust-Lektüre durch den Zusammenhang zwischen dem ›grausamen Gesetz der Liebe‹ und dem ›grausamen Gesetz der Kunst‹ gebildet wird [...]. Wird dieser Zusammenhang in der Erzählung Undine geht in einer mythischen Figur ver-
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II Das Werk – D Kritische Schriften
körpert, so ist er in Malina konstitutiv für die Erzählkomposition des Romans« (Weigel 1999, 211 f.). Weigel zeigt hier eine wichtige Kontinuität der Bachmannschen Poetologie auf. Sie vernachlässigt allerdings die Schwerpunktverlagerung, welche in der Büchnerpreisrede und in den späten literaturkritischen Arbeiten zutage tritt, in denen das Leiden nicht nur – wie noch in dem Proust-Essay und in den Frankfurter Vorlesungen – dem Schreiben vorgängig, sondern dem Schreiben vorrangig ist. Gerhart R. Kaiser relativiert den zentralen Stellenwert, den Weigel dem Proust-Essay zumisst, nicht zuletzt auch dadurch, dass er auf die (gegenüber dem Proust-Essay) differenzierteren Ausführungen der Frankfurter Vorlesungen hinweist. Bachmanns an Walter Benjamin und Ernst Robert Curtius geschulte Deutung, die sich insbesondere in der engen Verknüpfung von Liebe und Kunst niederschlägt, verkürze die Proustsche Mystik um ihr Eigenstes. Auf die messianische Deutung der glückhaft erlebten Momente beschränkt, entgehe ihr die eigentliche Qualität des Proustschen Mystikverständnisses, die mystische Qualität der »mémoire involontaire« (Kaiser 1993, 333). Bachmanns frühe essayistische Arbeiten – zum Teil nicht länger als ein bis zwei Seiten – spielen Themen durch, die sie in ihren größeren Texten wieder aufnimmt. Sie sind »nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil im Rückblick viele ihrer späteren Positionen hier schon im Ansatz abzulesen sind« (Kommentar in KS, 542) und können daher zur Erläuterung von Einzelfragen herangezogen werden. In dem Text [Wozu Gedichte?] aus dem Jahr 1955 formuliert die Autorin ihr Vertrauen in einen rituellen Sprachgebrauch, der jenseits aller aufklärerischen sprachlichen Entzauberungsarbeit steht und den Lesern »Formeln in ein Gedächtnis legt« (KS, 191; W 4, 303). Der im selben Jahr entstandene Kurzprosatext Was ich in Rom sah und hörte setzt diese Überlegungen literarisch um, die zweite Frankfurter Vorlesung »Über Gedichte« greift sie noch einmal auf. Die Ausführungen, die Bachmann in ihrem undatierten Text [Zur Entstehung des Titels ›In Apulien‹] anstellt, lassen sich unmittelbar auf ihre vierte Frankfurter Vorlesung beziehen, die vom auratischen Strahlen literarischer Namen und Orte handelt. Die in dem kurzen Beitrag formulierte Differenz zwischen den Ortsbezeichnungen der Geographie und den »versunkenen und [...] erträumten« (KS, 187; W 4, 305) Namen in literarischen Texten fließt ein in Bachmanns Überlegungen zum »Umgang mit Namen« und dem »Atlas, den nur die Literatur sich sichtbar macht« (W 4, 259).
In den späten 1950er Jahren und Anfang der 1960er Jahre entstehen eine Reihe kleinere, Fragment gebliebene [Entwürfe zur politischen Sprachkritik]. Bachmann verhandelt darin Themen wie »Milieu und Sprache«. Unter anderem bekennt sie sich hier, ausdrücklicher als zu anderen Gelegenheiten, zu ihrem Verhältnis zum Glauben. »Es ist mir nicht möglich zu glauben: nein. Einfacher: ich glaube nicht, ich vermute nicht, bin daher nicht rettungswürdig, will nicht gerettet werden« (KS, 369). In ihren Notizen zur »Sprache von Mann und Frau« verhandelt Bachmann die Frage nach einer Sprache der Verliebten, dies in einer Weise, die in engem thematischen Zusammenhang mit ihrem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan (1957) steht. Der ekstatische Zustand des Verliebtseins schafft eine eigene Aufmerksamkeit für die sonst überhörte Vielschichtigkeit der Sprache: »es ist keineswegs die Intelligenz der beiden, die sie auf Bedeutungsverschiebungen bringt oder Bedeutungen hervorkehrt, es ist nur ein ausgezeichneter Zustand, in dem halbwegs jedem die Sprache als eine Spielmöglichkeit bewußt wird« (KS, 370). In den Bemerkungen zum Thema »Europa und Marxismus« schließlich formuliert Bachmann ihre frühe Anziehung durch den Marxismus, den sie als »eine wirkliche Idee empfunden« habe, den sie jedoch nie ohne den »Preis für die Verwirklichung« habe sehen können, vor dem sie zurückschreckte (KS, 372). Im September 1961 bittet Hans Werner Richter Ingeborg Bachmann um einen Beitrag für den »für das kommende Jahr geplanten ›Almanach der Gruppe 47‹« (Briegleb 1997, 55; KS, 599). Der unvollendet gebliebene Text liest sich nicht so sehr wie der Bericht über eine wichtige Institution des deutschen Literaturbetriebs in den 1960er Jahren, wie es die Gruppe 47 auch war, als vielmehr wie der Erlebnisbericht einer heiteren Ausflugsfahrt. Den Verweis auf Günter Eich – der in der Gruppe 47 mit seinem von Bachmann eigens erwähnten Hörspiel Träume scharf als ein ›reaktionärer Schriftsteller‹ angegriffen worden war – zeigt jedoch, dass sie sich in ihrem literarischen Urteil nicht dem der Gruppe anschließt. Vielmehr charakterisiert sie Eich als wichtigen Vertreter einer neuen literarischen Richtung, wenn sie anlässlich der Aufführung seines Hörspiels ihr Erstaunen erinnert (KS, 367; W 4, 325). Die ausführliche Darstellung der Lyrik Günter Eichs, die Bachmann in der zweiten Frankfurter Vorlesung unternimmt, kann als ein weiterer Beleg für diese Einschätzung des Eichschen Werks verstanden werden. Der undatierte Entwurf Gedicht an den Leser
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schließlich deckt sich in seinem Bekenntnis zur Sehnsucht des Textes – nicht der Sehnsucht des Dichters! – nach dem Leser mit Überlegungen, wie Bachmann sie ausführlicher in der Kriegsblindenpreisrede und in der Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises vorstellt: Die »unstillbar[e] Liebe« des Textes ist allein auf den Leser gerichtet (KS, 243; W 4, 307) und entzieht sich jedem Versuch einer gesellschaftspolitischen Funktionalisierung.
Literarische Preisreden Im Frühjahr 1958 wird Bachmann für ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden geehrt, der höchsten Auszeichnung, die in Deutschland für Hörspiele vergeben werden kann. Der gute Gott von Manhattan beschreibt den Extremfall von Liebe und ihr Scheitern; die Liebeskonzeption, die Bachmann hier vorstellt, ist angelehnt an Musils Konzeption der asozialen Liebeserfahrung im ›anderen Zustand‹. Ausgehend von ihrem Hörspiel erläutert Bachmann in ihrer Dankesrede die poetologischen Konsequenzen dieser Konzeption eines Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, mit denen sie sich bereits in ihrem Essay über Musils Mann ohne Eigenschaften auseinandergesetzt hatte. In der Kriegsblindenpreisrede geht es ihr nun darum, die Aufgabe des Schriftstellers als eine zu beschreiben, die zwischen dem asozialen Außersichsein des ›anderen Zustands‹ und der Gesellschaft vermittelt. Hierzu wählt Bachmann die durch eine lange philosophische und theologische Tradition eingeführte Metapher von einem äußeren, dem Äußerlichen verhaftet bleibenden Sehen und einem inneren, wahrhaftigen und erkenntnishaften Sehen. »Wir sagen«, so formuliert sie, »sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das alles soll die Kunst zuwege bringen: daß uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen« (KS, 246; W 4, 275). In der nicht nur metaphorischen Rede von der Blindheit des Menschen und vom Aufgehen seiner Augen vor einem Publikum, das überwiegend aus Blinden besteht, verbindet Bachmann die Bezugnahme auf ihre Zuhörer mit ihrer poetologischen Konzeption eines erkenntnishaften Sehens, das sie der die Wahrheit verstellenden, phrasenhaften Alltagssprache entgegenhält.
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Macht Bachmann im Zusammenhang mit der Metaphorik des Sehens Anleihen bei dem »Seher«-Brief Arthur Rimbauds aus dem Jahr 1872, so zeigt jedoch gerade der Blick auf Rimbaud, welche Akzentverschiebung sie in ihrer Auffassung von der Aufgabe des Schriftstellers vornimmt. Während es dort heißt: »Ich sage, es ist notwendig, sich sehend zu machen [...]. Der Poet macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte Entregelung aller Sinne« (Rimbaud 1988, 15), geht es Bachmann gleichermaßen um die Entregelung der Sinne wie um die Rückführung dieser Erfahrung in gesellschaftliche Zusammenhänge. Darüber hinaus wählt Bachmann, im Unterschied zu der genialischen Seherpose Rimbauds, nicht die Ich-, sondern die Wir-Form. In ihrer Beschreibung der schriftstellerischen Tätigkeit wählt sie daher auch folgerichtig nicht die Metapher des Sehers, sondern die des Blinden, der sich allein mit Hilfe seiner taktilen Fähigkeiten in einer ungewissen Umgebung zu orientieren versucht: »Alle Fühler ausgestreckt, tastet er nach der Gestalt der Welt, nach den Zügen der Menschen in dieser Zeit. Wie wird gefühlt und was gedacht und wie gehandelt? Welche sind die Leidenschaften, die Verkümmerungen, die Hoffnungen ...?« (KS, 247; W 4, 276). Zwar ist es der unbedingte Wunsch des Dichters, zu wirken und seine Leser zu erreichen. Dieser Wunsch aber kann, so entwickelt es auch ihr Gedicht an den Leser, nur vermittels des Werks erfolgen; der Schriftsteller als Privatperson – und er kann nichts anderes sein, als eine Privatperson – ist ebenso blind wie die Menschen, an die sich sein Werk richtet. Möglicherweise aber ist es die einsame Arbeitsweise des Dichters – und deren Nähe zum außergesellschaftlichen ›anderen Zustand‹ –, die ihn in besonderer Weise zu seiner Vermittlertätigkeit prädestiniert. Dies zumindest legt Bachmanns 1972 gehaltene Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises (vergeben von der Vereinigung Österreichischer Industrieller) nahe. Mit weitaus größerem Nachdruck als in der Blindenpreisrede und in einer Radikalisierung der Auffassungen, die sie in den Frankfurter Vorlesungen vertreten hatte (Maye 2008, 171), weist sie auch hier jeden Glauben an die Möglichkeit des Schriftstellers, unmittelbar wirken zu können, und an eine durch seine ›Seherschaft‹ herausgehobene gesellschaftliche Position, zurück. Das Besondere, das die Existenz des Autors vor den anderen auszeichnet, die Asozialität seines Schaffens, ist nicht mitteilbar. Mitteilbar sind allein seine Werke, die gelesen werden: Sie sind es, »die die Welt verändern«, wenn es ihnen gelingt, mit »kristallinischen Worte[n]« die Phrasenhaftigkeit der
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Alltagssprache zu zerschreiben (KS, 490; W 4, 296 f.). Dies kann allerdings nur dann gelingen, wenn die Werke Ausdruck eines ›essayistischen‹ Zusammenfalls seines Denkens und Lebens sind, wie Musil ihn gefordert hatte und wie Bachmann ihn insbesondere in ihrem Essay über Simone Weil beschreibt. Die Hoffnung in die Sprache, der Bachmann in ihrer Kriegsblindenpreisrede Ausdruck verliehen hatte, findet sich in der Formulierung von den »kristallinischen Worten« wieder, wenngleich auch deutlich zurückgenommen. Das einst beschworene Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Lesenden jedoch, das es dem Menschen erlaubt, im »Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen« seine Möglichkeiten zu erweitern (KS, 247; W 4, 276), ist so in der späten Rede nicht mehr denkbar. Die mit der Metapher des Spielfelds verbundene Vorstellung eines prozesshaften, wechselseitigen Sich-Aneinander-Abarbeitens ist in Bachmanns Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises dem momenthaften Aufblitzen der »kristallinischen Worte« gewichen, die die Literatur in ihren Sternstunden bereithält. Die Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle (1964), die aufgrund ihrer literarischen Form in Kapitel 25 (»Künstlerische und journalistische Prosa«) behandelt wird, markiert den entscheidenden poetologischen Wendepunkt in dieser Entwicklung.
Die Frankfurter Vorlesungen Im Wintersemester 1959/60 richtet die Universität Frankfurt am Main eine Gastdozentur für Poetik ein, die »einem bedeutenden Dichter oder auch Literaturkritiker jeweils für ein oder zwei Semester die Gelegenheit geben sollte, sich zu den Studierenden in Vorlesungen über eine von ihm selbst zu stellende Frage der zeitgenössischen Literatur theoretisch darstellend zu äußern und sich ihnen in Seminaren an Hand eines bestimmten Gegenstandes im Gespräch zu stellen« (Viebrock 1988, 288). Ingeborg Bachmann, die als erste Dozentin nach Frankfurt berufen wird, versucht diesen Anforderungen gerecht zu werden und setzt zugleich Maßstäbe für die nachfolgenden Autorinnen und Autoren (Schlosser 1988, 295–300). »Die Abgrenzung vom Ästhetizismus, die utopische Wirkungsabsicht, das Begehen unvertrauten Geländes, die Traumdimension der Literatur, die Vorstellung, die eigene Zeit repräsentieren zu müssen, der Versuch, [...] in der Welt nach Auschwitz nicht die Sprache zu verlieren: all diese Aspekte werden in der Folge von
anderen Autorinnen und Autoren aufgegriffen und weitergedacht« (Lützeler 1994, 8 f.). Dem Ausschreibungstext zunächst scheinbar zuwiderlaufend, setzt Bachmann sich in ihren Frankfurter Vorlesungen allerdings nicht mit zeitgenössischen, sondern mit kanonisierten Autoren der klassischen Moderne auseinander. Sie greift ihre in den Radioessays zu den Werken Prousts und Musils begonnenen Überlegungen wieder auf und führt sie weiter. Nur in ihrer zweiten Vorlesung, der Vorlesung »Über Gedichte«, stellt Bachmann – und zwar ausschließlich – die Arbeiten lebender Autoren vor. Damit versucht sie, so ist anzunehmen, selbst zur Kanonisierung von Autorinnen und Autoren beizutragen. Zum Zeitpunkt der Frankfurter Vorlesungen kann sie darauf vertrauen, dass ihr, die bereits mit zwei herausragenden Gedichtbänden einige Berühmtheit erlangt hat, als einer Autorität Gehör geschenkt werden wird. Den vermuteten Erwartungen ihres akademischen Publikums verweigert sich Bachmann gleich zu Beginn der Veranstaltungsreihe programmatisch. Sie macht deutlich, dass sich ihre Vorlesungen grundlegend von herkömmlichen unterscheiden werden, in denen »die Rettungsringe bereit gemacht [sind] – einfühlsame Interpretation, Historismus, Formalismus, sozialistischer Realismus« usw. (KS, 254 f.; W 4, 183 f.). Bachmann formuliert damit ihren grundsätzlichen Einwand gegen eine Form von Wissenschaft, die nur mehr um sich selbst kreist und den Bezug zur Wirklichkeit aus den Augen verloren hat. Was sie von ihrem diskurserprobten Publikum einfordert, ist eine neue Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Literatur und ihren Wirkungsmöglichkeiten. Der neopositivistische Begriff der »Scheinfragen« (Świderska 1989, 40), den Bachmann in den Titel ihrer ersten Vorlesung aufnimmt, und die »forciert[e] Vielstimmigkeit« (Wilke 2007, 158) ihrer Vorlesungen weisen dieses Bemühen als ein programmatisches aus. Das Misstrauen, das Bachmann gegenüber Wissenschaft und Theorie formuliert, richtet sich dabei nicht gegen das theoretische Denken an sich, es gilt vielmehr »einem Finalismus, der ihrer Vorstellung von Literatur als Utopie den Weg versperrt« (Bognár 2017, 201). In der zweiten Vorlesung begründet Bachmann ihre Absage an eine ästhetizistische Kunstausübung und wendet sich – im Anschluss an Roland Barthes, wie Weigel vermutet (Weigel 1984, 64 f.) – dezidiert von jeder Form der Genieästhetik ab. Die ›reinen Kunsthimmel‹ des George-Kreises erscheinen ihr dabei ebenso problematisch wie die l’art pour l’art-Bewegungen des Surrealismus und des Futurismus. Wie schon in der
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Buchkritik zu Momberts Der himmlische Zecher bestimmt auch hier die gefährliche Nähe des Genies zum ›Herrenmenschen‹ der nationalsozialistischen Ideologie Bachmanns Argumentation. »Halten Sie mich nicht für allzu engstirnig, daß ich darauf beharre, auf Schuldfragen in der Kunst, und daß ich sie derart in den Vordergrund rücke. [...] Ich halte es für durchaus nicht zufällig, daß Gottfried Benn und Ezra Pound [...], daß es für jene beiden Dichter [...] nur ein Schritt war aus dem reinen Kunsthimmel zur Anbiederung mit der Barbarei« (KS, 277; W 4, 206). Dass Bachmann sich der Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Moral ausgerechnet in ihrer zweiten Vorlesung über Gedichte – über jene Gattung also, die gemeinhin als ›apolitisch‹ gilt – zuwendet, ist bedeutsam vor dem Hintergrund von Adornos Diktum, nach Auschwitz könne kein Gedicht mehr geschrieben werden (Adorno 1998, 30). Es macht die Voraussetzung deutlich, unter der die bis zu diesem Zeitpunkt als Lyrikerin in Erscheinung getretene Autorin in den Frankfurter Vorlesungen über Literatur spricht: Auch die lyrische Sprache muss sich angesichts dieser Erfahrungen vom Leiden herschreiben und die Lesenden verstören. Kafka zitierend, fordert Bachmann: »Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich« (KS, 280; W 4, 211). Im Unterschied zur Literatur vor 1945 aber muss die Leidensgenese von Literatur nun auch als eine ethische Forderung formuliert werden (Wohlleben 2005, 92). Bachmanns Rede vom ›inwendigen Fassungsvermögen‹ (KS, 271 f.; W 4, 200), das sie dem Gedicht zuschreibt, ist einer jener Begriffe, die in den Frankfurter Vorlesungen helfen sollen, das schwierige Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur genauer zu beschreiben. Gedichte, so heißt es in der zweiten Vorlesung, können nicht übersetzt werden, denn: »Wo sie neue Fassungskraft haben, ist die so inwendig in der jeweiligen Sprache und manifestiert sich nicht auch im Auswendigen, wie in Romanen, in Theaterstücken« (KS, 271 f.; W 4, 200 f.). Die dichterische Sprache erweitert die Möglichkeiten des Menschen, sich anderen, allererst aber sich selbst verständlich zu machen und seine Erfahrungen in Sprache zu übersetzen. In seinen Ausführungen zu den Frankfurter Vorlesungen, die ihren Schwerpunkt auf die zweite Vorlesung legen, spricht Larcati von einem »Pathos des Dialogischen« (Larcati 2006, 248), das Bachmann in Orientierung an Celans Meridian-Rede (ebd., 208) und in polemischer Abgrenzung zum monologischen Kunstverständnis Gottfried Benns entfaltet (ebd., 223, 230); es findet sich so auch in der KriegsblindenpreisRede. Dabei rückt die zentrale Bedeutung des Dialogi-
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schen die häufig missverstandene Auffassung von der ›Hermetik‹ des Bachmannschen Werks in ein anderes Licht. »Gehört aber zur schriftstellerischen Sprache wesentlich die innovative Signatur, aus der allein heraus die Fassungskraft des Wirklichen begründet werden kann, und heißt ferner Innovation [...], dass das Innovative von den überschrittenen Regeln aus nicht verständlich zu machen ist, dann ist die ideale schriftstellerischen Sprache notwendig hermetisch: [...] verbunden mit einem Deutungsimperativ, den erst eine noch zu konstituierende Sprechergemeinschaft einlösen kann« (ebd., 214). Im (Prosa-)Spätwerk kann der inwendigen Bedrängnis allerdings nicht mehr mit ›dem Wort‹ begegnet werden. Nur mehr in einer ›auswendigen Umschreibung‹ kann auf sie verwiesen werden. Dennoch ist die Sprachskepsis des Spätwerks in der Unterscheidung der Frankfurter Vorlesungen zwischen der ›inwendigen Sprache‹ der Lyrik und der ›auswendigen Sprache‹ der Prosa vorbereitet. In ihrer dritten Vorlesung führt Bachmann diese Überlegungen im Hinblick auf die Prosa – ganz überwiegend auf den modernen Roman bezogen – weiter aus. Obgleich sie in den Frankfurter Vorlesungen auf einige Theatertexte, insbesondere auf die Becketts, Bezug nimmt, interessiert sie das Drama als eine eigene Gattung offenkundig kaum. Vor dem Hintergrund der Sprachproblematik ist in diesem Zusammenhang allein die Differenz zwischen der Lyrik als dem Sinnbild einer ›anderen Sprache‹ und allen übrigen Gattungen und Textsorten entscheidend. Die dritte Vorlesung widmet Bachmann dem Verhältnis des seiner selbst ungewiss gewordenen Ich zur Geschichte, so wie es sich in der Literatur der Moderne niederschlägt. »Die erste Veränderung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält. Das heißt: nur so lange das Ich selber unbefragt blieb, solange man ihm zutraute, daß es seine Geschichte zu erzählen verstünde, war auch die Geschichte von ihm garantiert und war es selbst als Person mitgarantiert« (KS, 299; W 4, 230). Die Erzählung Das dreißigste Jahr spielt diese Problematik der Ich-Identität durch, wenn sie den grundlegenden Zweifeln an einem zusammenhängenden, mit sich selbst identischen Ich Ausdruck verleiht. Diesen Reflexionen entspricht die rhetorische Gestaltung der Frankfurter Vorlesungen insgesamt: »Die Rednerin changiert zwischen der Position des Wir, des Ich und des Schriftstellers. Sie zählt sich also zu denen, die in der Sprache verfangen sind, sie ist diejenige, welche in der Redeposition diese Verfangenheit reflektiert, und sie entfaltet zugleich die
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Möglichkeit eines dichterischen Sprachzugangs« (Gutjahr 1993, 303). Die Frage der Geschlechtszugehörigkeit spielt bei der Behandlung der Ich-Problematik in den Frankfurter Vorlesungen noch keine Rolle (vgl. von der Lühe 1989, 581). In einigen Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr kommt dieser Frage hingegen bereits ein ganz entscheidendes Gewicht zu, insbesondere in Ein Schritt nach Gomorrha und Undine geht. Es lässt sich daher vermuten, dass Bachmann die Differenz zwischen weiblichem und männlichem Ich in ihren poetischen Texten zwar für darstellungswürdig hielt, sie zu diesem Zeitpunkt für ihre poetologischen Erwägungen jedoch als noch nicht wesentlich erachtete. Erst in den Fragmenten des unvollendeten Franza-Romans wird Bachmann das (Er-)Finden der männlichen Erzählerfigur ebenso mit der Geschlechter- wie mit der Krankheitsthematik verknüpfen. Bleibt die Frage nach der Erzählperspektive bis ins Spätwerk hinein virulent, so ist jene nach den spezifisch dichterischen Möglichkeiten der Sprache eher Kennzeichen der frühen poetologischen Arbeiten. Die Überlegungen, die Bachmann in diesem Zusammenhang in den Frankfurter Vorlesungen anstellt, belegen den entscheidenden Eindruck, den die Walter Benjamin-Lektüre in ihrem Werk hinterlassen hat. Dies gilt insbesondere für die vierte der Frankfurter Vorlesungen, in der Bachmann auf ähnliche Weise wie in ihrem kurzen Text [Zur Entstehung des Titels ›In Apulien‹] über das auratische Strahlen von Namen und Orten in der Literatur spricht. »Weil der Dichtung in Glücksfällen Namen gelungen sind und die Taufe möglich war, ist für Schriftsteller das Namensproblem und die Namensfrage etwas sehr Bewegendes, und zwar nicht nur in bezug auf Gestalten, sondern auch auf Orte, auf Straßen, die auf dieser außerordentlichen Landkarte eingetragen werden müssen, in diesen Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht« (KS, 313; W 4, 239). Entsprechend hatte Benjamin in seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zur Natur des Namens formuliert: »Der Name ist dasjenige, durch das sich nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mitteilung die Sprache selbst in ihrer absoluten Ganzheit ist, da allein gibt es den Namen, und da gibt es den Namen allein« (Benjamin 1977, 144). Tanja Schmidt (1989) hat im Hinblick auf Bachmanns Spätwerk erstmals auf die Spuren der Benjamin-Lektüre aufmerksam gemacht, die seither bis ins Frühwerk zurückverfolgt worden sind (vgl. Weigel 1999). Als die kunstvol-
le Inszenierung der gegebenen Sprache erhält die Literatur – sinnbildlich in der lyrischen Sprache – für die ›eigentliche Sprache‹ Statthalterfunktion. Hierin knüpft Bachmann wiederum an Adorno an (Świderska 1989; Gutjahr 1993), den sie in der Zeit ihrer Vorlesungsreihe in Frankfurt auch persönlich kennenlernt. Zugleich schlägt sie den Bogen zurück zu ihrer ersten Vorlesung, in der sie auf dem Zusammenhang von Wirklichkeit und Literatur, auf der Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Literatur so nachdrücklich bestanden hatte. Sie erweitert Adornos gesellschaftspolitisch akzentuierte Rede vom Künstler als dem »Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts« (Adorno 1958, 194) um eine literarische Dimension. Im Anschluss an Musils ›essayistische Existenz‹ entwickelt sie einen Begriff von Utopie, der in den Frankfurter Vorlesungen poetische und poetologische Rede solcherart miteinander verknüpft, dass eine moralische Tendenz im Sinne der Musilschen Utopie der ›induktiven Gesinnung‹ erkennbar wird, »ein um Erkenntnis ringendes Denken; auch die Realität ist nur als eine Richtung zu bezeichnen und nur durch Sprache erreichbar« (Świderska 1989, 41; vgl. Bartsch 1988, 24–31). Die Frankfurter Vorlesungen markieren Bachmanns stärkere Hinwendung zur Prosa; nach 1960 hat Bachmann nur noch wenige Gedichte veröffentlicht. Diese Entscheidung für die Prosa ist verstanden worden als ein Versuch, die Gefahr einer ästhetizistischen Kunstauffassung zu meiden, die in der »zur Perfektion getriebenen lyrischen Sprache« liege (Bürger 1984, 19 f.). Die positiven Beispiele aus der zeitgenössischen Lyrik, die Bachmann gerade in ihrer zweiten Vorlesung gegen einen solchen Ästhetizismus anführt, und ihr eigener Neuansatz im lyrischen Spätwerk (s. Kap. 9) zeigen jedoch, dass diese um Vereindeutigung bemühte Auffassung zu kurz greift. Eine grundsätzliche Abkehr von der utopischen Qualität der lyrischen Sprache findet sich – wie es ihre Rede zur Verleihung des AntonWildgans-Preises ein letztes Mal eindrücklich belegt – in Bachmanns poetologischem Werk nicht. In der Forschung sind die Frankfurter Vorlesungen zumeist nicht als ein zusammenhängender Text betrachtet, sondern für die Klärung einzelner Fragestellungen herangezogen worden. Einer solchen Betrachtungsweise erschließen sich jedoch weder der Aufbau und die Rhetorik der Frankfurter Vorlesungen – also ihre poetische Qualität – noch ihre Bedeutsamkeit als eigenständiger Beitrag über die Literatur des 20. Jahrhunderts. Irmela von der Lühes (1989) und Ortrud Gutjahrs (1993) Darstellungen hingegen würdigen die
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fünf Texte als zusammengehörige und stellen dabei das Moment des Inszenatorischen und Rhetorischen ins Zentrum ihrer Ausführungen. Beide Deutungen lesen die Frankfurter Vorlesungen als einen kunstvollen, auf seine eigene Deutungsbedürftigkeit aufmerksam machenden, poetischen Text. Ergänzend sollten Bachmanns Frankfurter Vorlesungen jedoch ebenso in ihrer literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Qualität gewürdigt werden. Denn sie präsentieren sich allererst nicht als interpretationsbedürftige, sondern als interpretierende, erfolgreich um Allgemeinverständlichkeit bemühte Ausführungen zu grundlegenden Fragen der Literaturwissenschaft. Bachmanns Frankfurter Vorlesungen bieten damit auch eine beispielhaft betriebene Literaturwissenschaft und -didaxe. Denn Bachmanns Verweigerungshaltung zu Beginn der Frankfurter Vorlesungen gilt nicht der Wissenschaft schlechthin, sondern einer sich als ›avanciert‹ verstehenden Wissenschaftspraxis, die nicht nur gern vom ›Tod des Autors‹ spricht, sondern sich auch vorzugsweise mit toten Autoren beschäftigt. Demgegenüber zeigt Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen eine Form der Literaturbetrachtung auf, die auf der ›Lebendigkeit‹ von toten wie lebenden Autoren besteht, auf ihren Erfahrungen, ihrem Leiden und ihren ›Stürzen ins Schweigen‹ – und die sich damit zugleich gegen die zynische Verabschiedung wendet, die in der Rede vom ›Tod des Autors‹ stets mit enthalten ist.
Literaturkritik der 1960er Jahre Bachmanns späte literaturkritische Essays über Witold Gombrowicz, Georg Groddeck, Leo Lipski, Sylvia Plath, Thomas Bernhard, Guiseppe Ungaretti und Bertolt Brecht entstehen in der Zeit zwischen Ende 1966 und 1970. Sie bleiben zu Lebzeiten unveröffentlicht, obgleich zwei größere Essays – der über Groddeck anlässlich der Neuauflage seiner Schriften Das Buch vom Es (1962), Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst (1964) und Psychoanalytische Schriften zur Psychosomatik (1966) und der über Lipskis Roman Piotruš (deutsch 1967) – ursprünglich zur Veröffentlichung vorgesehen waren, aus unbekannten Gründen jedoch nicht fertiggestellt wurden (vgl. Kommentar in KS, 430–449). In ihren Spätschriften folgt Bachmann dem in Ein Ort für Zufälle beschriebenen ›Umweg‹ der Kunst über die Kunstlosigkeit, wenn sie ihre literaturkritischen Betrachtungen immer wieder auf außerliterarische Kriterien zulaufen lässt. So formuliert sie etwa in
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ihrer Besprechung der Glasglocke (deutsch 1968) Sylvia Plaths: »wenn jemand etwas zu erzählen hat und so wenig Zeit hat, darüber nachzudenken, scheint es von selbst zu geraten, und der Dringlichkeit sind alle bloßen Kunstfragen untergeordnet, ohne daß was andres würde als Kunst, und nicht die Schablone des Kunstabenteuers, der Exhibition, des Verrats und des Selbstbetrugs [...]« (KS, 451; vgl. W 4, 359). Und ihre Ausführungen zu Gombrowicz münden in die Feststellung: »[...] – wenn ich denken muß und darf an jemand, dann würde mir zu G. immer einfallen, daß er ein Herz hatte. Er war darum wohl auch ein sehr großer Schriftsteller« (KS, 485; W 4, 330). Diese Kriterien, an denen sich ihre Literaturkritik orientiert, sind in den Frankfurter Vorlesungen vorgezeichnet; Bachmann hält auch im Spätwerk an ihnen fest. Sie sind nun jedoch ergänzt um eine Poetologie, die der Krankheitsthematik und dem (Ver-)Schweigen einen zentralen Stellenwert zuschreibt. Ebenso wie Bachmann sich in ihren frühen Radioessays mit Autorinnen und Autoren auseinandersetzt, die um ihre eigenen poetologischen Fragen nach Utopie und Sprache kreisen, so handeln die Werke, die sie in ihren letzten Jahren bespricht, von Krankheit und Mord – oder sie werden von ihr zumindest darauf ›hingelesen‹. So erkennt sie etwa in Giuseppe Verdis Oper Otello (1887), wie schon der Komponist selbst, nicht Othello, sondern Jago als die zentrale Figur – und zwar einen Jago, der mit Franzas Mann, dem sadistischen Psychiater Leo Jordan, viel gemein hat: »[...] die anderen sind die Menschen, unzulänglich, mitleiderregend, krank, dumm, blind, aber Jago ist erhaben seiner Furchtbarkeit, er versucht die andren zutod« (KS, 407; W 4, 345). Bachmanns im Frühjahr 1970 (Weigel 1999, 454; KS, 629) niedergelegte Erinnerungen an den polnischen Dichter Witold Gombrowicz beschreiben die Qualität eines sprachlosen Einverständnisses, das sich gemeinschaftlich den unaussprechlichen Zumutungen der alltagssprachlichen Umwelt entgegensetzt (vgl. KS, 482; W 4, 327). Die beiden Autoren lernen sich als Stipendiaten der Ford Foundation im Frühjahr 1963 in Berlin kennen und freunden sich an. Persönliche Dinge kommen jedoch zwischen ihnen nicht zur Sprache. Nur im wortlosen Gelächter geben sie sich in ihrem Verlorensein und mit ihren ›Krankheiten‹ einander zu erkennen. »[...] am Ende sagte er, wir, Sie und ich und die andren, wir werden hier einen kollektiven Selbstmord begehen, und den wird die arme Ford Foundation auch noch bezahlen müssen. Darüber haben wir länger geredet und gelacht, aber es war
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zum Lachen dabei, denn im Grund wußten wir beide, daß wir es vielleicht tun würden. Wenn auch nicht mehr auf Kosten der Ford Foundation« (KS, 482 f.; W 4, 327 f.). Bachmann zeichnet Gombrowicz als einen Menschen, dessen bewusster Wille zur Zerstörung gegen eine ›tiefer liegende‹, unbewusste Güte machtlos ist. Damit rückt sie ihn in die Nähe der Musilschen Heiligen, so wie Ulrichs Schwester Agathe sie einst charakterisiert hatte (Musil 1978, 744). Bachmanns 1967 ursprünglich für den Spiegel vorgesehene Rezension der Schriften Georg Groddecks (KS, 614–616) konkretisiert und erläutert ihr neu erwachtes Interesse an jenem Unbewussten, das sich nicht alltagssprachlich artikuliert, sondern das sich in Gesten und körperlichen Symptomen äußert. Den »Vorläufer der Psychosomatik« (KS, 431; W 4, 347) charakterisiert sie dabei im Unterschied zu dem begrifflich klareren und theoretisch überlegenen Sigmund Freud als einen zwar widersprüchlichen und gelegentlich diffusen, in seinem Grundgedanken jedoch überzeugend(er)en Wissenschaftler. »Groddecks erste und kühnste Vermutung hat sich als richtig erwiesen, es gibt keine Krankheit, die nicht vom Kranken produziert wird, auch kein Beinbruch, kein Nierenstein. Es ist eine Produktion wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas. [...] Sie sagt das, was der Kranke nicht versteht, obwohl sie sein eigenster Ausdruck ist [...]« (KS, 433; W 4, 351). In den Schriften Groddecks trifft Bachmann auf Überlegungen, wie sie sie auch in ihrem Romanentwurf Das Buch Franza entwickelt: Die eigene Körpersprache kann von der kranken Franza selbst nicht ›gelesen‹ werden, und der weibliche Körper wird zum Symptom einer umfassenden gesellschaftlichen Störung. Den Groddeckschen Gedanken dagegen, dass die Hervorbringung der Krankheit der Produktion eines Kunstwerks gleichkommt, greift Bachmann in einer ihrer späten und dem Andenken Groddecks gewidmeten Erzählung wieder auf: In Ihr glücklichen Augen weigert sich die Protagonistin Miranda, eine Brille zu tragen, und malt sich stattdessen lieber die hässliche Wirklichkeit zu einem ›schönen‹ Bild um. Mit den Begriffen der Selektion und der Klassifizierung wählt Bachmann zur Beschreibung der Freudschen Verdienste um die Psychoanalyse Formulierungen, die an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch angelehnt sind. »Groddeck hatte es nicht mit ›Nervenkrankheiten‹ zu tun, die Freud selektiert und klassifiziert, und mit der Schaffung der Neurosenlehre und seiner Analyse, er war ein gewöhnlicher Arzt [...]« (KS, 433; W 4, 350). Das Freudsche Verfahren, so legt es die
von Bachmann verwendete Terminologie nahe, eröffnet die Möglichkeit einer ›faschistischen‹ Ausübung der ärztlichen Tätigkeit – wie etwa Leo Jordan sie im Buch Franza praktiziert. Im Unterschied dazu wird Groddeck als ein Mensch beschrieben, der 1933 aufgrund seines Engagements gegen die Judenvernichtung Deutschland verlassen musste (zur Korrektur dieser Einschätzung s. Kommentar in KS, 757 f.). Bachmanns Rezension des Romans Piotruš von Leo Lipski aus dem Frühsommer 1967 kontrastiert entschieden mit den Vorwürfen, insbesondere dem der Pornographie, die gegen den Roman erhoben wurden und gegen die Bachmann ihn in Schutz nimmt. Sie liest den Roman als ein Dokument des Leidens nach Auschwitz. Damit fließen zentrale Themen des Bachmannschen Spätwerks, sowohl die Frage nach den Erscheinungsformen dieses Leidens wie auch die Frage nach seinen Darstellungsmöglichkeiten im beredten Verschweigen, in die Besprechung ein. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt zunächst auf der Sprachproblematik, auf der Frage, wie das »Maximum an Exil« auszudrücken ist, das dem Protagonisten des Romans – einem Krüppel, der Auschwitz überlebt hat und nun in Israel nicht heimisch werden kann – widerfährt. Nun verlagert sich der Fokus auf die Auseinandersetzung mit der persönlichen Betroffenheit der Rezensentin beim Lesen. Die Frage nach der literarischen Qualität tritt dabei in den Hintergrund: »Ob es ein gutes Buch ist. Ich weiß es nicht mehr« (KS, 442). Lipskis Roman wird charakterisiert als ein »Untergangsbuch, nicht weil dort etwas untergeht, sondern weil in einzelnen etwas untergeht, was die andren noch eine Weile betreiben, Leben, Politik, Lieben, Essen, Schlafen« (KS, 443; W 4, 355). Schließlich führt die Rezension ihre Überlegungen zusammen, wenn sie den Roman als ein »Niemandslandbuch« (KS, 446) bezeichnet, dessen »privates Golgatha« (KS, 447) exemplarisch das Leiden nach Auschwitz beschreibt. Die Besprechung des Romans Die Glasglocke von Sylvia Plath entsteht nach der Veröffentlichung der ersten deutschen Übersetzung Anfang 1969. Aufschlussreich ist insbesondere die Definition des Autobiographischen, die Bachmann hier vornimmt – und die bereits vorausweist auf ihre eigene Konzeption eines autobiographischen Schreibens, wie sie es in ihrer »geistigen Autobiographie« (GuI, 73), dem zu dieser Zeit noch nicht beendeten Roman Malina, vorführt. Die Glasglocke sei, so schreibt Bachmann, »autobiographisch in dem Sinn, in dem die geistige Figur einer denkenden, zerfallenden, geschlagenen und zerstörten
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Kreatur einzig interessant und mitreißend an einem anderen sein kann« (KS, 450; W 4, 358). Wieder handelt es sich um ein Buch von der »Hölle« (KS, 452; W 4, 359), wieder um einen Krankenbericht. Ist auch die Krankheit mit Groddeck als eine künstlerische Produktion des Kranken zu verstehen, so rühmt Bachmann an Plaths Roman die genaue Beschreibung der schrecklichen Wirklichkeit des Krankseins. »Nichts ist poetisch an Krankheit, und die großen Kranken von Dostojewski bis Sylvia Plath wissen es, die Krankheit ist das schlechthin Entsetzliche, es ist etwas mit tödlichem Ausgang« (KS, 451; W 4, 359). Das überlieferte Material zum Werk Thomas Bernhards entstand nach dem Erscheinen von Watten. Ein Nachlaß 1969 und besteht aus zumeist kurzen, nicht mehr als eine Seite umfassenden Entwürfen. Der Belanglosigkeit der Bernhardschen Gedichte (KS, 453) stellt Bachmann seine Prosa gegenüber, die sich nicht in »Buchstabenexperimenten« (KS, 455; W 4, 361) verliere, sondern die den Wörtern ihre Bedeutung zurückgebe und das nicht Darstellbare umkreise. Bernhards Prosastücke, schreibt Bachmann, »sind von einer so fürchterlichen Eindringlichkeit, so kongruent, und mehr noch mit dem, was nicht mehr darstellbar ist – in dessen Sog es geschrieben wird. Diese Prosa ist so wenig pathologisch, von solcher Genauigkeit und Beherrschtheit 〈〉« (KS, 453). Neben großen poetologischen Übereinstimmungen, wie sie in der Rezension zum Ausdruck kommen, lässt sich eine Vielfalt von literarischen Korrespondenzen zwischen den Werken Bernhards und Bachmanns nachweisen (vgl. Hoell 2000). Von Bachmanns Berichten über ihre Begegnungen mit Guiseppe Ungaretti, dessen Gedichte sie ins Deutsche übertragen hatte, entsteht der erste Teil zwischen November 1966 und vor Anfang 1969, den zweiten Teil schreibt Bachmann in der Zeit nach Ungarettis Tod im Juni 1970. Sein Werk, über das sich Bachmann bereits 1961 in einem Nachwort zu ihren Übersetzungen geäußert hatte, steht nun nur vermeintlich nicht mehr im Zentrum ihrer Erinnerungen. Bachmann berichtet von einem Tag, den sie, von Schmerzen gequält, in der schützenden Obhut Ungarettis verbringt. Am Ende dieses Zusammenseins gibt er ihr vier Glücksbringer mit auf den Weg, die sie nur deshalb annehmen kann, weil sie gerade nicht als eine unmittelbare Hilfeleistung gemeint sind. Denn wichtiger als anderen zu helfen, so meint Bachmann, sei es Ungaretti immer gewesen, »einen Satz zu schreiben oder Blakes Hölle zu beschreiben« (KS, 471). Doch, so formuliert sie: »Wie die Glücksbringer umstehen dann die Sätze jemand, und
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das ist Hilfe« (ebd.). Wieder erweist sich als das Zentrum auch dieses ›Erlebnisberichts‹ das Leiden. Zwar kann von ihm nicht gesprochen werden, doch die Sätze ›umstehen‹ es ebenso hilfreich und möglicherweise trostspendend wie die Glücksbringer Ungarettis den leidenden Menschen. Im Jahr 1969 plant Bachmann, eine Anthologie mit Gedichten Brechts herauszugeben, zu diesem Anlass verfasst sie den Text [Bertolt Brecht: Vorwort zu einer Gedichtanthologie]. Gegen Brechts in seinen theatertheoretischen Schriften immer wieder erhobene Forderung, dass das Theater in ein unterhaltsames Raucherzimmer umzuwandeln sei – in dem sozusagen nur ganz ›nebenbei‹ gelernt werde –, verbannt Bachmann den didaktischen Brecht zwar nicht in die Schule und in die Schullektüre, weist sein ›Raucherzimmer‹ jedoch als ein zur ›schulischen Anstalt‹ umfunktioniertes Theater aus. Nicht dieser Brecht aber, sondern der andere, der Brecht ohne den belehrenden »BrechtTon« (W 4, 365; vgl. KS, 458), der Verfasser einiger ausgewählter Gedichte, ist der von ihr bevorzugte. Denn anders als der didaktische Brecht lässt dieser sich weder als sozialistischer Staatsdichter ideologisch funktionalisieren, noch kann er für die privaten Zwecke schöngeistiger Erbauung genutzt werden. Damit aber erfüllt er die Voraussetzungen eines einsamen Dichtertums, das sich allein in den ›Werken selbst‹ und nur dem Einzelnen mitteilt. »Ich glaube, er hat kein Publikum. Er ist so fremd wie Hölderlin, und sein Pathos, das von mir bewunderte Pathos, den großen Ton, versteht es auch nicht. Sieh jene Kraniche, und wer es hinwegfegen wird, der Wind« (KS, 459 f.; W 4, 366 f.). Die Qualität des Pathos, so entwickelt Bachmann hier noch einmal einen ihrer poetologischen Grundgedanken, liegt darin, dass es in seiner sprachlichen Gestalt die Herkunft des Werks aus der Leiderfahrung zu erkennen gibt, zugleich aber mit seinem »großen Ton« über die sprachliche Kraft verfügt, jenseits der alltäglichen Phrasen seine Worte zu setzen. Anfang 1969 entstehen außerdem eine Reihe kleinerer Entwürfe zur französischen und italienischen Literatur. In ihnen dokumentiert sich Bachmanns Selbstverständnis als eine Vermittlerin zwischen den Literaturen. In ihnen zeigt sich zudem ihre innige Vertrautheit mit beiden Sprachen, die sich nicht zuletzt in Auseinandersetzungen mit missglückten Übersetzungen artikuliert. Unter den [Reflexionen zu Barbey d’Aurevilly, Lafayette und Flaubert] finden sich scharfe Kritiken an verfälschenden Übersetzungen, vor allem im Zusammenhang mit einer misslungenen, grob den Ton verfehlenden Übersetzung von
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II Das Werk – D Kritische Schriften
Barbey d’Aurevillys Erzählungen Les diaboliques (deutsch Die Teuflischen, 1907), aus denen sie auch in ihren Vorrede-Entwürfen zum Buch Franza zitiert. In diesem Sinne wird auch ein Vorwort zu einer Übertragung der Princesse de Clèves von Madame de Lafayette vernichtend kritisiert, um dagegen jedoch die Meisterschaft des Werks umso heller erstrahlen zu lassen. Bachmann hebt in ihrem Entwurf zu einer Rezension vor allem die in diesem Werk zentrale, und, wie sie betont, immer noch gültige Bedeutung des Klatsches hervor, der hier alles zerstöre, selbst die Liebe: »zum Beispiel scheitern die beiden Liebenden, nein, allesamt, an dem Tratsch, er ist sogar das Um und Auf, das Verheerende schlechthin, die Zerstörung der Liebe, die Zerstörung der Ehe sind einzig und allein dem Klatsch zuzuschreiben« (KS, 463 f.). Dieser Gedanke findet sich in den Todesarten-Fragmenten Bachmanns wieder, insbesondere im Goldmann-Fragment. Ebenfalls an das Goldmann-Fragment erinnert die Kritik an Flauberts L’Éducation sentimentale (1869), ein Werk, von dem Bachmann bekennt, dass sie zu ihm keinen rechten Zugang finde. Vor allem moniert sie »die Beschreibung von Freunden, eine Unhöflichkeit des Herzens« (KS, 465). In ihren [Reflexionen über die Beziehung zwischen italienischer und deutscher Literatur] charakterisiert Bachmann das Verhältnis der beiden Literaturen – im Unterschied zum deutschen Interesse am italienischen Film, namentlich an den Arbeiten Paolo Pasolinis – als das eines wechselseitigen Desinteresses. »Das Gähnen zwischen den beiden Literaturen ist gewiß kaum begreifbar, aber es ist unleugbar da [...]« (KS, 466). Als engagierte Vermittlerin zwischen den Literaturen nutzt Bachmann zugleich die Gelegenheit, Autorinnen und Autoren vorzustellen, die für ihr Schreiben wichtig sind: Guiseppe Ungaretti, Elsa Morante und Giorgio Manganelli (KS, 467). Quellen
Adorno, Theodor W.: Der Artist als Statthalter. In: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt a. M. 1958, 175–195. Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften, Bd. 10.1). Hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt 1998. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, 140–157. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. Rimbaud, Arthur: Das poetische Werk. Aus dem Französischen von Hans Therre und Rainer G. Schmidt. München 1988.
Literatur
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26 Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen Schlosser, Horst Dieter: Schriftsteller als Vermittler. In: Ders./Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann et al. und andere Beiträge zu den Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988, 295–300. Schmidt, Tanja: Beraubung des Eigenen. Zur Darstellung geschichtlicher Erfahrung im Erzählzyklus Simultan von Ingeborg Bachmann [1986]. In: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk Ingeborg Bachmanns. München/Zürich 1989, 479–502. Świderska, Małgorzata: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Ingeborg Bachmann als Essayistin. Tübingen 1989. Viebrock, Helmut: Dichter auf dem Lehrstuhl. In: Horst Dieter Schlosser/Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann et al. und andere Beiträge zu den Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988, 288–294. von der Lühe, Irmela: »Ich ohne Gewähr«. Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen zur Poetik [1982]. In:
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Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk Ingeborg Bachmanns. München/Zürich 1989, 569–599. Weigel, Sigrid: »Ein Ende mit der Schrift. Ein anderer Anfang«. Zur Entwicklung von Ingeborg Bachmanns Schreibweise. In: Text + Kritik, Sonderband Ingeborg Bachmann, Gastredaktion Sigrid Weigel (1984), 58–92. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. Wilke, Tobias: Auftrittsweisen der Stimme. Polyphonie und/ als Poetologie bei Ingeborg Bachmann. In: Barbara Hahn (Hg.): Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945. Würzburg 2007, 147–160. Wohlleben Doren: Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. Ingeborg Bachmann, Reinhard Baumgart. Peter Bichsel, Sten Nadolny, Christoph Ransmayr, W. G. Sebald, Jans-Ulrich Treichel. Freiburg i. Br. 2005.
Bettina Bannasch
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II Das Werk – D Kritische Schriften
27 Musikästhetische Essays Die künstlerische Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem Komponisten Hans Werner Henze, der Ingeborg Bachmann zugleich in die Welt des Musiktheaters einführt, bildet den biographischen Ausgangspunkt einer Reihe von musikästhetischen Essays, in denen die Autorin neben ihrer Arbeit an den Libretti insbesondere in den 1950er Jahren das Verhältnis von Musik und Literatur reflektiert und so zugleich in der musikästhetischen Diskussion dieser Zeit Stellung bezieht. Der Bezug ihres Musikverständnisses zu ihrer ästhetischen Sprachreflexion begründet die poetologische Bedeutung dieser Essays für ihr Literaturverständnis und für die Entwicklung einer »musikalischen Poetik« (Spiesecke 1993) in ihrem Werk. Im Gegensatz zur Avantgarde der Neuen (seriellen) Musik in den 1950er Jahren und deren musikästhetischer »Verabsolutierung rationaler Konstruktion« sowie der »Negation tonaler Klangzeichen und klassisch-romantischer Formsprache« (Bielefeldt 2003, 24) knüpfen Bachmanns Überlegungen erneut an die Tradition der europäischen Romantik, zugleich aber an die musikalische Moderne an. Gegen Forderungen nach einer absoluten Autonomie der Künste versteht sie Musik als »Ausdruck« und insofern als »eine Sprache« (Schmidt-Wigstoff 2001, 45) in direktem Bezug zu menschlicher Erfahrung in ihren sozialen Kontexten (Tumat 2004, 163).
Die wunderliche Musik Am Anfang dieser musikästhetischen Essays steht der ungewöhnliche Prosatext Die wunderliche Musik (1956), der in der Tradition moderner Kurzprosa Gattungsgrenzen durchbricht und essayistische, narrative und lyrische Elemente zu einer ironisch und satirisch gefärbten Reflexion ästhetischer, anthropologischer und soziologischer Aspekte des Phänomens Musik verbindet. Zuerst in dem Jahrbuch für »die deutsche Literatur und Kunst der Gegenwart« Jahresring 1956/57 unter dem Titel Musik, dann unter dem erweiterten Titel in der »Zeitschrift für neue Musik« Melos (September bis November 1956) erschienen, setzt sich der Text aus 14 »poetische[n] Miniaturen« zusammen (Greuner 1990, 68), die am Modell eines Konzertabends unterschiedliche Aspekte des modernen Musiklebens im Hinblick auf die abschließende Frage »Was aber ist Musik?« (KS, 214; W 4, 57) beleuchten, eine fixierende theoretische Antwort jedoch poetisch unterlaufen. Die
Form sowie die Progression von der Institution zur Kunst selbst lassen an Theodor W. Adornos Essay »Zur Naturgeschichte des Theaters« (ab 1930) denken, der vollständig allerdings erst 1958 vorlag (Schmidt-Wistoff 2001, 63 f.). Die ersten drei Miniaturen führen in einer an Kurt Tucholskys Theaterkritiken erinnernden Weise in grotesk-komischer Verfremdung die Ritualisierung des bürgerlichen Konzertbetriebs vor Augen (Symphoniekonzert, Oper, Ballett). Auf den Abschnitt »Vorbereitungen«, der den Anfang eines bürgerlichen Konzertabends satirisch mit den gewalttätigen Volksbelustigungen im kaiserlichen Rom vergleicht und zugleich die materiale Herkunft der Instrumente aus der Natur ins Gedächtnis ruft, folgt der sarkastische Aphorismus »Garderobe«: »An der Garderobe bringt das Publikum die Ohren in Ordnung und gibt das Gehör ab« (KS, 202; W 4, 46). Dem entsprechend ironischen Blick auf die »Zuhörer« schließt sich in lyrisch-assoziativer Reihung im vierten Stück eine Reflexion über »Ohren« als das körperliche Medium der Musikerfahrung an. Erst anschließend wendet sich der Text dem eigentlichen Musikereignis zu, so dass die satirische »Dekonstruktion des Musikbetriebs« »als Voraussetzung« für eine »andere Rede über Musik« erscheint (Caduff 1998, 95, 97): Ein Abschnitt charakterisiert unterschiedliche Typen von »Dirigenten« als »Magier am Werk« (KS, 205; W 4, 49), ein weiterer beleuchtet das Missverhältnis von Körper und Stimme der »Sänger«, ein dritter das »Ballett«, dessen Tänzer »mit dem Körper Kunst machen« (KS, 207; W 4, 51). Der achte Abschnitt »Partituren« umreißt dann mit dem traditionellen (auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden) Topos »die Musik ist eine Sprache« (KS, 208; W 4, 52) die ästhetische Funktion der Musik und reflektiert in deutlicher Analogie zur Literatur die Differenz zwischen der Partitur als »Schriftbild« und der Musik als innerem Hörbild des Komponisten bzw. als ästhetischem Ereignis (ebd.). In ihrer »Dialektik« von »Überdauern« und »Vergehen« (Weigel 1999, 170 f.) stellt sich die Musik als ›Zeitkunst‹ dar (KS, 249; W 4, 59). Die sich anschließenden Abschnitte über »alte« und »neue Musik«, »schwere und leichte Musik« verbinden die ironische Kritik am kommerziellen Musikbetrieb und an einer leerlaufenden Avantgarde, die an Adornos Aufsatz »Das Altern der Neuen Musik« (1954) und an Henzes entsprechende Kritik erinnert (Caduff 1998, 100 f.), mit sehr genauen musikgeschichtlichen Reflexionen beispielsweise zur Geschichte des Cembalos (Eberhardt 2002, 231–233) sowie mit einer emphatischen Anthropologie und Ästhetik der Musik: Dank
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_27
27 Musikästhetische Essays
der Musik »gerät [die Welt] zurück in die Fugen« (KS, 209; W 4, 52), und: »Wir brauchen Musik. / Das Gespenst ist die lautlose Welt« (KS, 211; W 4, 54). Nach einer humorvollen Charakterisierung der »Musikstädte« und einer Hommage an Mozart beantwortet Bachmann die Frage nach dem Wesen der Musik im letzten Abschnitt gerade nicht theoretisch, sondern poetisch in Anspielung auf Hans Christian Andersens Märchen Die Nachtigall in der symbolischen Veranschaulichung der Musik als des Anderen der Sprache (Caduff 1998, 104; Eberhardt 2002, 235). Die Reflexion über die Spannweite der Musikerlebnisse von der »tragische[n] Welt« bis zur »Welt heiterer Genüsse« (KS, 214; W 4, 58) mündet an der Grenze zum Verstummen in einen Dialog der Musik mit ihrem Hörer, der – auch in seiner Perspektivenverkehrung – an den poetologischen Entwurf Das Gedicht an den Leser (Eberhardt 2002, 235 f.) oder an den Schluss der Erzählung Undine geht erinnert: »Was hörst du noch, weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik zu Ende ist? / Was ist es?! / Gib Antwort! / ›Still!‹ / Das vergesse ich dir nie« (KS, 215; W 4, 58). Diese paradoxale Pointierung der poetischen Reflexion über das Verhältnis von Musik und Sprache im dialogisierten Topos der Unsagbarkeit und des Schweigens weist bereits auf das späte Gedicht Enigma voraus (Caduff 1998, 105).
Musik und Dichtung und andere Essays Der zuerst in einer Festschrift der »Musica Viva«, einer von dem mit Bachmann befreundeten Komponisten Karl Amadeus Hartmann initiierten Konzertreihe für Neue Musik, erschienene Essay Musik und Dichtung (1959) reflektiert demgegenüber in theoretischer Form das Verhältnis von Musik und Literatur als zweier künstlerischer ›Medien‹ (KS, 249; W 4, 59). Der Essay entstand aus der intensiven Zusammenarbeit mit Henze an der gemeinsamen Oper Der Prinz von Homburg und kann als »programmatisch angesehen werden für beider Auffassung ihres gemeinsamen künstlerischen Weges« (Schmidt-Wigstoff 2001, 12). Er formuliert die Grundzüge einer »intermedialen Ästhetik«, auf die Henze in seinem programmatischen Vortrag »Neue Aspekte in der Musik« bei den »Festlichen Tagen Neuer Kammer-Musik« in Braunschweig 1959 zurückgreift, indem er u. a. ausführlich aus Bachmanns Essay zitiert (Bielefeldt 2003, 11, 37 f.). Ausgehend von einer Kritik öffentlicher Diskurse über beide Kunstformen, in der Bachmann vor dem Hintergrund der modernen Sprachskepsistradition an
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ihre Ludwig Wittgenstein-Lektüre anknüpft, kontrastiert sie zunächst wiederum die »verschuldete Sprache« (nach Auschwitz) mit der »Reinheit« der Musik (KS, 249 f.; W 4, 59 f.), um dann aber – in Anlehnung an Friedrich Hölderlin und die Tradition der europäischen Musik- und Sprachphilosophie (Solibakke 2005, 90–94) sowie zugleich in deutlicher Nähe zu Adornos musikästhetischen Schriften der 1950er Jahre (Greuner 1990, 65 f.; Caduff 1998, 83–89; Bielefeldt 2003, 50; Kogler 2008) – in »Musik und Dichtung« eine gemeinsame »Gangart des Geistes« zu entdecken (KS, 250; W 4, 60). Der Rhythmus und die menschliche Stimme erweisen sich in einer Wiederanknüpfung an die »romantische Musikästhetik« (Spiesecke 1993, 25) als die Grundlage einer potenzierenden »Vereinigung« beider Künste (KS, 251; W 4, 60). Wie die moderne Lyrik durch ihre Verbindung mit der Musik sich »der Teilhabe an einer universalen Sprache wieder versicher[n]« kann, so wird die Musik durch die Sprache »politisch, mitleidend, teilnehmend« (KS, 251; W 4, 61). Dies gelingt vor allem durch die existentiale Ausdruckskraft der menschlichen Stimme, die als mediale Einheit von Körper und Geist am Schluss des Essays emphatisch gegen das »Räumen von Herzländern«, den »Abgang aus Gedanken« und die »Verabschiedung so vieler Gefühle« in der modernen Gesellschaft gestellt wird (KS, 252; W 4, 62). »Miteinander, und voneinander begeistert, sind Musik und Wort ein Ärgernis, ein Aufruhr, eine Liebe, ein Eingeständnis«, das dem »Verlangen nach Freiheit« Ausdruck verleiht und in »hoffnungsloser Annäherung an Vollkommenheit« den utopischen »Augenblick der Wahrheit« antizipiert (KS, 251 f.; W 4, 61 f.). Der Essay verknüpft seine Musikästhetik mithin nicht nur mit der ästhetischen Sprachreflexion und dem literarischen Utopieverständnis der wenig später geschriebenen Frankfurter Vorlesungen (1959/60), sondern auch mit dem kritischen Ethos der Preisrede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (1959). Im Mittelpunkt und emphatisch am Ende steht dabei nicht zufällig die »menschliche Stimme« (KS, 252; W 4, 62), deren Gesang »für eine momenthaft aufblitzende, intermediale Wahrheit ein[steht]« (Bielefeldt 2003, 51), durch ihre unvermeidliche Unvollkommenheit aber auch dem »Widerspruch der Gleichzeitigkeit von Streben nach Vollkommenheit und deren Hoffnungslosigkeit Ausdruck« verleiht (Schmidt-Wigstoff 2001, 58). Dies ist eine deutliche Stellungnahme gegen die »Avantgarde der Neuen Musik nach 1950« (Tumat 2014, 9). Die emphatische Idee der Vereinigung von Musik und Dichtung ist zweifellos vor dem Hintergrund von
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II Das Werk – D Kritische Schriften
Bachmanns Begeisterung für die Oper und damit im Kontext ihrer Libretti zu lesen (Caduff 1998, 89), zumal sie sich in der Verknüpfung des Axioms der Freiheit der Künste mit dem Insistieren auf ihrer politisch-moralischen Funktion und gesellschaftlichen Bedeutung mit Henzes künstlerischem Selbstverständnis in den 1950er und frühen 1960er Jahren trifft (vgl. Henze 1984). Das Erlebnis der Opernsängerin Maria Callas bei einer Generalprobe zu Verdis Oper La traviata war im Januar 1956 in Mailand nach Bachmanns eigener Darstellung der Punkt, an dem ihre »Einstellung gegenüber der Oper« von Indifferenz »in ein besessenes Interesse« umschlug (KS, 424; W 1, 433). Sie widmet der Sängerin später den nachgelassenen Essay-Entwurf Hommage à Maria Callas, in dem das Erlebnis der außergewöhnlichen Stimme von der Faszination durch den Menschen Maria Callas und seine künstlerische Ausdrucksfähigkeit nochmals übertroffen wird. Der für die »Wiederkehr des Belcanto« berühmte Opernstar (Caduff 1998, 113) erscheint Bachmann mit einem Zitat aus Georg Büchners Drama Dantons Tod, das zugleich Paul Celans Büchnerpreisrede Der Meridian (1960) zitiert, als »die Kunst, ach die Kunst«, mit einem Zitat aus Giacomo Puccinis Oper Tosca (Caduff 1998, 117) als die Verkörperung moderner künstlerischer Existenz schlechthin: »ecco un artista. Sie hat nicht Rollen gesungen, niemals, sondern auf der Rasierklinge gelebt« (KS, 410; W 4, 342 f.). Jene beiden Programmtexte, die Bachmann zur Uraufführung von Henzes Opern Der Prinz von Homburg und Der junge Lord geschrieben hat, sind im Wesentlichen Kommentare zu ihren Libretti und thematisieren musikästhetische Fragen nur im Hinblick auf die »ruhmlose Sonderstellung des Librettos« zwischen Musik und Literatur (KS, 424; W 1, 433). Immerhin ist auffällig, dass diesen aus der Praxis der Librettistin entstandenen Kommentaren das Pathos des programmatischen Essays Musik und Dichtung fehlt, dass sie dessen ästhetische Grundgedanken aber dennoch teilen. Der Programmtext Entstehung eines Librettos (1960) sieht die »Rechtfertigung« des Librettos zu der Heinrich von Kleist-Oper Der Prinz von Homburg »nur« in der Musik, die in der Oper zusammen mit dem Text eine »neue Ganzheit« bilde (KS, 358; W 1, 373). Angesichts des literarischen Rangs der Vorlage wünscht sich die Autorin, dass Kleists Drama durch ihr Libretto »ein zweites Leben in der Musik und mit der Musik« erhielte (KS, 357; W 1, 372). In ihren Notizen zum Libretto für die Oper Der junge Lord (1965) spricht Bachmann dann ausdrücklich
vom »Hintanstellen der eigenen Arbeit unter die allein wichtige des Komponisten« (KS, 425; W 1, 434) und reflektiert ihren Lernprozess als Librettistin. Als charakteristisch für die besondere Struktur des Librettos bezeichnet sie »die Überlappungen von Texten« und den »gleichzeitige[n] Ablauf von kontradiktorischen, variierten oder zur Deckung kommenden Textstellen«, indem die Figuren der Oper »vom Duett bis zum Ensemble, nicht nacheinander, sondern miteinander, gegeneinander und nebeneinander zu Wort kommen« (KS, 425; W 1, 434). Diese scheinbare »Abstrusität« begründe die »Überlegenheit des lyrischen Theaters«, indem sie »elementarsten Ausdrucksbedürfnisse[n]« gerecht werde, die sich mit den Mitteln des ›Prosatheaters‹ nicht darstellen ließen (KS, 425; W 1, 434). Die Oper ist damit als ein ästhetisches Modell der Wirklichkeit charakterisiert, das seinen eigenen medialen Gesetzen gehorcht. Wie Bachmann in dem kleinen Nachlassentwurf über Giuseppe Verdis Oper Otello (1887) ausführt, der seinem Schriftbild nach zwischen 1961 und 1966 entstanden ist, gehört zu dieser Eigengesetzlichkeit auch, dass in der Oper »alles heraus muß« (KS, 407; W 4, 345), die Ausstellung der Gefühle also und die Visualisierung der inneren Konflikte. Eine Sonderstellung im Kontext der musikästhetischen Schriften nehmen Bachmanns Zwischentexte zu Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz (1967) ein, die »auf Anregung von Max Liebermann« entstanden und »anläßlich des Gesamtgastspiels der Hamburgischen Staatsoper während der Weltausstellung in Montreal und während der Eröffnungssaison der neuen Metropolitan Opera im New Yorker Lincoln Center« 1967 »[i]n französischer und englischer Sprache« vorgetragen wurden (Kommentar W 1, 663). Es handelt sich um eine interpretierende Zusammenfassung der Opernhandlung, die vor allem die sexuelle Symbolik der Märchenmotivik herausarbeitet. Bachmann liest die in der Oper verarbeitete Volkslegende vom Freischütz psychoanalytisch als Ausdruck des »Unbewußten eines Volks« (W 1, 437), als Chiffrierung eines Wissens vom Geschlechterverhältnis, in dem die Geschlechtsidentität des liebenden Mannes (Max) gestört ist, während die junge Frau (Agathe) ganz »eins ist mit ihrem Geschlecht« (W 1, 441). Quellen
Henze, Hans Werner: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984. Hg. von Jens Brockmeier. München 1984.
27 Musikästhetische Essays Literatur
Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann: Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld 2003. Caduff, Corina: »dadim dadam« – Figuren der Musik in der Literatur Ingeborg Bachmanns. Köln/Weimar/Wien 1998. Eberhardt, Joachim: »Es gibt für mich keine Zitate.« Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns. Tübingen 2002. Grell, Petra: Ingeborg Bachmanns Libretti. Frankfurt a. M./ Bern 1995. Greuner, Suzanne: Schmerzton. Musik in der Schreibweise von Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Hamburg 1990. Kogler, Susanne: Musikalische Poetik und ästhetische Theorie. Ingeborg Bachmann und Theodor W. Adorno. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 22 (2008), 246–279.
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Schmidt-Wigstoff, Katja: Dichtung und Musik bei Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Der »Augenblick der Wahrheit« am Beispiel ihres Opernschaffens. München 2001. Solibakke, Karl: Geformte Zeit. Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005. Spiesecke, Hartmut: Ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ingeborg Bachmanns musikalische Poetik. Berlin 1993. Tumat, Antje: Dichterin und Komponist. Ästhetik und Dramaturgie in Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes »Prinz von Homburg«. Kassel/Basel 2004. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Dirk Göttsche
III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk
A Zeitgeschichte 28 Nationalsozialismus Ansatzpunkte des Erinnerungsdiskurses Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die zeitkritische Ausrichtung ihres Werks als eines Schreibens ›danach‹ – nach dem Krieg, nach der NS-Diktatur und nach Auschwitz – gehören zu den am meisten diskutierten Themen der Bachmann-Forschung, seit die frühere Auffassung von der »Geschichtsferne der Dichterin« aufgegeben wurde (Höller 1987, 10). Eine wichtige Rolle spielten hierbei der 1982 von Hans Höller herausgegebene Aufsatzband Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge sowie die 1983 anlässlich des zehnten Todestages erschienene Auswahlsammlung der Gespräche und Interviews unter dem (Zitat-)Titel Wir müssen wahre Sätze finden (GuI, 19). Mit diesem Interviewband wurden all jene Äußerungen zum Faschismus zugänglich, die in der Folge (und nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Historikerstreits Mitte der 1980er Jahre) ins Zentrum des Forschungsinteresses rückten. »Es hat einen bestimmten Moment gegeben«, so Bachmann im Dezember 1971, »der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte. Natürlich habe ich das alles nicht verstanden in dem Sinn, in dem es ein Erwachsener verstehen würde. Aber diese ungeheure Brutalität, die spürbar war, dieses Brüllen, Singen und Marschieren – das Aufkommen meiner ersten Todesangst« (GuI, 111). Dieser Selbstaussage wird seit langem zentraler Stellenwert für Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zugeschrieben, hat die Autorin damit doch sozusagen ein historisch bedingtes »Urtrauma ihrer Sozialisation« (Heidelberger-Leonard 1992, 289) explizit in den Diskurs über ihr Werk eingebracht und der »erste[n]
Erkenntnis des Schmerzes« auf privater Ebene an die Seite gestellt (TKA 3.1, 295; W 3, 25). In Eine Reise nach Klagenfurt stellte Uwe Johnson dieses Statement aus dem Jahr 1971 neben Zitate aus der Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt (Johnson 1974, 32 f.) und brachte es somit assoziativ mit der Zeit der Erzählung zusammen. Inzwischen weiß man, dass diese Aussage nicht so wörtlich zu verstehen ist, wie zunächst angenommen wurde, da Bachmann zu dieser Zeit »gar nicht in der Stadt« war (Höller 1999, 18). Das Statement kann jedoch als »verdichtende Rückprojektion aus späterer Perspektive als Begründung eines ›Schreibens nach Auschwitz‹« gelesen werden (Göttsche 1998a, 166), mit der Bachmann selbst die »entscheidende Spur zum Verständnis« ihres Werks gelegt hat (Höller 1999, 18). Kurt Bartsch ist der Auffassung, dass man dieser konstruierten »Urszene« (Weigel 1999, 317) nach der Veröffentlichung des Kriegstagebuchs gleichsam »Wahrheitsgehalt attestieren« kann (Bartsch 2010, 139). Mit der verbesserten Quellenlage lässt sich diese Urszene in einen breiteren Kontext stellen, und mit der Publikation des eben genannten Kriegstagebuchs (Bachmann 2010) kam unter anderem auch der biographische Hintergrund zu einer weiteren literarischen »Urszene« an den Tag. In dem Romanfragment Das Buch Franza hatte Bachmann den »schönste[n] Frühling« nach Kriegende beschrieben (TKA 2, 173; W 3, 373); ähnlich wie ihre fünfzehnjährige Titelfigur erlebte auch die achtzehnjährige Bachmann den ersten Frühling nach Kriegsende 1945: »Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben« (Bachmann 2010, 23). Das Kriegstagebuch gibt darüber hinaus Einblick in die Auflehnung der jungen Bachmann gegen die intellektuellen Restriktionen des NS-Regimes (Göttsche 2011, 496) und ihre erste Beziehung zu einem jüdischen Überlebenden der Shoah, Jack Hamesh, der 1938 noch aus Wien hatte fliehen können und nach Kriegsende als britischer Soldat nach Österreich zu-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_28
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rückkehrte. Höller misst dieser Begegnung zentralen Stellenwert in Bachmanns mentaler Entwicklung zu: »Niemand wird später eine größere Veränderung ihres Denkens und ihrer ganzen Existenz bewirken, denn das Zusammentreffen der beiden jungen Leute verbindet sich mit einem unwiederbringlichen geschichtlichen Augenblick« (Höller 2010, 73). Im Hinblick auf Bachmanns Verhältnis zum Nationalsozialismus kommt einem Brief an Wolfgang Hildesheimer Schlüsselfunktion zu. Auf die Tatsache anspielend, dass Klaus Piper einen Erfolgsschriftsteller der NS-Zeit, Bruno Brehm, auch nach 1945 noch im Verlag behielt, schreibt sie im Sommer 1955 von ihrer USA-Reise: »Das Fatale ist, daß Piper [...] wirklich kein Nazi ist, und diese vermischten Zustände machen es am allerschwersten für einen« (Brief vom 15.7.1955 an Wolfgang Hildesheimer aus Cambridge MA; zit. nach Weigel 1999, 469). Bachmanns eigener, entschiedener Antifaschismus steht selbstverständlich außer Frage; in welchem Ausmaß die Autorin im beruflichen und privaten Alltag jedoch diesen »vermischten Zuständen« und wohl nicht selten solchen und ähnlichen Konflikten ausgesetzt war, lässt sich auch heute erst im Ansatz rekonstruieren. Bekannt ist, dass »der Nationalsozialismus« in Österreich »eine breitere Basis erlangt [hat] als jemals in Deutschland« (Botz 1993, 205), doch die Familie Bachmann hat erst recht spät mitgeteilt, dass auch Bachmanns Vater schon 1932 in die damals noch illegale NSDAP eingetreten und entsprechend nach 1945 zunächst »vom Schuldienst ausgeschlossen war« (Höller 1999, 46, 25). »Seine Nachfahren wollen in ihm«, wie Ina Hartwig kritisch anmerkt, heute »einen Geläuterten sehen« (Hartwig 2017, 166). Bachmann selbst hat die NSDAP-Mitgliedschaft ihres Vaters ihr Leben lang weder öffentlich noch in ihrer (bislang bekannten) privaten Korrespondenz jemals erwähnt und folgte damit dem Beispiel der meisten ihrer Altersgenossen nach 1945. Im Umfeld des gesellschaftlichen Umbruchs der 1960er Jahre gehörte dann für viele Vertreter der jüngeren Generation (wie etwa Peter Härtling, geb. 1933, der 1968 einen Band mit dem Titel Die Väter. Berichte und Geschichten herausgegeben hat) die nationalsozialistische Vergangenheit zu einem der wichtigsten Probleme bei der Auseinandersetzung mit der Generation der Eltern. Bachmann ist jedoch von ihrem Grundsatz, private Dinge nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, nicht abgewichen (und hat auch eine Beteiligung an dem eben genannten Band abgelehnt; Brief an Peter Härtling vom 11.10.1967; Kopie im Besitz der Erben).
»Vermischte Zustände« in der unmittel baren Nachkriegszeit Über Bachmanns Jugendjahre in der Zeit der NS-Diktatur ist bislang immer noch wenig bekannt. Eine andere wichtige Gestalt aus dieser Zeit ist in diesem Zusammenhang ihr Deutschlehrer in dem Abiturientenkurs an der Klagenfurter Lehrbildungsanstalt und wahrscheinlicher Adressat der Briefe an Felician Josef Friedrich Perkonig (Höller 1999, 34; von Weidenbaum 1997). Perkonig, zu dieser Zeit der bedeutendste Kärntner Heimatschriftsteller, hat seinen Ruhm in den Dienst der Nazis gestellt und galt als einflussreicher NS-Repräsentant (Höller 1999, 34). Auch wenn Bachmann »die politische Tragweite seiner Ämter und seiner Verantwortung als gefeierter ›völkischer‹ Dichter« nicht oder zumindest nicht in vollem Maße bewusst war (von Weidenbaum 1997, 25), bleibt etwas »zutiefst Beunruhigende[s]« an diesen »historisch-biographischen Korrespondenzen«: Höller spricht von einer »Gespaltenheit des biographischen Ich« und von einer »Trennung und Parzellierung, bei der das Tagebuch [mit seinen Eintragungen über den jüdischen Remigranten Jack Hamesh] nichts von den Briefen weiß und die Briefe nichts vom Tagebuch und diese wieder nichts von anderen Briefen an andere Personen« (Höller 1999, 35; s. jedoch Kap. 17). (Uwe Johnson scheint von Perkonigs Verstrickung in die Politik der Machthaber nicht gewusst zu haben; in seiner Reise nach Klagenfurt erwähnt er diesen im Gegenteil als Urheber eines Appells »an den Gauleiter und Reichsstatthalter von Kärnten [...], die Slowenenaussiedlung rückgängig zu machen«; Johnson 1974, 49 f.). Zu Konfliktsituationen führten die »vermischten Zustände« auch in Bachmanns beruflich-privatem Umfeld der mittleren und späteren 1950er Jahre, da sie nicht nur mit (jüdischen) Überlebenden des Holocaust und nachweislichen Antifaschisten bekannt und befreundet war. Zu ihrem Münchener Freundeskreis zählte beispielsweise auch ein »SS-Mann von 1933 wie Hans Egon Holthusen« (Brief Anderschs an Adolf Muschg, zit. nach Reinhardt 1990, 334). (Auch Holthusens Schwester Ursula von Welser gehörte zu diesem Freundeskreis; sie war die langjährige Lebensgefährtin von Joachim Moras, dem Redakteur von Bachmanns Publikationsorganen Merkur und Jahresring, mit dem die Autorin bis zu seinem Tod im April 1961 in einer zunehmend herzlichen Verbindung stand.) Holthusen hat sich beispielsweise (als Sprecher der deutschen Delegation der »Harvard Summer School« des Jahres 1953) bei Henry Kissinger dafür
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eingesetzt, dass Bachmann im Jahr 1955 zu diesem Seminar eingeladen wurde, und in seiner Funktion als Programmdirektor des amerikanisch-deutschen Kulturinstituts »Goethe House« hat er sie im Juni 1962 zu einer Lesung nach New York eingeladen. Diese »vermischten Zustände« griffen gelegentlich auch abrupt in die konkrete Arbeitssituation der Schriftstellerin ein. Bei der Arbeit an dem Nachwort zu ihrer Übersetzung ausgewählter Gedichte von Giuseppe Ungaretti machte Bachmann eine Entdeckung, die zunächst, wie sie an Siegfried Unseld schrieb, einer »kalten Dusche« gleichkam: »[...] ich habe nun, durch Zufall, erfahren, dass Ungaretti nicht nach Brasilien ging, weil er es in Italien nicht mehr aushalten konnte [...]. Er war Faschist, ein gemäßigter, wenn man so will, Böses angerichtet hat er grade nicht, aber immerhin, Brasilien war keine Emigration, er war gut bezahlt von daheim, hat 1924 Mussolini ein Gedicht gewidmet« (zit. n. Bachmann/Enzensberger 2018, 275). Während Bachmann sich einige Jahre später im »Fall Baumann« nicht davon beeindrucken lässt, wenn Klaus Piper sie darauf hinweist, Hans Baumann habe das besagte Lied (»Es zittern die morschen Knochen«) vor der Machtergreifung der Nazis im Alter von erst 18 Jahren geschrieben und sich später davon distanziert, spielt sie ihrerseits im »Fall Ungaretti« dessen Rolle in der Zeit des italienischen Faschismus deutlich herunter: »Ein Schandfleck für den Suhrkamp Verlag ist das Buch trotzdem nicht, darüber kann ich Dich beruhigen. Die Gedichte werden hoch bewertet; die politische Vergangenheit wird Ungaretti von den sauberen Leuten nicht arg nachgetragen, eher etwas belächelt; man scheint ihn für ein wenig korrupt und vor allem für einen schlauen Toskaner gehalten zu haben« (Brief an Siegfried Unseld vom 14.1.1961). Die »versäumte politisch-gesellschaftliche Neuordnung« (Thamer 1993, 221) und die daraus resultierenden, vielfältigen und unvermeidlichen Verstrickungen in die »vermischten Zustände« der Nachkriegszeit hat Bachmann in der Erzählung Unter Mördern und Irren literarisiert, die mit ihrer »Zeitrechnung« (»Nach dem Krieg«; W 2, 159), ihrer Figurenkonstellation aus Tätern und Opfern, Mitläufern und Oppositionellen sowie orientierungslosen jungen Intellektuellen und nicht zuletzt als vierte von sieben Erzählungen als »Dreh- und Angelpunkt« des Bandes Das Dreißigste Jahr gelten kann (Sammer 2011, 14). Schon im Titel wird auf eine Situation angespielt, in der (im Sinne von Wolfgang Staudtes Spielfilm aus dem Jahr 1946) die »Mörder« immer noch »unter uns« sind (vgl. Schneider 1999, 211–221). Bereits 1952, sieben Jahre
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nach Kriegsende, hatte Bachmann in ihrem Gedicht Früher Mittag auf die Rückkehr der »Henker von gestern« in die alten Machtpositionen hingewiesen (W 1, 44). Auch in der erzählten Zeit von Unter Mördern und Irren hat sich daran nichts geändert, »das Sagen [...] in Presse (Bertoni), Rundfunk (Haderer), Universität (Ranitzky) und in der Kulturförderung (Hutter)« haben wieder jene, »die aktiv den faschistischen Staat gestützt haben« (Bartsch 1997, 104). In Österreich wurde die Restauration früherer Machtverhältnisse durch die sogenannte Opfer-These zusätzlich erleichtert. Diese »Halbwahrheit«, wie Höller die These von Österreich als dem ›ersten Opfer‹ Hitler-Deutschlands nennt, »bedeutete international eine Entlastung von der Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus, lenkte aber ab von der Aufarbeitung der Vergangenheit, indem sie Täter und Opfer in eine verlogene österreichische Opfergemeinschaft einschloß« (Höller 1999, 40). Max Frisch hat diese kollektive Mentalität im Österreich der Nachkriegszeit anlässlich seines Wien-Besuchs im Januar 1948 als »Waffenstillstand mit der eigenen Lüge« bezeichnet (Frisch 1976, Bd. II.2, 552). Kompliziert wird die Situation in der Erzählung Unter Mördern und Irren also nicht zuletzt dadurch, dass inzwischen jene »vermischten Zustände« eingetreten sind, die es Bachmanns Brief zufolge »am allerschwersten für einen« machen und auch in der Erzählung in diesem Sinne apostrophiert werden (vgl. auch Weigel 1999, 499): »Damals, nach 45, habe ich auch gedacht, die Welt sei geschieden, und für immer, in Gute und Böse, aber die Welt scheidet sich jetzt schon wieder und wieder anders. Es war kaum zu begreifen, es ging ja so unmerklich vor sich, jetzt sind wir wieder vermischt« (W 2, 173). Ein besonders fataler Aspekt dieser »Zustände« besteht der Erzählung zufolge darin, dass sich die Opfer des NS-Regimes an der Restauration der früheren Machtverhältnisse beteiligen: »[...] ich mag [Herz] nicht. Weil ich ihm vorwerfe, daß er mit denen beisammen sitzt. [...] Weil er mitverhindert, daß wir mit ihm und noch ein paar anderen an einem anderen Tisch sitzen können. Er aber sorgt dafür, daß wir alle an einem Tisch sitzen‹« (W 2, 175). Der Ich-Erzähler schiebt hier – kaum relativiert durch die anschließend von Friedl vorgestellte Alternative und die daraus entwickelte »Opfer«-Reflexion – einem HolocaustÜberlebenden wie Herz, dessen »Frau umgebracht« worden ist und »seine Mutter« (W 2, 172), im Grunde die Hauptverantwortung für die »vermischten Zustände« zu. Dieser unbefangene Umgang mit dem Anteil der Juden an der Restauration der früheren
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Machtverhältnisse kann als Anhaltspunkt dafür gelesen werden, dass Schreiben für Bachmann in der Zeit des Erzählbands Das dreißigste Jahr – wie für die meisten anderen Schriftsteller in dieser Zeit – noch nicht in dem Sinne ein Schreiben nach Auschwitz war, wie sie es sich einige Jahre später ausdrücklich zum Ziel setzte, sondern immer noch eher ein Schreiben nach dem Krieg und nach der NS-Diktatur unter Einschluss, aber keineswegs mit Vorrang des Themas Auschwitz.
Auf dem Wege zu einem »Schreiben nach Auschwitz« Gegenüber einer Tendenz, schon die »frühesten bekannten Texte Bachmanns« unter dem Bezugspunkt Auschwitz zu lesen (Gehle 1995, 12), wären Untersuchungen der Genese von Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wünschenswert. Denn noch 1952 anlässlich der Erstveröffentlichung des oben zitierten Gedichts Früher Mittag (»die Henker von gestern«) im NWDR, das als herausragendes Beispiel für die frühzeitig einsetzende Auseinandersetzung mit dem Faschismus gilt, stimmte Bachmann ihre Zuhörer einleitend nicht auf den vor »sieben Jahren« zu Ende gegangenen Genozid in den Konzentrationslagern, sondern auf den Krieg ein: In der Skizze Biographisches, die Bachmann anlässlich der Rundfunkaufnahme verfasst und gelesen hat, heißt es: »dann kam der Krieg und schob vor die traumverhangene, phantastische Welt die wirkliche« (KS, 5; W 4, 301 f.). Nicht der »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt« hat dieser frühen Biographie-Skizze zufolge der Kindheit ein Ende gesetzt, sondern der eineinhalb Jahre später beginnende Krieg. Hier im Jahr 1952 ist auch noch keine Rede von einer traumatischen Urszene, sondern von einem langsamen Prozess (der Krieg schiebt die wirkliche Welt vor die traumverhangene), als den die junge Bachmann den Krieg ja auch zunächst erlebt haben dürfte, bis er sich mit den Bombardierungen von Klagenfurt ab Oktober 1943 auch für die Daheimgebliebenen als Katastrophe darstellen musste. Mit Blick auf Bachmanns späteres Werk lassen sich Zeilen wie die über die »Henker von gestern« zweifellos auf die Mörder in den Konzentrationslagern beziehen, die auch sicherlich nicht ausgenommen waren. Für die Autorin und ihre Zeitgenossen, die aktiven und passiven Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, bestand das Trauma der gerade vergangenen Zeit der NS-Herr-
schaft von 1933 bzw. 1938 bis 1945 jedoch nicht nur in dem abstrakten Wissen um Massenmorde in Konzentrationslagern, sondern – was sich auch in den Themen der Literatur der Nachkriegsjahre spiegelt – zudem aus einem weiten Spektrum konkreter Katastrophenerfahrungen. Bachmanns eigene Versuche mit literarischen Kriegsheimkehrer-Entwürfen sind in diesem Zusammenhang zu sehen (TKA 1, 36–38), und selbst nach dem Erscheinen des Romans Malina wird sie noch den »Krieg« und die »Konzentrationslager« (in dieser Reihenfolge) in einem Atemzug nennen (GuI, 89). Es ist daher davon auszugehen, »daß die für die Todesarten zentrale Rückbindung der Zeitkritik an die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah erst sukzessive an Konturen gewinnt« (Göttsche 1998a, 164). Aus der neueren Erinnerungsforschung kommen vermehrt Stimmen, die eine solche Entwicklung auch vor dem Zeithintergrund plausibel erscheinen lassen: Im Vergleich zahlreicher Beispiele aus der Geschichte seit der Antike hat der Historiker Christian Meier darauf hingewiesen, dass in der Nachkriegszeit im Grunde nur »das nach großen Katastrophen Normale [geschah]: Man verdrängte und strebte nach Amnestie, nach Vergessen« (Meier 2010, 50), und zwar in diesem Fall auch mit Einverständnis der Alliierten, wie etwa Winston Churchills berühmte Forderung nach einem »blessed act of oblivion« in seiner Rede am 19.9.1946 an der Universität Zürich zeigt, in der er betonte: »If Europe is to be saved from infinitive misery, and indeed from final doom, there must be [...] this act of oblivion against all the crimes and follies of the past« (Churchill 1946). Aleida Assmann hat daran erinnert, dass »Vergessen« in dieser Zeit »nicht mit ›Verdrängen‹, sondern mit ›Befreiung‹ gleichgesetzt« wurde: »Es war positiv konnotiert, weil es eine tiefgreifende Erneuerung einleiten und den Weg in eine gemeinsame Zukunft eröffnen sollte« (Assmann 2018, 40). Anfang der 1960er Jahre machte sich jedoch ein Wandel in der Haltung zur Vergangenheit bemerkbar, der auf die heutige Sicht vorausweist, und zunächst einmal ein zunehmender Unwillen gegenüber »den gesellschaftspolitisch unwirksam bleibenden Stereotypen des traditionellen Antifaschismus« (Kraushaar 1998, 160). In Frage gestellt wurde eine Haltung, die auch für den Antifaschismus der Gruppe 47 charakteristisch war (vgl. Kröll 1977, 148; Bartsch 1997, 7): ein ›gefühlsmäßiger Antifaschismus‹ ohne wirkliche Auseinandersetzung. Einer der Vorreiter der dann in den 1960er Jahren mit Verspä-
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tung einsetzenden Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit war Theodor W. Adorno, der am 6.11.1959, in der Zeit von Bachmanns Frankfurter Vorlesungen und ihrer Bekanntschaft mit ihm, das Titelreferat auf einer vom deutschen Koordinierungsrat der »Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit« veranstalteten Konferenz in Wiesbaden zum Thema »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« gehalten hat. In die frühen 1960er Jahre fallen mehrere Ereignisse, die von einer zunehmenden Präsenz des Themas Auschwitz in der gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit in dieser Zeit zeugen. Einmal wurde mitten im deutschen Wirtschaftswunder die antisemitische Welle im Winter 1959/60 als alarmierend empfunden. Die Statistik verzeichnet nach dem sogenannten »Kölner Initialfall« (einer Anzahl Aktionen gegen Denkmäler und jüdische Einrichtungen in Köln am 24.–25.12.1959) für das erste Halbjahr 1960 ein sprunghaftes Ansteigen antisemitischer und nazistischer Vorkommnisse, und zwar um mehr als das Dreifache gegenüber dem Vorjahr (Kraushaar 1998, 160). Bachmann war in dieser Zeit in Zürich und schrieb an der Erzählung Unter Mördern und Irren (Brief an Reinhard Baumgart, Piper Verlag, vom 5.5.1960). Dann begann im April 1961 in Jerusalem der Eichmann-Prozess, der in Deutschland erneut zu einer Welle antisemitischer Ausschreitungen führte, und im Dezember 1963 wurde vor dem Frankfurter Landgericht der Prozess gegen 21 ehemalige Angehörige der Wachmannschaft des Konzentrationslagers Auschwitz eröffnet. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess ging im August 1965 nach über 20 Monaten zu Ende und wurde die ganze Zeit über von der Berichterstattung der in- und ausländischen Medien begleitet. Anfang 1966 wies Bachmann auf die »Prozeßberichte« hin, mit denen die »Existenz« der »Mörder unter uns« in dieser Zeit »allen bewußt gemacht« worden war (TKA 2, 74; vgl. auch W 3, 341 f.). Unter den Zuschauern in Frankfurt befanden sich unter anderem Marie Luise Kaschnitz und Peter Weiss, dessen szenische Darstellung des Auschwitz-Prozesses im Oktober 1965 unter dem Titel Die Ermittlung uraufgeführt wurde. Eine Filmpremiere dürfte dem Thema Auschwitz Anfang der 1960er Jahre (wie später der US-amerikanische Vierteiler Holocaust, 1978; deutsch: Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß, 1979) zusätzlich breitere Aufmerksamkeit verschafft haben, der von Stanley Kramer inszenierte und mehrfach preisgekrönte Film Das Urteil von Nürnberg (Judgement at Nuremberg, USA 1961), der unter anderem einem seiner
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Hauptdarsteller, dem Schweizer Maximilian Schell, den Oskar als bester Schauspieler eintrug. Vor diesem Hintergrund weist Bachmann einige Jahre später in einer Vorrede zum Buch Franza darauf hin, dass »heute sehr viel Vergangenheit bewältigt [wird], von Romanciers, Gedichteschreibern, Journalisten« (TKA 2, 16). Für sie selbst scheint die NS-Vergangenheit, auf die sie hier zurückblickt, in den ersten Jahren nach dem »Wendepunkt in der bundesrepublikanischen Politik der Erinnerung« (Peitsch 1995, 104) jedoch noch keinen Vorrang gehabt zu haben. Ihr damaliger Gefährte Max Frisch hingegen arbeitet in der gemeinsamen Zeit kontinuierlich an jenem Theaterstück, das paradigmatisch für seine Auseinandersetzung mit dem Neo-Antisemitismus der 1950er Jahre stehen kann: Andorra, das er 1959 in einer ersten Fassung abschließt (vgl. Frisch 1976, Bd. IV.2, 579) und das im Frühjahr 1961 von mehreren Bühnen angenommen wird (Frisch am 28.4.1961 an S. Unseld in Andersch/Frisch 2014, 162). Bachmann, die dieses Stück gelesen hat (Frisch 2011, 236), arbeitet in dieser Zeit unter anderem an einer Erzählung mit dem Titel Zeit für Gomorrha, die die, wie es später heißt, »erste Nachkriegszeit« (TKA 3.1, 598; W 3, 261) und das zweifelhafte Milieu in der Wiener Leopoldstadt zum Thema hat (TKA 1, 63–69). In dem im Juni 1961 erschienenen Erzählband Das dreißigste Jahr hat sie zwar in zwei von sieben Erzählungen (Jugend in einer österreichischen Stadt und Unter Mördern und Irren) die unbewältigte nationalsozialistische Vergangenheit zum Thema gemacht, danach wendete sie sich jedoch mit dem Erzählfragment Sterben für Berlin (aus dem Umfeld ihrer Reise in das geteilte Berlin im November 1961) einem anderen drängenden Problem der Zeit zu, dem Kalten Krieg, der sich damals, nur wenige Monate nach dem Bau der Mauer, auf seinem Höhepunkt befand. Darüber hinaus schreibt sie in dieser Zeit u. a. an einem Beitrag zu dem geplanten Almanach der Gruppe 47, das Gedicht Ihr Worte entsteht, sie arbeitet an ihrem Beitrag für die italienisch/französisch/deutsche Zeitschrift Gulliver und bereitet mit dem Regisseur Egon Monk die Verfilmung der Anna Maria-Erzählung vor (GuI, 35). In die frühen 1960er Jahre gehen jedoch auch die ersten Entwürfe zu einem Todesarten-Roman zurück, die besonders in der Episode um einen »von den Sowjets eingesetzt[en]« Kulturbeauftragten, der nach dem »Staatsvertrag« aus seiner Position gedrängt wird (TKA 1, 100), an die in der Erzählung Unter Mördern und Irren thematisierte Rückkehr der »Henker von gestern« in die alten Machtpositionen anknüpft.
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»Schreiben nach Auschwitz« in den Todesarten-Texten Vor allem in der ersten Zeit der Arbeit an dem als Zeitund Gesellschaftsroman angelegten Todesarten-Roman scheint Bachmann daran gedacht zu haben, das Weiterleben faschistischer Ideen in Österreich zu Beginn der 1960er Jahre am Beispiel einer Art politischen Geheimbunds darzustellen (»Loge«; TKA 1, 164; Bachmann 2017, 72), mit dem die zentrale Figur Eugen in dem als »1. Kapitel« überschriebenen Fragment »Ein seltsamer Klub« Bekanntschaft macht. Wenn die Mitglieder dieses Klubs während des vorsichtigen ersten Abtastens auf Eugens Hinweis, dass sich »eine Un-Idee [in Österreich] reichlich lang mit Erfolg behaupten« konnte (TKA 1, 98), mit mehrdeutigem Wortgeplänkel reagieren (»Ein kleiner Unterbruch. Sieben Jahre. Sieben Jahr sind um«), scheint sich bereits anzudeuten, woran dann kurze Zeit später, als Eugen von den Menschenversuchen erfährt, die dieser »seltsame Klub« durchführt, kaum noch Zweifel bestehen: Diese »Gefühlsversuche«, »Liebesversuch[e]« und »Furcht- und Mut-Untersuchungen« (TKA 1, 99 f.) erinnern auf erschreckende Weise an die persönlichkeitszerstörenden und oft mit dem Selbstmord der Versuchspersonen endenden Experimente einer präfaschistischen Organisation im Berlin der 1920er Jahre, wie sie in Ingmar Bergmanns Film Das Schlangenei (The Serpent’s Egg, BRD/USA 1976) dargestellt werden (vgl. Bergmann 1977). Auch wenn Bachmann diesen Film nicht gesehen haben kann, zeugt die Widmung »Für Ingmar Bergmann, der von der Wand weiß« in einem handschriftlichen Entwurf aus dem Nachlass (Bachmann 2000, 63) immerhin von einschlägigen Affinitäten. In dem ersten Todesarten-Roman ist die Thematik nicht sehr weit ausgefaltet, doch vor allem, wenn Eugen in einem späteren Entwurf »aus dem Club« kommt und »zu verstört« ist, um sein Gegenüber richtig wahrzunehmen (TKA 1, 159; Bachmann 2017, 65), drängt sich der Gedanke auf, dass auch seine scheinbar unmotivierten Anfälle von Todesangst (TKA 1, 103–111) auf den Einfluss der von dem »seltsamen Klub« durchgeführten Experimente an Menschen zurückgehen. Im Verlauf der Weiterarbeit an diesem ersten Todesarten-Roman gerät das mit dem »1. Kapitel« skizzierte Konzept allerdings zugunsten der »Todesarten« von weiblichen Protagonisten allmählich in den Hintergrund; diese nehmen nicht nur immer mehr Raum ein, sie gewinnen auch unter dem Vorzeichen des (allerdings erst später explizit so genannten) »Faschis-
mus [...] als Wort für ein privates Verhalten« an Kontur (TKA 2, 53; W 3, 403). Zwar stellen erst die Vorreden zu dem Romanfragment Das Buch Franza die Poetologie des Todesarten-Projekts ausdrücklich in den Kontext der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, dennoch entspricht bereits der »gesellschaftliche Mikrokosmos« des ersten Todesarten-Romans »jener moralischen Darstellungsintention, die Ingeborg Bachmann zuletzt bezüglich der Simultan-Erzählungen bekräftigt hat« (Göttsche 2000, 26): »Zu sagen, was neben uns jeden Tag passiert, wie Menschen, auf welche Weise sie ermordet werden von den andern, das muß man zuerst einmal beschreiben, damit man überhaupt versteht, warum es zu den großen Morden kommen kann« (GuI, 116). In seiner sozialpsychologischen Ausrichtung weist Bachmanns Faschismusverständnis sicherlich Affinitäten zu dem der Frankfurter Schule auf (vgl. z. B. Thamer 1993, 222). In der Prämisse vom Faschismus als privatem Verhalten, die spätestens mit Beginn der Arbeit an dem Roman Das Buch Franza ins Zentrum der Todesarten-Poetologie rückt, ist zudem ein »gesellschaftliches Kontinuum« vorausgesetzt, »das die nationalsozialistische Herrschaft der Jahre 1933 bis 1945 uns hinterlassen hat«, und entscheidende Impulse in diesem Sinne dürfte Bachmanns »Arbeit an der Vergangenheit in der Gegenwart« (Briegleb 1992, 73) auch von der bereits genannten Rede Adornos (»Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«) mit ihrer zentralen These von dem »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« erhalten haben (Adorno 1977, 555 f.; Adornos [erste] Aufsatzsammlung mit dem Titel Eingriffe. Neun kritische Modelle [Frankfurt a. M. 1963], in die diese Rede aufgenommen wurde, befindet sich in Bachmanns Bibliothek). Zudem hat Bachmann im Mai 1962 das Manuskript zu dem 1963 unter dem Titel Wohin denn ich veröffentlichten Band ihrer langjährigen Freundin Marie Luise Kaschnitz gelesen (Kaschnitz 2000, 822). Kaschnitz beschäftigt darin ebenfalls der »Gedanke, daß die Grausamkeit, die damals mit so offenem Hohn gewaltet hatte, nicht wie durch einen Zauberschlag verschwunden sein könne, daß sie noch irgendwo lauere, bereit hervorzubrechen und völlig sicher, ihre Opfer zu finden« (Kaschnitz 1981, 51). Bachmann nimmt Kaschnitz’ Gedanken in den Vorreden zum Buch Franza (1966) auf, wenn sie fragt, »wohin der Virus Verbrechen gegangen« sei, der »doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unsrer Welt verschwunden sein« kann (TKA 2, 77; vgl. auch W 3, 341). In einem frühen Entwurf zu dem Kapitel »Jordanische Zeit« hat dieser »Virus Verbrechen« auch
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einen Namen: »Du sagst Faschismus«, so antwortet Franza auf einen (im Text ausgesparten) Einwand ihres Bruders, »[...] ich habe das noch nie gehört als Wort für ein privates Verhalten [...]. Aber [...] irgendwo muß es ja anfangen [...]« (TKA 2, 53; W 3, 403). Und im Juni 1973 – nach dem Erscheinen der italienischen Übersetzung des Romans Malina und vor dem Hintergrund des Neofaschismus in Italien darauf angesprochen, ob sie »das zweite Kapitel [...] auf diesen Faschismus hin geschrieben hätte« (GuI, 143) – bezieht Bachmann dieses Konzept des Faschismus als privates Verhalten ausdrücklich auf das Verhältnis der Geschlechter: der Faschismus »fängt nicht an mit den ersten Bomben, die geworfen werden, er fängt nicht an mit dem Terror, über den man schreiben kann, in jeder Zeitung. Er fängt an in Beziehungen zwischen Menschen. Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau« (GuI, 144). Der Beginn der Arbeit an dem Roman Das Buch Franza im Sommer/Herbst 1965 und bald danach an der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann steht historisch und literarhistorisch auf dem Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die um die Wende zu den 1960er Jahren einsetzte und nicht zuletzt eine Fülle von Publikationen hervorgebracht hat (darunter als populärstes Beispiel die Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, 1967). Im Hinblick auf Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Faschismus stellt die Weiterarbeit an den Todesarten um 1965/66 einen Neuansatz dar: Durch die Einsicht, dass die Geschichte im Einzelnen ihre Spuren hinterlässt (komprimiert in der vielzitierten Formel »Geschichte im Ich«; KS, 299; W 4, 230) wird der Blick nun konsequent auf die Einzelnen und ihren Anteil an dem ›Mordschauplatz Gesellschaft‹ gelenkt (TKA 3.1, 617; W 3, 276); die Katastrophen der »große[n] Geschichte« werden auf das »Denken« der Einzelnen, »das zum Verbrechen führt« (TKA 2, 270, 78; W 3, 433, 342), zurückgeführt (vgl. auch Göttsche 1998a, 164; Göttsche 1998b, 56–59). Spätestens bei der Arbeit am Buch Franza beginnt Bachmann auch, sich theoretisch mit dem Faschismus und seinen Opfern auseinanderzusetzen (vgl. Kommentar TKA 2, 402, 469–471). Entsprechend kreisen die in dieser Zeit entstandenen Entwürfe zum späteren Kapitel »Jordanische Zeit« »um die historischen und mentalitätsgeschichtlichen Querverbindungen zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Opfern, den Methoden der Psychiatrie und dem Verhältnis der Geschlechter in der modernen Gesellschaft« (Albrecht/Göttsche 1998, 254).
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In ihrem Todesarten-Projekt setzt Bachmann sich vor allem mit dem auseinander, was sie die »Krankheit unserer Zeit« nannte (GuI, 72). Gemeint ist damit die soziale und ›geistige‹ Gewalt der modernen westlichen Gesellschaft und der verborgene Zusammenhang zwischen der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur, dem Nationalsozialismus und der Unterwerfung bzw. Ausgrenzung des anderen, also jene »strukturelle Beziehung zwischen Faschismus, Patriarchat, Ethno- und Logozentrismus« (Weigel 1984, 5), die die BachmannForschung bis heute beschäftigt. In dem Romanfragment Das Buch Franza führt die Suche nach dem Ursprung faschistischen Verhaltens im Kontext von Bachmanns »Theorie des permanenten Kriegszustands« (Schneider 1999, 56) zunächst dazu, dass die Titelfigur als eine Frau gestaltet wird, die sich mit den Opfern des Faschismus identifiziert: Franza sieht sich selbst als »Spätschaden« (TKA 2, 215; W 3, 407) und glaubt, Parallelen zwischen ihrem Verhalten und dem der Zeugen der Nürnberger Prozesse zu erkennen (TKA 2, 305 f.; W 3, 457 f.), sie bezeichnet ihren Ehemann Leo Jordan ausdrücklich als »Faschist[en]« (TKA 2, 247) und denkt »an Jordan [...] nicht anders [...] als an [den KZ-Arzt] Körner« (TKA 2, 314; W 3, 462). In der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann wählt Bachmann einen anderen Zugang zum Thema der NS-Vergangenheit. Die Figur Fanny Goldmann gehört zu jenen »Strategen des Vergessens« (Heidelberger-Leonard 1994, 119), die ihre Erfahrungen in der NS-Zeit wie ein abgetragenes Kleidungsstück (hier: »die Uniform einer deutschen Flakhelferin«) ablegen und mit einem neuen (hier: in »ein[em] von Tante Paulette geschneiderte[n] dunkellila Kleid«) die Erinnerung an den Faschismus zudecken (TKA 1, 289; Bachmann 2017, 80). Auch in der Figur des jüdischen Remigranten Harry Goldmann, der sich später »mit der Geschichte der Juden beschäftigte« und »dem Eichmann-Prozeß beiwohnen« wird (TKA 1, 299 f.; Bachmann 2017, 91), ist die österreichische NS-Vergangenheit und deren Verdrängung in der Zeit nach 1945 in den Entwürfen zu der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann als Thema präsent, das allerdings erst in dem Fanny GoldmannTeil des späteren Goldmann/Rottwitz-Romans seine entscheidende Vertiefung erhält. Ein neues Konzept der Darstellung faschistischer Strukturen im Alltag der Nachkriegszeit hat Bachmann mit der Traumdramaturgie ihres Romans Malina gefunden, und die Figur des Vaters ist als »ein Tor zur Geschichte« gelesen worden, »die ›im Ich‹ [...] ihre Wirkung getan hat« (Bartsch 1997, 147). Entsprechend führt das Traumkapitel dieses Romans Versatz-
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stücke aus dem historischen Fundus der NS-Greuel vor, von der Gaskammer über den elektrischen Stacheldraht bis zu der SS-Uniform des Vaters in der berühmten Schlussinszenierung des Kapitels, die diese Figur in historischen Kostümen der Schlächter und Henker aller Zeiten zeigt (TKA 3.1, 502 f., 547 f.; W 3, 175 f., 219), zuletzt in »Silber und Schwarz mit schwarzen Stiefeln vor einem elektrisch geladenen Stacheldraht, vor einer Verladerampe, auf einem Wachturm« (TKA 3.1, 564; W 3, 235). Die »Reflexionen über die ›Spätschäden‹ des Nationalsozialismus in der Jugend der sechziger Jahre« (Göttsche 1998a, 195), die Episode über den Gymnasiasten Michael Frank und seine Mitschüler, die, »maskiert mit Abzeichen und Erkennungszeichen einer ihnen und den meisten ja schon völlig unbekannten SS« (TKA 3.2, 714), einen kollektiven Selbstmord planen, hat Bachmann hingegen nicht in die Druckfassung des Romans aufgenommen. Aktuelle Zeitbezüge, wie etwa ein Hinweis auf Jean Amérys Essay »Die Tortur« aus dem Jahr 1965 (TKA 4, 389; W 2, 421), finden sich dagegen in dem Erzählband Simultan.
Ausblick und Fragen Ein Aspekt der verbesserten Quellenlage, der im Umfeld von Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Faschismus zu verorten ist, wird die Forschung in Zukunft noch beschäftigen, nämlich der in einem Brief an Hans Magnus Enzensberger vom 19.9.1962 zum Ausdruck gebrachte »Hass auf dieses Deutschland, auf die Deutschen« (Bachmann/Enzensberger 2018, 275), den die Autorin ähnlich auch in einem wahrscheinlich aus derselben Zeit stammenden Nachlass-Fragment (TKA 1, 166: »ich hasse die Deutschen«) und in einem Briefentwurf an Karl Markus Michel aus dem Jahr 1968 artikuliert (N1523–1529; s. Kap. 30). Die Opferidentifikation der Franza-Figur hingegen ist der Bachmann-Forschung seit langem bekannt, jedoch noch nicht hinreichend hinterfragt worden. Während die Identifikation einer weißen Frau mit den von Weißen ausgebeuteten und vernichteten kolonisierten Völkern der Welt seit den frühen 1990er Jahren als problematisch gilt (s. Kap. 44), wurde Bachmanns literarische Strategie, diese Figur »in eine enge Symbiose mit den KZ-Opfern zu stellen« (Kienlechner 2000, 201), bislang mehr oder weniger akzeptiert. In ihrer »Biographie in Bruchstücken« hat Ina Hartwig jedoch den bis dahin kaum beachteten Beitrag von Sabina Kienlechner ins Rampenlicht gestellt (Hartwig
2017, 169 f.), in dem diese Strategie, das »Leiden« der Figuren »mit den Opfern des NS-Regimes in Verbindung zu bringen«, als unzulässige »Instrumentalisierung« eben dieser Opfer grundsätzlich in Frage gestellt wird (Kienlechner 2000, 200, 202). Wenn sich die Figur Franza selbst mit den Opfern des Kolonialismus und der Shoah vergleicht, ist dies zwar Figurenperspektive (Uerlings 2006, 188); ihre Krankheits-Symptome hingegen sind Teil der fiktiven Realität. Bachmann hat einschlägige Literatur wie etwa die von Alexander Mitscherlich herausgegebenen Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (Medizin ohne Menschlichkeit; vgl. Kommentar in TKA 2, bes. 469 f.) nicht zuletzt deshalb studiert, um diese Symptome von Holocaust-Überlebenden beschreiben zu können. Kurt Bartsch wies 1982 als Erster auch auf den »inflationär gebrauchten und daher nicht ganz unproblematischen Begriff« Faschismus in Bachmanns Werk hin (Bartsch 1982, 122). Irene Heidelberger-Leonard, die ebenfalls auf das Problematische der »private[n] Vereinnahmung dieser weltgeschichtlichen Katastrophe« und auf die »gefährliche terminologische Verwischung der Grenzen« aufmerksam gemacht hat (Heidelberger-Leonard 1994, 113 f.), kam später zu der Ansicht, dass Bachmann »nicht das Verbrechen [ba nalisiert], wohl aber kriminalisiert sie den Alltag« (Heidelberger-Leonard 1998, 88). Auch außerhalb der Bachmann-Forschung ist Bachmanns Art der Ausein andersetzung mit dem Nationalsozialismus auf Kritik gestoßen. Was die Autorin in einem Interview nach dem Erscheinen des Malina-Romans für ihre Arbeit in Anspruch genommen hat – dass »für einen Schriftsteller [...] noch etwas ganz anderes zu tun [bleibt]«, nämlich »auf eine andere Weise etwas zu sagen«, da »die Sprachen der Wissenschaft [...] bestimmte Phänomene überhaupt nicht erreichen« könnten (GuI, 90 f.) –, spricht der Historiker Hans-Ulrich Thamer ihr gerade ab: »Auch wenn man diesen Gebrauch des Faschismusbegriffs als ›Metapher‹ versteht, so bleibt unübersehbar, daß die Schriftstellerin damit der zeitgenössischen Inflationierung des Faschismus-Begriffs folgt, die der Historiker als wenig erkenntnisfördernd und gar als potentielle Verharmlosung der tatsächlichen Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus kritisieren muß« (Thamer 1993, 223). In diesem Kontext ist jedoch der Fragmentcharakter vieler später Texte zu berücksichtigen (Albrecht 1998b, 72–74; Albrecht 1998a; Weigel 1999, 484), insofern die in den Entwürfen vorliegenden Konkretisierungen des Themas Nationalsozialismus nicht zuletzt auch unter dem Aspekt der Suche nach einer Darstellungsweise des Faschis-
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mus in privaten Beziehungen zu lesen wären. Eine Erfahrung wenige Monate vor ihrem Tod hätte vermutlich große Bedeutung für Bachmanns weitere literarische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit Auschwitz gehabt. Während ihrer zehntägigen Reise nach Polen auf Einladung des Österreichischen Kulturinstituts Warschau im Mai 1973 hat sie auch die Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau besichtigt und in einem vom PRT Warszawa aufgenommenen Interview zu den erschütternden Eindrücken Stellung genommen: »Nun hilft einem alles nichts, wenn man das weiß, denn in dem Augenblick, wo man dort steht, ist alles ganz anders. Ich kann darüber nicht sprechen, weil ... es gibt auch nichts zu sagen. Es wäre mir vorher möglich gewesen, darüber zu sprechen, aber seit ich es gesehen habe, glaube ich, kann ich das nicht mehr ...« (GuI, 131). Quellen
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Monika Albrecht
29 Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft
29 Die Entwicklung der Nachkriegs gesellschaft Erst aus der Distanz der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wird die Nachkriegszeit in Bachmanns Werk zum Gegenstand eingehender Reflexion, zu einem Zeitpunkt also, als diese Epoche in der Sicht vieler Zeitgenossen, wie Martin Walser es im Mai 1967 in einer Rundfunksendung ausdrückte, bereits »deutlich aufgehört hat« (Walser 1968, 117). Mit der parallelen Arbeit an der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann und dem Roman Das Buch Franza kommt es zu jener »geschichtliche[n] Vertiefung der Nachkriegszeitdarstellung« (Göttsche 1998, 171), die in der Folge das Todesarten-Projekt kennzeichnen wird. In der Nachkriegszeit selbst – das heißt für Bachmanns Generation: in den rund zwei Jahrzehnten zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem gesellschaftlichen Umbruch der 1960er Jahre – ist die unmittelbare Gegenwart als Entstehungshintergrund wirksam, und entsprechend finden sich die Charakteristika dieser »Langen Fünfziger Jahre« (Abelshauser 1987) auf vielfältige Weise in Bachmanns Werk – etwa das Nebeneinander rivalisierender Literaturkonzepte, eine Art ungeschriebene Sprachregelung im Umgang mit der jüngsten Vergangenheit, die eklatante Ideologiefeindlichkeit und nicht zuletzt der Kalte Krieg mit seinen Konsequenzen, dem Antikommunismus, der Westbindung und damit einhergehend der Verdrängung der NS-Vergangenheit.
Literaturkonzepte in der Nachkriegszeit Mit ihren divergierenden Kulturkonzepten war die Nachkriegszeit auch reich an entsprechenden Konflikten (Hermand 1986, 13), und dazu gehörte vor allem die Kluft zwischen den literaturpolitischen Lagern und ihren jeweiligen Auffassungen von der Rolle der Zeitgeschichte in der Literatur. Bachmanns Position innerhalb der ideologisch polarisierten Kultur der 1950er Jahre ist eine Art Zwischenstellung, die auch als Ursache dafür gesehen wird, dass sie von den unterschiedlichsten Seiten her Anerkennung fand (Hotz 1990, 90, u. ö.). In diesem Sinne konnte bereits die zeitgenössische Kritik in ihrem Werk den »Ausdruck des mythisch-zeitlosen und zugleich diffizil-modernen Weltgefühls« erkennen (Fritsch 1957, 386; Hervorhebung M. A.). Das vielzitierte Statement der ersten Frankfurter Vorlesung im November 1959: »Daß
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Dichten außerhalb der geschichtlichen Situation stattfindet, wird heute wohl niemand mehr glauben« (KS, 266 f.; W 4, 196), dürfte entsprechend am Ende einer langen Orientierungsphase stehen, an dem das Pendel auf die Seite der »bewußte[n] Zeitgenossenschaft« ausgeschlagen ist (Höller 1987, 13). Zumindest zeichnet sich ab, dass eine Haltung bewusster Zeitgenossenschaft in den Jahren davor nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, sondern auch Schwankungen unterworfen war. In einem Entwurf aus dem Nachlass, der im ersten Teil eine überarbeitete Fassung der Skizze Biographisches (1952) darstellt (KS, 4–6; W 4, 301 f.), aber deutlich später, Mitte der 1950er Jahre entstanden ist (vgl. Kommentar zu KS, 539), hält Bachmann zum Beispiel »Zeitnähe« noch für etwas Zweitrangiges: »Die ›Zeitnähe‹ soll uns nicht kümmern; die Zeit prägt uns ohne Zutun« (KS, 9). Dies liest sich wie ein Zugeständnis an die konservative Kritik an ihrem ersten Lyrikband Die gestundete Zeit (1953), in dem »Zeitnähe« zu ihrem poetologischen Programm gehörte – etwa in dem Hinweis auf die »gestundete Zeit«, mit dem sie, wie vorher schon Wolfgang Koeppen in seinem Roman Tauben im Gras (1951), darauf aufmerksam macht, dass »die Zeit [...] kostbar« ist, »eine Atempause auf dem Schlachtfeld«, weil es der Menschheit nach Hiroshima möglich ist, »den Erdball in die Luft zu sprengen« (Koeppen 1986, 11; vgl. Höller 1987, 30). In den Gedichten des Bandes Anrufung des Großen Bären sind solche Zeitvokabeln dann stark zurückgenommen, und folgerichtig bescheinigte Hans Egon Holthusen, einer der herausragenden Repräsentanten der konservativen Literaturkritik, diesem zweiten Lyrikband, dass die »Zufälligkeiten der zeitgenössischen Szenerie« und die »Botschaften moralisch-politischer Art« dem »Notwendigen, Immerwährenden, Urbildlich-Wahren« gewichen seien: »Die gesellschaftlich-zivilisatorischen Bewandtnisse der Epoche treten zurück, und eine von allem allzu Heutigen gereinigte Aufmerksamkeit richtet sich auf die Erscheinungen des natürlich-kreatürlichen Seins« (Holthusen 1958, 566, 571 f.). Der Einfluss dieses Literaturverständnisses zeigt sich noch deutlich, wenn Bachmann Mitte der 1950er Jahre im Zusammenhang mit den Gedichten des zweiten Lyrikbandes Zeitnähe als poetologisches Konzept abwertet. Auch in den Interviews dieser Zeit geht sie wie selbstverständlich mit dem Vokabular dieser Literaturkonzeption um, etwa wenn sie Anfang 1955 über »die merkwürdige Beziehung zwischen zeitgebundenen Motiven, zeitgebundenen Sprachmitteln und dem absoluten Charakter eines Gedichts« spricht und er-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_29
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wähnt, dass bei Dante »die zeitgenössischen Themata eine überzeitliche Bedeutung gewonnen haben« (GuI, 11). Es erscheint zudem fraglich, ob Bachmann diese (Teil-)Orientierung am klassischen Dichtungsideal, die Ausrichtung der Literatur auf die sogenannte conditio humana und auf das Überzeitliche, zum Zeitpunkt der Frankfurter Vorlesungen abgelegt hatte. Denn zwar stellt sie in den Vorlesungen klar, wie wichtig die »geschichtliche Situation« für den Schriftsteller ist, gleichzeitig finden sich dort jedoch auch Sätze wie: »Zeitlos freilich sind nur die Bilder. Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt auch wieder der Zeit« (KS, 266; W 4, 195). Der Gedanke, dass auch die vermeintlich zeitlosen Bilder einmal unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Konstruiertheit betrachtet werden könnten, scheint Bachmann am Ende der 1950er Jahre noch ebenso fern zu sein wie Traditionalisten des Kulturbetriebes die Vorstellung, dass das Konzept des Allgemein-Menschlichen einmal als unzulässiger Universalismus des westlich-europäischen Denkens kritisiert werden würde. Bachmanns Festhalten an einem sozusagen unauflöslichen Rest zeitlosen Ideengutes macht jedoch deutlich, in welchem Maße die einflussreichen konservativen Strömungen des Literaturbetriebs noch Ende der 1950er Jahre das Denken der Vertreter der jüngeren Generation beeinflussten. Charakteristisch für die Nachkriegszeit ist sicherlich auch die allenthalben anzutreffende Katastrophenmetaphorik und »eine für die deutsche Nachkriegsliteratur typische Irrealisierung im Umgang mit den Verbrechen des Nazismus« (Weigel 1999, 261). Die jüngste Vergangenheit kam meist nur in vagen Andeutungen vor, man sprach etwa von dem »Geheimnis jenes geschichtlichen Unheils, das sich zu unseren Lebzeiten unter deutschem Himmel ereignet hat« (Holthusen 1958, 567). In seinem Essay »Von deutscher Vergeßlichkeit« aus dem Jahr 1956 hat Paul Schallück beklagt, dass das Naziregime und die von ihm verursachten Gräuel sozusagen zum unabwendbaren Schicksal hochstilisiert wurden, die Ursache der ›Katastrophe‹ dagegen stets undeutlich blieb: »Wir leben und tun immer mehr so, als sei nichts geschehen, als seien Trümmer und Massengräber lediglich die Folgen eines Orkans, einer Naturkatastrophe und nicht eines nationalsozialistischen Verbrechens, eines lange vorbereiteten und schließlich verlorenen Kriegs« (Schallück 1962, 13). Schon in frühen Arbeiten zu Bachmanns Lyrik finden sich kritische Stimmen, die darauf hingewiesen haben, dass in den meisten Gedichten »jede Ursache« für die lyrische Grundsituation »im Dunkel gelassen wird« (Thiem 1972,
63). Inzwischen wird die von Schallück kritisierte Schicksals- und Katastrophenmetaphorik der Nachkriegszeit auch grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Einfluss eines Literaturkonzepts gesehen, in dem »die Aufhebung in die Dimension des Ewigen und Immerwährenden [...] letztlich eine Auflösung von Zeit« bedeutet und »die Geschichte als Naturzusammenhang erscheint« (Weigel 1999, 243) – mit dem Ergebnis »eine[r] problematische[n] Metaphorisierung der Rede über die Nazi-Vergangenheit, die auch in Bachmanns Lyrik begegnet« (ebd., 79).
Ideologieverdacht und Ideologisierung im Kalten Krieg Ein herausragendes Merkmal der Nachkriegsmentalität war (auch und gerade bei den Intellektuellen und Schriftstellern) ein »allgemeine[r] Ideologieverdacht, der allerdings in seiner forcierten Betonung der bürgerlichen Individualität selbst ein deutlich ideologisches Moment enthält« (Hermand 1982, 107). Nach der Erfahrung des Krieges und des Faschismus herrschte jene Überzeugung vor, die auch Bachmann in ihrem Essay über Robert Musil aus dem Jahr 1954 zum Ausdruck brachte, »daß das Denken in geschlossenen Ideologien direkt zum Krieg führt« (KS, 99; W 4, 27). Mit Hannah Arendts Studie The Origins of Totalitarianism (1951; deutsch 1958) erschien in den 1950er Jahren ein Schlüsseltext dieser Gesellschaftstheorie; gleichzeitig waren in einem weniger reflektierten Umfeld jene Totalitarismusvorstellungen verbreitet, die Faschismus und Kommunismus gleichsetzten. Die Reaktion sehr vieler Intellektueller bestand darin, sich allen Ideologien zu entziehen und auf der eigenen, vermeintlich unabhängigen Position zu bestehen – eine Haltung, die in der Nachkriegszeit zu dem allgemeinen Rückzug ins Private und scheinbar Unpolitische beigetragen hat. Kritische Schriftsteller und Intellektuelle wie Bachmann haben dagegen eigene Wege gefunden, das Problematische jeglicher Ideologie mit ihren jeweiligen gesellschaftskritischen Überzeugungen zusammenzudenken. Alfred Andersch etwa hat sich in seinem Essay »Die Blindheit des Kunstwerks« (1956) zwar ebenfalls gegen jede Ideologie, gleichzeitig jedoch für »die Literatur einer ziellosen, aber keineswegs sinnlosen Revolte« ausgesprochen (Andersch 1965, 33; vgl. Hermand 1986, 576). Bachmann fand in der offenen Utopie ihres Landsmanns Robert Musil – »Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung« (KS, 120; W 4, 27) – einen An-
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satzpunkt, den sie dem »Denken in geschlossenen Ideologien« entgegenstellte, oder, wie sie es im Frühjahr 1954 in ihrem Radio-Essay über Musil ausdrückte: »Und doch ist [...] diese Utopie, als Richtbild, die Voraussetzung für ein anderes Richtbild, das den Menschen aus den ideologischen Klammern befreien kann« (KS, 121 f.; W 4, 101 f.). Im Umfeld der sogenannten Truman-Doktrin kam es im März 1947 offiziell zum ›Ausbruch‹ des Kalten Kriegs und in der Folge in weiten Teilen der Bevölkerung zur Entstehung einer Art »westliche[r] Ersatzidentität« (Davidis u. a. 1995, 16), einer dezidiert antikommunistischen Haltung, die in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs vor allem von amerikanischer Seite auch gezielt gefördert wurde. Deutliche Spuren dieses allgegenwärtigen Antikommunismus sind in den zwischen Juli 1954 und September 1955 unter dem Pseudonym Ruth Keller veröffentlichten Rundfunk- und Zeitungsbeiträgen zu finden: Sie sieht darin Italien durch »den Totalitarismus von links wie den von rechts« bedroht (Bachmann 1998, 31), sie hält es offenbar für erforderlich, die italienischen »Kommunisten nicht nur in Schach zu halten, sondern sie auch wirksam zu bekämpfen« (Bachmann 1998, 28), und die Vokabeln des Kalten Krieges – »Linksextremisten« (ebd., 18, 63), »ultrarote[r] Vormarsch«, »kommunistische[] Demagogie« (ebd., 63 f.) – sind in diesen Berichten überall präsent. Den Bericht vom 9.12.1954 hat Sara Lennox zudem treffend mit USamerikanischen Denkmustern der McCarthy-Ära verglichen, insofern Bachmann der Kommunistischen Partei unterstellt, dass sie alle Bereiche der italienischen Gesellschaft infiltriert habe (Lennox 2006, 303): »Die Untersuchungen ergaben, daß die kommunistische Partei über das ganze Land ein weites Netz geschäftlicher Beziehungen ausgebreitet hatte, möglich gemacht und begünstigt [...] auch durch die ›Mittäterschaft‹ gewisser Privatunternehmungen sowie durch die ›Unterstützung‹ ausländischer Staaten« (Bachmann 1998, 32). Die Berichte für Radio Bremen und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung sind nicht nur unter Pseudonym erschienen, sie dürften auch »im wesentlichen Zusammenfassungen«, zum Teil sogar »wörtliche Übersetzungen aus italienischen Zeitungen« gewesen sein (Höller 1999, 91). Anzeichen dafür, dass auch Bachmanns eigenes Denken (zumindest noch Mitte der 1950er Jahre) nicht ganz frei von antikommunistischen Einflüssen war, finden sich jedoch auch in ihrem literarischen Werk. Etwa zeitgleich mit der Arbeit an diesen Reportagen ist der Essay über Simone Weil und deren Kritik an »alle[n] Totalitarismen« entstan-
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den (KS, 179; W 4, 150). Auch Weil denkt, Bachmann zufolge, alle Systeme »von Allah bis zum Marxismus, vom römischen Imperium bis zu Hitler« zusammen und spricht von ihnen, in Anlehnung an Platos »Politeia«, als den »großen Tieren« (KS, 179 f.; W 4, 150). Kurt Bartsch hat diese Partien des Essays über Simone Weil mit dem Titelgedicht von Bachmanns zweitem Lyrikband in Zusammenhang gebracht, in dem die »Bedrohung durch Ideologien, die allesamt zu totalitärer Vereinnahmung, Verfügbarkeit und Minderwertung des Menschen neigen«, in dem Bild des »Großen Bären« verdichtet ist (Bartsch 1997, 64). Vor dem Hintergrund der Römischen Reportagen erscheint es nicht abwegig, bei diesem Bild des »Großen Bären« auch an jenen »Russischen Bären« zu denken, der in der Entstehungszeit des Gedichts in ein rotes Schreckgespenst verwandelt worden war. Der 2002 von Hans Höller edierte, handschriftliche Nachlassentwurf »Die ital. Kommunisten« (N350, 349) »mit seiner nachdenklichen Entfaltung eines anderen Begriffs von Politik« (Höller 2002, 7) dürfte deutlich später entstanden sein als die Römischen Reportagen.
Bachmanns Politisierung Ende der 1950er Jahre Vor diesem Hintergrund war die vielzitierte »Radikalität, die im Denken liegt und bis zum Äußersten« (KS, 455; W 4, 361), wenn man für die 1950er Jahre überhaupt davon sprechen kann, bei Bachmann sicher keine politische. Statt diese (nach 1969 ihrem Landsmann Thomas Bernhard zugeschriebene) Haltung suggestiv Bachmann selbst als Konstante zu unterstellen (Weigel 2014, 22), wären weitere Untersuchungen der Genese von Bachmanns politischen Positionen im Kontext der Nachkriegsgesellschaft wünschenswert. Es gibt einen Entwurf aus dem Nachlass, der explizit über den »Kommunismus« spricht und 1959 oder bald danach entstanden ist (bei dem zu Beginn des Textes genannten Buch des »Botschafter[s] in Bonn«, »Pietro Quaroni«, handelt es sich um die 1959 im Frankfurter Scheffler-Verlag erschienene Studie Die Stunde Europas); Bachmann notiert in dem Entwurf, »früh« schon habe sie den »Kommunismus als eine wirkliche Idee empfunden« (KS, 372). Vor dem Hintergrund ihres bis dahin vorliegenden Werks dürfte es sich bei dieser Aussage jedoch um eine ähnliche Rückprojektion handeln wie im Fall des Statements über den Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt (s. Kap. 28). Auch die Titel in Bachmanns Bibliothek, die auf eine eingehen-
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dere Auseinandersetzung mit dem Sozialismus schließen lassen, stammen allesamt aus den späten 1950er bzw. den 1960er und 1970er Jahren. Der eben zitierte, »Europa und Marxismus« genannte Entwurf gehört allerdings zu jenen »im Kontext ihres Werks eher ungewöhnlichen Texte[n]«, die in der Zeit entstanden sind, als »Bachmann mit einem der bekanntesten deutschsprachigen Zeit- und Gesellschaftskritiker zusammenlebte, mit Max Frisch« (Kommentar in KS, 601), einem durchaus nicht, wie Ina Hartwig fälschlich unterstellt, »so gemäßigten wie gefestigten Linken« (Hartwig 2017, 81). Auch das von Sigrid Weigel kolportierte Gerücht, die Schweiz sei deshalb »stolz auf den vielfach ausgezeichneten Schriftsteller« gewesen, weil dieser politisch »maßvoll war« (Weigel 2016, 32), hält keinem Faktentest stand. Es sei nur an die mehr als vierzig Jahre andauernde Bespitzelung durch die Schweizer Bundespolizei erinnert, von der Frisch erst kurz vor seinem Tod erfuhr (Frisch 2015). Wenn Frisch in einem Interview in New York im Frühjahr 1972 einmal mehr seine »politische Meinung« bekräftigte, »dass Eigentum an Grund und Boden abgeschafft werden muss, weil wir anders überhaupt unsere Welt nicht einrichten können« (Frisch 1973), oder wenn er um dieselbe Zeit von seiner Position eines »demokratischen Sozialismus« sprach (Frisch 1972, 26), dann handelt es sich bei ihm um keine Rückprojektion, sondern um Haltungen, die er tatsächlich bereits in den 1950er Jahren entwickelte. Wie in dem New Yorker Interview nebenbei erwähnt, kam diese politische Positionierung insbesondere im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Städtebau zum Tragen – nachzulesen in seinen einschlägigen Texten wie etwa in achtung: Die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat (1955), der 1953/54 sukzessiv in der Diskussion mit dem Soziologen und Nationalökonomen Lucius Burckhardt sowie unter anderem zwei »Vertreter[n] der Wirtschaft« entstanden ist (Frisch 1976, 291). Anders als Bachmann, die in dieser Zeit noch auf wenig originelle Weise »die alten Vorurteile des Kalten Krieges« bedient (Höller 1999, 91), sieht Frisch in der »Auseinandersetzung zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen [...] Kommunismus und Kapitalismus« eine einzigartige Chance und Herausforderung. Er will sie einerseits als Möglichkeit begreifen, »auf die grundsätzlichen Probleme« in der westlichen Welt »hinzuweisen« (Frisch 1976, 337), und andererseits als »ein Ringen«, »das letzten Endes nur durch bessere Leistung entschieden werden kann« – wobei er unter besserer Leistung den »bessere[n] Dienst am Menschen« verstand. Was ihn
interessierte, war entsprechend die Frage, in welchem System sich der »bessere Dienst am Menschen« realisieren ließe (ebd., 293). Vor diesem Hintergrund ist der Essay achtung: Die Schweiz ein Versuch, dies für die Schweiz im Detail durchzuspielen. Am Beispiel der Konzeption einer Stadt, die »eine Angelegenheit des Volkes« und nicht der »Superspekulation einer Gruppe« ist, entfaltet der Essay die Idee einer »soziale[n] Revolution der Gegenwart« innerhalb des westlichen Systems (Frisch 1976, 331, 294). Was die Einschätzung des vermeintlich »gemäßigten« Max Frisch angeht, ist ein Umdenken in der Bachmann-Forschung also dringend nötig. Wenn Bachmann in dem in der Zeit mit Frisch entstandenen Entwurf »Europa und Marxismus« fortfährt: »immer zurückschreckend vor dem Preis für die Verwirklichung. [...] Mein die Hände in den Schoß legen, sieht mir manchmal selber aus wie ›Einverständnis‹, wie die Annahme des Bösen, ein Ja-sagen zu einer Welt, die ich nicht gutheißen kann. Aber es ist doch vor allem eine Lähmung« (KS, 372), dann deutet dies auf eine spätere Position voraus, in der die Autorin zusehends weniger politisches ›Einverständnis mit der Welt‹ signalisiert. Im Januar 1963 nach ihrer derzeitigen Lektüre befragt, gab sie an: »Im Moment sieht es [...] nach recht systematischer Beschäftigung aus mit dem historischen Materialismus« (GuI, 42; vgl. auch das Zitat aus der sozialistischen Internationale, »zum letzten Gefecht«, im Wüstenbuch; TKA 1, 248). Und als Bachmann im Sommer 1973 erklärte, sie »glaube nicht an diesen Materialismus, an diese Konsumgesellschaft, an diesen Kapitalismus, an diese Ungeheuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern« (GuI, 145), konnte der Abstand zu ihren ›ideologiefeindlichen‹ Texten der Nachkriegszeit nicht größer sein. Lennox hat zudem darauf hingewiesen, dass die Partien in dem Roman Malina über die »erste Nachkriegszeit« (TKA 3.1, 598) von marxistischer Terminologie und zum Teil deutlichen Referenzen auf Das Kapital und andere Texte durchzogen sind: »Anhäufung von Waren«; »Jeder, der arbeitet, war, ohne es zu wissen, ein Prostituierter, wo habe ich das schon einmal gehört?« (TKA 3.1, 599, 596; vgl. Lennox 2006, 329).
Gender in der Nachkriegszeit Der Kalte Krieg nach außen brachte nach innen die Konsolidierung einer politischen und sozialen Ordnung mit sich, die auf einem Bekenntnis zur west-
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lichen Kultur und nicht zuletzt zum American Way of Life basiert. Diese Westbindung Deutschlands und Österreichs unter den Bedingungen des Kalten Kriegs führte nicht zuletzt zu der neuerlichen Stabilisierung von Familie und Privatleben und entsprechend zur Redomestizierung der weiblichen Hälfte der Bevölkerung, womit beiden Geschlechtern wieder ihr vermeintlich natürlicher Platz in der sozialen Ordnung zugewiesen wurde. Feministische Theorien, vor allen in ihren intersektionalen Ausrichtungen, stellen einen komplexen theoretischen Rahmen bereit, in dem der Begriff Gender dezentriert ist und alle andern Determinanten in den Blick geraten, die das Leben von Frauen und Männern innerhalb der jeweiligen sozialen und historischen Situation formen. Materialistisch-feministische Theorien verstehen darüber hinaus literarische und andere Texte als Interventionen in sinnstiftende und meinungsbildende Praktiken. In diesem Sinne haben Texte mit der Konstruktion dessen zu tun, was in der jeweiligen geschichtlichen Situation als real und normal gilt, als ›the way things are‹, und sind daher geeignet, die herrschenden Verhältnisse entweder zu stützen oder in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund hat Sara Lennox Bachmanns weibliche Figuren als Produkte des spezifischen Gender-Diskurses der Nachkriegszeit gelesen (vgl. Lennox 2006, Kapitel 10). Der Ich-Aspekt der Ich-IvanRelation in dem Roman Malina wäre demnach als eine zeitspezifische Darstellung dessen zu verstehen, was in der Nachkriegszeit als weiblich definiert worden ist. So gesehen würde das Ich in den Alltagssituationen mit Ivan gleichsam dem Drehbuch folgen, das die Nachkriegszeit für Frauen bereithielt (wobei der Ende der 1960er Jahre spielende Roman jedoch auf Weiblichkeitsvorstellungen der 1950er Jahre rekurriert, die ihrerseits an ältere Modelle anknüpfen). Zu fragen wäre allerdings, wieso eine Darstellung des status quo diesen, wie Lennox anzunehmen scheint, auch notwendig kritisch hinterfragen oder sogar subversiv unterlaufen muss. Interessant könnte der ›Drehbuch‹-Ansatz des materialistischen Feminismus jedoch sein, wenn man den Ich-Aspekt des Traumkapitels als eine Darstellung jener zeitspezifischen Ausweichbewegungen versteht, die Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrer Studie Die Unfähigkeit zu trauern aus dem Jahr 1967 als Charakteristikum der nachkriegsdeutschen Psyche beschrieben haben (Lennox 2006, 312). Liest man den übermächtigen Vater (mit den Mitscherlichs) als Bachmanns Variante jener Vaterprojektionen, die in der kollektiven Psyche der Nachkriegszeit an die Stelle von
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Hitler getreten sind und die den Nachkriegsdeutschen erlaubt haben, sich mit den Siegern zu identifizieren, sich selbst sozusagen als Hitlers Opfer zu sehen und den Holocaust zu vergessen, dann lässt sich zumindest ein Teil der »verschwiegenen Erinnerung« der Ich-Figur als verdrängte Erinnerung an die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus verstehen, als unbewältigte Vergangenheit, von der sie in ihren Träumen verfolgt wird. Das zweite Kapitel des Malina-Romans würde somit nicht nur Bachmanns ›Trauma‹ mit Max Frisch ausdrücken (Schiffermüller/Pelloni 2017, 105– 116), sondern nicht zuletzt die kollektive Verdrängungs-›Leistung‹ der Deutschen und Österreicher in der Nachkriegszeit zur Darstellung bringen. Um diesen Ansatz weiterzudenken, könnte auch an die doppelte Bedeutung des zentralen Begriffs »Blutschande« erinnert werden – einerseits im Sinne der Nürnberger Gesetze und andererseits im Sinne des Inzest. Das Ich kreiert im Traum diese Vaterfigur (mit dem Potential der Blutschande als Inzest), um im Sinne der Freudschen Deckerinnerungen etwas anderes zu verbergen, nämlich dass es ihm (wie auch der Fanny-Figur; TKA 1, 127; Bachmann 2017, 27) nicht gelingt, an den Begriff »Blutschande« im Sinne der Nationalsozialisten heranzukommen. In einem Dialog versucht Malina, dem Ich gerade dies klarzumachen: »Ich: [...] ich komme nicht weiter, es zeigt sich nichts, ich höre immer nur [...] eine Stimme [...], die sagt: Blutschande. Das ist doch nicht zu verwechseln, ich weiß, was es heißt. / Malina: Nein, nein, du weißt es eben nicht« (TKA 3.1, 552). Die Deutung dieses IchAspekts in dem Roman Malina als Darstellung der kollektiven Verdrängungs-›Leistung‹ in der Nachkriegszeit schließt jedoch nicht aus, dass das Ich auch ein Opfer männlicher Dominanz und der faschistischen Strukturen der Nachkriegszeit ist. Sie wirft jedoch neues Licht auf die problematische Identifizierung der Bachmannschen Figuren mit den Opfern des Faschismus (s. Kap. 28).
Darstellungen der Nachkriegszeit Irene Heidelberger-Leonard hat darauf hingewiesen, dass die NS-Vergangenheit und Auschwitz tatsächlich »kein Thema, und sicherlich kein greifbares« in Bachmanns Werk sind (Heidelberger-Leonard 1994, 113). Die in der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann und im Goldmann/Rottwitz-Roman skizzierte Geschichte des Selbstmords des Obersten Wischnewski, Fanny Goldmanns Vater, im Jahr 1938 gehört zu den
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wenigen Ausnahmen (TKA 1, 289 f., 292, 390, 450; Bachmann 2017, 80, 83, 193, 274), und erklärtes Ziel der Autorin war es, einer Angabe aus dem Jahr 1969 zufolge, ein »Bild der letzten zwanzig Jahre« (GuI, 66), der Nachkriegszeit zu gestalten. Dabei scheint es Bachmann weniger um die deutsche als vielmehr um die österreichische Nachkriegszeit zu gehen (Göttsche 1998, 180, 183), die nicht zuletzt wegen der »offizielle[n] staatliche[n] Nachkriegspolitik« »kulturell und mentalitätsgeschichtlich« durch ihre »Kontinuität mit der Epoche vor 1938« geprägt war (Höller 1999, 40 f.). Jedenfalls sind für den Goldmann/Rottwitz-Roman, in dem Bachmann den ›Mordschauplatz Gesellschaft‹ »nicht zuletzt als deutsch-österreichisches Schlachtfeld darstellen wollte« (Albrecht 1993, 136) und der eben wegen der Kontrastierung von Deutschland und Österreich entsprechende Erwartungen wecken könnte, keine Entwürfe dieser Art überliefert. Zudem gilt ihr Interesse zunehmend der »ersten Nachkriegszeit«, wie es im Goldmann/Rottwitz-Roman und parallel dazu auch im Malina-Roman heißt (TKA 1, 353; TKA 3.1, 598), jener »längst vergangenen Zeit, die alle, die in ihr gelebt haben, die erste Nachkriegszeit nennen, ohne daß man je jemand von einer zweiten Nachkriegszeit sprechen gehört hätte, und womit ungefähr die Jahre von 1945 bis 1952 gemeint sein dürften« (TKA 1, 389; Bachmann 2017, 192). Zu Beginn des Radioessays über Simone Weil aus dem Jahr 1955 findet sich eine Kurzcharakteristik der frühen 1950er Jahre, die schon an die späteren Reflexionen denken lässt: »1953 – das bedeutete, daß man das Wort vom ›geistigen Vakuum‹ nur mehr selten hörte und über so allgemeine Forderungen wie der nach ›geistiger Erneuerung‹ zu den Forderungen des Alltags übergegangen war. Man hatte ja aufgeholt, was aufzuholen war, alles Ungewöhnliche hatte wieder seinen Platz in der Ordnung des kulturellen Lebens« (KS, 155; W 4, 128). An diese Art der Reflexion über die »erste Nachkriegszeit«, und zwar nunmehr »als einer eigenständigen Umbruchperiode« (Göttsche 1998, 172), knüpft die Autorin vor allem in ihrem Roman Malina und in den Entwürfen zum Goldmann/Rottwitz-Roman an. Die erste Nachkriegszeit in Wien mit ihrem »Schwarzmarkt« (TKA 3.1, 598 f.), den Ruinen und den Entbehrungen zur Zeit des Wiederaufbaus (TKA 3.1, 598; TKA 1, 441; Bachmann 2017, 263), der versäumten geschichtlichen Möglichkeit und der Remigration nach dem Ende des Kriegs (TKA 1, 442; Bachmann 2017, 264) und nicht zuletzt dem »Bedürfnis, an die vorletzte Vergangenheit anzuknüpfen«
(TKA 1, 443; Bachmann 2017, 265), wird zum tragenden Bestandteil der zeitgeschichtlichen Ebene dieser Romane. Andere zentrale Aspekte der Nachkriegszeit wie etwa der Kalte Krieg, der Antikommunismus und die Westbindung sind dagegen allenfalls am Rande gegenwärtig. In Gestalt von Jordans Bruder, der »Kommunist« ist, greift Bachmann in einem frühen Entwurf zum Buch Franza nochmals das Thema Antikommunismus des ersten Todesarten-Romans auf (TKA 1, 100–102); dieser ist »Gründer einer der ersten Zeitungen Wiens nach dem Kriege«, wird jedoch schon bald wieder »aus dem Impressum« »zum Verschwinden gebracht« (TKA 2, 63). Sowohl in der Stepanek-Episode des ersten Todesarten-Romans als auch in der Wiederaufnahme des Motivs im Franza-Roman fällt jedoch auf, dass Bachmanns Interesse weniger dem Antikommunismus als Alltagsphänomen, sondern den Opfern dieser in der Nachkriegszeit überall präsenten Haltung gilt. Ein umfangreicher später Entwurf zum Goldmann/Rottwitz-Roman (TKA 1, 440–452; Bachmann 2017, 263–278) »liest sich insgesamt wie die Skizze einer geplanten, aber nicht mehr ausgeführten erheblichen Ausweitung der zeitgeschichtlichen Retrospektive« (Göttsche 1998, 178). Es ist also davon auszugehen, dass die »erste Nachkriegszeit« zu den Aspekten des Todesarten-Projekts gehört, die Bachmann noch weiter ausfalten wollte. Quellen
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30 Der kulturgeschichtliche Umbruch von 1968 »Weit draußen [...] sammeln sich Leute zu Ostermärschen, Protestkundgebungen, Aufklärungsaktionen [...], es muß etwas passiert sein, sonst wären sie nicht zusammengekommen« (Walser 1968, 115). So kennzeichnete Martin Walser jenen umfassenden gesellschaftlichen Wandel, der mit der symbolischen Jahreszahl 1968 und Stichworten wie Vietnamkrieg, Studentenrevolte, Neue Frauenbewegung etc. nur unzureichend charakterisiert ist. Angesichts der Forderung nach welt- und gesellschaftspolitischem Engagement verließen viele Schriftsteller den Schreibtisch zugunsten politischer Aktivitäten oder funktionalisierten ihn zumindest in diesem Sinne um. Zudem begannen viele, auch ältere Schriftsteller ihre eigene Arbeit kritisch zu hinterfragen. Marie Luise Kaschnitz etwa, die den Umbruch der 1960er Jahre selbst sehr genau registriert und reflektiert hat, notiert im April 1965 ein Gespräch mit Bachmanns früherem Lebensgefährten: »Frisch hat einen gewissen Haß auf die Literatur, die Kultur, den Kulturschaum [...]. Alle Berichte, etwa über die sozialen Verhältnisse im Volkswagenwerk, die Lage in Hungergebieten usw., erschienen ihm viel wichtiger« (Kaschnitz 2000, 926). Bachmann hielt dies jedoch nicht für die Aufgabe des Schriftstellers (vgl. KS, 489; W 4, 296), wie denn ihre Entwicklung in den 1960er Jahren überhaupt »an manchen aktuellen Trends« vorbeilief (Schneider 1999, 20). Für jene Kollegen, die nach Wegen suchten, der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, die aus ihrer Rolle als öffentliche Person erwächst, hatte sie im Gegenteil wenig schmeichelhafte Bemerkungen übrig: »die deutschen Schriftsteller, die sich dem Verdacht aussetzen, radikale, gefährliche Ansichten zu vertreten, [denken] fast ausnahmslos derart gemäßigt [...], daß sie sich in einem anderen Land, etwa in Italien oder Frankreich, dem Verdacht aussetzen würden, zuwenig zu denken« (GuI, 50). In einem, allerdings nicht abgeschickten, Brief an Hans Magnus Enzensberger schrieb sie sogar, dass ihr die sogenannte »Kulturrevolution« »unsäglich lächerlich vorkommt« (Bachmann/Enzensberger 2018, 194). Gemessen an den vielfältigen Möglichkeiten, die die 1960er Jahre bereithielten, war Bachmann zudem – was ihr vermutlich nicht nur Hans Werner Henze zum Vorwurf gemacht hat – politisch nicht sehr engagiert (vgl. Lennox 1992, 105). Zwar hat sie beispielsweise die im Dezember-Heft 1965 der Zeitschrift Konkret
gedruckte »Erklärung über den Krieg in Vietnam« unterschrieben; verglichen mit dem Engagement anderer Schriftsteller gegen diesen Krieg erscheint dies jedoch eher wie eine Geste. Mit der allgemeinen Politisierung der Literaturszene wurden »vorher gültige und die Nachkriegsliteratur prägende Konzepte radikal aufgekündigt« (Hotz 1990, 142), und stellvertretend für viele erklärte Enzensberger, dass sich für »literarische Kunstwerke [...] eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben« lässt (Enzensberger 1968, 195). Dagegen stellte Bachmann noch in einem Interview zu Beginn der 1970er Jahre auf die Frage nach dem totgesagten Genre Roman lakonisch fest: »Dann muß man eben die Leiche wieder exhumieren. Während diese ganze Diskussion stattfand, habe ich mich einfach hingesetzt und geschrieben – sie interessiert mich nicht« (GuI, 78). Der Interviewer bezog sich auf damals vieldiskutierte Texte wie etwa »Ein Kranz für die Literatur«, der im November-Heft 1968 der Zeitschrift Kursbuch erschienen war. Nicht lange danach (zur Datierung vgl. TKA 1, 688) entwirft Bachmann einen Brief an den Verfasser Karl Markus Michel (N1523– 1529), in dem sie sich gleich zu Beginn positioniert. Auf den vermeintlichen eigenen Abschied von der Literatur in Keine Delikatessen Bezug nehmend, dem Gedicht, das mit drei weiteren im selben Kursbuch 15 (1968) erschienen war, heißt es in dem Brief: »Leid tut mir nur, dass ein altes Gedicht von mir in die Kerbe schlägt, die Sie grade erst erfunden haben, das wollte ich nicht« (N1523; zit. nach Kommentar in Bachmann/Enzensberger 2018, 334). In einem weiteren undatierten Brief oder Briefentwurf schreibt sie: »wenn ich geahnt hätte, daß ich mit Beckett die Ehre habe, vor dem ›Ende der Literatur‹ abgedruckt zu werden, hätte ich die Manuskripte vermutlich zurückgezogen« (Kopie im Besitz der Erben). Der Brief an Michel enthält abfällige Urteile über den Adressaten und andere Autoren des politischen Lagers, und sein Ton ist oft polemisch – zusammen mit dem Entwurfszustand ein Indiz, dass er nicht abgeschickt wurde (vgl. auch Weigel 1999, 397, Fußnote 99). Wie in dem oben zuerst zitierten Interview (GuI, 50) findet sich auch hier die kaum haltbare Behauptung, dass man außerhalb von Deutschland kein Verständnis für Michels Kranzniederlegung haben würde (N1523) – die sie dann pauschal aburteilt: »Und jetzt legen Sie ihr einen Kranz hin, der neuen oder der alten Literatur, wem eigentlich, Kafka, Joyce, oder Proust oder Pound und Benn, die waren alle gar nicht sprachlos, sondern vehement, lauter Tollköpfe, wenn Sie wol-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_30
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len, aber sie konnten sich ausdrücken, und heute allerdings kann sich kaum jemand ausdrücken, alles murmelt, das ist wahr, es ist ein grosses Gemurmel, das mir wenig gefällt, oder es gibt die Mauerdichter, aber die nehmen Sie doch auch nicht ernst. Vorwärts für den Sieg, Nieder der Imperialismus, das sind liebe Wünsche, aber es ist schlecht ausgedrückt und schlimmer noch, es lässt sich verwechseln mit allem« (N1529, zit. nach Weigel 1999, 397). Das Stichwort »Mauerdichter« bezieht sich auf die Wandinschriften in Paris im Mai 1968, um die es u. a. im ersten Teil von Michels Essay geht (Michel 1968, 169–173); der Hinweis auf die ›gar nicht sprachlosen‹ Schriftsteller der klassischen Moderne dürfte ex negativo auf dessen Schluss antworten, wo es heißt, das »Verstummen«, die »verröchelnde Stimme der Poesie« (Beckett), erkläre »zwingender als jedes Manifest [...], daß unsere Welt sich nicht mehr poetisieren läßt, nur noch verändern« (Michel 1968, 185). Der Brief-Entwurf enthält allerdings keine eingehende Auseinandersetzung mit Michels Essay, sondern ist eher eine mit Peter Weiss, wahrscheinlich – aber wohl nicht ausschließlich – mit seinem Dokumentationsband Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam (N1524 könnte sich u. a. auf das Kapitel »Der amerikanische Pilot« beziehen; Weiss 1968, 138–142). Bachmann kritisiert die Darstellung des (Vietnam-)Krieges bei Weiss und stellt in Reflexionen über Krankheit, Angst, Mord, Hass und den ›Krieg im Frieden‹ (im Sinne des Malina-Romans und der Todesarten-Fragmente) ihre eigenen Erfahrungen und literarischen Alternativen dagegen. Der Vorwurf an Weiss und andere Autoren, ihre Figuren seien allzu schematisch dargestellt, verfehlt zwar die Intentionen der zeitgenössischen Dokumentarliteratur und des Dokumentartheaters, erinnert jedoch an eine Interview-Aussage von 1968. Darin gab sie für sich selbst an, »in neueren Arbeiten [...] etwas dazugelernt« zu haben, nämlich, dass man literarische Figuren »nicht zu Ende definieren darf [...]. Man muß ihnen einen Spielraum lassen« (GuI, 54). Dass sie in solchen darstellerischen Fragen das eigentliche Dilemma vieler Schriftsteller der 1960er Jahre sieht (N1526), zeigt deutlich, wie weit sie in diesem Briefentwurf von den Positionen von Weiss und Michel entfernt war. Hans Höller und Arturo Larcati gehen davon aus, dass Bachmann sich durch Michels Essay provoziert fühlte, auch wenn er sich in seinem »Angriff auf die etablierte Literatur« (Michel 1968, 177) gar nicht auf Bachmann bezieht. Doch lese sich sein Essay »indirekt [...] wie ein polemischer Kommentar zu den Gedich-
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ten, wenn er zu diesem Typus von Literatur anmerkt, dass die ›Gegenden, in die sie vordrang, [...] auf keinem utopischen, geschweige denn sozialen Atlas zu finden‹ sei und sich diese ›privilegierte‹ Literatur ›bestenfalls als Negativ (und ketzerisches Alibi) der bürgerlichen Gesellschaft definieren‹ lasse« (Höller/Larcati 2016, 135; vgl. Michels 1968, 177). Mit Blick auf die bis heute andauernden gesellschaftlichen Folgen des Umbruchs von 1968 reichen die Thesen der Neuen Frauenbewegung weiter als die Behauptung vom ›Tod der Literatur‹. Von dieser Errungenschaft der 1960er Jahre hat sich Bachmann in Interviews ebenfalls deutlich distanziert, etwa im Mai 1971, als sie erklärte, »daß sie von der ganzen Emanzipation nichts hält« (GuI, 109; vgl. Kap. 40, Abschnitt über Kaschnitz, zu Bachmanns Haltung zu der beginnenden ›sexuellen Befreiung‹ in den 1960er Jahren). Aussagen dieser Art werden meist mit dem Hinweis beiseite geschoben, dass die Autorin sich generell dagegen gewehrt habe, die »Phrasen« ihrer Zeit nachzusprechen (vgl. KS, 490; W 4, 297; GuI, 72, 91). Dennoch ist offenkundig, dass Bachmann etwa in der damaligen Infragestellung traditionellen Rollenverhaltens eher die Gefahr eines Verlusts als die Chance einer Befreiung sah, etwa wenn sie den »Zauber« und »Charme der Wiener Frauen« gegen die »〈laute〉 Emanzipiertheit« der Italienerinnen ausspielt (TKA 4, 16, 14; vgl. Albrecht 2004). Wie fremd ihr dieses neue Denken war, zeigt auch ein Interview aus dem Jahr 1971, in dem sie nach dem offenbar traditionellen Rollenverständnis des weiblichen Ich in Malina gefragt wurde. Darauf hingewiesen, dass die »Frauen heute [...] nicht mehr bereit [seien], diese traditionelle Rolle zu spielen«, gab sie zur Antwort: »Für mich stellt sich nicht die Frage nach der Rolle der Frau, sondern« – als wenn sich dies trennen ließe – »nach dem Phänomen der Liebe – wie geliebt wird« (GuI, 109). Auch wenn die öffentlichen Debatten der 1960er und frühen 1970er Jahre noch ein recht simples Bild von der Geschlechterproblematik vermittelt haben mögen, lässt sich in Bachmanns Ablehnung der Bewegung schwerlich jener größere Weitblick ablesen, der ihr immer wieder unterstellt wird. Ihre Äußerungen ähneln im Gegenteil den ›Befunden‹ der 1980er Jahre: Während die Probleme in dieser Zeit des Rückschlags (backlash) auf die Tatsache zurückgingen, dass sich tatsächlich nur wenig geändert hatte und selbst das mühsam Erreichte bereits wieder verloren zu gehen drohte, wurde allenthalben verbreitet, dass der Feminismus eine Generation von zwar emanzipierten, jedoch unglücklichen und überforderten Frauen hervorgebracht habe
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(vgl. Faludi 1992, bes. IX–XXIII). Dieser Ton klingt auch in dem eben zitierten Interview an: »Die pseudomoderne Frau mit ihrer quälenden Tüchtigkeit und Energie ist für mich immer höchst seltsam und unverständlich gewesen« (GuI, 109). Auch über Interviews und Briefstatements hinaus scheint Bachmann den vielschichtigen Umbrüchen der 1960er Jahre eher distanziert gegenüber gestanden zu sein. Die Themen der Zeit um 1968 finden sich etwa im »Goldmann/Rottwitz-Roman mit seiner in der Mitte der sechziger Jahre spielenden Rahmenhandlung«; dieser Roman lässt auch im Ansatz »den gesellschaftlichen Wandel der ›letzten zwanzig Jahre‹« erkennen, jedoch noch ohne die Facetten der Politisierung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens (Göttsche 1998, 176, 184). Stichworte hierzu gehen jedoch in den Malina-Roman (allerdings vor allem in die kurz vor der Drucklegung herausgenommenen Textteile) und in die beiden Rahmenerzählungen des Simultan-Bandes ein. Dabei entsteht jedoch oft der Eindruck, als handele es sich tatsächlich nur um Stichworte und Zeitvokabeln – etwa wenn die Sekretärin des Ich in einer Zeitungsumfrage angibt, »die Männer, die sie wirklich bewundert, die heißen Martin Luther King, Lumumba und Che Guevara« (TKA 3.2, 711), oder wenn Malina vor Gästen zu einer sicherlich ironisch gemeinten, aus heutiger Sicht aber fast altväterlich wirkenden Reflexion über »flower power« ansetzt (TKA 3.2, 712). In der Erzählung Drei Wege zum See wird die Kampagne zur Abschaffung des § 218 für die Hauptfigur lediglich zum Anlass für eine neuerliche Formulierung ihrer Medienkritik und für eine Reflexion darüber, »daß das alles sie gar nichts anging« (TKA 4, 420; W 2, 447). Die Pariser Studentenrevolte wird bereits im Spiegel ihrer Desillusionierung dargestellt (»wo war der Mai geblieben?«; TKA 4, 470; W 2, 486), und auch die angekündigte Reise nach Saigon bleibt als Begründung für die Risikobereitschaft der Protagonistin letztlich austauschbar (TKA 4, 470; W 2, 485). Mit der sich hier aufdrängenden Frage, ob Bachmann die gesellschaftsgeschichtliche Zäsur, deren Zeugin sie war, tatsächlich als solche erkannt hat, tut sich allerdings ein weites Forschungsfeld auf, das in den vergangenen zwanzig Jahre kaum Aufmerksamkeit gefunden hat.
Quellen
Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Enzensberger, Hans Magnus: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), 187–197. Kaschnitz, Marie Luise: Tagebücher aus den Jahren 1936– 1966. Hg. von Christian Büttrich, Marianne Büttrich und Iris Schnebel-Kaschnitz. 2 Bde. Frankfurt a. M./Leipzig 2000. Michel, Karl Markus: Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These. In: Kursbuch 15 (1968), 169– 186. Walser, Martin: Engagement als Pflichtfach für Schriftsteller. Ein Radio-Vortrag mit vier Nachschriften. In: Ders.: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt a. M. 1968, 103– 126. Weiss, Peter: Notizen zum kulturellen Leben der Demokratischen Republik Viet Nam. Frankfurt a. M. 1968.
Literatur
Albrecht, Monika: »A man, a woman...«. Narrative Perspective and Gender Discourse in Ingeborg Bachmann’s »Malina«. In: Gisela Brinker-Gabler/Markus Zisselsberger (Hg.): If We Had the Word: Ingeborg Bachmann. Views and Reviews. Riverside CA 2004, 127–149. Faludi, Susan: Backlash. The Undeclared War Against American Women. New York 1992. Göttsche, Dirk: Ein »Bild der letzten zwanzig Jahre«. Die Nachkriegszeit als Gegenstand einer kritischen Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt. In: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.): »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Würzburg 1998, 161– 202. Höller, Hans/Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von »Böhmen liegt am Meer«. München 2016. Hotz, Constance: »Die Bachmann«. Das Image der Dichterin. Ingeborg Bachmann im journalistischen Diskurs. Konstanz 1990. Lennox, Sara: The Feminist Reception of Ingeborg Bachmann. In: Women in German Yearbook 8 (1992), 73–111. Schneider, Jost: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns. Erzählstil und Engagement in »Das dreißigste Jahr«, »Malina« und »Simultan«. Bielefeld 1999. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Monika Albrecht
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31 Österreichthematik Ingeborg Bachmann war und ist, was man als eine transnationale Autorin bezeichnen kann; ihre Werke wurden zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt und in vielen Ländern rezipiert. Zu ihren Lebzeiten wurde Bachmann von den bundesdeutschen Medien selten als eine spezifisch ›österreichische‹ Schriftstellerin betrachtet (vgl. Krylova 2011, 79). Das ikonische Porträt der Autorin in der Zeitschrift Der Spiegel z. B. beschreibt ihre Gedichte als »junge deutsche Lyrik« und ordnet ihre Italien-Erfahrung »Generationen von Künstlern aus dem Norden« zu (Anon. 1954, 29, 27). Aus ihren eigenen Interview-Statements und Werken geht jedoch hervor, dass ihr Geburtsland Österreich und österreichische Identität für Bachmann von großer Bedeutung waren, auch wenn sie seit ihrem 27. Lebensjahr außerhalb Österreichs wohnte. Ihre Beziehung zu Österreich ist in zahlreichen Interviews dokumentiert, vor allem in denjenigen, die zur Zeit der Veröffentlichung ihres Romans Malina (1971) und des Erzählbands Simultan (1972) erschienen sind. In diesen ›Spätwerken‹ (und in ihrem unabgeschlosse nen Todesarten-Projekt insgesamt) erfährt Bachmanns »Haßliebe« zu Österreich und seiner Hauptstadt eine »dichterische Bewältigung« (Pichl 1985, 187). Der Blick auf Österreich aus dem Abstand eines transnationalen Lebens ist in ihrem Werk Ausgangspunkt einer zeitkritischen Reaktualisierung des Habsburger-Mythos der österreichischen Literatur, aber auch des kritischen Blicks auf das reale Österreich des 20. Jahrhunderts und insbesondere der Nachkriegsjahrzehnte.
Das »Haus Österreich« als Mythos und Utopie In einem Interview aus der Zeit der Veröffentlichung des Simultan-Bandes erläutert Bachmann, was sie unter »Österreich« verstand: »Es gibt kein Land Österreich, das hat es nie gegeben. [...] der wirkliche Name war immer ›Haus Österreich‹. Ich komme aus dieser Welt, obwohl ich geboren wurde, als Österreich schon nicht mehr existierte. [...] die geistige Formation hat mir dieses Land, das keines ist, gegeben« (GuI, 79). Als historischer Begriff meint das ›Haus Österreich‹ die Habsburger Dynastie sowie das Gebiet des einstigen Habsburgerreiches Österreich-Ungarn, das in Bachmanns Auffassung ein kulturelles und sogar psychisches Nachleben hat. Obwohl das ›Haus Österreich‹ in seinem territorialen Sinne nach 1918 nur
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noch auf historischen Karten zu finden ist, sind Bachmanns Werke von einer nachhaltigen melancholischen Bindung an »dieses Land, das keines ist«, durchdrungen, eine Bindung an ein Ideal von kultureller Zugehörigkeit und übernationaler Identität. In einem gewissen Sinne betrachtet sich Bachmann also als eine Nachfahrin des ›Hauses Österreich‹, die insbesondere dessen literarischen Traditionen verbunden ist, einer ›Welt von Gestern‹, die allerdings immer im kritischen Gegensatz zu einem pathologischen »Heute« (TKA 3.1, 277 f.; W 3, 12) steht. In Bachmanns Werken gibt es zahlreiche Anspielungen auf die österreichischen Schriftsteller der Moderne wie Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Robert Musil, Joseph Roth und Hugo von Hofmannsthal. Die literarischen Familiendynastien der Trottas (Roth) oder Altenwyls (Hofmannsthal) leben z. B. in Bachmanns Drei Wege zum See oder Malina weiter. Viele Werke dieser Autoren waren, wie Claudio Magris (2000) in seinem bahnbrechenden Werk Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (zuerst 1966) diagnostizierte, vom melancholischen Bewusstsein der drohenden Selbstimplosion des Habsburgerreiches durchdrungen, und nach dem Zusammenbruch des Imperiums von seiner symbolischen Aufwertung als ein verlorenes »goldenes Zeitalter der Sicherheit« (Zweig 2001, 15) angesichts der politischen Verunsicherung nach dem Ersten Weltkrieg. Bachmann schließt an diese Tradition an, geht jedoch auch auf die Besonderheiten der Nachkriegsordnung ein. Viele der ehemaligen ›Kronländer‹ der Habsburger Monarchie fanden sich nun hinter dem sogenannten ›Eisernen Vorhang‹, nachdem in der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, der Ukraine (als Teil der Sowjetunion) und Polen kommunistische Regime errichtet worden waren. Bachmann lamentiert den nun »amputierte[n] Staat« (W 2, 427) Österreich, dem die kulturelle Bereicherung durch die ehemaligen Gebiete der Habsburgermonarchie fehlte und der zudem in eine alpenländische Heimatkultur (Beller 2006, 266) flüchtete, die im Gegensatz zur kulturellen Vielfalt und Weltoffenheit des ›Hauses Österreich‹ stand. Bachmann wuchs in Kärnten auf, in der österreichischen Provinz, doch ihre Perspektive unterschied sich deutlich von der alpinen Idylle, die die neue Nachkriegsrhetorik propagierte. Ihre Kindheit in Kärnten an der slowenischen Grenze (die u. a. in ihrer Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt thematisiert wird), in der Nähe des Dreiländerecks zwischen Österreich, Slowenien und Italien, »in einem Tal, das zwei Namen hat – einen deutschen und
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_31
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einen slowenischen« (W 4, 301), kehrt in ihrem Werk als die Ausrichtung auf ein grenzfreies Gebiet von Sprachen und Menschen wieder, auf eine »utopisch zu verstehende Wunschwelt« (Beicken 1988, 197). Im Gegensatz zur homogenen Identitätspolitik der Nachkriegszeit betrachtet Bachmann die früheren Gebiete Alt-Österreichs in diesem zeitkritischen Sinne als Schlüssel zum österreichischen Selbstverständnis. Es sind insbesondere die slawischen und jüdischen Aspekte österreichisch-ungarischer Identität, die Bachmann im Nachkriegsösterreich vermisst (vgl. Krylova 2009, 163). Die Figuren ihrer späteren Prosa stammen aus Orten wie Zlotogrod in dem ehemaligen Habsburger Gebiet Galizien – eine Region im heutigen Polen und der Ukraine, die vor dem Holocaust eine große jüdische Gemeinde hatte –, Ljubljana in Slowenien oder Pécs in Ungarn, und sie haben slawische Nach- und Vornamen (wie Ivan, Malina, Branco). Wie Zorana Gluscevic (2002) und andere herausgearbeitet haben, ist Bachmanns Darstellung von Menschen slawischer Herkunft aus postkolonialer Sicht gleichwohl nicht unproblematisch. Die Darstellung slawischer Figuren »frequently involves stereotypical racial and ethnic images of the South Slavs« wie im Fall des slowenischen Bauern Branco Trotta, oder von Elisabeth Mihailovics’ slowenischem Begleiter in Drei Wege zum See (Gluscevic 2002, 352). Bereits in den Dialogen der prototypischen Wiener Bürgerfamilie Floriani, die Bachmann Anfang der 1950er Jahre für die heitere Radioserie Die Radiofamilie des US-amerikanisch gesteuerten Rundfunks RotWeiß-Rot (mit-)geschrieben hat, findet sich z. B. die Figur des ehemaligen Partisanen Mihailowitsch, einer Displaced Person. Dieser Serbe wird wegen Haustürverkaufs von Schmuggelware im Nachkriegswien zuerst gerügt, dann aber von Florianis Anwaltskollegen Wotruba unterstützt, weil Mihailowitsch als »Altösterreicher« (Bachmann 2011, 156) seine Herkunft mit Wotruba und der Familie Floriani teilt. Diese didaktische Toleranzbotschaft des US-amerikanischen Radiosenders erhält durch Bachmanns Feder eine spezifisch österreichische Note: »Zwischen Wien und den Nachfolgestaaten – heute nennen sie sich ja meistens anders – laufen auch heute noch die feinen Fäden der Verwandtschaft und die vielen Erinnerungen an Zeiten, die vielleicht wirklich schöner gewesen sind« (Bachmann 2011, 141). Die Beschäftigung mit der österreichischen Identität, die als kennzeichnend für Bachmanns spätere Prosa gilt (Omelaniuk 1983; Pichl 1985; Bahrawy 1989), findet sich also schon in ihren frühen Jahren in der österreichischen Hauptstadt, die damals ein Kno-
tenpunkt für Vertriebene aus ganz Europa war (vgl. Cohen 2012, 56), auch aus Ländern des früheren Habsburgerreiches. Andererseits bekräftigt noch der aus dem Nachlass rekonstruierte Zyklus der sieben Gedichte, der sich der Pragreise Ingeborg Bachmanns im Januar 1964 verdankt (darunter auch Böhmen liegt am Meer), einmal mehr das mit dem ›Haus Österreich‹ verbundene »Lebensmotiv« »zu Hause sein im Heimatlosen und im Aneinandergrenzen« (Höller/Larcati 2016, 108). Bachmanns Interpretation des Mythos vom Habsburgerreich als Vielvölkerstaat setzt also Weltoffenheit und ein multikulturelles Heimatgefühl gegen die politisch-kulturelle Realität Österreichs in der Nachkriegszeit; sie entwirft »an imaginative alternative to the political reality of the Second Republic« (Lensing 1985, 65). Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Topos des ›Hauses Österreich‹ in der Bachmann-Forschung große Beachtung gefunden hat (vgl. Schmid-Bortenschlager 1984; Lensing 1985; Pichl 1985 und 2014; Hoell 2000; Gluscevic 2002; Wigmore 2007; Spencer 2008; Krylova 2012). Eine besondere Rolle spielt dabei Bachmanns Anschluss an Robert Musils Fiktionalisierung des Habsburgerreiches als ›Kakanien‹ in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (vgl. Fanta 1995; Fleishman 2014). Vor allem die multiethnischen Aspekte des Habsburgerreiches finden sich bei beiden: »Like Musil’s Kakanien, Bachmann’s fictional-historical homeland might be said to be transnational avant la lettre« (Fleishman 2014, 22).
Fallstudien: Malina und Drei Wege zum See Varianten des ›Hauses Österreich‹ werden in Bachmanns Werken immer wieder neu gestaltet. In Malina gibt es sowohl explizite (im Interview der Ich-Erzählerin mit dem Journalisten Mühlbauer; TKA 3.1, 392; W 3, 96) als auch implizite Verweise, insbesondere durch die Sublimierung der Ungargasse im dritten Wiener Gemeindebezirk, in der die Protagonisten leben, in ein persönliches »Ungargassenland« (TKA 3.1, 299; W 3, 28). Für das Ich erweitert sich diese historische Durchgangsstraße für ungarische Händler (vgl. Nikles o. J.) zu einem »Königreich« (TKA 3.1, 691; W 3, 334). Dies kann als symbolische Wiedererlangung des ehemaligen Partners der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gelesen werden, zumal das imaginäre »Ungargassenland« unmittelbar mit Ivan, dem ungarischen Liebhaber des Ichs, verknüpft ist. In Drei Wege zum See, der längsten Erzählung des Simultan-Bandes, wird das immaterielle ›Haus Österreich‹ als ein
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»Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung« (TKA 4, 367; W 2, 399) dargestellt. Zwar wird der Vater der Protagonistin, der während der letzten Phase des Habsburgerreiches geboren wurde, als Anachronismus, ein lebender Geist, »ein Relikt« (TKA 4, 366; W 2, 399) beschrieben, das in »einer anderen Welt, einer versunkenen« (TKA 4, 447; W 2, 467) verankert ist. Obwohl die 49-jährige Protagonistin Elisabeth Matrei und ihr jüngerer Bruder der jüngeren Generation angehören, werden jedoch auch sie als jenem imaginären Land gehörig beschrieben: es gab »nur die richtigen Pässe für sie nicht mehr, weil dieses Land keine Pässe ausstellte« (TKA 4, 367; W 2, 399). Sigrid Weigel (1999, 402) spricht daher von der Auseinandersetzung mit einer »imaginären Topographie«. Die Nostalgie der Figuren für das längst untergegangene Habsburgerreich wird in dem intertextuellen Anschluss an Joseph Roths Romane Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1939) am deutlichsten; Bachmann selbst hat von einer ›Weiterführung‹ gesprochen (GuI, 121 f.). Während Bachmanns Protagonistin versucht, den Wörthersee in der Nähe ihres Elternhauses auf drei verschiedenen Wanderwegen zu erreichen, erinnert sie sich an drei Beziehungen mit Männern, die ihren Namen mit den Figuren aus Roths Trotta-Romanen teilen: Manes, Branco und vor allem Franz Joseph Eugen Trotta, dessen Name auch an eine lange Reihe österreichisch-ungarischer Kaiser erinnert. Bachmanns Verweise auf Jean Amérys Essay Die Tortur (1965), ein weiterer Intertext in Drei Wege zum See, machen einen weiteren Aspekt der kritischen Fortschreibung des Habsburgermythos aus. Der Aufsatz, an den die Protagonistin sich erinnert, beschreibt den grundlegenden Verlust des Weltvertrauens, den das Erlebnis der Folter zur Folge hat. Zugleich verweist die Figur Améry, die in Drei Wege zum See als »ein Mann mit einem französischen Namen, der aber ein Österreicher war und in Belgien lebte« (TKA 4, 389; W 2, 421), eingeführt wird, auf die schmerzhafte Geschichte der Auswanderung und des Exils im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem ›Anschluss‹ Österreichs an Hitlerdeutschland. Es ist eine Geschichte, mit der Bachmann vertraut war, vor allem durch ihre Beziehung mit Paul Celan und durch ihre Bekanntschaft während ihrer frühen Jahre in Wien mit vielen Schriftstellern in den literarischen Kreisen um die österreichisch-jüdischen Autoren Hans Weigel und Hermann Hakel. Wahre österreichische Identität wird in Drei Wege zum See als eine dargestellt, die über geographische oder physische Räume hinausreicht,
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als »exterritorial« wie bei Trotta (TKA 4, 458; W 2, 475) und den Matreis. In symbolischer Weise sind diese Figuren nirgendwo zu Hause und »überall« ›Fremde‹ (TKA 4, 367; W 2, 399). Im Gegensatz zur Zweiten Republik vermittelt das obsolete ›Haus Österreich‹ mit seinen kosmopolitischen Städten und seiner sprachlichen Vielfalt ein Gefühl der Zugehörigkeit und überlebt »phylogenetisch« (Freud 1974, 546) in der Protagonistin von Malina, wenn sie europäische Städte besucht, die ehemals zum Habsburgerreich gehörten: »Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus und, außer im Traum, in diesem geträumten Haus, ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen« (TKA 3, 397; W 3, 99). Das Haus Österreich ist ein imaginärer und utopischer Ort; die »restorative nostalgia« nationalistischer Bewegungen und ihres Vorhabens »to rebuild the lost home« (Boym 2001, 41) wird explizit abgelehnt. Sigrid Schmid-Bortenschlager (1984, 31) schreibt: »[Bachmann] sieht das Habsburgerreich nicht als politisch funktionierendes Idealgebilde, sondern vielmehr als Modell, das der als negativ empfundenen Gegenwart gegenübergestellt wird.« Aus dem historischen Habsburgerreich wird eine »mythenreiche Vorstellungswelt« (W 4, 302) mit utopischer Funktion, die Bachmann auch in ihrem Gedicht Böhmen liegt am Meer (1964) bekräftigt. Die Habsburg-Nostalgie der Ich-Figur in Malina kann mit Svetlana Boym (2001, 49) dagegen als »reflective nostalgia« bezeichnet werden, was gerade nicht auf eine Umkehrung der Geschichte zielt. Alle Versuche, zum ›Haus Österreich‹ zurückzukehren – wenn sich z. B. das Ich in Malina verzweifelt an das selbstgemachte »Ungargassenland« klammert, das in der letzten Phase des Romans auf die Größe einer »Herdplatte« (TKA 3, 691; W 3, 334) schrumpft, oder wenn Elisabeth Matrei auf ihren Drei Wegen zum See erfolglos versucht, zu der vorindustriellen Landschaft des Habsburgerreiches mit ihren »Bauern und Jäger[n]« (TKA 4, 417; W 2, 444) zurückzukehren – sind zum Scheitern verurteilt.
Darstellung und Kritik österreichischer Nachkriegsgeschichte Die zeitkritische Aufnahme des Habsburgermythos geht in Bachmanns Werk mit der kritischen Darstellung österreichischer Geschichte, vor allem der Nach-
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – A Zeitgeschichte
kriegsgeschichte seit 1945 einher. Das kann man bereits in ihren frühesten Werken sehen, in den Gedichten aus ihrem ersten Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) oder in der schon erwähnten Radiofamilie, wo die Figur des ehemaligen Nazis Onkel Guido auf die familiäre Verstrickung im Nationalsozialismus verweist. In der Erzählung Das dreißigste Jahr (1961) wird Wien als eine »Strandgutstadt« (W 2, 126) beschrieben, ein Verweis auf die Ausbeutung der Habsburger Kronländer, und auch als eine Stadt, die unverkennbar vom Zweiten Weltkrieg, »vom Tod, vom Vergessen« gezeichnet ist (W 2, 128). In einem Radio-Interview hat Bachmann ihren geplanten Todesarten-Zyklus dann 1969 als »ein Kompendium« gesellschaftlicher Gewalterfahrungen charakterisiert, das zugleich »das Bild der letzten zwanzig Jahre [also der Nachkriegsjahrzehnte, K. K.] geben könnte, immer mit dem Schauplatz Wien und Österreich« (GuI, 66). Das Todesarten-Projekt ist seit den frühesten Arbeitsphasen von der Österreichthematik durchdrungen, und zwar in Verbindung mit dem Erbe des Nationalsozialismus, dem »Virus Verbrechen«, das »doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein« kann (TKA 2, 77), wie es in einer Vorrede zu Bachmanns Roman Das Buch Franza (1965/66) heißt. Als ein solches Wiener Zeitbild ist schon das erste Todesarten-Romanfragment Eugen-Roman II (1962– 1965) angelegt. Dort werden z. B. in dem »seltsamen Klub«, in den der Protagonist gerät, höchst fragwürdige Meinungen ausgetauscht, wenn z. B. ein General behauptet, die sieben Jahre NS-Diktatur seien nur »ein kleiner Unterbruch« in der Geschichte Österreichs gewesen (TKA, 1, 98). Im Goldmann/Rottwitz Roman (ab 1966–67), einem »Zeitroman der Nachkriegszeit (im weiteren Sinne)« (Göttsche 1998, 179), werden ähnliche Versuche geschildert, die österreichische Mitschuld an der Nazi-Vergangenheit herunterzuspielen und den österreichischen Opfermythos aufrechtzuerhalten. Die Protagonisten schieben die Verantwortung für das Dritte Reich implizit dem Nachbarland zu. So gilt die Deutsche Karin Krause z. B. als »ein Tausendjähriges Reichskind« (TKA 1, 312). Ihr steht die Figur Fanny Goldmann gegenüber, deren Vater Oberst Wischnewski »sich 1938 beim Einmarsch des deutschen Heeres in Wien erschossen hatte« (TKA 1, 353). Allerdings gründet die Entrüstung »über die Deutschen« nicht auf antinazistischer Überzeugung, sondern ist »mehr der Ausdruck einer Indigation über schlechte Manieren« (TKA 1, 355). Daher gibt der jüdische Remigrant und Ehemann Fannys, Harry Goldmann, es schließlich auf, aus Fannys Familie »je einen
Bericht über sieben Jahre Nazizeit herauszubekommen« (TKA 1, 355). In einem weiteren Entwurf zum Goldmann/Rottwitz-Roman entpuppt sich Wischnewskis vermeintliche »Heldentat« als Abwehrmanöver, damit seine »zwielichtige Rolle« bei dem Mord an Engelbert Dollfuß 1934 »nie an die Öffentlichkeit komme« (TKA 1, 450); Wischnewski wird in eine Reihe mit dem Austrofaschisten Emil Fey gesetzt und ist »keineswegs ein Opfer« (TKA 1, 450). Der Mythos, Österreich sei erstes Opfer Hitler-Deutschlands gewesen, wird von Bachmann abgelehnt. Auch Drei Wege zum See nimmt satirisch auf den österreichischen Opfermythos und auf die Nachkriegsjustiz Bezug. Bei einem Prozess in Heidelberg, dem Trotta beiwohnt, werden zwei österreichische Nazis von den französischen Besatzungsmächten freigesprochen, »weil sie harmloser erschienen [als die Deutschen, K. K.], aus einem Operettenland eben, das mit allen seinen Operettenfiguren ein Opfer geworden war« (TKA 4, 396 f.; W 2, 427). Die Erzählung zeigt also, wie Habsburger Klischees nach 1945 dazu dienten, die Verstrickung Österreichs im Nationalsozialismus zu verharmlosen und das Image Österreichs als Kulturnation zu bekräftigen. Satirisch gewendet wird die Kritik am Nachkriegsösterreich und seinem Geschichtsverständnis auch in Malina, so in dem Interview des Ichs mit dem Journalisten Mühlbauer, in dem sowohl auf zeitgenössische als auch ältere Vorstellungen von Wiener und österreichischer Identität Bezug genommen wird. Wien und Österreich seien »keine verschonte Insel«, vielmehr finde man »an jeder Stelle Untergang [...] mit dem Untergang der heutigen und morgigen Imperien vor Augen« (TKA 3, 391 f.; W 3, 96). Einige Monate nach der Veröffentlichung des Romans hatte Papst Paul VI. während eines Staatsbesuches von Präsident Franz Jonas im Vatikan im November 1971 Österreich als eine »Insel der Seligen« bezeichnet (zit. nach Beller 2006, 272). Dagegen erinnert der Satz »an jeder Stelle Untergang« an Karl Kraus’ satirische Beschreibung von Wien als »Versuchsstation des Weltuntergangs« (Kraus 1914, 2). Bachmann beruft sich in ihrer Kritik am Österreich des Kalten Krieges also bewusst auf diese satirische Tradition der Jahrhundertwende. Wenn Österreich dem Ich zugleich »als Beispiel für die Welt« dient, denn »hier« sei »ein Imperium aus der Geschichte verstoßen worden« (TKA 3, 391; W 3, 96), dann wird dem Land nolens volens eine Vorreiterrolle für postnationale Identitätskonzepte zugeschrieben, jenseits von Nationalismus und Chauvinismus. Im Kontext dieser an Österreich entwickelten Zeit-
31 Österreichthematik
kritik thematisiert Bachmanns Todesarten-Projekt auch nationalen Chauvinismus. Die Kritik zielt z. B. im Buch Franza gleichzeitig auf die Unterdrückung von Minderheiten und die Unterdrückung der Frau, wenn dort die Protagonistin, eine Frau zugleich Kärntner und slowenischer Herkunft, von ihrem Mann Professor Leo Jordan »zugrunde gerichtet« wird (TKA 2, 131). Noch drastischer verfährt das kriminalliterarische Erzählfragment Gier (ab 1970), ein sozialkritisches Genrebild aus der österreichischen Provinz. Dort wird die Protagonistin mit dem südslawischen Namen Elisabeth Mihailovics zusammen mit dem jugoslawischen Förster ›Sascha‹ (dessen wirklichen Namen sich niemand zu merken bemüht) von ihrem Ehemann Bertold Rapatz in seinem Kärntner Jagdhaus ermordet – eine Kriminalgeschichte, die in Drei Wege zum See als »Eifersuchtsdrama auf Millionärsvilla« (TKA 4, 449) zur Pressemeldung und zum Gesprächsgegenstand wird. Rapatz behandelt auch seine Diener Milo und Radmilla rücksichtslos, doch bleibt dieses Ehepaar finanziell und – in Zeiten des Eisernen Vorhangs – auch existentiell auf ihren gewalttätigen Arbeitgeber angewiesen. Im Kontext der Todesarten verweist das Motiv der Ausbeutung von Menschen slawischer Herkunft auf Bachmanns Beschäftigung mit dem Fortleben nationalsozialistischen Gedankenguts und des »Virus Verbrechen« in der Nachkriegszeit, zugleich aber auch auf historische Strukturen, deren Wurzeln im Habsburger Imperialismus liegen. Darüber hinaus spielt die Jagd – die bei Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek ein immer wiederkehrender Topos für das Fortbestehen faschistischer Strukturen ist – in Gier eine zentrale Rolle (der Doppelmord wird schließlich mit einem Jagdgewehr verübt). In diesem Sinne kann die Erzählung mit ihrer Dekonstruktion vermeintlich idyllischer österreichischer Landschaft als ein Anti-Heimat-Text verstanden werden. In Rapatz’ Jagdhaus gibt es kein harmonisches Zusammenleben im ›Haus Österreich‹. Vielmehr wird die österreichische Provinz als ein Ort gezeigt, der von Gewalt dominiert ist, von der Gewalt der Mächtigen über die Machtlosen. Ein weiterer Gegenstand der Kritik ist das Österreich-Bild der Tourismusindustrie, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Schlüsselbranche der österreichischen Wirtschaft wurde (Beller 2006, 264). Der Text Besichtigung einer alten Stadt, ursprünglich als Eröffnungsabschnitt zum Kapitel »Von letzten Dingen« in Malina gedacht, im Juni 1971 jedoch in der Zeitschrift Text + Kritik separat veröffentlicht (vgl. Kommentar in TKA 3.2, 909), führt das Österreich-
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Thema des Romans Malina satirisch fort. Hier wird den Teilnehmern einer ›Austrobus‹-Tour durch eine »alte Stadt« (Wien) eine leicht konsumierbare und nostalgische Version österreichischer Geschichte angeboten, die sich vor allem auf die Habsburger-Zeit konzentriert und Österreichs jüngere Vergangenheit ausklammert. Der Reiseleiter mischt die filmischen Darstellungen der Habsburger von Ernst Marischka und Terence Young aus den 1950/60er Jahren nahtlos mit historischen Fakten (TKA 3, 700; W 2, 279) und die Austrobus-Touristen werden ermuntert, an einer aufgezwungenen Nostalgie für Österreichs goldenes Zeitalter um die Jahrhundertwende 1900 teilzunehmen. Dabei werden die dunklen Seiten des aufgeklärten Despotismus in der Doppelmonarchie ebenso ignoriert wie die jüngere Landesgeschichte. Stattdessen wird ein enthistorisiertes »Operettenland« (TKA 4, 396 f.; W 2, 427) inszeniert, eine Darstellung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das Medium Film weltweit verbreitet wurde. In ihren Werken spiegelt Bachmann die Komplexität und Widersprüchlichkeit der österreichischen Geschichte und Identität wider. Sie übt Kritik am österreichischen Opfermythos und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Weiterwirkungen des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit. Das utopische ›Haus Österreich‹ bleibt hingegen im Hegelschen Sinne »aufgehoben« (Hegel 1952, 288) als ein Ideal von kultureller Zugehörigkeit und übernationaler Identität jenseits von verklärter Habsburg-Nostalgie und fernab enger und ausgrenzender Auffassungen von Heimat und nationaler Identität. Quellen
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Literatur
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – A Zeitgeschichte
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Katya Krylova
B Bachmann und die Philosophie 32 Existentialphilosophie und Existentialismus Bachmanns Rezeption der Existenzphilosophie und deren Niederschlag in ihrem Werk sind früher von der Forschung fast ausschließlich mit dem Namen Martin Heideggers verbunden worden, weil sie über Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers 1949 ihre Dissertation geschrieben hat. In den letzten fünfzehn Jahren haben jedoch neuere Beiträge ein differenzierteres Bild ihrer Studienzeit und der in Wien empfangenen intellektuellen Anregungen gezeichnet. Faszinierend ist dabei Bachmanns Übergang von der, an der Universität in Wien katholisch gefärbten, Existenzphilosophie eines Leo Gabriel und Alois Dempf, bei dem Bachmann zahlreiche Lehrveranstaltungen besuchte und ursprünglich eine Dissertation über den »Typus des Heiligen« hatte schreiben wollen, zum dieser kritisch entgegengesetzten Neopositivismus ihres Doktorvaters Viktor Kraft (McVeigh 2016, 39–48; Kühn 2015, 232–244; Pichl 1986). So kann Bachmann schon 1949, vor dem Einreichen ihrer Dissertation, eine harsche Kurzbesprechung eines Heidegger-Büchleins von René Marcic veröffentlichen (KS, 3). Im Studienfach Psychologie lernte Bachmann neben der empirisch orientierten Psychologie Hubert Rohrachers auch die Viktor Frankls kennen, dessen Auseinandersetzung mit den ›Existentialien‹ menschlichen Lebens freilich durch seine Leiderfahrung im Konzentrationslager deutlich konkreter fundiert war als die eines Leo Gabriel oder Alois Dempf (zu Frankl s. Behre 2000, 96–100). In ihrer Dissertation vertritt Bachmann die Ansicht, die »Grunderlebnisse, um die es in der Existentialphilosophie geht, [seien] tatsächlich irgendwie im Menschen lebendig« (Bachmann 1985, 129). Sie entzögen sich jedoch der philosophischen Analyse, weil diese sich an der »Erkenntnisweise der Realwissenschaften« zu orientieren habe, wolle sie sich als wissenschaftliche qualifizieren (127). Solche Kritik entspricht dem verifi-
kationistischen Programm des Wiener Kreises. Bachmann ergänzt jedoch abschließend eine produktive Wendung: Künstlerischer Ausdruck (in Literatur, Musik, bildender Kunst und anderen Erscheinungsformen) kann nicht an seiner Verifizierbarkeit gemessen werden und eröffnet darum eine legitime Möglichkeit, über jene »Grunderlebnisse« zu kommunizieren. Diese These ist früh als poetologische Aussage Bachmanns verstanden worden, die sich auf ihr eigenes Werk beziehen lasse: So habe sie die Überlegenheit von Dichtung über Philosophie theoretisch begründet und sich zum Ausdruck jener »Grunderlebnisse« bekannt. Damit unterstellte die ältere Forschung Bachmann eine im Wesentlichen konstruktiv-affirmative HeideggerRezeption. Dafür sprach erstens, dass Bachmann in Interviews immer wieder feststellte, sie stünde noch zu ihrer Dissertation (1963: GuI, 42; 1973: GuI, 125), zweitens, dass Bachmann in poetologischen Zusammenhängen existentialistisch aufgeladene Begriffe verwendet hat (selbst wenn sie »eine dem Existentialismus [...] konträre Auffassung« vertritt, so Bartsch 1997, 24), etwa wenn sie in der Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden über den »großen geheimen Schmerz« sprach, »mit dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnet« sei (W 4, 275; KS, 246; vgl. auch Göttsche 2004, 374 zu den Frankfurter Vorlesungen). Entsprechend notiert Chiarini (1989, 329), »Spuren des Heideggerschen Jargons« zeigten sowohl die beiden Gedichtbände als auch Das dreißigste Jahr. Die »Heideggersche Denkfigur der Interpretation des Seins auf seine Zeitlichkeit hin als ›Sein zum Tode‹«, wie sie in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) zu lesen ist, präge »schon den Gedichttitel« Die gestundete Zeit (Bothner 1986, 142). Schon Holschuh (1964, 243–244; ähnlich Hunt 1990) hob das Motiv der ›Lichtung‹ in Undine geht im Vergleich mit Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks (1935) hervor. Bachmanns Sprachskepsis folge Heideggers Analyse des ›Geredes‹ (Weber 1986, 53), ein Deutungsvorschlag, der allerdings quer zu Bachmanns sprachskeptischer Heidegger-Lektüre
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_32
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
steht; vgl. Bachmann 1985, passim). Dusar (2006) setzt solche an Heideggerschen Motiven orientierte Lektüre, wenn auch ins Spielerisch-Ironische gewendet, für die Simultan-Erzählungen fort. Schon zeitgenössische Kritiker wie Helmut Heißenbüttel oder Hans Egon Holthusen haben Bachmanns Lyrik existentialistisch gelesen, darin dem Lebensgefühl der 1950er Jahre folgend, in denen der »Jargon der Eigentlichkeit« (Theodor W. Adorno) allgegenwärtig war. Zwar verwehrt eine derart grobe Perspektive philosophiehistorisch differenzierende Lektüren zwischen Wiener (Dempf, Gabriel), Freiburger (Heidegger) oder Pariser (Jean-Paul Sartre, Albert Camus) Spielarten; aber diese Unschärfe ist zumindest teilweise uneindeutigem Textbefund selbst geschuldet. Es überrascht nicht, wenn Friedrich Wallner (1985, 185) zu dem Schluss kommt, Spuren einer präzisen Heidegger-Lektüre seien weder in der Dissertation noch in späteren Texten Bachmanns erkennbar, obwohl Bachmanns Bibliothek eine kontinuierliche Begegnung mit Heideggers Schriften über ihr Philosophiestudium hinaus bis hin zu Die Technik und die Kehre (1962) belegt (Eberhardt 2002, 76). Eine über Heidegger hinausgehende Rezeption deutschsprachiger Existenzphilosophie wie jene Karl Jaspers’ (vgl. TKA 3.1, 652) oder Hannah Arendts, oder ihrer Quellen wie Søren Kierkegaard, ist kaum untersucht (zu Arendt s. Mahrdt 2010). Dirk Göttsche hat jedoch in mehreren Beiträgen die Aufmerksamkeit auf Spuren einer Beschäftigung mit dem französischen Existentialismus vor allem Camusscher Prägung gelenkt (am ausführlichsten: Göttsche 2004). In Bachmanns Bibliothek finden sich Titel Camus’ aus den 1950er Jahren (ebd., 381). In den Frankfurter Vorlesungen streift sie als eine unter anderen Debatten die seinerzeit von Sartres Qu’est-ce que la littérature? (1947; Was ist Literatur, 1950) ausgelöste Diskussion um engagierte Literatur vs. l’art pour l’art (W 4, 186; KS, 257). Als wichtigsten Ausgangspunkt hat Göttsche Bachmanns Arbeit an einer Hörspielfassung von Camus’ Drama Belagerungszustand ausgemacht. Diese wurde im Oktober 1958 im Südwestfunk gesendet, vermutlich beauftragt, nachdem Camus 1957 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte. Göttsche hält das Drama für eine »intertextuelle Folie« von Bachmanns im Mai 1958 gesendeten Hörspiel Der gute Gott von Manhattan, dessen Motiv des Grenzübertritts in einen Raum absoluter Liebe »mit Camus’ Leitbegriff der ›Revolte‹ interpretiert« werde (Göttsche 2004, 393 mit Verweis auf W 1, 316 und Camus’ L ’ homme révolté [1949; Der Mensch in der Revolte, 1953]). Die in der
gleichen Zeit entstandene Erzählung Das dreißigste Jahr folge dem »Krisenmodell« »existentialer ›Bewusstwerdung‹«, verabschiede aber zugleich das »Pathos existentialistischer Zeitkritik« (Göttsche 2004, 384–387); demgegenüber meint Heiser (2007, 325), dass Bachmanns Helden, indem sie im »existentialen Vakuum« verblieben, hinter Sartres und Camus Orientierung am Handeln zurückfielen. Jüngere Forschungsbeiträge haben Bachmanns politisch-moralisch motivierte Distanz gegenüber Heideggers Philosophieren als Ausgangspunkt von Textanalysen fruchtbar machen wollen. In einem späten Interview (1973) hatte Bachmann Politik und Philosophie im Hinweis auf Heideggers »Rektoratsrede« und die »Verführung [...] zum deutschen Irrationaldenken« verbunden (GuI, 137, Hervorhebung J. E.) und erzählt, sie habe 1959 wie Paul Celan die Mitwirkung an einer Heidegger-Festschrift abgelehnt (mehr dazu bei Kühn 2015, 261–265). Diese Beobachtung aufnehmend hat Holger Gehle (1993, 249) auch die Äußerungen in der Dissertation, wo von Heideggers »gefährliche[r] Halbrationalisierung« die Rede ist (Bachmann 1985, 129; vgl. W 4, 14, 126; KS, 66, 143), als Beleg dafür lesen wollen, dass Bachmann sich bereits 1949 und seitdem fortwährend »im Raum des Post-Holocaust« aufzuhalten begonnen habe – ein Ansicht, die auch in anderen Beiträgen (z. B. Agnese 1996; Weigel 1999) vertreten wurde und die in Bachmanns Assoziation der Thematik in dem 1973er Interview mit dem Namen des Holocaust-Überlebenden Paul Celan Plausibilität zu gewinnen scheint. Dazu abschließend drei Überlegungen: 1) Nach dem zweiten Weltkrieg und der Erfahrung des Nationalsozialismus erlaubte ein Existentialismus Heideggerscher Prägung eine individualistisch-ahistorische Interpretation der Gegenwart. Entsprechend schreibt Bachmann am Ende ihrer Dissertation von der Auseinandersetzung des »modernen Menschen mit der ›Angst‹ und dem ›Nichts‹«, die man in Charles Baudelaires Gedicht Le Gouffre (Der Abgrund) lesen könne (Bachmann 1985, 130) – also in einem Text von 1862, lange vor dem ›Zivilisationsbruch‹ Auschwitz. Dass hingegen »Grunderlebnisse« ihrer Generation historisch wesentlich durch die Erfahrung des Nationalsozialismus beeinflusst sein könnten, wird nur in wenigen Texten der Lyrikbände ausgesprochen, in den Erzählungen Jugend in einer österreichischen Stadt und Unter Mördern und Irren, deutlich dann aber in den 1960er Jahren in den Texten und Textfragmenten des Todesarten-Projekts. 2) Sigrid Weigel meint, Bachmann habe das in ihrer Dissertation vertretene Konzept von Philosophie als
32 Existentialphilosophie und Existentialismus
Wissenschaft im Spätwerk aufgegeben und plädiere insbesondere in Malina für ein Überschreiten philosophischer Rationalität (Weigel 1999, 540 u. ö.). Ähnlich ist in der Figur Malina ein Sammelbild des patriarchal-rationalen, ›phallogozentrischen‹ Denkens vermutet worden, das im Roman der Kritik unterzogen werde (vgl. z. B. Frei Gerlach 1998). Diese Einschätzung übersieht, dass spätes Interview und frühe Dissertation gleichermaßen vor ›gefährlicher Halbrationalität‹ warnen. Für Bachmann ist die ›Rationalität‹ einer Philosophie etwas Positives und wird als »ungeheuer genaues Denken« und »klare[r] Ausdruck« erklärt (GuI, 136). 3) Während Bachmanns Distanz zur ›verführerischen‹ aber ›irrationalen‹ Form des Heideggerschen Denkens sich kontinuierlich durch ihre theoretischen Äußerungen zieht, wandelt sich ihr Interesse am Ausdruck von »Grunderlebnissen«. Lässt sich z. B. die Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt als Ausdruck eines Lebensgefühls der ›Geworfenheit‹ interpretieren, so wird sowohl im Buch Franza als auch in Malina der Existenzphilosophie und erkennbar dem Heidegger von Sein und Zeit widersprochen. So heißt es im Buch Franza: »Schlagt alle Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen [...], die [...] nicht wissen, was die Angst ist« (TKA 2, 58, vgl. 217). Gegen die ›geheimnisvolle Angst‹ als Heideggersches »Existential« wird die von Franza erfahrene »Todesangst« gehalten. Deutlich ist der Vorwurf, die Philosophie verliere sich im Abstrakten; die Rede vom »Existential« verkenne (und verlängere damit) die wahre Natur einer Angst, die Reaktion auf reale Gewalterfahrung ist und die sehr genau weiß, ›wovor sie sich ängstet‹ (vgl. Sein und Zeit, § 44): »Mein Mann [...] ermordet mich« (TKA 2, 58). Analog ist die Kierkegaard-Anspielung im Entwurf des Requiems für Fanny Goldmann zu verstehen (TKA 1, 323; zum Komplex Angst vgl. auch Kanz 1999). In der ›Kranewitzer-Episode‹ zu Beginn des dritten Kapitels von Malina ist die Rede von der »latenten Angst«, welche das »Briefaustragen« eigentlich verlange und die gehalten wird gegen das ›Sinnieren‹ der Universitätsphilosophie »über das Ontos On [Sein des Seienden], die Aletheia [Wahrheit]« (TKA 3.1, 571). Auch hier wird das konkrete Leid gegen die abstrakte existentialphilosophische Redeweise gehalten. Die in der Forschung wiederholt zu lesende These, es gehe Bachmann hier darum, den ›Satz vom Grund‹ und Heideggers Überlegungen dazu zurückzuweisen (KohnWaechter 1991; Weigel 1999, 554 f.), interpretiert zu Unrecht die Anspielung als Auseinandersetzung um eine philosophische Frage (Eberhardt 2002, 392–399).
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Historisch distanziert wird auf die existentialistische Generationserfahrung der ›Unbehaustheit‹ der 1950er Jahre in Drei Wege zum See angespielt (Göttsche 2004, 395 f.). Angesichts eines ›Mordschauplatzes Gesellschaft‹ muss eine Philosophie der selbstbestimmten Freiheit schließlich anachronistisch erscheinen. Quellen
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
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Arendt. In: Neva Slibar (Hg.): Ingeborg Bachmann weiter lesen und weiter schreiben. Ljubljana 2010, 38–57. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien. Berlin 2016. Pichl, Robert: Dr. phil. Ingeborg Bachmann. Prolegomena zur kritischen Edition einer Doktorarbeit. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge 16 (1986), 167–188. Wallner, Friedrich: Jenseits von wissenschaftlicher Philosophie und Metaphysik. Nachwort zur Dissertation von Ingeborg Bachmann. In: Ingeborg Bachmann: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers [Diss. Wien 1949]. Hg. von Robert Pichl. München/ Zürich 1985, 177–199. Weber, Hermann: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns. Essen 1986. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Joachim Eberhardt
33 Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion
33 Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion Im Wesentlichen gibt es zwei Ansatzpunkte der Sprachreflexion in Bachmanns theoretischen und poetischen Schriften: einen ästhetischen und einen ethischen. Kennzeichnend für den ästhetischen Ansatz, der die poetologische Reflexion in den 1940er und 1950er Jahren bestimmt, ist die strikte Abtrennung des gewöhnlichen vom literarischen Sprechen, das als Sprechen in einer »schönen Sprache« vorgestellt wird (vgl. das 8. Stück des Zyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen; W 1, 92). Seinen theoretischen Ausgang nimmt dieser Ansatz schon in der Dissertation Bachmanns (1949) bei der Auseinandersetzung mit dem Philosophieren Martin Heideggers und Ludwig Wittgensteins Bestimmung der Grenzen wissenschaftlichen Sprechens im Tractatus logico-philosophicus (1921). Es folgt dem Grundgedanken, das poetische Sprechen könne diese Grenze überschreiten, weil es nicht im referenztheoretischen Sinne auf Wahrheit ziele. Die Forschung sprach in diesem Zusammenhang schon früh von »Sprachskepsis« und »Sprachhoffnung« im Werk Bachmanns (Fehl 1970). Worauf sich die Sprachhoffnung der Dichtung richtet, ist allerdings mit dem Hinweis auf den Ausdruck der existentialistischen ›Grunderlebnisse‹ nur unzureichend und zudem im Jargon der kritisierten Philosophie bestimmt. In den Wittgenstein-Essays zu Beginn der 1950er Jahre ist gemäß dem Satz 6.522 des Tractatus vom »Unsagbaren« als »Mystischem« die Rede (W 4, 19 f., 113, 118; KS, 71 f., 131, 136; vgl. das Fragment »Logik als Mystik«, KS, 77). Bachmanns Aneignung des Mystik-Begriffs zeugt von konstruktiver Verbindung der Wittgenstein- mit der Robert Musil-Lektüre und mündet schließlich im Begriff des »Utopischen« als der Richtung der Literatur in den Frankfurter Vorlesungen (1959/60). Damit knüpft Bachmann entschieden an eine als österreichisch und ›modern‹ begriffene Traditionslinie an, die vor allem im Kontext der vorherrschenden konservativen Literaturauffassung der Nachkriegszeit eine bewusste Selbstpositionierung am ›Avantgardepol‹ darstellt (Steutzger 2001, 62–63 nach Pierre Bourdieu), nicht zuletzt mit dem in Interviews geäußerten Hinweis, sie habe Wittgenstein selbst für sich entdeckt (GuI, 135). Die Faszination für den Philosophen schlägt sich Anfang der 1950er Jahre in dem später aufgegebenen Plan nieder, eine Wittgenstein-Monographie zu schreiben (Stoll 2013, 78– 79; vgl. auch die bei Varga von Kibéd 1997, 101 berich-
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tete Anekdote, Bachmann haben den Tractatus auswendig gekonnt). In ihren poetischen Texten der 1940er und 1950er Jahre bedient sich Bachmann vor allem zweier Bildräume, um die transzendierende Kraft (dichterischen) Sprechens zu behaupten. Die Anlehnung an christliche und biblische Sprachbilder (vgl. Weber 1986) findet sich schon vor der theoretischen Fundierung des Mystik-Begriffs in der Wittgenstein-Lektüre, so z. B. in den Briefen an Felician (1945/46) oder in [Die Welt ist weit], später z. B. in der genuin poetologischen Aussage in dem Gedicht Was wahr ist (1956): »was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab« (W 1, 118). Der zweite Bereich ist der der Musik, deren Ausdruckskraft Bachmann wiederholt als vorbildlich für ihr Schreiben hinstellt (Bachmann 2004, 37, 70). In poetischen Texten dienen dem Bereich der Musik entlehnte Bilder zur Charakterisierung literarischen Sprechens von den frühen Gedichten (z. B. Abends frag ich meine Mutter, 1948) über den Preis des »Lieds« im letzten der Lieder auf der Flucht (1956) und dem rätselhaften Trost der Musik in Enigma (1967) bis hin zu den einmontierten Stellen aus Arnold Schönbergs Pierrot lunaire (1912) in Malina (1971). Dabei scheint gelegentlich der Versuch auf, mit der Anspielung auf bestimmte Musikstücke die der Musik zugeschriebene Ausdruckskraft (vgl. den Essay Musik und Dichtung, 1959) auf den eigenen Text zu übertragen. Nach 1957 beginnt Bachmann sich auf das Schreiben von Prosa zu konzentrieren. In ihrer Sprachreflexion geht sie zu einer ›ethischeren‹ Betrachtung über (vgl. Goth 1987, 120, 127). In der ersten der Frankfurter Vorlesungen (1959), ausgehend vom Chandos-Brief (1902) Hugo von Hofmannsthals, referiert Bachmann für ›unser Jahrhundert‹ eine ›schwere Erschütterung des Vertrauensverhältnisses‹ »zwischen Ich und Sprache und Ding« (W 4, 188; KS, 259). Das Referat schließt nach Hinweisen auf Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), Novellen von Musil und Gottfried Benns Rönne-Novellen mit der These, die Not des Schriftstellers mit der Wirklichkeit münde für ihn »in den Konflikt mit der Sprache« (W 4, 191; KS, 262). Gemeint ist damit, dass die je neuen Erfahrungen der Autoren eine ihnen je angemessene Sprache erfordern, die darum stets und von jedem selbst neu erschrieben werden muss. Bachmanns »Konflikt mit der Sprache«, impliziert dies, ist ein anderer als der Hofmannsthals oder Musils. Die Kritik am Gebrauch ›vorgefundener Sprache‹ (GuI, 84) wird in diesem Zusammenhang sowohl ästhetisch wie ethisch begründet (vgl. Lampart 2013, 263). Der jetzt
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_33
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behauptete Zusammenhang zwischen neuer Erfahrung und »neue[r] Sprache« (W 4, 192; KS, 263) wird in den in der gleichen Zeit entstandenen Erzählungen aus dem Band Das dreißigste Jahr thematisiert. Die Protagonisten der Titelerzählung und von Alles kehren das Bedingungsverhältnis von Erfahrung und Sprache um: Darum muss ihr Versuch scheitern, mit einer »neuen Sprache« einen neuen Erfahrungsraum, eine »neue Welt« zu schaffen (W 2, 132). In der zweiten Frankfurter Vorlesung reflektiert Bachmann in Auseinandersetzung mit der Dichtungskonzeption Paul Celans die Möglichkeiten lyrischen Sprechens nach 1945. Dabei hebt sie hervor, dass Celan mit dem Band Sprachgitter (1959) eine ›Entkleidung‹ dichterischen Sprechens durch eine »äußerst harte Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt« vornehme (W 4, 216; KS, 286). Indem sie auf Celans Bremer Rede (1958) verweist, kennzeichnet sie die Bewegung der Sprache als eine ›dialogische‹, die zugleich den Ästhetizismus der »modernen Literatur« à la Hugo Friedrich kritisiert (vgl. Larcati 2006, 93 f., 248). Vielleicht findet die zustimmende Auseinandersetzung mit dieser Konzeption, wie sie auch im – Celan zitierenden – Fragment Das Gedicht an den Leser erkennbar ist (um 1959; vgl. Neumann 1997), einen Niederschlag in den späten Gedichten und anderen späten Texten (vgl. Kann-Coomann 1997 zu Undine geht). Ab den 1960er Jahren wird für Bachmann zunehmend die Beobachtung wichtiger, dass Sprache Gesellschaft nicht nur abbilden, sondern auch in ihrer Wahrnehmung manipulieren kann. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sind die sprachlichen Manipulationen der Nationalsozialisten vorübergehend Gegenstand öffentlichen Nachdenkens, etwa in der Artikelserie »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« in der Zeitschrift Die Wandlung (ab 1945). In den 1960er Jahren spielt für die linke Kritik auch die Manipulation durch die »Bewußtseins-Industrie« der Medien eine Rolle (vgl. den gleichnamigen Essay von Hans Magnus Enzensberger, 1962), wobei etwa Theodor W. Adorno sich ebenfalls auf die Erfahrung des Nationalsozialismus beruft. Zusammenfassen lässt sich dies alles in dem historisch-empirisch gestützten Gedanken, dass die Art der Sprachverwendung das Denken bestimmt (vgl. GuI, 26), beispielhaft ausgesprochen in der Rede zur Verleihung des Anton Wildgans-Preises (1972). Bachmann beschreibt die das Denken manipulierende Kraft der Sprache wie Karl Kraus als Herrschaft der »Phrasen«, von denen man sich nicht bestimmen lassen dür-
fe (W 4, 297; KS, 490; zu Kraus, Bachmann zitiert ihn mehrfach, vgl. GuI, 25 und das Register der KS; Fehl 1970, 14–17; Eberhardt 2002, 429–430; Nittel 2008, 35– 39). Im Essay Tagebuch (1963) entlarvt Bachmann das Kleben am eigenen Idiom als Verhinderung wirklichen Dialogs. Das Gedicht Keine Delikatessen (1967) versucht den Warencharakter von Sprachkunstwerken zu enthüllen (vgl. Larcati 2006, 98; Nagy 2009, 75), ohne freilich sich selbst dem Waresein entziehen zu können. In einem undatierten Fragment aus dem Umkreis der Arbeit an Malina ist davon die Rede, dass »Mann und Frau [...] die Knechte einer Sprache« seien (TKA 3.2, 934–935; KS, 370). Die Konzentration von Bachmanns Nachdenken über Sprache auf deren verantwortungsvollen Gebrauch lässt sich in Analogie sehen zu Wittgensteins Korrektur seiner Frühphilosophie in den Philosophischen Untersuchungen (1953). Im Sinne der von Bachmann in ihrem Radioessay vertretenen Perspektive, dass die Philosophischen Untersuchungen eine Erweiterung des Tractatus darstellen (W 4, 123; KS, 141; vgl. Agnese 1996, 48; O’Regan 1996, 52; Steutzger 2001, 73; Fäcke 2013, 72; Lubkoll 2014), ließe sich behaupten, daß die »Grenzen meiner Sprache« (Tractatus, 5.6) auch die Grenzen meiner »Lebensform« sind (Philosophische Untersuchungen, § 19). Ob Bachmann diesen gedanklichen Schritt mithilfe und wegen der Philosophischen Untersuchungen getan hat, ist kaum zu entscheiden (vgl. Avramova 1990, 125). Wittgensteins wertfreie Darstellung der Sprache als Basis der geteilten Lebensform antizipiert in wesentlichen Punkten Jacques Lacans Konzept einer ›Symbolischen Ordnung‹ und der Konstitution der Psyche durch Sprache (vgl. Göttsche 1987, 153–154; Lennox 1989, 616). Sowohl die Wittgenstein-Lektüre als auch die Kraus-Lektüre und die linke, historisch und kulturkritisch motivierte Sprachkritik in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland mögen Bachmann den Weg geebnet haben, zu der heute so einflussreichen These der Abhängigkeit des Denkens von der Sprache der jeweiligen Gesellschaft zu gelangen. Darum dürften verabsolutierende jüngere Interpretationsversuche fehlgehen, die sich weniger auf Bachmanns Ausmessen der Grenzen literarischen Sprechens beispielsweise in Malina konzentrieren, als darauf, eine Auseinandersetzung mit längst zurückgelassenen philosophischen Positionen im Gewand der Literatur herauszuarbeiten (so z. B. die Interpretation des Schachspiels in Malina als Anspielung auf und Auseinandersetzung mit Wittgensteins Begriff des ›Sprachspiels‹ bei Steutzger 2001, 167–174 und Lubkoll 2014).
33 Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion Quellen
Bachmann, Ingeborg: Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Salzburg/Wien 2004. Enzensberger, Hans Magnus: Bewußtseins-Industrie. In: Ders.: Einzelheiten. Frankfurt a. M. 1962, 7–15. Sternberger, Dolf: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. [Artikelserie] In: Die Wandlung 1 (1945/46) – 3 (1947/48), passim. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (= Schriften, Bd. 1). Frankfurt a. M. 1960.
Literatur
Agnese, Barbara: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996. Avramova, Elena: Der Einfluß der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins auf die poetologische Konzeption von Ingeborg Bachmann. Diss. Leipzig 1990. Eberhardt, Joachim: »Es gibt für mich keine Zitate«. Intertextualität im Werk Ingeborg Bachmanns. Tübingen 2002. Fäcke, Julia: An den Grenzen der Sprache. Literarische Beschreibungen des Unsagbaren am Beispiel der späten Prosa Ingeborg Bachmanns und Samuel Becketts. Würzburg 2013. Fehl, Peter: Sprachskepsis und Sprachhoffnung im Werk Ingeborg Bachmanns. Diss. Mainz 1970. Goth, Maja: Poetische Sprachverzweiflung. Reflexionen zu Ingeborg Bachmanns Wortproblematik. In: Armin Arnold/C. Stephen Jaeger (Hg.): Der gesunde Gelehrte. Literatur-, Sprach- und Rezeptionsanalysen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Bänziger. Herisau 1987, 115–128. Göttsche, Dirk: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M. 1987. Greuner, Suzanne: Schmerzton. Musik in der Schreibweise von Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Hamburg u. a. 1990. Kann-Coomann, Dagmar: Undine verläßt den Meridian. Ingeborg Bachmann gegenüber Paul Celans Büchnerpreisrede. In: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt a. M. 1997, 250–259.
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Lampart, Fabian: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960. Berlin u. a. 2013. Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt 2006. Lennox, Sara: Bachmann und Wittgenstein. In: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München/Zürich 1989, 600–621. Lubkoll, Christine: Schachspiel als Sprachkritik. Die Philosophie Ludwig Wittgensteins in Ingeborg Bachmanns Roman Malina. In: Dirk Kretzschmar u. a. (Hg.): Spiel und Ernst. Formen – Poetiken – Zuschreibungen. Würzburg 2014, 329–342. Nagy, Hajnalka: Ein anderes Wort und ein anderes Land. Zum Verhältnis von Wort, Welt und Ich in Ingeborg Bachmanns Werk. Diss. Szeged 2009. Neumann, Peter Horst: Ingeborg Bachmanns Fragment Das Gedicht an den Leser – eine Antwort auf die SprachgitterGedichte Paul Celans. In: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt a. M. 1997, 167–175. Nittel, Gisela: »Es ist ein unglaublicher Betrug«. Ingeborg Bachmann’s Literary Critique of the Journalistic Media. Diss. Sidney 2008. O’Regan, Veronica: »Erfahrung nicht des Empirikers, sondern des Mystikers«. A Re-Evaluation of Ingeborg Bachmann’s Understanding of Wittgenstein and its Application to Simultan. In: Sprachkunst 27 (1996), 47–65. Steutzger, Inge: »Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur«. Wittgenstein in den Schreibweisen von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Freiburg i. Br. 2001. Stoll, Andrea: Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit. München 2013. Varga von Kibéd, Matthias: Wiedererkennen als Kontrolle und als Quelle von Vergangenheit und Identität. In: Jakob Steinbrenner (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten und Wissenschaften. Paderborn 1997, 99–112. Weber, Hermann: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns. Essen 1986.
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
34 Kritische Theorie und Soziologie Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, mit der zeitgenössischen jüdi schen Theorie und Soziologie reicht von der Studienzeit bis zum Todesarten-Projekt. Mit Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Jacob Taubes und Hannah Arendt war sie persönlich bekannt und stand mit ihnen in brieflicher Korrespondenz (vgl. Weigel 1999, 7 f., 462–464, 473 f.; Weigel 2005; Morris 2000, 156 f.; Wild 2009, 120–146). In der Forschung ist Bachmanns Verhältnis zur Kritischen Theorie bislang vorrangig auf der Ebene von intellektueller Wahlverwandtschaft und Zeitgenossenschaft sowie anhand gedanklicher Konvergenzen oder ästhetischer Analogien verhandelt worden. Die Untersuchung konkreter Rezeptionsprozesse oder intertextueller Spuren steht zum Teil noch aus, dabei wären Hinweise der Autorin, der Bestand der Bachmann-Bibliothek sowie Formen markierter und unmarkierter Zitation gleichermaßen zu berücksichtigen. Die Befunde können diesbezüglich durchaus heterogen ausfallen, wie das Beispiel Adorno zeigt, den Ingeborg Bachmann zwar in ihrem Werk kein einziges Mal nennt, mit dem sie aber insbesondere in der Zeit ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen in engem persönlichen Kontakt stand und von dem 19 Titel in ihrer Bibliothek überliefert sind. Diese reichen vom Versuch über Wagner (1952) über die Noten zur Literatur (1958) bis zur Ausgabe der Gesammelten Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (1973, vgl. Eberhardt 2002, 78). Das Buch, das in der Forschung als häufigste Referenz herangezogen wird: Max Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947), fehlt hingegen, wobei dieses Nicht- oder Nicht-mehrVorhandensein wiederum nicht ausschlaggebend gegen eine Lektüre dieses Werks spricht. Anders als im Falle Martin Heideggers oder Ludwig Wittgensteins findet Bachmanns Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie nicht im Genre des philosophischen Textes, sondern im essayistisch-poetologischen und literarischen Werk der Autorin statt. Damit ist bereits eine erste Affinität zur Kritischen Theorie benannt, deren Verbindung von Kunst und Philosophie mit Bachmanns Abkehr von der wissenschaftlich-positivistischen Philosophie Mitte der 1950er Jahre konvergiert. Die aphoristisch-essayistische Form des Philosophierens sowie die in Adornos musiksoziologischen und literaturtheoretischen Schriften entwickelte Vorstellung einer Kunst, die eine von Naturbeherrschung und Identitätszwang befreite Vergesell-
schaftung des Individuums antizipiert, sind Momente, die auch Bachmanns literarische Philosophie bestimmen (vgl. Kogler 2007–08). Die in Walter Benjamins Schrift Über den Begriff der Geschichte (1942) und in Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung in Bezug auf die Katastrophe des Nationalsozialismus vorgenommenen Zeitdiagnosen bezeichnen den gesellschaftskritischen Rahmen für Ingeborg Bachmanns gesamtes Œuvre. Bachmanns Verhältnis zur Kritischen Theorie kann insbesondere an drei Texten diskutiert werden, die gleichermaßen in sozialphilosophischer bzw. -psychologischer Perspektive Gesellschaftskritik nach Auschwitz betreiben: Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung, Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft (engl. 1955, dt. 1957) und Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen (1956). Bereits die frühe Erzählung Das Lächeln der Sphinx (1949) deutet Sigrid Weigel als »literarische Relektüre einiger Thesen aus der Dialektik der Aufklärung« (Weigel 1999, 81; kritisch dazu Eberhardt 2002, 58–59, 92). In Analogie zu Horkheimer/Adorno verfolge dieser Text den Umschlag von Aufklärung in Mythologie und beziehe die Kritik an der Verselbständigung der instrumentellen Vernunft im Szenario maschinellen Massenmords auf den Nationalsozialismus. Die Erzählung Das dreißigste Jahre setzt diesen Dialog fort, indem am Protagonisten die Aporie Kritischer Theorie leibhaftig durchexerziert wird: Die Wahrnehmung der Gesellschaft als Verblendungszusammenhang ist mit dem Verfahren immanenter Kritik nur unzureichend vermittelt und bedingt letztlich einen kritischen Standpunkt außerhalb. Bachmanns Protagonist, einer, der sich im versuchten Austritt aus der Gesellschaft »zu weit erhoben hatte« (W 2, 108), vollzieht die Erkenntnis, innerhalb der bestehenden Sprache und gesellschaftlichen Konventionen agieren zu müssen. Die literarische Version Kritischer Theorie im Roman Malina als konsequent standpunktgebundene Gesellschaftskritik radikalisiert diese Einsicht noch im Verzicht auf jegliche auktoriale Distanzierung und in der Beschränkung auf die Erfahrung einer Einzelnen, die durch intertextuelle Vernetzung oder durch die Traumsprache erweitert wird. Bachmanns literarische Technik, am Individuum ein historisch Allgemeines aufzuzeigen, kann in Korrespondenz zu Adornos musiksoziologischen Studien gesehen werden, in denen er u. a. die »Subjektivität von Mahlers Musik« als »Schauplatz eines Objektiven«, die »Wunde der Person« als »geschichtliche« deutet (Kogler 2007–08, 254). Adornos Mahler-Studie gehört zum
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_34
34 Kritische Theorie und Soziologie
Bestand der Bachmann-Bibliothek (vgl. Eberhardt 2002, 78). Und noch eine andere Form der kritischen Fortschreibung der Dialektik der Aufklärung zeichnet sich – beginnend mit der Erzählung Undine geht (Weigel 1999, 147–149) – bis zum Todesarten-Projekt ab, die die Diagnose einer Aufspaltung der Vernunft in instrumentelle und kommunikative im Hinblick auf die Arbeitsteilung der Geschlechter verfolgt. Mit Undine und den Protagonistinnen des späten Prosawerks erhält das Ausgeschlossene, das Andere der Vernunft eine Stimme. Schließlich wird durch das Doppelwesen MalinaIch die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden kulturgeschichtlich und geschlechtlich codierten Vernunftformen in eine Person verlegt (Höller 1993, 264 f.; Weigel 1994; Weigel 1999, 530–534). Wie die Erzählung Unter Mördern und Irren (Bartsch 1997, 104) wäre auch die in die Vaterfigur konzentrierte Machtanalytik der Todesarten auf ihre Verbindung zu den unter Mitarbeit Adornos entstandenen Studien zum autoritären Charakter (engl. 1950, dt. 1973) zu befragen. Für die sozialpsychologischen Aspekte des Todesarten-Projekts ist ebenso Herbert Marcuses Beitrag zur Dialektik der Aufklärung in Triebstruktur und Gesellschaft prägend gewesen, ein Buch, das Bachmann Hans Werner Henze zur Lektüre empfohlen hat (vgl. Morris 2000, 150 f.). Der von Marcuse diagnostizierte Konflikt zwischen Lust- und Realitätsprinzip wird gleichermaßen in der Ich-Ivan- wie in der Ich-Malina-Konstellation reinszeniert: Zum einen mit utopischem Akzent auf die kultur- und gesellschaftsbildende Funktion des freien Eros, zum anderen mit gesellschaftskritischem Akzent auf die herrschaftsbedingte Triebunterdrückung. In Hinblick auf Marcuse hat Hans Höller diese Problemkonstante Bachmanns von der Lyrik (Mein Vogel; Erklär mir, Liebe) über das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan (vgl. Lennox 2000) und die Erzählung Das dreißigste Jahr bis zum Todesarten-Projekt rekonstruiert (Höller 1993). Hier lässt sich Günther Anders’ in die Diskrepanz von Herstellen und Vorstellen, technischem Fortschritt und unserer zurückgebliebenen Auffassungsgabe gefasste Dialektik der Aufklärung in die Antiquiertheit des Menschen anschließen, insbesondere da er im Aufweis des Mangels einer Geschichte der Gefühle den Ausweg in der Ausbildung einer moralischen Phantasie sucht – ein Kontext, der in Bachmanns Werk auch über Robert Musil präsent ist. Die Ausstellung solcher Antiquiertheit hat Dirk Göttsche anhand der sozialen Milieustudien zu Fanny Goldmann und Toni Marek nachgewiesen (Göttsche 1998, 58 f.).
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Ingeborg Bachmanns Sprach- und Geschichtskonzeption steht dem Werk Walter Benjamins näher als den großen Erzählungen einer Dialektik der Aufklärung. Mit Benjamins Denkbildern des Erwachens, der Jetztzeit (vgl. Gölz 2006) und des Engels der Geschichte ist ein Geschichtsverständnis angezeigt, das sich im Eingedenken (vgl. Remmler 1996, 18–21) auf das Bruchstückhafte bezieht, diesen Prozess als augenblickliche Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart versteht sowie im Blick auf die Geschichte als Katastrophe eine rettende Kritik im Modus von Sprachmagie und profanem Messianismus antizipiert (vgl. Höller 1993, 154, 260 f.; Weigel 1994, 154–156, 235 f.). Diese Affinität ist bereits im Essay Was ich in Rom sah und hörte (1955) nachgezeichnet worden (Höller 1993, 201 f.; Weigel 1999, 99–112). Rom wird einer im Sinne Benjamins archäologischen Betrachtung unterzogen, die in der Ghettoszene zugleich der Toten im Moment der Stille, im Aussetzen von Bezeichnung, gedenkt, wie sie in Anklang an den Messianismus eine rettende Kritik vollzieht. In seinem Gedicht An Ingeborg Bachmann nach ihrem Besuch im Ghetto von Rom (1967; vgl. Weigel 1999, 5–15) reagiert Gershom Scholem kritisch auf die in Bachmanns Rom-Essay Gestalt werdende messianische Hoffnung, die für die Adressaten nach der Zäsur der Shoah zu spät komme. Hans Höller setzt mit seiner sehr allgemeinen Stilkritik am »angestrengten methodischen Habitus« von Sigrid Weigels Bachmann-Monographie (1999) an deren Deutung des Rom-Essays an, die Literaturwissenschaftlerin habe »Benjamins Begriffe und Interpretamente [...] in ihre eigenen Lektüremodelle eingebaut« und dabei Benjamin zum »brave[n] Kulturwissenschaftler« gemacht (Höller 2011, 38). Bachmanns Dialog mit Benjamin lässt sich in den Erzählungen des Dreißigsten Jahres bis zum Todesarten-Projekt weiter verfolgen. Vor allem Benjamins zwischen Traum- und Wachwelt angesiedelter Erkenntnismoment des Erwachens im Zusammenhang mit der Gedächtnistopographie der Stadt und seine Theorie der Sprachmagie, der zufolge eine andere, mimetische Sprache in den Prozess der Bezeichnung als Einbruchsstelle profaner Erleuchtung hineinragt, durchzieht die Texte (Weigel 1994 und 1999). Schließlich ist der Erregungszustand des Heute in Malina in Analogie zu Benjamins messianischem Modell der Jetztzeit gesetzt worden (vgl. Weigel 1994, 93 f.; Remmler 1996, 20, 97). Ist der gesellschaftskritische Gehalt der Todesarten einer Dialektik der Aufklärung verpflichtet, so verweist die Erinnerungs- und Erzählproblematik auf das Werk
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
Benjamins (vgl. Bannasch 1997, 105–112, 197–199). Der Erzähler Malina erscheint im Gewand von Benjamins Engel, der rückwärtsgewandt auf den Trümmerhaufen der Geschichte starrt, dessen Sprechen jedoch von der Hoffnung getragen ist: »die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen« (Benjamin 1977, 255; vgl. TKA 1, 364; Weigel 1994, 94 f.). Quellen
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977.
Literatur
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Marion Schmaus
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35 Religion Aspekte religiösen Denkens bei Ingeborg Bachmann Der Theologe Peter Sänger, dessen Abhandlung (1983) in den theologischen Dissertationen zum Thema (Weber 1986; Habbel 1992) nicht rezipiert wird, unterscheidet drei Aspekte des Themas ›Bachmann und die Religion‹: den ersten, weiteren mit in der Sprachtradition unverzichtbar präsenten Wortfeldern, den zweiten, engeren mit der singulären Botschaft einer Liebesethik und den dritten, innersten mit einer stummen Signatur des Leidens an immanenten Welterfahrungen wie Sprachlosigkeit. Sigrid Weigel benennt »Momente christlicher Heilslehre in den frühen Erzählungen« von 1949 anhand einer biblischen Geschichten nachempfundenen Topographie zu Fluss, Berg und Wüste, wobei sie im Buch Franza eine Weiterentwicklung des Wüstenmotivs zu einem ›Ort der Mystik‹ sieht (Weigel 1999, 67, 496–508). Es handelt sich jedoch eher um ›metaphysische Fragen‹ in ›quasireligiöser‹ Metaphorik (McVeigh 2016, 123), denn die »Utopie« als »Richtung« im Schreiben mit »Möglichkeitssinn« (nach Robert Musils Poetologie) wird immer eschatologischer (GuI, 69), z. B. in Malina, wo Wüste »Offenbarungen« und »Erlösung« ermöglicht (TKA 3.1, 455 f.). Darstellung der postmodernen Exnegativo-Erfahrung des gleichzeitigen ›Glaubens und Nicht-Glaubens‹ gelingt unter Berücksichtigung der »Heiligen Gespräche« des »Manns ohne Eigenschaften« Ulrich mit seiner Schwester Agathe (KS, 117 f.; W 4, 97 f.). Die Bedeutung Musils für die Klärung des Begriffs ›Religion‹ kann nicht überschätzt werden: Schon im Essay Ins tausendjährige Reich (1954) übersetzt Bachmann ›Religion‹ mit Musils Vokabeln als »Wurzel der Moral«, »Weg der Liebe«, »Gottesleidenschaft«, »taghelle Mystik«, »Utopie der induktiven Gesinnung« (KS, 97–99; W 4, 25–27). Musils Innovation, die Bachmann exzeptionell vermittelte, kann schon in Rezensionen für Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur (1952–53; KS, 10–19) belegt werden. Bachmann entdeckte bei unterschiedlichen Autoren wie José Orabuena, Heinrich Böll, Thea Sternheim und Alfred Mombert sowohl ein ›religiöses Unbehagen‹ wie ein ›religiöses Abenteuer‹, da der Kinderglaube einem »äußersten Zweifel zu unterwerfen« und »die Brücke zu schlagen [sei] über den Abgrund zwischen der Welt von gestern und der Welt von morgen« (KS, 12; W 4, 312).
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Insgesamt fehlt in der Forschung eine Rückbindung an Bachmanns intellektuellen Ausgangspunkt, ihr Studium bei Alois Dempf, Leo Gabriel und Viktor Frankl, der auch ihr Psychiater war. Frankl entwirft eine Anthropologie des »homo patiens« als Gegenpol zur Kulturdiktatur eines Rationalismus, also Offenhalten eines verdrängten Leidensdruckes, aber auch Abwehr des Nihilismus (vgl. zu Dempf und Gabriel Behre 1991; zu Frankls Konzept einer durch Logotherapie befreienden ›unbewußten Religiosität‹ Behre 1998 und 2000a). Die Spannung zwischen Metaphysik und Säkularisierung forderte Bachmann heraus, z. B. im Kontrastieren der Philosophen Dempf und Alfred Weber, zu dessen Werk Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus? ein ReferatTyposkript vorliegt (vgl. McVeigh 2016, 44). Einzeluntersuchungen auf der von Sänger skizzierten ersten Deutungsebene können unter drei Gesichtspunkten programmatisch zusammengestellt werden, die sich aus Bachmanns spezifisch in der von Dempf, Gabriel und Frankl geprägten Religionsauffassung herleiten. Dempf projektiert im Sinne des Augustinus die Einheit von »religio naturalis« (als Erkenntnismethode einer vielschichtigen Wirklichkeit), »religio fabulosa« bzw. »Theologia poietekè« (als Sprachkunst angesichts der Erfahrungsfülle) und »religio civilis« (als ethische Gestaltung der Sozietät; Dempf 1992, 283). Die Hoffnung auf ein ›geschlossenes Weltbild‹ sieht Bachmann mit ihren Lehrern auch bei ›orthodox katholischen Schriftstellern‹ als nicht mehr relevant an (GuI, 49). Bachmanns eigener philosophischer Ansatz kann unter Rückgriff auf ihre Auseinandersetzung mit theolo gischen Aussagen zur Thanatologie, Ethik und Eschatologie beschrieben werden. Für sie bedeutet Religion zum einen Thanatologie, als Gegengewicht zu Fortschrittsideologie, ein auch religionskritisches Endlichkeitsbewusstsein, das der Beschwörung des »Endes« dialektisch die Herausforderung des echten Neuanfangs entgegensetzt: »Ein Ende mit der Schrift. Ein andrer Anfang« (TKA 2, 284). Zum zweiten bedeutet Religion Ethik, den Willen zu Gerechtigkeit im zeitkritischen Blick auf den »Kriegsschauplatz« der Gesellschaft (W 2, 183). In Simone Weils ›Wunschsätzen‹ »Das Volk braucht Poesie wie das Brot« und »Diese Poesie kann nichts anderes als Religion sein« (KS, 172 f., 268; W 4, 143 f., 197) erkennt Peter Beicken (1992, 159) »eine eucharistische Bestimmung der Dichtung«. Parallel dazu liegt Stephane Mosès, der in Bachmanns wie Paul Celans Gedichten das mythopoetische Konzept Friedrich Hölderlins vom ›Gastmahl der Götter‹ (Behre 1987, 227–231) als vorbild-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_35
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
liches friedensstiftendes Modell des Austausches wiedererkennt. Schließlich bedeutet Religion Eschatologie wie im dritten Kapitel des Romans Malina (»Von letzten Dingen«) mit seiner Spannung von unheilvoller Vernichtungserfahrung und heilender Erlösungssehnsucht (vgl. Peters 2009).
Perspektiven der Forschung Das Thema Religion bedarf bei Bachmann insgesamt der weiteren Erforschung: 1) Für die im Frühwerk zahlreichen religiös inspirierten Gedichte muss das Genre ›religiöse Lyrik‹ präzisiert werden, z. B. im Bezug zu Nikolaus Cusanus, Gabriels Forschungsgebiet, das Gedicht Das Göttliche: »Dein Schatten ist ein Licht zugleich« (N5569), oder zu Georg Trakl Klage: »Dunkle Wünsche kommen, Herr zu Dir« (N5682, 25.11.45) und Preisgabe: »Föhn, lauer Wind zur Nacht« (N6283, Kalvarienberg 30.10.45). Bachmann beabsichtigte, angeregt durch Ernst Topitsch, eine Dissertation bei Dempf zum Thema »Der Heilige bei C[onrad] F[erdinand] Meyer, Nietzsche und J[acob] Burckhardt« (Brief an die Eltern, 2.2.1948; McVeigh 2016, 42) zu schreiben, musste sich – wegen Dempfs Berufung nach München – jedoch umorientieren, von der Kulturphilosophie in der Tradition Wilhelm Diltheys zum sprachanalytischen Logischen Positivismus. Dempfs Widerstand gegen den Nationalsozialismus begründete sich aus einem politischen Katholizismus im Umfeld der Kulturzeitschriften Hochland und Abendland. Dempfs erneuter Einfluss im Nachkriegs-Wien (1945–50) – nach dessen Berufung (1936) und der noch im März 1938 folgenden, auch für Bachmanns Doktorvater Victor Kraft geltenden, Zwangspensionierung – ist bemerkenswert. Er bestärkt die Zweifel an Bachmanns Motivation zum Wechsel des Dissertationsthemas und an ihrer philosophischen Herkunft allein aus der Rationalitätskritik (Weigel 1999, 81, 91). Der Typus des Heiligen beschäftigte Bachmann weiter, z. B. in den Radio-Essays zu Ludwig Wittgenstein und Simone Weil, die unter Hannah Arendts Formeln von der »vita contemplativa« und der »vita activa« als zwei Seiten der Mystik, Erkenntnis und Bekenntnis als Theorie und als Praxis, stehen. Arendts Werk, für Bachmann zentral, offenbart die Bedeutung Franz Kafkas, der jüdische Metaphysik in eine ethische Sprachkritik übersetzte. Das Interesse an Kafka verband Bachmann mit Celan, der über Kafka intensiv forschte (Celan/CelanLestrange 2001, Bd. 2, 44 f.), und ihrer lebenslangen
Schulfreundin Nani Demus, geborene Anna Maier, deren Dissertation unter dem Thema »Franz Kafka und Robert Musil als Vertreter der ethischen Richtung des modernen Romans« Bachmann 1949 abtippte (McVeigh 2016, 125). 2) Bachmanns biographischer Ausgangspunkt, ihre Situation als Protestantin in Klagenfurt, insbesondere im Ursulinengymnasium, findet – z. B. in den unveröffentlichten frühen Gedichten – einen bisher ungehörten Widerhall, ein Faktum, das ihr Leben in Italien, speziell in Rom, ebenfalls tangiert (vgl. die Reflexionen auf dem Protestantischen Friedhof; KS, 150 f.; W 4, 35). Darüber hinaus enthält die Nachlassbibliothek Quellenfunde wie Martin Bubers Bibelübersetzung und Geschichten des Rabbi Nachman, ein Geschenk Celans (Bachmann/Celan 2008, 67, 279), zum letzten jüdischen Mystiker. Religion wird darin zur paradoxen Chiffre des sagbaren und nichtsagbaren, aber wirklichkeitsbestimmenden Dunklen. Dies gilt es weiter zu erforschen, vor allem in der Spannung zwischen Dialog (nach Buber) und Monolog, z. B. mit Bachmanns These »Und Wittgenstein wollte wohl auch, leidenschaftlich wie einst Spinoza, Gott vom Makel der Anredbarkeit befreien« (KS, 143; W 4, 126). Bachmanns Beschäftigung mit dem Judentum gewinnt durch biographische Quellen zu ihren Freunden, Gesprächspartnern, Förderern Jack Hamesh (Höller 1999), Paul Feyerabend, Hermann Hakel, Hans Weigel, Reinhard Federmann (McVeigh 2016), Celan, Peter Szondi, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Ernst Bloch, Hans Mayer, Henry Kissinger (Hartwig 2017), Hermann Kesten sowie zu Nelly Sachs und Hannah Arendt (Weigel 1999) einen aus lebensgeschichtlicher Nähe weitergehenden überpersönlichen Versöhnungsanspruch. Über Bachmanns Kontakt zum jüdischen Philosophen und ersten Judaisten in der BRD, Jacob Taubes, während ihres Berlin-Aufenthaltes und darüber hinaus gibt es widersprüchliche Informationen; bezeugt ist ein gemeinsames Interesse an »kabbalischen Stoffen« (Hartwig 2017, 283). Frühes Zeichen des religionswissenschaftlichen Interesses ist z. B. die Übersetzung eines Artikels »Die heiligen Stätten Palästinas« aus dem Englischen für die Monatsschrift der Österreichischen Kulturvereinigung Der Turm (Brief an Hans Weigel, 11.8.1948; McVeigh 2016, 63 f., 261–265). Arendts Wunsch, nach ihrer Begegnung im New Yorker Goethe-Haus im Juni 1962 Bachmann als Übersetzerin für ihr Buch Eichmann in Jerusalem zu gewinnen, war legitim, blieb aber unerfüllt (September-November 1962; Weigel 1999, 463 f.). Arendts Verbundenheit mit
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Bachmann auch über deren Tod hinaus war, wie die mit ihrer beider Freund Uwe Johnson, geprägt von der Frage nach Erinnerung als Widerstand (ebd., 461). 3) Durch die Verknüpfung von Individualschicksal, zeitgeschichtlichem Unglück – »nach dem Krieg« (W 2, 159) bzw. »der Faschismus [...] in der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau« (GuI, 144) – und unbedingtem Kunstwillen (Juxtaposition von ›ecce homo‹ und »Ecco, un artista!«; KS, 409; W 4, 342) ist eine Klärung der Funktion des Opferkonzeptes bei weiblichen Figuren vonnöten. Ein möglicher Ansatz könnte zwischen heteronom-oktroyiertem ›victim‹ und autonom-freiwilligem ›sacrifice‹ liegen oder in der Gestaltung von Opfersituationen in Musik und Ritus (Behre 2000b), so z. B. in Hans Werner Henzes mythologisch inspirierten Tanz-Musikdramen wie den Bassariden; den Konflikt zwischen Ratio und Emotio löst die befreiende »Gewalttat« des Eros (Brief an Henze vom 22.6.1966; Bachmann/Henze 2004, 273). Im Umkreisen einer Liebes-Religion der Ekstase lässt Bachmann sowohl im Guten Gott von Manhattan wie in Malina Bezüge zu Rainer Maria Rilkes Malte-Roman mit dessen Schilderung der »gewaltigen Liebenden« wie der Lyrikerin Gaspara Stampa oder der portugiesischen Nonne Marianna Alcoforado zu (GuI, 110; Agnese 1996, 121; Eberhardt 2002, 342), die schon Stendhal zum Konzept der »amour-passion« als Zusammenfall von Liebe und Gewalt inspirierte (Behre 1996, 44). Insofern bleibt das immer wieder wiederholte Statement mit dem schon den Celan-Briefwechsel bestimmenden Leitwort des ›Kommenden‹: »Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ›ein Tag wird kommen‹« (GuI, 145). Quellen
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Maria Behre
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36 Bachmanns Utopiebegriff Die auf Thomas Morus’ Staatsroman Utopia (1516) zurückgehende humanistische, aus gr. ou (nicht) und tópos (Ort) abgeleitete Neubildung verwendet Ingeborg Bachmann theoretisch relevant nur in vier Texten: im [Ferragosto]-Text, in ihren beiden Essays zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und in der Frankfurter Vorlesung »Literatur als Utopie«, auch hier handelt es sich um Musil-Zitate (vgl. Agnese 1996, 103–114). Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass Utopie bei Bachmann nur ein »Deckbegriff« für »Erlösungsbegehren« (Weigel 1999, 487) bzw. Messianismus ist. Denn es finden sich in ihrem Werk zahlreiche Synonyme und Umschreibungen des Utopischen wie »Unsagbares« (W 4, 13, 15; KS, 55, 56, 58), »Gegenzeit« (W 1, 317), »Gegenbild« (W 2, 212), »Hoffnung« (GuI, 128, 145) sowie die »Ein Tag wird kommen«-Fragmente in Malina, die darauf hinweisen, dass mit Utopie der Kern ihrer Poetologie berührt ist (Eilittä 2008; Broser 2009; Weder 2010). Die seit Morus zentrale Raummetaphorik von »Utopia, also ein Land, das es gar nicht gibt« (zit. nach Haller 2004, 81), prägt auch Bachmanns Texte (vgl. Nagy 2009) von den Bildern der Kärntner Heimat in Frühwerk und Lyrik über Das erstgeborene Land Italien und die Literatur-Utopie von Böhmen liegt am Meer bis zum (in böhmischem Dialekt bezeichneten) »Vielvelkerreich [!]« (Bachmann 2011, 158) Österreich-Ungarn, das schon 1952 in der Radiofamilie als Sozialutopie aufgerufen wird und in ganz ähnlicher Diktion in Malina als »Haus Österreich« und »Ungargassenland« (TKA 3.1, 396 f., 299 und passim, vgl. Eilittä 2008, 46–50) wiederkehrt. Der U-topos wird im Kontext von Böhmen und Rom auch mit den Begriffen Heimat und »Heimkehr« an einen imaginären »geistigen« Ort (Haller 2004, 80; KS, 152) assoziiert. Im Entwurf ihrer Gegenwelten verbindet die Autorin Erkenntnis-, Sprach-, Liebes-, Sozial- und Literaturutopie, wobei insbesondere die kritische Zitation tradierter Utopismen – etwa von Geschlechter- und Liebesutopien in Der gute Gott von Manhattan (vgl. Lubkoll 2002) oder Ein Schritt nach Gomorrha (vgl. Weder 2010) –, eine negative Ästhetik sowie die Spannung zwischen Utopie und Dystopie (vgl. Eilittä 2008; Weder 2010) für ihre Texte kennzeichnend sind. In Auseinandersetzung mit Robert Musil und Ludwig Wittgenstein, im Gespräch mit Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Gershom Scholem (Broser 2009, 22–63) sowie in Affinität zu Walter Benjamin entwickelt Bachmann ihr Verständnis von »Literatur als Utopie«.
Die untergründigen Beziehungen ihres Werkes zu den politischen Utopien der Aufbruchsbewegungen der 1960er-Jahre und ihrer Semantik (vgl. Weder 2010), u. a. der ›Sexuellen Revolution‹, harren noch weiterer Analyse, vor allem da die körperlich-libidinöse Befreiung im Buch Franza und in den Gedichten aus dem Nachlass (vgl. Bachmann 2000, 156 f., 165–169) an Bedeutung gewinnt. Am nachdrücklichsten, über drei Jahrzehnte lang, seit der Jugend-Lektüre in den frühen 1940er Jahren hat sich Ingeborg Bachmann mit der Utopiekonzeption Robert Musils auseinandergesetzt (vgl. GuI 56, 124; Agnese 1996, 103–114; Bartsch 1980; Weber 1986, 55–74; Schmaus 2016). Im Hinblick auf seinen Roman unterscheidet Musil drei Utopien: die Utopie des »anderen Zustands«, des »Lebens in Liebe« und die der »induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands« (Musil 1952, 1621). Die hierin implizierte erkenntnistheoretische, praktische und zeitdiagnostische Dimension führt Bachmann in ihrem ästhetisch-ethischen Utopiekonzept eng. Als Krisenphänomen der Moderne diagnostiziert Musil in seinem Roman den Verlust ganzheitlicher Individualität. Der andere Zustand als Erkenntnismoment, in dem Verstand und Gefühl, in Musils Worten »Mathematik und Mystik« (KS, 118; W 4, 98), eine Synthese eingehen, wird so Bachmanns Deutung gemäß zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer »neuen Moral« (KS, 97, 116; W 4, 25, 96). Diese existentiell-erkenntnistheoretische Dimension des Utopiebegriffs kehrt im [Ferragosto]-Text wieder, wo der »utopische Charakter« Roms gerade in der »geistig fühlbare[n] Botschaft« begründet liegt (KS, 152; W 4, 337). In den Frankfurter Vorlesungen wird Musils anderer Zustand dann auf die »utopische Existenz« des Schriftstellers bezogen (KS, 348; W 4, 271) – Ingeborg Bachmann spricht von einem »moralische[n], erkenntnishafte[n] Ruck« – und produktionsästhetisch gewendet zur Bedingung der Möglichkeit einer »neuen Sprache«, die ihrerseits zu »neuer Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußtsein« erziehen kann (KS, 263, 266; W 4, 192, 195). Die prägnanteste Verbindung von existentieller und poetologischer Funktion der Utopie des anderen Zustands führt der Roman Malina vor Augen. Mit Malina und Ich werden zugleich zwei Erkenntnisformen, »der Verstand und das Gefühl« (TKA 3.1, 579), und zwei Erzählformen – die ›trockene gute‹, d. h. ethisch qualifizierte, Stimme Malinas und die ›erregten, schönen‹, d. h. ästhetisch qualifizierten, Worte des Ich (TKA 3.1, 681 f.) – in einer Figur zusammengezogen. Noch im Juni 1973 bekennt sich Bachmann
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_36
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zu der »einzigen Hoffnung«, dass Literatur Ausdruck und Erziehung zu ganzheitlicher Individualität ist, also »das Zusammengehen« von »höchster Vernünftigkeit« und »höchster Emotion« (zit. nach Haller 2004, 65 f.; vgl. GuI, 139). Die Erkenntnis- und Sprachdimension des Utopischen konturiert Bachmann auch in ihrer Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, wenn dort das utopische Anliegen der Literatur, »Unsagbares« zum Ausdruck zu bringen, thematisiert wird und sie den Ort literarischen Sprechens als eine Grenzregion kennzeichnet (KS, 123; W 4, 103; vgl. Broser 2009, 26 f.). Mit der ›Utopie des Lebens in Liebe‹ bezeichnet Musil den Versuch der Geschwister Ulrich und Agathe im Mann ohne Eigenschaften, den anderen Zustand in Abkehr von der Gesellschaft im Mikrokosmos des Paares in intersubjektive Praxis zu überführen. Der »Weg des Denkens« fällt, wie Bachmann in ihrem Musil-Essay ausführt, »mit dem Weg der Liebe zusammen« (KS, 98; W 4, 26). Die in der Liebe vollzogene Bewusstseins- und Weltentgrenzung setzt die herrschende gesellschaftliche Ordnung zugunsten einer anderen möglichen Ordnung außer Kraft und ist darin gemäß dem Musilschen »Möglichkeitssinn« (KS, 107; W 4, 87) gelebter Utopismus. Dass beide Utopien, der andere Zustand und die Liebe, in Musils Roman scheitern, deutet Bachmann jedoch nicht als Absage, sondern als Ausdruck ihres Augenblickscharakters: »Liebe als Verneinung, als Ausnahmezustand«, das »Außer-sich-sein, die Ekstase währen – wie der Glaube – nur eine Stunde« (KS, 122, 99; W 4, 102, 27). In der Musil-Lektüre entwickelt Bachmann das zentrale Signum ihres Utopiebegriffs: Es handelt sich um einen Erkenntnis- oder Lebensmoment, der seine Wertigkeit darin erhält, dass er den »Sinn für die noch nicht geborene Wirklichkeit« eröffnet (KS, 108; W 4, 87). Als »Richtbild« und »Ahnung« wird Utopie so zum »movens des Geistes« (KS, 121 f.; W 4, 101 f.). Das gilt für die Liebesutopien im Guten Gott von Manhattan, in Ein Schritt nach Gomorrha und Undine geht sowie im Buch Franza und in Malina. Im Besonderen gestaltet sich die Liebesutopie in Bachmanns Werk als Möglichkeitssinn für andere Formen der Geschlechterordnung: sei es als Geschwisterliebe (Das Spiel ist aus, Das Buch Franza, Drei Wege zum See), als Androgynität (Malina-Ich) im Rückgriff auf Musils Reflexionen zur Zweigeschlechtlichkeit der Seele (vgl. Agnese 1996, 136–142; Schmaus 2000, 123–138) oder als lesbische Liebe (Ein Schritt nach Gomorrha, vgl. Weder 2010). Auch diesen Aspekt des Musilschen Utopiebegriffs überführt die Vor-
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lesung »Literatur als Utopie« in eine poetologische Kategorie. Literaturrezeption wird im Anklang an die letzte Zeile des Gedichts Das Spiel ist aus als Atemtausch bezeichnet (KS, 348; W 4, 271) und dadurch als Liebesverhältnis gedeutet. Patricia Broser (2009, 90– 95) sieht diese Form einer Liebes- als Literatur- und Leseutopie bereits in den Briefen an Felician am Werke, ebenso wie in dem Essay Gedicht an den Leser. Die ausführliche Zitierpraxis der Poetik-Vorlesungen stellt sich in diesem Lichte als sprachlicher Vollzug der Liebesutopie dar. Mit der Äußerung »Liebe ist ein Kunstwerk« (GuI, 109) hat Bachmann diese Utopie später auf die Werkästhetik der Todesarten bezogen, was sowohl durch die oben angedeutete Vermittlung verschiedener Erzählformen und Textgenres als auch durch verstärkte intertextuelle Textverfahren eingelöst wird (vgl. Schmaus 2000, 191–201). Mit Musils »Utopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands«, mit der Der Mann ohne Eigenschaften enden sollte, kommt das Andere der Utopie, das Böse, der Krieg ins Spiel (vgl. KS, 121; W 4, 101) und damit die zeitdiagnostische Funktion des Utopiebegriffs. Der Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn der vorangehenden Utopien ist in dieser Konzeption aufbewahrt, wird aber für die Analyse der eigenen Zeit, in Musils Fall der Erste Weltkrieg, instrumentalisiert. Das Widerspiel der Utopien im Mann ohne Eigenschaften deutet Ingeborg Bachmann dahingehend, »daß an die Stelle der geschlossenen Ideologien«, die zum Krieg führen, »offene treten« (KS, 122; W 4, 102). Der Titel des verschollen geglaubten, im Archiv des Bayerischen Rundfunks aufgefundenen Radio-Essays Utopie contra Ideologie (vgl. W 4, 406; Bachmann 1954) impliziert Ähnliches. Im bislang unveröffentlichten Schluss des Radioessays weist die Autorin dem Mann ohne Eigenschaften die Gattungsbezeichnung »ethische[r] Roman« zu, da dieser eine »positive Konstruktion« der Wirklichkeit unter Einbeziehung des »offenen Horizonts« (Bachmann 1954, 22 f.; vgl. Schmaus 2016, 830) der Möglichkeiten formuliere. Mit dieser Bezeichnung lehnt sich Bachmann wohl an eine Selbstaussage Musils an, die ihr aus der Dissertation Franz Kafka und Robert Musil als Vertreter der ethischen Richtung des modernen Romans ihrer langjährigen Freundin Nani Demus, geborene Anna Maier, bekannt war (vgl. Maier 1949, 170), die sie 1949 abgetippt hatte (vgl. Schmaus 2016, 830). Maiers Dissertation zeigt aber auch, dass sich Bachmanns utopisch akzentuierte Lektüre von der zeitgenössischen Musil-Rezeption abhebt – in Maiers Dissertation kommt der Utopie-Begriff nicht vor. Im Musils-Essay
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – B Bachmann und die Philosophie
und in den Frankfurter Vorlesungen wird die gegen Ideologien gerichtete Darstellungsform im Sinne einer negativen Ästhetik mit »Verneinung« und »Verstoß gegen die schlechte Sprache« des Lebens (KS, 122, 344; W 4, 102, 268) assoziiert. Utopie wird so in Bachmanns Werk zu Gesellschafts- und Sprachkritik im Modus der Negativität, zum Entwurf von »Gegenzeit« (W 1, 317) und »Gegenbild« (W 2, 212), zu einer kontrafaktischen Hoffnung (GuI, 128, 145). Den französischen Widerstandskämpfer René Char zitierend endet die Frankfurter Vorlesung »Literatur als Utopie« mit einem sprachlichen Akt der résistance, »mit einer Salve Zukunft« (KS, 149; W 4, 271; vgl. GuI, 139; Höller 1987, 153). Induktiv gesinnt ist Bachmanns Utopiekonzeption auch darin, dass »neue Leid-Erfahrungen« wie in der Kriegsblinden-Rede (GuI, 139; vgl. Höller 1987, 149–154) oder später in den Todesarten als ›andere Zustände‹ integriert werden, die ›sehend machen‹ für den gesellschaftlichen Mordschauplatz. Verdankt sich der Utopiebegriff in Bachmanns Werk fast ausschließlich Musil-Zitaten, so hat sie diesen Begriff jedoch für ihre Zeit aktualisiert und dies wiederum in dem ihrem Konzept eigentümlichen Gestus des Dialogs: mit Ernst Bloch (KS, 267; W 4, 196; GuI, 42), Theodor W. Adorno und Walter Benjamin (KS, 220; W 4, 157; GuI, 140). In Ernst Blochs Prinzip Hoffnung (1959) ist es gerade die Kunst, die das Noch-Nicht, die »Tiefen- und Hoffnungsdimension« (Bloch 1959, 945) der Wirklichkeit vermittelt. Bachmanns von einer Gattungsbezeichnung abgelöstes Utopieverständnis, das die Literatur als »ein nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen« (KS, 333; W 4, 258) bestimmt, ist als Blochzitat gelesen worden (Mechtenberg 1978; vgl. Broser 2009, 39–47). Allerdings verbleiben die zielfeindlichen Richtbilder Musils und Bachmanns in signifikanter Differenz zu Blochs konkreter Utopie des Sozialismus (Bartsch 1997, 29). In ihrer Negativität stehen sie Adorno näher, demzufolge Kunst in Verweigerung der Affirmation »das Unaussprechliche, die Utopie« nur durch »absolute Negativität« aussprechen kann (Adorno 1973, 55; vgl. Mechtenberg 1978, 92 f.; Bartsch 1997, 29). Augenblickscharakter und Zitat rücken Bachmanns Utopieverständnis deutlicher noch in Korrespondenz zu Walter Benjamins Sprach- und Geschichtsauffassung. Denn laut Benjamin sind nur im »Augenblick der Gefahr« die mit messianischer Jetztzeit aufgeladenen Bilder der Vergangenheit »zitierbar« (Benjamin 1974, 694 f.). Mithin verschränken sich Utopie und Trauma hier in ähnlicher Weise wie in Bachmanns Konzeption. Spricht die Vorlesung »Literatur als Uto-
pie« von der »Nachahmung« einer »erahnten Sprache«, »die noch nie regiert hat« (KS, 348; W 4, 270 f.;), so ist diese paradoxe Formulierung als Referenz auf Benjamins »Über das mimetische Vermögen« zu verstehen: »Was nie geschrieben wurde, lesen« (Benjamin 1977, 213; vgl. Agnese 1996, 264–268; Weigel 1999, 490–493). Im Zitat, in der Auseinandersetzung mit Musil, Bloch, Adorno und Benjamin gewinnt Utopie in Ingeborg Bachmanns Werk als »ästhetische Kategorie« (Mechtenberg 1978) Gestalt, wobei aber nicht übersehen werden darf, was an den Rändern dieses Begriffs liegt: zum einen die Wirkungsintention in Richtung auf eine neue Moral, zum anderen die zeitdiagnostische Funktion in Hinblick auf Krieg und Todesarten. Quellen
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1973. Bachmann, Ingeborg: Utopie contra Ideologie. Unveröffentlichtes, vollständiges Manuskript des Radios-Essays zu Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Sendetermin 27. April 1954, Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, LIT 423/14. Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. München 2000. Bachmann, Ingeborg: Die Radiofamilie. Hg. von Joseph McVeigh. Berlin 2011. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1959. Haller, Gerda (Hg.): Ingeborg Bachmann. Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Salzburg 2004. Maier, Anna [d. i. Nani Demus]: Franz Kafka und Robert Musil als Vertreter der ethischen Richtung des modernen Romans. Diss. Univ. Wien 1949. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Hamburg 1952.
Literatur
Agnese, Barbara: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmanns Wittgenstein- und Musil-Rezeption. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 8/4 (1980), 527–532. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart/Weimar 21997. Broser, Patricia: »Ein Tag wird kommen ...« Utopiekonzepte im Werk Ingeborg Bachmanns. Wien 2009. Eilittä, Leena: Ingeborg Bachmann’s Utopia and Disillusionment. Introduction. Helsinki 2008.
36 Bachmanns Utopiebegriff Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a. M. 1987. Lubkoll, Christine: Utopie und Kritik. Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan. In: Mathias Mayer (Hg.): Werke von Ingeborg Bachmann. Stuttgart 2002, 122–139. Mechtenberg, Theo: Utopie als ästhetische Kategorie. Eine Untersuchung der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Stuttgart 1978. Nagy, Hajnalka: Der Zauberatlas der Literatur. Topographie und Utopie in Ingeborg Bachmanns Werk. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2009, 154–171. Schmaus, Marion: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault. Tübingen 2000.
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Schmaus, Marion: Literarische Rezeption. In: Birgit Nübel/ Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch. Berlin/New York 2016, 825–854. Weber, Hermann: An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns. Essen 1986. Weder, Christine: (K)ein Schritt ins gelobte Gomorrha. Utopie und Apokalyptik bei Ingeborg Bachmann im Kontext der Aufbruchsprogramme der 60er Jahre. In: Reto Sorg/ Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. Paderborn 2010, 245–256. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999.
Marion Schmaus
C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren 37 Deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts Für Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts ist vor allem ein Moment signifikant, das Manfred Pfister als Dialogizität bezeichnet, nämlich eine Form der Intertextualität, in der der zitierende Text zum zitierten in semantischer und ideologischer Spannung steht (Pfister 1985, 29). Der literarische Dialog mit diesem Textkorpus gestaltet sich als Dekonstruktion und als poetologische Reflexion auf die literargeschichtlichen Zäsuren: »Ja, ich glaube auch, daß man die alten Bilder, wie sie etwa Mörike verwendet hat oder Goethe, [...] nicht mehr verwenden darf, weil sie sich in unserem Mund unwahr ausnehmen würden. Wir müssen wahre Sätze finden, die unserer eigenen Bewußtseinslage und dieser veränderten Welt entsprechen« (GuI, 19). Idealtypisch lässt sich die ideologische Spannung zur Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts mit dem Kontrast einer alten, schönen Kunstform, die mit Autoren wie Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Hölderlin und Novalis (Friedrich von Hardenberg) aufgerufen wird, und einer modernen, nicht-mehr-schönen Kunst beschreiben, die sich selbst im Erfahrungsraum des Post-Holocaust verortet. Das Aufreißen dieser historischen Kluft kann anhand der Auseinandersetzung mit Goethes Ballade Der König in Thule in Bachmanns Gedicht Früher Mittag veranschaulicht werden. Das Motiv des Festmahls wird sarkastisch entstellt und weist auf die »unheimliche Kontinuität zwischen der edelklassischen Vergangenheit und der bedrohlichen Gegenwart« (Mosès 1997, 200). In Malina verkehrt sich das Vorhaben, in Zitation romantischer Utopien ein schönes Buch zu schreiben, unversehens in ein »Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505). Jedoch ist zwischen der Lyrik und dem Spätwerk eine Umkehrung der Argumentationsrichtung zu verzeichnen: Erscheint in den frühen Texten die alte Kunstsprache im Hinblick auf die Gegen-
wart als unzeitgemäß, so macht die alte Sprache (vgl. TKA 1, 364) vergangener Literatur in den Todesarten diese erst erzählbar. Insgesamt gilt, dass es sich nicht nur um Zitate einzelner Sätze handelt, sondern um die Aufnahme von Leitmotiven mit strukturbildender Funktion, um einander wechselseitig kommentierende Zitat-Collagen und um Verweisketten, die den jeweiligen Text zum Fragment eines historischen Kompendiums und einer »ungeschriebenen Geschichte« (W 4, 271; vgl. KS, 349) der Literatur als Utopie werden lassen.
Raum- und Zeitutopien In den Italien-Gedichten des Gedichtbandes Anrufung des Großen Bären, im Hörspiel Die Zikaden sowie in der frühen Erzählung Auch ich habe in Arkadien gelebt und dem Essay Was ich in Rom sah und hörte werden klassisch-romantische Raumutopien aufgerufen und dekonstruiert. Der Arkadien-Text spielt sowohl auf Friedrich Schillers Gedicht Auch ich war in Arkadien geboren an (Hapkemeyer 1982, 50) wie auch auf das Motto von Goethes Italienischer Reise (Huml 1999, 318 f.; Weigel 1999, 255 f.). Die Topographie ist jedoch verkehrt, nicht der Süden, sondern die zurückgelassene österreichische Heimat ist gemeint. Das Italienbild in Lyrik und Prosa zitiert Goethes Reise als ästhetische und biographische Chiffre und überschreitet ihn zugleich im Blick auf die »historischen ›Todesarten‹ der römischen Gesellschaft« (Huml 1999, 348). Das Hörspiel Die Zikaden führt den Topos der »im Nirgendwo angesiedelten Insel wie Goethes Thule oder Mörikes Orplid oder das geheimnisvolle Atlantis des E. T. A. Hoffmann« (Tunner 1989, 418; vgl. KS, 313, 187; W 4, 239, 305 f.) und des Novalis weiter und zeigt die eskapistische Tendenz solcher Utopien auf. Allerdings bleiben in der Kritik Momente des Utopischen bewahrt: die »Suche nach Liebe«, die »Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und [die] Erkenntnis der Bedrohung jeder menschlichen Existenz« (Tunner
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_37
37 Deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts
1989, 420). Mit dem Element des Wassers und mit dem Erfahrungsraum des Traumes, wie im Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen, wird im Rekurs auf die Romantik (Novalis, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff; vgl. Tunner 1989, 420–425) eine Gegenwelt der Erfüllung und lustvollen Auflösung im Unbekannten evoziert. In Bachmanns Erzählung Undine geht verkehrt sich die Argumentationsrichtung, nicht mehr die misslingende Vermittlung mit der Realität diskreditiert den U-topos, sondern von jenem aus wird die Realität dekonstruiert. Die Topographie wird nun gleichsam entsubstantialisiert zum »Orientierungstraum« (KS, 342; W 4, 265). Die Stimme der Kunst, Undine (vgl. GuI, 46; Schneider 1999, 259– 264), ist an einem unsicheren Nirgend-Ort als Grenzgängerin zwischen der Menschenwelt und dem Wasser situiert. Ihr mythen- und literarhistorisch verbürgtes Lachen subvertiert die bestehende gesellschaftliche Ordnung und wird zum Ausdruck der in der »Liebe« verkörperten »Radikalität und Utopie der Kunst« (Luckhardt 2003, 265). In Malina findet sich mit dem Ungargassenland sowohl eine romantisch konnotierte (vgl. Beck 1988, 310; dazu kritisch Bartsch 1991, 219–225) als auch eine spezifisch österreichische Raumutopie, die Literarisierungen des habsburgischen Vielvölkerreichs von Franz Grillparzer über Robert Musil bis zu Joseph Roth aufruft (Pichl 2015–16). Zudem sind verstärkt Zeitutopien erkennbar: in der Kagran-Legende im Modus der Vergangenheit, in den Utopie-Fragmenten im Modus der Zukunft. Hier wird mit der Idee des siderischen Menschen und des goldenen Zeitalters aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (vgl. Beck 1988, 309 f.; Schmaus 2000, 108, 152, 157–161; Uerlings 2000, 29 f.) und Ludwig Tiecks Schöner Magelone gearbeitet (vgl. Kohn-Waechter 1992, 175). Bleiben die im Zitieren romantischer Zeitutopien vollzogenen Schreibversuche der Ich-Erzählerin Fragment, so werden auf diesem Wege doch die historischen Bedingungen dieses Scheiterns zur Sprache gebracht. Dies zeigt sich vor allem in der gegenüber Ein Geschäft mit Träumen radikalen Umdeutung der Traumsprache, die nun im Kapitel »Der dritte Mann« die Darstellung des NS-Traumas ermöglicht.
Die Existenz der SchriftstellerIn Ein weiterer zentraler Aspekt im Hinblick auf Bachmanns Verhältnis zur deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts liegt in der Selbstverständigung über
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die Existenz der SchriftstellerIn. In den Frankfurter Vorlesungen sind es die mit Heinrich von Kleist, Franz Grillparzer, Eduard Mörike und Clemens Brentano aufgerufenen »Stürze ins Schweigen« (KS, 259; W 4, 188), die sie unter den Bedingungen einer radikalisierten Sprachskepsis nach der Zäsur des Holocaust interessieren. So perspektiviert Ingeborg Bachmann Kleist und seinen Protagonisten Prinz Friedrich von Homburg in ihrer Libretto-Fassung des Dramas für Hans Werner Henzes Oper auf die modernen Züge »unaussprechlicher« Existenz: »komplexes Ich und leidende Kreatur in einem« (W 1, 371; vgl. Bartsch 1991, 226–229). Die frühen Entwürfe ihrer Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle zeigen gegenüber der Endfassung noch deutlichere Lektürespuren von Georg Büchners literarischem und theoretischem Werk. Zentriert ist die Auseinandersetzung jedoch auf die einem Wahnsinn von außen erlegene Dichterfigur der Lenz-Erzählung (TKA 1, 549, 553, 595; vgl. Schneider 1999, 160–162, 444 f.). Deren Signatur kennzeichnet noch Beatrix in Probleme Probleme (vgl. Bannasch 1997, 66–69) und die Ich-Erzählerin in Malina, der das Motiv des Wahnsinns zugeordnet ist und deren Wahrnehmungsperspektive dem Auf-demKopf-Gehen von Büchners Lenz korrespondiert (vgl. Schmaus 2000, 145, 179). In diesen Kontext gehört auch Bachmanns Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche (vgl. Eberhardt 2002, 173–184, 334–341). Bereits das Gedicht Anrufung des Großen Bären lässt sich als Variation auf Nietzsches »Gott ist tot« verstehen (vgl. GuI, 33). In der aus dem Nachlass veröffentlichen Erzählung Der Schweißer wird dem Protagonisten durch die Lektüre von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft eine Erkenntnis zuteil, die Hans Höller in Korrespondenz zu Friedrich Hölderlins heiligem Wahnsinn gelesen hat: Reiter begreift sich in einem höheren gesellschaftlichen Zusammenhang (vgl. Höller 1987, 128–131; kritisch dazu Eberhardt 2002, 183; Eberhardt 2004). Schließlich hat Bachmann in einem Vorreden-Entwurf zum Buch Franza die Täter-Opfer-Dialektik der Todesarten, »jenseits von Gut und Böse« (TKA 2, 17 f.), in Anklang an Nietzsche formuliert. Malinas Götzenvernichtung steht in der Genealogie von Nietzsches »Gott ist tot« (vgl. Kohn-Waechter 1992), und es finden sich im Weiteren Anspielungen auf Nietzsches Ecce Homo (vgl. TKA 3.1, 495, 512; Eberhardt 2002, 334–341; Eberhardt 2004) und Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (TKA 3.2, 936 f.) in Malina. Im »Wortlaut« der »Verweise« werde der »Zustand des Ichs« gespiegelt, dieses »identifi-
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
zier[e]« sich mit den Nietzsche-Zitaten (Eberhardt 2002, 341). Auch Ingeborg Bachmanns zentraler sprachskeptischer Grundsatz der Todesarten-Poetologie, »die Sprache ist die Strafe« (TKA 3.1, 393; vgl. KS, 491; W 4, 297) – in Anlehnung an das Fragment des Anaximander formuliert –, scheint sich ihrer Nietzsche-Lektüre zu verdanken. Denn dieser kommentiert das Fragment in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen als tragisch-ethische Weltsicht, als eine »nie endende Todtenklage« (Nietzsche 1988, 820). In Malina wird im Anschluss an diese Passage die Aufgabe der Dichtung in eben diesem Sinn als Totenklage bestimmt. Eine ähnliche Konstellation von moderner Erfahrung der Götterferne (KS, 134; W 4, 116), Motiv des Wahnsinns und poetologischer Reflexion – »Und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (GuI, 15; KS, 190; W 4, 303) – bildet auch die Folie für Bachmanns Dialog mit dem Werk Hölderlins. Bereits in der Dissertation ist er, vermittelt über Martin Heideggers Hölderlin-Interpretationen, präsent (vgl. Bachmann 1985, 60, 118 f., 121 f., 125, 127). Die Gedichte, vor allem Große Landschaft bei Wien, Paris und An die Sonne sind auf ihre intertextuellen Bezüge zu Hölderlin befragt worden (Beicken 1988, 91; Mosès 1997, 202–207; Huml 1999, 292). In Malina wird durch ein leitmotivisch wiederkehrendes, variiertes Zitat aus dem Fragment von Hyperion die Thematik der »gestörten Erinnerungserzählung« eingeführt (TKA 3.2, 930; vgl. Göttsche 1990, 112 f.; Eberhardt 2002, 409–411). »Hölderlins Bild« gehört, neben der »Totenmaske von Kleist« (TKA 3.1, 511), zum Besitz, den das Ich vor der Zerstörung durch den Vater bewahrt. Eine gleichermaßen widerständige Funktion gegen die Macht des Vaters nimmt der in der Kagran-Legende zitierte romantische Topos des fremden Sängers ein, der Lektürespuren von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (Schmaus 2000, 166; Uerlings 2000, 27), Ludwig Tiecks Schöner Magelone und E. T. A. Hoffmanns Johannes Kreislers Lehrbrief aufweist (KohnWaechter 1992, 60–62). Insbesondere der Heinrich von Ofterdingen nimmt durch Figurenpersonal, Handlungsmomente und Leitmotive – die blauen, roten und weißen Blumen – eine strukturbildende Funktion für die Legende und für den Malina-Roman insgesamt ein (Schmaus 1998, kritisch dazu Eberhardt 2002, 349–351; Schmaus 2000, 108–111; Uerlings 2000, 27–30). Im Weiteren wird in Malina durch Novalis und Hölderlin der frühromantische Bildungsroman in seiner signifikanten Gattungspluralität als eine Schreibutopie zitiert (Beck 1988, 309; Bartsch
1991, 222; Schmaus 2000, 192 f.), in der die Vorstellung dialogischer Identität, die Liebesutopie und die Poetisierung der Wirklichkeit eine Synthese eingehen.
Gattungszitate In den Zusammenhang der Gattungszitate in Bachmanns Werk gehören die zahlreichen Anspielungen an Volkslied, Märchen und Kunstmärchen, die von der Lyrik bis zum Todesarten-Projekt reichen (Eberhardt 2002, 69–71). Mit ihnen verbindet sich seit der Romantik der Themenkomplex von kollektivem Gedächtnis und kollektiver Autorschaft. In den Lyrikbänden wird durch Zitate des Volkslieds wie auch der Grimmschen Hausmärchen die Ambivalenz von Heimat als Sprachheimat einerseits und dem Unheimlichen der gesellschaftlichen Ordnung andererseits reflektiert. Exemplarisch hierfür sind Früher Mittag und der Gedichtzyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen, wo die Lieder Am Brunnen vor dem Tore, Goethes zum Volkslied gewordenes König in Thule (Bartsch 1991, 217–219) sowie die Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, Hänsel und Gretel (Šlibar 2000, 200–206) und Jorinde und Joringel zu einem Intertext verwoben sind. Die Verführbarkeit des deutschen Kleinbürgertums steht im Zentrum von Bachmanns Opernlibretto Der junge Lord, das auf Wilhelm Hauffs Märchen Der Affe als Mensch basiert. Im Weiteren ist es die Ambivalenz des Geschlechterverhältnisses, einerseits Liebesutopie und Geschwistermythos, andererseits der Geschlechterkampf, der in der Auseinandersetzung mit diesem Textkorpus thematisch wird. Zum einen ist der über Friedrich de la Motte-Fouqué (Nawab 1993; Bartsch 1991, 230–232), Eduard Mörike (Luckhardt 2003, 257–260) und E. T. A. Hoffmanns Zauberoper (Endres 1989, 452) vermittelte Undine-Stoff zu nennen. Die schon bei Fouqué zu findende trianguläre Struktur des Begehrens – ein Mann und zwei Frauen – destabilisiert nach Eleanor ter Horst (2011) schon im 19. Jahrhundert die bürgerlichen Geschlechterrollen und wird in dieser Funktion von Bachmann im Erzählband Das dreißigste Jahr, vor allem in Undine geht und Ein Schritt nach Gomorrha, weitergeführt. Zum anderen ist auf das Blaubart-Märchen zu verweisen, das sich von Charles Perrault über Tiecks dramatisierte Fassung in seinen Volksmährchen, die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm bis zu Béla Bartóks Oper tradiert hat. In der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha wird im Rollentausch der Geschlechter das Blaubart-
37 Deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts
motiv auf Charlotte bezogen (W 2, 212; vgl. Dusar 1994, 208–216; Szczepaniak 2009), in den Todesarten prägt es die Mann-Frau-Beziehungen (TKA 2, 69, 207; TKA 3.1, 5; TKA 3.2, 930). Jost Schneider hat am Franza-Fragment herausgestellt, dass die »BlaubartAllusion« sowohl eine »poetische Abbreviatur« der Täterfiguren als auch deren Universalisierung ermögliche, so dass die Todesarten auf diesem Wege erzählerischer Ökonomie ihr Augenmerk auf die weiblichen Opfergeschichten legen könnten (Schneider 1996, 123). Diese Perspektive teilt das Romanprojekt mit der Textform Märchen, die idealtypisch mit einer Mangelsituation der ProtagonistIn beginnt und dann deren weiteren Weg verfolgt. In diesen Kontext lassen sich ebenso die Anspielungen auf die Instrumentalisierung des Spuks in Theodor Fontanes Roman Effi Briest einordnen. Innstetten baut einen »Angstapparat aus Kalkül« (Fontane 1985, 132) auf, wobei Tierpräparate (Hai und Krokodil) eine wichtige Rolle spielen, der seine Frau zur Hysterikerin macht. Hai und Krokodil begleiten als Todesängste leitmotivisch die Protagonistinnen der Todesarten (vgl. Beck 1988, 306 f., 320; TKA 1, 277, 338, 347 f., 381, 448, 601; TKA 2, 30, 65, 98, 225; TKA 3.1, 520, 552–554). Auch die Referenz auf Märchenelemente aus Brentanos Roman Godwi, Karoline von Günderrodes Erzählung Timur und E. T.A Hoffmanns Johannes Kreislers Lehrbrief sowie auf das romantische Kunstmärchen (Tiecks Schöne Magelone, Novalis’ Atlantis, Eros und Fabel) in Malina ist im Hinblick auf den Topos der toten Geliebten als Destruktion einer männlichen Opferlogik gelesen worden (Kohn-Waechter 1992, 60–74). Gerade an Novalis lässt sich jedoch veranschaulichen, dass mit dem Rekurs auf die Frühromantik eine Vorstellung dialogischer, zweigeschlechtlicher Identität und eine Liebesutopie aufgerufen werden, durch deren Zitat die Ich-Erzählerin den Machtstrukturen des Patriarchats Widerstand leistet (Schmaus 2000, 119–123, 150–156, 164 f.). In dieser Funktion wird das romantische Motiv des Liebestodes durch die Anklänge an August von Platens und Richard Wagners Tristan und Isolde (TKA 3.2, 954, 956, 961) sowie an Nietzsches Klage der Ariadne (Kohn-Waechter 1992, 48, 52; vgl. GuI, 74) im Text weitergeführt. Karen Achberger (2006) plädiert dafür, die in Isoldes Sehnsuchtsworten und im Tristan-Akkord der Wagner-Oper musikalisch sich ausdrückende Transzendenz auch auf das weibliche Ich des Romans und ihr Verschwinden zu beziehen, das so in einem anderen, positiveren Licht zu sehen sei. Schon in den aus dem Nachlass edierten lyrischen Entwürfen der 1960er Jahre Ich weiss keine
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bessere Welt (2000) identifizierte sich das weibliche lyrische Ich mit Isoldes Worten, so dass diese Texte als »Todesarten-Gedichte« (McMurtry 2007, 535) gelesen werden können. Zuletzt ist im Zusammenhang der Gattungszitate Bachmanns Dialog mit der Weimarer Klassik zu nennen, der vom Früh- bis zum Spätwerk zentral auf das Dramatische fokussiert ist. Vor allem Goethes Faust ist ein Prätext, auf den sich Bachmann konstant bezieht: Angefangen von den im Nachlass überlieferten Jugendgedichten Goethe und Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust (vgl. Hapkemeyer 1983, 1–3; Bartsch 1997, 36; Huml 1999, 92; Nebrig 2014, 332– 334), dem das Malina/Ich-Doppel später seine eigene geschlechtsspezifische Variation geben wird. Wie bereits erwähnt, nehmen die Gedichtbände das Gretchen-Lied König in Thule auf (W 1, 44, 90) sowie das Dichtungsverständnis der Zueignung aus dem Faust (Mein Vogel, An die Sonne; Huml 1999, 311–317). Im Hörspiel Der gute Gott von Manhattan wird in ironischem Bezug auf »Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan« (V. 12110–12111) Jans Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung mit dem variierten Faust-Zitat »Die Erde hatte ihn wieder« kommentiert (W 1, 327; vgl. Bartsch 1997, 84; Beicken 1988, 116). Und der Gute Gott instrumentalisiert Goethes Schweigegebot aus dem Divan-Gedicht Selige Sehnsucht »Sagt es niemand, nur den Weisen« für seine Mordpläne (Goethe 1982, 18; vgl. Beicken 1988, 119). In den Todesarten erscheint die Schauspielerin Fanny Goldmann als Verkörperung von Goethes Iphigenie (TKA 1, 288, 311, 441; TKA 4, 419). Die Protagonistin aus Drei Wege zum See, eine »Frau von fünfzig Jahren« (TKA 4, 5, 621), wird mit Goethes Novelle Der Mann von funfzig Jahren aus den Wanderjahren assoziiert. Goethes Entsagungsmotiv spielt die Erzählung gleich in mehrfacher Variation im Hinblick auf den jüngeren Liebhaber, den Bruder und die Trottas durch. Die Erzählung Ihr glücklichen Augen aus dem Band Simultan zitiert im Titel ironisch das Türmerlied aus dem Faust II (Dusar 1994, 106–109). Alexander Nebrig hat für den späten Erzählband insgesamt, insbesondere aber für die Titelerzählung die Auseinandersetzung mit Goethes moderner, in sich brüchiger Glückspoetik namhaft gemacht. Für Nadja, ebenso wie für Faust, böten der christliche Mythos (Ostern, Pfingsten) und die Bibelübersetzung trotz persönlicher Glaubensferne Anlässe für eine menschliche Selbsterlösung, die als »ethische Forderung« im Modus eines »Glücks der Literatur« (Nebrig 2014, 351 f.) formuliert sei. Anklänge an Schillers Dramen finden sich bereits
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
in Bachmanns Jugendwerk. Im Trauerspiel in fünf Akten Carmen Ruidera und der historischen Novelle Das Honditschkreuz wird die österreichische Gegenwart im historischen Szenario napoleonischer Fremdherrschaft gespiegelt und der Widerstand mit Schillerschem Freiheitspathos und Pflichtrigorismus assoziiert. Die Konfliktsituationen lösen sich in beiden Fällen der klassischen Dramaturgie gemäß nur im Tod (Hapkemeyer 1983, 3; Bartsch 1997, 37 f.; Beicken 1988, 33 f., 42, 59 f.; Weigel 1999, 56–59). Der »Schillersche Tugendkatalog der Frau« (Weidenbaum 1997, 28) prägt die Briefe an Felician. Bereits parodistisch wird Schiller im Text Die Mannequins des Ibykus behandelt, indem die zur Schaufensterpuppe verdinglichte Frau an der Moral von Schillers Die Kraniche des Ibykus buchstäblich zerbricht (vgl. Beicken 1988, 62; Weigel 1999, 71–73; Eberhardt 2002, 88–91). Vergleichbar den Anspielungen auf Goethes Iphigenie tauchen Schiller-Zitate dann wieder im Kontext der Todesarten auf. Maria Stuart bietet einen Identifikationsraum für die Protagonistinnen (TKA 1, 605; TKA 4, 624). Darüber hinaus stellt das als Schullektüre ausgewiesene, zitierte Tellsche Freiheitspathos eine biographische Chiffre und einen intratextuellen Verweis auf das Frühwerk dar (TKA 2, 480; TKA 3.2, 925). Die Anklänge an die Weimarer Klassik gehören, zusammen mit jenen an Grillparzers Dramen Die Jüdin von Toledo, Das goldene Vlies (TKA 1, 598 f.; Höller 1983) und Ein treuer Diener seines Herrn (Bannasch 1997, 142 f.) sowie an Johann Nestroys Der Zerrissene (TKA 3.2, 958; TKA 1, 606) in den umfassenderen Rahmen eines Gattungszitats, das die Todesarten als moderne Tragödien des Weiblichen ausweist (vgl. KohnWaechter 1992, 156 f.; Schmaus 2000, 189 f., 198). Diese lassen sich nicht mehr in die klassische Dramenform bringen, die Theorie der drei Einheiten wird in Malina ironisch aufgenommen und ad absurdum geführt (vgl. GuI, 75 f., 102 f.). Durch das hoch komplexe intertextuelle Verfahren gibt sich das Todesarten-Projekt zugleich als Geschichtskompendium gesellschaftlicher Machtstrukturen und als eine Geschichte der Literatur als Utopie zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts findet unter beiden Gesichtspunkten statt. Jedoch ist im Hinblick auf das Spätwerk eine deutliche Differenzierung zwischen Klassik und Romantik zu verzeichnen, die mit der »Einstellung auf Krankheit« (TKA1, 231; W 4, 279) als bewusste Abgrenzung von Goethes Diktum, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische das Kranke (nach Eckermann 1981, 310), begriffen werden
kann. Programmatisch schließt die Ich-Erzählerin in Malina ihre Geburt mit dem Todestag E. T. A. Hoffmanns zusammen (TKA 3.2, 932), die Signatur des Schreibens ist mithin nach-romantisch. Die Auseinandersetzung reicht von Novalis, Hölderlin, Kleist, Büchner bis zu Nietzsche und schließlich jenen Autoren des 20. Jahrhunderts, deren eigener Dialog mit der Romantik in die Zitat-Collagen der Todesarten verwoben ist: Robert Musil, Hermann Broch und Paul Celan (vgl. Beck 1988, 310–319; Schmaus 1998 und 2000, 109– 115; Uerlings 2000, 31–35). Quellen
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Literatur
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38 Europäische Literatur vor 1900 Laut ihrem Kriegstagebuch hat Ingeborg Bachmann schon als Jugendliche »trotz der Nazierziehung« Autoren der österreichischen und deutschen Moderne wie »Thomas [Mann] und Stefan Zweig und Schnitzler und Hofmannsthal« gelesen (Bachmann 2010, 20). Ihre Aufbrüche aus Klagenfurt nach Wien und aus Wien in ein europäisches Leben mit wechselnden Wohnorten in Italien, Deutschland und der Schweiz haben wesentlich dazu beigetragen, ihr durch vielfältige Anregungen jenen breiten Horizont europäischer Literatur zu vermitteln, in dem sich ihr Schreiben durch intertextuelle Verflechtungen situiert. Bachmann hat diesen europäischen Horizont ihres Selbstverständnisses als Autorin 1955 auf die mit »Grillparzer und Hofmannsthal, Rilke und Robert Musil« belegte »österreichische Tradition« zurückgeführt, die als solche bereits »sehr europäisch« sei, da die Österreicher »an so vielen Kulturen partizipiert und ein andres Weltgefühl entwickelt« hätten »als die Deutschen« (GuI, 12). Nun ist es zwar ein allgemeines Kennzeichen der literarischen Moderne und ihrer Selbstreflexivität, dass die Texte immer zugleich auf das »›imaginäre Museum‹ der Weltliteratur« reagieren (Thiem 1972, 101); Bachmann hat die Intertextualität der literarischen Moderne durch eine Bemerkung in ihren Frankfurter Vorlesungen aber auch ganz bewusst in die Nachfolge von Johann Wolfgang Goethes Konzept vom Ende der »Nationalliteratur« und vom Beginn einer »Epoche der Weltliteratur« gestellt (KS, 340; W 4, 264; Goethe am 27.1.1827 in Eckermann 1981, Bd. 1, 211). Die Engführung von österreichischer Literatur und (europäischer) ›Weltliteratur‹ in den Selbstkommentaren der Autorin kann bereits als ein erster Hinweis auf jene charakteristische Überla gerung mehrfacher intertextueller Bezüge in ihren Werken gelesen werden, die über den dialogischen Bezug zu Einzelwerken oder -autoren hinaus immer wieder die »Polyphonie« ›intertextueller Felder‹ hervorbringt (Weigel 1999, 155, 188). Obwohl die Frankfurter Vorlesungen und Bachmanns intertextuelle Praxis die Bedeutung belegen, die der tradierte Kanon der europäischen Literatur für ihr schriftstellerisches Selbstverständnis besaß – und hierin stand sie durchaus in der bürgerlichen Bildungstradition ihrer Zeit –, sind ihr die Vorkriegskonzepte der ›Geistesgeschichte‹ und des ›Abendlandes‹, die bis in die 1960er Jahre fortgeschrieben werden, entschieden problematisch geworden (KS, 343, 387; W 4, 266, 69). Es ist nicht zufällig ihr Beitrag Tagebuch zu der italienischen Probenummer der geplanten
europäischen Literaturzeitschrift Gulliver, in dem sie sich sowohl vom Provinzialismus der Nationalliteratur (KS, 381 f.; W 4, 63 f.) als auch von oberflächlicher »Abendländerei«, vom »sich Zuhausefühlen zwischen Griechenland und moderner Industriegesellschaft« abgrenzt (KS, 387; W 4, 69). Nach dem endgültigen Untergang des ›alten Europa‹ im Zweiten Weltkrieg und angesichts der Vermarktung der Literatur in der modernen Medienwirtschaft (KS, 391 f.; W 4, 73 f.) fordert Bachmann in der Tradition der Moderne eine Neubegründung der Literatur als »Abenteuer mit der Sprache« auf der kritischen Erfahrungsgrundlage der eigenen kulturellen und sprachlichen Herkunft (»Dialekt und Dialektik«) in einem neu entworfenen europäischen Horizont (KS, 388; W 4, 70). Ähnlich differenziert muss auch Bachmanns Statement verstanden werden, es gebe für sie »keine Zitate«, »die wenigen Stellen in der Literatur, die [sie] immer aufgeregt« hätten, seien für sie »das Leben«: »Und es sind keine Sätze, die ich zitiere, weil sie mir so sehr gefallen haben, weil sie schön sind oder weil sie bedeutend sind, sondern weil sie mich wirklich erregt haben« (GuI, 69). Angesichts der extensiven Intertextualität ihres eigenen Werks, die schon in der Textgenese – etwa des Malina-Romans (Brachmann 1999, 48–95) – strukturierende und thematisch verdichtende Funktion besitzt, ist diese vermeintliche Kritik des Zitats im Rekurs auf die zugleich existentiale und metaphysische Kategorie des ›Lebens‹ als Kritik einer bestimmten (bildungsbürgerlichen) Zitierpraxis zu lesen. Gegen das Zitat als bloße »Traditionspflege« (Schneider 1999, 111) geht es der Autorin darum, »auf utopischer Basis« eine »konstruktive [...] Beziehung zur Tradition herzustellen« (Agnese 1996, 266), anders gesagt, in Anknüpfung, Variation und Gegenentwurf einen Dialog mit literarischen Werken und europäischen Autoren zu führen, der diese Tradition zugleich fortschreibt und revidiert, indem er dem eigenen Werk utopische Bedeutungspotentiale des entworfenen Kanons einschreibt. In diesem Sinne ist Bachmanns extensive Intertextualität immer auch Arbeit am literarischen Kanon der europäischen Kulturtradition.
Klassiker der ›Weltliteratur‹: Dante, Petrarca, G. Stampa, Shakespeare Beispiele für diese Arbeit am literarischen Kanon bieten Bachmanns literarische Rekurse auf die Anfänge der neuzeitlichen europäischen Literatur. In ihren Frankfurter Vorlesungen nennt die Autorin Dante Ali-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_38
38 Europäische Literatur vor 1900
ghieris Hauptwerk La Divina Commedia (zusammen mit Miguel de Cervantes’ Don Quijote) als Beispiel für das Altern der Klassiker, das dialektisch zu neuer Interpretation herausfordert und »uns« so »antreibt, mit der Literatur«, deren »ganze Vergangenheit sich in die Gegenwart drängt«, »als einer Utopie zu verfahren« (KS, 333 f.; W 4, 259). Dass dieses Verständnis des literarischen Dialogs mit der Tradition die negative Utopie einschließt, zeigt die Tatsache, dass sich Bachmanns Dante-Zitate ausschießlich auf den ersten Teil der Divina Commedia, auf das »Inferno« beziehen. Die Autorin, die mehrere Ausgaben von Dantes Hauptwerk besaß (TKA 2, 467), zitiert die Anfangszeilen des »Infernos« in ihren Entwürfen zu dem Romanfragment Das Buch Franza als literarische Chiffre für die ›Todesart‹ ihrer Protagonistin (TKA 2, 12), und der Aufbau des Romans ist insgesamt als ›Umkomposition‹ von Dantes »Dreiteilung von Inferno, Purgatorio und Paradiso« gelesen worden (Gutjahr 1988, 137). In Malina wird aus der entsprechenden Erinnerung an Dantes »Inferno« in den Entwürfen (TKA 3.1, 13) im Traumkapitel der Endfassung das ›polyphone‹ intertextuelle Motiv »Ein Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505), in dem sich die Anspielung auf Dantes »Inferno« mit der auf Arthur Rimbauds Prosagedichtzyklus Une saison en enfer überkreuzt (Brachmann 1999, 247). Wie sich die Adaptierung der Klassiker in der thematischen Konzentration auf bestimmte, als zentral wahrgenommene Aspekte ihres Werks mit dem literarischen Gegenentwurf verbindet, das zeigt noch deutlicher Bachmanns Dialog mit Francesco Petrarcas Zyklus I trionfi in ihrem eigenen Gedichtzyklus Lieder auf der Flucht aus dem zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bären. Dieser Zyklus, der in der »Zeit eines intensiven Studiums der klassischen lateinischen und italienischen Literatur« entstand und dem als Motto ein Petrarca-Zitat vorangestellt ist, ist insgesamt als eine »Gegenbewegung zum Triumphzug Petrarcas« angelegt (Weigel 1999, 155, 157), die vom Titelmotiv der Flucht als Chiffre für die ›Unbehaustheit‹ des modernen Menschen bis zum ausdrücklichen Gegenentwurf – als Teil eines komplexen, Rainer Maria Rilke, Robert Musil und Paul Celan einschließenden Veweisungsnetzes – im Schlussgedicht reicht: »Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, / die Zeit und die Zeit danach. / Wir haben keinen« (W 1, 147). Auch das poetologische Motiv des Salamanders, in dem Bachmann in ihrem Gedicht Erklär mir, Liebe Liebes- und Dichtungsthematik engführt (W 1, 110), kann – neben dem Verweis auf Gaspara Stampas Gedicht Per un
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nuovo amore – auf Petrarca zurückgeführt werden (Bothner 1986, 109; Oberle 1990, 10). Die Gruppe der im Jahr 2000 aus dem Nachlass publizierten späten Gedichtentwürfe, die Gaspara Stampas Zeile »vivere ardendo e non senire il male« als Motto verwenden (Bachmann 2000, 116–124), hat das Forschungsinteresse seither verstärkt auf Bachmanns Auseinandersetzung mit dieser italienischen Renaissance-Dichterin gelenkt. In ihrer Hommage an G. Stampa sowie im Rekurs auf die poetologischen Motive des Feuers und des Salamanders aus der petrarkistischen Tradition knüpft Bachmann an Rilkes Duineser Elegien und seinen Malte-Roman an, zugleich aber auch an Gabriele d’Annunzios Roman Das Feuer (1900), der den in Malina und den späten Gedichten leitmotivischen Vers in ähnlicher Funktion zitiert und die Liebesgeschichte des Autors mit der italienischen Schauspielerin Elenora Duse verarbeitet (Albrecht 1989, 352; Oberle 1990, 10–11; Agnese 1996, 121 und 2004; Eberhardt 2002, 341–346; McMurtry 2012, 134– 188). Wenn Bachmann den Vers in einem Interview zum Malina-Roman mit den Worten »dieses Glü hendleben und das Böse nicht fühlen« paraphrasiert (GuI, 110), also »male« mit dem ›Bösen‹ statt mit ›Schmerz‹ übersetzt, knüpft sie womöglich an Olga Resnevic-Signorellis Biographie Das Vermächtnis der Duse. Ein Lebensbild aus Briefen – Bekenntnissen – Erinnerungen (Herrenalb 1962) an, das sich in ihrer Bibliothek befand (Agnese 2004, 37). In dem dichten Verweisungsnetz von Bachmanns Gedichten und später Prosa sind die Anspielungen auf Gaspara Stampa im Sinne der »Notwendigkeit, das eigene Leben und Leiden [...] künstlerisch (schreibend bzw. singend) zu gestalten«, mit jenen auf Eleonora Duse und die Sopranistin Maria Callas verknüpft (Miglio 2010, 186). Das Motiv der Schwesternschaft des weiblichen Ichs in den späten Gedichten (Bachmann 2000, 116) und im Traumkapitel von Malina – wo die »Schwester« Eleonore (als Anspielung auf Eleonora Duse) als »Geisterstimme« dem Ich das Stampa-Zitat vorgelesen hat (TKA 3.1, 542) – verweist zudem auf den Gender-Aspekt dieser Intertextualität in einer Welt patriarchalischer Gewalt. Mit Blick auf den Weg des Themas »Liebe ist ein Kunstwerk« (GuI, 109) im Spiegel der Stampa-Anspielungen – von den Gedichten Erklär mir Liebe und Lieder auf der Flucht über die nachgelassenen Gedichtentwürfe der Jahre 1960er Jahre bis zu Malina – hat Áine McMurtry gezeigt, wie sich Bachmann zunehmend von der Kunst- und Liebesmetaphysik der modernen Stampa-Rezeption distanziert und in den intertextuellen Verweisen eine auf Dialog
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
und Differenz gegründete Poetik kritischen weiblichen Schreibens entwickelt (McMurtry 2012, 142 f., 150, 178 f.). Bachmanns Dialog mit William Shakespeare steht ebenfalls in unmittelbarem Zusammenhang mit der poetologischen Reflexion ihres literarischen Selbstverständnisses. Zwar finden sich vor allem in ihrem Spätwerk verstreute Anspielungen auf verschiedene Shakespearefiguren, auf Cordelia (King Lear) und Desdemona (Othello) im ersten Todesarten-Roman (TKA 1, 112), auf Hamlet und Titus Andronicus in den Malina-Entwürfen (TKA 3.1, 13, 97), und vor allem auf die Miranda aus Shakespeares spätem Drama The Tempest in der gleichnamigen Protagonistin der Erzählung Ihr glücklichen Augen, deren Bemühen um Nichtwahrnehmung der abgründigen sozialen Wirklichkeit mit dem naiven Verkennen der höfischen Realität als »brave new world« durch Shakespeares Miranda (The Tempest, V.1) in einem hintergründigen Analogie- und Kontrastverhältnis steht. Im Zentrum von Bachmanns Shakespeare-Rezeption steht jedoch die imaginäre Topographie seines späten Dramas The Winter’s Tale, die die Autorin in ihrem späten Gedicht Böhmen liegt am Meer als symbolischen Ausdruck für die Imaginationskraft der Literatur (vgl. Höller/Larcati 2016, 37 f.) kontrapunktisch gegen die Sprachskepsis anderer später poetologischer Gedichte wie Keine Delikatessen und Enigma stellt. Dieses Gedicht entstand im Shakespeare-Jahr 1964 als Teil des literarischen Ertrages zweier Pragreisen, als Bachmann zudem von dem Direktor der »Shakespeare Exhibition 1964«, Richard Buckle, eingeladen worden war, »zum 400. Geburtstag des Dramatikers einige Gedichte zu schreiben« (ebd., 38). Das Gedicht, dem Bachmann geradezu den Status eines literarischen Vermächtnisses zumaß (Statement im Film von Gerda Haller 1973, zit. nach Bachmann 1998, 119), verbindet vor dem Hintergrund des ehemaligen Habsburgerreiches die »Mitteleuropa-Utopie« der Autorin (Höller in Bachmann 1998, 127) mit einer literarischen »Sprach-Utopie« (Oberle 1990, 281), für die hier die »Subtextur« der Shakespearezitate aus The Winter’s Tale, Love’s Labour’s Lost, Twelfth Night, The Two Gentlemen of Verona und The Merchant of Venice steht (Cambi 2000, 247 f.; Agnese 1996, 256–258). Dagegen markiert das Zitat der Widmung »To The Onlie Begetter«, die Shakespeare seinen Sonetten voranstellte, im Mühlbauer-Interview des Malina-Romans (TKA 3.1, 390) die gegenläufige, mit dem Sujet der »Todesarten« verknüpfte, abgründige Verbindung von Poetologie und Geschlechterproblematik.
Französischer und russischer Realismus: Balzac, Barbey, Tolstoi, Dostojewski u. a. Während Bachmann in der Literatur des deutschen Realismus offenbar keine wichtigeren Anregungen gefunden und beispielsweise die (erst in den 1960er Jahren wiederentdeckte) Modernität Wilhelm Raabes nicht gesehen hat (Brief an Walter Boehlich vom 19.1.1961), besitzen die Autoren des französischen und russischen Realismus insbesondere für die Ausarbeitung ihrer Todesarten-Poetologie entscheidende Bedeutung. Besonders evident ist dies in Bachmanns erstem Versuch, die poetologische Konzeption ihres entstehenden Todesarten-Projekts zusammenfassend zu charakterisieren, in den Vorrede-Entwürfen zum Buch Franza (TKA 2, 16–18, 71–78, 359–361). Dort bezieht sie sich auf Jules Amédée Barbey d’Aurevillys Novellenzyklus Les diaboliques (1874), und zwar explizit auf dessen Konzept der ›verborgenen Verbrechen‹ hinter »dem Vorhang des Privatlebens und der Häuslichkeit« (wie es in der von Bachmann neben dem Original verwendeten Übersetzung heißt; Barbey 1907, 183) in der Novelle Le dessous de cartes d’une partie de whist (Eine Whistpartie mit verdeckten Karten), vor allem aber auf die poetologischen Eingangspassagen des Schlussstücks La vengeance d’une femme (Die Rache einer Frau), das sie in einem literaturkritischen Nachlassentwurf als »ein atemraubendes Meisterwerk« bezeichnet, das »eine der wenigen haltbaren Theorien« aufweise (N1942, zit. nach TKA 2, 473; vgl. Göttsche 1991). Gegen den öffentlichen Vorwurf, die moderne Literatur sei ›kühn‹, entwickelt Barbey dort seinen Entwurf der Literatur als »Sittengeschichte« einer Zeit der »hohen Civilisation«, in der »Verbrechen« und »Mord« nun im »Reich« des Geistes, »der Sitten und der Gefühle« stattfänden (Barbey 1907, 356 f.; vgl. Eberhardt 2002, 374–377). In der Form eines »Plagiat[s] aus seltsamen Gründen«, wie sie diese Form der intertextuellen Anknüpfung mit Bezug auf Gustave Flaubert einmal genannt hat (N1860, zit. nach Göttsche 1991, 131), adaptiert die Autorin Barbeys Poetologie einer Darstellung der ›sublimen Verbrechen‹ des Geistes und der Moral (TKA 2, 75) zur Begründung ihres eigenen Entwurfs einer literarischen Sittengeschichte der Nachkriegszeit in den Todesarten, und das Sujet von Barbeys Erzählung Die Rache einer Frau – die Moral der Gesellschaft aus der Perspektive der weiblichen Erfahrung sozialer Gewalt im Geschlechterverhältnis – verleiht dieser intertextuellen Selbstreflexion zusätzliches Gewicht, wie auch entsprechende Anspielungen im Requiem für
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Fanny Goldmann (TKA 1, 322; Bachmann 2017, 116) und in Gier (TKA 4, 487) belegen. Natürlich steht Barbeys Verständnis der Literatur als Sittengeschichte in der Tradition des französischen Gesellschaftsromans und insbesondere in der Nachfolge von Honoré de Balzacs Erzählzyklus La comédie humaine. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Bachmann in späteren Formulierungen ihrer TodesartenPoetologie unmittelbar auf Balzac rekurriert, so in den poetologischen Entwürfen zum Simultan-Band, der sich im Spiegel von Frauenporträts nach französischem Vorbild mit den »moeurs einer Zeit« befasst (TKA 4, 15, vgl. 10), oder im Goldmann/Rottwitz-Roman, in dem der Erzähler in Anlehnung an Balzacs Zyklus-Vorrede als »Beobachter dieser Jahre und ihrer Sitten« auf die »Beschreibung von Tragödien, die tatsächlich stattfinden«, drängt (TKA 1, 398, vgl. 604; Bachmann 2017, 196). Die Arbeit an den Todesarten wird insgesamt von einer intensiven Balzac-Lektüre begleitet, die sich in vielfältigen Zitaten, Anspielungen und Motivanalogien niederschlägt (vgl. zu Bachmanns Balzac-Ausgaben TKA 3.2, 943; vgl. Agnese 2009, 52–55). Das Buch Franza zitiert den »Spruch der Medici« aus Balzacs Katharina von Medici (TKA 2, 62) und lässt in seinem poetologischen Rekurs auf Barbey zugleich Balzacs Novelle Albert Savarus anklingen, die ebenfalls von den »moralischen Verbrechen, die der menschlichen Justiz kein Eingreifen gestatten«, als den »infamsten und abscheulichsten« erzählt (Balzac o. J., Bd. 2, 122; vgl. TKA 2, 473). Im Requiem für Fanny Goldmann erinnert die Gegenüberstellung von Talent und Charakter an entsprechende Passagen in Balzacs Romanen Modeste Mignon und Glanz und Elend der Kurtisanen (TKA 1, 331; Bachmann 2017, 129; vgl. TKA 1, 600 f.); der Goldmann/Rottwitz-Roman spielt in der Bewertung des Todes von Maria Malina vermutlich auf Balzacs Die Fischerin im Trüben an (TKA 1, 448; Bachmann 2017, 272 f.; vgl. TKA 1, 608); und in Gier wird Balzacs Herzogin von Langeais charakteristischerweise neben Barbeys Fürstin von Turre-Cremata als Symbolfigur des französischen Gesellschaftsromans erwähnt (TKA 4, 487). Im Gegensatz zur Barbey- und Balzac-Rezeption hat Bachmanns Flaubert-Lektüre bislang noch kaum Aufmerksamkeit gefunden, obwohl Barbara Agnese grundsätzlich auf die intertextuelle Verbindung der österreichischen Moderne mit der französischen Tradition der ›éducation sentimentale‹ in der Linie »Stendhal – Flaubert – Proust« in den Todesarten hingewiesen hat (Agnese 1996, 241). Das Zitat aus Flauberts Brief an Louise Colet vom 5.–6.7.1852 – »Avec ma
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main brulée, j’écris sur la nature du feu« (TKA 3.1, 390, vgl. 576 und TKA 3.2, 945) – chiffriert in Malina die existentiale Situation des Ich als einer von ihren Erfahrungen gezeichneten Schriftstellerin; es wird von Bachmann als einer der »Sätze« bezeichnet, die sie »gern selbst geschrieben hätte« (GuI, 71; vgl. Eberhardt 2002, 332–334). Die poetologischen Entwürfe zum Simultan-Band zitieren Flauberts bekanntes Diktum »Madame Bovary, c’est moi, d’après moi« (TKA 4, 15), und die Frankfurter Vorlesungen diskutieren »die Tragikomödie der Wissenschaft« in Flauberts spätem Roman Bouvard et Pécuchet (KS, 336; W 4, 261). Ebenfalls noch näher zu erforschen ist die Bedeutung der russischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts für Bachmann. In Malina rückt der in den Träumen des Ich wiederkehrende »Ballsaal aus Krieg und Frieden« (TKA 3.1, 513 f.) Leo Tolstois großen Roman an eine zentrale Stelle des intertextuellen Verweisungsnetzes, das sich hier tatsächlich zu einem intermedialen Bedeutungsraum erweitert. Denn nicht nur wirft die Hervorhebung gerade dieser Szene die Frage auf, ob der Bezug auf Tolstois Roman nicht durch den auf Prokofjews Oper gleichen Titels (1952) überlagert wird, in der dem Ball ein prägnantes Bild gewidmet ist; das ergänzende Motiv des »Teppich[s] aus Krieg und Frieden«, das sich kaum in Tolstois Roman, wohl aber in dessen Verfilmung durch King Vidor (1955) in eben dieser Ballszene findet (TKA 3.1, 554, vgl. Kommentar TKA 3.2, 956 f.), zeigt auch die Überlagerung der literarischen Tolstoi-Rezeption durch das Medium des Films. Bachmann zitiert die Verfilmung zudem auch in dem utopischen Motiv des vom Ich in seiner Liebe zu Ivan erhofften, tatsächlich aber längst verlorenen ›ganzen Lebens‹ (TKA 3.1, 311, vgl. 3.2, 933), das in charakteristischer Polyphonie zugleich auf Rilke anspielt (Brachmann 1999, 230), so dass sich insgesamt ein multidimensionales intermediales Verweisungsfeld ergibt. In ihren Frankfurter Vorlesungen hat Bachmann Tolstoi (die Erzählung Die Kreutzersonate mit ihrer Rahmenstruktur) und Fjodor Dostojewski (die Herausgeberfiktion in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus) als zwei gegensätzliche Beispiele für moderne Möglichkeiten der Ich-Erzählung gegenübergestellt (KS, 295 f.; W 4, 226 f.), und auffälligerweise spiegelt sich diese Entgegensetzung noch in dem intertextuellen Netz des Malina-Romans, indem den potentiell utopischen Tolstoi-Zitaten Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus als literarische Metapher der »Todesarten« gegenüberstehen (TKA 3.1, 334, zu Bachmanns Dostojewski-Ausgaben TKA
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3.2, 936; vgl. Eberhardt 2002, 385). Wenn Malina im Goldmann/Rottwitz-Roman als Sammler von »Geschichten mit letalem Ausgang« dargestellt wird (TKA 1, 388; Bachmann 2017, 191; vgl. TKA 1, 603), so zitiert dies in ähnlichem Sinn Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow. Den Ausgangspunkt von Bachmanns literarischer Auseinandersetzung mit diesem russischen Autor bildet allerdings ihre Adaptierung seines Romans Der Idiot in dem lyrischen BallettTextbuch Ein Monolog des Fürsten Myschkin mit seiner ganz anderen, existentialistisch geprägten Kunstund Künstlerproblematik (s. Kap. 20). Bachmann hat selbst darauf hingewiesen, dass »wir unser Urteil über einen Autor« »im Lauf unseres Lebens« »häufig mehrmals« »ändern« (KS, 333; W 4, 259). Diesem literarischen Dialog mit Klassikern der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts lagern sich eine Fülle von weiteren intertextuellen Bezügen an. So verwenden beispielsweise die poetologischen Entwürfe zu den Simultan-Erzählungen ein Zitat aus Alfred de Vignys Gedicht La colère de Samson, um Gegensatz und Komplementarität der Geschlechter auf den Punkt zu bringen: »Es wird 〈der Mann〉 Sodom, 〈die〉 Frau Gomorrha haben« (TKA 4, 18). Dass die Autorin ihre Figur Miranda in Ihr glücklichen Augen Stendhals De l’amour lesen lässt (TKA 4, 261), verdeutlicht die »aus den Fugen geratene«, »verrückende Kopie« von Stendhals Konzept der ›amour passion‹ in dieser Erzählung (Dusar 1994, 44; vgl. Agnese 1996, 172–174). Die Protagonistin der Erzählung Probleme Probleme ist als spielerische Variation von Iwan Alexandrowitsch Gontscharows Oblomow (1859) angelegt (Schneider 1999, 311), und der Name jenes britischen Offiziers, in den sich die jugendliche Franziska Ranner im Buch Franza verliebt (Lord Percival Glyde; TKA 2, 188), eröffnet als Zitat des männlichen ›Schurken‹ aus Wilkie Collins’ Roman The Woman in White (1860) intertextuell die Möglichkeit einer kritischen Gegenlektüre des vermeintlich ›schönsten Frühlings‹ der Protagonistin (TKA 2, 169) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (Lennox 1988).
Frühe europäische Moderne: Baudelaire, Rimbaud u. a. Trotz des Bewusstseins der historischen und kulturgeschichtlichen Differenz hat Bachmann ihr literarisches Selbstverständnis im Dialog mit den Autoren und Werken der Moderne entwickelt – wie z. B. die literarhistorische Anlage ihrer Frankfurter Vorlesungen
zeigt – und daher deren Vorgeschichte im 19. Jahrhundert, vor allem im französischen Symbolismus, besondere Bedeutung zugemessen. So fungiert Charles Baudelaires Gedicht Le gouffre (Der Abgrund) aus der Sammlung Les fleurs du mal schon in Bachmanns Dissertation als paradigmatisches »sprachliches Zeugnis äusserster Darstellungsmöglichkeit des ›Unsagbaren‹« (Bachmann 1985, 130) und wird in ihrem sprachphilosophischen Ludwig Wittgenstein-Essay 1953 noch einmal in dieser Funktion aufgerufen (KS, 73; W 4, 21). (In dem zwei Jahre später entstandenen Radioessay zu Wittgenstein tritt ein Friedrich Hölderlin-Zitat an seine Stelle; KS, 134; W 4, 116.) Schon im letzten Kriegswinter hatte die Jugendliche diese Baudelaire-Lektüre als »Trost« empfunden (Bachmann 2010, 11), und noch in dem Gedicht Die gestundete Zeit ist die Adaptierung von ›schwarzen‹ Motiven aus Baudelaires Le gouffre zu erkennen (Dorowin 2000, 103 f.). Besonders deutlich ist der literarische Dialog mit Baudelaire in Bachmanns erstem Gedichtband in dem Gedicht Tage in Weiß, das in dem poetologischen Motiv des Flugs mit dem Albatros an Baudelaires Gedichte L ’albatros und Élevation anknüpft (Oelmann 1980, 16 f.; Böschenstein 1993, 355), indem es zugleich die männliche Sprecherposition der literarischen Tradition verabschiedet (Gölz 1998, 235) und den Ästhetizismus von Stéphane Mallarmés Albatros-Gedicht Le vierge, le vivace verwirft. In einem frühen Entwurf zur Büchnerpreisrede hat Bachmann in der Form eines Gedankenspiels grundsätzlich dargelegt, dass angesichts der herrschenden Geschichte politischer und sozialer Gewalt der Ästhetizismus der frühen Moderne »museal« geworden ist: »wären doch diejenigen tot, deren Aufregungen noch aus dem Papier zittern und lebendig die Parnassiens mit sanften melodiösen Sätzen, auf Marmorblumen und Kerzengeflacker mit Goldgewebtem, mit Parfums, wäre das so, wie schön könnte man sprechen. Es wär eine andre Zeit« (TKA 1, 171). Um so relevanter ist die Auseinandersetzung Arthur Rimbauds mit eben dieser Geschichte der Gewalt für Bachmanns Arbeit am literarischen Kanon. Eine Reihe leitmotivisch wiederkehrender Zitate aus Rimbauds Prosagedichtzyklus Une saison en enfer durchzieht die Entwürfe zur Büchnerpreisrede, zum Wüstenbuch und zum Buch Franza und später den Malina-Roman, schließt das Projekt einer literarischen Sittengeschichte der Nachkriegszeit in den Todesarten mithin intertextuell an die radikale Kulturkritik dieses französischen Symbolisten an und schreibt die Texte mit nordafrikanischem Schauplatz
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darüber hinaus in die Tradition des Kritischen Exotismus ein (Göttsche 1991; Allerkamp 1988). Die Zitatmotive »Die Weißen kommen« (Landungsmotiv; TKA 1, 180, 195, 257, 272, 283; TKA 2, 34, 73, 111) und »ich bin von niedriger Rasse« (Inferioritätsmotiv; TKA 1, 180, 195, 257, 283; TKA 2, 34) thematisieren die Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus in Afrika in deutlicher Nähe zur Neokolonialismuskritik Frantz Fanons – die Weißen werden trotz ›Revolutionen‹ und ›Resolutionen‹ im Zeichen neokolonialer Globalisierung »auferstehen in einem braunen oder schwarzen Gehirn« (TKA 2, 111) –, wobei die dialektische Umkehrung des Überlegenheitsanspruchs der (männlichen) Europäer in der Identifikation der weiblichen Reisenden mit den unterworfenen nicht-europäischen Kulturen die Kritik des Rassendenkens und des wirtschaftlichen wie kulturellen Imperialismus in durchaus problematischer Weise mit einer Kritik des Geschlechterverhältnisses überblendet (s. Kap. 44). Die Umkehrung des Inferioritätsmotivs – »Der weiße Mann ist inferior« (TKA 1, 283) – führt schließlich zu einem neuen, dialektischen poetologischen Zitatmotiv – »Die Schönheit ist inferior« (TKA 1, 247; vgl. TKA 3.1, 652; 3.2, 718) –, das sich mit der Anspielung auf Rimbauds Prosagedicht Being beautous zum intertextuellen Entwurf einer zugleich ästhetischen und moralischen Utopie der Schönheit als Grundlage des Glücks verknüpft. Mit dieser dem weiblichen Ich in Malina eingeschriebenen Utopie steht auch das in diesem Roman neu hinzutretende leitmotivische Rimbaud-Zitat »Nous allons à l’Esprit« (Vergeistigungsmotiv; TKA 3.1, 389, 438, 691) in Verbindung, indem es in der dialektischen Doppelfiguration Ich/Malina dem überlebenden männlichen Malina-Anteil den ›Geist‹, dem untergehenden weiblichen Ich aber die ›Schönheit‹ zuordnet und so die symbolische Ordnung der Todesarten-Ouvertüre zugleich auf die von Rimbaud angezielte übergreifende Ebene einer Kritik der westlichen Kulturentwicklung bezieht. In den Zitatmotiven »ich bin in der Hölle« (TKA 1, 181, 258), »meine Höllenzeit« (TKA 3.1, 5) und »Ein Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505) überkreuzt sich der Bezug auf Rimbauds Une saison en enfer mit dem auf Dantes »Inferno« (Brachmann 1999, 247) und verleiht dem Sujet der »Todesarten« damit weitere historische Tiefe, während an anderen Stellen des Werks die Anspielung auf Rimbauds Gedicht Le bateau ivre zugleich Paul Celans Übertragung mitmeint (KS, 267; W 4, 196; TKA 4, 405; vgl. Weigel 1999, 409; Eberhardt 2002, 325–332). Das Zitat eines Einleitungsstichworts aus
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Une saison en enfer in den Entwürfen zur Büchnerpreisrede – »Die Geschichte einer meiner Verrücktheiten« (TKA 1, 183; vgl. Rimbaud 1982, 298) – verweist, wie Monika Albrecht herausgestellt hat, auf die noch näher zu untersuchende stilistische Nähe zwischen Rimbauds Prosagedichtzyklus und Bachmanns Text Ein Ort für Zufälle (Albrecht 1998, 65, Anm. 24). Hans Höller hat darüber hinaus auf die bis in den Stil hineinreichende Ähnlichkeit zwischen Rimbauds Seher-Brief und Bachmanns Kriegsblinden-Preisrede hingewiesen (Höller 1987, 150) und so deutlich gemacht, dass ihr intertextueller Dialog mit Rimbaud auf poetologischen Übereinstimmungen beruht. Im intertextuellen Horizont von Bachmanns Werk finden sich darüber hinaus vielfältige anknüpfende und abgrenzende Zitate und Anspielungen, die die intensive literarische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kanon der frühen Moderne vor 1900 belegen. Die Lektüre Oscar Wildes schlägt sich beispielsweise im Requiem für Fanny Goldmann in der Sprachreflexion (TKA 1, 319; Bachmann 2017, 117; vgl. TKA 1, 599 f.) und in dem Motiv des vergifteten chinesischen Buches aus Wildes Roman The Picture of Dorian Gray nieder (TKA 1, 324; Bachmann 2017, 117; vgl. Marquardt/Bluhm 1997), und der Nachlasstext [Jede Jugend ist die dümmste] erinnert an Wildes Schrift The Soul of Man under Socialism (Schneider 1999, 394). Zu berücksichtigen wären in diesem Zusammenhang auch die Anfänge des modernen Dramas bei Henrik Ibsen, August Strindberg und Anton Tschechow (vgl. zu Letzteren Schneider 1999, 128, 208, 290), auf die Bachmann nicht zuletzt zur Konturierung ihres Geschlechterdiskurses im TodesartenProjekt Bezug nimmt. So nennt sie einen Entwurf zu der Erzählung Das Gebell beispielsweise in ironischer Verkehrung des Titels von Tschechows Erzählung Die Dame mit dem Hündchen »Die Frau ohne Hund« (TKA 4, 279; zu Bachmanns Tschechow-Ausgaben TKA 4, 629) und arbeitet im Traumkapitel von Malina in der symbolischen Darstellung von Gewalt in Familie und Geschlechterverhältnis intertextuell mit Henrik Ibsens Drama Wenn wir Toten erwachen (TKA 3.1, 548; vgl. Bauer 1998, 86–106). Quellen
Archiv des Suhrkamp-Verlags (Frankfurt a. M.), Verlagsbriefwechsel. Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation Wien 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich Wallner. München/Zürich 1985.
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Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt a. M. 1998. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. von Hans Höller. Berlin 2010. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2017. Balzac, Honoré de: Die menschliche Komödie. Gesamtausgabe in 12 Bdn. Hg. von Ernst Sander. Gütersloh o. J. Barbey d’Aurevilly, Jules: Die Teuflischen. Aus dem Französischen von M. v. Berthof. Wien/Leipzig 1907. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 2 Bde. Hg. von Fritz Bergemann. Frankfurt a. M. 1981. Rimbaud, Arthur: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Walther Küchler. Heidelberg 61982.
Literatur
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Dirk Göttsche
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
39 Klassische Moderne Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen, ihre Kommentare zu ihrem eigenen Werk und das extensive intertextuelle Verweisungsnetz ihrer Texte zeigen gleichermaßen die zentrale Bedeutung der ›klassischen‹ Moderne zwischen dem Fin de siècle und der Machtergreifung des Nationalsozialismus für ihr literarisches Selbstverständnis. Die Fanny des ersten Todesarten-Romans, die als »Musterschülerin der neuen Literatur« »von Joyce und Kafka bis Michaux und Heißenbüttel« alles zur Kenntnis genommen hat und doch zugleich durch ihre »Geschädigtenecke« zu den weiblichen »Opfer[n] der Literatur« einen eigenen Akzent setzt (TKA 1, 135; Bachmann 2017, 36 f.), die Aga Rottwitz des Goldmann/Rottwitz-Romans, die ›selbstverständlich‹ über den Kanon der Moderne ›verfügt‹ (TKA 1, 433; Bachmann 2017, 251), und das weibliche Ich des Malina-Romans mit seiner umfassenden Bibliothek (TKA 3.1, 371, 511 f.) sind in diesem Sinne durchaus fiktive Reflexionsfiguren von Bachmanns eigenen literarischen Interessen und Kenntnissen. Es ist vor allem die Wiener Moderne von Hugo von Hofmannsthal bis Robert Musil, die Bachmanns Verständnis der literarischen Moderne insgesamt prägt und der sie sich maßgeblich verpflichtet weiß, wobei sie zugleich jedoch die historische und literarhistorische Differenz der Nachkriegsliteratur gegenüber der frühen Moderne der ersten Jahrhunderthälfte deutlich herausstellt. In den Formen der zitierenden Anknüpfung und der eigenständigen Weiterentwicklung, des Gegenentwurfs und der modifizierenden Transposition führt ihr Werk einen intensiven literarischen Dialog mit Autoren und Werken der ›klassischen‹ Moderne, für den die veränderten Erfahrungen ihrer Generation – die Jugend im Krieg, das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Kritik der fortdauernden Gewalt in der modernen Gesellschaft – ebenso wichtig sind wie das literarhistorische Denkmodell der Moderne, die fortlaufende Innovation der Problemstellungen und Ausdrucksmöglichkeiten der Literatur in ihrer Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit. Die »neue Sprache«, die nach Bachmanns Verständnis als Ausdruck eines ›neuen Geistes‹ die gesellschaftliche Relevanz der »Literatur als Utopie« sichert (KS, 263, 348; W 4, 192, 271), ist nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus und angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung in der Zeit des Kalten Krieges notwendigerweise eine andere als zuvor.
In bewusster Fortführung der »österreichischen Tradition«, die schon immer »sehr europäisch« gewesen sei (GuI, 12), ist für Bachmann zudem die europäische Moderne (und hier vor allem die französische) kaum weniger bedeutsam als die deutschsprachige, wenngleich letztere durch die in den Frankfurter Vorlesungen diskutierten Autoren und Werke präsenter und zugleich besser erforscht ist. Vor dem Hintergrund der Absage an das überholte Konzept der Nationalliteraturen (KS, 340; W 4, 264) stimmt Bachmann auch dem »vehementen Einspruch, von Musil etwa,« gegen jene zu, die die österreichische Literatur »als eine besondere eigene oder regionale gar [...] deklarieren« (Brief an Hans Rössner vom 1.5.1971). Auch wenn sie sich von der »Überanstrengung Hofmannsthals bei dem Versuch, die verstörte geistige Tradition Europas noch einmal in seinem Werk zu erneuern« (KS, 265; W 4, 194), durch den entstandenen historischen Abstand nach dem Ende des alten Europa im Zweiten Weltkrieg unwiderruflich geschieden weiß (vgl. Tagebuch; KS, 387 f.; W 4, 69 f.), situiert sich Bachmanns Werk doch wie seines intertextuell in einem europäischen Horizont der literarischen Moderne. Arturo Larcati hat darauf hingewiesen, wie nahe Bachmanns »differenziert[e] Aneignung des künstlerischen Erbes«, ihr »Mittelweg zwischen der unproblematischen Kontinuität und der totalen Diskontinuität« Theodor W. Adornos Programm einer »Aktualisierung der Tradition am Leitfaden einer Poetik des Eingedenkens« steht, wie er sie z. B. in seinem Aufsatz »Über Tradition« (1966) artikuliert und wie sie auch andere »repräsentative« AutorInnen ihrer Generation »wie Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Peter Weiss« vertraten (Larcati 2006, 74 f.).
Österreichische Moderne (1): Hofmanns thal, Schnitzler u. a. Wie sich Anknüpfung und Abgrenzung in Bachmanns Verhältnis zur ›klassischen‹ Moderne miteinander verbinden, das zeigt besonders deutlich ihre Auseinandersetzung mit Hugo von Hofmannsthal. In den Frankfurter Vorlesungen ist es Hofmannsthals »berühmte[r] ›Brief des Lord Chandos‹«, der paradigmatisch die epistemologische Krise im Aufbruch der Moderne, deren Ausdruck in einer literarischen Sprachkrise und zugleich die Verabschiedung des Ästhetizismus des späten 19. Jahrhunderts repräsentiert: »Der Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_39
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Verhältnisse gegenüber« (KS, 259; W 4, 188). Diese »gewaltige Umwälzung [...] unserer ganzen Anschauungswelt« (Moderne Rundschau, 1.4.1891, zit. nach Wunberg 1982, 23) bleibt für Bachmann ebenso verbindliche Grundlage der Moderne wie der fortdauernde »Konflikt mit der Sprache« (KS, 262; W 4, 191). Gleichwohl haben sich die Problemstellungen der Literatur seit 1900 verschoben: »Religiöse und metaphysische Konflikte sind abgelöst worden durch soziale, mitmenschliche und politische« (KS, 261 f.; W 4, 190 f.). So schreibt Bachmann einerseits die von Hofmannsthal, Karl Kraus und anderen Autoren der Wiener Moderne begründete Tradition moderner Sprachreflexion fort, und zwar sowohl in der Form erkenntnistheoretischer Sprachskepsis (z. B. in den Erzählungen Das dreißigste Jahr und Ein Wildermuth) als auch in Gestalt moralischer und ideologiekritischer Sprachkritik (vor allem im Todesarten-Projekt und in den späten Gedichten), sowohl thematisch-motivisch als auch in der sprachreflexiven Innovation der literarischen Verfahrensweisen (vgl. Göttsche 1987). Im Sinne einer solchen produktiven Adaptation ist beispielsweise auch die Figur Malina als Nachfahre von Hofmannsthals Lord Chandos und als »eine Art ›Sammelperson‹ der europäischen Moderne« interpretiert worden (Kohn-Waechter 1992, 19; Höller 1987, 258). Andererseits aber ist die geistige Welt vor allem des späteren Hofmannsthal mit dem alten Europa untergegangen, so dass Hofmannsthal auch für das alte Habsburger Österreich steht, dessen anachronistische Reinszenierung im Vergangenheitskult der Zweiten Republik Gegenstand von Bachmanns Satire ist (s. z. B. den aus Malina herausgenommenen Text Besichtigung einer alten Stadt). Hierher gehören die ironischen Hofmannsthal-Reminiszenzen des MalinaRomans, die anachronistische österreichische High Society um die Figur Antoinette Altenwyl (auch im Goldmann/Rottwitz-Roman), die ihren Namen der Kontraktion zweier Figurennamen aus Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige verdankt (Helene Altenwyl und Antoinette Hechingen) und in Salzburg die Premiere von Hofmannsthals Jedermann besucht (TKA 3.1, 490; vgl. TKA 3.2, 949 zu Bachmanns Hofmannsthal-Ausgaben; vgl. auch Thau 1986, 38–48). Ähnlich ironisch sind die Anspielungen auf den Jedermann – die zweifellos mehr den österreichischen Theaterkult treffen als Hofmannsthals Drama – im Buch Franza (TKA 2, 214), bzw. auf Hofmannsthals »Gräfin Altenwyl« und die »süßen Mädel« aus Arthur Schnitzlers frühen Dramen in den poetologischen Entwürfen zum Simultan-Band (TKA 4, 16).
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Gleichwohl geht Bachmanns literarischer Dialog mit Hofmannsthal weit über den Resonanzraum der modernen Sprachskepsistradition und die Kritik an der ideologischen und ökonomischen Funktionalisierung des ›Mythos Habsburg‹ (Magris 1988) hinaus. Schon früh ist bemerkt worden, dass ihr Gedicht Große Landschaft bei Wien – einer von Bachmanns eigenen Beiträgen zu einem symbolischen Österreich – Hofmannsthals Terzinen: Über Vergänglichkeit zitiert (Thiem 1972, 104), und zwar in einer charakteristischen Gegenbewegung: Wo es bei Hofmannsthal heißt: »Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen« (Hofmannsthal 1979, 21), antwortet Bachmanns lyrisches Ich: »(Und ihren Atem spür ich nicht mehr auf den Wangen!)« (W 1, 59). Das »Eingangs-Statement« von Bachmanns »Zeitgedicht« Herbstmanöver – »Ich sage nicht: das war gestern« (W 1, 36) – »stellt einen programmatischen intertextuellen Bezug zu Hugo von Hofmannsthals Erstlingsdrama Gestern her« (Bartsch 2000, 90), welches die Behauptung seines Protagonisten widerlegt: »Das Gestern lügt und nur das Heut ist wahr!« (Hofmannsthal 1979, 218). Im Brunnenmotiv des Gedichts Früher Mittag (W 1, 44) klingt auch Hofmannsthals Weltgeheimnis an – »Der tiefe Brunnen weiß es wohl« (Hofmannsthal 1979, 20; Sonnleitner 2000, 116) –, und die dichotomische Bildwelt des Gedichts Paris erinnert an Hofmannsthals Manche freilich (Reiniger 2000, 71). Die Miranda der Erzählung Ihr glücklichen Augen ist als Anknüpfung nicht nur an William Shakespeares The Tempest, sondern auch an die gleichnamige Figur aus Hofmannsthals frühem Drama Der weiße Fächer gelesen worden (Agnese 1996, 256); das Motiv des schützenden ›schwarzen Mantels‹ in der Binnenerzählung »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« in Malina (TKA 3.1, 350) erinnert an die wiederkehrende Mantel-Motivik bei Hofmannsthal, etwa in seinem Libretto Die Frau ohne Schatten (Brachmann 1999, 233), und auch Bachmanns Reflexion über den Gegensatz zwischen Deutschen und Österreichern steht in der Tradition Hofmannsthals (Schmid-Bortenschlager 1984, 23; Bannasch 1997, 143). Schließlich hat man Hofmannsthals Frauenfiguren hinter »Bachmanns Wiederentdeckung der [...] Weisheit und Freiheit der Frauen und einer lustvoll erfahrenen Geschlechterdifferenz« im Simultan-Band vermutet (Höller 1999, 150). Dagegen darf die Analogisierung von Hofmannsthals ›Verstummen‹ als Lyriker mit dem vermeintlichen »Versiegen« von Bachmanns lyrischer Produktion (Klinger 1981, 400) angesichts der inzwischen bekannt gewordenen lyrischen Arbeiten der
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
Autorin aus den 1960er Jahren (Bachmann 2000) als überholt gelten. In Anbetracht der offensichtlichen thematischen Gemeinsamkeiten – der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Geschlechter als Ausgangspunkt einer literarischen Sittengeschichte der Zeit, der Verschränkung von Bewusstseinsdarstellung und Gesellschaftskritik und dem Interesse an Psychologie – ist es erstaunlich, dass Arthur Schnitzler (nach bisherigem Kenntnisstand) im intertextuellen Verweisungsnetz von Bachmanns Werk bei weitem nicht das gleiche Gewicht besitzt wie Hofmannsthal. Bekannt sind hier nur die Anspielungen auf Schnitzlers Drama Reigen in Bachmanns Gedicht gleichen Titels (W 1, 35) sowie in Malina als symbolischer Intertext für die »universelle Prostitution« im Geschlechterverhältnis der Nachkriegszeit (TKA 3.1, 615; vgl. Bannasch 1997, 169– 171). Hinzu tritt die Montage von Notenzitaten in demselben Roman als Anknüpfung an Schnitzlers entsprechendes Verfahren in seiner Erzählung Fräulein Else (Lindemann 2000, 84–88). Wenn dieser Befund sich bestätigen sollte, so scheinen die Klischees der Schnitzler-Rezeption (vor seiner Wiederentdeckung als Klassiker der Moderne in den 1960er Jahren) – Schnitzler als der überholte Chronist des alten Österreich und Autor der ›süßen Mädel‹ – der Autorin tatsächlich den Blick für die »Affinitäten« (GuI, 124) zwischen seinem Werk und dem ihren verstellt zu haben (vgl. auch McVeigh 206, 108).
Österreichische Moderne (2): Musil und Roth Um so entscheidender ist die Auseinandersetzung mit Robert Musil für Bachmanns literarisches Selbstverständnis und ihre Entwicklung als Autorin. Im Rückblick bezeichnet sie Musil als den »erste[n] Autor des 20. Jahrhunderts, den [sie] gelesen« habe, und zwar bereits mit »fünfzehn oder sechzehn Jahre[n]« (GuI, 124), so dass die Lektüre seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften zur Initiationserfahrung in die literarische Moderne wurde, zum »erste[n] Buch, das in frühen Jahren einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht hat« (GuI, 56). Bachmann trug in den frühen 1950er Jahren durch ihren Essay Ins tausendjährige Reich und durch den Radio-Essay Der Mann ohne Eigenschaften dazu bei, diesem Roman seine kanonische Bedeutung für die literarische Moderne zu sichern, und sie erstellte für den Bayerischen Rundfunk Hörspielbearbeitungen von Musils Dramen Die Schwär-
mer (1956) und Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1958) (vgl. Rogowski 1990 und 1995). Darüber hinaus spielt Musil in den poetologischen Überlegungen ihrer Frankfurter Vorlesungen eine entscheidende Rolle, verdankt die Autorin ihm doch ihren zentralen Begriff der »Literatur als Utopie« (KS, 348; W 4, 271), und zwar der »Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung« (KS, 98 f.; W 4, 27), als ein beständiges Überschreiten der gegebenen Verhältnisse und ihrer »schlechte[n] Sprache« (KS, 344; W 4, 268; s. Kap. 36). Vor diesem Hintergrund adaptiert Bachmann solche als zentral wahrgenommenen Aspekte von Musils Werk wie seine zugleich anthropologische und zeitkritische Erkundung der »Moral der Moral« (KS, 117; W 4, 96), sein als »ziel-feindlich, beweglich« charakterisiertes »Denken« als radikale Kritik des »Denken[s] in geschlossenen Ideologien« (KS, 99; W 4, 27), seine »taghelle Mystik« des »anderen Zustand[s]« (KS, 98; W 4, 26) und kontrapunktisch seine »Utopie des gegebenen sozialen Zustands« als Absage an den ekstatischen Austritt aus der gegebenen Ordnung (KS, 99; W 4, 27; vgl. zu Bachmanns Musilrezeption zusammenfassend Bartsch 1980 und 1997, 24– 30; Agnese 1996, 103–148). Hans Höller hat darüber hinaus gezeigt, wie Bachmann in Musils Mann ohne Eigenschaften »die beunruhigende Nähe von Liebe und Gewalt« entdeckt und wie ihre »zum damaligen Zeitpunkt ungewöhnliche Lesart des Romans« – »Alle Linien, die Musil nachgezogen hat, führen zum Krieg« (KS, 121; W 4, 101) – ihr eigenes Thema des ›ewigen Krieges‹ präludiert (Höller 1999, 71 f.). Diese zentrale Bedeutung Musils für Bachmanns Poetologie spiegelt sich in vielfältigen intertextuellen Verweisungen. In der Lyrik zeigt sich dies beispielsweise in der kontrastierenden Evokation eines Zitats aus Musils Drama Die Schwärmer in der apokalyptischen Bildlichkeit des Schlussstücks aus dem Zyklus Lieder auf der Flucht: Wo Musils Thomas vom »stumme[n] Steigen und Sinken von Gestirnen um dich« spricht (Musil 1981, Bd. 6, 331), pointiert Bachmanns lyrisches Ich: »Nur Sinken um uns von Gestirnen« (W 1, 147; vgl. Thiem 1972, 118 f.). Dem Protagonisten und der Handlungsführung der Erzählung Das dreißigste Jahr mit ihrer Rückwendung von Erlebnissen des ›anderen Zustands‹ zur ›Utopie des gegebenen Zustands‹ ist (neben anderen Vorbildern aus der Literatur der Moderne) auch Musils Ulrich eingeschrieben (vgl. Bartsch 1986, 130 f., und 1997, 114). Die Antithetik von (ekstatischen) Grenzüberschreitungen und »positive[r] Resignation« (Schulz 1979, 238) in den Erzählungen des Bandes Das dreißigste
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Jahr steht insgesamt im Horizont von Bachmanns Musil-Rezeption. Die Spuren dieser intensiven Rezeption reichen bis tief in das Todesarten-Projekt und seine Ouvertüre Malina hinein. Dort zitieren beispielsweise die utopischen Projektionen – die Menschen »werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen« (TKA 3.1, 426) – Musils Bildlichkeit (Bartsch 1997, 79 f.), und das weibliche Ich übernimmt in seinen Briefen jenen »alte[n] Spruch«, den Agathe ihrem Bruder Ulrich vorliest: »wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen« (TKA 3.1, 459; Musil 1981, Bd. 3, 863). Wenn in den frühen Romanentwürfen ein »Schatten über [Malinas] Schulter [fällt]« und der männlichen Hälfte der entstehenden Doppelfigur Ich/Malina bei der literarischen Arbeit hilft (TKA 3.2, 9), so klingt darin Ulrichs Wahrnehmung Agathes als »die schattenhafte Verdopplung seiner selbst« an (KS, 98; W 4, 26). Solche Anspielungen – und es werden noch weitere vermutet (Brachmann 1999, 226–260) – verleihen der Diskussion einer »(tiefen-)strukturelle[n] Übereinstimmung« zwischen Musils Roman und Bachmanns Todesarten-Ouvertüre als innovativer literarischer »Denkversuche« (KS, 265; W 4, 194) zusätzliches Gewicht (Bartsch 1980, 166; vgl. Beck 1998; Rußegger 1993). Diese Strukturanalogien rühren einerseits von Entsprechungen im Sujet her – wenn der »Weg des Denkens« für Musils Ulrich Bachmann zufolge »mit dem Weg der Liebe zusammen[fällt]« (KS, 98; W 4, 26), so treten beide Wege für das weibliche Ich in Malina aporetisch auseinander und sind doch gerade in ihrem Konflikt aufeinander bezogen –, andererseits von gattungsgeschichtlichen Parallelen: Wie Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften nach Bachmanns Beobachtung Kulturgeschichte mit dem »individuelle[n] Schicksal des Helden« verknüpft, einen »unmaßgeblichen Menschen« zum »Spiegelmenschen« der »Welt seiner Zeit« macht (KS, 110, 107; W 4, 90, 86), so betreiben die Texte des Todesarten-Projekts insgesamt eine literarische Sittengeschichte Österreichs und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg im Spiegel von »unmaßgeblichen Menschen« der Nachkriegszeit. Die Verbindung von Bewusstseinsroman und Zeitroman in Malina etwa zielt nicht minder auf eine hochgradig reflektierte, kritische Gesamtbilanz der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse als in seinem viel größeren Rahmen Musils Romanfragment. Immer wieder hat Bachmann sich darüber hinaus literarisch mit Musils ›tagheller Mystik‹ und seinem Begriff des ›anderen Zustands‹ auseinandergesetzt. Indem Erlebnisse des ›anderen Zustands‹ als ›Grenz-
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fälle‹ des alltäglichen Lebens die herrschende »Ordnung« aufsprengen und die gedachten Grundlagen unserer Welt in Frage stellen, erlauben sie der Literatur, jenes »Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen« in Gang zu setzen, durch das die Literatur im Sinne von Bachmanns Utopiebegriff »unsere Möglichkeiten« erweitert (KS, 247; W 4, 276). Schon in der frühen Erzählung Die Karawane und die Auferstehung erinnert das akustisch vermittelte mystische Erlebnis des Knaben in diesem Sinne an Musils Erzählung Die Amsel (Bartsch 1997, 46 f.). Im Kontext dieses Aspekts von Bachmanns Musil-Rezeption ist aber vor allem das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan diskutiert worden, das den ekstatischen Entwurf eines ›anderen Zustands‹ der Liebe als Provokation der herrschenden Ordnung mit einer subtilen Kritik am »Austritt aus der Gesellschaft« (KS, 247; W 4, 276) verbindet (vgl. z. B. Bartsch 1997, 81–84; Weigel 1999, 216 f.; Schneider 1999, 153 f.). Diese »Politisierung der Liebe« hat ihr Vorbild in Musils eigenen Tagebuchüberlegungen zur Kraft der Liebe, eine andere »Weltorientierung« hervorzubringen (Höller 1987, 118), und zugleich in dem Nachlasskapitel »Reise ins Paradies« des Manns ohne Eigenschaften (Strutz 1989). Die »mit dem Vorzeichen des Unmöglichen versehen[e]« Liebesutopie, die das weibliche Ich in Malina zur Geltung zu bringen versucht, zeigt dann die charakteristische Überlagerung mehrfacher intertextueller Bezüge durch die Verbindung von Elementen von Musils Konzept des ›anderen Zustands‹ mit solchen aus der frühromantischen Liebesutopie des Novalis (Schmaus 2000, 153). Mit Bezug auf die Regine der Schwärmer und die Agathe des Manns ohne Eigenschaften ist das weibliche Ich auch als »Musils Stimme« in dem Roman Malina gelesen worden (Behre 1992, 218). Da Musil auch das scheiternde Experiment der Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe im Mann ohne Eigenschaften als einen ›anderen Zustand‹ darstellt, schließen sich Anspielungen auf dieses Motiv und insbesondere auf Musils entsprechendes Nachlassgedicht Isis und Osiris an, das schon Bachmanns Radio-Essay zu Musils Roman zitiert (KS, 118 f.; W 4, 98 f.), zumal hier das utopische literarische Modell eines anderen, auf Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit beruhenden Geschlechterverhältnisses gegeben ist. In Bachmanns Gedicht Das Spiel ist aus etwa fungiert Ulrichs und Agathes Liebe als Folie für die »›positive Konstruktion‹ einer Gegenwirklichkeit« zur herrschenden Ordnung der Gewalt (Oberle 1990, 50; vgl. Bothner 1986, 206–209). Das Zitat von Musils Gedicht spielt dann im Buch Franza eine leitmotivische
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
Rolle als intertextueller »Kult-Satz« der Geschwister Franziska und Martin Ranner (TKA 2, 84, 150, 204, 254), die Musils ägyptisierender Utopie einer vollkommenen Vereinigung der Geschlechter aber gerade nicht zu entsprechen vermögen: »Die Liebe als Verneinung, als Ausnahmezustand, kann nicht dauern. Das Außer-sich-Sein, die Ekstase währen – wie der Glaube – nur eine Stunde« (KS, 99; W 4, 27; vgl. Bartsch 1997, 67). Die »mit der Geschwisterliebe verbundene Vorstellung des ›Sich-im-affinen-AnderenWiederfindens‹« ist in der erzählten Gegenwart des Franza-Romans »nur noch als erinnerte Utopie« präsent (Schmaus 2000, 125). In einer anderen Lektüre evoziert das Zitat des Schlussverses von Isis und Osiris – »Und er ißt ihr Herz, und sie das seine« (Musil 1981, Bd. 6, 465) – das »grausame Gesetz der Kunst« mit seinem »notwendigen Konnex von Untergehen und Überdauern, von Sterben und Gerettetsein, von Tod und ewigem Leben« (Höller 1987, 270). Auch in ihrer literarischen Auseinandersetzung mit Österreich knüpft Bachmann an Musil an, indem sie die Transformation der Habsburgermonarchie in das zeitkritische Denkmodell »Kakanien« aus dem Mann ohne Eigenschaften (s. KS, 110; W 4, 89) modifizierend fortschreibt (vgl. Fanta 1995). Die von Musil inspirierte Stilisierung Österreichs zu »einem kleinen Land, das, um es überspitzt zu sagen, bereits aus der Geschichte ausgetreten ist und eine übermächtige, monströse Vergangenheit hat«, der Autorin aber als eben dieses »einstige geschichtliche Experimentierfeld« »mehr und Genaueres über die Gegenwart zu sagen hat« als beispielsweise Deutschland (GuI, 63 f.), diese Modifikation des literarischen ›Mythos Habsburg‹ schlägt sich beispielsweise im ersten TodesartenRoman in dem Motiv eines Geheimbunds nieder, der Österreichs »Austritt aus der Geschichte« betreibt (TKA 1, 97) und dem Roman darin als Instrument der Zeitkritik dient (Göttsche 2000). Gleichwohl bezeichnet das multikulturelle Zusammenleben der Völker im alten Habsburgerreich auch für Bachmann, was ihr im Kleinen das Dreiländer- und Dreispracheneck ihrer Herkunft bedeutete: »ein Stück echtes, wenig realisiertes Österreich [...], eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen« (KS, 6; vgl. W 4, 302). In Anknüpfung an Joseph Roth fungiert vor allem in der Erzählung Drei Wege zum See der Mythos vom ›Haus Österreich‹ noch einmal als ein zeitkritisches Reflexionsmodell österreichischer Geschichte und Identität (vgl. Krylova 2013, 37–59; s. Kap. 31). Auch die späten Gedichte, die sich – wie Böhmen liegt am Meer – den Pragreisen des Winters
1964 verdanken, sind als »Echoraum der österreichischen Moderne« gelesen worden (Höller/Larcati 2016, 67), wobei hier das »Böhmische« für jenes »Lebensmotiv« des »zu Hause sein[s] im Heimatlosen und im Aneinandergrenzen« steht (ebd., 108), das Bachmann in Anknüpfung an Musil mit dem Habsburger Mythos verbindet. Bachmann hat ihre große Erzählung Drei Wege zum See um die Lebenskrise einer international erfolgreichen Fotojournalistin als literarische Fortschreibung von Joseph Roths zeitkritischen Österreich-Romanen Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938) angelegt, indem sie nicht nur Roths Figurenarsenal und Topographie in die Gegenwart transponiert, sondern auch seine mythisierende Auseinandersetzung mit dem Untergang der Habsburgermonarchie und deren fortdauernder Bedeutung für eine österreichische Identität in kritischer Wendung aufgreift (Omelaniuk 1983; Lensing 1985; Thau 1986, 48–65; Bannasch 1997, 150–159). Die stoffliche Anknüpfung hat Bachmann in einem Interview selbst benannt: »Roths ›Kapuzinergruft‹ endet damit, daß dieser Trotta, als 1938 die Deutschen kommen, weiß, daß seine Welt untergeht. Bei Roth erfahren wir nun, daß er sein Kind ins Exil nach Paris schickt. Nun habe ich mir überlegt: was geschieht weiterhin mit diesem jungen Trotta?« (GuI, 121). Dieser mit den symbolischen Vornamen Franz Joseph Eugen belegte junge Trotta wird in Bachmanns Fortschreibung zum entscheidenden Mentor der Protagonistin, indem er ihr auf der Folie seiner eigenen Heimatlosigkeit als ein in Frankreich lebender Exilant des alten Habsburger Österreich sowie als scharfer, aber verbitterter Kritiker des neuen Österreich und der Nachkriegszeit insgesamt dazu verhilft, ihre eigene Verwurzelung in dem rückblickend mythisierten ›Österreich‹ der Kaiserzeit zu entdecken, eine verschüttete geistige Heimat, der sie ihre »Moral« (TKA 4, 418) und ihren spezifischen »Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus« (GuI, 63) verdankt. In der Folge der Faszination durch und Auseinandersetzung mit Franz Joseph Eugen Trotta und seinen ebenfalls an Roth anschließenden Spiegelfiguren – ihrem altösterreichischen Vater, ihrem zeitweiligen Liebhaber Manes und dem sie vergeblich liebenden Branco Trotta als kontrapunktischem Repräsentanten der für Franz Joseph Eugen geschichtlich verlorenen, ›gesunden‹ slowenischen Heimat (TKA 4, 353) – wird sich die Protagonistin ihrer realen Heimatlosigkeit bewusst und gewinnt doch zugleich neue Selbstsicherheit aus der »geistige[n] Formation« der österreichischen Tradition (GuI, 79). Bemerkenswerterweise ist der Franz Joseph Eugen Trotta
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der Erzählung nicht nur die Zentralfigur der Österreichthematik, sondern als radikaler Zeitkritiker zugleich ein Instrument von Bachmanns Medienkritik, die sich hier an der ideologischen Funktion und moralischen Unverantwortlichkeit der Berichterstattung aus dem Algerischen Bürgerkrieg entzündet (TKA 4, 384 f.). Diese literarische Medienkritik hat in Joseph Roths »Polemik ›Über das Dokumentarische‹« eines ihrer Vorbilder (Bannasch 1997, 109). Zusätzliches Gewicht erhält die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert aus der Perspektive österreichischer Zeiterfahrung durch den Verweis auf den Essay »Die Tortur« des ebenfalls exilierten Österreichers Jean Améry, der die ›Stimme Trottas‹ in die Realität transponiert (TKA 4, 389; vgl. Heidelberger-Leonard 1993). Diese Überlagerung der intertextuellen Bezüge zu Roth und Améry unterstreicht die Abgrenzung Bachmanns von Roths Österreich-Nostalgie und die im Sinne von Bachmanns Musil-Rezeption utopische Funktion der Erzählung als geschichtliche ›Erinnerungsarbeit‹ an den Gewalter fahrungen des 20. Jahrhunderts, nun allerdings nicht mehr, wie bei Roth, im Medium eines genealogischen Geschichtsmodells – Roths Zeitromane sind als zyklisch aneinander anschließende Familienromane strukturiert –, sondern eines topographischen Modells, in welchem der Kulturraum selbst als geschichtlicher hervortritt (Nutting 1985, 80; Brokoph-Mauch 1997, 194; Weigel 1999, 402). Im Übrigen kann Roths Verfahren des zyklischen Erzählens, in dem ein Text den anderen im Rahmen eines wiederkehrenden Figurennetzes und einer rekurrierenden Topographie (Galizien/Wien) ergänzt und kommentiert, als eines der Vorbilder für Bachmanns eigenes zyklisches Erzählen in den Todesarten gelten (vgl. Göttsche 1992).
Lyriker der Moderne: Trakl, Rilke, Benn, Brecht u. a. Auf ihr Verhältnis zur Naturlyrik und auf die »Ähnlichkeit einzelner lyrischer Bilder« in ihren Gedichten mit Klassikern der Moderne angesprochen, hat Bachmann sich 1964 – wie andernorts gegen das rhetorische Zitieren – gegen den Begriff der »Vorbilder« verwahrt: »Aber die Vorbilder, die einem von Kritikern vorgehalten werden, das sind nicht nur Else LaskerSchüler, nicht nur Trakl, sondern noch vierzig andere. Mit Trakl ist es vielleicht etwas anderes. Ich meine weniger, daß er ein Vorbild für mich ist, aber daß er aus dem Sprachklima kommt, das sicher auch das meine
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ist, das österreichische in einem sehr weiten Sinn« (GuI, 45). Zwar spielen Österreicher ›im sehr weiten Sinn‹ wie Georg Trakl und Rainer Maria Rilke für Bachmanns literarischen Dialog mit der lyrischen Moderne eine besondere Rolle (wie für alle Lyriker ihrer Generation), doch erfasst ihre intertextuelle Arbeit am Kanon der Moderne auch andere AutorInnen wie die Antipoden Gottfried Benn und Bertolt Brecht, zwischen denen man ihre Lyrik zu situieren versucht hat (Belluzzo 1986, 117). Dabei gilt Bachmanns kritischer Blick – in ihrer Literaturkritik wie in ihrer literarischen Praxis – insbesondere dem impliziten »Dogmatismus« der Avantgarde und dem Zusammenhang von »Ästhetizismus und Gewalt« (Larcati 2006, 93 f., Hervorhebung im Original). Obwohl der Expressionismus für Bachmanns literarische Entwicklung insgesamt eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt zu haben scheint, sind in der Lyrik expressionistische Spuren entdeckt worden, so in dem frühen Nachlassgedicht Ängste (Kohn-Waechter 1992, 48), in der Motivik der »Weltangst« etwa in dem Gedicht Hinter der Wand (W 1, 15), in der Sturz- und Schrei-Motivik des Gedichts Die große Fracht aus dem ersten Lyrikband Die gestundete Zeit (W 1, 34) oder in dem Zeilenstil des Gedichts Erklär mir, Liebe aus dem zweiten Gedichtband (W 1, 109 f.; vgl. Bothner 1986, 127, 175; Oberle 1990, 6). Ein früher Versuch der Forschung, auch in Bachmanns Erzählprosa der 1950er und frühen 1960er Jahre »wiederkehrende expressionistische Elemente« nachzuweisen (in Motivik, Namensgebung und Montagetechnik, in den Stiltechniken der Steigerung, des Imperativischen und des Gestischen; Schulz 1979, 239 f.), ist seither nicht wieder aufgegriffen worden. Offensichtlich ist dagegen der Trakl-Ton in Bachmanns frühem Gedicht Be trunkner Abend mit seiner charakteristischen Farb-, Blut-, Nacht-, Gewalt- und Familienmotivik (W 1, 14). Ulrich Thiem weist darüber hinaus im lyrischen Werk 15 Trakl-Zitate nach, die von Trakls Blau über Stern- und Stirnmotive bis zum Motivkreis Tod und Mord reichen und so insgesamt die erhebliche Bedeutung von Trakls Bildlichkeit für die Entwicklung von Bachmanns eigener lyrischer Sprache belegen (Thiem 1972, 258 f.). So evoziert beispielsweise das erste der Lieder auf der Flucht mit dem Einbruch des Winters in den Süden (W 1, 138) Trakls Wintergang in a-moll (Thiem 1972, 111), und der Monolog des Fürsten Myschkin greift in den Zeilen »Blaue Steine flogen nach mir und erweckten mich vom Tode. / Sie rührten von einem Sternengesicht, das zerbrach« (W 1, 72) Trakls Prosagedicht Traum und Umnachtung auf, oh-
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ne aber die Jugendstilrelikte in Trakls Bildlichkeit fortzuschreiben (Thiem 1972, 122). In ähnlichem Sinne ist Bachmanns Psalm als Gegenentwurf zur Morbidität von Trakls Psalm-Gedichten interpretiert worden (Weigel 1999, 163 f.). Als Trakl-Reminiszenzen werden auch die Blau-, Dunkel- und Dornmotivik der Kagran-Legende (TKA 3.1, 354–357) und die Motivik des Stürzens im Traum des Ich vom Tod seines Kindes Animus in Malina verstanden (TKA 3.1, 556 f.; vgl. Kohn-Waechter 1992, 163 f.; Schottelius 1990, 101). Erheblich ambivalenter ist Bachmanns Verhältnis zu Rilke, von dem sie sich »sehr weit entfernt« fühlt, und doch durch die österreichische Tradition verbunden (GuI, 32). Zusammen mit den Werken von Hofmannsthal, Musil und Benn wird Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in den Frankfurter Vorlesungen als ein Grundtext der Moderne gewürdigt (KS, 261; W 4, 190), und auch die beständige Selbstüberschreitung der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten im sprachreflexiven Prozess der »Literatur als Utopie« (KS, 348; W 4, 271) wird in Anlehnung an diesen Roman formuliert: »Was wir das Vollendete in der Kunst nennen, bringt nur von neuem das Unvollendete in Gang« (KS, 345; W 4, 268). Malte schreibt analog: »Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich« (Rilke 1966, Bd. 6, 929). Michael Minden (2014) hat ausgehend von solchen motivischen und poetologischen Resonanzen die strukturellen und thematischen, die Möglichkeiten des Subjekts in der Moderne betreffenden Analogien zwischen Rilkes Malte-Roman und Bachmanns Malina herausgearbeitet. Entsprechend ihrer Ablehnung des Ästhetizismus (TKA 1, 171) ist Bachmanns intertextueller Dialog mit Rilke allerdings in ähnlicher Weise von Gegenentwürfen geprägt wie der mit Hofmannsthal. So kehrt ein früher Entwurf zum Buch Franza mit dem Satz »Tot ist, wer liebt, nur der Geliebte lebt« (TKA 2, 4) beispielsweise die Metaphysik der Liebe in Rilkes Malte um, die ja ihrerseits als ›Umwertung‹ der Liebe konzipiert war: »Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit« und »Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern« (Rilke 1966, Bd. 6, 924, 937). In Malina klingt in der Motivreihe, in der das weibliche Ich zunächst glaubt, im »Zeichen« von Ivan im Sinne ihrer Metaphysik der Liebe »siegen« zu können (TKA 3.1, 303), dann aber das von Malina eingeforderte Konzept des ›Siegens‹ als Selbstbehauptung angesichts ihres sich abzeichnenden Untergangs ablehnt (TKA 3.1, 663 f.), in der Form der Kontrafak-
tur auch der bekannte Schlussvers von Rilkes Requiem für Wolf Graf Kalckreuth an: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles« (Rilke 1966, Bd. 1, 664). Bachmanns Gegenentwurf gilt aber nicht nur Rilkes Liebesmetaphysik, sondern auch seiner Metaphysik der Kunst. Dies zeigt insbesondere die Form, in der das dichte intertextuelle Verweisungsnetz des poetologischen Schlussstücks von Bachmanns Gedichtzyklus Lieder auf der Flucht Rilkes 19. Sonett an Orpheus (»Wandelt sich rasch auch die Welt«) aufnimmt. Rilkes immer noch ästhetizistisch getönter Apotheose der Kunst – »Einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert« (Rilke 1966, Bd. 1, 743) – stellt Bachmann die radikalere Vision einer die Apokalypse und damit die Menschheit überdauernden Dichtung gegenüber: »Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen« (W 1, 147; vgl. Thiem 1972, 119). Gleichwohl kann in den vielfältigen Rilke-Bezügen eine Ambivalenz von Anknüpfung, Distanzierung und wiederholender »Transposition« gesehen werden (Bühler-Dietrich 2006, 147). Thiem hat in Bachmanns Lyrik insgesamt 16 RilkeZitate aus den Sonetten an Orpheus, den Duineser Elegien, dem Stundenbuch und anderen Werken identifiziert (Thiem 1972, 256–258) und damit die Bedeutung dieses Dialogs für Bachmanns Selbstpositionierung in der Tradition der Moderne herausgestellt. Charakteristischerweise steht die Anknüpfung an Rilkes Utopie der rettenden Dichtung in Bachmanns Gedicht Mein Vogel neben der Absage an sein poetologisches Konzept eines ›Sagens der Dinge‹ in Tage in Weiß (Oelmann 1980, 22, 52). Die Spuren der Rilke-Rezeption reichen von frühen Gedichten wie Offenbarung (N157) und [Die Welt ist weit] über die Orpheusgestalt in Dunkles zu sagen oder das Motiv der Lupinen in Die gestundete Zeit (Bothner 1986, 120, 145 f.; Höller 1999, 79; Reininger 2000, 70) bis zu Zitatmotiven am Ende der Kagran-Legende in Malina, wo sich die RilkeReminiszenzen mit den Paul Celan-Zitaten zu einem intertextuellen Feld verschränken (Kohn-Waechter 1992, 45, 162; Höller 1999, 62). An anderer Stelle des Romans überkreuzt sich in dem Leitmotiv des vom Ich erhofften utopischen, aber unrealisierbaren ›ganzen Lebens‹ (TKA 3.1, 311) die Anspielung auf King Vidors Verfilmung von Tolstois Roman Krieg und Frieden (Kommentar TKA 3.2, 933) mit einer weiteren Überblendung von Rilke- und Celan-Zitaten, der Anspielung auf Celans Gedicht Das ganze Leben und dem darin möglicherweise bereits mitgedachten Zitat aus Rilkes Portugiesischen Briefen: »Ach, warum willst du nicht, daß es das ganze Leben sei?« (Rilke 1979, 37;
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vgl. Brachmann 1999, 230). Schließlich ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass das groteske Berlin der Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle von Maltes abgründigem Erlebnis der modernen Großstadt Paris mitgeprägt ist (Höller 1987, 220). Zweifellos ist Bachmanns literarischer Dialog mit der Lyrik der Moderne noch nicht erschöpfend erforscht. Thiems Register von 14 Zitaten aus dem Werk Else Lasker-Schülers und von 15 weiteren zu Oskar Loerke (Thiem 1972, 253–256) verdeutlicht schlaglichtartig den Forschungsbedarf, und seine Funde intertextueller Bezüge zu Gedichten von Ferdinand von Saar, Georg Heym und Gertrud Kolmar (ebd., 106 f., 114, 111, 121 f.), die Entdeckung kontrapunktischer Bezugnahmen auf Stefan George (Oberle 1990, 94), von dessen Kunstreligion Bachmann sich entschieden absetzt (KS, 256, 266 f.; W 4, 186, 196), wie auch die Spuren der Lektüre moderner französischer Lyrik (Böschenstein 1993) zeigen die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen. Wie komplex das intertextuelle Verhältnis von Anregung und Abgrenzung, von wahrgenommenen »Affinitäten« (GuI, 125) und entschiedenen Differenzen sein kann, das erhellt exemplarisch Bachmanns Auseinandersetzung mit jenen zwei Antipoden der ›klassischen‹ Moderne, deren Werk und Wirkung in die Nachkriegszeit hineinreicht, so dass die literarische Rezeption hier zwei mächtigen Zeitgenossen gilt: Benn und Brecht, zu dessen Gedichten sie 1969 ein Vorwort entworfen hat (KS, 458–462; W 4, 365– 367). Ein Brief an Heinrich Böll aus dem Jahr 1956 bringt sehr deutlich ihr ambivalentes Verhältnis zu diesen beiden Klassikern der Moderne zum Ausdruck, deren Werk für sie Anstoß und Herausforderung war, ohne für ihre eigene lyrische Sprache als Angehörige der jungen Nachkriegsgeneration noch verbindlich sein zu können: »Überhaupt, Brechts Tod, und auch Benns, wenn man will – jetzt sind alle Alten tot bei uns. Dran hängt sich eine Menge Nachdenken« (Brief vom 25.8.1956 an Heinrich Böll). In ihren Frankfurter Vorlesungen hat Bachmann die Bedeutung von Benns »Rönne«-Novellen im Kanon der modernen Prosa unterstrichen (KS, 261; W 4, 190) und als positives Erbe seines Ästhetizismus die »Gewißheit« hervorgehoben, »daß eine gute Gesinnung noch lange kein gutes Gedicht macht« (KS, 284; vgl. W 4, 214). Dagegen steht jedoch die scharfe Kritik an dem historischen Zusammenhang zwischen Ästhetizismus und Faschismus in der europäischen Moderne, in der es für Autoren wie »Gottfried Benn und Ezra Pound« »nur ein Schritt war aus dem reinen Kunst-
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himmel zur Anbiederung mit der Barbarei« (KS, 277; W 4, 206). Gegen das Benn zugeschriebene l’art pour l’art setzt die Autorin ihr moralisches Verständnis der Literatur und deren Verpflichtung auf die »Schuldfragen« der Geschichte (ebd.). Hier steht ihre abgrenzende poetologische Selbstreflexion durchaus im Einklang mit ihrer literarischen Wirkung, denn ihr Erfolg als neue Stimme der deutschsprachigen Lyrik in den Jahren 1953/54 ist durch die Abwendung von der »die Schwere der Alltagswirklichkeit scheinbar weitgehend ausklammernden Naturlyrik in der Nachfolge des 1941 verstorbenen Oskar Loerke und von der radikal realitätsenthobenen Artistik eines Gottfried Benn« entscheidend mitbegründet (Bartsch 1997, 50). Bachmanns intertextueller Dialog mit Benn vollzieht sich daher einerseits in der Abgrenzung. So kann ihr Gedicht Die blaue Stunde beispielsweise geradezu als eine Parodie auf Benns Gedichte Blaue Stunde und Anemone gelesen werden (Thiem 1972, 125; Oberle 1990, 118). Das bereits zitierte poetologische Schlussstück des Zyklus’ Lieder auf der Flucht wendet sich »unverkennbar gegen Gottfried Benns Kunstmetaphysik« (Höller 1999, 100), und die im »Wechselbezug von Sprache und Liebe« gefundene »dialogische und sprachutopische Poetologie der Autorin« »widerspricht [...] diametral« Benns Entwurf des absoluten Gedichts (Oberle 1990, 289). Andererseits gehen die von Thiem aufgeführten Benn-Zitate in Bachmanns Lyrik – die Intertextualität zwischen Bachmanns Gedicht Die große Fracht und Benns expressionistisch getöntem Gedicht Das späte Ich etwa oder die zwischen ihrem Reigen und seinem Gedicht Liebe – nicht im Gegenentwurf auf (Thiem 1972, 251 f.; Bothner 1986, 10, 145, 175), sondern zeigen einen differenzierteren Dialog. Tatsächlich hat die Forschung sowohl Anklänge an den Benn der 1930er Jahre festgestellt (etwa in Ausfahrt; vgl. Reininger 2000, 72) als auch an den späten Benn (etwa in Mein Vogel; vgl. Oelmann 1980, 45). Da Benns als Apologie einer Metaphysik der Kunst rezipierte ›Marbacher Rede‹ »Probleme der Lyrik« (1951) vom modernen Gedicht fordert, gerade im Medium seiner Autonomie »Probleme der Zeit, der Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz« zur Geltung zu bringen (Benn 1990, 361), bleibt die Beziehung »Bachmann und Benn« tatsächlich »ein schwieriges Terrain« (Kucher 2000, 54), das für die unterschiedlichen Phasen und Aspekte von Benns Werk einer differenzierteren Neuvermessung bedarf. Während Bachmanns Auseinandersetzung mit Benn weithin die Bruchlinien des zeitgenössischen Benn-Diskurses spiegelt, ist ihr Dialog mit Brecht eine
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eigenständiger interpretierende Arbeit am Kanon der Moderne. Den Brecht, der »unbezweifelbar für den Klassenkampf geschrieben hat« (KS, 459; W 4, 366), erkennt sie zwar an, warnt auch davor, den »große[n] Dichter« und den ›Kommunisten‹ Brecht auseinanderzudividieren (KS, 265; W 4, 194), sein Konzept einer ›lehrhaften‹, direkt politischen Literatur (oder Musik) aber lehnt sie vor dem Hintergrund ihres sprachreflexiven Literaturverständnisses ab (N3519; vgl. Schneider 1999, 109). Dagegen begeistert sie sich z. B. für Brechts frühes Drama Im Dickicht der Städte, »das auf der Bühne (mehr als beim Lesen) aufgeht wie eine Orchidee, wild und schön und chaotisch, man zittert drei Stunden, weil man wirklich der Explosion einer neuen Sprache beiwohnt, einem Geniestreich, der mich mehr ergriffen hat als all die guten rühmlichen Stücke aus der späteren Zeit« (Brief an Joachim Moras vom 23.11.1960). Entsprechend stellt ihr VorwortEntwurf zu einer geplanten Anthologie von Brechts Lyrik den Lyriker Brecht, dem ihr Hauptinteresse gilt, in die Tradition Friedrich Hölderlins als Repräsentanten ihres eigenen Entwurfs der »Literatur als Utopie«, als ›Vorbild‹ für die Möglichkeiten der Literatur als »Ausdruckstraum«, als »vieltausendjährige[r] Versuch gegen die schlechte Sprache« der sozialen und politischen Wirklichkeit (KS, 460 f.; vgl. W 4, 367). Im Herbst 1954 ist Brecht mit Bachmanns Gedichten des Bandes Die gestundete Zeit weniger ehrfurchtsvoll umgegangen, indem er sie durch Unterstreichungen auf jene Verse reduzierte, die den charakteristischen »Brechtton« (KS, 458; W 4, 365) aufweisen (vgl. Höller 1999, 78 f.). Tatsächlich sind es die zeitge schichtlichen Gedichte von Bachmanns erstem Lyrikband, die »in der Motivik wie im grammatischen Gestus« am deutlichsten »an Brechts Anweisungen ›Aus einem Lesebuch für Städtebewohner‹« anschließen (ebd., 78; vgl. Höller 1987, 22 f.). In motivischer Hinsicht klingt im ersten der Lieder auf der Flucht Brechts Kinderkreuzzug und in Große Landschaft bei Wien die Stadtmotivik von Brechts Gedicht Vom armem B. B. an (Thiem 1972, 106 f.). Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Analogien zwischen Brechts und Bachmanns Auffassungen von den zeit- und gesellschaftskritischen Aufgaben der Literatur (vgl. Achberger 1991 und 1993) ist es jedoch nicht verwunderlich, dass die Bedeutung Brechts für Bachmann über ihre Lyrik hinausgeht, auch wenn das Urteil, die »Brechtsche Schreibart« sei das »wichtigste Vorbild« für die »Erzählweise« der Autorin gewesen (Schneider 1999, 105), sicher zu weit geht. So stellt ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan schon vom Titel her auch eine Antwort auf
Brechts Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan dar (Höller 1999, 114), und die Reflexion über die verborgenen geistigen und moralischen Verbrechen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verbindet das Todesarten-Projekt mit Brechts »Buch der Wendungen« Meti, dessen Abschnitt »Viele Arten zu töten« sowohl den Titel als auch die Poetologie der Todesarten mitgeprägt hat: »Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten« (Brecht 1967, 466; vgl. Kommentar TKA 2, 474).
Moderne Erzähler: Thomas Mann, Kafka, Proust u. a. Obwohl Bachmanns Bibliothek zuletzt nur wenige Titel von Thomas Mann enthielt (s. TKA 3.2, 921) und etwa die Malina-Entwürfe seinen Namen eher ironisch als Repräsentanten einer vergangenen Literaturepoche nennen (TKA 3.1, 44), sichern Thomas Manns literarhistorische Stellung zwischen Tradition und Moderne und die Kunst-Leben-Problematik seinem Werk einen nicht unerheblichen Platz im intertextuellen Verweisungsnetz von Bachmanns Werk. Die Frankfurter Vorlesungen markieren Manns literarhistorische Schwellenposition, indem sie ihn als »Namenzauberer«, als den »letzte[n] große[n]«, doch bereits ›ironischen‹ »Namenserfinder« im vergleichenden Kontrast mit Kafka und James Joyce diskutieren (KS, 321; W 4, 247). Neben beiläufigen Bezügen wie der Erwähnung von Felix Krull in den Malina-Entwürfen (TKA 3.1, 77, 81) oder einer Reminiszenz aus den Josephs-Romanen in Bachmanns Gedicht Früher Mittag (Oelmann 1980, 64) ist es vor allem der für sein Werk grundlegende und in seiner Erzählung Tonio Kröger paradigmatisch gestaltete Konflikt von Kunst und Leben, Künstler und Bürger, mit dem sich Bachmann in ähnlicher Weise auseinandersetzt wie mit der Kunstmetaphysik in Teilen der lyrischen Moderne. Die Spuren dieses Dialogs als Ringen mit dem »harte[n] Gesetz der Kunst« sind schon in den Briefen an Felician gesehen worden (Höller 1999, 32 f.), und die Problematik des weiblichen Ich in Malina reinszeniert den durch Thomas Mann repräsentierten »Widerspruch von Kunst und Leben« unter den verschärften Bedingungen des Ausschlusses »der Frau aus dem öf-
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fentlichen Diskurs im allgemeinen sowie aus dem des Kulturbetriebs im besonderen« (Bartsch 1997, 141; vgl. Höller 1992, 240). Die Kunst-Leben-Problematik bildet auch die Folie der intertextuellen Bezüge des Malina-Romans zu Manns Roman Doktor Faustus, die durch die beiden Romanen gemeinsame intensive Auseinandersetzung mit der Musik und dem Nationalsozialismus eine zusätzliche Dimension erhalten. Nicht nur gemahnt das Traumkapitel von Bachmanns Todesarten-Ouvertüre an das Motiv der Hadeswanderung im Doktor Faustus (Höller 1999, 142), die späte Partyszene, in der Malina dem Ich auf einem Klavier aus Arnold Schönbergs Pierrot lunaire vorspielt (TKA 3.1, 671–673), erinnert auch an den Bordellbesuch Adrian Leverkühns im 16. Kapitel von Manns Roman (Achberger 1995, 115). Vor allem aber geben »Beethovens späte Klaviersonaten, über die Thomas Mann im achten Kapitel« des Doktor Faustus seinen Organisten Wendell Kretzschmar »in Worten dozieren läßt« (Schneider 1999, 281), eines der Modelle für die musikalischen Vortragsbezeichnungen ab, mit denen die Stimme des weiblichen Ich im dritten Kapitel des Malina-Romans orchestriert wird (Achberger 1993, 276 f.). Der intertextuelle Dialog mit Manns Doktor Faustus führt also ins Zentrum der quasi-musikalischen Komposition von Bachmanns Todesarten-Ouvertüre. Galt Thomas Mann in der Nachkriegszeit gewissermaßen schon als Altmeister der Moderne, so wurde das Werk von Franz Kafka erst jetzt intensiver entdeckt und übte so auf die junge Generation der NachkriegsautorInnen eine nachhaltige Wirkung aus. Bachmann hat sich von dieser Breitenwirkung zwar schon 1956 distanziert – »Ich liebe Kafka, nicht aber das KafkaEpigonentum« (GuI, 20) –, sie hat sich mit seinem Werk jedoch eingehend auseinandergesetzt, seinem Roman Amerika beispielsweise einen Radio-Essay gewidmet (1953) und Kafkas Josef K. in den Frankfurter Vorlesungen als Paradebeispiel für den Konstruktionscharakter der Namen in der modernen Literatur diskutiert (KS, 317–321; W 4, 242–247). Schon 1949 hatte sie für ihre Freundin Nani Demus (geb. Maier) deren Dissertation »Franz Kafka und Robert Musil als Vertreter der ethischen Richtung des modernen Romans« abgetippt (McVeigh 2016, 125). Fasziniert hat sie (wie so viele Autoren der Epoche) die in »seiner Sprache und [der] Art der Darstellung« begründete »Magie von Kafkas Werk« (KS, 94; W 4, 321), die Kafkas radikale Auflösung des konventionellen Wirklichkeitsverständnisses (das »Nichtfunktionieren« der Wirklichkeit; ebd.) an Bachmanns erkenntniskritisches Ver-
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ständnis der Literatur als einer ›neuen Sprache‹ und Ausdruck eines ›neuen Geistes‹ anschließbar macht (KS, 263; W 4, 192). Kafkas Werke zeigen nicht nur in besonderer Weise »die durchgehende Manifestation einer Problemkonstante, eine unverwechselbare Wortwelt, Gestaltenwelt und Konfliktwelt« (KS, 264; W 4, 193), ihre parabolischen Welten erziehen auch auf unvergleichliche Art »zu neuer Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußtsein« (KS, 266; W 4, 195). In diesem Sinne adaptiert Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen Kafkas poetologische Maxime: »Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« (KS, 280; W 4, 211; Kafka, 27 f.; vgl. Höller 1987, 188). Bachmanns poetologischer Dialog mit Kafka setzt sich im literarischen Werk auf ganz unterschiedliche Weise fort. Die parabolische Erzählform früher Erzählwerke wie Der Kommandant (Weigel 1999, 73) und das Anna-Fragment aus dem verschollenen Roman Stadt ohne Namen (Kommentar TKA 1, 501–505; Kanz 1999, 14) stehen ganz offensichtlich im Kontext der surrealistisch und existentialistisch überformten Kafka-Rezeption der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Das gilt nicht zuletzt auch für die symbolische Vaterfigur im Anna-Fragment, die zugleich auf die »ausgesprochen kafkaeske[n] Züge« der symbolischen Vaterfigur des Traumkapitels in Malina vorausweist (Lattmann 1992, 126; Höller 1999, 29). In dem Erzählband Das dreißigste Jahr spielt die Titelerzählung mit ihrem Eingangsmotiv des verwandelt Erwachenden auf Kafkas Erzählung Die Verwandlung an (Bartsch 1997, 96), und die Erzählung Ein Wildermuth weist mit ihrer »Gegenüberstellung von äußerlich bürokratisch genauer Vorgangsschilderung und implizierter [...] thematische[r] Sinnlosigkeit« deutlich kafkaeske Züge auf (Schulz 1979, 82). Zweifellos ließen sich noch weitere Elemente von Bachmanns intertextuellem Dialog mit Kafka herausarbeiten. Die bislang einzige einschlägige Arbeit (Meyer 2001) weicht auf eine vergleichende Analyse in dem sehr allgemeinen Horizont moderner Identitätsproblematik aus: In Bachmanns Erzählungen Probleme Probleme, Unter Mördern und Irren und Ein Wildermuth werde wie in Kafkas Erzählungen Das Urteil und Die Verwandlung die »historische, soziale und/oder ideologische Konstruiertheit« personaler Identität entlarvt (Meyer 2001, 3; zu Malina vgl. Eberhardt 2002, 294). Besser erforscht ist Bachmanns Interesse am Werk Marcel Prousts (vgl. zu Bachmanns Proust-Ausgaben TKA 3.1, 943), dem sie anlässlich der deutschen Übersetzung seines Hauptwerks A la recherche du temps perdu 1958 einen Radio-Essay gewidmet hat. In den
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
Frankfurter Vorlesungen fungiert Prousts Recherche dann u. a. als paradigmatisches Beispiel für jene entscheidende »Veränderung« im Verhältnis von Subjekt und Geschichte in der Moderne, die Bachmann auf die Formel bringt, »daß [das Ich] sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält« (KS, 299; W 4, 230). Bachmanns Proust-Lektüre schließt zwar an Ernst Robert Curtius, Walter Benjamin und André Maurois an, erlangt Eigenständigkeit jedoch in der thematischen Akzentuierung des Baron de Charlus als des modernen »homme traqué« (KS, 224; W 4, 160), »des gejagten, gehetzten Menschen«, in der Hervorhebung der »Metaphorik des Krieges« als eines »Krieges im Frieden« und der indirekten Darstellung des Ersten Weltkriegs in Paris sowie in der eigentümlichen Rückführung der Proustschen Mystik auf »die ungeheure Schärfe der Wahrnehmung« (Kaiser 1993, 329–336). Indem Bachmann die »›Mystik‹ der mémoire involontaire souverän übergeht« und »sich von der ›Mystik‹ des darin begründeten Kunstabsolutismus distanziert«, wird Proust ihr »zu einem bestimmenden Autor, weil er auf die Krise der Erfahrung unter den Bedingungen einer sich in Katastrophen entladenden Moderne durch die Analyse der ›Geschichte im Ich‹ (W 4, 230) eine wesentliche Antwort gab« (Kaiser 1993, 334, 330). Aus »der spezifischen historischen Perspektive des Nachkriegs« ersetzt sie Prousts ›mémoire involontaire‹ durch ein historisch-moralisches Konzept der »Erinnerung aus oder als Zwang« (Weigel 1999, 207, 209). Damit verbindet sich auch ein Widerruf von Prousts »holzschnittartige[r] Dissoziation des erotischen und des ästhetischen Begehrens am Ende der Recherche« (Kaiser 1993, 330). Nicht zufällig spielt Bachmann in ihrer Kritik der Gewalt im Geschlechterverhältnis immer wieder auf den Titel von Prousts Roman Sodom und Gomorra an (vgl. die Erzählungen Ein Schritt nach Gomorrha und Zeit für Gomorrha sowie TKA 3.1, 368), der »die Korrespondenzen zwischen der dämonischen Sphäre der Liebe und dem Krieg« symbolisiert (Weigel 1999, 209; vgl. Solibakke 1985). Indem Bachmann Proust »von dem früh rezipierten Musil her« liest (Kaiser 1993, 330), wird sein großer Romanzyklus zu einem der literarhistorischen Modelle für ihr eigenes Projekt einer umfassenden literarischen Sittengeschichte der Zeit in den Todesarten. Wichtiger als gelegentliche Anspielungen auf Teile und Motive der Recherche in Malina (TKA 3.1, 71, 368, 372, 512) ist für die produktive Nachwirkung der Proust-Lektüre daher die strukturelle Analogie
der Werke: die Verknüpfung von Zeitkritik und Subjektthematik in der Darstellung der »Geschichte im Ich«. In ähnlichem Sinne konnte schon in den Sujets und der zyklischen Anlage des Erzählbandes Das dreißigste Jahr eine intensive Auseinandersetzung mit Proust nachgewiesen werden (Kaiser 1993; dazu kritisch Eberhardt 2002, 57). Bachmanns literarischer Dialog mit der Literatur der europäischen Moderne bedarf zweifellos noch weiterer, systematischerer Erforschung, wobei die kanonischen Autoren nicht unbedingt die wichtigsten sein müssen. Dies zeigt etwa das Beispiel James Joyce, der zwar in der Frankfurter Vorlesung über den »Umgang mit Namen« neben anderen für die Verunsicherung des Verhältnisses von Identität und Sprache in der ›klassischen‹ Moderne steht (KS, 322; W 4, 248) und in seiner kanonischen Bedeutung auch im Todesarten-Projekt verschiedentlich erwähnt wird (TKA 1, 135, 433; Bachmann 2017, 36, 251; TKA 4, 27), zu dem Bachmann jedoch nicht mehr als ein distanziertes Verhältnis entwickelt: Im Gegensatz zu Proust habe es bei Joyce für sie »immer nur zur Achtung, aber nie zum plaisir gereicht« (Brief vom 1.12.1956 an Siegfried Unseld, zit. nach Weigel 1999, 205). So spielt beispielsweise auch Joyces Konzept der Epiphanie (des zumeist ästhetisch vermittelten mystischen Augenblickserlebnisses) in Bachmanns Werk nicht die gleiche Rolle wie Musils ›anderer Zustand‹. Zum weiteren intertextuellen Horizont der europäischen Moderne in Bachmanns Werk gehören beispielsweise der Roman Zeno Cosini des italienischen Autors Italo Svevo, dem Bachmann hinsichtlich der Dekonstruktion des Ich im modernen Erzählen eine wichtige Rolle zumisst (KS, 297 f.; W 4, 227 f.; vgl. Larcati 2006, 88 f.), und Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht, die Bachmann durch ihr radikal authentisches Ich fasziniert hat (KS, 291 f.; W 4, 221 f.; vgl. Höller 1987, 161) und in Malina ein Reflexionsmodell für die symbolische Reise des Ich »der untersten Nacht entgegen« darstellt (TKA 3.1, 296). William Faulkner, dessen Hauptwerk The Sound and the Fury in den Frankfurter Vorlesungen die Dekonstruktion der Namensgebung in der modernen Literatur exemplifiziert (KS, 325 f.; W 4, 251 f.), bildet in Malina auch eine der Folien für die Erinnerungsarbeit des Ich (s. Kap. 13), und die Darstellung lesbischer Liebe in der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha weist »auffällige Parallelen« zu der Erzählung Geneviève von André Gide auf, den Bachmann auch in ihrer Vorlesung über »Das schreibende Ich« erwähnt (KS, 294; W 4, 224 f.; Schneider 1999, 224). Schließlich finden sich im Gold-
39 Klassische Moderne
mann/Rottwitz-Roman sowie in der Erzählung Drei Wege zum See die Spuren von Bachmanns Lektüre D. H. Lawrences. Die Anspielungen auf dessen Werke Lady Chatterley’s Lover (TKA 1, 426; Bachmann 2017, 240), The Woman Who Rode Away (TKA 4, 374), Ein moderner Liebhaber (TKA 1, 387; Bachmann 2017, 240; vgl. TKA 1, 603) und Der Hengst St. Mawr (TKA 4, 424, vgl. 633) belegen Bachmanns Auseinandersetzung mit Lawrences Geschlechterdiskurs. Zu erwähnen sind auch die intertextuellen Bezüge zu Heinrich Mann (TKA 1, 433; Bachmann 2017, 251; vgl. TKA 1, 605), Hans Henny Jahnn (KS, 302 f.; W 4, 233 f.; vgl. Schneider 1999, 284), Ödön von Horváth (TKA 1, 441; Bachmann 2017, 263; vgl. TKA 1, 606; TKA 3.1, 701), Hermann Broch (KS, 269; W 4, 198; vgl. Beck 1988) und Alfred Döblin (TKA 1, 433; Bachmann 2017, 251; vgl. TKA 1, 605). Quellen
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Dirk Göttsche
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
40 Deutschsprachige Literatur nach 1945 Wenngleich sich die Quellenlage in jüngster Zeit deutlich verbessert hat, dürfte Bachmanns Position im Beziehungsgeflecht der deutschsprachigen Literatur nach 1945 durchaus noch nicht erschöpfend untersucht worden sein. Die Autorin selbst hat sich meist in die Tradition der literarischen Moderne gestellt und SchriftstellerInnen ihrer Zeit unter diesem Aspekt selten erwähnt. Doch kam in den letzten Jahren mit der Publikation von Korrespondenzen (Wolfgang Hildesheimer, Hans Werner Richter, Peter Szondi, Alfred Andersch u. a.) bzw. der Öffnung von Nachlässen bislang nicht bekanntes zeitgenössisches Material in den Blick, und inzwischen sind die ersten Bachmann-Briefwechsel verfügbar (mit Hans Werner Henze 2004, Paul Celan 2008, und Hans Magnus Enzensberger 2018). Weitere sind angekündigt (u. a. Uwe Johnson, Heinrich Böll, Max Frisch; s. Kap 22), so dass eine noch konkretere Verortung von Bachmanns Werk im Kontext der Nachkriegsliteratur möglich wird.
Paul Celan (1920–1970) Die weitaus größte Aufmerksamkeit zumindest der deutschen Bachmann-Rezeption – inzwischen durch das Wissen um die komplizierte Liebesbeziehung der beiden Schriftsteller noch intensiviert – gilt seit langem dem Lyriker und Übersetzer Paul Celan, den die Autorin 1948 in Wien kennengelernt hat (Bachmann/Celan 2008). Von der Bedeutung, die den Manifestationen dieser Beziehung beigemessen wird, zeugt nicht zuletzt eine dem Briefwechsel gewidmete Konferenz im Dezember 2012 in Paris (Wimmer 2014, 3). Als solche sind die »poetischen Korrespondenzen« zwischen Bachmann und Celan allerdings seit langem bekannt, denn Bezüge zwischen den Gedichten wurden bereits in den 1960er Jahren untersucht (z. B. Oppens 1963), und auch die inzwischen berühmten Zitate aus Celans Werk in Bachmanns Roman Malina (1971) sind schon bald nach der Veröffentlichung entdeckt worden (Thiem 1972, 242 f.). In den 1980er Jahren wuchs die Zahl der ›Fundstücke‹ weiter (Riedel 1981; Oelmann 1980; Kann-Coomann 1988 u. a.), und in jüngerer Zeit ist der Stellenwert, dem Celan für Bachmanns Werk zugemessen wird, noch einmal stark gestiegen (u. a. Weigel 1995;
Böttiger 1996; Böschenstein/Weigel 1997; Weigel 1999; Höller 1999; Höller/Stoll 2008; Wimmer 2014). In der deutschen Germanistik scheint das Interesse an den »poetischen Korrespondenzen« BachmannCelan die Konzentration auf die poststrukturalistisch-feministischen Ansätze der 1980er Jahre abgelöst zu haben, die ihrerseits die zentralen Themen der erste Phase der Bachmann-Rezeption (Sprachthematik, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein) in den Hintergrund gedrängt hatten. Die Geschichte des »literarischen Dialogs« zwischen Celan und Bachmann beginnt, so der Konsens, mit der Begegnung der beiden Schriftsteller im Wien der Nachkriegszeit, erstreckt sich über mehr als zwei Jahrzehnte und wird von Bachmann noch über Celans Tod hinaus weitergeführt (z. B. Weigel 1995, 126; Höller 1999, 59). Hans Höller schreibt dem Beginn von Bachmanns literarischem Dialog mit Celan den Stellenwert einer »tiefgreifenden[n] Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« zu (Höller 1999, 59); Helmut Böttiger hat aus der »Legende« in dem Roman Malina eine »Initiationsszene« zu einem neuen Verständnis von Dichtung herausgelesen (Böttiger 1996, 90). Eine zentrale Rolle in diesem »literarischen Dialog« spielen jene in den Band Mohn und Gedächtnis eingegangenen frühen Gedichte, die Celan durch die handschriftliche Zueignung »f. D.« nachträglich Bachmann gewidmet haben soll (Höller/Stoll 2008, 237). Der größte Teil der Verweise auf Celan in dem Roman Malina betrifft auch gerade diese Gedichte, konkreter in der »Legende« »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran«, deren Schluss wie aus CelanZitaten komponiert erscheint. Die gegenseitigen Bezugnahmen in den literarischen und poetologischen Texten betreffen darüber hinaus »auch Codeworte bzw. -zeilen und Leitmotive gemeinsamer Bezugspunkte in der Literatur- und Philosophiegeschichte« (Weigel/Böschenstein 1997, 8), die insgesamt als »Chiffren« gedeutet werden, »deren Bedeutung in einer [...] Rückübersetzung von Literatur in Leben nicht aufgeht« (Weigel 1999, 412). In diesem Sinne lässt sich in den Korrespondenzen beispielsweise ein gemeinsamer Bezug auf frühromantische Motive ablesen, die von beiden »sowohl als Utopien einer untergegangenen Welt aufgerufen, als [...] auch auf das hier und jetzt angewandt werden«. Im »Gegeneinanderführen« dieser Motive eröffnete sich für Bachmann und Celan ein »Freiraum, in dem sich Dichtung nach Auschwitz konstituieren kann« (Schmaus 1998, 114). Bei der Frage nach Gemeinsamkeiten in der Poetologie der beiden Schriftsteller gehen die
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_40
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Meinungen allerdings auseinander. Sigrid Weigel spricht von einer »feine[n] Differenz zu seiner Poetologie« (Weigel 1999, 433); Höller hingegen sieht größere und auch grundsätzlichere Unterschiede, die er im Sinne divergierender Auffassungen von der gesellschaftlichen Funktion der Literatur bei Bachmann und Celan deutet (Höller 1999, 63; vgl. auch Höller/ Stoll 2008, 238). Ob es sich bei dieser »poetische Korrespondenz« tatsächlich auf Bachmanns Seite um eine »Dauerspur« handelt (Weigel 1995, 125), scheint allerdings zweifelhaft, da die »Spur« tatsächlich immer wieder für größere Zeiträume verschwindet. In diesem Sinn ist nicht zu übersehen, dass sich etwa die »Präsenz von Celans Dichtung in Malina« (Weigel/Böschenstein 1997, 7) lediglich dem zeitlichen Zusammentreffen der späten Arbeitsphase an dem Roman Malina mit Celans Freitod Ende April 1970 verdankt (Kommentar TKA 3.2, 799, 855). In diesem Zusammenhang wäre nicht zuletzt auch zu fragen, warum Bachmann, nachdem dieser Tod zunächst noch einmal zu einer intensiven Reaktivierung des früheren »Dialogs« geführt hat, dann schließlich ihr Exemplar von Mohn und Gedächtnis mit den persönlichen Widmungen Celans verschenkt (Koschel 1997, 17). Derzeit stehen Fragen im Mittelpunkt des Interesses, die aus der spezifischen Konstellation einer »Philosophie studierende[n] Tochter eines früheren österreichischen Mitglieds der NSDAP« und eines »staatenlose[n] Jude[n] deutscher Sprache aus Czernowitz« erwachsen (Wiedemann/Bardiou 2008, 215) – verkürzt auch »Tätertochter und Opfersohn« genannt (Stoll 2013, 95) –, wobei auf Bachmanns Seite unter anderem auch der »Widerstand und die Ausbruchsversuche aus den persönlichsten Zumutungen der Folgen der Shoah« in den Blick geraten sind (Höller/Stoll 2008, 234). Bezeichnenderweise scheinen Bachmann und Celan selbst bei ihrer gegenseitigen Bezugnahme unterschiedliche Akzente gesetzt zu haben: »während Celans Gedichte [...] überwiegend Anspielungen auf Begegnungen mit Bachmann, auf Gespräche und auch auf Differenzen enthalten, antworten Bachmanns Texte eher auf seine Dichtung und auf seine Poetologie« (Weigel/Böschenstein 1997, 11). Vergleichbares trifft auch für eine andere und durchaus kontinuierlichere »poetische Korrespondenz« zu, die ebenfalls – diesmal von der anderen Seite – über den Tod des Korrespondenzpartners hinaus weitergeführt wurde, für Bachmanns literarischen Dialog mit Max Frisch.
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Max Frisch (1911–1991) Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Werk Max Frischs ist zu ihren Lebzeiten in der Literaturwissenschaft nicht thematisiert worden, und erst knapp ein Jahr nach ihrem Tod (und noch vor der Veröffentlichung von Frischs Erzählung Montauk [1975], in der der Autor die Beziehung selbst publik gemacht hat), war in der Schweizer Zeitschrift Die Tat zu lesen, der Roman Malina sei als »literarische Revanche für Max Frischs Mein Name sei Gantenbein« zu verstehen (Toman 1974, 21). Untersuchungen der 1970er und 1980er Jahre knüpften hier an (Probst 1978; Jurgensen 1981; Schmitz 1985), und in der Folge wurde Bachmanns späte Prosa als »Gegenentwurf« und als »eine menschliche und ästhetische Auseinandersetzung mit Max Frisch« gelesen (Probst 1978, 109). Im Jahr 1989 erschienen Klaus Haberkamms Essay über »Bachmanns Erzählung [Alles] im Diskurs mit Max Frischs Roman Homo faber« (Haberkamm 1989) und als erste größere Untersuchung die Studie »Die andere Seite« (Albrecht 1989), auf die noch weitere Aufsätze folgten (Albrecht 1992; Albrecht 1995). Mit Blick auf die weitere Forschung urteilt Peter Wöhrle, der »Standard, den [die] methodisch reflektierten Überlegungen [in »Die andere Seite«] hätten setzen können«, sei »in den folgenden Jahren von Sauthoffs Arbeit (1992) und Bauers Studie (1998)« wieder »unterschritten« worden (Wöhrle 2011, 37). Wöhrle selbst ist, wie zuvor schon Joachim Eberhardt (2002, 422), skeptisch gegenüber der »Intertextualitätsfalle« und Fragen nach »Bezug oder Einfluss« (Wöhrle 2011, 18, 426) und plädiert stattdessen für die Herausarbeitung gemeinsamer »Problemkonstellationen« (ebd., 15 u. ö.). Mit den Versuchen, die »poetische Korrespondenz« zwischen Bachmann und Frisch vor dem Hintergrund genauer Werklektüren ernst zu nehmen, stehen Eberhardt und Wöhrle allerdings mit dem Rücken zur Bachmann-Forschung, in der eine Mischung aus Ignoranz und Herablassung Frisch gegenüber vorherrscht (vgl. kritisch Haas 2003). Maria Behres Verdikt, »Frischs Leistung liegt nicht auf der Höhe« etwa der von »Celan« (Behre 1992, 213), brachte in den frühen 1990er Jahren auf den Punkt, was bis heute weite Teile der Bachmann-Forschung bestimmt. Hier ist ein Umdenken dringend nötig. Dies gilt auch hinsichtlich der politischen Standorte, wenn Bachmann z. B. unreflektiert die radikalere Position zugeschrieben wird – gegenüber einem Frisch, der als »maßvoll[er]« Politik- und Gesellschaftskritiker missverstanden wird (Weigel 2016, 32;
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
vgl. auch Hartwig 2017, 81; Weigel 2014, 22). Es gibt »wenige große Schriftsteller, über die heute so klischierte Vorstellungen zirkulieren wie über Frisch« (von Matt 2010, 192), und dazu gehört das Phänomen des politisch »oft zu milde verstandenen Frisch« (Schneider 2011). Schon während seiner Beschäftigung mit dem Städtebau (etwa 1954 in achtung: Die Schweiz; Frisch 1976, Bd. III.1) entwickelte Frisch seinen »Standort« eines »sozialistischen Humanismus« vom Ende der 1940er Jahre (Frisch 1998, 93) zu einer konkreter sozialistischen Position weiter. So stellte er in der Öffentlichkeit immer wieder die Eigentumsfrage und dachte über eine sozial- und wirtschaftspolitische »Alternative zum Bestehenden« nach (Frisch 1990, 251), die er »demokratischen Sozialismus« nannte (Frisch 1972, 26). Neokoloniale Unternehmen seiner Zeit wie der Vietnamkrieg waren für ihn »systembedingte Verbrechen« (Grote 1973), und in dieser Zeit war er der Auffassung, dass »die Probleme, die das Zeitalter stellt [...], innerhalb des bisherigen Profitsystems unlösbar« seien (Frisch 1976, Bd. VI.2, 503). Bachmann dagegen folgte in ihrer Wiener Zeit dem ›kalten Krieger‹ Hans Weigel in Ansichten wie jener, dass »der P. E.N-Club und der Verband demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs kommunistisch unterwanderte Vereine seien« (McVeigh 2016, 208), und auch mit ihren an die McCarthy-Ära erinnernden Römischen Reportagen aus der Mitte der 1950er Jahre hat sie noch die Bedürfnisse des Kalten Krieges bedient (Lennox 2006, 303). Dagegen fallen die wenigen Reflexionen über Sozialismus und Kommunismus (vgl. etwa KS, 371–373) und eine »Beschäftigung [...] mit dem historischen Materialismus« (GuI, 42) in die gemeinsame Zeit mit Max Frisch, während die vielzitierte Äußerung, sie »glaube nicht an diesen Materialismus, an diese Konsumgesellschaft, an diesen Kapitalismus« (GuI, 143), erst auf den Juni 1973 datiert wird. Die Herabwürdigung Frischs geht mit einer »bedauerliche[n] Unkenntnis« seines Werks einher, die zu »Fehlschlüssen« und »schiefen Einschätzungen auf der ganzen Linie« führt (von Matt 2013). Seit der Veröffentlichung seiner Briefe an Celan kommen auch abfällige Bemerkungen über seinen Charakter hinzu, etwa wenn ihm mangelnde Sensibilität und eine »spezifisch Schweizer Ahnungslosigkeit« (Weigel 1999, 449) im Hinblick auf Celans Reaktion auf die Rezension seiner Sprachgitter durch Günter Blöcker unterstellt wird (vgl. »Hitlerei, Hitlerei, Hitlerei«; Bachmann/Celan 2008, 169, 171). Frisch hat Celans »Kränkung« jedoch nicht simplifizierend »auf eine
allgemeine, für Schriftsteller notorische Eitelkeit und auf gekränkten Ehrgeiz zurückgeführt« (Weigel 2014, 21). Er verweigerte nur die bedingungslose Solidarität, die Celan von ihm forderte, und bestand darauf, »dass es zwischen Menschen so, wie es zwischen Ihnen und mir kommen würde, wenn ich Ihnen einfach recht gebe, nicht geht« (Bachmann/Celan 2008, 170). Dass Jugendfreunde Celan bereits vor der traumatischen Erfahrung der Shoah als »von mimosenhafter Empfindsamkeit, narzisstischer Eitelkeit« erlebt haben, »unduldsam, wenn ihm etwas gegen den Strich ging« (Silbermann 1993, 56), konnte Frisch dabei noch nicht wissen. Doch nach genauer Lektüre der fraglichen Rezension und Celans Antwort kam er zu dem Schluss, dass wir uns, »wenn wir ins Politische denken wollen«, »ablösen [müssten] von allen Fällen, die sich vermischen können mit dem Problem, wie wir uns zur literarischen Kritik überhaupt verhalten« (Bachmann/Celan 2008, 170 f.). Was mit ›Ablösung‹ gemeint war, formulierte ein nicht abgeschickter Brief deutlicher: »Denn wäre in Ihnen, mit Bezug auf diese Kritik, auch nur ein Funke gekränkter Eitelkeit, so wäre ja die Nennung der Todeslager, scheint mir, unerlaubt, ungeheuerlich« (169). Auch wenn Frisch dem aufgebrachten Adressaten diese hellsichtige Formulierung letztlich nicht zugemutet hat, so war er doch nicht bereit, »ohne Frage zu glauben, dass Sie, lieber Paul Celan, vollkommen frei sind von Regungen, die mich und andere heimsuchen, Regungen der Eitelkeit und des gekränkten Ehrgeizes« (171). Während sich die Bachmann-Forschung mit »einem Mann wie Frisch« (Stoll 2013, 204, 214) schwertut, lassen sich die Spuren nicht übersehen, die Bachmann selbst in ihren Texten hinterlassen hat – ob man sie nun als Intertextualität werten will, als »verblüffende Parallelen« (Eberhardt 2002, 365), als »wechselseitige Anregungen« (Bircher 2000, 62) oder als verwandte Problemkonstellationen, die gleiche oder ähnliche Bilder hervorbringen (Wöhrle 2011, 15 u. ö.). Tatsächlich spricht allein die Zahl der bislang bekannten Zitate und Zitatparaphrasen, der Bezugnahmen oder »Antworten« für sich (Jurgensen 1981, 99 f.; Schmitz 1985, 115–118, 123, 173; Albrecht 1989, 11 f., 13, 76, 79, 81, 100, 104, 132–134, 136 f., 157, 159–165, 168–171, 173, 175–179, 327, 356–359; Haberkamm 1989, 612–635; Albrecht 1992, 283; Albrecht 1995, 140 f., 143, 152). Deren Zahl ist auch deutlich höher als beispielsweise jene der Bezugnahmen auf Celan. Bachmanns Auseinandersetzung mit einem der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller ihrer Zeit hat zudem bereits begonnen, bevor die beiden sich
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kennenlernten. Im März 1958, also noch bevor Max Frisch sich »beim Sender in Hamburg das Hörspiel [Der gute Gott von Manhattan] vorführen« ließ, um danach brieflich den ersten Kontakt aufzunehmen (Frisch 1976, Bd. V.1, 676), hatte Marie Luise Kaschnitz durch Bachmann von Frischs im Herbst zuvor erschienenem Roman Homo faber gehört (Kaschnitz 2000, 612). Bachmanns literarischer Dialog mit Frischs Werk erstreckt sich danach (mindestens) von ihrem ersten Erzählband Das Dreißigste Jahr bis zu ihren letzten Prosatexten vom Beginn der 1970er Jahre. Als zentrale Chiffre für die Verarbeitung privater Erfahrung kann dabei das Datum »3. Juli 1958« in dem Roman Malina stehen (TKA 3.1, 588; W 3, 254), das den Tag bezeichnet, an dem sie Frisch in Paris kennengelernt hat (Albrecht 1989, 61–63). Werkgenetisch hat dieses Datum einen Vorläufer in der Sitznummer »37« des Wüstenbusses in dem Mitte der 1960er Jahre entstandenen Wüstenbuches (TKA 1, 243; vgl. Albrecht 1995, 139 f.), in dem Datum »3. Juli«, an dem Fanny Goldmann Anton Marek kennenlernt (TKA 1, 303; Bachmann 2017b, 95; WA 3, 404), und inzwischen ist auch ein Gedichtentwurf mit dem Titel An jedem dritten des Monats veröffentlicht worden (Bachmann 2000, 51). Der autobiographische Aspekt stellt jedoch nur einen kleinen Ausschnitt der Verweise auf Frisch dar, und dieser Befund ist auch nach der Publikation Unveröffentlichter Gedichte (Bachmann 2000) nicht zu revidieren. Denn diese scheinbar nur um die private Beziehung kreisenden Gedichtentwürfe zeigen vor allem die Arbeit an bestimmten Codeworten und Motiven, die auch in den parallel dazu entstandenen Prosatexten (Wüstenbuch, Das Buch Franza, Malina) in immer neuen Varianten erprobt wurden. Das weite Spektrum von Zitaten und Zitatparaphrasen lässt insgesamt an eine komplexe »Antwort« auf Max Frischs Werk denken, wobei das ›letzte Wort‹ der Malina-Figur auf der letzten Seite des Romans: »Mein Name? Malina« (TKA 3.1, 694; WA 3, 337), zu den auffälligsten Hinweisen gehört. »Mit dieser Wortfolge und der Pause dazwischen hält die Autorin Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein ihr eigenes Buch entgegen« (Höller/Larcati 2016, 65). Zu den deutlichen Bezugnahmen gehören auch die Ausführungen »über Männer« in Malina als satirische Replik auf die entsprechenden Erörterungen »über Frauen« im Gantenbein-Roman (Albrecht 1989, 133–143), oder die Kernprämisse der Todesarten-Poetologie von den »subtilen Verbrechen« der modernen Gesellschaft, bei denen »kein Blut« fließt »und das Gemetzel [...] innerhalb des Erlaubten und der Sitten« stattfin-
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det (TKA 2, 78; vgl. auch W 3, 342). Dieser Gedanke findet sich auch in Max Frischs Roman Stiller aus dem Jahr 1954, dessen Protagonist nach eigenen Aussagen seine »Gattin ermordet« hat (Frisch 1976, Bd. III.2, 384): »Es gibt allerlei Arten, einen Menschen zu morden, oder wenigstens seine Seele, und das merkt keine Polizei« (476). Vor allem in ihrem Roman Malina hat Bachmann – oft an exponierter Stelle – deutliche Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Werk Max Frischs gesetzt. Der Schlussmonolog der Malina-Figur etwa (TKA 3.1, 693 f.; W 3, 337) liest sich wie aus paraphrasierten Frisch-Zitaten komponiert (Albrecht 1989, 168–171), die im Vorkapitel erzählte Suche nach der Figur Malina wie in Anlehnung an die »Montage der Figur Gantenbein« (Mayer 1964, 319) gestaltet (Albrecht 1989, 173–175), und auch die Zeit- und Ortsangabe zu Beginn des Romans Malina (»Zeit Heute / Ort Wien«; TKA 3.1, 276; W 3, 12) scheint auf ein Werk Max Frischs anzuspielen (Albrecht 2004, 101). Die Hinweise am Anfang und am Ende des MalinaRomans bilden damit einen Rahmen, in dem sich Bachmanns literarische Auseinandersetzung mit seinem Werk in Malina entfaltet. Trotz vieler Gemeinsamkeiten deutet die Art und Weise, wie Bachmann zu Frischs Werk in Beziehung tritt, auf Kritik vor allem an dem Erzählverfahren des Romans Mein Name sei Gantenbein und an jener Poetik der »Geschichten von außen« (Haberkamm 1982), die in der Formel »Ich probiere Geschichten an wie Kleider« im Roman präsent gehalten wird (Frisch 1976, Bd. V.1, 22). Bachmanns Kritik an dieser Poetik scheint sich zu einem allegorischen Bild zu verdichten, wenn das Ich im letzten Traum des zweiten Kapitels von Malina aus kritischer Distanz – sie stehen »weit auseinander« – zusieht, wie die Vaterfigur »in einem fort die Kostüme« wechselt (TKA 3.1, 563; W 3, 234). Vor diesem Hintergrund wäre allerdings zu fragen, wie sich Bachmanns eigene Versuche mit dem »offen-artistischen« Erzählverfahren Max Frischs (Gockel 1976) in den Kontext ihrer Kritik am Gantenbein-Roman einfügen (vgl. im ersten Todesarten-Roman die »offen-artistische« Einleitung TKA 1, 89, sowie 92, Z. 5–29; 93, Z. 26–94; 94, Z. 1–2; 99, Z. 13–17). Von Interesse wären weitere Untersuchungen gemeinsamer Bezugspunkte in der Geistesgeschichte (Wöhrle 2011) – etwa zu Bertolt Brecht, mit dem Frisch in der Nachkriegszeit befreundet war und dem er vielfältige Anregungen für seine Theaterarbeit verdankt. Bachmanns nachhaltiges Interesse an Brecht lässt sich in den 1950er Jahren in der Korrespondenz
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – C Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren
mit den Verlegern verfolgen (KS, 625) und zeigt sich in den 1960ern in ihrer Absicht, eine Anthologie von Brechts Gedichten herauszugeben (KS, 624). Die Tatsache, dass sich sowohl Bachmann als auch Frisch in ihren Reflexionen über die nicht unter Strafe gestellten Verbrechen der modernen Gesellschaft auf Brechts Me-ti. Buch der Wendungen beziehen (Brecht 1995, 90), könnte sich als ein Anhaltspunkt für eine solche gemeinsame Referenzfigur in der Literaturgeschichte erweisen (zum Verhältnis von Bachmanns Lyrik zu Brecht vgl. Höller 1999, 78). Ein weiterer gemeinsamer Bezugspunkt des intellektuellen Horizonts von Bachmann und Frisch, der durch die Konzentration auf Bachmanns Heidegger- und Wittgenstein-Rezeption bislang nicht in den Blick gekommen ist, könnte sich aus einer Anspielung auf die religionsphilosophisch-psychologische Schrift Die Krankheit zum Tode des Existenzphilosophen Søren Kierkegaard ergeben (TKA 1, 323, 600; W 3, 513; Bachmann 2017b, 116), der bekanntlich von zentraler Bedeutung für Frischs Werk gewesen ist. Auch Bachmanns bislang kaum beachtete Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoirs Roman L ’ invitée (1943; deutsch Sie kam und blieb, 1953) in der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha (Retif 1987) wäre vor dem Hintergrund von Frischs Werk zu betrachten. In ihrer »umfassende[n] [...] Gesamtdeutung von Max Frischs Roman« Homo faber in Alles einerseits (Haberkamm 1989, 622) und Frischs Auseinandersetzung mit Beauvoirs Studie Das andere Geschlecht in eben diesem Roman Homo faber andererseits (Lubich 1990, 53 f.) zeichnet sich ein komplexer literarischer Dialog ab (Wöhrle 2011, 354). In diesem Zusammenhang ist ein biographisches Detail von Interesse: Marianne Frisch-Oellers erinnert sich, dass Beauvoirs Das andere Geschlecht zu den ersten Gesprächsthemen gehörte, als sie 1962 zusammen mit ihrem damaligen Freund Tankred Dorst in die gemeinsame römische Wohnung von Bachmann und Frisch eingeladen war (vgl. Bircher 2000, 100). Offensichtlich war es Anfang der 1960er Jahre im Bekanntenkreis des Schriftstellerpaares üblich, Simone de Beauvoirs Thesen zu diskutieren – auch dies also ein Ansatzpunkt für eine bislang wenig beachtete Schnittstelle des intellektuellen Horizonts von Bachmann und Frisch. Anlässlich einer Veranstaltung im Suhrkamp-Verlagshaus zum Auftakt der neuen Salzburger Bachmann Edition hat der Herausgeber Hans Höller bekannt geben, dass es (2017) noch vier Jahre dauern würde, bis dieser Briefwechsel publiziert wird (Kilb 2017). Max Frisch selbst hat in einem (erst 2011 ver-
öffentlichten) Interview vom September 1982 – nach dem an der ETH Zürich eingerichteten Max FrischArchiv gefragt – angegeben, dass »die BachmannBriefe [...] gesperrt [sind], ihr und mir zuliebe. Ein großartiger Briefwechsel. Eine Auseinandersetzung über Lyrik und Prosa findet darin allerdings nicht statt« (Frisch 2011, 232). Ein weites Feld neuerer Auseinandersetzungen hat sich in jüngster Zeit jedoch auch schon durch die ersten Bände der Salzburger Bachmann Edition und den Band Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag eröffnet (Höller/Larcati 2016). Allerdings geisterte die Vorstellung, dass Frisch »der Mann« gewesen sei, der Bachmann »zerstörte« (Struck 1993, 66), immer schon durch biographistische Auseinandersetzungen. Der Erkenntniswert ist also gering, wenn in den Traumprotokollen, die jetzt im ersten Band der Edition, Male Oscuro, veröffentlicht sind, der Name »Max Frisch« stand, im zweiten Kapitel des Malina-Romans jedoch dann »mein Vater«. Leider nimmt der dazugehörige Kommentar die neuere Frisch-Forschung nicht zur Kenntnis. So bleibt, um nur eins von vielen Beispielen zu nennen (vgl. Albrecht 2020), etwa die bekannte Geschichte von Frischs »Tagebuch«, die der Autor in Montauk selbst erzählt hat – Bachmann habe es in der »Wohnung, Haus zum Langenbaum, [...] in einer verschlossenen Schublade« gefunden, »gelesen und verbrannt« (Frisch 1976, Bd. VI.2, 717) –, in den Kommentaren der beiden ersten Bände der Salzburger Bachmann Edition auf eben diesem Informationsstand des Jahres 1975 (Bachmann 2017a, 107; Bachmann 2017b, 312). Zu diesem Detail der Bachmann-Frisch-Geschichte hätten sich ebenso wie zu zahlreichen anderen mehr Informationen zusammentragen lassen – etwa dass dieses Tagebuch »nur das Frühjahr 1959« betraf, dass Frisch es »hauptsächlich im Krankenhaus geschrieben« hat, »unter Beschädigungen, unter Infusionen«, nachdem er im Mai 1959 an einer schweren Gelbsucht erkrankt war, und dass es unter der Annahme einer bevorstehenden Trennung entstand, da Frisch damals glaubte, dass es sich um die »letzte Zeit« drehte, die sie »miteinander hatten«. In dem Interview, dem diese Informationen entstammen, gab Frisch zudem an: »Ich hoffe, dass sie es wirklich vernichtet hat, dass es nicht irgendwo in ihrem Archiv liegt. Ich habe die Vernichtung ja nicht mit eigenen Augen gesehen. Sie hat es mir erzählt. Das Vernichten war ein Zornesakt, unverhältnismäßig, aber emotional verständlich. Ich glaube es ihr. [...] obschon natürlich die Frage bleibt, ob sie das Recht dazu hatte« (Frisch 2011, 232).
40 Deutschsprachige Literatur nach 1945
Andere Vertreter und Vertreterinnen der deutschsprachigen Literatur nach 1945 Celan und Frisch, diese herausragenden und in ihrer Bedeutung für Bachmanns Werk relativ gut erforschten Gestalten der deutschsprachigen Literatur nach 1945, sind nur zwei in einer langen Reihe von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die Bachmann durch ihre Bücher und/oder auch persönlich gekannt hat. Ob mit einer Bekanntschaft oder Freundschaft auch eine – wie auch immer geartete – Auseinandersetzung mit dem Werk des jeweiligen Kollegen oder der Kollegin einhergeht, wäre jedoch jeweils am Einzelfall zu prüfen. So könnte der um das Titelmotiv komponierte Rom-Essay Zugegeben vom Ende der 1960er Jahre auf den Eingang des Romans Die Blechtrommel (1959) anspielen, der mit diesem Wort beginnt. Aber auch wenn Bachmann ein Exemplar dieses Romans mit einer persönlichen Widmung von Günter Grass besaß, auch wenn sie in dem 1967 entstandenen Essay über Leo Lipski ebenfalls auf Die Blechtrommel anspielt (KS, 765) und das Verfahren literarischer Zyklusbildung der Todesarten nicht nur an Balzacs Romanzyklus La comédie humaine, sondern auch an Grass’ Danziger Trilogie (1959–63) denken lässt, ist doch fraglich, ob sich hinter diesen Bezugnahmen eine eingehende Auseinandersetzung verbirgt. Dies dürfte für viele solcher Zitate und Zitatparaphrasen gelten, doch ist ebenso nicht auszuschließen, dass in Zukunft »poetische Korrespondenzen« aufgedeckt werden, wo sie zur Zeit noch nicht vermutet werden. Der Hinweis auf ein »Mäusefest« in dem Roman Malina etwa könnte in diesem Sinne von Interesse sein (TKA 3.1, 359; W 3, 72), da die Titelerzählung des Bandes Mäusefest und andere Erzählungen (1965) von Johannes Bobrowski in dem Laden eines alten Juden unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen spielt (Bobrowski 1965, 9–13). Der Resonanzraum des Romans Malina ist damit auf durchaus adäquate Weise erweitert. Wenn Bobrowski, den Bachmann 1960 kennengelernt hat, in der Bachmann-Forschung bislang noch keine Rolle spielt, zeugt dies ja nur von anders gelagerten Interessenschwerpunkten. Die derzeit bekannten Spuren von Bachmanns Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur betreffen zumeist Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die die Autorin persönlich gekannt hat. Aus der Literaten- und Künstlerszene ihrer Wiener Zeit 1946–53 (Heimito von Doderer, Milo Dor, Reinhard Federmann, Rudolf Felmayer, Hermann Hakel, Wolfgang Kudrnofsky, Walter Toman u. a.) scheint
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neben Hans Weigel (vgl. McVeigh 2016) vor allem Ilse Aichinger von besonderer Bedeutung und »in den Jahren um 1950 für Ingeborg Bachmann eine Art Leitfigur« gewesen zu sein (Hapkemeyer 1990, 33; vgl. auch McVeigh 2016, 130). Parallelen sind besonders zwischen Bachmanns früher Erzählung Das schöne Spiel und Aichingers Roman Die größere Hoffnung aus dem Jahr 1948 gesehen worden (Weigel 1999, 61), und Aichingers Roman ist auch für Bachmanns lyrisches Werk von zentraler Bedeutung (Höller 1999, 44). Mit Bachmanns Anschluss an die Gruppe 47 im Jahr 1952 wächst die Zahl der deutschsprachigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ihrem Bekanntenkreis (Alfred Andersch, den sie in den 1950er Jahren häufig sieht, wäre hier etwa zu nennen), und mit ihren Wohnortwechseln kommen bald danach auch noch weitere Kreise hinzu: der erste ›römische Kreis‹ deutschsprachiger Schriftsteller und Künstler, der sich Anfang der 1950er Jahre im Café Doney und im Café Greco trifft (Gustav René Hocke, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Kesten u. a.), daran anschließend der ›Münchener Kreis‹ (Wolfgang Hildesheimer, Hans Egon Holthusen, Dieter Lattmann u. a.), bald danach wieder Rom, Zürich, dann ein ›Berliner Kreis‹ (Günter Grass, Walter Höllerer, Uwe Johnson, Hans Werner Richter, u. a.). In den frühen 1950er Jahren war neben den Arbeiten von Ilse Aichinger sicherlich das Werk von Günter Eich für Bachmann ein Bezugspunkt; ihr Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen etwa ist von »Eichs erfolgreichem Hörspiel ›Träume‹ inspiriert« (Höller 1999, 47 f.). In einem Interview aus dem Jahr 1956 nennt sie neben Heinrich Böll, mit dem sie eine vertrauensvolle Freundschaft verband, auch Günter Eich unter den Freunden, die ihr »wertvoll sind« (GuI, 21). Für die späten 1950er Jahre zeugt Bachmanns Brief an Wolfgang Hildesheimer zu seinen Stücken Spiele, in denen es dunkel wird von einem intensiven poetologischen Gedankenaustausch mit dem befreundeten Kollegen (Weigel 1999, 470 f.), und in den 1960er und 1970er Jahren verfolgte Bachmann die Entwicklung von zwei österreichischen Kollegen. Zwar hat sie Peter Handkes Auftritt bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton im Frühjahr 1966 nicht selbst miterlebt, doch bald danach taucht in ihrem Goldmann/Rottwitz-Roman ein Handke-Porträt in der Gestalt des jungen Schriftstellers Klaus Jonas auf, der »mit einem Pamphlet die ganze etablierte Literatur vor den Kopf gestoßen hatte« (TKA 1, 340; W 3, 529). Die zunehmende Berühmtheit des jungen Kollegen reflektiert Bachmann später in der Erzählung Drei Wege zum See (TKA 4, 436; W 2, 458),
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und Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972) hat ihr so großen Eindruck gemacht, dass sie in einem Interview kategorisch erklärte, darüber habe man keine Kritik zu schreiben (GuI, 126). Im selben Interview erwähnt sie auch ihren Landsmann Thomas Bernhard (ebd.), der zu den wenigen Schriftstellern gehört, denen sie in den 1960er Jahren literaturkritische bzw. essayistische Texte widmete (KS, 453–457; W 4, 361– 364). Ein vergleichender Blick auf das Werk von Bachmann und Bernhard galt bereits den Aspekten ›mythenreiche österreichische Vorstellungswelt‹ und ›ererbter österreichischer Albtraum‹ (Hoell 2000, 9). Eine neue Konstellation hat sich vor kurzem mit der Veröffentlichung des Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger eröffnet (s. Kap. 20), über die die Forschung im Einzelnen noch befinden wird. Auffällig sind widersprüchliche (oder auch sich verändernde) Positionen in den Privatbriefen einerseits und öffentlichen Kundgebungen andererseits. So scheint Enzensberger, bevor die Korrespondenz mit seinem Brief vom November 1957 begann, Bachmanns Arbeit gegenüber eher kritisch gewesen zu sein, wovon in den Briefen dann wenig zu spüren ist. Ende September 1957 bei der Tagung der Gruppe 47 am Starnberger See in einer Diskussion über ihr Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil hat er beispielsweise generelle Einwände gegen die Entwicklung der Kollegin: »Es sind eben für Ingeborg Bachmann einfach sanftere Tage gekommen, ich möchte fast sagen, weichere. Und, ja, vielleicht kann man darüber nicht rechten, oder vielleicht ist das gar keine Kritik mehr, aber ich muß sagen, die härteren waren mir lieber« (zit. nach Schutte 1988, 86). Jahre später scheint Enzensberger auch auf ein zentrales Statement von Bachmann zu ›antworten‹, die in einer Aufnahme des Bayerischen Rundfunks mit dem Pathos der 1950er Jahre erklärt hat: »Wir müssen wahre Sätze finden, die unserer eigenen Bewußtseinslage und dieser veränderten Welt entsprechen« (GuI, 19). Anfang der 1960er Jahre erklärt Enzensberger eine solche Bemühung zumindest für fragwürdig und wendet anhand eines konkreten Beispiels (»unsere Epoche sei auf die Namen Auschwitz und Hiroshima getauft«) gegen »wahre Sätze« ein: »Es hört sich, zwanzig Jahre nach dieser Taufe, bereits wie ein Gemeinplatz aus dem kulturkritischen Feuilleton an. Wahre Sätze werden heute abgeschabt, ehe sie sich entfalten können, und behandelt wie kurzlebige Konsumgüter, die sich beliebig wegwerfen und durch jüngere Modelle ersetzen lassen« (Enzensberger 1964, 18). Wenn er ihr in einem Privatbrief von 1963 dagegen rät, »schreib alles was wahr ist auf« (Bachmann/
Enzensberger 2018, 139), dann schreibt er als Freund, der in einer Krisensituation helfen möchte: »ich bitte dich, nimm keine tabletten mehr, und [...] greif [...] zu dem papier und der maschine« (ebd.).
Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) Die Spur zumindest einer potentiellen ›Korrespondenzpartnerin‹ im ›literarischen Dialog‹ erscheint hingegen deutlicher als viele der oben genannten Zeitgenossen: die von Marie Luise Kaschnitz, die allerdings bislang nur unter biographischem, noch nicht unter intertextuellem Gesichtspunkt Beachtung gefunden hat. Kaschnitz gehörte zu Bachmanns erstem römi schen Kreis, der sich regelmäßig im Café Doney und im Café Greco traf, und in ihren literarischen Texten und Tagebüchern sind auch des Öfteren private Treffen erwähnt, beispielsweise im Mai 1956, wenn sie einen Besuch bei Bachmann und Henze in Neapel notiert (Kaschnitz 2000, 559). Die freundschaftliche Beziehung der beiden Schriftstellerinnen hat die verschiedenen Wohnsitze in den 1960er Jahren überdauert, und Kaschnitz gehörte wie Johnson in dieser Zeit zu jenen Freunden, denen Bachmann während ihrer Reisen ihre römische Wohnung überließ (Kaschnitz 1981–89, Bd. 3, 122–124). Aus solchen langjährigen Beziehungen erwachsen auch gemeinsame persönliche Bezugspunkte. So bezeichnete Kaschnitz den Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld »in einer Mischung von heiterer Sympathie, zärtlicher Ironie und aufrichtiger Anerkennung nie anders als den ›großen Siegfried‹« (Gersdorff 1992, 283). Mit diesem Namen ist Unseld bekanntlich auch in das Traumkapitel des Romans Malina eingegangen (TKA 3.1, 505; W 3, 177). Die Spuren des ›literarischen Dialogs‹ sind auf beiden Seiten durchaus vielfältig. Bachmann erwähnt Kaschnitz unter einer Handvoll zeitgenössischer Lyriker in ihrer zweiten Frankfurter Vorlesung (KS, 278; W 4, 206–208), und in ihrem in der ersten Zeit der persönlichen Bekanntschaft entstandenen Essay Was ich in Rom sah und hörte lässt sie nicht einfach ein Kind, sondern »ein dickes blondes Kind« auftreten (KS, 146; W 4, 30) und spielt damit auf die wohl berühmteste Erzählung von Marie Luise Kaschnitz an. Später wird sie der Schwägerin ihrer Romanfigur Eka Kottwitz/ Aga Rottwitz denselben Spitznamen »Baby« geben (TKA 1, 394 u. ö.; W 3, 542; Bachmann 2017b, 205 u. ö.), mit dem auch die Frau von Marie Luise Kaschnitz’ Neffen Michael Freiherr Marschall von Bieberstein in Rom gerufen wurde (Kaschnitz 2000, 926).
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Darüber hinaus deuten alle Anzeichen darauf hin, dass zwischen Bachmann und Kaschnitz auch ein Austausch über die schriftstellerische Arbeit stattgefunden hat – etwa in dem Prosaband Tage, Tage, Jahre, wo es heißt: »I. B. erzählte mir, dass eine Episode ihres neuen Buches von einer chinesischen Geschichte angeregt sei« (Kaschnitz 1981–89, Bd. 3, 128; vgl. Kaschnitz 2000, 612). Im Mai 1962 hat Bachmann offenbar ein Manuskript von Kaschnitz gelesen, das 1963 unter dem Titel Wohin denn ich veröffentlicht wurde (Kaschnitz 2000, 822). Dieser Text dokumentiert nicht nur Kaschnitz’ Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Mannes, hier fand sie – wie viele Schriftsteller zu Beginn der 1960er Jahre – erstmals auch deutliche Worte für die bis dahin immer noch weitgehend verdrängte NS-Vergangenheit. So beschäftigt sie in diesem Buch nicht zuletzt der »Gedanke, dass die Grausamkeit, die damals mit so offenem Hohn gewaltet hatte, nicht wie durch einen Zauberschlag verschwunden sein könne, dass sie noch irgendwo lauere, bereit hervorzubrechen und völlig sicher, ihre Opfer zu finden« (Kaschnitz 1981–89, Bd. 2, 434). In diesem Sinne wird auch Bachmann einige Jahre später fragen, »wohin der Virus Verbrechen gegangen ist – er kann doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unsrer Welt verschwunden sein« (TKA 2, 77; vgl. auch W 3, 341). Auch wenn die literarischen Werke und das schriftstellerische Selbstverständnis der beiden Autorinnen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich erscheinen, fällt doch eine Reihe von Bezügen auf, die an eine »poetische Korrespondenz« denken lässt. So geht es beispielsweise sowohl in Bachmanns Erzählung Ihr glücklichen Augen als auch in Kaschnitz’ Erzählung Die Schlafwandlerin um das Nicht-Sehen-Wollen, wobei das Motiv bei Bachmann allerdings in erster Linie in der Nachfolge Georg Groddecks unter psychologischem Gesichtspunkt entfaltet wird, während bei Kaschnitz die poetologische Dimension im Vordergrund steht. Ein weiterer Bezugspunkt ist die beiden Autorinnen gemeinsame Skepsis gegenüber der beginnenden ›sexuellen Befreiung‹ in den 1960er Jahren. In der Erzählung Rosamunde hat Bachmann den Niederschlag diesbezüglicher Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas als »Aufklärungswahn« bezeichnet, mit dem »die Illustrierten [...] die Leute [...] mehr als je zuvor [verblödeten]« (TKA 4, 37), und Anfang der 1970er Jahre karikierte sie diesen Trend in den Medien in ihrer Erzählung Probleme Probleme: »Doppelmord in Stuttgart. Sicher eine gräßliche Gegend [...]. Sex in Deutschland. Das war sicher noch ärger«
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(TKA 4, 183; W 3, 336; »Sex in Deutschland« war tatsächlich am 2. Mai 1966 die Titelstory der Zeitschrift Der Spiegel). Sowohl Bachmann als auch Kaschnitz sahen in dem, was als ›sexuelle Befreiung‹ gefeiert wurde, in erster Linie die Gefahr eines Verlustes (vgl. Kaschnitz 1981–89, Bd. 7, 912: »[...] nichts mehr von dunklem Geheimnis [...]«). Darum ist es auch Bachmann in ihrem Roman Malina zu tun, wenn sie »Illustrierte«, »Zeitungen«, »Kino« und »Bücher« kritisiert (»verschwinden soll jedes Geheimnis«; TKA 3.1, 307; W 3, 35) und vor diesem Aspekt der Ich-Ivan-Beziehung demonstrativ »die Tür« schließt und »den Vorhang fallen« lässt, »um ein Tabu wiederherzustellen« (TKA 3.1, 305; W 3, 33). Interessanterweise scheint sich Bachmann dieser Position keineswegs immer so sicher gewesen zu sein, wie offenbar angenommen wird (denn die Tatsache, dass das erste Kapitel von Malina bis kurz vor der Drucklegung »Glücklich schlafen mit Ivan« hieß [TKA 3.1, 299], hat die Forschung ja bislang nicht irritiert). Einige der posthum veröffentlichten Gedichtentwürfe belegen, dass die Autorin durchaus auf der Suche nach Ausdrucksweisen für den tabuisierten Bereich war. Im Malina-Roman bleibt es jedoch wieder bei Andeutungen wie »Das also ist deine Religion« (TKA 3.1, 327; W 3, 48; vgl. dagegen Mit einem Dritten sprechen in Bachmann 2000, 74–79), und, in einem Interview nach Erscheinen des Romans darauf angesprochen (»Die Sexualität wird in der Schilderung dieser Liebesbeziehung ganz ausgeklammert. Warum eigentlich?«), stellt sie kategorisch fest: »Weil es darüber nichts zu sagen gibt. Das gehört in die Intimität von zwei Personen« (GuI, 68). Dass sich hier eine grundsätzliche Problematik anderer Art auftut, scheinen allerdings weder Bachmann noch Kaschnitz gesehen zu haben. Denn erst in den 1970er Jahren sahen sich jüngere Schriftstellerinnen damit konfrontiert, dass wer »über sexualität« schreiben will, »wort um wort und begriff um begriff an der vorhandenen sprache« aneckt (Stefan 1975, 3). Für Bachmann und Kaschnitz hat sich diese Problematik noch nicht als eine sprachliche dargestellt; sie konnten sich noch auf das Diskretionspostulat und auf das Schamgefühl zurückziehen, mit dem sie aufgewachsen waren. Wichtig war beiden Schriftstellerinnen das »Phänomen der Liebe – wie geliebt wird« (GuI, 109), und vor allem hier dürfte es lohnenswert sein, die Gemeinsamkeiten und Differenzen von Bachmann und Kaschnitz zu untersuchen. Denn in der Art und Weise, wie in Kaschnitz’ Liebe beginnt (1933), dem frühen Roman »über das Verhältnis von Weiblichkeit, Phantasie und Schrei-
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ben« (Stephan 1984, 122), eine Liebesbeziehung dargestellt wird, finden sich viele Parallelen zu der IchIvan-Beziehung in Bachmanns Malina. Im Vergleich dieser im Abstand von fast vier Jahrzehnten erschienenen Romane ließen sich jene Topoi von Weiblichkeit als solche herausarbeiten, die sich als Erbe des bürgerlichen 19. Jahrhunderts auf dem Umweg über die ›restaurativen‹ 1950er Jahre noch bis in die Zeit der Arbeit an Malina gehalten haben und die Bachmann bei der Inszenierung der Geschlechterrollen in diesem Roman zum Einsatz bringt. In dem Literaturverständnis der beiden Autorinnen dürften sich allerdings mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten finden, und einmal scheint Kaschnitz sich diesbezüglich sogar öffentlich von Bachmann abzugrenzen. In dem 1964 für Anna Achmatowa geschriebenen Gedicht Wahrlich hatte Bachmann gefordert: »Einen einzigen Satz haltbar zu machen, / auszuhalten in dem Bimbam von Worten« (W 1, 166). Ob Kaschnitz, die sich im Lauf ihrer Schriftstellerkarriere immer wieder genötigt sah, die ihr eigene Art zu schreiben zu verteidigen, sich von diesen Zeilen getroffen fühlte, muss Spekulation bleiben. Immerhin setzte sie gegen Bachmanns abqualifizierendes »Bimbam von Worten« ein anderes »bim bam«, mit dem sie ironischtrotzig auf ihrer eigenen Schreibweise besteht: »Ich sehe und höre, reiße die Augen auf und spitze die Ohren, versuche, was ich höre, zu deuten, hänge es an die große Glocke, bim bam« (Kaschnitz 1981–89, Bd. 7, 827). Der Text ist dann allerdings doch nicht in den noch zu Bachmanns Lebzeiten erschienenen Prosaband Orte (1973) eingegangen, sondern erst aus dem Nachlass von Marie Luise Kaschnitz bekannt geworden. Quellen
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Monika Albrecht
41 Bachmann und die ›Weltliteratur‹ ihrer Zeit
41 Bachmann und die ›Welt literatur‹ ihrer Zeit »Früher glaubte ich, alle Bücher, die es gibt, würden für mich nicht ausreichen«, sagte Ingeborg Bachmann im Mai 1973 in einem Interview. »Aber man hebt sich manches für später auf, in der asiatischen Literatur, da bin ich abgesehen von einigen Hauptwerken noch nicht sehr weit« (GuI, 125). Gerade dieses Beispiel macht deutlich, dass die notwendige Selektion aus dem ständig wachsenden Fundus der Weltliteratur nicht nur privaten Kriterien unterliegt. In den 1950er und 1960er Jahren war es ja – anders als etwa in der Generation der Expressionisten – nicht üblich, in der asiatischen Literatur Leseschwerpunkte zu setzen. Erst gegen Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren, also in der Zeit dieses Interviews, ist »auf dem Umweg über Amerika« das Interesse an asiatischen Denkweisen wieder aktualisiert worden (Reif 1973, 117). Tatsächlich sind in Bachmanns Bibliothek so gut wie keine Titel aus der asiatischen Literatur erhalten. Aber auch aus der schwarzafrikanischen Literatur, die sich in den 1960er Jahren dank der »Literaturvermittler Janheinz Jahn und Rolf Italiaander« zunehmender Beliebtheit erfreute (Ehling/Ripken 1997, 7), scheint Bachmann so gut wie keine Titel besessen zu haben. Mit Blick auf ihre ›Entdeckung‹ der ›Dritten Welt‹ im Umfeld der Arbeit am Buch Franza ist Aimé Césaires »Stück über Patrice Lumumba« Im Kongo erwähnenswert, das sie in der deutschen Übersetzung von 1966 besaß. Die in den 1960er Jahren populär werdende lateinamerikanische Literatur ist mit einigen wenigen Titeln etwa von Jorge Luis Borges und Pablo Neruda in Bachmanns Bibliothek vertreten. Insgesamt sind jedoch – ohne dass hier einer systematischen Untersuchung von Bachmanns Bibliothek vorgegriffen werden kann – bereits bei einem kursorischen Überblick eindeutige Schwerpunkte bei der Literatur Europas und der USA zu erkennen, wobei nicht zuletzt der Kalte Krieg einschließlich seiner Folgen auf dem Buchmarkt eine Rolle spielen dürfte. Zudem wurde der Begriff ›Weltliteratur‹ in Bachmanns Zeit noch nicht unter jenen Vorzeichen diskutiert, die er heute im Kontext der Globalisierung angenommen hat (vgl. etwa Damrosch 2003; Mufti 2016; Cheah 2016; und kritisch Mecklenburg 2012). Persönliche Kontakte zur Weltliteratur ihrer Zeit, allerdings auch da vornehmlich der europäischen, dürften sich für Bachmann besonders auf internationalen Literaturfestivals wie etwa dem »Festival zweier Welten« in Spoleto (Umbrien)
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ergeben haben, das Bachmann im Sommer 1965 offenbar erstmals besuchte, oder auch vom »London Poetry Festival«, wo sie am 15.7.1967 auf Einladung des englischen Schriftstellers Ted Hughes las. Auch wenn Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen »Blok und Majakowski und [...] Pasternak« unter den zeitgenössischen Lyrikern nennt (KS, 271; W 4, 200), scheint sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. die Widmung »Für Anna Achmatowa«; W 1, 166), die Gegenwartsliteratur des damaligen ›Ostblocks‹ wenig zur Kenntnis genommen und stattdessen die großen russischen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bevorzugt zu haben. Nach dem Tod des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz, den Bachmann in Berlin kennengelernt hat, wurde sie gebeten, für die Zeitschrift Cahier de l’Herne einen Beitrag zu seinem Gedenken zu verfassen (vgl. Weigel 1999, 454– 459), der jedoch Fragment geblieben ist (KS, 481–485; W 4, 326–330). Allerdings geht Bachmann in diesem Text nicht auf Gombrowicz’ literarische Arbeit ein – anders als im Fall des in Israel lebenden Polen Leo Lipski, dessen Erzählung Piotruš sie für »außerordentlich« hielt (vgl. Kommentar zu KS, 617). Der im Sommer 1967 für die Zeitschrift Der Spiegel geplante, fragmentarisch gebliebene Essay charakterisiert den Ich-Erzähler als »ferne[n] Verwandte[n] der Beckettgestalten« (KS, 449) und stellt nicht zuletzt ein »Zeugnis« von Bachmanns »Auseinandersetzung mit der Sprachsi tuation im zeitgenössischen Israel zwischen Iwrit und den Herkunftssprachen« dar (Weigel 1999, 496). In einem frühen Entwurf zu dem Roman Malina hat die Figur Malina »heute Hikmet gelesen« (TKA 3.1, 9), also ein Buch von Nazim Hikmet, einem führenden Repräsentanten der modernen türkischen Literatur.
Bezüge zur italienischen Literatur Obwohl Bachmann viele Jahre lang in Italien gelebt hat, ist die italienische Literatur in ihrer Bibliothek insgesamt mit nur knapp über hundert Titeln vertreten – halb so häufig wie beispielsweise die französische. Andreas Hapkemeyer und Maria Chiara Mocali haben in den frühen 1990er Jahren damit begonnen, »Bachmanns Kontakte mit der italienischen Welt aufzuzeigen« (Mocali 1993, 25), und bereits zahlreiche Namen genannt: »Zu den italienischen Freunden und Bekannten zählen die Schriftsteller Giorgio Manganelli, Giancarlo Vigorelli, Alberto Moravia, Elsa Morante« (Hapkemeyer 1990, 130; zu Morante vgl. auch Henze 2000, 157). Bachmann hat bei ihren Verlegern
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_41
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immer wieder Übersetzungen italienischer Gegenwartsliteratur angeregt, und umgekehrt haben italienische Autoren sich auch an sie gewandt, wenn sie in das Verlagsprogramm aufgenommen werden sollten. Das bekannteste Beispiel für Bachmanns Engagement in Sachen italienischer Literatur ist ihre Übersetzung von Gedichten Giuseppe Ungarettis, dem sie auch einen fragmentarisch gebliebenen Essay gewidmet hat (KS, 469–477; W 4, 331–332). Als der Piper Verlag für das Jahr 1960 eine Übersetzung des italienischen Lyrikers Salvatore Quasimodo plante (neben Ungaretti eine weitere herausragende Gestalt dieser Zeit), war Bachmann als Gutachterin gefragt: »Im Quasimodo habe ich länger gelesen«, schreibt sie am 4.11.1959 an Klaus Piper, »man kann den Auswahlband durchaus machen. Vielleicht sollte man auch den Aufsatz in den Band übernehmen, den er dem Band ›Il falso e vero verde‹ beigefügt hat. (›Discorso sulla Poesia‹)«. Letzterem ist der Verlag jedoch mit dem 1960 erschienenen Band ausgewählter Gedichte (Das Leben ist kein Traum) nicht gefolgt. Im Herbst 1959 scheint Bachmanns besonderes Interesse dem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen einzigen Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa Der Leopard (1958) zu gelten; jedenfalls bittet sie den Piper Verlag darum, »ein Leseexemplar vom ›Leopard‹ [...] an Dr. Peter Szondi« schicken zu lassen (Brief vom 10.10.1959 an Reinhard Baumgart). Einige Spuren von Bachmanns Rezeption der neueren italienischen Literatur sind in ihrem Werk bereits nachgewiesen worden; zu den Fundstücken gehört in dieser Hinsicht beispielsweise die Anspielung auf den Titel des 1963 erschienenen Romans von Carlo Emilio Gadda La cognizione del dolore in dem Roman Malina (»Die erste Erkenntnis des Schmerzes«; TKA 3.1, 295; W 3, 25). Gadda war auch in der in französischer, englischer, deutscher und italienischer Sprache erscheinenden Literaturzeitschrift Botteghe Oscure vertreten, als Bachmann im Jahr 1954 zum ersten Mal dort veröffentlichte (vgl. Hapkemeyer 1983, 63). Dieser mehrsprachigen Zeitschrift scheint die Autorin großen Wert beigemessen zu haben; sie hat dort nicht nur selbst wiederholt publiziert, sondern offensichtlich auch befreundete Kollegen (wie beispielsweise Anfang 1957 Heinrich Böll) zur Mitarbeit zu gewinnen versucht. Barbara Agnese ist dem Hinweis auf einen anderen Romantitel, »Das Krematorium von Wien«, in dem Mühlbauer-Interview des Malina-Romans nachgegangen (TKA 3.1, 396; W 3, 99; vgl. Kommentar in TKA 3.2, 947), der auf eine Sammlung kurzer, auch in Bachmanns Bibliothek erhaltener Prosatexte mit dem
Titel Il crematorio di Vienna (1969) von Goffredo Parise (1929–1986) verweist, »ein dem italienischen Publikum besser bekannter Autor, der im deutschen Sprachraum bisher wenig wahrgenommen wurde« (Agnese 2004, 39). Gemeinsame Schwerpunkte der beiden Autoren sieht Agnese vor allem in einem Interesse an dem begründet, was Bachmann die ›zweite Nachkriegszeit‹ nannte, von der man im Gegensatz zu der ersten »nie etwas« hörte (TKA 3.1 598; W 3, 261 f.). Auch könne »in vielerlei Hinsicht« von Bachmanns Nähe zu einem anderen italienischen Schriftsteller gesprochen werden, Eugenio Montale (1896– 1981), den Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen (KS, 271; W 4, 200), »wie es [auch] in Italien üblich ist«, zusammen mit Guiseppe Ungaretti erwähnt. Hier sei vor allem wegen »ihres engen Verhältnisses zur Musik und wegen ihrer Reflexionen über das Handwerk des Dichters« von einer »Affinität« zu sprechen (Agnese 2004, 42).
Bezüge zur französischen Literatur Im Traumkapitel des Malina-Romans reißt das Ich dem Vater »voller Haß die französischen Bücher aus der Hand, denn Malina hat sie mir gegeben« (TKA 3.1, 511; W 3, 183). Wie ihre weibliche Hauptfigur dürfte auch Bachmann selbst eine besondere Beziehung zu »französischen Büchern« gehabt haben, wofür nicht zuletzt der Bestand von insgesamt über 200 Titeln in ihrer Bibliothek spricht. Die in den 1950er Jahren allgegenwärtige Auseinandersetzung mit den französischen Existentialisten hat ihren Niederschlag nicht zuletzt in Bachmanns Funkeinrichtung von Albert Camus’ Schauspiel L ’ état de siège (1948) gefunden, das im Oktober 1958 unter dem Titel Belagerungszustand ausgestrahlt wurde. Während jedoch die meisten Hauptwerke von Camus in Bachmanns Bibliothek erhalten sind, ist Jean-Paul Sartre, der zweite wichtige Vertreter des französischen Existentialismus, dort nur mit »Drei Essays« (»Die Transzendenz des Ego«) in einem Band aus dem Jahr 1964 vertreten. Allem Anschein nach entspricht »dieses Ungleichgewicht« allerdings auch »dem Profil ihres literarischen Dialogs mit dem französischen Existentialismus«, etwa wenn »Bachmann Sartres explizit politischem Konzept der engagierten Literatur ihr an Robert Musil entwickeltes Verständnis der ›Literatur als Utopie‹ entgegenstellt« (Göttsche 2004a, 107 f.; vgl. KS, 329; W 4 255). Dagegen befand sie sich in Bezug auf Camus »im Einklang« mit seiner Rezeption in Deutschland,
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die Sartres »kontroversem Konzept einer ›littérature engagée‹ und seinem Marxismus positiv die ideologieskeptische und moralische Ausrichtung von Camus’ Werk entgegenstellte« (Göttsche 2004a, 108; vgl. Rahner 1993, 145, 149). In diesem Sinne können, wie Dirk Göttsche (2004a und 2004b) im Detail nachgezeichnet hat, auch die ›Antworten‹ auf Sartres und Camus Werke vor allem in der Erzählung Das dreißigste Jahr verstanden werden, etwa in der »Erkundung des komplexen Verhältnisses von Freiheit und Ordnung ›im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen‹ (W 4, 276), die zugleich als skeptischer Gegenentwurf zum heroischen Existentialismus Sartrescher Prägung gelesen werden kann«, während der Schluss von Bachmanns Erzählung wiederum in Anlehnung an Camus Der Mythos von Sisyphos gestaltet zu sein scheint (Göttsche 2004a, 110 f.): »Es kommt der Tag, da stellt der Mensch fest, daß er dreißig Jahre alt ist. [...] Er erkennt, daß er sich an einem bestimmten Punkt einer Kurve befindet, die er – dazu bekennt er sich – durchlaufen muß« (Camus 1971, 17). Vor diesem Hintergrund ließen sich auch in anderen Werken der 1950er Jahre Bezugnahmen auf Camus erkennen, etwa in dem Gedicht Alle Tage, das in seinem »anarchische[n] Bruch mit der herrschenden Ordnung [...] deutlich an Camus’ Essay Der Mensch in der Revolte« erinnert, und vor allem stellt sich jenes Theaterstück von Camus, das Bachmann 1958 für den Rundfunk bearbeitet hat, Der Belagerungszustand, »als intertextuellen Folie von Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan dar« (Göttsche 2004a, 113 f.). Gegen Mitte der 1960er Jahre im Kontext der Arbeit an ihrem Todesarten-Projekt wird Bachmann dann jedoch den »Resonanzraum des französischen Existentialismus« verlassen (ebd., 116). In ihrem Werk finden sich auch zahlreiche Anspielungen auf andere französische Autoren ihrer Zeit, etwa in der letzten Frankfurter Vorlesung, die sie – ebenfalls »mit der existentialistischen Geste des ›Dennoch‹« (Göttsche 2004, 108) – mit einem Satz »von dem französischen Dichter René Char« beendete: »Auf den Zusammenbruch aller Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft« (KS, 349; W 4, 271). Die Zitatparaphrase entstammt einem Gedichtband von Char, der 1959 in der Übersetzung von Paul Celan erschienen ist (W 4, 388). Bachmann scheint diesen bedeutenden zeitgenössischen Autor, den sie »als den jüngsten der Franzosen« unter den »zeitgenössische[n] Lyriker[n]« auch in der Vorlesung »Über Gedichte« erwähnte (KS, 271; W 4, 200), auch persönlich kennengelernt zu haben, denn der eben genannte
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Band in ihrer Bibliothek trägt die Widmung »René Char«. In ihrem ersten Todesarten-Roman erwähnt Bachmann den französischen Lyriker und Prosaisten Henri Michaux in einem Atemzug mit Helmut Heißenbüttel (TKA 1, 135; Bachmann 2017, 36), einem deutschen Vertreter der experimentellen Literatur, und dies wohl nicht ganz zu Unrecht, zumal Heißenbüttel selbst das Nachwort zu einer deutschen Übersetzung von Vents et poussières geschrieben hat (1962; deutsch Wind und Staub, o. J.), die sich mit zahlreichen anderen Büchern von Henri Michaux in Bachmanns Bibliothek befindet. Ein Hinweis darauf, dass Bachmann die Arbeit der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras zur Kenntnis genommen hat, findet sich im Umfeld der Verfilmungspläne ihres letzten Hörspiels; im April 1961 schreibt Bachmann an ihren Lektor Reinhard Baumgart: »Ich kann doch nicht glauben, daß der ›Gute Gott‹ ein Film werden kann, und obwohl ich das Stück ja zwei oder drei Jahre geschrieben habe, ehe die Duras ›Hiroshima‹ geschrieben hat, wird man das Gefühl haben, er sei in dieser Art und natürlich schlechter [...].« Spätestens durch ihre Beziehung zu Max Frisch hat Bachmann auch das Werk von Simone de Beauvoir kennengelernt (s. Kap. 40).
Bezüge zur anglophonen Literatur Das Werk des in Paris lebenden irischen Schriftstellers Samuel Beckett führte Bachmann in der Frankfurter Vorlesung über »Das schreibende Ich« als Beispiel für »die letzten bedrückenden Verlautbarungen des Ich in der Dichtung« an (KS, 306; W 4, 237); in einem Interview aus dem Jahr 1965 hob sie ebenfalls »die Radikalität« hervor, »mit der er das Ich-Problem stellt«, und gab an: »Ich schätze ihn sehr« (GuI, 57). Für Bachmanns lang anhaltendes Interesse spricht zudem die Tatsache, dass die Erscheinungsjahre der zahlreichen Beckett-Ausgaben in ihrer Bibliothek von 1958 bis 1972 reichen. Ob Bachmann einen herausragenden englischen Schriftsteller ihrer Zeit, Wystan Hugh Auden, ebenfalls schätzte, lässt sich zur Zeit schwer beurteilen. Hans Werner Henze, für den Auden wie Bachmann als Librettist gearbeitet hat, erinnert sich, dass sie »in ihrer Berliner Zeit [...] fünf Minuten von Auden entfernt, im Grunewald [wohnte], aber die Herrschaften sahen sich nie« und grüßten sich noch nicht einmal (Henze 2000, 146). Christine Kanz hat allerdings vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass Bachmanns »Hinweis auf Audens langes Gedicht The Age of Anxiety« in einem Brief an Walter Höllerer
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(Bachmann 2002, 47) die Annahme nahelegt, dass sie dieses auch in ihrer Bibliothek in zwei Ausgaben nachgewiesene Versepos »selbst gründlich gelesen hat« (Kanz 2004, 220). In dem Roman Malina weisen »mehrere Textpassagen [...] inhaltlich Ähnlichkeiten« zu Audens Werk auf » (Kanz 1999, 41), wobei »die Parallelen zwischen den jeweiligen männlichen Protagonisten« auffallen (Kanz 2004, 221). »Sie kennt natürlich das ›Alexandria Quartett‹ von Lawrence Durrell«, schreibt Bachmanns damaliger Reisebegleiter auf der Ägyptenreise Adolf Opel, »bei aller Anerkennung der Technik und des inhaltlichen Umfanges [...] hält sich ihre Bewunderung jedoch in Grenzen. Zu den wahren Faszinosa, die Alexandria birgt, gehören für sie die Gedichte und das Leben von Konstantinos Kavafis« (Opel 1996, 76). Dennoch gibt es zwischen Bachmann und dem Engländer Lawrence Durrell eine Reihe von Bezügen, die immer wieder an eine Art Geistesverwandtschaft denken lassen. Eine Szene in Durrells Roman Justine, dem 1957 erschienenen ersten Alexandria-Roman, erinnert beispielsweise auffällig an Bachmanns im selben Jahr 1957 entstandene Erzählung Porträt von Anna Maria: »Ich entsinne mich noch, wie [Justine] vor dem mehrteiligen Spiegel [...] saß [...] und sagte: ›Schau! Fünf verschiedene Bilder von derselben Gestalt. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, würde ich versuchen, eine vieldimensionale Wirkung der Charaktere zu erreichen, eine Art Prismenansicht. Warum sollten die Menschen nicht mehrere Profile gleichzeitig haben?‹« (Durrell 1977, 19). Eben diesen Gedanken haben Bachmann und Durrell in den genannten Texten literarisch verarbeitet. Zudem lässt Durrells multiperspektivisches Zykluskonzept insgesamt immer wieder an Bachmanns Erzählkonzepte denken, etwa an die Versuche mit dem ›offen-artistischen Erzählen‹ im ersten Todesarten-Roman oder an das ›Erzählen in Analogien‹ des Goldmann/RottwitzRomans. Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass die promovierte Philosophin Bachmann den Begriff »Metaphysik« im Goldmann/Rottwitz-Roman in einer durchaus unphilosophischen Weise einsetzt; sie spricht dort von der »Metaphysik eines Menschen« (TKA 1, 392; Bachmann 2017, 203), und zwar genau im Sinne von Lawrence Durrell, der in seinem Rhodos-Buch Reflections on a Marine Venus aus dem Jahr 1953 (deutsch 1968) darüber nachdenkt, »daß Krankheit ihre Wurzeln in einer falschen Metaphysik, einer bestimmten Einstellung zum Leben hat« (Durrell 1988, 25; vgl. zu Bachmann und Durrell auch Diallo 1998a und 1998b). Wenn, wie Opel sich erinnert, das ›wahre Faszinosum‹ für Bachmann der in Alexandria
geborene griechische Lyriker Konstantínos Kaváfis war, dann ist auch zu bedenken, dass Durrell mit seinen Alexandria-Romanen das seine zu dem ›Mythos Kaváfis‹ beigetragen hat. Ob Bachmann den »alten Dichter der Stadt«, wie er dort immer wieder genannt wird (Durrell 1977, 8 u. ö.), den »klugen, ironischen Griechen«, dessen »herrliche Zeilen« Justine zu Beginn des nach ihr benannten Romans rezitiert (ebd., 19), durch Durrells Alexandria-Quartett kennengelernt hat, muss derzeit jedoch offen bleiben. Anlässlich einer USA-Reise hat Bachmann offenkundig den afro-amerikanischen Schriftsteller James Baldwin kennengelernt. Im April 1966, als sich herausstellte, dass sie nicht zur Tagung der Gruppe 47 nach Princeton fahren konnte, schrieb sie an Hans Werner Richter: »Bitte grüß James Baldwin von mir besonders herzlich, ich hätte ihn so gern wiedergesehen!« Die führenden amerikanischen Schriftsteller der Beat Generation »Ginsberg und Ferlinghetti, Burroughs« erwähnt Bachmann als Lektüre der Figur Fanni des ersten Todesarten-Romans (TKA 1, 135; Bachmann 2017, 37; zu den Titeln in Bachmanns Bibliothek vgl. Kommentar in TKA 1, 594). Lawrence Ferlinghetti hat Bachmann Ende Juni 1965 beim »Festival zweier Welten« in Spoleto kennengelernt (Hapkemeyer 1983, 118), Allen Ginsberg beim London Poetry Festival im Juli 1967. Dass sie diese Richtung der amerikanischen Literatur schon früher zur Kenntnis genommen hat, bezeugt ihre Anspielung: »Beatnikgeheul« auf Allen Ginsbergs berühmtes Gedicht Howl (erschienen 1956 in dem Band Howl and Other Poems bei City Light Books, San Francisco) in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung (KS, 268; W 4, 197). Bachmann besaß auch eine Schallplattenlesung von Howl and Other Poems aus dem Jahr 1959. In dem Roman Malina taucht der Begriff »Yagefantasie« auf, der auf die von William Burroughs und Allen Ginsberg verwendete kultische Droge südamerikanischer Indianer anspielt (TKA 3, 365, 941; W 3, 76). Von Ted Hughes erhielt Bachmann den 1965 posthum erschienenen Gedichtband Ariel seiner Frau, der amerikanischen Lyrikerin und Erzählerin Sylvia Plath. Einige Zeit später, nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Sylvia Plaths Roman The Bell Jar (1963; deutsch Die Glasglocke, 1968) entstand Bachmanns fragmentarisch gebliebener Essay Die Glasglocke / Das Tremendum (KS, 450–452; W 4, 358–360). »Vor dem Hintergrund ihrer Arbeit an den Todesarten [...] scheint es nicht zuletzt die Darstellung einer ›Todesart‹ in der komplexen Form eines autobiographisch begründeten Schreibens zu sein, die Bachmann an
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Plaths Roman interessiert hat« (Kommentar in KS, 621). Auf den Titel des Romans Tender is the Night des amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald spielen sowohl ein später Entwurf zu der Erzählung Rosamunde (TKA 4, 41) als auch die Erzählung Simultan an (TKA 4, 111; W 2, 293).
Ausblick Die Fundstücke aus dem Umfeld von Bachmanns Ägyptenreise im Jahr 1964 lassen daran denken, dass die Untersuchung von Bachmanns Beziehung zur Weltliteratur noch weitere Überraschungen bereithalten wird. Auch wenn die Frage offen bleiben muss, ob Bachmann nicht nur den ›Mythos Kaváfis‹, sondern auch das Werk dieses griechischen Dichters kannte, finden sich in ihrem Wüstenbuch Passagen, die an das berühmte poetologische Gedicht Να μείνει von Kaváfis erinnern, dessen deutscher Titel Um zu bleiben der zweisprachigen Auswahl seines Werks im Suhrkamp Verlag den Namen gegeben hat. Gemeinsam ist beiden das Verlangen, flüchtige Schönheit und Vollkommenheit festzuhalten, bei Kaváfis eine erotische Szene in einer Taverne, die im Gedicht ›versteinert‹ wird um ›stehen zu bleiben‹, »um zu bleiben« (»die Vorstellung davon, / sechsundzwanzig Jahre hat sie durchschritten; jetzt kam sie, / um zu bleiben in diesem Gedicht«; Kaváfis 1989, 53), bei Bachmann einerseits ein ›vollkommener Augenblick‹ gelungener Sozialität (»vier schwarze Hände und eine weiße Hand sind abwechselnd im Teller [...], man müßte das Bild versteinern lassen in diesem Augenblick, in dem etwas vollkommen ist«; TKA 1, 281 f.; W 3, 480) und andererseits die ›vollkommene Schönheit‹ des griechischen Liebhabers (»Alkis, Alkis. So viele Male habe ich seinen Namen wiederholt [...], ich könnte nur mit den Nägeln etwas aus dem Papier reißen, mit den Zähnen eine Spur hineindrücken [...]. Er soll hier stehenbleiben, wie er aufgestanden ist, mit der Olivenhaut«; TKA 1, 247). Ein Titel von Konstantínos Kaváfis ist in Bachmanns Bibliothek allerdings nicht erhalten, und auch darüber hinaus ist die neugriechische Literatur mit einer Auswahl der Gedichte des Lyrikers Odysséas Elýtis sowie einer englischen Übersetzung des bekannten SorbasRomans von Níkos Kasantsákis (Βίος και πολιτεία τον Αλέξη Ζορμπά, 1946) insgesamt nur äußerst spärlich vertreten. Angesichts von Bachmanns Plan, für längere Zeit nach Griechenland überzusiedeln, der in den Jahren 1954–56 sehr konkrete Gestalt angenommen hat, mag dies erstaunen; offenkundig lässt sich jedoch von
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Bachmanns Lebenssituation nicht notwendig auch auf Lektüreschwerpunkte schließen. Mit Titeln von Sophokles, Euripides, Aischylos, etc. erinnert wiederum Bachmanns Bibliothek in dieser Hinsicht eher an die des Ich in dem Roman Malina, das seinen einzigen griechischen unter den vielen im Traumkapitel erwähnten Autoren zwar auf Griechisch grüßen kann (»Chaire, Thukydides!«; TKA 3.1, 512; W 3, 184), doch gilt der Gruß einem Griechen, der im fünften Jahrhundert vor Christi gelebt hat. Quellen
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Literatur
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Monika Albrecht
D Kulturwissenschaftliche Perspektiven 42 Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie Studium der Psychologie und weitere Aus einandersetzung mit psychologischen Fra gestellungen Zwei Jahre vor ihrem Tod hob Bachmann ihre enge »Beziehung« zu österreichischen »Autoren« hervor, u. a. auch zu Sigmund Freud (GuI, 80). Schon als Studentin hatte sie Lehrveranstaltungen über Tiefenpsychologie belegt: »Angewandte Psychologie« bei Lambert Bolterauer (Sommersemester 1947), »Psychische Heilmethoden unter besonderer Berücksichtigung der Individualpsychologie« bei Karl Novotny. An ein Praktikum in der Wiener Nervenheilanstalt »Am Steinhof«, das sie im September 1947 im Rahmen ihres Studiums absolvierte, schloss sich im Wintersemester 1947/48 ein »Psychotherapeutisches Praktikum« (Pichl 1986, 171) sowie die »Vorlesung über Psychotherapie« (McVeigh 2016, 53) bei Viktor E. Frankl an, und sie verpasste »selten [...] Frankls öffentliche Vorträge« (ebd., 53). Der aus dem KZ zurückgekehrte Neurologe wurde zum Freund und Berater in persönlichen Krisenzeiten und unterstützte sie bei Kontakten ins Ausland (vgl. 53, 55). Wie u. a. aus Briefen vom Sommer 1948 an den frühen Mentor Hans Weigel hervorgeht (vgl. ebd., 54), beschäftigte sich Bachmann intensiv mit Frankls Ansatz der Logotherapie und Existenzanalyse, der die Sinnfrage des Einzelnen und dessen Selbstverantwortlichkeit ins Zentrum stellt. Sie war mit Freuds wichtigsten Schriften vertraut. Die Annahme bei Uwe Johnson (1974, 7) und Peter Beicken (1988, 45 f.), Bachmann habe Freud ins Italienische übersetzt, konnte bisher nicht verifiziert werden. Ebenso wenig ist geklärt, ob sie den 1963 in einem Brief erwähnten Radio-Essay mit dem Titel Freud als Schriftsteller nur geplant oder auch tatsächlich geschrieben hat (vgl. W 4, 406 f.). Hinter dem Ti-
tel »Psychologie in Purkersdorf« eines am 12.4.1953 ausgestrahlten Hörfunkbeitrags im Rahmen der Unterhaltungssendung Die Radiofamilie verbirgt sich eine von vermutlich insgesamt elf von Bachmann (als alleiniger Autorin) verfassten halbstündigen Episoden im Stil des damals neuartigen Soap Opera-Genres, die sie zwischen Februar 1952 und Juli 1953 für den amerikanischen Besatzungssender Rot-Weiß-Rot (RWR) schrieb. Eine der Hauptfiguren, Guido Floriani, ein ehemaliger, aufgrund seiner Naivität und Tollpatschigkeit rehabilitierter Nationalsozialist, bringt darin immer wieder bekannte pädagogische und psychologische Vokabeln (»Angstfreie Erziehung«, »Aggressionsraum«) oder der Psychoanalyse (»Du hast weder einen Ödipus- noch einen Elektrakomplex«) – zum Teil inkorrekt (»Unterbewußtsein« anstatt wie Freud ›Unbewusstes‹) – an (Bachmann 2011, 275, 276, 277, 282), um mit seinem Halbwissen auf diesen Feldern zu glänzen und es zugleich an seinen Kindern auszutesten. Wie der (durchaus in erzieherischer Absicht) am Ende auftretende Sprecher kritisch resümiert, solle die Psychologie nicht als »Gesellschaftsspiel« missbraucht werden. Der »ganze Testzauber« solle allein den »Wissenschaftlern« vorbehalten bleiben (Bachmann 2011, 288). Wie Joseph McVeigh im Nachwort der von ihm 2011 edierten, erst Mitte der 1990er Jahren entdeckten Radio-Typoskripte hervorhebt, brachte Bachmann in einigen Episoden ihre eigenen Interessen ein, was auch hier der Fall sein dürfte (vgl. Nachwort in Bachmann 2011, 367). Von ihrem persönlichen und wissenschaftlichen Interesse an der Psychoanalyse und Psychosomatik zeugt auch Bachmanns Bibliotheksbestand, zu dem zahlreiche Titel Sigmund Freuds gehören: Neben einem Auswahlband seiner Briefe besaß sie seine Briefwechsel mit Oskar Pfister und Arnold Zweig sowie Ausgaben wie Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur und nicht zuletzt die (teilweise ungeöffnete) »Studienausgabe« in elf Bänden (vgl. Kommentar in KS, 710; Kommentar in TKA 2, 468). Band 6 der Studienausgabe über »Hysterie und Angst« gehörte zu den geöffneten und wegen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_42
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der offenkundigen Verarbeitung psychoanalytischer Angsttheorien in ihrem Todesarten-Projekt (vgl. Kanz 1999) vermutlich auch von Bachmann am meisten rezipierten Bänden. Zu Freud, den sie in Vorrede-Entwürfen zum Buch Franza als »größten Pionier [...], wie historisch er auch geworden sein mag« (TKA 2, 16), bezeichnet, scheint sie eine weitaus intensivere »Beziehung« (GuI, 80) als etwa zu Alfred Adler oder Carl Gustav Jung gehabt zu haben (TKA 3.2, 943 zur Aufzählung in Malina: »Freud, Adler und Jung«; TKA 3.1, 371). Von beiden sind – trotz Bachmanns offensichtlicher Kenntnis der Terminologie vor allem Jungs (TKA 3.2, 957 zu »Animus«, TKA 3.1, 555; »anima« und »meine Dorfelektra«, TKA 2, 7; vgl. auch die Nennung des Schweizer Psychoanalytikers in TKA 4, 42) – keine Titel in ihrer Bibliothek zu verzeichnen. Doch legt die Bestückung mit anderen einschlägigen Werken, wie Otto Ranks psychoanalytischer Studie Sexualität und Schuldgefühl, Richard von Krafft-Ebings Verirrungen des Geschlechtslebens oder Max Prinz zu Löwensteins Traumweisheit und Traumdeutung (vgl. Beicken 1988, 45), Konrad Lorenz’ Untersuchungen Über tierisches und menschliches Verhalten sowie Lorenz’ und Paul Leyhausens Studie über Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens (vgl. Kommentar TKA 2, 468) oder Frankls Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie unter Einschluß wichtiger Grenzgebiete (vgl. Behre 2000, 96) nahe, dass sie über hinreichend fachwissenschaftliche Kenntnisse hinsichtlich psychischer Konflikte verfügte. In ihrer Frankfurter Vorlesung »Über Gedichte« erwähnt sie selbst ihre Lektüre literarischer Texte, die in einem deutlichen Bezug zur Psychoanalyse stehen (KS, 271; W 4, 200). Ein Kenner der Psychoanalyse war z. B. Wystan Hugh Auden, dessen nach dem Zweiten Weltkrieg viel gelesene Ekloge Das Zeitalter der Angst (engl. 1947) sie in gleich zwei Ausgaben besaß. In Malina, neben dem Buch Franza der Text mit dem offensichtlichsten Rekurs auf konkret psychologische bzw. psychoanalytische Fragestellungen, weisen mehrere Passagen Übereinstimmungen mit Audens Text auf (vgl. Kanz 2003). Eine seiner beiden Männerfiguren heißt »Malin« und ist kanadischer Militärarzt in mittleren Jahren. Die männliche Titelfigur in Malina ist vierzig und arbeitet im Wiener Heeresmuseum. Audens an Freuds Methodik der Freien Assoziation orientierte Beschreibung der ›Gespräche‹ von vier sich zufällig nachts in einer New Yorker Bar zusammenfindenden Personen, die mehr monologisieren als kommunizieren und die im Rausch ihre geheimsten Gedanken enthüllen, erinnern an die Gespräche, in denen das ›weibliche Ich‹
zur Analysandin und Malina zum Analytiker wird (TKA 3.1, 634). Mit dem ebenfalls in dieser Vorlesung erwähnten Gustav René Hocke (KS, 280; W 4, 211) teilte Bachmann insbesondere das psychologische Interesse an der Angst. In dem kulturgeschichtlichen Essay »Die Welt als Labyrinth« z. B. hatte Hocke den Manierismus als »Urgebärde« gedeutet, die in der Moderne aus der Unsicherheit und Realitätsangst erwachse (Hocke 1957, 63 ff.). Von dem in den Vorreden zum Buch Franza zusammen mit Freud genannten »unentdeckten Sacher-Masoch« (TKA 2, 16), der in seinen Texten die Verknüpfung von sinnlicher Lust und Schmerzempfindung variierte – jene Spielart der Perversion, die später (1886) von dem Psychiater Richard von Krafft-Ebing als »Masochismus« definiert wurde –, befinden sich die Wiener Hofgeschichten und der Roman Ein weiblicher Sultan in ihrer Bibliothek (vgl. Kommentar in TKA 2, 468). Die Auseinandersetzung der Autorin mit psychologischen Fragestellungen entspricht nicht nur einem zeitgenössischen Phänomen (dem neuerwachten Interesse an der Psychoanalyse vor allem bei den Linksintellektuellen der 1968er-Bewegung), sondern sie besteht lebenslang, und Bachmann war offenbar stets darum bemüht, »ihre Kenntnisse durch fortgesetzte Lektüre [zu] vertiefen. Ihre Beschlagenheit auf diesem Gebiet« soll eigenen Erzählungen zufolge »später so weit« gegangen sein, »daß das Gespräch mit einem Psychiater, zu dem sie sich wegen ihrer Angstzustände in Therapie« begab, »in ein Fachgespräch zwischen zwei Kennern der Materie« umschlug (Hapkemeyer 1990, 27 f.). In der späten Erzählung Drei Wege zum See wird eine ähnliche Situation im Zusammenhang mit Angstanfällen der Protagonistin beschrieben (TKA 4, 409; W 2, 437 f.); doch bereits in ihren frühen Erzählungen hatte sich die Autorin selbst als genaue ›Kennerin der Materie‹ erwiesen. Die 2017, vor Ablauf der offiziellen Sperrung des Bachmann-Nachlasses als »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« publizierten »Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe« aus den frühen und mittleren 1960er Jahren erzählen von eigenen psychischen Krisenerfahrungen. Insbesondere die beiden fragmentarischen Entwürfe zu einem »Bericht an die Ärzteschaft« beinhalten dabei eine kritische Aufwertung der Psychotherapie gegenüber der Schulmedizin (Bachmann 2017, 82–93): Anlässlich der Lektüre des 1964 veröffentlichten italienischen autobiographischen Krankheits-Romans Il male oscuro von Giuseppe Berto betont Bachmann, dass der Protagonist nach
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einer jahrelangen »Odyssee« nicht etwa durch Ärzte, sondern erst durch »die Hand eines Psychotherapeuten »zurücktransportiert« worden sei »ins Leben« (Bachmann 2017, 82 f.). Einige der Notizen und Briefstellen lesen sich zudem wie Vorentwürfe zu späteren Passagen in Bachmanns Todesarten-Projekt, insbesondere Passagen über Angstanfälle (dazu ausführlicher unten). Sie dienten der Autorin offensichtlich als eine Art Materialgrundlage für die literarischen Texte.
ren Sieges über das furchterregende Irrationale ist der König am Ende im Grunde kein König mehr, denn es fehlen ihm nun die Untertanen. Mittels eines Tötungsinstruments, der Guillotine, hatte er die dritte Frage der Sphinx zu beantworten versucht, indem er jeden seiner Untertanen enthaupten ließ, um herauszufinden, was denn jeweils in den Menschen verborgen sei.
Die psychoanalytische Rätselfrage in Das Lächeln der Sphinx
In den beiden hier zentralen Texten des TodesartenProjekts, Das Buch Franza und Malina, werden Gesprächssituationen beschrieben, in denen die jeweilige Protagonistin wie in der psychoanalytischen ›Redekur‹ zur Analysandin, die jeweilige männliche Bezugsfigur zum Analytiker wird, so im Buch Franza, wenn sich Bruder und Schwester 1964 in Galicien wieder treffen. Franza scheint sich in einem lebensgefährlichen Zustand zu befinden, ist zunächst kaum in der Lage zu sprechen (TKA 2, 164; W 3, 368). Der Bruder versucht in psychotherapeutischer Weise auf sie einzugehen, so dass sie dann doch irgendwann »zusammenhängend, aber sehr langsam, als müßte sie jedes Wort von der Zungenwurzel bis zu den Zähnen schieben«, spricht. »Dann ging es bald besser, sie artikulierte« (TKA 2, 165; W 3, 368). Die Gesprächssituationen auf der Überfahrt nach Ägypten sind auch insofern klassisch psychoanalytische, als Franza erst allmählich wieder anfangen kann zu sprechen und sich, frei assoziierend, mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ihre Angst nimmt dementsprechend ab und sie scheint sich zu stabilisieren: Die ›Redekur‹ zeigt somit (zumindest kurzzeitig) Wirkung. Im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Funktion Martins ist dessen »Faszination für Breasted« wichtig, »eine[n] Ägyptologen, dem gegenüber Franza gleichgültig ist. [...] James Henry Breasted war der Autor von The Dawn of Conscience (1933), eine Arbeit, die Freud benutzte, um in Der Mann Moses und die monotheistische Religion seine These zu unterstützen, dass Moses in Wirklichkeit Ägypter und nicht Jude war« (Lennox 1984, 166). Auch der männliche Doppelgänger in Malina fungiert als Analytiker (vgl. u. a. Stoll 1992, 255 und zuletzt ausführlich Krylova 2007), und zwar in dem aufklärenden und rationalisierenden Sinne, wie es Freud einfordert, will Malina doch dem ›weiblichen Ich‹ zu einer linearen und logisch-kausalen Aufarbeitung von dessen Vergangenheit, zur »verschwiegenen Erinne-
In dem offenen Brief »Zur sexuellen Aufklärung der Kinder« (1907) hatte Freud das Rätsel der Sphinx zur psychoanalytischen Rätselfrage schlechthin erklärt (Freud 1969–75, Bd. 5, 164 f.). Er brachte das in der Selbstanalyse entdeckte Schicksal, die »Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater« (Freud 1962, 193), mit dem des Ödipus in Verbindung und stilisierte es zur fundamentalen Bestimmung der Menschheit. In der Figur des Ödipus sah er zugleich auch den Mann des Logos. Die Sphinx, aus psychoanalytischer Sicht ein Muttersymbol, verkörpert zugleich ein Wesen, vor dem Ödipus »mit ›Witz‹ nichts ausrichten kann« (Worbs 1983, 314). Die grundlegende psychoanalytische Rätselfrage steht im Zentrum einer frühen, von der Forschung wenig beachteten Erzählung, die den für diesen Rezeptionszusammenhang verräterischen Titel Das Lächeln der Sphinx (1949) trägt. Der Herrscher eines Landes fühlte sich seit längerem »von oben« ›bedroht‹, »von unausgesprochenen Forderungen und Weisungen, denen er folgen zu müssen glaubte und die er nicht kannte«. Er will den »Schatten«, der »vielleicht die Bedrohung barg«, zurück »ins Leben zwingen«, und bald sieht er ein »ungeheures Tier«, die »furchteinflößende, seltsame Sphinx« (W 2, 19). Entsprechend der psychoanalytischen Deutung, dass mythische Monster als »Projektionen der Angst« zu begreifen seien, ist aus der Unruhe und dem Bedrohungsgefühl des Mannes die Erscheinung der Sphinx entstanden (Weigel 1994, 20; Weigel 1999, 77). Es beginnt »das tödliche Spiel« (W 2, 21). Der Herrscher kann die drei Rätselfragen lösen, das »Ungeheuer« scheint durch die rationale, wissenschaftliche Beantwortung der Fragen »beinahe entzaubert« zu sein (W 2, 20). Die logischen Erklärungen haben ihm das Furchteinflößende genommen. Trotz seines scheinba-
Redekuren: Männliche Figuren als Psycho analytiker
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rung« verhelfen, bei der es immer einen »Grund« aufzudecken gibt und an deren Ende »Ordnung«, Wahrheit und »Erkenntnis« stehen sollen (TKA 3.1, 292, 537, 583; W 3, 23, 208, 250) – gemäß dem psychoanalytischen Programm, »die Wand zu einem der gut versiegelten Hohlräume des Gedächtnisses ein[zu]brechen« (Wolf 1983, 69) und das Es wieder zum Ich werden zu lassen (vgl. Freud 1969–75, Bd. 1, 516). Das Analysemodell in Malina kehrt sich allerdings für kurze Zeit um, und die Protagonistin übernimmt die Funktion der Analytikerin (Kanz 1999, 115). In dem Kapitel »Von letzten Dingen« spricht sie ausdrücklich Gefahrensituationen an, in denen sich Malina einmal befunden hat. Diese Passagen um den »alten Zettel« (TKA 3.1, 632–635; W 3, 288 f.) verarbeiten die »Angst-Erlebnisse Eugen Tobais«, spielen also auf die »Todesangst-Entwürfe« im unvollendeten ersten Todesarten-Roman an (Eugen-Roman II; vgl. Kommentar in TKA 3.2, 960). Die weibliche Ich-Figur versucht Malina an drei Situationen zu erinnern, in denen er in Gefahr war. Ihr Bemühen, ihn zum Sprechen zu bringen, bleibt allerdings weitgehend erfolglos. Malina bestreitet die vergangene Situation zunächst, muss ihr jedoch am Ende indirekt Recht geben (TKA 3.1, 634; W 3, 289). Das ›weibliche Ich‹ kann ihn letztlich seiner Angst überführen. Da Malina darauf aggressiv reagiert, stellt sich das frühere Beziehungsmodell und Analyseverhältnis bald wieder ein – zugunsten der »Gewinnung der Figur von Malina, die objektiv und souverän ist, während das Ich subjekt [sic!] und unbrauchbar war«, so die Autorin in einem Entwurf zur Inhaltsangabe. Denn nur so könne »später jede fragwürdige Erzählerperspektive« wegfallen, »weil Malina alles weiß und frei über alle Figuren verfügt« (TKA 3.2, 740). Mehr noch: Er missbraucht seine Souveränität und sein Mehrwissen. Ähnlich wie der Psychiater Jordan im Buch Franza setzt er es zur Zerstörung der weiblichen Figur ein. Für Bachmann liegt darin sogar das eigentliche Motiv der ganzen Analyse: »die Auseinandersetzung zielt auf die Vernichtung des Ich ab, das von Malina zur Einsicht gezwungen wird, daß es zu verschwinden hat« (TKA 3.2, 739).
Der ›Fall Franza‹ als ›Fall Dora‹? Die Thematisierung von Angst in Verknüpfung mit psychoanalytischem Wissen ist im gesamten Todesarten-Projekt dominant. Die körpersprachlichen Artikulationsmuster, die bei den Frauenfiguren auf im-
mer ähnliche Weise ablaufen (Zittern, Schlottern, Zusammenknicken der Beine, schnelles Atmen, Schwindelgefühl, Erbrechen; vgl. Kanz 1999), stimmen auf oft verblüffende Weise mit den Freudschen Beschreibungen pathologischer Symptomatik, insbesondere der Hysterie und Angstneurose, überein. Freud zufolge ist Angst »ein Affektzustand, der aus einer Erregungssteigerung, aus Reaktionen zur Abfuhr dieser Erregung, aus der Wahrnehmung dieser Erregung und ihrer Abfuhr und aus einem diesen gesamten Verlauf begleitenden Unlusterlebnis besteht. Abfuhrreaktionen wären hierbei etwa Störungen im Herzschlag- und Atemrhythmus, Schweißausbrüche sowie motorische Unruhe (Zittern und Schütteln)« (Krohne 1976, 11). Nicht nur die Rolle Franzas als Therapierte, sondern auch das zeitweilige Abhandenkommen der verbalen Sprache, die dann über diverse andere Symptome gleichsam re-materialisiert wird, stellen diese Figur in eine Reihe mit den ›großen Hysterikerinnen‹ der Weltliteratur (Lennox 1984, 165). Die Hysterie in Der Fall Franza – so der Titel in der Edition Werke 3 (1978) – lässt sich, je nach Interpretationsgemeinschaft, als Stigmatisierung oder subversive Strategie lesen, so dass der Text als Fort- bzw. Umschreibung einer Krankengeschichte verstanden werden kann. Marianne Schuller interpretiert den Fall Franza dementsprechend auf der Folie des ›Falls Dora‹ als eine Hysterie-Studie mit umgekehrten Vorzeichen, in der die Psychoanalyse (gemeint ist die Figur des Psychiaters Jordan), stellvertretend für die patriarchale Wissenschaft überhaupt, nicht als Heilungsmöglichkeit, sondern als Ursache der Hysterie dargestellt werde (Schuller 1984, 151). Ortrud Gutjahr verweist in ihrer psychoanalytischen Lektüre auf die Erstickungsanfälle Franzas, die aus ihrer Sicht das Etikett »hysterische Anfälle« gerechtfertigt erscheinen lassen (Gutjahr 1988, 116). So hustet Franza in einem Vorentwurf an einem »Apfelschnitz [...] herum, als wäre es vergiftet«, und bekommt »keine Luft mehr« (TKA 2, 56 f.; W 3, 405), in anderen Szenen verweigert oder erbricht sie das Essen (TKA 2, 60, 246). Zwar hat die psychologische Forschung Erbrechen und Magersucht zu den prägnantesten Merkmalen der Hysterie gerechnet, da jedoch literarische Figuren keine realen Personen sind und ihre Charaktere nicht im Sinne eines tatsächlichen Krankheitsbildes konstruiert sein müssen, können auf sie zahlreiche Beschreibungen sich möglicherweise widersprechender Krankheitsbilder zutreffen, zumal Bachmann bereits in den Vorreden zum Buch Franza
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ankündigt, dass sie in ihrer Protagonistin diverse inwendige Dramen stattfinden lässt (TKA 2, 78; W 3, 342). Auch vor diesem Hintergrund erscheint eine lediglich auf das Phänomen ›Hysterie‹ hin zugespitzte Interpretation allzu reduktionistisch. Nach einer weniger pathologisierenden Lesart ist Franzas Anspielung auf das Märchen von Schneewittchen schlicht als (Real-)Angst vor Vergiftung durch ihren sadistischen Ehemann zu interpretieren (vgl. Kanz 1999, 72). Diese Perspektive widerspricht Gutjahrs nicht grundsätzlich, liegt ihr doch vor allem daran, die Auswirkungen psychosozialer Bedingungen auf die Psychogenese einer Frau herauszuarbeiten. Eine pathologisierende Diagnose der literarischen Gestalt erscheint auch dann noch problematisch, wenn man den Diskurs der Psychoanalyse noch gründlicher zu Rate zieht (vgl. Kanz 1995; Kanz 1999, 69–73). Sowohl der Hysterie als auch der Angstneurose liegen Freuds und Josef Breuers Studien über Hysterie zufolge traumatische Erlebnisse zugrunde, und oft sind die Funktionen des Körpers gestört (vgl. Freud/Breuer 1999, 142 f.). Die Traumata werden im Anfall mit Hilfe des Körpers in die Gegenwart geholt. Franzas Körper (re)produziert während ihrer Wüstenreise immer wieder Erinnerungen an die früher erlebte Angst, was sich vor allem in Schwindelanfällen äußert, bei denen ihr die Beine versagen und der Boden unter ihr zu schwanken scheint (TKA 2, 292; W 3, 449). Die zum Teil fast wortwörtliche Übereinstimmung solcher Schilderungen mit Freuds Beschreibungen angstneurotischer Symptomatik sind frappierend, gehört zu ihnen doch vor allem »der Schwindel«, der von »Empfindungen« begleitet wird, »daß der Boden wogt, die Beine versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder knicken ein« (Freud 1969–75, Bd. 6, 31 f.). Dass Franzas körperliche Symptome ihre verschütteten Erinnerungen symbolisieren, lässt sich mit der Erinnerungskonzeption in den Studien zur Hysterie vergleichen (Weigel 1999, 318). Franzas als »Reise durch die Krankheit« beschriebene Wüstenfahrt ist »als Reise durch die Gedächtnisspuren ihrer Vorzeit« interpretierbar, ihre »Symptome« als »›archaische Erbschaft‹ (Freud)«, als »phylogenetisches Gedächtnis der westlichen Zivilisationsgeschichte« (Weigel 1999, 501). Die Protagonistin selbst wird aus dieser Sicht zum »Gedächtniskörper, der eine symptomale Lektüre von Dauerspuren möglich macht«, bzw. zum »Symptomkörper«, über den die »Lesbarkeit der Geschichtsbilder« medial vermittelt wird (ebd., 517). Trotz solcher Parallelen zwischen literarischen
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und psychoanalytischen Beschreibungen psychischer Zustände ist auf die Differenzen zu achten: Bachmann diagnostiziert nicht, sondern versucht, die Empfindungen Franzas zu veranschaulichen, indem sie aus einer personalen Perspektive schreibt und den Körper sprechen lässt, dessen Sprache sie weder als Krankheitssymptomatik kenntlich macht noch als solche bewertet. Anders als der Analytiker bleibt die Schriftstellerin immer bei der Deskription, ohne medizinische Etikettierungen vorzunehmen. Wichtig ist ihr aufzuzeigen, was die physischen Phänomene ausdrücken und wie es zu ihnen gekommen ist. Dies entspricht zum einen ihrer an Georg Groddeck geschulten Auffassung, dass Körperzeichen auf bestimmte psychische Regungen verweisen. Zum anderen aber wird hier ihre kritische Distanz zur Psychoanalyse deutlich. Doch selbst solche Passagen im Buch Franza, die von psychoanalytischen Beschreibungsmodellen gänzlich losgelöst scheinen und lediglich auf die explizit angeführte lebhafte Phantasie der Protagonistin verweisen (TKA 2, 190; W 3, 386) – etwa ihre Vorstellung von »tausend« Angst auslösenden Sphinxen (TKA 2, 277; W 3, 438) – können zu einer pathologisierenden, auf die Psychoanalyse zurückgreifenden Lektüre verführen, wurde und wird doch innerhalb der Hysterieforschung immer wieder die Bedeutung des Visuellen für hysterische Personen betont (vgl. Freud 1969–75, Bd. 6, 187–195; Freud/Breuer 1999, 282). Gerade diesem Beschreibungsmodell der Hysterie wohnt ein utopisches Moment inne, das vor allem von feministisch orientierten LiteraturwissenschaftlerInnen häufig angeführt wird, die das Visuelle als Möglichkeit interpretieren, »die Imagination eines anderen Eintritts in die Sprache« zu vollziehen (Kyora 1993, 24 f.). Die Verdichtungsmechanismen, die auf die Intensität von Emotionen verweisen, werden im Buch Franza mit Bildern von Tieren, Kretins, Käfigen, Geisterbahnen oder Riesen beschrieben (vgl. Kanz 1999, 85–88), in Malina vor allem in Traumsequenzen, deren Darstellungen stark an Freuds Traumdeutung (1900) orientiert sind.
Die Traumdeutung im Buch Franza und in Malina Das zweite Kapitel in dem Roman Malina, »Der dritte Mann« betitelt, besteht aus Tag- und Nachtträumen des ›weiblichen Ich‹, die nach Bachmanns Entwurf einer Inhaltsangabe »zeigen« sollen, »was die wahre Ur-
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sache der Zerstörung dieses Ichs ist« (TKA 3.2, 739). Es gibt rekurrente Figurationen der Angst in Malina, so das frauenfressende Krokodil, das in mehreren Albträumen der ›weiblichen‹ Hauptfigur Furcht verbreitet und häufig auch die ›Vater-Instanz‹ verkörpert (TKA 3.1, 552; W 3, 223 f.). Das ›weibliche Ich‹ hat »die Wahl«, von dem Krokodil »zerrissen zu werden oder in den Fluß zu gehen, wo er am tiefsten ist« (TKA 3.1, 553; W 3, 224). Vor dem Hintergrund der Theorien C. G. Jungs, von denen es im Text heißt, das ›weibliche Ich‹ habe sie selbst rezipiert (TKA 3.1, 371 f.; W 3, 81), ließe sich das Krokodil als Ausdruck des Unbewussten der Träumerin lesen, zumal es jenem »Tiersymbol« zu entsprechen scheint, das Jung selbst verwendete, um die Funktionsweisen des kollektiven Unbewussten zu erklären (Jung 1971, 99 f.). Das ›weibliche Ich‹ muss sich zwischen der Auseinandersetzung mit seinem Unbewussten (und damit auch dem ›Vater‹) und der kompletten Verdrängung entscheiden. Ersteres ist mit der Angst vor neuen Erkenntnissen über die eigene Person verbunden, die möglicherweise so unerträglich sein könnten, dass sie das ›weibliche Ich‹ innerlich zu »zerreißen« drohen. Nach Freud stammen »Traum und Wahn [...] aus derselben Quelle, vom Verdrängten her, der Traum ist der sozusagen physiologische Wahn des normalen Menschen« (Freud 1969–75, Bd. 10, 58 f.). Wie im Wahn tauchen auch im Traum Bilder auf, die vom Bewusstsein normalerweise nicht zugelassen werden und daher sprachlich schwer oder gar nicht zu fassen sind. Es kommen bereits vorhandene Gefühlszustände verstärkt, da unzensiert, zum Ausdruck: »Die Angst war größer im Traum« (TKA 3.1, 535; W 3, 207), konstatiert die Protagonistin in Malina entsprechend. Weil das Bewusstsein während des Schlafens nicht mehr als Hemmschwelle im Weg steht, müssen die ›wahren‹ Gefühle nicht mehr verdrängt werden. Angst stellt für die weibliche Hauptfigur offensichtlich einen Affekt dar, den es im Wachzustand zu unterdrücken gilt – entsprechend Freuds zweiter Angsttheorie, nach der Angstträume Schockerlebnisse und Traumata verarbeiten, die im Wachzustand verdrängt werden müssen, weil sie für das Subjekt unerträglich sind. Die Protagonistin vermittelt nicht nur immer wieder ihr Traumerleben, sondern verweist auch auf ihre Kenntnis der Traumtheorie Freuds (z. B. TKA 3.1, 536; W 3, 207 f.), dessen Werk sie überhaupt intensiv rezipiert zu haben scheint. Explizit heißt es, sie habe »Freud, Adler und Jung gelesen bei 360 Watt in einer einsamen Berliner Straße, zu den leisen Umdrehungen der Chopin-Etüden« (TKA 3.1, 371 f.; W 3, 81).
Freuds Traumtheorie beschreibt nicht zuletzt die Umgestaltung von Angstinhalten auf dem Weg vom Unbewussten zum Bewussten (Freud 1969–75, Bd. 2, 309–344). Die andere Gestalt der Angst, die vom Unbewussten im Traum kreiert wird, kann unterschiedliche Ausmaße und Bilder annehmen. In welcher Ausformung die Traumzensur sie letztlich auftreten lässt, entscheidet sie mit Hilfe bestimmter Mechanismen wie »Verdichtung« und »Verschiebung« (ebd., 282– 308; Laplanche/Pontalis 1992, 603). Diese Akte der Zensur werden in beiden Todesarten-Kompositionen verarbeitet. Ein Vater, der Blumen – »die Blumen für mein Leben« – wie »Wanzen« zertritt (TKA 3.1, 509; W 3, 181), Menschen, die als »grinsende Larven« auf das ›weibliche Ich‹ zukommen (TKA 3.1, 503; W 3, 176), oder ein »Riesenrad, das Exkremente aus den Gondeln schüttet« (TKA 3.1, 504; W 3, 177) und langsam auf das Ich zufährt – das sind Beispiele für die Horrorszenarien, denen die ›weibliche‹ Figur in ihren Träumen ausgesetzt ist und die auf ihren ›wahren‹ Zustand verweisen. Dass die Traumdeutung für sie »die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten« ist (Freud 1969–75, Bd. 2, 577), bemerkt die Freudrezipientin selbst. Sie fängt an, Bedeutung, Funktionsweise und die ganz eigene »Logik« des Traums zu durchschauen und geht darin konform mit den Vorstellungen Freuds (TKA 3.1, 535–538; W 3, 206–209). Noch in den bizarrsten und unverständlichsten Träumen verbirgt sich aus seiner Sicht ein Gehalt, den man mithilfe der Traumdeutung enthüllen kann, so dass »jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist« (Freud 1969– 75, Bd. 2, 29). Anders als die weibliche Hauptfigur glaubt Malina an »die Wahrheit«, die für ihn nur in der sichtbaren Wirklichkeit liegt (TKA 3.1, 537). Sie dagegen beginnt, auch andere Äußerungen des Unbewussten im Alltag zu »begreifen«: »Wenn irgendwo stand ›Sommermoden‹, habe ich gelesen ›Sommermorde‹. Das ist nur ein Beispiel. Ich könnte dir Hunderte nennen« (TKA 3.1, 537 f.; W 3, 209). Dieser Hinweis auf die Bedeutung des Verlesens etwa verweist unmissverständlich auf Freuds Abhandlung über Fehlleistungen Zur Psychopathologie des Alltagslebens, insbesondere das Kapitel »Verlesen und Verschreiben« (Freud 1999, Bd. 4, 118–147). Was sich im Traum zeigt, löst Angst aus, zumal es auch die ambivalente Funktion Malinas deutlich macht: »Die ganzen Geschichten, die ausgespart werden, weil das Ich über sich nichts erzählen darf – denn
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sein Doppelgänger verbietet es ihm ja –, die kommen in den Träumen vor; etwa die Erklärung für seine Zerstörung, für sein Schon-beinahe-Vernichtetsein durch eine Vorgeschichte«, kommentiert die Autorin ihren Text (GuI, 89). Im Traum scheint sich alles in der Gegenwart abzuspielen. Er ist »nirgends in der Zeit und nirgends im Ort« (GuI, 103). Für die Protagonistin in Malina gibt es – ähnlich wie für die Protagonistin in der durchgängig im Präsens gehaltenen Erzählung Ihr glücklichen Augen – auch in der eigenen Lebensrealität immer nur ein »Heute«. Das wird gleich zu Beginn des Romans in der Personenvorstellung deutlich, und die psychische Dimension dieser Verankerung im Heute hat Bachmann selbst noch einmal im Interview expliziert (GuI, 103). Die Vergangenheit des Ich wird mithilfe seiner Träume auf diese Weise nicht etwa rekonstruiert, sondern in die Gegenwart geholt. Der Rückgriff der Autorin auf die »traumatische Erfahrung der Geschichte« (Höller 1987, 85) geht mit der Aktualisierung all der Ausdrucksmöglichkeiten einher, die Freud im »Traumgedächtnis« erkannte, vor allem mit einem »uneingeschränkten Gebrauch von sprachlichen Symbolen« (Freud 1999, Bd. 17, 89). Dies ermöglicht den RezipientInnen »eine Steigerung der Wahrnehmungsleistung, weil in den einzelnen sprachlichen Zeichen der lebensgeschichtliche und historische Sinn mitgedacht werden muß, zumal es zum Erfahrungsmodus, wie ihn die Traumsprache inszeniert, gehört, Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte zu verschränken, die innersten Bezirke des Ich mit seinen Ängsten und Träumen zu verstehbaren Symbolen zu verdichten« (Höller 1987, 86). Im Buch Franza gibt es weniger Rekurse auf Freuds »Traumdeutung« als in Malina, allerdings sehr explizite. Wie eine Zusammenfassung der Traumtheorie Freuds nehmen sich hier z. B. die Reflexionen der Protagonistin über den Traum als großen Dramatiker aus. Es ist die »unverlautbare chaotische Wirklichkeit, die sich im Traum zu artikulieren versucht, die dir manchmal genial zeigt, in einer Komposition, was mit dir ist, denn anders würdest du’s nie begreifen« (TKA 2, 229; W 3, 411). Entsprechend der psychoanalytischen Annahme, dass bei der Angstneurose »ein Quantum Angst frei flottierend vorhanden ist« (Freud 1969–75, Bd. 6, 30), geht es um ›flottierende Angst‹, die die Protagonistin sogar im Traum befalle. Auch sonst ist die Einschätzung der Bedeutung des Traums ähnlich: Im Traum, dem ›ein Shakespeare die Hand leihen‹ und ›ein Goya die Bühnenbilder malen‹ kann und in dem sich sämtliche furchterregenden Menschen aus dem
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Umkreis der Schlafenden zu »einer Person« verdichten können (TKA 2, 229; W 3, 412), zeigen sich die Angst und auch ihre möglichen Ursachen, die im Wachzustand womöglich verdrängt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang »das Bedeutungsfeld der Hieroglyphen«, die im Ägyptenkapitel »in Form einer ›unentzifferbaren Schrift‹, als die sich für Franza ihre Sprache des Unbewußten leibhaftig darstellt«, auftauchen – ein Bild, das explizit auf Freuds Vergleich der Traumsprache mit Hieroglyphen in seiner »Traumdeutung« rekurriert (Weigel 1999, 520; Lennox 1984, 168). Eine ›Poetologie des Traums‹ im Hinblick auf Bachmanns Todesarten-Projekt wäre noch genauer herauszuarbeiten, auch hinsichtlich der im Vorfeld und im Umkreis entstandenen Texte. Monika Albrecht und Dirk Göttsche haben bereits auf den »Traumcharakter« der frühen Entwürfe zur Büchnerpreis-Rede hingewiesen (Kommentar in TKA 1, 555). Eine Arbeit über Bachmanns Poetologie des Traums müsste mit einer Reflexion über die grundlegenden Unterschiede zwischen fiktiven und ›realen‹ Träumen bzw. Traumprotokollen sowie einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der »Übergängigkeit« von Leben und Literatur in ihren Texten einhergehen (vgl. etwa Kommentar von Schiffermüller/Pelloni in Bachmann 2017, 99). Die literarische ›Inszenierung‹ von Träumen steht meist thematisch, personell, aber auch sprachlich in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem übrigen Text. Die poetische Konzeptualisierung psychoanalytischen Wissens über Träume baut bei Bachmann oft auf Vereinfachung und Reduktion. Ihre komplexen Traumdarstellungen scheinen insgesamt eher auf unmittelbare Wirkung als auf rationale Verstehbarkeit zu zielen. Das mit Freuds Konzept des »Traumgedächtnisses« theoretisch skizzierte »Verstehensmodell ermöglicht, literarisch bewußt gehandhabt, eine intensivierende Darstellung der Mächte, denen sich das Ich ausgesetzt fühlt« (Höller 1987, 86). Doch kann eine angemessene Rezeption solcher ›Traumtexte‹ nur unter gewissen Bedingungen geleistet werden. Dazu gehören etwa »rezeptiv[e] Voraussetzungen«, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren nicht vorgelegen haben. Es gab damals noch »keine Position, die zu einem Verständnis dieses rückhaltlosen Ausdrucksbereichs des Entsetzens und der Angst in der Lage gewesen wäre«. Erst in den 1980er Jahren waren »Ansätze« zu bemerken, »diese Form der Erfahrung, wie sie aus den Werken Ingeborg Bachmanns spricht, in ihrer poetologischen Brisanz zu reflektieren« (ebd., 310).
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Beschäftigung mit der Logotherapie Viktor E. Frankls Bachmanns Reflexionen über psychische Krisenphänomene sind offensichtlich von ihrer Auseinandersetzung mit den Überlegungen und Erfahrungsberichten des KZ-Überlebenden und Neurologen Viktor Emil Frankl geprägt worden, auch hinsichtlich des Voka bulars für psychische Phänomene. Frankl entwickelte nicht nur die Theorien Freuds und Jungs weiter, von deren starker Gewichtung der Triebe er sich u. a. absetzte, sondern er stellte gegen »eine Aufklärung über das Unbewußte, über dessen subhumane ›Potentiale‹ der Sexualität und der Aggressivität« die »humanen Phänomene der ›Liebe‹ und des ›Hasses‹« (Behre 2000, 97). Sein Begriff des ›Logos‹ umschließt immer auch »etwas unbewußt Geistiges, das der Sprechakt des Patienten, seine bewußte Äußerung und Selbstdeutung, birgt« (ebd., 98). Frankls auf eigenen Erinnerungen an seine Zeit im Konzentrationslager beruhendes Buch ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (1946– 47) hatten eine nachhaltige Wirkung auf Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, wie sich am Buch Franza aufzeigen lässt (vgl. Behre 2000, 98 f.). Auch in Malina fließen immer wieder zentrale Gedanken Frankls ein, so etwa die gekürzte Version eines Nietzsche-Aphorismus, der zum Leitsatz von dessen Logotherapie wurde und der die für ihn so zentrale Sinnfrage betrifft: »Ein Wort von Nietzsche war es, das man als Motto über die ganze psychotherapeutische Arbeit im Konzentrationslager hätte setzen können: ›Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie‹« (Frankl 1957, 744). Bachmann variierte diesen Satz mehrfach in Malina, so in der folgenden Passage, in der offensichtlich zugleich auf die Kindheit im nationalsozialistischen Österreich angespielt wird: »Es kommt mir eine Ahnung, daß er aus dem braunen Schulheft ist, auf dessen erste Seite ich in der Neujahrsnacht geschrieben habe: Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie« (TKA 3.1, 544). Insgesamt waren es wohl gerade auch Frankls Überlegungen zur Verknüpfung von Sprache, unbewusstem Erleben und Erkenntnis, sein Primat des Sprechens – in seinem Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie leitete er die Kunst zu überleben von der Fähigkeit zu denken und zu sprechen ab –, sein Konzept von der »Sprache als Gegenenergie zur tödlichen Umgebung« (Behre 2000, 99), die Bachmann nachhaltig beschäftigten und in ihre eigenen
sprachpsychologischen und -philosophischen sowie poetologischen Reflexionen eingingen.
Jacques Lacan-Rezeption Auch Bachmanns Körperkonzept ist insgesamt deutlich an neueren psychologischen Auffassungen orientiert. So macht die Protagonistin in Das Buch Franza einmal traumähnliche, künstlich mit Haschisch stimulierte Spaltungserfahrungen durch, hat »nicht mehr einen, sondern zwei Körper«, nimmt sich als »verdoppelt« wahr (TKA 2, 283; W 3, 443). Aus Ortrud Gutjahrs Sicht ist es Jordan, der in dieser Halluzinationsphantasie als das »internalisierte ›schlechte‹ Objekt, als der überdimensionale, bedrohliche zweite Körper Franzas« erscheint. Sein »Verlust« werde über die »Spaltungsphantasie [...] als körperliches Erleben gestaltet« (Gutjahr 1988, 156 f.). Während dissoziierender Körpererfahrungen, die als »zentrale Bestandteile psychotischer Phänomene« gelten, tritt die Angst nach psychoanalytischer Auffassung besonders krass ins Bild (Keitel 1986, 80). Jacques Lacan bezeichnete das Phänomen, dass Analysanden in Analysephasen, in denen sie weit in das Stadium der Undifferenziertheit regredieren, gehäuft von abgelösten Körperteilen träumen, als »Phantasmen«, die »von einem zerstückelten Bild des Körpers« ausgehen (Lacan 1973a, 67). Auch noch in der psychotherapeutischen Praxis nach Lacan gilt es als charakteristisch für Psychotiker, dass sie eine veränderte Körperwahrnehmung haben, z. B. nicht in der Lage sind, »bei einem fehlenden Körperteil die Ganzheit des Leibes wiederherzustellen« und »den einzelnen Teilen des Leibes ihre entsprechenden, spezifischen Funktionen zuzuordnen« (Pankow 1968, 16 f.). Die im Buch Franza beschriebenen Körpererfahrungen entsprechen demnach oft psychopathologischer Symptomatik, insbesondere den Konzeptionen Lacans. Für eine Lacan-Rezeption spricht u. a., dass Bachmann, ähnlich wie dieser, psychische Symptomatik an Sprache knüpft. Sein Credo lautete nicht von ungefähr: »Das Unbewußte ist strukturiert wie die Sprache« (Lacan 1978b, 26). Aneinanderreihungen von unvollständigen, bruchstückhaften Satzfragmenten sollen im Buch Franza die psychische Zerbrochenheit der Protagonistin veranschaulichen, die sie selbst kurz vor ihrem Tod thematisiert (TKA 2, 325; W 3 469). Ihrem Sprechen und Denken wird auf diese Weise nicht nur semantisch, sondern bis in die Syntax hinein ›Realitätsgehalt‹ verliehen. Damit vermittelt Bachmann
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über den literarischen Text, was Lacan vorher theoretisch formuliert hatte: Das »Unbewußte wird nicht ausgedrückt, es sei denn durch Entstellung, Verdrehung, Umsetzung« (Lacan 1978a, 66). Der Zustand der Sprache wird bei Bachmann zum Symptom des inneren Zustands der Protagonistinnen, die Brüchigkeit von deren Sprechen z. B. zum Signal der Angst (Kanz 1999, 51–60). Das entspricht einer innerhalb der Psycholinguistik gängigen Auffassung: »Ängstliche Menschen unterscheiden sich von nichtängstlichen in ihrer Sprechweise«, so Grimm und Engelkamp, die sieben Kategorien von Ängstlichkeit indizierenden Sprechstörungen unterscheiden: »Satzänderungen, Wiederholungen, Auslassungen, Stottern, Versprecher, unvollständige Sätze und Intrusionen inkohärenter Laute« (Grimm/Engelkamp 1981, 79). Die Sprache der Figuren spricht Angst, so ließe sich in Anlehnung an Lacan formulieren, der mit solchen Auffassungen der modernen Psycholinguistik vorgearbeitet hat. ›Es spricht‹, lautet seine Grundregel der Psychoanalyse, die vor allem beinhaltet, dass der Analysand in freier Assoziation das sagen soll, was ihm gerade in den Sinn kommt (vgl. Lacan 1973b, 86–88). Seine Forderung, auf das Sprechen hinter dem bewusst Gesprochenen zu hören, zielt darauf, Grundlegendes über die gerade sprechende Person zu erfahren: »Gerade in dem, was der Sprache widersteht, in der Brüchigkeit der Rede und in ihren gröbsten Verzerrungen, artikulieren sich die Fragmente eines Dialogs, auf den es zu hören gilt« (Pagel 1991, 117). Die sprachlich hochgradig bewusst komponierte Prosa Bachmanns rekurriert ziemlich offensichtlich auf diese Konzeption. Sigrid Weigel war bereits in den 1980er Jahren davon überzeugt, dass der Autorin die Thesen Lacans »bekannt gewesen sein« müssten. Vor dem Hintergrund ihres Psychologiestudiums und der anhaltenden Beschäftigung mit Psychologie, vor allem aber wegen ihres »notorischen Interesses für Sprache« dürfte Lacan sogar »zu der für sie aufregenden Lektüre gezählt haben« (Weigel 1984, 73). Dann wäre es umso wahrscheinlicher, dass Bachmann auch Lacans Unterscheidung von ›vollem‹ und ›leerem‹ Sprechen vertraut war. »Volles Sprechen« ist nicht durch die Verdrängung gekürzt, weist z. B. Versprecher und Brüche auf und »realisiert« nach Lacan »die Wahrheit des Subjekts«; wo dies verfehlt wird, spricht er vom »leeren Sprechen« (Lacan 1978a, 66, 68). Auf die Protagonistinnen des Todesarten-Projekts bezogen hieße das, dass z. B. gerade ihr Unvermögen, ihre Angst in Worte zu fassen, diese auf ›authentische‹
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Weise bekundet. Auch ihr Schweigen und ihre Stummheit werden so zu Signifikanten von Angst (Kanz 1999, 53 f.). Die Angst scheint ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache zu verschlagen. Im Schweigen aber sieht Lacan eine zentrale Bedeutung des Sprechens, »weil hier das Subjekt die ›Leere‹ seiner Rede vernehmen kann« und weil es eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit für ein »volles Sprechen« enthält (Pagel 1991, 119; Teichmann 1983, 123). Vor dem Hintergrund der okzidentalen logozentrischen Auffassung, nach der man ist, wenn man spricht, und sich selbst als Subjekt vernimmt, fehlt den stummen bzw. schweigenden Frauen bei Bachmann die autonome Subjekthaftigkeit, ist es ihnen doch ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich, sich selbst im Sprechen als Subjekt zu setzen. Sie entsprechen damit Lacans Konzept von der Genese des ›männlichen‹ Subjekts. Es ist bei ihm der ›Knabe‹, der nach Abschluss des Spiegelstadiums versucht, die Erfahrung des Sichselber-Habens im Sprechen zu finden. Sprechende Subjekte im Sinne Lacans können nur Männer sein. Zwar verwenden Frauen die gleiche Sprache, aber es ist ihnen unmöglich, sich in ihr als Subjekt des Begehrens zu setzen (Lacan 1973a, 61–70). Dass vor allem Das Buch Franza dementsprechend gelesen werden kann, legen zahlreiche Passagen nahe, die Franza aus der Perspektive ihres Bruders beschreiben und ihre Funktion als lediglich schmückendes Beiwerk eines ›männlichen‹ Subjekts unterstreichen. »Gerank« oder »aufgezogener Kreisel« (TKA 2, 193, W 3, 388) oder die Beschreibung von seiner Schwester als »seiner hochmütigen Schweigerin, seiner totenblassen« (TKA 2, 194; W3, 388) sind nur einige der Bilder für die automatisierte Passivität, die er ihr im Nachhinein attestiert.
Auseinandersetzung mit Georg Groddeck Eine ähnliche Unterscheidung von ›leer‹ und ›voll‹, bzw. ›äußerlich‹ und ›inwendig‹ wird von Bachmann im Zusammenhang mit dem Sterben, mit der Differenzierung zwischen den psychischen und den physischen Todesarten der Protagonistinnen im gesamten Todesarten-Projekt sowie in den fast gleichzeitig als »Abfälle« (TKA 4, 17) verfassten Simultan-Erzählungen getroffen. Um die »sublimen Verbrechen« dreht sich die Vorrede zum Buch Franza, »so sublim, daß wir sie nicht zu sehen und zu begreifen vermögen, obwohl sie täglich in unsrer Umgebung, in Ihrer Nachbarschaft, und also unter unseren Augen stattfinden« (TKA 2, 75; vgl. auch W 3, 342). Die Verknüpfung der
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Sehmetaphorik mit dem Wahrheitsparadigma, um die es Bachmann schon in ihrer 1959 anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden gehaltenen Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar ging, wo sie dafür plädierte, dass die Kunst dazu beitragen solle, »daß uns [...] ›die Augen aufgehen‹« (KS, 246; W 4, 275), diese Verknüpfung wird in der Erzählung Ihr glücklichen Augen beim Wort genommen. Der Text ist noch deutlicher an den Theorien Georg Groddecks orientiert als die anderen Simultan-Erzählungen, deren Krankheitsthematik insgesamt auf der Folie seiner Schriften gelesen werden kann (vgl. Bannasch 1997, 48). Bachmann sollte für die Wochenzeitschrift Der Spiegel eine Rezension über Georg Groddecks Schriften schreiben (vgl. W 4, 399; Weigel 1999, 290). Der geplante Text ist nie erschienen, doch liegen posthum veröffentlichte, vermutlich 1966–67 entstandene Entwürfe vor (Kommentar in KS, 614). Bachmann bezeichnet Groddeck darin als den »bedeutendsten Vorläufer der Psychosomatik« (KS, 431; W 4, 347). Groddeck hatte 1909 damit begonnen, seine Therapien mit einer psychoanalytischen Methode eigener Prägung zu ergänzen. Seit 1913 hatte er die Theorien Freuds studiert, mit dem er 1917 in einen Briefwechsel trat. Freud übernahm den Begriff des »Es« von ihm, wandelte ihn aber in differenzierterer Form ab. Bachmanns Rezension mit ihrer an Groddeck orientierten Auffassung von Krankheit schließt hier an: »wir werden vom Es regiert«; der Regent im Hintergrund, das Unbewusste, »spricht durch die Krankheit in Symbolen« und lässt den Körper seine Sprache sprechen, so dass das Ich nur mehr als eine hohle »Maske« erscheint (KS, 434; W 4, 352). Die ›Wahrheit‹ der Person, so legt der Text nahe, enthüllt sich allein über die Sprache des Körpers. Im Buch Franza gibt es mehrere Hinweise darauf, dass Franza ihre seelischen Empfindungen über die entstellte Sprache des Körpers artikuliert. Bereits auf der Überfahrt nach Ägypten zeigt sie deutlich psychosomatische Symptome. So entstehen »Blasen« auf ihren Händen, während sie ihrem nun gleichsam als Psychoanalytiker fungierenden Bruder von ihrer Vergangenheit zu erzählen beginnt. Die Aufarbeitung ihrer Angsterlebnisse ruft neuerlich Angst in ihr wach und evoziert äußerlich sichtbare Reaktionen des Körpers, die auch, wie die Protagonistin glaubt, beim Gegenüber »Grausen« erregen können. Für sich selbst interpretiert sie diese Symptome als heilsame ›Häutung‹ (TKA 2, 206; W 399). Psychosomatisch reagiert sie auch beim Besuch des Mumiensaals eines ägyp-
tischen Museums, indem sie sich angesichts der »von Gier entstellten Gesichter« der Touristen, die »dicht über die Grabsärge gesenkt« sind, erbricht und den »Leichenschändern« so »vor die Füße« ›speit‹ (TKA 2, 289 f.; W 3, 447 f.). Ein anderer Aspekt von Groddecks psychoanalytischem Denken wird in den Simultan-Erzählungen aufgegriffen. In dem Essay »Vom Sehen, von der Welt des Auges und vom Sehen ohne Augen« (1932) geht es Groddeck um »die Verdrängungsvorgänge beim Sehen«, das Auge »als ein Werkzeug des Verdrängens« und »das Sehen ohne Auge« (Groddeck 1966, 264, 274), jenes ›innere‹ Sehen, das sich in Träumen, Visionen, Illusionen oder Halluzinationen zeigt. Es gibt also »zwei Arten des Sehens« für ihn, wobei das ›innere‹ Sehen eine »Tätigkeit« ist, »die der Mensch ununterbrochen ausübt, und ohne die ein Sehen überhaupt unmöglich ist« (ebd., 275). Nach Groddeck wird »durch die Brille die Überanstrengung des Auges nicht behoben, sondern verschlimmert« (ebd., 284). Der »Seh akt« bestehe nicht nur aus dem »Sehen des Sichtbaren«, sondern auch aus dem »Nichtsehenwollen von Sichtbarem«, dem »Verdrängen dessen, was gesehen werden könnte. Für uns sind Sehstörungen ein Hilfsmittel des Es, um auch dann noch verdrängen zu können, wenn die normalen Hilfsmittel des Verdrängens (übersehen, nicht erinnern, den Blick abwenden usw.) nicht ausreichen« (ebd., 285). Kurzsichtigkeit sei ein »Beweis [...] für langwierige und schwere innere Konflikte zwischen der persönlichen Anschauung [...] und der konventionellen Tagesanschauung«. Der Kurzsichtige nehme »die Konventionen seiner Umgebung und Zeit, die Mode der Sittlichkeit, zu ernst«, der er sein »natürliches symbolisches Empfinden und Denken aufopfern« wolle, und »weil seine Verdrängungskräfte gegenüber den symbolischen Kräften zu schwach« seien, schädige er seine Sehorgane. Da »die Kurzsichtigkeit von dem Menschen selbst aufgebaut wird, um sich aus Seelennöten zu retten«, sei es schwer nachzuvollziehen, »warum ein solcher Mensch sich eine Brille aufsetzt und damit das mit vieler Entsagung erworbene Hilfsmittel unbrauchbar macht« (ebd., 308). Für Groddeck stellt die Brille sogar ein Täuschungsmanöver anderen gegenüber dar (ebd., 308 f.). Diese Differenzierung zwischen Wahrheit und Täuschung in Verbindung mit der Sehmetaphorik ist für die Interpretation der Erzählung Ihr glücklichen Augen (oder vielmehr des gesamten Simultan-Komplexes) zentral. Die Protagonistin dieser Erzählung, die dem Gedächtnis Groddecks gewidmet ist, wirkt wie eine Verkörperung seiner theoretischen Ausführungen.
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Dass sich der Text nicht nur explizit an Groddeck richtet, sondern ausdrücklich auch auf seinen Essay von 1932 rekurriert, darauf verweist unter anderem ein Passus in den Vorentwürfen, der auf den Verdrängungsmechanismus beim Sehen anspielt, welcher, wenn er nicht ausreiche, zu einer Schädigung der Augen führen müsse (TKA 4, 209; vgl. Groddeck 1966, 308). Nicht nur die Replik auf den innerhalb der Psychoanalyse grundlegenden, in der Erzählung als »altmodisch« abqualifizierten Begriff der »Verdrängung« (TKA 4, 209) gehört zu den kritischen Attacken der literarischen Figuren gegen die Vorstellungen Freuds. Auch Erich, verheirateter Liebhaber der Protagonistin in Probleme Probleme, spricht sich einmal sehr deutlich gegen das »Analysieren« seiner »Situation« aus, ja, es sei das Wichtigste, »die Situationen nicht zu analysieren, sondern sie sich entwickeln zu lassen, die Lösung komme von selbst« (TKA 4, 190; W 2, 341). Dass in der Erzählung Ihr glücklichen Augen jedoch auch im positiven Sinne mit psychologischem Begriffsinventar hantiert wird, zeigt die positive Bezugnahme auf Groddecks Vorstellung vom ›inneren‹ Sehen, zumindest in einem der Entwürfe: »Miranda hört Geschichten, sie hat keine Halluzinationen« (TKA 4, 219). Dazu kommt der Hinweis, dass sie psychosomatisch auf belastende Situationen reagiert, ja dass sie gar ein eigenes ›System‹ entwickelt habe, diese auszuhalten, dass ihr nämlich zwar »die sichtbare Welt« fehle, aber »leider nicht die andre, die mündlich, schriftlich, geräuschhaft, lichtund dunkelhaft sie umgibt, und über Licht und Geräusch hat sie Zugang zu der Welt, über Kopfschmerzen, weil die Brille ihr fehlt, weil Josef ihr fehlt« (TKA 4, 224). In der Endfassung ist explizit davon die Rede, dass Miranda »ihre kranken optischen Systeme als ein ›Geschenk des Himmels‹ empfindet«, als »Privileg« und als »Auszeichnung« (TKA 4, 244; W 2, 354). Die »paradoxe Verkehrung« von ›krank‹ und ›gesund‹, durch die auch eine gesellschaftskritische und moralische Wertung der »kranke[n] Welt samt ihren falschen Idealen, ihren Hemmungen, ihrem Wahn« impliziert wird, ist auch Thema in anderen Texten Bachmanns, dezidiert etwa in Ein Ort für Zufälle (vgl. Bossinade 2004, 10). Aus der Sicht Michael Mindens leistet Bachmann mit Texten wie Malina »der moralischen Deformation der Seele in dem modernen Zeitalter ästhetischen Widerstand« (Minden 2014, 320). Die dreiteilige Struktur in Malina (Verarbeitung einer persönlichen Erfahrung, Vordringen zu deren traumatischem Kern inklusive dem damit verbundenen Krisenerleben, ein ästhetisch gerahmtes Ende des erlebenden Ich) vergleicht er mit dem dreiteiligen Prozess einer
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psychoanalytischen Therapie: »It will take its starting point from difficulties on the part of the individual patient in dealing with the specific identificatory roles historically and socially available to them. It will then enter its main phase, one that could be equated with what we called ›defacing‹ above: the dismantling of those defenses that have hardened into a character or identity but have somehow become counter-productive and caused unhappiness. Thirdly, it will work towards a new and more viable organisation of psychic energies« (ebd., 331). Die Geschichte einer solchen Analyse lässt sich nicht linear-logisch erzählen – ähnlich wie die ästhetische Umsetzung in Malina von einem Widerstand gegen ein den Text strukturierendes, logisch-kausales Narrativ (»resistance to narrative in the sense of a structuring sequential logic«) getrieben scheint (ebd.). Diese Verschränkung von Inhalt und ästhetischer Form wird auch am ehesten dem Ziel gerecht, (möglicherweise) persönlich erlittener Schmerzerfahrung einen fiktiven Raum und ästhetischen Rahmen zu geben ohne dabei hinter die eigene intellektuelle Sozialisation und den eigenen kulturellen Anspruch zurückzufallen (vgl. ebd., 330), d. h. bloße autobiographische Texte mit simplem Authentizitätsanspruch zu verfassen.
Ein psychoanalytisches Sprachverständnis? Bachmanns Texte sind mit Recht von der Selbsterfahrungsliteratur der 1970er Jahre und deren Authentizitätsanspruch abgegrenzt worden, auch wenn es stets aufs Neue Versuche gab, engere Relationen zwischen ihrer Biographie und ihrem literarischen Werk herzustellen (vgl. etwa Brigitte Dennemark-Jägers psychoanalytische Annäherung an Malina, 2008). Der Autorin ist der Inszenierungscharakter von ›Wahrheit‹ und ›Authentizität‹ in höchstem Maße bewusst, und sie konstruiert ihre Themen dementsprechend (Kanz 1999, 63–65). Um den von ihr explizit erwünschten Authentizitätseffekt literarischer Gefühlsartikulationen zu erzielen, musste sie demnach paradoxerweise schreibend nach adäquaten Ausdrucksformen jenseits von Sprache und Schrift suchen, oder präziser formuliert: diese im verbalen Text als nonverbal konstruieren. Die unzureichenden Zeichensysteme der symbolischen Ordnung ersetzt Bachmann daher oft durch die Literarisierung anderer Artikulationsformen, zum Beispiel durch körperoder traumsprachliche (ebd., 63–78 und 79–94). Über sie kristallisiert sich ein Sprachbegriff heraus,
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der nicht mehr die logische Form der verbalen Sprache meint, sondern eine Sprache außerhalb der ›symbolischen Ordnung‹. Er lässt sich, wie bereits Sigrid Weigel (1999, 72) festgestellt hat, in die Nähe eines psychoanalytischen Sprachverständnisses rücken, gelten doch auch für Freud Gebärden und Phantasiebilder sowie andere Ausdrucksformen »seelischer Tätigkeit« als »Sprache« (Freud 1999, Bd. 8, 403). Eine ähnliche Erweiterung des Sprachbegriffs nimmt Bachmann explizit in der Erzählung Alles vor: »alles ist eine Frage der Sprache [...]. Denn darunter schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der Gefühle« (W 2, 143). Die literarischen Darstellungen ›authentischer‹ Körperzeichen von Emotionen werden bei Bachmann durch den Rekurs auf die Psychoanalyse einerseits wissenschaftlich autorisiert, steigern somit den Effekt von Authentizität, erweisen sich dadurch aber andererseits als bloße Reproduktion eines vorgängigen Diskurses, der seinerseits wieder vorgegebene Diskurse reproduziert. Der Körper, der lediglich ein Reproduzent vorgegebener Symptome ist, ist aus dieser Sicht als Authentizitätsgarant ›verschwunden‹. Wie eine Umsetzung dieses Gedankens nimmt sich in diesem Zusammenhang die Absage der Protagonistin in Malina an ihre »Leibhaftigkeit« aus (TKA 3.1, 403; W 3, 104).
Kritik an Psychoanalyse, Psychiatrie, Psycho logie Dafür, dass solche Hinweise auf den Konstruktionscharakter des psychoanalytischen Diskurses von Bachmann bewusst intendiert waren, sprechen Passagen, die deutlichere Kritik an Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse formulieren. Die Titelfigur im Buch Franza, für die Angst zur ständigen Begleiterin auch im Alltag und selbst in der Wüste wird, die sie doch zu Anfang ihrer Reise als »große Heilanstalt« bezeichnet (TKA 2, 248; W 3, 415), wird von »Angst flankiert, flankiert von nicht einer Sphinx, von tausend Sphinxen« (TKA 2, 277; W 3, 438). Dieser Vergleich lässt die massive Wirkung der Angst erahnen und diese gleichzeitig als Inbegriff des Rätselhaften erscheinen: »meine Tagrätsel sind größer als meine Traumrätsel, du merkst dann, daß es keine Traumrätsel gibt, sondern nur Rätsel, Tagrätsel, unverlautbare chaotische Wirklichkeit« (TKA 2, 229; W 3, 411). Dass »das Angstproblem [...] ein Rätsel« sei, »dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelen-
leben ergießen müßte«, hatte schon Freud in seiner Vorlesung über »Die Angst« formuliert (Freud 1969– 75, Bd. 1, 380). Bachmann jedoch lässt ihre Protagonistin hier ganz anderer Meinung als Freud sein. Da Angst »der Überfall«, der »Terror, der massive Angriff auf das Leben« sei, dürfe man sie nicht zum »Geheimnis« stilisieren (TKA 2, 58; vgl. W 3, 406). Auch betont sie mehrmals, dass nur derjenige über Wissen um die Angst verfügte, der sie selbst erfahren habe (ebd.). Angst bekommt bei ihr den Stellenwert einer seelischen Erschütterung, die nicht theoretisch erfassbar ist und sich nicht systematisieren oder quantifizieren lässt. Weder die Philosophie noch eine andere Wissenschaft kann sie angemessen vermitteln. Damit verwahrt sie sich gegen jegliche Theorien über die Angst, auch gegen »die Lösungen der Psychologien« (TKA 2, 69; W 3, 409), die trotz zutreffender Aussagen ›Unsagbares‹ wie die Angst nicht adäquat erfassen können. Ähnlich heißt es in Bezug auf die Erfahrung von »Angst, die Sorgen ums Dasein, das Geworfensein« in einem der beiden, vermutlich Anfang 1966 entstandenen fragmentarischen Entwürfe zu einer Rede an die Ärzteschaft: »Il male oscuro: lassen Sie mich dazu etwas sagen, ein wenig. Glauben Sie niemals jemand, der theoretisch etwas darüber geschrieben hat. Niemand.« Die sich anschließenden Passagen lesen sich wie weitere Vorentwürfe zu den Aussagen Franzas: »Wie blöde erscheint das einem Menschen, alle diese Ausdrücke, Angst etc. Bitte seien Sie, was Sie sein können, nämlich Ärzte. Es gibt die Angst nicht, aber der Kranke hat sie, dafür stehe ich ein, vor jeder Instanz« (Bachmann 2017, 91). Bereits in ihrer Dissertation stellt sie das Ausdrucksvermögen der Kunst dem Versuch der Existentialphilosophie Martin Heideggers entgegen, Angst begrifflich zu fassen, und spricht sich gegen »die gefährliche Halbrationalisierung einer Sphäre« aus (Bachmann 1985, 128 f.). Wiederum wird hier Bachmanns Affinität auch zu den Konzepten Groddecks deutlich, der sich gegen die Rationalisierung des »Mysteriums« wandte (Groddeck 1966, 322). Aus ihren Überlegungen darüber, wie seelische Erschütterungen literarisch zu vermitteln seien, entwickelte Bachmann später ihre Ästhetik der »schreckliche[n] Poesie« – ein Programm, das ihrer Leserschaft die Augen öffnen sollte für die sublimen alltäglichen ›Verbrechen‹ (TKA 2, 72; vgl. Kanz 1999, 50–51). Ein Realisierungsversuch solch ›schrecklicher Poesie‹ ist das Buch Franza. Die Tatsache, dass Franza von Jordan zu einem psychiatrischen Fall degradiert wird, »gefoltert von Worten [...], die nachklingen« (TKA 2, 37), ihr Gefühl, auf subtile
42 Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie
Weise psychisch von ihm vernichtet zu werden, sowie die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation erzeugen ein Empfinden des Ausgeliefertseins, das den Ausgangspunkt ihrer Angst bildet. Sie fühlt sich als Internierte des psychiatrischen Diskurses. Jordans ›Waffe‹, das psychiatrische Fachvokabular, ermöglicht es, jede menschliche Eigenschaft und jedes menschliche Verhalten zu benennen und anschließend zu kategorisieren. Franza kann dagegen auf kein wissenschaftliches Instrumentarium zurückgreifen und befindet sich ihm gegenüber in einer Ohnmachtsposition. Das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit äußert sich u. a. in den beschriebenen psychosomatischen Symptomen, der psychische Verfall setzt ein, an dessen Ende der physische Tod steht. Der Machteffekt psychiatrischer Diagnosen hat letztlich nicht nur die Selbstübernahme der Pathologisierung bewirkt, sondern zugleich auch zur Disziplinierung sämtlicher Regungen und Affekte geführt. Das Romanfragment nimmt damit die Haltung jener psychiatrie- und vernunftkritischen Texte der 1970er und 1980er Jahre vorweg, die beschreiben, wie die Diagnose des Wahnsinns als Disziplinierungsmittel eingesetzt wird. Auch die Protagonistin in Malina erweist sich als Kritikerin einer allein instrumentell begriffenen Vernunft und damit auch des psychoanalytischen Rationalitätskonzepts, wenn sie betont, der »Mensch« sei »ein dunkles Wesen, er ist nur Herr über sich in der Finsternis und am Tag kehrt er zurück in die Sklaverei« (TKA 3.1, 399; W 3, 101). Sie kehrt die Prämissen der Aufklärung um, an denen auch Freud festhielt, beschrieb er es doch als Kränkung menschlichen Selbstbewusstseins, dass das Ich »nicht einmal Herr [...] im eigenen Hause« sei, sondern Sklave seiner dunklen Triebe und Affekte, des »Es« (Freud 1969–75, Bd. 1, 284), und er machte es der Psychoanalyse zum Programm, das rationale Ich in seiner Autonomie zu stärken: »Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee« (ebd., 516). Genau dieses dezidiert aufklärerische Denken aber, der Verstand, die Rationalität, der wissenschaftliche Logos versklaven nach Auffassung des ›weiblichen Ich‹ Wahrnehmung und Fühlen der Menschheit und sorgen für Verwirrung und Angst. In einem Brief bekennt es sich explizit zu einer anderen Auffassung von Vernunft (TKA 3.1, 409; W 3, 108 f.). Sind solche Passagen womöglich nur implizit als ironische zu begreifen, so gelang es Bachmann in ihren Geschichten über die Wienerinnen, ihre Kritik an psychologischen Theorien in geradezu satirischer
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Weise zu formulieren. Rosamunde in der gleichnamigen Erzählung aus dem Nachlass – vermutlich die »Wiederaufnahme eines Entwurfs aus dem Jahr 1964« (Kommentar in TKA 4, 550) – ist eine circa 30-jährige promovierte Psychologin, deren Verhältnis zu ihrem Fach in der auch sonst in ihrer Wirkung komischen Geschichte satirische Züge erhält. So kann sich die Protagonistin bereits nicht so ganz mit der äußerlichformalen Bestätigung ihrer wissenschaftlichen Befähigung als Psychologin identifizieren: »Jetzt sagten alle Frau Doktor zu ihr, das war ihr peinlich« (TKA 4, 35). Das liegt auch daran, dass sie ein frappantes Missverhältnis zwischen ihren Realitätserfahrungen und den psychologischen Lehrbuchmeinungen wahrnimmt. Zwischen ihrem Alltag als Frau und den psychologischen Theorien über ›die‹ Frau, die sie als Assistentin der Psychologie ver- bzw. bearbeiten muss, herrscht für sie ein riesiger Unterschied: Nichts im wirklichen Leben, so befindet sie, ist »nach der Art der Lehrbücher und Analytiker« (TKA 4, 39). Das beginnt bereits beim Thema ›Sexualität‹, in dessen Rahmen sie u. a. die Schriften des sexualwissenschaftlich orientierten Psychiaters und Psychoanalytikers Wilhelm Reich zur Kenntnis nimmt (vgl. TKA 4, 34): »Rosamunde starrte vor sich hin, die Orgasmustheorie. Schon sehr interessant, andrerseits kannte sie keinen Menschen, der Orgasmusschwierigkeiten hatte« (TKA 4, 34). Immerhin weiß die junge Psychologin um möglicherweise sie doch weiterführende Ansätze – sie macht sich »Notizen: siehe Alexander, siehe Horney, siehe ebd.« (TKA 4, 34) – und verweist damit zumindest implizit auf offenbar ihr wichtig erscheinende psychologische Ansätze, die sie wie Karen Horneys feministische Freud-Kritik und Franz Gabriel Alexanders psychosomatisch orientierte Psychoanalysekonzeption als Psychologin und Frau konkret interessieren und betreffen und zugleich, ähnlich wie Viktor E. Frankl Existenzsinn-Konzept, geschichtsbewusst sind, emigrierten doch sowohl Horney als auch Alexander um 1930 in die USA.
Parallelen zur feministischen Freud-Kritik der 1970er Jahre Vor dem Hintergrund der Verquickung von Weiblichkeit und Todesartenproblematik in Bachmanns Prosa liegt es nahe, ihre Texte mit der feministischen FreudKritik zu lesen, gerade im Hinblick auf das FranzaFragment, in dem eine Frau Opfer des psychiatrischen Diskurses wird. Zu den einflussreichsten Freud-Kriti-
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
kerinnen zählt die Analytikerin und Philosophin Luce Irigaray, die sich seit den 1970er Jahren kritisch mit der Frage nach der Definition der Frau im hegemonialen philosophischen und psychoanalytischen Diskurs auseinandergesetzt hat. Daneben gibt es weitere Verbindungslinien, die sich zwischen dem Werk Bachmanns und Irigarays Ausführungen über ›Weiblichkeit‹ ziehen lassen – etwa die Auffassung, dass das Weibliche das (kulturell) Ausgegrenzte ist und in der Nähe des Unbewussten situiert wird (vgl. Kanz 1999, 163–165). Die von Bachmann in Das Buch Franza und in Malina beschriebenen Artikulationsformen der ›Hysterie‹ und der Angst sind Leiden, in denen sich Verdrängtes, im Alltag Abgespaltenes, ›Weibliches‹ zeigen kann. Hier verfährt die Autorin analog jenen feministischen Theorien der 1970er Jahre, die Hysterie auf eine (hier positiv umbewertete) Ortsbestimmung des ›Weiblichen‹ zurückführten, obgleich (oder gerade weil) sie eine traditionellerweise schon immer Frauen zugeordnete Form psychischer Abweichung ist (vgl. Gay 1987, 245; Kahane 1995, 97; von Braun 1985, 428–430; Lindhoff 1995, 170; Showalter 1987, 68 f.). Die Körpersprache bei Bachmann lässt sich in die Nähe einer »Syntax des Weiblichen« im Sinne Irigarays rücken – im Übrigen eine »Syntax«, die man »auch hören« kann, so Irigaray, »wenn man sich die Ohren nicht mit Sinn zustopft, in der Sprache der Frauen in der Psychoanalyse« (Irigaray 1979, 140). Ohne von feministischen Theorien auszugehen und obwohl ihr das Werk Irigarays noch unbekannt sein musste, bietet Bachmann mit ihren literarischen Texten nicht nur Bestätigungen von Irigarays theoretischen Konzepten, sondern ergänzt diese oder geht sogar über sie hinaus. Ähnlich wie Irigaray sich gegen eindeutige Definitionen des Weiblichen sperren will, verharrt Bachmanns Weiblichkeitskonzeption – anders als ihre Konstruktion von Männlichkeit – niemals in Eindeutigkeit. Fragen wie die des ›weiblichen Ich‹ in Malina – »Bin ich eine Frau oder etwas Dimorphes? Bin ich nicht ganz eine Frau, was bin ich überhaupt?« (TKA 3.1, 619; W 3, 278) – korrelieren jedoch nur nach einer bestimmten Auffassung mit den Proklamationen Irigarays, die Gefahr läuft, das »Weibliche« – auch wenn sie dies nicht beabsichtigt – gleichzeitig zu dem zu stilisieren, was es nicht erst seit Freud war: zum Nicht-Erklärbaren, zum »Rätsel« (Freud 1969–75, Bd. 1, 544) und »dark continent« Frau (Freud 1969–75, Ergänzungsbd., 303). Die Bemerkungen des ›weiblichen Ich‹ in Malina hingegen, die auf die starre Kategorisierung ›Frau‹ abzielen, könnten genauso gut als Infragestellung der konventionellen Aufteilung der Geschlechter in ›Mann‹
oder ›Frau‹ gelesen werden. Sie scheinen Möglichkeiten androgyner oder bisexueller – ›dimorpher‹ – Geschlechtlichkeiten jenseits binärer Geschlechtercodierungen mit einzubeziehen oder gar anzuvisieren, statt traditionelle – von der Psychoanalyse reproduzierte – neu zu zementieren (Kanz 1999, 165). Quellen
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Christine Kanz
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
43 Gender- und Körperdiskurs Bachmanns Schreiben kreist immer wieder auch um das Verhältnis zwischen Körper und Ich, und damit um das Grundproblem des ontologischen Dualismus. Fragen der Körperl-ich-keit ziehen sich durch ihre literarischen und poetologischen Werke, wenn sie regelmäßig existentielle Grenz- und Ausnahmesituationen der Wahrnehmung (Traum) oder des Körperlichen (Krankheit, Tod) austestet, sich radikalen Beschränkungen der Empfindungs- (Blindheit, Taubheit) oder Ausdrucksmöglichkeiten (Stummheit) annähert und Geschlechterverhältnisse (Macht, Liebe, Sexualität) problematisiert.
Geschlecht und Sprache In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen des Wintersemesters 1959/60 verbindet Bachmann mit »Sprachverzweiflung« und »Selbstbezweiflung« (KS, 259; W 4, 188) paradigmatisch die Sprach- mit der Identitätskrise der Moderne und sucht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für das literarische Schreiben. Auch wenn sich hier wohl noch keine Analogien zwischen Bachmanns Verständnis und Positionen finden lassen, die eine eigene Sprache und ein dezidiert ›weibliches Schreiben‹ fordern wie später die feministische Theoriebildung (Hélène Cixous, Luce Irigaray, u. a.), lässt der auffällig hohe Anteil männlicher Perspektiven und Monologe in ihren Texten (Baackmann 1995, 16) durchaus (im Lacanschen Sinne) an den Ausschluss der Frau aus der symbolischen Ordnung denken. Auch ihr Roman Malina oder Erzählungen wie Alles und Ein Wildermuth zeigen, dass die Wahl der Erzählhaltung nicht nur eine ›Stimme‹ und einen Blickwinkel bedeutet, sondern der narrativen Instanz auch die Deutungshoheit über die Frau verleiht. Darüber hinaus wird das Weibliche bei Bachmann wohl nicht zufällig immer wieder durch Männerfiguren – »Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!« (W 2, 253) – bedroht und zum Verstummen gebracht, während die Titelfigur des Romans Das Buch Franza im Kapitel »Jordanische Zeit« eine Sprache für ihre psychosomatischen Zerstörungen durch ihren Ehemann sucht. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass Bachmann in den 1980er Jahren in der Literaturwissenschaft durch feministische Lektüren (wieder-)entdeckt wurde (vgl. zusammenfassend Lennox 2006, Kap. 2). Die kritische Bachmann-Forschung wendet sich inzwischen jedoch auch gegen
die Vereinnahmung der Autorin für zeitgenössische Gender- und Feminismus-Diskurse und attestiert Bachmann gar einen gewissen »blind spot« (Albrecht 2004, 138): Denn neben biographischen Widersprüchen – etwa in ihren eigenen Beziehungen zu Männern oder ihrer herablassenden Haltung der aufkommenden Frauenbewegung gegenüber (GuI, 109) – sind Themen wie Frau als ›Rätsel‹ und ›Opfer‹, Wasser und Schleier als weibliche Symbole usw. eher konventionell, scheinen entsprechende Traditionen eher zu bestätigen als subversiv zu unterlaufen oder ironisch zu brechen, und zeugen womöglich vom Weiterwirken »unbewußter[r] Phantasien über die ›Natur‹ von Mann und Frau und die Geschlechterdifferenz« (Rohde-Dachser 1989, 195).
Traum Der Traum als hochgradig subjektive Erfahrung und eine die Realität durchbrechende Wahrnehmung zieht sich als zentrales Motiv in unterschiedlicher Form durch Bachmanns Werk. Dies findet sich zwar prinzipiell bereits prominent in der deutschen Literatur der Romantik, wenn Schriftsteller wie Novalis, Ludwig Tieck oder Joseph von Eichendorff ein starkes Interesse an unbewussten Vorgängen entwickeln, jedoch ist in den Jahren nach 1800 mit dem Bild des ›Nachtmahrs‹ noch häufig ein Verständnis vorherrschend, das Träume als ›von außen‹ gesandte, häufig prophetische Botschaften sieht. Diese Vorstellung ändert sich spätestens zum ausgehenden 19. Jahrhundert mit einem zunehmenden Wissen über die menschliche Psyche wie auch die kreative ›Macht‹ des Unbewussten, nicht zuletzt dann aber mit Sigmund Freuds einflussreicher Traumdeutung (1900). Der Wiener Nervenarzt versucht darin in dieser Form erstmals die Bildsymbolik wie auch die sprachliche Verfasstheit des Traums analytisch zu begreifen und das kulturübergreifende Phänomen durch unbewusste Prozesse (Triebe, Wünsche) zu erklären. In der Folge streben unzählige AutorInnen danach, den Traum als hoch individuelle (aber weiterhin körperlich erlebte) Wahrnehmung eines schlafenden Ich – und daher streng genommen weder vom wachen Bewusstsein noch einer anderen Person erfahr- oder überprüfbar – zu fassen und in seiner ganzen Ambivalenz literarisch zu inszenieren. Bachmann folgt dabei durchaus modernen Schriftstellern wie Franz Kafka, Arthur Schnitzler oder Hugo von Hofmannsthal, wenn ihre literarische Traumdarstel-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_43
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lung sich dem nächtlichen Phänomen sowohl auf der Handlungsebene (eine von der Realität abweichende ›Traumlogik‹) wie auch durch sprachliche Struktur (hochsymbolische Bilder und Motive, symbolhafte und stark verdichtete Traumsprache) des Textes annähert und im Unterbewussten ›Verborgenes‹ und ›Verdrängtes‹, Wünsche und Verbote sichtbar zu machen versucht (Roelfs 1993, 34). So zeichnet sich die frühe Erzählung Der Kommandant (ein Fragment aus Bachmanns verschollenem Roman Stadt ohne Namen) durch kafkaeske Traumstrukturen – »Der Kommandant, den man gesucht hatte, war er« (W 2, 33) – aus, die sich im Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen fortsetzen. Der Traum als körperlich erlebte Gegenrealität und als verschlüsselte Form der Erkenntnis findet in Bachmanns Schreiben seinen Höhepunkt im mittleren Kapitel des Romans Malina, die »Urszene der Literatur nach 1945« (Höller 2009, 29) beinhaltend. Die orts- und zeitlosen Träume bilden damit die traumatische Gegenrealität zu dem im ›Heute‹ und ›Wien‹ angesiedelten Kapitel zuvor und sind in Malina (der inzestuöse Vater in Verbindung zur Shoah) ebenso Ausdruck einer männlich-patriarchalen Gewalt wie das Traumbild vom »Friedhof der ermordeten Töchter« (TKA 3.1, 502; vgl. auch TKA 2, 229). Als quasi-körperliche Form der Erkenntnis fungiert der Traum zuvor schon in dem Romanfragment Das Buch Franza, doch auch wenn die Titelfigur erklärt, ihre »Tagrätsel« seien »größer als [ihre] Traumrätsel«, und von Träumen berichtet, die »den großen Wurf« tun – »ein Shakespeare hat ihm die Hand geliehen, ein Goya ihm die Bühnenbilder gemalt« (ebd.) –, handelt es sich dabei um die Figurenperspektive (Uerlings 2006, 188) und keineswegs Bachmanns Position zur Erkenntnisleistung von Träumen. Auch andere Texte könnten darauf hindeuten, dass Bachmanns Verhältnis zum Wiener ›Übervater‹ eher ambivalent war. Zwar finden sich mehrere Bücher in ihrer Bibliothek (u. a. die im Fischer-Verlag erschienene Studienausgabe; KS, 710), doch wäre zu untersuchen, ob etwa die plakative Freudsche Traumsymbolik im Wüstenbuch nicht vielmehr ironisch gebrochen wird, wenn »in ihren Träumen [denen »der Weißen«] Schlangen und Feuer und Sümpfe und Flüge vorkommen« (TKA 1, 240). Daran anknüpfend hat sich die Literaturwissenschaft immer wieder an einer Deutung der literarischen Träume versucht und dabei besonders Bachmanns Anlehnung an eine Sprache des Unbewussten hervorgehoben (Leahy 2006; Steinhoff 2008).
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Blindheit, Taubheit, Stummheit Bachmanns Suche nach (neuen) Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten als werkübergreifendes Thema stellt auffällig häufig eine Verbindung zur Körperlichkeit her: Das Verhältnis von Empfinden und Ausdrücken, Begreifen und Bezeichnen interessiert die Sprachphilosophin seit ihrer Dissertation, doch sind das Sehen und Hören als zentrale Sinneswahrnehmungen wie auch das Sprechen als Ausdruck dieser Empfindungen in Bachmanns Werken programmatischerweise immer wieder gestört. Gerade in ihrem ersten Gedichtband, Die gestundete Zeit, wird das Sehen als Erkenntnis, das Nichtsehen als Unwissenheit zur hochsymbolischen Metapher (Mayer 1997). Später wird das Auge als »täuschungsanfälliges Sinnesorgan« (Opitz-Wiemers 2016, 237) auch immer wieder in den Prosatexten thematisiert: So spielt beispielsweise die Beziehung von Sehen und Wahrheit eine zentrale Rolle in der Erzählung Ihr glücklichen Augen aus dem Band Simultan, unterstrichen durch die paratextuelle Widmung an Georg Groddeck (1866–1934). Denn der deutsche Mediziner und Psychoanalytiker, dessen Hauptwerk Das Buch vom Es (1923) in Bachmanns Bibliothek verzeichnet ist (TKA 4, 628) und über den sie einen kurzen Essay schrieb (W 4, 346–353; KS, 430–438), geht in seinem Aufsatz »Vom Sehen, von der Welt des Auges und vom Sehen ohne Augen« (1932) auf die Verdrängung von Gesehenem ein. Wenn in Bachmanns Erzählung daraufhin Mirandas »Blicke nur katastrophale Irrtümer ergeben« (TKA 4, 245), ließe sich dies nach Groddeck auf »die verdrängende Tätigkeit des Sehens« (Groddeck 1966, 307) durch die ausgeprägte Kurzsichtigkeit zurückführen – unter der Bachmann ja ebenfalls litt. Ähnliche ›Fehlleistungen‹ (durchaus im Freudschen Verständnis) der Sinne betreffen auch die akustische Wahrnehmung: So glaubt die alte Frau Jordan in der späten Erzählung Das Gebell, von ihrem erfolgreichen Sohn Leo vernachlässigt, bellende Hunde zu hören. Dieses regelmäßige ›Verhören‹ als Erinnerung an ihren früheren (und Leo regelmäßig anbellenden, ihn gar beißenden) Hund Nuri (TKA 4, 302) ist dementsprechend nicht nur als weiteres Symptom ihrer Vergangenheitsflucht zu verstehen, sondern stellt ebenso eine unbewusste Auflehnung gegen den Sohn dar. Eine noch größere Symbolik in Bachmanns Lyrik, Prosa und Poetik erhalten jedoch die drei Problemfelder des Stimmverlusts, der Suche nach einer (eigenen) Stimme sowie der Verweigerung dieser Stimme. Da-
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bei erscheint ausgerechnet das Verstummen aber nicht nur als Defizit, sondern auch als Möglichkeit. Denn wenn sie Sprachlosigkeit und Stummheit als die »reinsten Zustände!« (KS, 250; W 4, 60) beschreibt, steht dies darüber hinaus in engem Zusammenhang zu Bachmanns fortwährender Suche nach einer ›neuen Sprache‹, die sie immer wieder in ihrer Lyrik, Prosa und den Poetikvorlesungen fordert. Bachmann selbst scheint dies auch – man denke an ihr legendäres Flüstern bei ihrer ersten Teilnahme an der Gruppe 47 im Jahre 1952 (vgl. Hartwig 2017, 102 f.) oder das Gedicht Ihr Worte (W 1, 162 f.) – zu einem poetologischen ›Spiel‹ oder gar einer gezielten ›Strategie‹ entwickelt zu haben: Die über Jahrhunderte vom Kulturschaffen ausgeschlossene Frau muss sich im männerbeherrschten Literaturbetrieb weiterhin erst noch Gehör verschaffen. Die Nähe zur späteren feministischen Theoriebildung der 1970er Jahre liegt dabei auf der Hand, schließlich geht ein dezidiert ›weibliches Schreiben‹ angesichts einer männlich dominierten Literaturgeschichte mit dem Finden der eigenen Stimme einher (Bovenschen 2003, 12). Dementsprechend ambivalent lässt sich das Ende des Romans Malina oder in ähnlicher Weise auch das Ende der Erzählung Undine geht deuten: im ersten Fall entweder als Versagen oder gar Untersagen der Stimme oder aber als die über den Figurentod hinausreichende Fortführung eines weiblichen Erzählens, im zweiten Fall als wütend-verzweifelter Monolog des weiblichen Ich. Im Gegensatz zum Verstummen (als Verlust der Stimme) steht das Nicht-gehört-werden (also die Verweigerung der eigenen Stimme); das erzählende Ich im Roman Malina wird in ihren Träumen gerade von männlichen Personen immer wieder nicht gehört, was sich erst im Erzählen dieser Träume (gegenüber dem ›Traumdeuter‹ Malina als Manifestation des männlich-dominierten Therapie-Diskurses) ändert.
Krankheit, Schmerz, Tod Nicht zufällig vermutete Gabriele Wohmann in einer der frühesten Malina-Rezensionen als »wahre Inschrift« des Romans die »Leiden« (Wohmann 1971, 164) der weiblichen Figur. Denn Schmerz – hierbei folgt Bachmann beispielsweise Paul Celan, Sylvia Plath oder Thomas Bernhard (vgl. Bartsch 1997, 23) – steht in ihren Werken in poetologischer Programmatik als (Grenz-)Erfahrung für ein Erkennen der eigenen Körperlichkeit, des individuellen (Da-)Seins und
der existentiellen Zerbrechlichkeit, und so wurde in der Bachmann-Forschung nicht selten ein Zusammenhang zwischen Schmerz und Wahrheit (Dröscher-Teille 2018, 3) respektive Schmerz und Authentizität (Larcati 2006, 242) ausgemacht: »Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit« (KS, 246; W 4, 275). Ihren eigenen Schmerz auf die Erfahrung der NSZeit zurückführend (GuI, 111), werden existentielle Körperwahrnehmungen bereits in Bachmanns früher Lyrik und Prosa angedeutet, dann nach den eigenen Krankheitserlebnissen mit zahlreichen Klinikaufenthalten ab 1963 in Zürich, Berlin, St. Moritz und Baden-Baden als zentrales Symbol im Todesarten-Projekt verhandelt. Dort sind es vor allem Frauenfiguren, die physisch und psychisch leiden – und wenn sowohl im Buch Franza als auch in Malina der weibliche Körper von (Alb-)Träumen heimgesucht und von Krankheitssymptomen gezeichnet, wenn die Frau der männlichen Deutungshoheit unterworfen wird, knüpft dies zweifellos an das Bild der ›hysterischen Frau‹ an. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im Hysterie-Diskurs von ausschließlich männlichen Ärzten die körperlich-psychische ›Gesundheit‹ (und damit: ›Normalität‹) als Schablone gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens festgeschrieben und – nicht zuletzt vor dem Hintergrund aufstrebender Emanzipationsbewegungen und zunehmender Möglichkeiten der juristischen und ökonomischen Unabhängigkeit für Frauen – Abweichungen davon als universell weibliche ›Krankheit‹ der ›Hysterie‹ (von altgr. hystéra, »Gebärmutter«), als ›Neurose‹/ ›Neurasthenie‹ oder allgemeiner als ›Wahnsinn‹ diagnostiziert (Foucault 1973; Braun 2009). Der Franza-Roman als die »Reise durch eine Krankheit« (TKA 2, 77) bringt nun die weibliche Hysterie mit dem NS-Trauma als zwei ›Angstsysteme‹ (Kanz 1999, 95) und existentielle Erfahrungen körperlicher Leiden (durch männliche Herrschaft) zusammen: Dies manifestiert sich körperlich neben Albträumen auch durch unkontrollierte Konvulsion – »sie zitterte und ihr Körper tat etwas mit ihr« (TKA 2, 155) –, durch Hautsymptome wie Blasen und Verletzungen oder Würgemale (TKA 2, 206–208). In der Bachmann-Forschung wurde immer wieder der Zusammenhang zwischen ihrer Trennung von Max Frisch (sowie danach dem Berlin-Aufenthalt) und der Büchner-Preis-Rede (zum Thema des Wahnsinns) als zentralem Umbruch in ihrem Schreiben hervorgehoben (vgl. Höller 2009, 124) und darauf
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hingewiesen, dass die zentralen Themen des Spätwerks durch eigene (Krankheits-)Erfahrungen, ihre Abhängigkeit und Tablettensucht geprägt sind: »Wüste, Krieg und Zerstörung, das Krankenhaus als Ort, an dem die geschundenen Seelen mit der Weltgeschichte verschmelzen« (Hartwig 2017, 124). Auffälligerweise werden die Frauenfiguren dabei fast immer von männlichen ›Tätern‹ in die Krankheit (vgl. Höller 2009, 121) oder in den Selbstmord getrieben (in der frühen Erzählung Im Himmel und auf Erden). Tatsächlich ist bereits das Frühwerk von den Themen Tod und Sterben (vgl. Bartsch 1997, 40 f.) und einem offensichtlichen Interesse an den »vielen Todesarten des Ich« (GuI, 95) geprägt: Mit »Ich bin das Immerzu-ans-Sterben-Denken« (W 1, 15) endet bereits das frühe (und im Titel quasi das Romanende von Malina vorwegnehmende) Gedicht Hinter der Wand.
Liebe und Sexualität Auch Liebe und Sexualität als Ausdruck körperlicher Leidenschaft werden teils destruktiv gedeutet, etwa wenn sich in der Erzählung Simultan und am Beispiel der Dolmetscherin Nadja die körperlichen Grenzerfahrungen von Sexualität und Tod (»la petite mort«) verbinden: »Im Zimmer, als er sie umarmte, begann sie wieder zu zittern, wollte nicht, konnte nicht, sie fürchtete zu ersticken oder ihm unter den Händen wegzusterben, aber dann wollte sie es doch, es war besser, von ihm erstickt und vernichtet zu werden und damit alles zu vernichten, was in ihr unheilbar geworden war, sie kämpfte nicht mehr, ließ es mit sich geschehen, sie blieb fühllos liegen, drehte sich ohne ein Wort von ihm weg und schlief sofort ein« (TKA 4, 138). Der hier evozierte Zusammenhang zwischen Sexualität und Hysterie einerseits und Sexualität und Macht andererseits unterstreicht die ambivalente Körperlichkeit sexueller Erfahrungen bei Bachmanns (weiblichen) Figuren: Die Frau gibt sich schließlich dem Mann hin – auf die Gefahr, vernichtet zu werden. Gerade in der Erzählsammlung Simultan scheinen die weiblichen Figuren wenig von der ›sexuellen Revolution‹ der Zeit beeinflusst und eher unter der körperlichen Liebe zu leiden, so dass der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki die Frauen in einer Rezension gar als ›frigide‹ und ›hysterisch‹ bezeichnet (ReichRanicki 1972): So ist die Sexualität – »was zwischen Beatrix und Erich nicht stattfand« – der lethargischen jungen Frau schlicht »zu strapaziös« (TKA 4, 167), während Elisabeth zunächst noch zu Männern geht,
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»wie man sich in einen Operationssaal begibt, um sich den Blinddarm herausnehmen zu lassen, nicht gerade beunruhigt, aber auch ohne Enthusiasmus« (TKA 4, 382). Dies zeigt letztlich aber mehr einen selbstbestimmten und teils schlicht ›pragmatischen‹ Umgang der Frauen mit ihrem eigenen körperlichen Verlangen denn ein ›prüdes‹ oder gar ›frigides‹ Verhalten, wird die Sexualität bei Bachmann doch häufig als ein gemeinsames Aushandeln gezeigt: »Spielten: Liebe« (W 1, 292). Daher zieht etwa Beatrix in der Erzählung zuvor selbst die Linie zwischen »aufreizenden Spielen« und entschiedener »Abwehr« (TKA 4, 172), und auch Elisabeth fängt schnell an, »alles ins Spiel zu bringen, um [Trotta] zu gewinnen und zu halten« (TKA 4, 383). So zeichnen sich Liebe und Liebesbeziehungen in Bachmanns Texten insgesamt zwar durch eine starke Körperlichkeit aus, allerdings wird zu keiner Zeit direkt das Wort »Sex« verwendet (vgl. Hartwig 2017, 42). Erotische, gar pornographische Beschreibungen bleiben aus, vielmehr schreibt Bachmann seit ihren Jugenderzählungen eher subtil über die »Nachtseite des Körpers« (N5856), impliziert und versachlicht die körperliche Hingabe lediglich: Die junge Maria in der frühen Erzählung Die Fähre etwa »bringt nur sich« (W 2, 13), und in Malina haben in der »erste[n] Nachkriegszeit« (TKA 4, 598) in Wien »alle einen Gebrauch voneinander gemacht« (TKA 3, 615). Auch in den (bisher vorliegenden) privaten Briefen bleibt Bachmann bei einer lyrischen, niemals obszön werdenden Symbolik, etwa wenn sie im Juni 1949, bezugnehmend auf ein Blumengeschenk, an Paul Celan schreibt: »Den Mohn hab ich wieder gespürt, tief, ganz tief, Du hast so wunderbar gezaubert, ich kann es nie vergessen« (Bachmann/Celan 2008, 11). Trotz zeitgleicher Entwicklungen wie Fortschritten bei der hormonellen Verhütung (die ›Revolution‹ der »Anti-Baby-Pille« trennt ab 1961 erstmals Sex und Fortpflanzung) oder einem Wandel der Sexualmoral zum Ende des Jahrzehnts bleibt die Sexualität in Bachmanns Werk also überraschend unbestimmt. Die klischeehafte Episode im späten Goldmann/RottwitzRoman, in der die Sexualität der Gräfin Kottwitz erst ›erwacht‹, nachdem sie von einem afrikanischen Studenten vergewaltigt wurde (TKA 1, 427–429; vgl. dazu Lennox 2006, 278–283), ist bezeichnenderweise Fragment geblieben. Es scheint fast, als stoße Bachmann auf ihrer steten Suche nach einer ›neuen Sprache‹ gerade bei der »Intimität von zwei Personen« (GuI, 68) an die Grenzen der literarischen Darstellbarkeit, und auch die Liebe als »dunkler Erdteil« (W 1, 158) und
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»was ich nicht erklären kann« (W 1, 110) wirkt in ihrer Lyrik und Prosa eher als ein geheimnisvolles denn ein leidenschaftliches oder gar ein befreiendes Gefühl. Doch gleichzeitig dürfte (trotzdem oder deswegen) wohl über kein biographisches Thema so viel psychologisiert worden sein wie über Bachmann und die Liebe (Schaad 2004; Lehnert 2011): In der Literaturkritik, aber auch der Literaturwissenschaft, wurde immer wieder versucht, ihre Verhältnisse zu Männern (vor allem jedoch ihre Beziehungen zu Schriftstellern wie Paul Celan und Max Frisch) aus den Texten herauszulesen, was ebenso zu sensationsgierigen Berichten – etwa über eine Vergewaltigungs- und Orgienphantasie (Opel 2001, 116 f.) –, zu Vermutungen – Bachmann habe sich sogar zum schnellen Sex auf dem Strich angeboten (vgl. Hartwig 2017, 160) – wie auch zu vermeintlich psychologischen Deutungen geführt hat: »Sie hat viele Männer gehabt, weil sie den Einen nicht haben konnte« (Schaad 2004, 34). Diese und ähnliche Spekulationen über das »Motiv des Kinderwunsches« oder das »Motiv heftiger Bruderliebe« (Hartwig 2017, 170 und 172) und Versuche, Bachmanns Schreiben gar in die Nähe einer vermeintlichen »Transgender-Obsession unserer Tage« (Hartwig 2017, 158) zu rücken, sind hochproblematische Ansätze, ihr Werk und Leben miteinander kurzzuschließen, das eine aus dem anderen zu erklären. Solche biographistischen Verkürzungen der Gender Studies bringen die Bachmann-Forschung aber sicherlich nicht weiter. Quellen
Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Berlin 2008. Frisch, Max: Montauk. Eine Erzählung. Frankfurt a. M. 1975. Groddeck, Georg: Vom Sehen, von der Welt des Auges und vom Sehen ohne Augen (Mskr. 1932). In: Georg Groddeck: Psychoanalytische Schriften zur Psychosomatik. Wiesbaden 1966, 263–331. Wohmann, Gabriele: Nachtwald voller Fragen. In: Der Spiegel, 29.3.1971, 163–164.
Literatur
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Bachmanns Erzählband Das dreißigste Jahr. In: Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (51995), Neufassung, 71–83. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 21997. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M. 2003. Braun, Christina von: Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido. Berlin 2009. Cixous, Hélène: Weiblichkeit in der Schrift. Hamburg 1979. Dröscher-Teille, Mandy: Autorinnen der Negativität. Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann, Marlene Streeruwitz, Elfriede Jelinek. Paderborn 2018. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1973. Frei Gerlach, Franziska: Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Berlin 1998. Hartwig, Ina: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. Frankfurt a. M. 2017. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 2009. Irigaray, Luce: Das Geschlecht das nicht eins ist. Hamburg 1980. Kanz, Christine: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1999. Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt 2006. Leahy, Caitríona: Bachmann’s Burning Question, or: Reading ›Rauchende Worte‹. In: Caitríona Leahy/Bernadette Cronin (Hg.): Re-Acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Würzburg 2006, 111–120. Lehnert, Gertrud: Herzanker. Dichterinnen und die Liebe. Berlin 2011. Lennox, Sara: Cemetery of the Murdered Daughters. Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. Amherst MA 2006. Mayer, Mathias: Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg 1997. Opel, Adolf: »Wo mir das Lachen zurückgekommen ist.« Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann. München 2001. Opitz-Wiemers, Carola: »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen«. Vom Sehen und Erblinden bei Ingeborg Bachmann und Irmtraud Morgner. In: Fabrizio Cambi/Arturo Larcati/Giuliano Lozzi/ Isolde Schiffermüller (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Perspektiven der Forschung. Rom 2016, 231–246. Reich-Ranicki, Marcel: Am liebsten beim Friseur. In: Die Zeit, 29.9.1972, S. Literatur 8. Roelfs, Almuth: »Der dritte Mann.« Das Traumkapitel in Ingeborg Bachmanns »Malina«. In: Frauen in der Literaturwissenschaft 38/39 (1993), 34–38. Rohde-Dachser, Christa: Unbewußte Phantasie und Mythenbildung in psychoanalytischen Theorien über die Differenz der Geschlechter. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 3 (1989), 193–218. Schaad, Isolde: Vom Einen. Literatur und Geschlecht: Elf Porträts aus der Gefahrenzone. Zürich 2004.
43 Gender- und Körperdiskurs Steinhoff, Christine: Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes. Würzburg 2008. Uerlings, Herbert: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln 2006.
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Wagner, Elisabeth: Anders Sehen. Bachmanns ›optische Systeme‹. In: Oliver Simons/Elisabeth Wagner (Hg.): Bachmanns Medien. Berlin 2008, 106–121.
Jonas Nesselhauf
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44 Bachmann in postkolonialer Sicht Noch bevor der Begriff »Postkolonialismus« zum ersten Mal im Zusammenhang mit Ingeborg Bachmann genannt wurde, erfreuten sich bereits jene Aspekte ihres Werks großer Beliebtheit, die inzwischen zum Gegenstand postkolonialer Kritik avanciert sind. Der vorherrschenden Sicht der 1980er Jahre zufolge formuliert Bachmann mit ihrem Buch Franza »die Einsicht, daß die Geschichte der Kolonisierung und die Geschichte des Patriarchats verschiedene Opfer haben, aber einen Täter« (Weigel 1984b, 82). Diese Lesart ist im Grunde noch keine postkoloniale, sondern steht noch in der Tradition der politischen Dritte Welt-Diskurse im Gefolge der Politisierung der 1960er Jahre. In den 1980ern wurde eine Engführung dieser Dritte Welt-Diskurse mit dem Feminismus der Zeit zur Basis der Interpretation von Bachmanns Franza-Roman. Eine Handvoll Aussagen der Titelfigur – von Christa Wolf auch als »Schlüsselsätze« des Romans bezeichnet (Wolf 1983, 153; vgl. Albrecht 1998, 63) – spielte dabei eine zentrale Rolle, insbesondere das Rimbaud-Zitat »Ich bin von niedriger Rasse« (KA 2, 230), das aufgrund der zahlreichen ›Wiederholungen‹ in Entwürfen und Vorstufen oft als leitmotivisch bezeichnet wird. Anfang der 1990er Jahre kam aus der US-amerikanischen Germanistik ein erstes Plädoyer dafür, diesen Roman »kritisch [zu] lesen als einen Text, der nicht nur die koloniale Enteignung thematisiert, sondern gleichzeitig Kolonisierung nochmals verdoppelt« (Brinker-Gabler 1993, 98), also dieser Lesart zufolge selbst eine Art kolonialer Enteignung vornimmt. Gegen Ende der 1990er Jahre nahm dann auch die deutschsprachige postkoloniale Literaturwissenschaft Fahrt auf, wobei die Bachmann-Forschung unter diesem Vorzeichen von Anfang eine zentrale Rolle spielte. Eine der wichtigsten Leistungen der Postcolonial Studies besteht darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie tief der Kolonialismus und Imperialismus nicht nur in die Kultur der Kolonisierten, sondern auch in die der westlich-europäischen Gesellschaften eingeschrieben ist (Hall 1997, 227). Mit dem Einbezug dieser Fragestellungen ist eine Reihe von Facetten des Bachmannschen Werks in den Blick geraten, die sowohl die traditionelle als auch die poststrukturalistisch beeinflusste Literaturwissenschaft der früheren Jahre noch ausgeblendet hatten. In dieser ersten Phase hat der »postkoloniale Blick« (Lützeler 1997) die Rezeption vor allem des Franza-Romans grundlegend
verändert. Denn während in den 1980er Jahren noch Deutungen im Vordergrund standen, die die von der Titelfigur angestellten Vergleiche mit den Ureinwohnern Australiens oder den Papuas unreflektiert akzeptierten und reproduzierten (zur Kritik hieran vgl. Albrecht 1998), sind solche Zugänge heute nicht mehr denkbar. Im postkolonialen Kontext wurde auch die Frage nach der Position des Franza-Romans innerhalb der deutschsprachigen Literatur der 1960er Jahre spezifischer gestellt. Die Arbeit an dem Roman Das Buch Franza fällt mit der etwa Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Entdeckung der ›Dritten Welt‹ durch deutschsprachige Schriftsteller und Intellektuelle zusammen (Albrecht 1998, 64–68). In dieser Zeit begann das (vor allem mit Namen wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss verbundene) Engagement für außereuropäische Widerstandsbewegungen und besonders gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam. Publikationen aus diesem Umfeld wie das Kursbuch-Heft August 1965 mit dem Teilvorabdruck der deutschen Übersetzung von Frantz Fanons Les damnés de la terre und Enzensbergers eigenem Aufsatz »Europäische Peripherie« stellen den Hintergrund dar, vor dem sich im Franza-Roman die Neokolonialismuskritik und die Kritik an einem europäischen »Geist«, der »in einem braunen oder schwarzen Gehirn« wiederaufersteht, entfaltet (TKA 2, 278). In diesem Zusammenhang ist auch die Bezugnahme auf Arthur Rimbauds radikale Zivilisationskritik in seinem Prosagedichtzyklus Une saison en enfer zu sehen, die bereits im Wüstenbuch zu finden ist und später im Buch Franza vor allem in dem Zitat »Die Weißen kommen« deutlich wird (TKA 1, 257; TKA 2, 278; vgl. Göttsche 1991). Bachmanns Beitrag zur Neokolonialismuskritik stellt sich im Rückblick jedoch vielschichtiger dar als es früheren Rezipienten erschien, und vor allem enthält gerade dieser Aspekt des Franza-Romans bei näherem Hinsehen eine Fülle von Ungereimtheiten. Zunächst einmal handelt es sich bei den vielzitierten »Schlüsselsätzen« über den vermeintlichen Selbstmord kolonisierter Völker um Fehleinschätzungen der Figur Franza (Albrecht 1998, 71–81). Angesichts der Tatsache, dass der australische Kontinent »Schauplatz des ersten Genozids der modernen Geschichte« war (Supp 1985, 224), zeigt insbesondere Franzas Behauptung, dass »die Ureinwohner« Australiens »nicht vertilgt« wurden (TKA 2, 230), wie weit Bachmanns Romanfigur von der historischen Realität entfernt ist. Auch die vermeintlich magische Weltsicht dieser Figur hält, wenn man sie in Bezug zu der Kosmologie
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_44
44 Bachmann in postkolonialer Sicht
von sogenannten Naturvölkern setzt, keiner näheren Prüfung stand (Albrecht 1998, 76–83). Aufgrund des Fragmentcharakters dieses Romans wird jedoch kaum zu klären sein – und die von Herbert Uerlings eingebrachte Revision in Fragen der Figurenperspektive (Uerlings 2006; s. u.) hilft hier nur bedingt weiter –, ob diese Fehlgriffe im Sinne einer Erzählstrategie von Bachmann intendiert waren oder ob es sich dabei auch um Fehlinformation der Autorin handelt (Albrecht 1998, 83–88; zu einer potentiellen Quelle für eine Fehlinformation vgl. Albrecht 2008, 81). Immerhin scheint Bachmann die fragwürdigen Analogien im Buch Franza später in ihrem Roman Malina sozusagen implizit zu korrigieren, wenn sie einräumt, dass wir es uns durch »unsere Zivilisierung [...] längst verscherzt haben, uns auch nur mit den wildesten der Wilden in einem Atemzug nennen zu können« (TKA 3.1, 408; Hervorhebung M. A.). Zumindest von Seiten einer interkulturell ausgerichteten afrikanischen Germanistik hat die Wahrnehmung und Darstellung des Fremden ein im Wesentlichen positives Echo gefunden. Denn entscheidend ist aus dieser Sicht, dass die Begegnung mit dem Fremden im Wüstenbuch und in den verschiedenen Fassungen des Franza-Romans im Sinne einer Relativierung eurozentristischer Sichtweisen und einer Kritik an Werten und Normen der westlichen Welt mit ihrem universalen Geltungsanspruch genutzt wird: »Wenngleich die ästhetische Realisierung im einzelnen keineswegs immer unproblematisch ist, überwiegt bei der Betrachtung des Gesamtwerkes der reflexive Charakter des Blickes auf die fremde Kultur, so dass man von einem kritischen Exotismus sprechen kann, der Bachmanns Darstellung des Fremden in den Todesarten kennzeichnet« (Diallo 1998, 33 f.). Legt man die kritische Messlatte höher, wie es die postkoloniale Literaturwissenschaft in diesem Fall tut, dann steht der Verdacht im Raum, dass in den Texten eine »Enteignung« des Fremden vorliegt (BrinkerGabler 1993, 98). Hinter einer aus heutiger Sicht politisch korrekten Haltung, hinter einer, die die Verbrechen wahrnimmt und artikuliert, die im Namen der Zivilisation begangen werden (Diallo 1998, 54), verbirgt sich aus postkolonialer Sicht dennoch gleichzeitig »auf komplexe Weise eine imperialistische Geste« (Lennox 1998, 22). Vor allem in der anglophonen postkolonialen Literaturwissenschaft ist der FranzaRoman trotz seiner Beliebtheit daher von Anfang an auf Kritik gestoßen, und entsprechend ist die Rezeption dieses Romans in dieser Hinsicht bis heute ambivalent. Und während die Forschung der Autorin schon
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früh die »vorweggenommene Konkretisierung poststrukturalistischer Thesen« (Weigel 1984a, 6) oder auch feministischer Theoreme attestiert hat (zur Kritik vgl. Albrecht 2004b, 104), wurde ihr nie das Qualitätsmerkmal einer postkolonialen Vordenkerin avant la lettre zugesprochen (vgl. Albrecht 2016, 205, 209 f., 213). Denn auch wenn sie bereits Mitte der 1960er Jahre als eine der ersten in der Nachkriegsliteratur – nach Alfred Anderschs Erzählung Weltreise auf deutsche Art von 1949 (Albrecht 2008, 177–183) – entsprechende Themen aufgegriffen hat, reicht zeitliches Vorläufertum allein hier nicht aus. Anders als beim Poststrukturalismus oder Feminismus kommen im Falle des Postkolonialismus Maßstäbe zum Tragen, die im Kontext dieses Paradigmas generell für die Literatur der westlichen Welt gelten. In diesem Sinne orientiert sich etwa Sara Lennox’ Behauptung, Franzas »Reise in ein tatsächlich existierendes nichteuropäisches Land [werde] bloß als Mittel benutzt, um den Zustand der europäischen Psyche zu erforschen« (Lennox 1998, 22), weniger an Bachmanns Text als an den Prämissen einer postkolonialen ›Regelpoetik‹ (Albrecht 2012). Der in dem postkolonialen Ansatz verborgene Imperativ zeigt sich oft ex negativo in kritischen Einwänden wie dem, dass »Franzas Erfahrung der Enteignung der Erfahrung der Enteignung der Papuas gleichgesetzt wird, ohne diesen eine eigene Perspektive einzuräumen« (Brinker-Gabler 1993, 98; Hervorhebung im Original). Daneben herrscht in der postkolonialen Literaturwissenschaft jedoch ein weiteres Gebot, das dieser Kritik grundsätzlich widerspricht: das aus der sogenannten Appropriation of Voice-Kontroverse der späten 1980er und frühen 1990er Jahre (vgl. Young 1994) übernommene Postulat, weiße Mainstream-Schriftsteller hätten kein Recht, sich die Stimmen von ethnischen Minderheiten ›anzueignen‹. Im Kontext postkolonialer Regulierungen ist daraus der Topos von einem solchen Schreiben als kolonialem Akt geworden (zur kritischen Diskussion vgl. etwa Hermes 2012, 141). Wenn der Franza-Figur und ihrer Autorin vorgeworfen wird, dass sie den Ureinwohnern Australiens oder den Papua keine eigene Perspektive einräumt, kollidiert dies mit der Auffassung, dass genau dies als kolonialer Akt »Kolonisierung nochmals verdoppel[n]« würde (Brinker-Gabler 1993, 98). Der postkolonialen Perspektive zufolge hätte Bachmann damit – wie westliche Schriftsteller generell – nur die Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten: entweder sie eignet sich eine außereuropäische Perspektive an und begeht damit einen kolonialen Akt, oder sie vermeidet diese Perspektive und unter-
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
drückt damit wie in der Kolonialzeit die Stimmen der Kolonisierten. Während eine postkolonial ausgerichtete Kritik nicht nur Bachmanns Franza-Figur, sondern mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch die Autorin unter den Generalverdacht der Reproduktion kolonialer Denkmuster stellt, hat vor allem die deutschsprachige Literaturwissenschaft versucht, das postkoloniale Paradigma mit einem hermeneutischliteraturwissenschaftlichen Interesse zu verbinden (vgl. Göttsche 2013, 35–38). Untersuchungen dieser Art nennen sich zwar oft »postkolonial«, sind von ihrem – einer anderen Wissenschaftstradition verpflichteten – Erkenntnisinteresse her jedoch im Grunde konträr zu dem eben skizzierten angelegt. Denn sie gehen zwar ebenfalls von einem Nachwirken des Kolonialismus in der Gegenwart aus, halten jedoch an der Vorstellung vom Schriftsteller als einem kritischen Zeitgenossen fest, der (koloniale) Herrschaftsverhältnisse als solche erkennt und den ideologischen Formationen, die sie unterstützen und aufrechterhalten, im Werk Widerstand entgegensetzt. Um Bachmann in den Rahmen dieser Tradition zurückzuholen, war eine Auseinandersetzung mit zentralen Kritikpunkten postkolonialer Literaturwissenschaft notwendig. Da vor allem die Haltung der Titelfigur in postkolonialer Sicht in Misskredit geraten war, stand die Problematik im Zentrum, ob und inwiefern die Figurenperspektive, die in den 1980er Jahren auch aus anderen Gründen oft mit der des Textes oder gar der Autorin gleichgesetzt worden war, tatsächlich mit der Textperspektive zur Deckung kommt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern das Buch Franza darüber hinausgeht, die Weltsicht einer weißen Frau zu reproduzieren, die sich selbst zum Opfer stilisiert und den anderen Opfern des westlichen Dominanz- und Herrschaftssystems zuordnet (Albrecht 1998, 88–91). Sabine Wilke weist darauf hin, dass man die Titelfigur »aus dem Romanfragment Das Buch Franza auch vor dem Hintergrund des kolonialen und postkolonialen Reiseromans lesen kann«, in dem »es für die (allein oder auch in Begleitung) reisende weiße Frau nur eine Stellung gibt, die [...] der weißen Herrin« (Wilke 2005, 53). Dass Bachmann sich »mit dieser Darstellungstradition auseinandersetzt« (ebd.), lässt sich vor allem an einem frühen Entwurf zeigen, in dem Franza einerseits glaubt, »Wien« hinter sich gelassen zu haben (TKA 2, 32), andererseits jedoch sogleich eben diese Haltung der weißen Herrin annimmt: »Achmed und Sallah [...] hofierten Franza schweigend bis zum Nilometer, sie erklärten ihr in schlechtem Englisch, was es mit dem
Urmeter auf sich habe. Sie verstand nur die Hälfte und war es zufrieden, sie hörte ihren Untergebenen sowieso nur mit halbem Ohr zu [...]. Franza sagte, wir fahren zurück« (TKA 2, 33). In dieser Deutlichkeit findet sich die Auseinandersetzung mit der Darstellungstradition der »weißen Herrin« in den späteren Fassungen jedoch nicht mehr; dafür setzt Bachmann auf die Mittel der Ironie, um den Abstand der Erzählinstanz von den Figuren deutlich zu machen. Signalfunktion hat in dieser Hinsicht das Motiv der Coca Cola-Flasche in den in Ägypten spielenden Episoden des Romans, das als Symbol für die Infiltrierung des außereuropäischen Raums durch den westlichen Kulturimperialismus gelesen werden kann. Die Ironie in einem Satz wie: Franza »drehte [...] sich [...] um, mit der leeren Coca-Cola-Flasche in der Hand. Europa war also zuende« (KA 2, 28; vgl. Albrecht 1998, 83 f.; Lennox 1998, 20 f.), lässt sich als Indiz für die kritische Distanz der Erzählerinstanz zu der Figur Franza lesen. Diese Ironie ist dann auch in anderen Passagen des Romans gesehen worden, vor allem in dem Exkurs in den schönsten Frühling des ersten Kapitels, und da besonders in Bachmanns Darstellung der fünfzehnjährigen Franza (Albrecht 2004a). Aus der Sicht dieser Figur wird die erwartete Ankunft der Alliierten nach dem Muster ihrer romantisierten Vorstellung von kolonialer Eroberung gestaltet, einer diffusen Mischung unterschiedlicher Koloniallegenden, in denen die Kolonisierung fremder Völker in ein für beide Seiten beglückendes Ereignis umgeschrieben ist: als Inbesitznahme jungfräulichen Territoriums auf der Seite der (männlichen) Eroberer und auf der der (sehr oft ›weiblich‹ konnotierten) Ureinwohner als freiwillige Unterwerfung unter die überwältigende Macht der weißen Ankömmlinge (Albrecht 2004a, 164). Inzwischen hat Uerlings mit Blick auf das gesamte Romanfragment Das Buch Franza den überzeugenden Nachweis geführt, dass die »Textperspektive [...] sich nicht mit der Sicht Franzas [deckt]« (Uerlings 2006, 188), dass Bachmann vielmehr »dem Leser eine die Selbstdeutung der Figur überschreitende und modifizierende Perspektive eröffnet« (ebd., 127). Dieses Ergebnis ist »für die Frage nach der Bedeutung des Buches im Kontext des Postkolonialismus« tatsächlich »entscheidend« (ebd., 188) – zumindest wenn die oben skizzierte postkoloniale Sackgasse vermieden und das »postkoloniale Potential« eines literarischen Textes herausgearbeitet werden soll (ebd., 15). Denn Uerlings’ Zugehensweise hat neue Einsichten in Bachmanns Roman zutage gebracht, während der Generalverdacht bewusster oder unbewusster Teilhabe der
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Schriftsteller an kolonialen Denkstrukturen als Basis literaturwissenschaftlichen Arbeitens im Grunde immer auf dasselbe Ergebnis herausläuft – nachzuweisen, dass westliche Schriftsteller (angeblich) unausweichlich in (neo)koloniale Machtstrukturen verstrickt sind. In dem späteren Goldmann/Rottwitz-Roman hat Bachmann dann weitere »Strategien« etwa »für die Darstellung der Begegnung der White Lady mit dem Dark Continent« entwickelt (Lennox 1998, 22). Signalwörter wie »Lady Chatterley« oder »White Lady« (TKA 1, 426, 424) lassen bereits darauf schließen, dass der Goldmann/Rottwitz-Roman ebenso wenig wie Das Buch Franza unreflektiert europäische Phantasien reproduziert. Vor allem in der Episode um die Vergewaltigung der Protagonistin Eka Kottwitz durch einen Studenten aus Somalia und ihren anschließenden Versuch, »ihr Ich wiederherzustellen« (TKA 1, 430), werden Lennox zufolge die von rassistischen Vorstellungen geprägten Fundamente weiblicher Sexualität aufgedeckt (ebd., 28). Weitere Fundstücke sind die Gedichte Harlem und Liebe: Dunkler Erdteil aus der Mitte der 1950er Jahre, die in ihrer diesbezüglich klischeehaften Bildlichkeit jedoch eher als Kontrastfolie für die spätere Bearbeitung des Themas Kolonialismus und Imperialismus zu werten sind. Allerdings ist Bachmanns Hinweis auf den »Neger unter den Gästen« in dem Essay Die blinden Passagiere (1955) auch dahingehend gelesen worden, dass die Autorin schon in den 1950er Jahren »auf die Fremdbilder in ihrer eigenen Gesellschaft aufmerksam [gemacht hat], um den Paternalismus bloßzulegen, der das Verhältnis des Europäers zum Schwarzen charakterisiert« (Diallo 1998, 48). Vor diesem Hintergrund wäre auch das frühere Werk aus postkolonialer Sicht neu zu überdenken. Mit der Veröffentlichung der Unveröffentlichte[n] Gedichte (Ich weiß keine bessere Welt) sind weitere Entwürfe zugänglich geworden, die postkolonialer Thematik zugerechnet werden können, etwa das Gedicht Immer wieder Schwarz und Weiß (Bachmann 2000, 167) aus dem Entstehungsumfeld des Wüstenbuchs und seiner »Orgia«-Passagen. Generell gilt jedoch für die Gedichtentwürfe dieses Bandes, dass sie im Zusammenhang mit den gleichzeitig entstandenen Prosafragmenten und ihrer Bildlichkeit zu sehen sind (z. B.: »Rache üben an allem, was weiß ist« [Terra Nova]; »Die Schmach ist aus mir gegangen in dieser Orgie« [Auflösung]; Bachmann 2000, 165, 169). Interessanterweise finden sich selbst in dem wienerischen Milieu einer Fanny Goldmann gelegentlich exotische Einsprengsel, etwa das Schimpfwort »Hotten-
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totten«, mit dem die Protagonistin alle Zeitgenossen bezeichnet, die ihren Idiosynkrasien kein Verständnis entgegenbringen (TKA 1, 298). Fanny Goldmann ist vermutlich weder an den deutschen Eingriffen in die afrikanische Geschichte interessiert, noch ist ihr bewusst, dass es sich bei diesem Schimpfwort um den europäischen Namen der afrikanischen Volksgruppe der Khoisan handelt. Im Zusammenhang mit Bachmanns gleichzeitiger Arbeit an dem kolonialen Aspekt der Todesarten hingegen wird dieser gedankenlose rassistische Fauxpas zu einem Signal dafür, dass schon die Titelfigur der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann wie später ihre Parallelgestalt in dem Goldmann/Rottwitz-Roman durch eine »Blindheit gegenüber den eigenen, von der Rassenzugehörigkeit geprägten Determinanten« gekennzeichnet ist (Lennox 1998, 23). In einem Entwurf aus dem Sommer/Herbst 1966 beugt sich Malina in seiner Rolle als Erzähler der Todesarten »über den World Atlas, um für Martin eine Route nach Accra zu suchen, dann nach Port Gentil« (TKA 1, 337). Warum Malina seine Figur Martin Ranner nach Westafrika schicken will, nach Ghana oder Gabun, ist wohl nicht mehr zu rekonstruieren. Dieses Fundstück ist jedoch vor allem deshalb von Bedeutung, weil es belegt, dass auch in einer Zeit, in der der unvollendete Franza-Roman für Bachmann bereits problematisch zu werden begann (vgl. TKA 2, 396 f.), offenbar noch weitere Pläne zur Ausarbeitung der Wahrnehmung des Fremden und der kolonialen Denkstrukturen weißer Protagonisten bestanden. Quellen
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
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›postkolonialen‹ Literatur. In: Michael Hofmann/Rita Morrien (Hg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Amsterdam/New York 2012, 125– 149. Lennox, Sara: »White Ladies« und »Dark Continents«. Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt aus postkolonialer Sicht. In: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hg.): »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Würzburg 1998, 13–31. Lützeler, Paul Michael: Der postkoloniale Blick. Deutschsprachige Autoren berichten aus der Dritten Welt. In: Ders. (Hg.): Schreiben zwischen den Kulturen. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt a. M. 1996, 7–33. Supp, Eckhard: Australiens Aborigines. Ende der Traumzeit? Bonn 1985. Uerlings, Herbert: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln 2006. Weigel, Sigrid: Die andere Ingeborg Bachmann. In: Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (1984a), Sonderband, Gastredaktion Sigrid Weigel, 5–6. Weigel, Sigrid: »Ein Ende mit der Schrift. Ein anderer Anfang«. Zur Entwicklung von Ingeborg Bachmanns Schreibweise. In: Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (1984b), Sonderband, Gastredaktion Sigrid Weigel, 58–92. Wilke, Sabine: »Wenn Du nach Afrika gehst, vergiss die Peitsche nicht«. Ingeborg Bachmanns und Elfriede Jelineks Figuren im Kontext der Aufarbeitung des europäischen Kolonialismus. In: Bettina Gruber/Heinz-Peter Preußer (Hg.): Weiblichkeit als Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Würzburg 2005, 49–68. Young, James O.: Should white men play the blues? In: The Journal of Value Inquiry 28/3 (1994), 415–424.
Monika Albrecht
45 Bachmann in mediengeschichtlicher Sicht
45 Bachmann in mediengeschicht licher Sicht Wenn Ingeborg Bachmann in einer aktuellen Biographie als regelrechter »Medienprofi« (Hartwig 2017, 264) beschrieben wird, spiegelt dies nicht nur die gekonnte Selbstinszenierung und -vermarktung, sondern unterstreicht die Breite ihres Schreibens. Und wenn Ingeborg Bachmann als »Medientheoretikerin« (Weigel 1999, 27) bezeichnet wird, wird dies ebenso ihrer Arbeit an Gedichten, Romanen, Hörspielen, Drehbüchern und Libretti wie auch den zahlreichen Referenzen und Zitaten gerecht, die das Werk intertextuell durchziehen. Durch ihre mediale Vielseitigkeit deckt Bachmann ein umfangreiches Spektrum an unterschiedlichen Gattungen und Genres ab, durch ihre mediale Flexibilität kann sie die jeweils geeignete Form für einen Erzählzusammenhang auswählen und diesen gegebenenfalls auch in ein anderes Medium adaptieren.
Schreiben und Kommunizieren Ein solch ausgeprägtes Medienbewusstsein ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass Bachmann in einer Phase medialer Umbrüche aufwächst und lebt. Schließlich fallen in ihre Biographie sowohl der Aufstieg des Fernsehens zum Massenmedium wie zahlreiche technologische Entwicklungen, die dann zu ebenso weitreichenden Veränderungen in der Mediennutzung führen sollten. So wird beispielsweise das in den frühen 1960er Jahren bisher in Mono sendende Radio auf FMStereo umgestellt, während IBM im Jahre 1962 die erste Schreibmaschine mit Kugelkopf auf den Markt bringt und ein Jahr später die Kompaktkassette von Philips und der Sofortbild-Farbfilm von Polaroid folgen. Mitte des Jahrzehnts ermöglicht Kodak mit dem kostengünstigen Super 8-Format private Filmaufnahmen und revolutioniert so das ›Heimkino‹. Ab 1967 kann dann in Deutschland, in Österreich zwei Jahre später, erstmals Farbfernsehen empfangen werden. Und während es ab den späten 1960er Jahren eine weitgehende Mobilfunk-Abdeckung für Autotelefone gibt, wird das Telefonnetz zu Beginn des neuen Jahrzehnts in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich vollständig auf einen Selbstwählferndienst umgestellt. Bachmann reflektiert diesen Medienwandel und damit einhergehende Probleme, wenn in ihren Texten immer wieder telefoniert und gesprochen, geschrieben und gelesen, doch dabei keineswegs immer »nur
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schöne Post« (TKA 3.1, 568) zugestellt wird. Denn regelmäßig scheitert die Kommunikation, wenn Figuren aneinander vorbeireden (etwa in Ein Schritt nach Gomorrha) oder sich zwischen den Sprachen verlieren (in der Erzählung Simultan), wenn in Malina die ›Telefonsätze‹ mit Ivan untergehen oder – als programmatische Personifikation fehlgeschlagener Kommunikation – der Postbote Kranewitzer das Austragen der Briefe ganz einstellt (TKA 3.1, 570–573). Doch das noch vollständig analoge Schreiben ist für die Bachmann-Forschung nicht nur als literarisches Motiv von Interesse (Reimer 2014; Stoll 2014), sondern tatsächlich auch ein wichtiger Anhaltspunkt zur Datierung ihrer Texte, schließlich ändert sich mit dem Wechsel zur elektrischen Schreibmaschine – Bachmann besitzt mit der »IBM 72« ab dem Jahr 1966 eine Kugelkopf-Maschine (Fliedl 2008, 35) – auch das Schriftbild ihrer Manuskripte (vgl. TKA 1, 686–690).
Intertextualität und Intermedialität Bachmanns Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten findet ihren Niederschlag auch in Collagen und Montagen, also Verknüpfungen von Medien und Texten zu einem neuen Werk. Neben der ›klassischen‹ Medienkombination durch die Verbindung von mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommenen Medien (Rajewsky 2002, 13) im Format des Hörspiels, des Librettos oder der »Ballettpantomime« Der Idiot findet sich dies auch in Bachmanns collagenartigem Schreiben (Bielefeldt 2003; Goodyear 2010). Dieses etwa von den historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts vielfach verwendete Mittel wurde von der Forschung immer wieder an zwei prominenten Beispielen untersucht: So steht das polyphone Gedicht Reklame (W 1, 114) für eine hörspielartige Montage aus verschiedenen Stimmen und schlagwortartigen Werbeslogans (Tischer 1984; Reitani 2002; Stanitzek 2008), während der Roman Malina streckenweise als Collage aus Geschichte und Geschichten (Legenden, Märchen, Chroniken, Texte von Paul Celan oder Max Frisch u. a.) gelesen werden kann (s. Kap. 13). Sowohl in ihrer Lyrik wie auch der Prosa montiert Bachmann immer wieder Versatzstücke aus unterschiedlichen Diskursen – aus Massenmedien ebenso wie Floskeln oder Sprichwörter – zusammen und schafft dadurch einen Kosmos markierter oder unmarkierter, impliziter oder expliziter Verweise und Zitate (Weigel 1993 und 1997; Helbling 1995; Brach-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_45
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
mann 1999; Burdorf 2001; Eberhardt 2002; Kanz 2006; Panny 2014). Diese intertextuellen Referenzen führen den Rezipienten mal als postmodernes Spiel in die Irre, mal zu versteckten Hinweisen, die dann neue Deutungsmöglichkeiten eröffnen können. Zeigen die frühen und noch in der Schulzeit entstandenen Gedichte bereits deutliche Anlehnungen an Werke von Goethe, Kleist und Schiller (Hoell 2001, 28), werden intertextuelle Verweise später zum dauerhaften Schreibverfahren – etwa wenn Bachmanns bei einem Besuch in Tschechien entstandene und 1968 im Kursbuch veröffentlichte Gedichte Böhmen liegt am Meer (W 1, 167–168) und Prag Jänner 64 (W 1, 169) auf William Shakespeares The Winter’s Tale (1610/11) respektive auf Paul Celans Gedicht Tübingen, Jänner (1963) referieren. Solche Bezüge lassen statt einer »anxiety of influence« (Bloom 1973) vielmehr auf eine intensive Lektüre und fruchtbare Auseinandersetzung mit anderen SchriftstellerInnen schließen, während Bachmann selbst zugab: »Es gibt für mich keine Zitate, sondern [...] ich verwende nur Sätze, die ich gern selbst geschrieben hätte« (GuI, 69).
Drehbuch und Film Bachmanns starke Musikalität der Lyrik und ihre Arbeit an Libretti (s. Kap. 46) sind ebenso von der Forschung hervorgehoben worden wie ihre »Wiener Medienkarriere« (Böttiger 2017, 74) beim Sender Rot-Weiß-Rot (RWR), für den sie Features und Hörspiele schreibt (s. Kap. 18, 19). Erst verhältnismäßig spät jedoch widmete man sich dem Visuellen, obwohl Bachmann seit dem Spiegel-Cover vom August 1954 in der bundesdeutschen Öffentlichkeit präsent war (Hapkemeyer 1987) und inzwischen gar von einer »Bachmann-Ikonographie« (Hartwig 2017, 30) gesprochen wird. Nach ihrer Zeit bei RWR war Bachmann von November 1957 bis Mai 1958 beim Bayerischen Rundfunk für das Lektorat von Drehbüchern zuständig (Hoell 2001, 86), arbeitet später selbst an Drehbuchentwürfen und baut als vielseitig interessierte Kinogängerin zahlreiche Filmbezüge in ihr Werk ein. Prominent ist etwa der paratextuelle Verweis »Der dritte Mann« (TKA 3.1, 501) als Überschrift des Traumkapitels in Malina und Referenz auf Carol Reeds The Third Man (1949). Ohnehin gehen ihre Figuren dort immer wieder ins Kino, schauen etwa Alfred Hitchcocks bahnbrechenden Horrorfilm Psycho von 1960 (TKA 3.1, 43), die von Walt Disney produzierte Dokumenta-
tion Die Wüste lebt (1953) oder Miloš Formans Film Die Liebe einer Blonden, der 1965 bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt wurde (TKA 3.1, 431 f.). Bachmann selbst hat sich offensichtlich für den italienischen Neorealismo interessiert, der mit Regisseuren wie Vittorio de Sica (1901–1974), Roberto Rossellini (1906–1977) oder Luchino Visconti (1906–1976) das europäische Nachkriegskino nachhaltig prägte. In einem Brief an ihren Verleger beklagt sie, dass Viscontis Filme wie La Terra trema (1948), Bellissima (1951) oder Senso (1954) nicht in Deutschland zu sehen seien (vgl. KS, 611). Die Filme der französischen Nouvelle Vague um Regisseure wie Jean-Luc Godard (geb. 1930) oder Claude Chabrol (1930–2010) hingegen scheinen Bachmann eher weniger beeinflusst zu haben, auch wenn im dritten Kapitel von Malina der berühmte Jazz-Soundtrack aus dem Film L’ascenseur pour l’échafaud (1958) von Louis Malle (1932–1995) aufgelegt wird (TKA 3.1, 624). Ein solch avantgardistischer Neubeginn des Films nach 1945 war in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland jedoch schwierig: Der Film- und Fernsehmarkt der Nachkriegszeit ist noch durch die Alliierten kontrolliert, so dass sich die Rundfunkanstalten erst 1950 zur ARD zusammenschließen bzw. Mitte des Jahrzehnts der Österreichische Rundfunk (ORF) gegründet wird. Thematisch versuchen in dieser Zeit westdeutsche (u. a. Helmut Käutner, Paul Verhoeven) wie auch ostdeutsche (etwa Kurt Maetzig, Konrad Wolf) Regisseure den Übergang vom politischen ›Trümmerfilm‹ zu einem eigenständigen, ›modernen‹ deutschen Gegenwartskino, dessen ›Erneuerung‹ allerdings erst mit dem Oberhausener Manifest (1962) von einer neuen Generation (u. a. Alexander Kluge, Edgar Reitz) vorangetrieben wird. Während Bachmanns Rezeption dieser Entwicklung bislang noch nicht nachgewiesen wurde, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sie das deutschsprachige Nachkriegskino verfolgt hat, finden sich im Buch Franza doch Anspielungen auf Wolfgang Staudtes Film Die Mörder sind unter uns aus dem Jahre 1946 (TKA 2, 74, 77). Zudem war sie durch ihre Arbeit und ihre eigenen Projekte sicherlich mit den Strukturen des Film- und Fernsehmarktes gut vertraut. Zwar liegen weder fertige Drehbücher noch Filme von Bachmann selbst vor, doch existiert etwa ein Drehbuchentwurf zur Erzählung Porträt von Anna Maria (1962/63), der zumindest einen Einblick in ihr filmisches Schreiben erlaubt; darüber hinaus gab es konkretere Drehbuchpläne zum Hörspiel Der gute Gott von Manhattan sowie zur Erzählung Ein Wildermuth.
45 Bachmann in mediengeschichtlicher Sicht
Dabei unterstreicht gerade die Textsorte des Drehbuchs (als Vorlage für ein audio-visuelles Medium quasi eine ›Stufe‹ über das Hörspiel hinausgehend) Bachmanns Suche nach neuen Darstellungsformen, die Literatur nicht bieten kann. Denn während das Porträt als Erzählung unvollständig bleibt, scheint eine filmische Darstellung offenbar besser geeignet, die Geschichte um eine Malerin und einen Kirschbaum zu erzählen, ja sei diese überhaupt ›nur zeigbar‹ (GuI, 35). Und tatsächlich eröffnet das aus zwölf Blättern bestehende Drehbuch gerade die Reflexion von »Gezeigtem und Nicht-Gezeigtem« (Kresimon 2004, 172) und lässt – da die titelgebende Figur Anna Maria selbst nicht zu sehen, sondern nur zu hören wäre – bei einer möglichen filmischen Umsetzung ein Spiel mit diesen Ebenen vermuten. In dieser Zeit plant Bachmann auch eine Verfilmung ihres Hörspiels Der gute Gott von Manhattan mit dem Regisseur Egon Monk (1927–2007) und arbeitet an Szenenentwürfen für eine Fernsehadaption ihrer Erzählung Ein Wildermuth. Auch wenn keines dieser erst im Nachlass gefundenen Projekte zu ihren Lebzeiten tatsächlich realisiert wird, werfen diese verhältnismäßig spät entdeckten Drehbuchentwürfe ein neues Licht auf die mediale Vielseitigkeit der ja zu Lebzeiten vorwiegend als Lyrikerin wahrgenomme nen Ingeborg Bachmann. Literatur
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Jonas Nesselhauf
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
46 Musik In den Interviews zu ihrem Roman Malina, der »Ouvertüre« des geplanten Todesarten-Zyklus (GuI, 95), hat Ingeborg Bachmann von ihrem »besondere[n] Verhältnis zur Musik« gesprochen und die Musik an den biographischen Anfang ihres Schreibens gestellt: Sie habe »als Kind zuerst zu komponieren angefangen«, für eine Oper geschrieben, »was die Personen singen sollten«, und sich erst für die Literatur entschieden, als sie gemerkt habe, dass für das Komponieren »die Begabung nicht groß genug« gewesen sei (GuI, 124). Dennoch habe sie zur Musik nach wie vor »eine vielleicht noch intensivere Beziehung als zur Literatur« (GuI, 107), da sich in der Musik »das Absolute« zeige, das sie »nicht erreicht sehe in der Sprache« (GuI, 85). Musik sei der »höchste Ausdruck«, »den die Menschheit überhaupt gefunden hat« (Statement zum Film von Gerda Haller 1973, zit. nach Greuner 1990, 69). Dieses emphatische Bekenntnis zur Musik besitzt im diskursiven Kontext der Malina-Interviews zwar auch die strategische Funktion einer Leseanweisung für die komplexe, quasi-musikalische »Komposition« (GuI, 96) dieses Romans, es verweist jedoch zugleich grundsätzlich auf die zentrale Bedeutung der Musik in Bachmanns literarischem Werk und in ihrem Literaturverständnis, in dem Sprachreflexion und Musikästhetik sich poetologisch ergänzen. Seinen deutlichsten Ausdruck findet Bachmanns »besonderes Verhältnis zur Musik« – nach dem jugendlichen Ineinander von Komponieren und Schreiben, von dem im Nachlass noch die Klavierlied-Komposition Silbermond (N3802–3811) zeugt – in ihrer künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Komponisten Hans Werner Henze, vor allem also in den Libretti zu Henzes Opern Der Prinz von Homburg und Der junge Lord sowie in der Ballettpantomime Ein Monolog des Fürsten Myschkin (s. Kap. 20). Im gleichen Kontext entstanden Bachmanns musikästhetische Schriften (s. Kap. 27), insbesondere die Essays Die wunderliche Musik (1956) und Musik und Dichtung (1959), die (neben der Satire auf den bürgerlichen Musikbetrieb) poetologisch das Verhältnis der künstlerischen Medien Musik und Literatur reflektieren. In enger Verbindung mit dem sprachkritischen Ansatzpunkt und dem ästhetischen Utopieverständnis ihrer Frankfurter Vorlesungen (1959/60) sowie dem kritischen Ethos ihrer Preisrede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (1959) begreift Bachmann hier in einer Wiederanknüpfung an die Musikästhetik der Romantik die Musik poetologisch als das Andere der
Wortsprache und zugleich metaphorisch als eine ›andere Sprache‹, die ihre höchste Ausdrucks- und Wirkungskraft aus ihrer »Vereinigung« mit der Sprache im Gesang, also in der menschlichen Stimme gewinne, so wie umgekehrt die Literatur »durch Musik« (durch den »Rhythmus« als »Gangart des Geistes«) sich »ihrer Teilhabe an einer universalen Sprache wieder versichern« könne (KS, 250 f.; W 4, 60 f.). In der spezifischen Diktion einer modernen Romantikrezeption, die sich auch (kritisch) mit der Avantgarde der seriellen Neuen Musik in den 1950er Jahre auseinandersetzt, führen Bachmanns musikästhetische Essays also jenen Dialog der Literatur mit der Musik, der große Teile ihres Werks auch literarisch prägt. Obwohl kurzschlüssige Analogiebildungen zwischen musikalischen und literarischen Strukturen mit Recht kritisiert worden sind (Eberhardt 2002), kann daher für Bachmanns Werk auch jenseits der Libretti von einer »musikalischen Poetik« (Spiesecke 1993) gesprochen werden. Diese musikalische Poetik umfasst vielfältige Zitate und Anspielungen aus der Welt der Musik (von oft zentraler motivischer Bedeutung), den Komplex der poetologischen Musikmotive um die traditionellen Topoi der Dichtung als Lied und des Dichters als Sängers, quasi-musikalische literarische Kompositionsverfahren, seltener auch Thematisierungen von Musik und Musikleben oder Widmungsgedichte an befreundete Komponisten. Im Mittelpunkt dieser musikalischen Poetik steht trotz gelegentlicher Motive aus den Bereichen Volksmusik, Filmmusik, Jazz und Pop die europäische Tradition der klassischen Musik, die vor allem in der Lyrik und in dem Roman Malina von zentraler Bedeutung ist. Wie die Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven wiederholt herausgearbeitet hat, werden diese intertextuellen und intermedialen Bezüge zur Musik von der engen Verflechtung von Poetologie, Sprachreflexion und Musikästhetik in Bachmanns Werk getragen, wobei der zeitkritische Bezug zur gesellschaftlichen und geschichtlichen Erfahrungswelt sowie das wachsende Bewusstsein eines ›Schreibens nach Auschwitz‹ die oft bemerkte Nähe zur Kritischen Theorie und Musikästhetik Theodor W. Adornos begründen (vgl. z. B. Greuner 1990; Spiesecke 1993; Caduff 1998; Weigel 1999; Solibakke 2005; Kogler 2008). Die andere Seite dieses literarischen Dialogs mit der Musik bilden zahlreiche Vertonungen ihrer Werke, insbesondere ihrer Gedichte (vgl. Göttsche 1999). Bachmanns kleine Schallplattensammlung enthielt zuletzt im Übrigen einen knappen Querschnitt durch die klassische europäische Musikliteratur (Oper, Ora-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_46
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torien, symphonische, Kammer- und Klaviermusik) von Johann Sebastian Bach bis Henze, darunter jedoch nur wenige der von ihr literarisch zitierten Werke (Wolfgang Amadeus Mozarts Motette Exsultate Jubilate etwa, Vincenzo Bellinis La sonnambula, Richard Wagners Tristan und Isolde oder Mahlers 9. Sinfonie; vgl. Achberger 2004). Während der Briefwechsel mit Henze vorliegt (Bachmann/Henze 2004), ist jener mit dem italienischen Komponisten Luigi Nono, den sie ebenfalls 1952 kennenlernte, noch unpubliziert (vgl. Larcati 2006).
Musik als Thema und Motiv in der Lyrik Nur in wenigen Gedichten hat Bachmann Musik ausdrücklich zum Thema gemacht, und doch hat sie dieses Sujet von der frühesten bis zur späten Lyrik beschäftigt. In jener produktiven Übergangsphase am Kriegsende auf der Schwelle vom Jugend- zum Frühwerk entsteht das Gedicht Vor einem Instrument – entworfen am »30.XI.[1945]« (N6293), neugefasst am »29.6.46« (N6175) –, das das Verhältnis des lyrischen Ich zu seinem Instrument (Bachmann spielte in ihrer Jugend Klavier) als Spannung von Erlösung und Verführung, Selbsterkenntnis und Selbstvergessen durch die Musik beschreibt. Nur die Bindung an die »Welt« hindert das Musiker-Ich daran, die »Grenze« zur absoluten Sphäre der Musik zu überschreiten (N15917; Bachmann 1994). Musik erscheint in dieser Variante des für Bachmann zentralen Motivs der Grenze bzw. des Aneinandergrenzens in romantischer Tradition als das transzendente Andere der sozialen Wirklichkeit, in dessen Erfahrung das Subjekt gleichwohl erst wahrhaft zu sich kommt. Dagegen fungiert in dem vermutlich etwa gleichzeitigen Gedicht Notturno (jüngste Fassung N6206–07) die musikalische Genrebezeichnung nur als poetologische Metapher für ein Liebesgedicht, in dem die Nacht der Raum sowohl der Erfüllung der Liebe als auch der Erinnerung an verlorene Liebe ist. Einen eigenen Bereich der musikalischen Poetik bildet die Ebene der kulturellen Musikmotive. Insbesondere die österreichische Kultur wird wiederholt durch ihre Musik charakterisiert, gelegentlich mit Blick auf die öffentliche Inszenierung musikalischer Tradition auch satirisch beleuchtet. So steht das Ende der »Tänze« und »Dissonanzen« (W 1, 59) in dem Gedicht Große Landschaft bei Wien aus dem Band Die gestundete Zeit (1953) für den Untergang jenes alten Österreich, das bei Bachmann zum Mythos interkul-
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turellen Zusammenlebens wird. In dem Zyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen in dem zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bären (1956) sind »Tanz«, »Maultrommeln« und »Flötenstimmen« Teil eines Erntedankfestes, mit dem sich die Musik am Ende des Sommers »in das Sommerland« verabschiedet (W 1, 90). Naturmetaphorisch kehrt die kulturelle Verknüpfung von Tanz und Musik in Erklär mir, Liebe wieder im Tanz des Skorpions zur »Silbersandmusik« (W 1, 109). Hingegen verschränkt sich im »Regenblues« des Gedichts Harlem (W 1, 113) die romantische Metapher von der Musik als Sprache der Natur mit dem musikalischen Inbegriff der afroamerikanischen Kultur als Kennzeichen einer sanften New Yorker Melancholie. Vollständig exotistisch wird die kulturelle Musikmotivik in dem Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil (1957), in dem »die süßen Hölzer« »dunkle Trommeln [rühren]« (W 1, 158; s. Kap. 44 zur postkolonialen Kritik dieser Bildlichkeit). Das Gedicht Reklame schließlich reflektiert kulturkritisch die Funktionalisierung und Kommerzialisierung der Musik in der Werbung (W 1, 114). Es entwirft eine Dramaturgie zweier gleichzeitiger Stimmen, die an ähnliche musikalische Strukturen in dem Hörspiel Die Zikaden und dem Roman Malina und darin zugleich an Bachmanns Librettotheorie erinnert. Das zentrale Musik-Gedicht aus der Hauptphase von Bachmanns lyrischem Werk ist aber zweifellos Schwarzer Walzer (W 1, 131). In teils daktylischem Rhythmus entwirft das Gedicht eine nächtliche Gondelfahrt durch Venedig als eine Reise durch Klänge und Farben, als »schwarzen Walzer« mit »Introduktion«, »Auftakt«, »Pausen« und »Coda«. Eine entsprechende Anspielung in dem Roman Malina legt nahe, dass Bachmann dabei an die Barcarole im vierten Akt von Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen bzw. an deren Verfilmung durch Michael Powell und Emeric Pressburger (1951) dachte (TKA 3.1, 297; vgl. Caduff 1998, 159 f.). Der künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Komponisten Henze verdanken sich die Erweiterung des Gedichts Im Gewitter der Rosen zu der zweistrophigen Fassung Aria I sowie das Gedicht Freies Geleit (Aria II), das in einer Arie des fragmentarischen Belinda-Librettos eine »konkrete Vorstufe« besitzt (Beck 1997, 151). Beide Gedichte entstanden – und das erklärt ihre musikalischen Titel – für Henzes Vertonung Nachtstücke und Arien für Sopran und großes Orchester (1957). In der Zusammenarbeit von Bachmann und Henze entsteht ein »Raum der Poetisierung der Musik und der Musikalisierung der Poesie«, in dessen
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Zentrum der »Gesang« steht, der seinerseits »das Gedächtnis [entzündet]« (Miglio 2007, 370). Dem langjährigen künstlerischen Partner und Freund widmete Bachmann auch eines ihrer letzten veröffentlichten Gedichte, Enigma (Erstveröffentlichung in einer Aufnahme der BBC vom 15.7.1967; s. Kap. 9). Dieses Gedicht, das mit seinen verflochtenen Zitaten ausdrücklicher als jedes andere der Autorin Musik zum Thema hat, trägt im Druck die Widmung »Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi« (W 1, 171), das ist Henzes Vertonung von Gedichten Torquato Tassos für Sopran, Violine und Orchester, die vom London Symphony Orchestra unter Leitung von Colin Davis am 23.8.1964 in Edinburgh uraufgeführt wurde (vgl. Bielefeldt 2006; Petersen 2014). Mit einem abgewandelten Zitat aus den Peter Altenberg-Liedern von Alban Berg (op. 4) – »Nichts mehr wird kommen« – evoziert das Gedicht zunächst die apokalyptische Erwartung vollständiger Zukunftslosigkeit, um dann mit einem Zitat aus dem Frauenchor der 3. Sinfonie von Gustav Mahler – »Du sollst ja nicht weinen, / sagt eine Musik« – die Trostfunktion der Musik aufzurufen, die damit aber hinter der transzendierenden Kraft der »Vereinigung« von Musik und Dichtung (KS, 251; W 4, 60) in Bachmanns Musikästhetik der 1950er Jahre zurückbleibt (Eberhardt 2002, 241–250). Musik ist hier nicht mehr zweifelsfrei »Inbegriff einer utopischen Kommunikation« (so Höller in Bachmann 1998, 160), und doch »kommt noch einmal die Erwartung zum Ausdruck, dass Musik eintreten kann, wo die Sprache an ihre Grenze kommt« (Spiesecke 1993, 188), denn das Gedicht schließt: »Sonst / sagt / niemand / etwas« – also gleichsam im »Warten auf das rettende Wort« (Höller in Bachmann 1998, 161), so wie Henze seine Ariosi als »Reflexionen über das Ende einer Liebe« verstand (zit. nach Spiesecke 1993, 187). Das Mahler-Zitat verdankt sich einer Einfügung des Komponisten in seine Vorlage, das Armer Kinder Bettlerlied aus Des Knaben Wunderhorn (Spiesecke 1993, 85; Eberhardt 2002, 246); das Altenberg-Zitat stellt die Apotheose des Liedes angesichts der Apokalypse im Schlussgedicht der Lieder von einer Insel (W 1, 147) in Frage, und doch ist der lyrische Vorgang des Gedichts in seinem Dialog mit der Musik als Entwurf einer »neue[n] Ethik des Sprechens« im Durchgang durch die »Kunst des Schweigens« gelesen worden (Behre 2000, 277, 272). Bachmanns zweites musikalisches Widmungsgedicht, In memoriam Karl Amadeus Hartmann (Bachmann 1966), ist ein poetischer Nachruf auf diesen 1963 verstorbenen Komponisten, mit dem sie durch Henze seit der Mitte der 1950er Jahre bekannt
war. Es ging zunächst als Handschrift in den »Epitaph für Karl Amadeus Hartmann« (1965) ein und ist seither nur in dem Katalog Karl Amadeus Hartmann und die Musica Viva (Bachmann 1966) wiederabgedruckt worden (vgl. Hoffmann 2001). Das Gedicht verbindet die ›einsame‹ Trauerarbeit der Erinnerung an den Verstorbenen mit einer Kritik der Oberflächlichkeit gesellschaftlichen Umgangs und sprachlicher Verständigung, deren Notwendigkeit als Grundlage der sozialen Ordnung zwar anerkannt wird, der zugleich aber wiederum sprachkritisch und musikästhetisch die überlegene Ausdruckskraft der Musik als Sprache der Gefühle gegenübergestellt wird: »Gelassen wir allesamt. / Die unerläßliche Tarnung. // Zuviel übersehen und überhört. / Die Partitur allein kennt die Fermate. // Blumen darüber. Ein Damals in Reden gepresst. / Alles ohnehin. Obenhin.« Aufschlussreich für den ästhetischen Konzentrationsprozess, der in Bachmanns später Lyrik die Gedichtentstehung prägt, ist der Blick auf den nachgelassenen Entwurf zu diesem Widmungsgedicht, der unter dem Titel Frage in anfangs jambischem Rhythmus und ganz anderer Sujetfügung von den Sinneswahrnehmungen ausgeht: »Augen, seid ihr ausgelaufen / Ohrgang fühl da einer / Alles tot. Ist alles tot? / Ohren, kommt euch nichts mehr zu? / Kein Geräusch und keine Worte. // [...] Wir umfangen, hören, sehen« (Bachmann 2000, 34). Nur die »Posaune«, die sich mit dem »Stichwort Tod« verbindet, deutet hier bereits auf die Spannung von sprachloser Trauer und musikalischem Ausdruck in der Endfassung voraus. (In der Zeile »Alles tot. Ist alles tot?« klingt die im Folgenden erläuterte Reminiszenz aus Wagners Musikdrama Tristan und Isolde an.) In weniger emphatischer und ästhetisch noch nicht verdichteter Form vertrauen auch einige der nachgelassenen späten Gedichtentwürfe aus den Jahren 1962 bis 1966, in denen die Autorin ihre psychologische und gesundheitliche Krise nach der Trennung von Max Frisch verarbeitet, der Ausdruckskraft und Trostfunktion der Musik. Es sind genau jene später in den Roman Malina eingearbeiteten Zitate aus Wagners Tristan und Isolde (1865), mit denen das lyrische Ich dieser Entwürfe – wie die Autorin selbst in ihren »Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit« (Bachmann 2017, 33, 40) – in seinem Leid um Hilfe ruft: »seht ihr’s Freunde? / Seht ihr’s nicht?« und die wiederholt als Gedichttitel verwendete Wendung »mild und leise« aus Isoldes Liebestod-Arie, »Tot ist alles. Alles tot« aus Markes Abschiedsgesang (beide aus dem 3. Auftritt des 3. Aktes) sowie aus dem großen Duett von Tristan und Isolde im 2. Auftritt des 2. Ak-
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tes: »So stürben wir / um ungetrennt zu sein« (Bachmann 2000, wiederholt 95–115; vgl. TKA 3.1, 518 und 546). Der Entwurf Habet acht, der in seinem Titel Brangänes Part zitiert (Wagner II.2), passt sich auch in seinem jambischen Rhythmus Wagners musiklyrischer Sprache an (Bachmann 2000, 104). Ein anderer Entwurf veranschaulicht ausdrücklich, wie die Opernzitate als die Sprache eines Leidens an der Grenze zum Verstummen fungieren, die aber noch weit von der intertextuellen Verdichtung und ästhetischen Modellbildung des Gedichts Enigma entfernt ist: »Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht! / daß ichs nicht überlebt / auch nicht überstanden habe / seht ihrs nicht, / daß ich einwärts gehe, daß / fürderhin einwärts rede, daß / ich mich einziehe [...]« (Bachmann 2000, 115). Dem Pathos des Wagnerschen Liebestodes steht bei Bachmann mithin der Hilferuf einer Verzweiflung gegenüber, die keine metaphysische Verklärung mehr kennt. Der Identifikation im zitierenden Rückgang auf ein Ausdrucksmodell der musikalischen Tradition ist also eine abgrenzende Anverwandlung eingeschrieben. Ähnlich kolportiert in dem Entwurf An jedem dritten des Monats (ebd., 51) das Gustav Mahler-Zitat »du sollst ja nicht weinen« das fruchtlose Trostgerede Ungenannter in einer von »Lieblosigkeit« geprägten Welt (ebd., 142). Dagegen setzt ein noch unveröffentlichter später Gedichtentwurf mit dem Titel Meine Beatles (N3800) in humorvoller Form eine Feier der Jugend, des Lebens und der Liebe.
Musik als Metapher in der Lyrik Die Verknüpfung von Sprachreflexion, Poetologie und Musikästhetik in Bachmanns Verständnis des Verhältnisses von Musik und Dichtung bildet den Hintergrund für ihre Adaptierung der aus der Antike tradierten und von der Romantik reaktualisierten Topoi des Dichters als Sängers und der Dichtung als Lied. Die Anknüpfung an diese zugleich rhetorische und ästhetische Tradition begründet die poetologische Motivik des Liedes, der Stimme und des Tons in Bachmanns Lyrik und im Weiteren die Verwendung von Musikmotiven als poetischen Metaphern für das Verhältnis von Ich und Welt sowie die »musikalische Logik« (Weigel 1999, 161) ihrer lyrischen Sprache. In der frühesten Lyrik vor Bachmanns Aufbruch nach Wien stehen diese Musikmetaphern noch ganz im Zeichen der romantischen Topik des Dichters als Sänger und der Musik als Sprache der Natur und der (›nächtlichen‹) Gefühle. Hier vernimmt das lyrische
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Ich »aus Dunkel [...] ein Tönen« (N6170), lauscht dem »Geflüster« des Abends (N6215) und dem »Klang aus einem tiefen Meer« (N6250), es hört sehnsuchtsvoll die »lockenden Gesänge« der »Ferne« (N6244) und beschreibt die Erfüllung erotischer Wünsche als Wissen »um der Liebe süsse Lieder« (N5397). Es wünscht sich, »frei [zu] sein« »wie Nachtlieder in den Sphären« (W 1, 624), und tritt selbst als Sänger eines Nachtlieds auf (N6211). Etwas stärker individualisiert ist diese Topik in den prosalyrischen Briefen an Felician (1945/46), in denen der »Musikhauch der Luft« als Gedächtniszeichen Klagenfurts fungiert (Bachmann 1991, 18) und der konventionelle Topos der Musik als Sprache der Liebe – ähnlich dem Gedicht Vor einem Instrument – in das poetologische Motiv der Musik als das Andere der alltäglichen Welt und ihrer Sprache umschlägt: Das lyrische Ich »möchte [...] auf dem Klang einer Melodie« zu dem »Herzen« seines Geliebten »kommen«, um damit den Schritt in die transzendente Welt der Musik zu tun: »Ein Übermaß ist göttlich. Musik ist überfaßlich. Stimmen sind um und um die Tagesgeräusche zu vergessen [...]«, so dass der Geliebte der Musik »lauschen« wird, »den Blick verloren oder in Dich und zugleich in den Himmel gerichtet« (Bachmann 1991, 25). Dass die Engführung einer Metaphysik der Liebe mit einer Metaphysik der Musik hier mit religiösen Motiven arbeitet, ist für diese Schwellenphase zwischen Jugend- und Hauptwerk charakteristisch. Bachmanns lyrisches Frühwerk aus ihren Studienjahren in Wien führt diese romantische Topik einerseits (und teils nochmals in unmittelbarer Anknüpfung an Joseph von Eichendorff) fort: »Leise lauschen wir zusammen: / meine Mutter träumt mich wieder, / und sie trifft, wie alte Lieder, / meines Wesens Dur und Moll« (W 1, 10). Noch in einem Gedicht aus dem Jahre 1952 heißt es: »Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr« (W 1, 22). Doch steht diesen »Gesänge[n] der Vielfalt« (W 1, 22) andererseits nun die poetologische Verknüpfung von Liedtopik und Sprachproblematik gegenüber als Ausdruck jener existentialen Metaphorisierung generationstypischer Entfremdungserfahrungen und (Selbst-)Zweifel, die Bachmanns Lyrik seit dem Kriegsende prägen. In einem 1948 in der Zeitschrift Lynkeus publizierten Gedichte wird das innere Lied zur Metapher des Verstummens: »Wir singen, den Ton in der Brust. / Dort ist er noch niemals entsprungen« (W 1, 11). In dem Gedicht Dem Abend gesagt (1952) verkehrt sich die romantische Topik in den Ausdruck der existentiellen »Zweifel« des lyrischen Ich: »Müdigkeit singt an mei-
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nem Ohr« (W 1, 17). Wo das innere Singen dennoch »noch ein Beginnen« verkörpert, steht ihm nun die Sprachskepsis gegenüber: »Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen, / ohne in anderer Sprache zu sein« (W 1, 20). In den Gedichten des Bandes Die gestundete Zeit (1953) wird die romantische Musiktopik dann im Rückgang auf ihre antiken Ursprünge in Bachmanns eigene lyrische Sprache transformiert und gewinnt in dieser Umformung dort sowohl motivische als auch poetologische und strukturelle Bedeutung im Sinne der Anfänge einer musikalischen Poetik. Für die motivische Adaptierung steht das mythologische Motiv der ›Muscheln blasenden‹ »Ungeheuer des Meers« in dem Gedicht Ausfahrt (W 1, 29). Poetologische Bedeutung gewinnt die Engführung von Dichtung und Musik im Zeichen des antiken Topos vom Dichter als Sänger in dem Orpheus-Gedicht Dunkles zu sagen. In der für Bachmanns Lyrik der 1950er Jahre charakteristischen Verschränkung von Liebes- und Dichtungsthematik identifiziert sich das lyrische Ich mit dem mythologischen Sänger Orpheus, dessen Kunst aus der Trauer um Verlust und Tod der Geliebten Eurydike geboren wird. Im Lied partizipiert die Lyrik an der Möglichkeit der Musik, das ›Dunkel‹ der unaussprechlichen Durchdringung von Leben und Tod zum Ausdruck zu bringen, und zugleich an dem dialogischen Bezug des Liedes zu seinem Adressaten: »Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod« – »Aber wie Orpheus weiß ich / auf der Seite des Todes das Leben, / und mir blaut / dein für immer geschlossenes Aug« (W 1, 32). Angesichts dieser »ambivalenten Rolle« der Musik als »Ausdruck« von Leidund Todeserfahrung und zugleich als »Erkenntnisquelle« und »Zugang zu neuem Leben« ist Dunkles zu sagen als »paradigmatisch für die Poetologie Bachmanns« (Kogler 2006, 55) gelesen worden. Dieser poetologischen Adaptierung eines antiken »Ursprungsmythos der Dichtung« (Weigel 1999, 141) steht in dem Gedicht Thema und Variation die Verwendung einer musikalischen Formidee als Modell literarischer Komposition gegenüber: Die Herbstmotive der ersten beiden Strophen, die die Verlusterfahrung der Eingangszeile – »In diesem Sommer blieb der Honig aus« – ausführen, werden in den Folgestrophen wörtlich wieder aufgegriffen und in neuen Bildkontexten variiert (W 1, 42 f.; vgl. Manacorda 2000). Es ist dieses strukturelle Beispiel für Bachmanns musikalische Poetik allerdings (wie später in Malina) keine strenge Übertragung einer musikalischen in eine literarische Form, sondern deren freie Transformation.
Der Rückgriff auf traditionellere lyrische Formen und Bilder verbindet sich in Bachmanns zweitem Gedichtband Anrufung des Großen Bären (1956) auch mit einer stärkeren Verwendung von Musikmetaphern aus der antiken und romantischen Topik. In dem Zyklus Von einem Land, einem Fluß und den Seen steht der »Teppich aus den Liedern« (W 1, 93) für den magischen Aufbruch in eine ferne, andere Welt, wie sie sich in dem Gedicht Tage in Weiß im »Schwanengesang« vernehmen lässt (W 1, 112). Zwar wird die romantische Italientopik in dem Gedicht Das erstgeborene Land umgekehrt, indem »kein Vogel [...] / sein Lied in Quellen auf[frischt]« (W 1, 119), doch steht in Landnahme das Blasen des Horns, »[u]m dieses Land mit Klängen / ganz zu erfüllen«, symbolisch für Neuanfang und innere Inbesitznahme (W 1, 98). Am deutlichsten ist die poetologische Funktion der LiedMetapher allerdings in den beiden Zyklen Lieder von einer Insel und Lieder auf der Flucht. Der erste Zyklus feiert den Einklang von Ich und Du im kulturellen Motiv der festlichen Musik und zugleich in der Metapher des Zikadengesangs als Ausdruck der Harmonie von Mensch und Natur: »Platz der Musik und der Freude! / Wir haben Einfalt gelernt, / wir singen im Chor der Zikaden« (W 1, 122). Die Lieder auf der Flucht überführen diese Metaphorisierung der Musik als die Sprache einer Übereinstimmung von Ich und Du und Welt in der Liebe in eine Sprache der Erinnerung, die sogar den Tod überwindet: »Wart meinen Tod ab und dann hör mich wieder, / es kippt der Schneekorb, und das Wasser singt, / in die Toledo münden alle Töne, es taut, / ein Wohlklang schmilzt das Eis. [...] // Die Becken füllt, / hell und bewegt, / Musik« (W 1, 147). Der poetologischen Engführung von Liebesthematik und Musikmotivik – »Innen sind deine Knochen helle Flöten, / aus denen ich Töne zaubern kann« (W 1, 142) – folgt im Schlussstück des Zyklus die rhythmisierte Apotheose des Liedes angesichts der evozierten Apokalypse der Geschichte: »Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. / Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen« (W 1, 147). Diese Zeilen sind als Summe des Zyklus (Eberhardt 2002, 228), als Utopie der Musik (Spiesecke 1993, 20 f.), als hoffnungsvolles »poetologisches Programm« (Oberle 1990, 169), aber auch als »poetologisches Scheitern« (Caduff 1998, 134) gelesen worden, sie können jedoch vor dem Hintergrund der Verflechtung von Sprachreflexion, Poetologie und Musikästhetik bei Bachmann auch auf die potenzierende »Vereinigung« von Musik und Dichtung im Gesang (W 4, 60) bezogen werden. Im
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Rahmen eines dichten, Francesco Petrarcas Zyklus I trionfi, Rainer Maria Rilkes XIX. Sonett an Orpheus, Robert Musils Drama Die Schwärmer und Paul Celans Gedicht Fadensonnen dialogisch einbeziehenden intertextuellen Verweisungsnetzes (vgl. zuerst Thiem 1972, 118–127) partizipiert die Literatur hier an der überlegenen Ausdruckskraft der Musik. Neben der gebrochenen Hommage an die Musik in dem späten Gedicht Enigma führen die späten Gedichte der 1960er Jahre andere Aspekte der Musikmetaphorik weiter. Die Sprach- und Literaturkritik des Gedichts Keine Delikatessen bedient sich satirisch des Vergleichs von Musik- und Sprachgebrauch in dem Motiv der zu vernichtenden »Wortopern« (W 1, 173), und in Eine Art Verlust – einer der Entwürfe trägt den Titel »Mild und leise« (N455), ein Zitat aus Isoldes Liebestod-Arie in Wagners Tristan und Isolde (III.3) – bildet »eine Musik« gemeinsam mit Gegenständen des Alltags ein Gedächtniszeichen der verlorenen »Welt« der Liebe (W 1, 170). In den nachgelassenen Gedichtentwürfen aus den Jahren 1962 bis 1966 ist Musik ganz allgemein Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit eines autobiographischen Ich, das seine verlorene »Zukunftsmusik« beklagt, ein »grausames Lied« ›kratzt‹, zwischen dem Wunsch nach Musik und dem nach Befreiung von der Musik hin- und hergerissen wird und nach seinem »Ton« sucht (Bachmann 2000, 22, 89, 26 f., 137). In einem vermutlich wesentlich späteren Gedichtentwurf mit dem Titel Strangers in the night symbolisiert dieser Song von Frank Sinatra, der auch in der Erzählung Simultan zitiert wird (TKA 4, 111), die (verlorene) Erfahrung der Jugend: »Mir ist ein paar Wochen geschenkt worden, / was Jugend ist, und ich habe gewußt, ich / habe keinen Teil daran, / Ich möchte jung sein, [w]eil ich es nie war« (Bachmann 2000, 172).
Musik und Hörspiel Schon in Bachmanns erstem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen (1952) fungiert eine »leise irritierende Musik« »als Leitmotiv« der Traumsphäre (W 1, 191), die Regieanweisungen sehen für die einzelnen Träume dramaturgische Musikalisierungen vor, und Laurenz’ Gesang markiert den ›anderen Zustand‹ des Übergangs zwischen Alltag und Traum (W 1, 185; Caduff 1998, 142). Dass Musik in der gleichnamigen Erzählung keine Rolle spielt, verweist auf ihre mediale Funktion im Hörspiel (Caduff 1998, 144 f.). Ein Dokument der künstlerischen Zusammenarbeit Ingeborg
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Bachmanns mit dem Komponisten Hans Werner Henze ist dann Henzes Musik zu Bachmanns zweitem Hörspiel Die Zikaden (Ursendung NWDR, 25.3.1955). Die Musik fungiert hier nach Bachmanns Regieanweisung ausdrücklich nicht – wie im literarischen Worthörspiel der Zeit üblich – als »Musikbrücke« zwischen den Hörspielszenen, sondern sie ist »nahtlos unterund eingelegt« (W 1, 220). Sie bildet damit einen integralen Bestandteil mediengerechter akustischer Sinnkonstitution, indem sie motivisch zwischen der sozialen Welt und den entmenschlichten Stimmen der Zikaden vermittelt, jener ehemaligen Menschen, die (dem Mythos aus Platons Dialog Phaidros entsprechend) »[a]uf der Flucht in den Gesang« (W 1, 268) ihre menschliche Ausdruckskraft verloren haben. Der »kontrapunktischen Stimmenführung« (Höller 1987, 99) entspricht die dramaturgische Verwendung von »vier verschiedene[n] Arten Musik«, mit denen Henze die »Symbolqualität des Textes hervorzuheben versucht« (Spiesecke 1993, 59 f.). Die akustische Inszenierung der Parabel tödlicher Zivilisationsflucht wird kompositorisch ergänzt durch »die Kombination zwischen dem Durchspielen einer variierten Bildreihe (die Wunschszenen mit Antonio) und der dialektischen Durchführung eines Themas (Insel/Gefängnis)« (Weigel 1999, 186). Henzes Musik zeigt in dem »musikalischen Warnschrei« der Zikaden »das Abgleiten der Figuren in die entgrenzte Zeit- und Ortlosigkeit ihrer Wunschwelten an«, daneben aber erinnert sie an menschliche »Verlusterfahrungen« und »das, was, aus der Sprache verbannt« ist (Bielefeldt 2003, 121). Die ästhetische Integration von Musik, Stimmendramaturgie, Motivarbeit und Gesangsthematik gehört damit in die Reihe der »musikalische[n] Strukturierung« der Literatur in Bachmanns Werk (Achberger 1988, 203), sie ist Ausdruck einer musikalischen Hörspielpoetik.
Musikalische Poetik in Malina und anderer Erzählprosa Mit Ausnahme des Romans Malina besitzt Musik in Bachmanns Erzählprosa geringere Bedeutung als in der Lyrik. Vereinzelte Musikmotive veranschaulichen symbolisch die Befindlichkeit der Figuren oder sind – teils satirisch dargestellter – Bestandteil der kulturellen Welt, in der sie sich bewegen. In Bachmanns frühen Erzählungen fungiert der »Ton« (ähnlich wie in den Gedichten) als »Kunde eines Anderen« jenseits der sozialen Welt (Caduff 1998, 121), z. B. als Sehn-
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suchtston und musikalischer Ruf romantischer Ferne (W 2, 25 f., 39). In der späten Erzählung Ihr glücklichen Augen hingegen symbolisiert Mirandas und Josefs Besuch eines ›Sonntagskonzerts‹ einen letzten Rest an Gemeinsamkeit in einer zerbrechenden Partnerschaft und signalisiert zugleich deren Zugehörigkeit zum gebildeten Wiener Bürgertum (TKA 4, 269 f.). Dass bei diesem Konzert nicht – wie Miranda meint – »schon wieder« »die Vierte Mahler«, sondern Gustav Mahlers 6. Sinfonie gegeben wird (ebd.), chiffriert intertextuell die sich abzeichnende »Todesart« Mirandas, denn während Mahlers 4. Sinfonie G-Dur ein Sopransolo mit dem Volkslied Wir genießen die himmlischen Freuden aus Des Knaben Wunderhorn enthält, führt die 6. Sinfonie a-Moll den Beinamen »die tragische« (TKA 4, 629). Die Ersetzung der Johannes Brahms- und Franz Schubert-Anspielungen aus den Vorfassungen des Textes durch die scheinbar bedeutungslose Verwechslung zweier Mahler-Sinfonien (s. TKA 4, 269, Apparat A_4) veranschaulicht also schlaglichtartig das innere Drama der Protagonistin. In dem Todesarten-Fragment Gier behauptet die junge Sibilla ihre italienische Identität gegen ihren österreichischen Vater durch Schallplatten mit »neapolitanische[n] Lieder[n] von Múrolo oder Opern, Bellini, Verdi« (TKA 4, 477; vgl. Bielefeldt 2008). In satirischer Form beleuchtet die kulturelle Musikmotivik in dem aus Malina herausgenommenen Text Besichtigung einer alten Stadt die touristische Kommerzialisierung einer anachronistischen Wiener Musikkultur, für die das Lied Wien, Wien, nur du allein von Rudolf von Sieczynski sowie die Operetten Der Zigeunerbaron (1885) von Johann Strauss (Sohn), Die Csárdásfürstinnen (1915) von Emmerich Kálmán und Die lustige Witwe (1905) von Franz Lehár stehen (TKA 3.2, 701). Beiläufigere Musikmotive in den TodesartenTexten reichen von Richard Wagners Lohengrin (1850; TKA 2, 59) über die Titelmelodien der Filme Die Brücke am River Kwai (1957) von David Lean und Der dritte Mann (1949) von Carol Reed (TKA 3.2, 711) bis zu dem Jazz-Musiker John Coltrane (TKA 4, 30). Die zentrale Bedeutung der Musik in Malina kündigt sich bereits in den letzten Entwürfen zu dem Ende 1966 zurückgestellten Roman Das Buch Franza an, in dem Bachmann die Geschichte von Franzas Zerstörung in dem Kapitel »Jordanische Zeit« um eine neue Zwischenstation zwischen ihrem Aufbruch aus der Kärntner Provinz und ihrer desaströsen Ehe mit dem Psychiater Leo Jordan bereichert. Die Liebe der Studentin zu dem Pianisten Ödön Csobadi motiviert hier einen ersten Entwurf jener musikalischen Intertextua-
lität, die die Todesarten-»Ouvertüre« (GuI, 95) prägen wird. In enger, allerdings noch wenig spezifischer Verknüpfung zitiert der Entwurf Arnold Schönbergs Melodram Pierrot lunaire, Alban Bergs expressionistische Klaviersonate op. 1, die 3. Strophe des von Schubert (D 920/921, op. 135) vertonten Gedichts Ständchen von Franz Grillparzer mit den auf Diogenes anspielenden Versen »Sucht’ ein Weiser nah und fern / Menschen einst mit der Laterne«, ein Klavierkonzert in EsDur, bei dem wohl an Mozart oder Beethoven zu denken ist, Robert Schumanns Kreisleriana und den Walzer An der schönen blauen Donau von Johann Strauss (Sohn) (TKA 2, 235 f.). Diese Passage bildet den werkgeschichtlichen Ausgangspunkt für die musikalische Poetik des Romans Malina, in dem sich Musik- und Notenschriftzitate mit einer musikalischen Leitmotivik und einer in Teilen quasi-musikalischen Erzählstruktur zu einer »neuen Sprache« (KS, 263; W 4, 192) des Erzählens verbinden. Die Dekonstruktion des epischen Erzählens in dem ästhetischen Reflexionsraum dieses Romans begründet die Darstellungsfunktion der musikalischen Intertextualität bzw. Intermedialität im Rahmen eines komplexen, selbstreflexiven Erzählverfahrens, das seine innovative Struktur im Dialog mit der Musik entwickelt. Hier hat auch Bachmanns umstrittener Begriff der »Komposition« (GuI, 96; vgl. Caduff 1998; Eberhardt 2002) seine Funktion als Bezeichnung einer narrativen »Vereinigung« von Musik und Dichtung, die epische Sukzession in einen genau komponierten polyphonen Prozess des Mit-, Neben- und Gegeneinanders vielfältiger und zum Teil gleichzeitiger Stimmen, Motive und Diskurse überführt (Beicken 1988; Göttsche 1993; Spiesecke 1993; Caduff 1998). Das Spektrum der musikalischen Zitate und Anspielungen in Malina reicht von Werken der europäischen Konzert- und Opernliteratur über Operetten, Volkslieder und Chansons bis zur zeitgenössischen Filmmusik. Im Vorkapitel verbindet sich »das erste Lied«, das die Ich-Figur »zu lernen hatte« – Carl Loewes Vertonung von Ferdinand Freiligraths Prinz Eugen, der edle Ritter (op. 128; TKA 3.1, 288) –, mit dem mythischen multikulturellen Österreich als magischem Herkunftsraum Malinas. Dem stehen in einem ironischen und ideologiekritischen Blick auf das heimatliche Klagenfurt Anspielungen auf die Kärntner Landeshymne und das Volkslied Verlassn, verlassn bin i des Klagenfurters Thomas Koschat gegenüber (TKA 3.1, 293). Im 1. Kapitel kommt das kurzlebige Glück des Ich mit Ivan bei einer musikgetränkten Autofahrt auf der Wiener Ringstraße in Zitaten aus dem Chan-
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son Auprès de ma blonde zum Ausdruck (TKA 3.1, 342–345), während Zitate aus dem Chanson Jeanneton prend sa faucille in komischer Brechung die Problematik des Geschlechterverhältnisses und die beginnende Entfremdung von Ivan andeuten: »Les hommes sont des cochons / [...] / Les femmes aiment les cochons« (TKA 3.1, 378). Die Unfähigkeit, ein ungarisches Kinderlied mitzusingen, signalisiert in ähnlichem Sinne das Scheitern der Utopie eines Familienlebens mit Ivan und seinen Kindern (TKA 3.1, 444). Wie sehr der Lebensraum des Ich von Musik geprägt ist, zeigt nicht nur die über ihr wohnende Opernsängerin, die zu ihrem Nachteil mit Elisabeth Schwarzkopf und Maria Callas verglichen wird (TKA 3.1, 336), sondern auch die Bemerkung, »daß in dem Haus visà-vis immerhin Beethoven taub die Neunte Sinfonie, aber auch noch anderes, komponiert hat« (TKA 3.1, 363). Man hat in der Struktur des Traumkapitels in Malina sogar eine literarische Auseinandersetzung mit den Diabelli-Variationen (op. 120) des späten Beethoven sehen wollen (Solibakke 2005, 200–208). Ein eigener Komplex von Musikzitaten verbindet sich mit dem satirisch gefärbten Blick auf die österreichische High Society und ihre Traditionspflege in der Episode am Wolfgangsee. Mit Bezug auf die Salzburger Festspiele sind hier Mozarts Zauberflöte (1791) und Giuseppe Verdis Requiem (1874; TKA 3.1, 482) Stichworte einer leerlaufenden Konversation; im Blick auf die Klavierliedersammlung Sang und Klang – genannt werden u. a. Schuberts Matthias Claudius-Vertonung Der Tod und das Mädchen (D 531), die Oper Die Regimentstocher (1840) von Gaetano Donizetti, die Champagnerarie aus Mozarts Don Giovanni (1787) und die Arie Des Sommers letzte Rose aus Friedrich von Flotows Oper Martha (1847; TKA 3.1, 486) – reflektiert das Ich seine ehemalige Zugehörigkeit zu und jetzige Entfremdung von dieser österreichischen Kultur und Gesellschaft. In den dialogischen Selbstreflexionen des 3. Kapitels steht dagegen die Musik von Miles Davis zu Louis Malles Film L ’ascenseur pour l’échafaud (1957) als Erinnerungszeichen für die auf seine eigene ›Ermordung‹ vorausweisende Begegnung des Ich mit einem Mörder (TKA 3.1, 624). In den Romanentwürfen fungiert der von Claude Débussy als Oper, von Arnold Schönberg und Jean Sibelius symphonisch bearbeitete Pelléas et Mélisande-Mythos Maurice Maeterlincks als Reflexionsmodell der doppelgängerartigen Verbindung des weiblichen Ich mit seinem männlichen Alter Ego Malina (TKA 3.1, 24). Im Zentrum der musikalischen Intertextualität stehen allerdings die leitmotivischen Schönberg-, Mo-
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zart-, Wagner-, Offenbach- und Bellini-Zitate, in denen jeweils eine Singstimme (teils ein Sopran) als musikalisches Identifikations- und Reflexionsmedium des weiblichen Ich fungiert. Zweifellos die markanteste Form musikalischer Intertextualität bzw. Intermedialität in Malina bilden die Zitate aus Arnold Schönbergs Melodram Pierrot lunaire (für Sprechstimme, Klavier, Flöte, Klarinette, Geige und Violoncello, op. 21) nach 21 von Otto Erich Hartleben ins Deutsche übertragenen Gedichten Albert Girauds, da die leitmotivischen Textzitate vor allem aus dem letzten Stück des Zyklus, O alter Duft aus Märchenzeit, sich zu Beginn und gegen Ende des Romans in einer Art musikalischer Rahmung mit der Einmontierung von (bearbeiteten) Notentextauszügen verbinden (TKA 3.1, 281 f., 672 f.). Das erste Partiturzitat gilt dem Anfang des Schlussstücks: »O alter Duft aus Märchenzeit« (TKA 3.1, 281), das ausführlichere zweite bietet eine gekürzte Fassung der dritten und letzten Strophe dieses Gedichts: »All meinen Unmut geb ich preis; / [...] und träum hinaus in selge Weiten ... / O alter Duft aus Märchenzeit!« (TKA 3.1, 673; vgl. Dollenmayer 1997). Durch die mit der Kürzung verbundene Partiturmontage entsteht ein unvollständiger Takt, der als musikalische Spur der Zerstörung des Ich gelesen worden ist (Caduff 1998, 193; Solibakke 2005, 160 f.; dagegen Eberhardt 2002, 315). Eine solche Form des intermedialen Dialogs der Literatur mit der Musik hat ihr Vorbild eigentlich nur in den Notenzitaten aus Robert Schumanns Carnaval in Arthur Schnitzlers Erzählung Fräulein Else (Lindemann 2000). In Malina reflektiert die Melancholie von Schönbergs Pierrot die Erinnerung des Ich an seine eigene »Märchenzeit« vor der Zerstörung seiner Lebens- und Glücksfähigkeit, die in der symbolischen Wiener Stadttopographie des Romans mit dem Stadtpark und der dortigen ersten Begegnung mit Malina assoziiert ist (TKA 3.1, 281 f.). In einer intertextuellen Engführung schließt sich an das zweite Notenzitat – auf der fiktionalen Ebene spielt Malina dem Ich auf einer Party das Schönbergstück auf dem Klavier vor – ein Heimweg des Doppelgängerpaares Ich/Malina durch den Stadtpark an, der angesichts des sich abzeichnenden Untergangs des Ich noch einmal Zitate aus mehreren Stücken des Pierrot lunaire miteinander verbindet (TKA 3.1, 673, motivisch vorweggenommen im Buch Franza; TKA 2, 234 f.). Die Pierrot-Zitate sind mithin Teil der zentralen Erinnerungsthematik, die den Roman leitmotivisch durchzieht. Zugleich verweist die Androgynität des Pierrot auf die Verbindung von Männlichem und Weiblichem in der Doppelfigur Ich/
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Malina (Spiesecke 1993, Caduff 1998; Solibakke 2005), und seine Außenseiterstellung spiegelt die Entfremdung des Ich von der sozialen Welt. Nicht zufällig stellt das Ich daher der bürgerlichen Musikkultur ein Zitat aus Schönbergs Melodram gegenüber (TKA 3.1, 487) und rettet sich im Traumkapitel in der Durcharbeitung patriarchalischer Gewalterfahrung in die Stimme des Pierrot (TKA 3.1, 546). Die »überschnappende Stimme« (TKA 3.1, 281), die Schönberg in gleitendem Übergang zwischen Sprechen und Singen ansiedelt, ist wohl weniger ›idealer‹, zwischen Sprechen und Gesang ›noch ungeschiedener‹ ›Ausdruck‹ (Caduff 1998, 192, 198) als vielmehr die »Bewegung der Zerrissenheit« »zwischen Ausdruck und Konstruktion« (Greuner 1990, 79, 82) und in diesem Sinne Teil eines musikalischen Grenzgangs zwischen Tradition und Moderne. Daher fungiert Schönbergs Pierrot lunaire über seine motivische Bedeutung hinaus als poetologischer Intertext der Dekonstruktion des Erzählens und der Suche nach neuen Darstellungsmöglichkeiten in der ästhetischen Struktur des Romans (vgl. ebd., 75). In dieser Dekonstruktionsform führt die musikalische Poetik in Malina das Projekt einer »Vereinigung« von Musik und Dichtung aus dem Essay gleichen Titels fort. In besonderer Weise intermedial ist ein zweites musikalisches Kernmotiv angelegt, das ebenfalls vom expositionsartigen Vorkapitel des Romans seinen Ausgang nimmt und mit den Pierrot-Zitaten durch seine Erinnerungsfunktion verbunden ist, die Verknüpfung des Geburtstags des Ich (und der Autorin) am 25. Juni mit dem Todestag des Dichters und Komponisten E. T. A. Hoffmann (25.6.1822), mit dem wiederum die Erinnerung an Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen (1880) assoziiert wird (TKA 3.1, 296 f., vgl. 154 f. und oben zum Gedicht Schwarzer Walzer). Literatur, Musik und Film bilden hier also einen »medienästhetischen Verweisungszusammenhang« zur »Problematik des weiblichen Ich« (Solibakke 2005, 183), in dessen Mittelpunkt die Barcarole mit dem nächtlichen Preis der Liebe im Duett zwischen der Kurtisane Giulietta, Hoffmanns dritter Geliebter, und Niklaus, Hoffmanns Muse, zu Beginn des vierten, venezianischen Aktes steht. Da die Muse Niklaus von einem Mezzo-Sopran gesungen wird, handelt es sich um ein Duett weiblicher Stimmen, in dem sich Liebe (Giulietta) und Kunst (Muse) vereinen, wobei die Verkörperung von Hoffmanns künstlerischem Genius (Niklaus/Muse) als männlich-weibliche Doppelfigur an die Konstellation Ich/Malina erinnert. Der Barcarolenrhythmus dieses Duetts durchzieht in dem musi-
kalischen Glücksmotiv »dadim dadam« (TKA 3.1, 297) vor allem die Vorstufen des Romans, während es in der Endfassung z. B. durch den Chanson Auprès de ma blonde (TKA 3.1, 343–345; vgl. Apparate M_4 und M_5) oder durch das Pierrot lunaire-Zitat »Und träum hinaus in sel’ge Weiten« ersetzt wird (TKA 3.1, 490; vgl. Apparate M_4 bis M_6). Im ersten Fall stimmte der Nocturne-Charakter der Barcarole nicht zur erzählten Glücks-Ekstase einer Autofahrt auf der Wiener Ringstraße, im zweiten unterstreicht die Ersetzung im Wechsel des musikalischen Tons das dargestellte Zerbrechen des Glücks. Die beibehaltenen Wiederaufnahmen des Motivs im Traumkapitel (TKA 3.1, 527, 554 f.) – im zweiten Fall mit dem Walzertanz im symbolischen Raum von Leo Tolstois Roman Krieg und Frieden (1869) (oder dem Ballsaal im 2. Bild von Sergej Prokofjews gleichnamiger Tolstoi-Oper, 1942) verknüpft – führen musikalisch vor, wie das schon in Hoffmanns Erzählungen gegen eine grotesk-phantastische Welt gesetzte Glücksversprechen dieser Musik durch die von der Vaterfigur verkörperte Gewalt zerschlagen und damit zugleich symbolisch das »Herz« des Ich »gebrochen« wird: aus dem melodischen »dadim dadam« wird das Störgeräusch »krakkrak« einer beschädigten Schallplatte (TKA 3.1, 554 f.). Noch eindeutiger mit dem Versuch eines utopischen ›ganzen Lebens‹ (TKA 3.1, 311) im Glück mit Ivan und seinem Scheitern verbunden sind die Anspielungen auf Mozarts (für Sopransolo und Orchester komponierte) Motette Exsultate Jubilate (KV 165) als Inbegriff der Freude und zugleich der untergegangenen »›großen‹ Tradition« europäischer Tonalität (TKA 3.1, 334 f.; Achberger 1984, 127). Der Entwurf eines ekstatischen Lebens in der Liebe erweist sich so auch als nicht realisierbar: »Jubilate. Über einem Abgrund hängend, fällt es mir dennoch ein, wie es anfangen sollte: Exsultate« (TKA 3.1, 339; Solibakke 2005, 196 f.). In stärker verschlüsselter Form chiffrieren auch die Zitate aus Vincenzo Bellinis Oper La sonnambula (1831), die im Roman für die italienische Oper schlechthin stehen, den Weg des Ich vom verzweifelten Glücksentwurf zur Konfrontation mit der Geschichte seiner Identitätszerstörung. Im Zeichen des Glücks des Ich mit Ivan singt die Opernsängerin, eine Nachbarin des Ich, die Worte »cari amici, teneri compagni«, mit denen die Protagonistin der Oper, Amina, die Gäste ihrer Verlobungsfeier begrüßt (TKA 3.1, 336; vgl. Bellini I.1). In einem der Alpträume des Kapitels »Der dritte Mann«, das die Zerstörung des Ich im Horizont einer Kulturgeschichte der Gewalt in der partriarchalischen Gesellschaft reflektiert, singt eine italienische Sängerin
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– wiederum im »Ballsaal« aus Tolstois bzw. Prokofjews Krieg und Frieden – die Worte »Alfin tu giungi, alfin tu giungi«, mit denen in der Oper Amina ihren Geliebten Elvino begrüßt, so wie das Ich im Traum den eintretenden Malina als seinen erlösenden Tanzpartner umarmt (TKA 3.1, 514; vgl. Bellini I.1). Die Erlösung, die Bellinis Amina tatsächlich erlebt, bleibt dem Ich in Malina jedoch verwehrt. Wie Mozarts Motette, so steht auch die große italienische Oper für eine Welt und Kunst, die in der Literatur nach Auschwitz, in der Bachmann sich verortet, ihre Gültigkeit verloren hat, so dass sie nur noch als musikalischer Ausdruck einer verlorenen Utopie herbeizitiert werden kann. Der zentrale musikalische Intertext für die symbolische Darstellung der Zerstörungsgeschichte des Ich im Traumkapitel ist jedoch Wagners Musikdrama Tristan und Isolde. Wie schon in den autobiographischen Gedichtentwürfen der Jahre 1962 bis 1966 (Bachmann 2000) bringen die Zitate aus diesem klassischen Liebesdrama der europäischen Musikgeschichte den vom weiblichen Ich verkörperten Anspruch auf ein ›ganzes Leben‹ und die Klage um seine Vernichtung zum Ausdruck. Im Traum vom Versagen des Ich in der »Oper meines Vaters« veranschaulichen Zitate aus dem großen Liebesdialog von Tristan und Isolde (»So stürben wir, um ungetrennt«), aus Isoldes Liebestod-Arie (»Seht ihr’s Freunde, seht ihr’s nicht!«) und aus Markes Klagegesang nach Tristans Tod (»Tot denn alles. Alles tot«), dass das Ich sich gezwungen sieht, alle Rollen der Oper selbst zu übernehmen, nachdem es in der Aufführung doppelt negiert, zugleich im falschen Libretto und unhörbar war (TKA 3.1, 516–518; vgl. Wagner II.2, III.3). Im Zitat der Wagnerschen Todesmotivik findet die eigene Situation des Ich symbolischen Ausdruck (Greuner 1990; Spiesecke 1993; Eberhardt 2002). In dem kontrapunktischen Traum der Liebe zum eigenen, jüngeren Selbst in einer von Männern befreiten Welt (Eberhardt 2002), der auch als Dekonstruktion der möglichen Utopie lesbischer Liebe gelesen worden ist (Achberger 1988), singt ein junges Mädchen dann Isoldes Part aus dem Liebesduett, eine ältere Mentorin die Wächterrolle Brangänes (Wagner II.2), während die Ich-Figur sich statt in Tristans Worten mit dem leitmotivischen Schlussstück aus Schönbergs Pierrot lunaire ausdrückt. Auf diese Weise kommt es zu einer Engführung der zentralen Wagner- und Schönberg-Zitate (TKA 3.1, 546), die auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Liebesutopie (Tristan und Isolde) und der Identitäts- und Ausdrucksproblematik (Pierrot lunaire) verweist.
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Neben die vielfältigen, im intertextuellen Universum des Romans miteinander verflochtenen bzw. variierend oder kontrapunktisch aufeinander verweisenden Musikzitate tritt in der musikalischen Poetik von Malina die literarische Adaptierung musikalischer Strukturen in der narrativen Inszenierung der »Gedankenbühne« (TKA 3.1, 630), auf der der Roman seine komplementären Intentionen als Bewusstseinsund Zeitroman gestaltet. Die Dekonstruktion des Erzählens in der komplexen Darstellung eines Bewusstseinsprozesses, der in der Erinnerung einer Ichfigur an die Geschichte ihrer Zerstörung zugleich eine zeitkritische Reflexion gesellschaftlicher Gewalterfahrungen seit dem Nationalsozialismus vollzieht, mündet mit dem Dialog zwischen dem weiblichen Ich und seinem männlichen Alter Ego Malina schließlich in eine Gegeneinanderführung zweier Stimmen, von denen die weibliche mit Hilfe expressiver Vortragsbezeichnungen nach dem Vorbild von Beethovens späten Klaviersonaten (op. 109–111) und Schuberts Streichquartett Nr. 14 d-moll Der Tod und das Mädchen (D 810), aber auch der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts ausgezeichnet ist (Achberger 1988; Greuner 1990; Caduff 1998, 233–243; Solibakke 2005, 186 f.). Als Verkörperung des Anderen der Rationalität überschreitet die Ich-Stimme so die Ausdrucksmöglichkeiten konventionellen Sprechens (Caduff 1998); mit den Vortrags- und Affektbezeichnungen wie »accelerando«, »crescendo«, »presto, prestissimo«, »pianissi mo«, »cantabile«, »soavamente«, »agitato« etc. (TKA 3.1, 635–689) bewegt das Ich sich wie Schönbergs Pierrot auf der Grenze zwischen Sprechen und Gesang und gewinnt im Sinne von Bachmanns poetologischer Verknüpfung von Sprachskepsis und Musikästhetik die überlegene ›andere Sprache‹ der Musik, die im Diskurs Malinas jedoch ebenso keinen Ort mehr findet wie in der satirisch dargestellten gesellschaftlichen Welt. Nicht als Signal einer befreienden Vereinigung von Musik und Dichtung im Gesang lesen sich diese Vortragsbezeichnungen, sondern als Erinnerungszeichen einer verlorenen und doch unersetzbaren Utopie – ähnlich wie die Musik in dem Gedicht Enigma. Über diese musikalische Inszenierung der Stimmenführung hinaus, die Malina in besonderer Weise mit dem ›Miteinander, Gegeneinander und Nebeneinander‹ gleichzeitiger Stimmen in der Oper verbindet (W 1, 434), ist auf die starke »Musikalisierung der Sprache« in Malina (und anderen Werken Bachmanns) hingewiesen worden (Greuner 1990, 88), die auf den Ebenen der Lautstruktur, des (Satz-)Rhythmus’, der Motivarbeit und der Stimmenführung einen
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
spezifisch literarischen Beitrag zur musikalischen Poetik der Autorin leistet (Greuner 1990; Lindemann 1993 und 2000; Caduff 1998), der aus anderer Perspektive jedoch auch als Lyrisierung diskutiert werden kann. Das neuere kulturwissenschaftliche Interesse an Körper- und Mediendiskursen hat zudem – mit Blick auf verschiedene Werke – zu neuen Lektüren einer Poetik der Stimme bei Bachmann geführt, die teils über musikalische Fragestellungen hinausführen (vgl. z. B. Maye 2008; van Dijk 2012).
Vertonungen Auf Bachmanns literarischen Dialog mit der Musik antworten Komponisten durch Vertonungen insbe sondere ihrer Gedichte. Hans Werner Henze hat seiner Librettistin bislang drei Vertonungen gewidmet: (1) Die Nachtstücke und Arien, die Vertonungen von Bachmanns Gedichten Aria I und Freies Geleit (Aria II) in drei Instrumentalstücke einbetten, stehen in der Tradition des »spätromantischen Orchesterliedes« (Spiesecke 1993, 102). Text und Musik entstanden in enger Zusammenarbeit zwischen Bachmann und Henze (Bielefeldt 2003, 125 f.). Bachmann nahm an der Uraufführung des Werkes, das Henzes »endgültigen Rückzug aus dem engeren Kreis der Avantgardemusiker« markiert (ebd., 133), bei den Donaueschinger Musiktagen 1957 teil. Zugleich ist das Werk eine kritische Stellungnahme gegen die atomare Bedrohung der Zeit (»Die Erde will keinen Rauchpilz tragen«; W 1, 161) und insofern politische »Bekenntniskunst« (Kalisch 2015, 255); Henze unterstreicht dies mit dem musikalischen »Einbruch des Nuklearen« in eine Welt musikalischer Schönheit (ebd., 259). (2) Die »Chorphantasien« auf die Lieder von einer Insel (1964), die Henze in Erinnerung an »seine erste Zeit in Italien« und die Zusammenarbeit mit Bachmann komponiert hat (Müller-Naef 2006, 191), entwickeln die Inselmetapher im Wechselspiel von (oft choralartigen, sparsam orchestrierten) Chorpartien und Instrumentalmusik zu einem doppelt, räumlich und zeitlich »entrückten Klangraum« als »Gegenort und Gegenzeit« der »poetische[n] Imagination« (Bielefeldt 2003, 276), wobei »Techniken aus dem Madrigal-Schaffen der italienischen Renaissance des 16. Jahrhunderts« Pate standen (Müller-Naef 2006, 195). (3) Erst nach Bachmanns Tod folgte eine Neuvertonung ihres lyrischen Monologs des Fürsten Myschkin (1990). Die Lieder auf der Flucht sind bislang zweimal vertont worden (Reimann 1957; Jánarceková 1988); das
letzte der Lieder von einer Insel (»Es ist Feuer unter der Erde«; W 1, 123) nicht nur von Henze, sondern auch von Giacomo Manzoni als Abschluss seines Werks Finale ed Aria (1991); Luigi Nono reduziert Keine Delikatessen in seinen Risonanze erranti (1986) »auf eine schmerzende Grundaussage« (Zenck 2006, 213). Martin Zenck argumentiert, dass Nono und Manzoni – der im Übrigen auch die Musik zu Werner Schroeters Verfilmung von Malina (1991) geschrieben hat – bei ihren »musikalischen Lektüren« Bachmanns Stimme beim Vortrag ihrer eigenen Gedichte vorgeschwebt habe (Zenck 2006, 212). Thomas Larcher, der 2008/09 die Gedichte Böhmen liegt am Meer und Enigma vertont hat, hat zuvor bereits einige der späten Gedichtentwürfe (Bachmann 2000) für seine Komposition Die Nacht der Verlorenen (2008) verwendet (Höller/Larcati 2016, 153). Die musikalischen Qualitäten der Stimmführung in Malina haben darüber hinaus zu einer »Sprechkammeroper« angeregt (Brusatti 1985). Ein ungewöhnliches Beispiel intermedialer Adaption ist Adriana Hölszkys »Musiktheater nach dem Hörspiel von Ingeborg Bachmann« Der gute Gott von Manhattan (uraufgeführt am 19.5.2004 im Rahmen der Schwetzinger Festspiele); erst in dieser »Transformation«, so Juliana Hinterberger, werde »den von Bachmann geforderten Klängen [des Hörspiels, D. G.] adäquate Bedeutung« gegeben (Hinterberger 2006, 274). In jüngerer Zeit sind zudem eine Reihe freier Adaptionen entstanden, in denen Komponisten der Gegenwart auf Bachmanns Werk und Leben sowie dessen Rezeptionsgeschichte reagieren (z. B. Hölszky 1990; Eggert 1997; Iranyi 2013; vgl. Eggert 2006). Vertonungen
Brusatti, Otto: Malina-Suite. Sprechkammeroper. Ursendung am 8.5.1985 als Koproduktion von ORF und WDR. Dangel, Arthur: Bachmann-Zyklus (Psalm), op. 55 (1991). Eggert, Moritz: Gegenwart – ich brauche Gegenwart [= Musik zum Tanztheater von Brigitta Trommler: Et in Arcadia Ego; Luftküsse; Meer/Wüste; Böhmische Hymne; Avec ma main brulée; Symphonie 1.0; Flüchtige Begegnung; Adagio; Heute; Skelter]. Uraufführung Darmstadt 1997. Flothius, Marius: Hymnus »An die Sonne« für Sopran und großes Orchester, op. 67 (1965). Henze, Hans Werner: Nachtstücke und Arien. Nach Gedichten von Ingeborg Bachmann, für Sopran und großes Orchester [1957]. Mainz 1958 (Uraufführung am 20.10.1957 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage). Henze, Hans Werner: Lieder von einer Insel. Chorphantasien auf Gedichte von Ingeborg Bachmann, für Kammerchor, Posaune, zwei Violoncelli, Kontrabaß, Portativ, Schlagwerk und Pauken. Mainz 1964 (Uraufführung am 23.1.1967 in Selb).
46 Musik Henze, Hans Werner: Paraphrasen über Dostojewsky. In Worte gefaßt für Prinz Myschkin von Ingeborg Bachmann, für einen Schauspieler (eine Sprechstimme) und elf Instrumentalisten (Instrumente). Mainz 1990 (Uraufführung 12.1.1991 in London). Hölszky, Adriana: ... geträumt ... für 36 gemischte Stimmen (1990). Hölszky, Adriana: Der gute Gott von Manhattan. Musiktheater nach dem Hörspiel von Ingeborg Bachmann (2004). Iranyi, Gabriel: Klangspuren – Hommage à Ingeborg Bachmann für Gesang solo. Berlin 2013. Janárceková, Viera: Lieder auf der Flucht. Auf Gedichte von Ingeborg Bachmann, für Sopran, 3 Flöten, Trompete, Horn, Posaune, Harfe und Schlagzeug. Kassel 1988. Kelterborn, Rudolf: Gesänge an die Nacht, für Sopran und Kammerorchester nach Texten von Ingeborg Bachmann und Erika Burkart (1978). Larcher, Thomas: Die Nacht der Verlorenen für Bariton und Ensemble (2008). Larcher, Thomas: Böhmen liegt am Meer – Enigma für Bariton, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (2008/09). Manzoni, Giacomo: Finale ed Aria für Sopran und Orchester mit Streichquartett (1991). Nono, Luigi: Risonanze erranti. Liederzyklus a Massimo Cacciari, für Mezzosopran, Flöte, Tuba, sechs Perkussionisten und Live-Electronics (1986). Reimann, Aribert: Lieder auf der Flucht, für Alt, Tenor, gemischten Chor und Orchester [1957]. Klavierauszug Berlin 1960. Schlünz, Annette: Rosen. Gesangszenen nach Ingeborg Bachmann, für Mezzosopran und Klavier, Logiksynthesizer ad lib [1988]. Dresden und Wiesbaden 1995. Schmidt, Mia: Die gestundete Zeit, für Mezzosopran und Gitarre (1987).
Quellen
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Lindemann, Eva U.: Über die Grenze. Zur späten Prosa Ingeborg Bachmanns. Würzburg 2000. Manacorda, Giorgio: Das Gewicht der Wiederholung. Zu Thema und Variation. In: Primus-Heinz Kucher/Luigi Reitani (Hg.): »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort ...« Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien/Köln/Weimar 2000, 136–150. Maye, Harun: Stimmen hören. Bachmanns Medienpoetik. In: Oliver Simons/Elisabeth Wagner (Hg.): Bachmanns Medien. Berlin 2008, 162–174. Miglio, Camilla: Gedächtnis, Schrift, »Musica impura«. Ingeborg Bachmanns Lieder von einer Insel. In: Arcadia 42 (2007), 352–374. Müller-Naef, Monika: Tradition und Erneuerung. Lieder von einer Insel, Chorfantasie von Hans Werner Henze auf Gedichte von Ingeborg Bachmann. In: Susanne Kogler/ Andreas Droschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien 2006, 184–202. Oberle, Mechthild: Liebe als Sprache und Sprache als Liebe. Die sprachutopische Poetologie der Liebeslyrik Ingeborg Bachmanns. Frankfurt a. M./Bern 1990. Petersen, Peter: Hans Werner Henze – Ingeborg Bachmann. »Undine« und »Tasso« in Ballett, Erzählung, Konzert und Gedicht. Schliengen 2014. Solibakke, Karl: Geformte Zeit. Musik als Diskurs und Struktur bei Bachmann und Bernhard. Würzburg 2005. Spiesecke, Hartmut: Ein Wohlklang schmilzt das Eis. Ingeborg Bachmanns musikalische Poetik. Berlin 1993. Thiem, Ulrich: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns. Diss. Köln 1972. Van Dijk, Kari: Unvollkommene Androgynie. Menschliche Stimmen bei Ingeborg Bachmann, Elizabeth Murray und Yoko Tawada. Dissertation Radboud-Universität Nijmegen 2012. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999. Zenk, Martin: Dunkles zu sagen. Oralität und Skripturalität der Lyrik Ingeborg Bachmanns in den Kompositionen von Giacomo Manzoni, Luigi Nono und Adriana Hölszky sowie in den Gemälden Anselm Kiefers. In: Susanne Kogler/Andreas Droschel (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien 2006, 203–239.
Dirk Göttsche
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47 Italien In Italien, wo sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hat, findet Ingeborg Bachmann ihr »erstgeborenes Land« (W 1, 119), ihre lang gesuchte Wahlheimat. In Rom lernt sie die Lebensart der Italiener, den Kontakt zum Jet Set und die ›dolce vita‹ kennen und schätzen, muss aber dennoch immer wieder auch die Einsamkeit suchen, um zu schreiben, oder die Stadt wegen der hohen Lebenskosten auch für längere Zeit verlassen (Fußl/Larcati 2015). Italien ist für sie kein Arkadien mehr, sondern etwas durchaus Ambivalentes: Wie sehr sie die Schönheit der Landschaft und der Kunstdenkmäler auch bewundert, übersieht sie jedoch auch im geliebten Süden nicht die Armut und die Spuren der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In Rom freundet sie sich mit der Prinzessin Marguerite Caetani an, als sie ihre Gedichte in deren Zeitschrift Botteghe Oscure veröffentlicht, mit Gustav René Hocke, Marie Luise Kaschnitz und Hermann Kesten. Unter den italienischen Schriftstellern und Intellektuellen schätzt sie ganz besonders Pier Paolo Pasolini, Elsa Morante und Giuseppe Ungaretti, dessen Gedichte sie 1961 übersetzt. Zu ihrem engeren Freundeskreis gehören seit den 1960er Jahren auch die Verleger Giangiacomo Feltrinelli und Roberto Calasso.
Bachmanns Ortsbestimmung in der Tradition der Italien-Dichtung In einem späten Interview sagt Ingeborg Bachmann über Italien: »[M]an pilgert heute nicht mehr nach Italien. Ich habe kein Italienerlebnis, nichts dergleichen, ich lebe sehr gerne hier« (GuI, 65). Dementsprechend gilt Italien für sie lange nicht mehr als das Land der Poesie und der Sehnsucht wie im Mignon-Lied von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre bzw. in der Tradition der klassischen Italien-Dichtung. Für sie ist das Land weder ein Sehnsuchts- noch ein Fluchtraum, in welchem man den Problemen der Zeit entgeht: Im Süden solle man nicht verdrängen, was im Norden passiert, sondern die italienische Landschaft wird für sie zum bildkräftigen bzw. bildhaltigen Raum der Auseinandersetzung mit Fragen des Schreibens und des Lebens – zwei Bereiche, die für sie nicht zu trennen sind. Italien avanciert bei ihr zum Raum des Schreibens nach 1945, in dem die Erfahrung der Shoah nicht verdrängt wird – paradigmatisch exemplifiziert im Narrativ des Gedichts Das erstgeborene Land: Erst in der durch Viper und Skelett hervorgeru-
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fenen Erfahrung der Bedrohung kann das Ich den Tod abwenden und die Welt neu sehen. In diesem Punkt vertritt Bachmann eine Position, die mit jener von Ilse Aichinger (1952) in ihrem Aufsatz Rede unter dem Galgen vergleichbar ist. Bachmanns spezifischer Beitrag zur Italiendichtung, der in der Betonung der lebensgeschichtlichen und poetologischen Aktualität der Texte liegt, lässt sich an dem berühmten Gedicht An die Sonne (W 1, 136) exemplifizieren. Der in dem Gedicht artikulierte Gegensatz zwischen den Gestirnen, die prangen und prahlen, aber für sich stehen, und der Sonne, die für die Menschen sorgt, impliziert zugleich die Gegenüberstellung einer autonomen Dichtung, die sich nicht um die Menschen sorgt, und einer Dichtung, die sich um sie kümmert und es gut mit ihnen meint. Mit der Trauer über die Sterblichkeit im Bild des unabwendbaren Verlusts der Augen am Schluss des Gedichts verleiht Bachmann dem Franziskanischen Sonnengesang eine neue, das rein Irdische betonende Bedeutung. Man kann An die Sonne u. a. mit den materialistischen bzw. spinozistischen Positionen Goethes in Verbindung bringen, wie sie aus den von Goethe in der Farbenlehre zitierten Versen Jakob Böhmes sprechen: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken?« (Goethe 1982, 324). Wie breit und vielfältig das Spektrum der Bezüge der Bachmannschen Italien-Gedichte zur deutschen LyrikTradition von Friedrich Hölderlin bis Heinrich Heine insgesamt ist, hat Fabrizio Cambi (1997) exemplarisch an dem Gedicht Nord und Süd gezeigt, während Ariane Huml (1999) vor allem die Referenzen auf Goethe untersucht.
Italien als Landschaftsraum (Nord-SüdThematik) Die Nord-Süd-Thematik ist eine »Problemkonstante« (W 4, 193) der Italien-Gedichte, die man als »Bildund Klangraum« bezeichnen kann, in dem »Italien weder eine bloße Kulisse noch ein rein literarischer Stoff« ist, sondern »eine evozierte Landschaft, die semantisch stark beladen ist und zur Fokussierung der in den Texten behandelten Themen dient« (Reitani 2016, 108). Schon in ihrem ersten Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) polemisiert die Dichterin gegen das Klischee der Italien-Reisen. Im Gedicht Herbstmanöver heißt es: »Mit wertlosem / Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder / auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. / Und der Flucht-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_47
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weg nach Süden kommt uns nicht,/ wie den Vögeln, zustatten« (W 1, 36). Das Wir des Gedichts verweigert sich dem Fluchtgedanken, weil es sich hier nicht den Forderungen entziehen will, die ihm gestellt sind. Die Thematik der Flucht auf eine südliche Insel steht im Mittelpunkt des Hörspiels Die Zikaden (1955). Im dritten Teil des zweiten Lyrikbandes Anrufung des großen Bären (1956) gibt es eine Gruppe von Italien-Gedichten, die mit Das erstgeborene Land beginnt. Hier beschreibt Bachmann die Erfahrung eines Ich, welches das lebendige Italien nicht finden kann, bevor es in sich selbst gesucht hat (W 1, 120). Camilla Miglio betont in ihrer Interpretation das chthonische Element in der oft bei Bachmann begegnenden Intention, in sich selbst hinabzusteigen, und sie bringt es in Verbindung mit dem Interesse der Dichterin für die anthropologischen Studien Ernesto de Martinos (Miglio 2012, 37 f.). Auch der Gedichtzyklus Lieder von einer Insel, der auf Ischia verweist, steht in diesem Kontext. Der Beginn beschreibt, wie jemand dem Festland und seinen Verfolgern entkommt, um auf einer Insel Zuflucht zu finden, wo die griechische Kultur noch gegenwärtig ist, wo ein Fest im Zeichen des Dionysos gefeiert wird, das »der Vorwelt die Zeit ein[räumt]« (W 1, 122). Der Gedichtzyklus schließt mit einer Beschwörung der eruptiven Kraft der Erde in einer Vulkanlandschaft (Miglio 2012, 53 f.): »Es ist Feuer unter der Erde, / und das Feuer ist rein. // Es ist Feuer unter der Erde/ und flüssiger Stein. / [...] Wir werden Zeugen sein« (W 1, 123 f.). Hier klingt die antike griechische Naturphilosophie an. Mit dem »Wir« sind die Dichter gemeint, welche die Kraft der Erde – als Symbol der Triebe und ihrer lebendigen oder zerstörerischen Kräfte – verteidigen (zum lebensgeschichtlichen Hintergrund vgl. Höller 2014, 30 f.), und letztlich auch die Sexualität als kreatives Vermögen, das nicht auf das Verhältnis von Mann und Frau beschränkt ist. Im Gedicht Nord und Süd klingt im Bildgegensatz des nördlichen Wetters und der südlichen Pflanzen – »Im Ölzweig wollte ich den Schnee erwarten, / im Mandelbaum den Regen und das Eis« (W 1, 125) – das alte Thema der Italiensehnsucht der deutschen Literatur an. Zugleich wird, aus der weiblichen Perspektive, in der italienischen Landschaft der Konflikt zwischen Mann und Frau verhandelt (zu den biographischen Bezügen vgl. Höller 2014, 32 f.). In den Liedern auf der Flucht, dem zweiten Italienzyklus in Anrufung des Großen Bären, werden die Topoi der klassischen Italienreise dann in ein bedenkliches Licht gerückt. Der Traum des schönen Südens weicht einer Albtraumphantasie
von Verfolgung und Mord. Mit seinen Bildern des schutzlosen Ausgesetzt- und Gefangenseins gestaltet dieses Gedicht traumatische Urszenen (W 1, 139), in denen es um die Frage der Schuld, die Liebe und das Schreiben nach der Shoah geht – »Ich aber liege allein / im Eisverhau voller Wunden. / [...] Die Toten, an mich gepreßt, / schweigen in allen Zungen« (W 1, 139). In den zahlreichen Bedrohungs- und Todesszenerien handelt es sich unabweisbar um Bachmanns Auseinandersetzung mit Krieg und Schoah. Die italienische Landschaft besonders in Lieder auf der Flucht wird zum Resonanzraum für Bachmanns Liebe zu Paul Celan, was ihr eindringlicher Brief an Celan vom 28.10.1957 unterstreicht, in welchem sie ihn bittet, doch diese Gedichte »noch einmal zu lesen«, sie habe damals »nicht mehr gehofft, freigesprochen zu werden« (Bachmann/Celan 2008, 63; vgl. Höller 2014, 34–36).
Italien als Kulturraum (Gestalten aus der Literatur- und Musikgeschichte) In den Liedern auf der Flucht dienen Ingeborg Bachmann Petrarcas Trionfi als Kontrastfolie, um über die Bedingungen der Liebe nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu reflektieren und eine frühe Form der weiblichen Todesarten dichterisch zu gestalten. Die thematische Verwandtschaft mit Petrarca, aber auch mit Goffredo Parise und Eugenio Montale, wurde von Barbara Agnese (2004) untersucht. Rita Svandrlik (1993) hat außerdem auf Analogien zwischen Elsa Morantes und Bachmanns Werken hingewiesen. In den posthum erschienenen Gedichten der Anthologie Ich weiß keine bessere Welt (2000) greift Bachmann Gestalten aus der italienischen Literatur- und Musikgeschichte auf, um an ihnen ihre eigene schwere existentielle und dichterische Krise nach der Trennung von Max Frisch im Jahre 1962 zu reflektieren. Die zwischen 1962 und 1964 entstandenen Texte spiegeln die Zeit, in der Krankheit und Klinikaufenthalte sie von Italien fernhalten. In dieser dramatischen Situation verspricht sich das lyrische Ich Trost und Rettung von den fernen Stimmen der »Schwestern«: der Renaissance-Dichterin Gaspara Stampa und der Tosca, die im Gedicht Alla piu umile, alle piu umana, alla piu sofferente (Bachmann 2000, 116 f.) beschwört werden (Miglio 2012, 125 f.). Hier parallelisiert Bachmann die Situation des Ich, das »von der obersten Terrasse« springen will, mit jener der Tosca, die bei ihr anders als bei Puccini »von der Engelsbrücke gesprungen war« (Bachmann 2000, 116 f.). In der Analogisie-
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rung erhält der Gedanke der Rache bzw. der »Gerechtigkeit« für »unsere Mörder« (ebd., 116) eine geradezu opernhafte Dramatik. Aus der Zeit der schweren Krise stammt auch ihre Übersetzung der beiden ersten Strophen von Pasolinis Frammento alla Morte (Fragment an den Tod), ein Gedicht aus der Sammlung La Religione del mio tempo (Die Religion meiner Zeit; Pasolini 1996, Bd. 1, 578– 580), in dem das Ich auf Augenhöhe ein Gespräch mit dem Tod führt und auf sein Leben zurückblickt: »Von dir komme ich und kehr zu dir zurück, / mit dem Licht geborenes Gefühl, mit der Wärme / getauft, als das Gewimmer Freude war / du erkannt in Pier Paolo / Anfang einer rasenden Epopöe // bis zum Licht der Geschichte gegangen [...]« (N 357). Das Übersetzungsfragment bestätigt die tiefe Affinität zu dem friaulischen Dichter, der von ihr auch als Filmemacher bewundert wird (Larcati 2016a). Die Beschwörung der afrikanischen Wüste und Afrikas als alternativer Lebensform am Schluss des Gedichts legt die Möglichkeit nahe, dass einige der Gedichte in Ich weiß keine bessere Welt (Bachmann 2000, 165–169) auch von Pasolini inspiriert sein könnten.
Italien als poetologischer Reflexions- und Gedächtnisraum der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Rom erscheint in dem Essay Was ich in Rom sah und hörte (1955) als Schauplatz der Geschichte: Die Stadt erweist ihre Geschichte in den vielen historischen Schichten, die vom wahrnehmenden Ich freigelegt werden. Indem sie das Verschüttete zutage fördert, betreibt Bachmann Gedächtnisarbeit und sie aktiviert Formen des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Das kulturkritische Projekt, das der Essay entwirft, könnte man als Aufforderung verstehen, ›hinter die Fassade zu sehen‹, oder man könnte es indirekt den Worten entnehmen, dass »[s]chwer zu sehen ist, was unter der Erde« liegt (KS, 150; W 4, 33). Das, was sich der geläufigen touristischen Wahrnehmung entzieht, ist alles andere als schön, es sind die überall gegenwärtigen Spuren der Gewalt (Fussl/Larcati 2015). Dieser Blick hinter die Fassade hat auch eine soziale Komponente, insofern er die Aufmerksamkeit auf die Lebensweise der armen Leute richtet. Aber sie werden nicht als Opfer gesehen, sondern sie scheinen in dieser imperialen Umgebung eine freie Existenz zu führen. Sie stehen zwar für Marginalität, aber auch für Freiheit und Abenteuer. Dadurch rückt der Rom-Essay in die
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Nähe der Romane und Filme von Pasolini (etwa Accattone oder Mamma Roma). Dass in den Katakomben plötzlich frühchristliche Symbole für einen Augenblick aufflammen, stellt eine zusätzliche Parallele zu Pasolinis Il vangelo secondo Matteo (1964) her. Hier, in der Katakomben-Szene, ist es das Unbeschworene, das als Utopie im Gedächtnis aufblitzt (Höller 2001). In der Ghetto-Szene ist es indes die Erinnerung an den Holocaust, die plötzlich durchbricht: Der Geiger wird an sein Spielen-Müssen im Konzentrationslager erinnert und hört zu spielen auf. Unter den Rom-Reisenden ist Ingeborg Bachmann die erste, die des Abtransports der römischen Juden am 16.10.1943 gedenkt: Von den 689 Frauen, 363 Männern und 207 Kindern, die von den Nazis aus dem römischen Ghetto geholt und nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, kamen nur 16 zurück. In dem Fragment gebliebenen Essay [Ferragosto] begründet Bachmann ihre Faszination für Rom mit dem Hinweis auf deren Charakter als »offene Stadt«: »[K]eine ihrer Schichten kann als abgeschlossen betrachtet werden, sie spielt alle Zeiten aus, gegeneinander, miteinander, das Alte kann morgen neu sein und das Neueste morgen schon alt« (W 4, 337). Aus der Topographie der Stadt leitet Bachmann ähnlich wie in Was ich in Rom sah und hörte ein Schichtenmodell ab, das nicht nur ihrem Begriff von Utopie als etwas historisch nicht Abgeschlossenem und dem damit verbundenen geistigen Heimatgefühl entspricht, sondern auch als Schlüssel für ihre Poetologie verstanden werden kann. Diese Interpretation der Stadt Rom findet ihr genaues Pendant im Gedicht Brief in zwei Fassungen (W 1, 126 f.). Der Text, der von einem Abschied aus zwei unterschiedlichen Perspektiven (»in zwei Fassungen«) erzählt, geht von der Isotopie Rom aus, vom alten Rom in der ersten Fassung und vom neuen in der zweiten, er strukturiert verschiedene Schichten in der Tradition der surrealistischen Assoziation: Im ersten Teil wird von der Rom-Isotopie ausgehend ein Thesaurus der Melancholie und der Todessehnsucht entfaltet, im zweiten Teil kommt die Semantik von Dynamik und Aufbruch ins Spiel. So wird Rom mit seinen vielen Schichten zum Modell für eine Literatur, die in der Lage ist, ein Netz von Symbolen zu entfalten.
Italien als Utopie In den literarischen Texten und in den Essays avanciert Italien immer wieder zu einem Raum der Utopie. Überall finden sich bemerkenswerte Denkbilder der
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
Hoffnung auf ein besseres Leben: Sie betreffen die lebensspendende Kraft der Sonne im gleichnamigen Gedicht sowie die Beschwörung des dionysischen Festes in den Liedern von einer Insel oder der erlösenden Kraft der Musik in den Liedern auf der Flucht. Eine Erzählung des Bandes Das dreißigste Jahr (1961) kreist um den Traum eines freien Lebens in Italien. In der Titelerzählung wird der Freiheitsanspruch des Protagonisten aber negiert: Der Freiheitsraum ist von den Molls, von den Konformisten, besetzt, die ihn auf jenes Bild festlegen wollen, das er früher in Rom hinterlassen hat; sie sind nicht bereit, ihn als einen anderen anzuerkennen. In der Erzählung Simultan (1972) im zweiten Erzählband unternimmt die Protagonistin Nadja, von Beruf Übersetzerin, mit einem Freund einen Ausflug nach Süditalien. Hier entdeckt sie ihre eigene Freiheit und überwindet die Deformierung, in die sie als Simultanübersetzerin geraten war, da sie ihr eigenes Ich ausschalten musste, um perfekt zu funktionieren. Als sie versucht, aus dem im Hotelzimmer liegenden Evangelium zu übersetzen, scheitert sie an einem einfachen Satz. Aber in dieser Unfähigkeit, den einen Satz ins Italienische zu übersetzen, entdeckt sie eine Freiheit, die darin liegt, nicht alles können zu müssen bzw. scheitern zu dürfen (TKA 4, 143; W 2, 315). Parallel zum Ausbrechen aus ihrem Beruf, der sie zu einer Maschine verdinglicht hatte, macht Nadja die Entdeckung einer anderen Sprache, jener der Poesie, die ohne Regeln funktioniert. Im Mittelteil des Romans Malina (1971) aber wird das utopische Potential der italienischen Landschaft negiert. Das weibliche Ich sieht Italien im Untergang begriffen: »wie verdüstert die Sonneninsel ist, die Oleanderbüsche sind umgesunken, der Vulkan hat Eiskristalle angesetzt, [...] es ist das alte Klima nicht mehr. [...] Die Insel geht unter, man kann es von jedem Kontinent aus sehen« (TKA 3, 508 f.; W 3, 180 f.; Huml 1999, 340 f.). Der Erlösungstraum Italien erweist sich in diesem Kontext als Illusion. Die Last der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unterdrückt hier den Traum eines besseren Lebens. Das ist allerdings nicht Bachmanns letztes Wort. Unmittelbar vor ihrem Tod hat sie uns mit ihren Auftritten in dem Filmporträt von Gerda Haller (1973) ein geistiges Vermächtnis hinterlassen, in dem sie vor dem Hintergrund ihrer Lieblingsplätze in Rom den Glauben an eine bessere Zukunft noch einmal emphatisch gegen ihre Krisen und Krankheiten setzt. So trägt sie etwa beim Sonnenaufgang am Strand von Ostia das Gedicht An die Sonne vor, und am Schluss des Films rezitiert sie ihr Gedicht Böhmen liegt am Meer,
als würde sie sich in Rom der mutigen Geste der Auferstehung nach einem totalen Zusammenbruch vergewissern.
Das moderne Italien Im Hörspiel Die Zikaden (1955) kritisiert Bachmann den Mythos von Italien als »zweitem Exil«, das viele Intellektuelle (unter ihnen Hans Werner Henze, Hans Magnus Enzensberger oder Alfred Andersch) suchten, um aus den restaurativen Verhältnissen in Deutschland auszubrechen. Bachmann diskutiert hier die Frage des Schreibens nach 1945 und stellt die Haltung des Handelns in der Welt jener der Weltflucht gegenüber. In der zentralen Szene des Hörspiels werden die Inselflüchtlinge von dem Gefangenen, das heißt von einem, der eingesperrt war und wirklich weggehen musste, der Kritik ausgesetzt. Zuletzt unterstützt die Erzählerstimme die Position des Gefangenen mit der Erzählung des platonischen Zikaden-Mythos, der politisch akzentuiert und auf die Situation der nicht engagierten Intellektuellen in der Nachkriegszeit übertragen wird (W 1, 268). In diesem Hörspiel bricht Bachmann dezidiert mit dem Klischeebild Italiens und sie distanziert sich von einer Literatur, die dieses Klischee unbeirrt weiter tradiert. In einem späten Interview begeistert sie sich für das gänzlich konträre Italien der kämpferischen Arbeiter und selbstbewussten Frauen (Bachmann 2004, 45), eine antikapitalistische, genderbewusste Perspektive – die in der Forschung auch als »schlechte Romantik« (Koneffke 2001, 120) kritisiert wurde.
Ausblick Die Forschung hat Bachmanns literarisches Italienbild ausführlich rekonstruiert und diskutiert. Neben den bereits zitierten Arbeiten von Fabrizio Cambi, Hans Höller, Ariane Huml, Camilla Miglio und Luigi Reitani haben dazu auch Barbara Agnese und Rita Svandrlik wesentliche Beiträge geleistet. Dagegen stehen die biographischen Untersuchungen noch am Anfang, denn die älteren Studien von Andreas Hapkemeyer (1990) und Hans Höller (1999) sind mit ihrem Blick auf Italien kaum ergänzt worden. Für Bachmanns lange Jahre in Rom fehlt etwa eine so akribische Arbeit wie Joseph McVeighs (2016) Studie zu ihren Wiener Jahren. Neue Einsichten sind vor allem aus den Briefwechseln zu erwarten, die im Rahmen der
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Salzburger Ausgabe erschienen oder geplant sind. Das gilt zunächst für den von Hubert Lengauer herausgegebenen Briefwechsel der Autorin mit Enzensberger, sodann für jene mit italienischen Partnern, darunter Giangiacomo Feltrinelli und Roberto Calasso, die 2021 erscheinen sollen (Larcati 2016b), sowie für die Lebenschronik, die im Literaturarchiv Salzburg entsteht. Eine aktuelle Zwischenbilanz zur italienischen Bachmann-Rezeption bietet der Sammelband Ingeborg Bachmann in Italien: Re-Inszenierungen (Larcati/Schiffermüller 2014). Ein zentrales Desiderat der Forschung bleibt indes die Untersuchung der Rolle, die Bachmann als Kulturvermittlerin zwischen Italien und Deutschland gespielt hat. Vorarbeiten in dieser Richtung bieten der Kommentar zu Bachmanns Kritischen Schriften (KS, 493–785) sowie Barbara Agnese (2010) mit ihrer Rekonstruktion von Bachmanns Zusammenarbeit mit der Prinzessin Marguerite Caetani an der Zeitschrift Botteghe Oscure. Für ein Gesamtbild der Bedeutung von Bachmann für den Kulturtransfer zwischen Italien und Deutschland sind wiederum die noch unveröffentlichten Briefwechsel mit italienischen Partnern (Larcati 2016b) sowie jene mit Klaus Piper und Peter Unseld von Bedeutung. Quellen
Aichinger, Ilse: Rede unter dem Galgen. Wien 1952. Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München 2000. Bachmann, Ingeborg: Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Mit einem Nachwort von Hans Höller. Salzburg 2004. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., Bd. 13. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. München 81982. Pasolini, Pier Paolo: Bestemmia. Tutte le poesie. Hg. von Graziella Chiarcossi und Walter Siti, Vorwort von Giovanni Giudici. 2 Bde. Mailand 1996.
Literatur
Agnese, Barbara: »Qual nuova salmandra al mondo«. Zu einigen Motiven aus der italienischen Literatur in Ingeborg Bachmanns Werk. In: Robert Pichl/Barbara Agnese (Hg.): Ingeborg Bachmann (= Themenheft der Zeitschrift Cultura Tedesca, 25). Rom 2004, 29–46. Agnese, Barbara: Un seul pays ne suffit pas – La collabora-
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tion d’Ingeborg Bachmann à deux revues internationales. In: Po&sie 130 (2010), 82–105. Cambi, Fabrizio: Ingeborg Bachmann. Nord e Sud. Specularità del soggetto nell’alterità italiana. In: Michele Battafarano (Hg.): L ’Italia nella poesia tedesca contemporanea. Taranto 1997, 201–221. Fußl, Irene/Larcati, Arturo: Das Rom der Ingeborg Bachmann. Berlin 2015. Hapkemeyer, Andreas: Ingeborg Bachmann. Entwicklungen in Werk und Leben. Wien 1990. Höller, Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek bei Hamburg 1999. Höller, Hans: Ingeborg Bachmanns Rom-Poetik. In: Flavia Arzeni (Hg.): Il viaggio a Roma. Da Freud a Pina Bausch. Atti del convegno tenuto a Roma nel 2000. Rom 2001, 83–91. Höller, Hans: »Maria mußte nach Rom ziehen, um diese Gedichte schreiben zu können«. Bachmanns Re-Inszenierung ihrer Poetik auf klassischem Boden. In: Arturo Larcati/Isolde Schiffermüller (Hg.): Ingeborg Bachmann in Italien. Re-Inszenierungen (= Themenheft der Zeitschrift Cultura Tedesca 45). Rom 2014, 17–36. Huml, Ariane: Silber im Oleander, Wort im Akaziengrün. Zum literarischen Italienbild von Ingeborg Bachmann. Göttingen 1999. Koneffke, Jan: »Daß uns die Augen zum Sehen gegeben sind.« Anmerkungen zu Ingeborg Bachmann in Rom. In: Reinhard Baumgart/Thomas Tebbe (Hg.): Einsam sind alle Brücken. Autoren schreiben über Ingeborg Bachmann. München/Zürich 2001, 111–123. Larcati, Arturo/Schiffermüller, Isolde (Hg.): Ingeborg Bachmann in Italien. Re-Inszenierungen (= Sonderheft von Zeitschrift Cultura tedesca/Deutsche Kultur (Rom), 45, April 2014). Larcati, Arturo: Pier Paolo Pasolini e Ingeborg Bachmann. Due intellettuali irriverenti a confronto. In: Angela Felice/ Arturo Larcati/Antonio Tricomi (Hg.): Pasolini oggi. Fortuna internazionale e ricezione critica. Venedig 2016a, 79–89. Larcati, Arturo: Ingeborg Bachmanns italienische Korrespondenz. Vorbemerkungen zu einem Editionsprojekt. In: Fabrizio Cambi/Arturo Larcati/Giuliano Lozzi/Isolde Schiffermüller (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Perspektiven der Forschung. Rom 2016b, 33–57. McVeigh, Joseph: Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953. Berlin 2016. Miglio, Camilla: La terra del morso. L ’Italia ctonia di Ingeborg Bachmann. Macerata 2012. Reitani, Luigi: »Zu spät erreichten wir der Gärten Garten.« Ingeborg Bachmanns ›Italien-Gedichte‹. In: Fabrizio Cambi/Arturo Larcati/Giuliano Lozzi/Isolde Schiffermüller (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Perspektiven der Forschung. Rom 2016, 107–119. Svandrlik, Rita: »Die Fremde als Bestimmung.« Ingeborg Bachmann und Elsa Morante. In: Dirk Göttsche/Hubert Ohl (Hg.): Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk. Würzburg 1993, 365–379.
Arturo Larcati
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
48 Mehrsprachigkeit Das Thema ›Mehrsprachigkeit‹ sowie der Einsatz multilingualer Schreibverfahren sind in Ingeborg Bachmanns Werk zuvorderst mit der Titelerzählung ihres späten Prosabandes Simultan (1972) verbunden, wo Mehrsprachigkeit geradezu »exzessiv praktiziert und thematisiert« (Helmich 2016, 434) wird. Diese mit der Technik textinterner Sprachmischung (zur Begrifflichkeit vgl. Dembeck/Parr 2017, 123–232) arbeitende Erzählung, welche die polyglotten Äußerungen und Gedanken der Hauptfigur, einer Simultanübersetzerin, wiedergibt, gehört zu den am intensivsten behandelten mehrsprachigen Texten der deutschen Literatur (Helmich 2016, 435). Nicht zuletzt aufgrund dieses Beispiels »extreme[r] Mehrsprachigkeit« (Radaelli 2011, 159) wurde Bachmann in der rezenten Mehrsprachigkeitsforschung eingehend gewürdigt. Allerdings stellt die Erzählung Simultan im Kontext des Gesamtwerks eine Ausnahme dar, insofern als diese extreme Form von konkreter Mehrsprachigkeit sonst in keinem anderen Texten Bachmanns anzutreffen ist. Meist handelt es sich um relativ verstreute und isolierte heterolinguale Elemente (zum Begriff vgl. Grutman 1997), die verstärkt in den späten Erzähltexten auftauchen. Latente Mehrsprachigkeit (zur Unterscheidung manifest/latent vgl. Radaelli 2011, 61–63), z. B. in Form der Präsenz von (implizit) anderssprachigen Charakteren bzw. rein deskriptiv thematisierter Mehrsprachigkeit in erzählenden Texten, ist ebenfalls anzutreffen (hier ist u. a. an Malina zu denken), stellt jedoch einen Grenzfall von literarischer Mehrsprachigkeit dar (vgl. Helmich 2016, 17). Daher erscheint es fraglich, ob Bachmanns Werk tatsächlich »zum Kanon der modernen translingualen Literatur« (Brinker-Gabler 2004b, 97) gerechnet werden darf. Angesichts dieses Textbefunds muss Mehrsprachigkeit bei Bachmann über manifeste multilinguale Schreibverfahren hinaus vor allem als thematisches Motiv, interkultureller Imaginationsraum und sprachtheoretische Denkfigur gewürdigt werden. In einer solchen erweiterten Perspektive lassen sich die Thematisierung von Fremdsprachen, das Motiv der Mehrsprachigkeit und die dahinterliegende Problematik ›Muttersprache – Fremdsprachen – Identität‹ durchaus als Konstanten in Bachmanns Leben und Schaffen auffassen. Die insgesamt als vorwiegend latent oder metalingual zu bezeichnende Präsenz anderer Sprachen in ihrem Werk steht damit im Kontrast zur eminenten Bedeutung von sprachlicher Grenzüberschreitung als literarisches Motiv und Lebensthema. Bach-
manns sprachphilosophisch-literarische Position ist insgesamt durch den Zwiespalt zwischen der Möglichkeit einer Welt- und Ich-Erweiterung qua sprachlicher Pluralität auf der einen Seite und dem Risiko einer identitätsgefährdenden Dissoziation von Sprache, Ich und Welt durch die Aufgabe des heimatlich-muttersprachlichen Idioms auf der anderen Seite geprägt.
Historisch-biographische Prägungen Mehrsprachigkeit leitet sich bei Bachmann zuallererst von den kulturellen und familiären Ursprüngen der Autorin her. In einer biographischen Selbstdarstellung bezeichnet Bachmann 1952 ihre eigene Herkunft als »eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden« (KS, 6; W 4, 302). Dieses frühe Selbstporträt der Dichterin beinhaltet eine aufschlussreiche Relativierung der nationalen Sprachgrenzen, die – zumindest im Medium des Textes – scheinbar mühelos überschritten werden. Mit dieser mehrsprachigen »Welt« ist nicht nur ihre Kärntner Herkunft gemeint, d. h. das österreichisch-slowenisch-italienische Dreiländereck, dem sie entstammt und das sie z. B. in der Erzählung Drei Wege zum See thematisiert. Über die sprachpolitischen Realitäten der 1920–1940er Jahre hinaus wird hier das gesamte Erbe des alten österreichischen Vielvölker- und Vielsprachenstaates aufgerufen (vgl. Egger 1996). Das polyglott-multikulturelle Erbe des Habsburger Reichs gehört zum Selbstbild der Autorin, wie es auch Gedichte wie Exil (W 1, 153), Prag Jänner 64 (W 1, 169), Böhmen liegt am Meer (W 1, 167 f.), die Erzählung Drei Wege zum See oder bestimmte Passagen aus Malina (TKA 3.1, 397) belegen, wo sich Bachmann immer wieder als multikulturell-polyglottes Ich inszeniert. Diese mythische Verklärung (Bannasch 1997, 135) der sprachpolitischen Realitäten ›Kakaniens‹ als gewaltfreies Miteinander der Völker bildet den biographischen Sockel für Bachmanns mehrsprachige Imagination und Sensibilität, die durch ihr gesamtes Werk hindurch verfolgt werden kann (vgl. Brinker-Gabler 2004b). Durch die später erlernten Schul- bzw. Bildungssprachen Englisch und Französisch erweitert sich dieser heimatliche Horizont, der schließlich durch Bachmanns nomadische Lebensweise im Erwachsenenalter endgültig aufbrechen sollte. Doch werden bezeichnenderweise gerade die Sprachen Mitteleuropas bis ins Spätwerk hinein eine zentrale Rolle spielen. Scheinen Bachmanns sprachliche Kompetenzen im Slowenischen begrenzt gewesen zu sein, so wurde diese ursprünglich imaginierte Mehrsprachigkeit zu-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05667_48
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mindest auf der italienischen Seite in eine konkrete kommunikative Praxis umgewandelt. Mit Bachmanns Übersiedelung nach Italien wurde diese Sprache von den 1950er Jahren an zur Alltags- und Zweitsprache der Autorin. Dabei sind die Spuren des Italienischen in Bachmanns veröffentlichten Texten – abgesehen von Simultan – eher selten und meist auf musikalische Vortragsbezeichnungen begrenzt. Als weiteres literarisches Hauptzeugnis ihres intimen Umgangs mit der italienischen Sprache sind daher die Ungaretti-Übersetzungen anzusehen (s. Kap. 21). Nichtsdestoweniger bildet der jahrelange Sprach- und Ortswechsel zwischen dem Deutschen und dem Italienischen neben der (retrospektiven) Selbstverortung in der polyglotten Habsburger Tradition einen wichtigen lebensweltlichen Hintergrund nicht nur für die Genese der mehrsprachigen Simultan-Erzählung, sondern auch zum allgemeinen Verständnis von Bachmanns Sprachdenken bzw. ihrem Denken der Sprachdifferenz.
Sprachkritik, Mehrsprachigkeit und Über setzbarkeit ›Sprachskepsis‹ und ›Sprachkritik‹ gehören zu den prominenten Themen der Bachmann-Forschung, wobei die Grenzen der (literarischen) Sprache allgemein sowie das problematische Verhältnis der Autorin zur deutschen Muttersprache im Mittelpunkt stehen (s. Kap. 33). Dieser traditionell monolingual geprägte Rahmen philosophischer Sprachreflexion kann auf das Problemfeld ›Mehrsprachigkeit und Identität‹ hin erweitern werden. Die Frage nach dem Verhältnis zur Sprache an sich (Sprache im Singular) wird somit zur Frage der Auswirkungen der Sprachenvielfalt und Sprachdifferenz auf das Subjekt. In dieser erweiterten sprachtheoretischen Perspektive könnte in Bachmanns Werk eine Entwicklungslinie ausgemacht werden, die vom Leiden an den Grenzen der eigenen (Mutter-)Sprache zur Erkundung mehrsprachiger Potentiale im Schreiben führt (vgl. Bannasch 1997, 210– 214). In diesem Sinne kann Simultan als eine mehrsprachige Neuformulierung der ihr ganzes Werk durchziehenden Polarität von Sprachskepsis und Sprachhoffnung gewertet werden. Einen ersten bedeutenden Schritt Bachmanns in Richtung einer Aufwertung von Sprachdifferenz in der Literatur kann in ihrem Versuch gesehen werden, den österreichischen Dialekt vom Deutschen als ›Tätersprache‹ abzusetzen (Bannasch 1997, 130–137). Dieses Starkmachen der österreichischen Diglossie
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dient nicht nur dem symbolischen Ausbruch aus dem schicksalhaften Hineingeborensein in das Deutsche, sondern eröffnet auch einen mehrsprachigen Imaginationsraum, wie diese Zeilen aus dem Gedicht Exil (1964) zeigen: »Ich mit der deutschen Sprache / dieser Wolke um mich / die ich halte als Haus / treibe durch alle Sprachen« (W 1, 153). Sprachliche Mobilität und Sprachwechsel erscheinen mithin als möglicher Ausweg aus dem für die Nachkriegsliteratur charakteristischen Dilemma Muttersprache/Mördersprache. Als Ausbruchsversuch aus der fatalen Gegenüberstellung von Ich und Muttersprache eröffnet die Mehrsprachigkeit neue symbolische Freiheitsräume, auch wenn diese nicht zwangsläufig aus der existentiellen Sprachlosigkeit des Menschen hinausführen. Vor dem Hintergrund dieser Fruchtbarmachung sprachlicher Diversität wird auch verständlich, warum Bachmann in einem Klappentext-Entwurf zum Simultan-Band (TKA 4, 17) das Recht auf Übersetzung gleichsam als neues Menschenrecht einfordert. Wenn so das Übersetzen als »erste Pflicht« (ebd.) des Menschen definiert wird, impliziert dies, dass Sprachdifferenzen nicht mehr nur als Sprachgrenzen wahrgenommen werden, sondern als Eröffnung eines translingualen Kommunikationsraum, der dem Ich neue Möglichkeiten bereitstellt. Dies ist aber nicht im Sinne eines Plädoyers für eine neue babylonische Zerstreuung zu verstehen. Bachmanns mehrsprachige Imagination geht paradoxerweise einher mit der Utopie einer neuen gemeinsamen Sprache, wie u. a. ihr als Tagebuch (KS, 378–398; W 4, 63–77) betitelter Beitrag zu der Probenummer der mehrsprachigen Literaturzeitschrift Gulliver zeigt. Die plurale Sprachkonzeption, die die Autorin dort 1962 entwirft, soll einerseits die monolingualen Beschränkungen der Nationen überwinden, andererseits aber auch die individuellen Idiome vor sprachlicher Nivellierung und Auflösung schützen (Egger 1996, 705). In dieser an Wilhelm von Humboldts Sprachdenken erinnernden Konzeption erscheinen die Sprachen der Welt als etwas Gemeinsames und Trennendes zugleich. Das im Text zitierte Gegenbeispiel einer solchen gemeinsamen Sprache ist das Esperanto als eine floskelhafte Einheitssprache ohne individuellen Weltbezug (KS, 383; W IV 65).
Manifeste Mehrsprachigkeit in Simultan Den eigentlichen Ort manifester literarischer Mehrsprachigkeit in Bachmanns Werk stellt die späte Erzählung Simultan dar, wo nicht weniger als fünf
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Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch) in Form direkter bzw. erlebter Figurenrede in den Text eingeflossen sind. Die realistische Rahmung dieses narrativen Verfahrens bildet der Umstand, dass Nadja, die Protagonistin der Erzählung, Simultanübersetzerin von Beruf ist. Anhand von Nadjas Liebesbeziehung zu einem Mann namens Frankel, der wie sie selbst gebürtiger Wiener ist, berichtet die Erzählung von ihrem problematischen Verhältnis zur deutschen Muttersprache und dem Einfluss gelebter Mehrsprachigkeit auf ihre Identität. Innerhalb des diegetischen Rahmens lässt sich der Wechsel von einer Sprache zu einer anderen meist nur schwer nachvollziehen, was zu dem Eindruck eines ›Treibens‹ durch die Sprachen führt (s. Exil; W 1, 153). Die anderssprachigen Sätze und Äußerungen stehen unvermittelt und unübersetzt neben der deutschen Erzähl- und Figurenrede. Diese im literarischen Umfeld der Epoche als experimentell zu bezeichnende Prosa, in der durch den intensiven Einsatz von Code-Switching die Zahl der Textstimmen und Wahrnehmungsperspektiven vervielfacht wird, wurde von der Bachmann-Forschung sowie in der Mehrsprachigkeitsforschung eingehend gewürdigt (vgl. auch Eggers 2001; Greber 2002). Dabei hat die dargestellte Übersetzungs- und Mehrsprachigkeitsproblematik unter Heranziehung verschiedener Methoden (Linguistik, Soziologie, Psychoanalyse usw.) zu den unterschiedlichsten Deutungen Anlass gegeben (vgl. Helmich 2016, 435), was nicht zuletzt daran liegt, dass das Ende der Geschichte offen bleibt und die in ihr thematisierten Fragen und Prozesse durchaus paradoxale Züge tragen. Während an der kommunikativen Oberfläche scheinbar beliebig und reibungslos zwischen den verschiedenen Sprachen hin und her geschaltet wird, kommt auf einer anderen Ebene der Erzählung die Überzeugung unhintergehbarer sprachlicher Alterität und radikaler Unübersetzbarkeit zum Ausdruck (vgl. Radaelli 2011, 167). Die polyglotte Existenz Nadjas kann einerseits als befreiende Erfahrung betrachtet werden, insofern sie eine Distanznahme zur als belastend empfundenen (deutschen) Muttersprache ermöglicht. So wird auch Einsprachigkeit an sich durch das Sprachrohr der Protagonistin hindurch als negativ dargestellt (»un cassepieds monolingue, emmerdant«; TKA 4, 104; W 2, 287). Andererseits bringt Nadjas ›simultanes‹ Leben zwischen den Sprachen die Gefahr von Fragmentierung und Desintegration mit sich. In diesem Sinne kann Mehrsprachigkeit in (erneute) Sprachlosigkeit umschlagen, was in der Erzählung als existentielle Be-
drohung erscheint. Ein weiterer grundsätzlicher Zwiespalt der Erzählung besteht in dem Umstand, dass die Protagonistin durch das selbstauferlegte sprachliche Exil und den permanenten Sprachwechsel zwar ihre eigene Muttersprache auf Distanz hält. Gleichzeitig hegt Nadja in Form einer »präbabylonischen Phantasie« (vgl. Busch/Busch 2010, 99–102) aber den Traum von der Rückkehr in die Sprachheimat als Garant eines fixen psychischen Fundaments. Dieser durch die Begegnung mit Frankel ausgelöste regressive Wunsch scheitert letztlich an der Einsicht in die grundsätzliche Unmöglichkeit einer gemeinsamen oder einheitlichen Sprache. Insgesamt greift die Erzählung alle zentralen Punkte von Bachmanns Mehrsprachigkeitsdiskurs wieder auf, wobei sich ein sprachreflexiver Bogen ergibt, der vom Habsburger Mythos zum Zeitalter postmoderner Globalisierung führt.
Manifeste Mehrsprachigkeit im übrigen Werk Manifeste Mehrsprachigkeit tritt auch in einigen anderen Bachmann-Texten auf, insbesondere in der Prosa. Die zunächst für den Roman Malina geplante Erzählung Besichtigung einer alten Stadt (1971), wo die englische Figurenrede des Fremdenführers in Form zahlreicher originalsprachlicher Versatzstücke präsent ist, steht Simultan am nächsten. Doch wurde dieser Text von der Mehrsprachigkeitsforschung bisher kaum beachtet. Das gilt auch für den Roman Malina (1971) selbst, in dem eine Reihe heterolingualer Elemente auf Englisch, Ungarisch, Französisch und Italienisch auszumachen sind. In andere Prosatexte fließt vereinzelt das Englische (Das Buch Franza und Drei Wege zum See), das Französische (Das Honditschkreuz) oder das Slowenische (Das Buch Franza) in die Figurenrede ein. Die meisten dieser verstreuten heterolingualen Elemente harren noch einer genauen Erfassung und Bewertung durch die Forschung. In Bachmanns Lyrik besitzen anderssprachige Elemente Seltenheitswert. Hier unterscheidet sich die Autorin stark von anderen österreichischen Lyrikern ihrer Generation wie z. B. Paul Celan und Ernst Jandl, in deren sprachexperimentell orientiertem Schreiben sprachliche Diversität eine weit größere Rolle spielt. Als Beispiel für heterolinguale Elemente in Bachmanns Lyrik kann das Gedicht Die Brücken (1953; W 1, 50) genannt werden, wo einige unübersetzte Ortsbezeichnungen auftauchen, sowie das als Motto verwendete (unübersetzte) Petrarca-Zitat in dem Ge-
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dicht Lieder auf der Flucht (1955; W 1, 138). An der Grenze zur Mehrsprachigkeit situieren sich vereinzelt in den Gedichten auftretende Austriazismen, spezielle Fachausdrücke sowie seltenere topographische Bezeichnungen. Unter den Libretti wäre Der junge Lord (1965) zu erwähnen, in dessen Text sich eine Reihe englischer, französischer sowie italienischer Ausdrücke und Äußerungen finden lassen, was sich sprachrealistisch über die internationale Herkunft der auftretenden Personen und die der Gattung Oper inhärente Transkulturalität erklären lässt. Insgesamt stellt sich bei all diesen Beispielen gattungsübergreifend die Frage, inwiefern die Mehrsprachigkeit im Spätwerk zunimmt und welche Gründe hierfür anzuführen wären. Eine Sonderstellung nehmen Bachmanns Briefe ein, wo Mehrsprachigkeit z. T. ebenso intensiv praktiziert wird wie in der Simultan-Erzählung, jedoch in einem als privat zu bezeichnenden Rahmen. Beim derzeitigen Stand der Briefeditionen gilt dies vor allem für die Briefwechsel mit Hans Werner Henze (Bachmann/Henze 2004) und Hans-Magnus Enzensberger (Bachmann/Enzensberger 2018), wo Sprachmischung und Sprachwechsel (zwischen dem Deutschen, Italienisch, Englisch, Französisch sowie dialektalen Varietäten) eine wichtige Rolle spielen. Aber auch andere z. T. noch in der Edition befindliche Briefwechsel enthalten signifikante Anteile an Anderssprachigkeit.
Fazit Auch wenn Bachmann nicht als multilinguale Autorin sui generis bezeichnet werden kann, spielt Mehrsprachigkeit in ihrem Leben und Schreiben eine fundamentale Rolle. Hervorzuheben ist neben der durch Herkunft und nomadisch-weltbürgerlichen Lebenswandel bedingten lebensweltlichen Bedeutung von Mehrsprachigkeit und der Erzählung Simultan vor allem die poetologische Funktion von Sprachdifferenzen. Über die Frage des Verhältnisses von Mutter- bzw. Einheitssprache und Sprachenvielfalt werden bei Bachmann durchgängig zentrale Probleme wie das Thema der Identität aufgerufen. Bachmann bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen der Möglichkeit multipler Identität durch multiple Sprachen und der Einsicht in die prinzipielle Unübersetzbarkeit authentischer Sprache (vgl. Göttsche 1987, 212; Radaelli 2011, 282). In Bachmanns Werk ist eine grundlegende Disposition zur Mehrsprachigkeit festzustellen, selbst dort, wo sich die Dichterin in dominant einsprachigen
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Kontexten bewegt (Egger 1996, 701). Die Schriftstellerin kann daher als Repräsentantin einer »polyglotten Denkweise« (George Steiner, zit. nach Brinker-Gabler 2004a, 102) in der österreichischen Nachkriegsliteratur bezeichnet werden, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen zum Ausdruck kommt und sich nicht auf manifeste Mehrsprachigkeit beschränken lässt. Insofern könnte Bachmann durchaus als postmonolinguale (vgl. Yildiz 2012) Autorin bezeichnet werden, denn die Dichterin legt nicht nur ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer (deutschen) Muttersprache an den Tag, sondern stellt in ihren Reflexionen Einsprachigkeit als Norm auch grundsätzlich in Frage. Die insgesamt eher schwach zu nennende Präsenz heterolingualer Elemente in den Texten (das gilt vor allem für die Lyrik) kann nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass Bachmann nicht zur dezidiert sprachexperimentell-sprachspielerischen Literatur ihrer Zeit gehört, wo eine direkte Entwicklungslinie von der Sprachskepsis zu mehrsprachigen Schreibverfahren führt. Mit Ausnahme bestimmter Briefkorpora wird bei Bachmann die sprachskeptische Grundhaltung nie auf eine mehrsprachige Eloquenz oder ludische Polyphonie hin überschritten. Insofern scheint sich Bachmanns existentielle Zerrissenheit der (deutschen) Sprache gegenüber im Prisma der Mehrsprachigkeit zu bestätigen. Quellen
Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl). München/Berlin/Zürich 2018. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004.
Literatur
Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach »Malina«. Ingeborg Bachmanns »Simultan«-Erzählungen. Würzburg 1997. Brinker-Gabler, Gisela: Living and Lost in Language. Translation and Interpretation in Ingeborg Bachmann’s Simultan. In: Gisela Brinker-Gabler/Markus Zisselberger (Hg.): »If we Had the Word«. Ingeborg Bachmann. Views and Reviews. Riverside CA 2004a, 187–207. Brinker-Gabler, Gisela: Poet und Polyglott. Translinguale Perspektiven im Werk Ingeborg Bachmanns. In: Robert Pichl/Barbara Agnese (Hg.): Ingeborg Bachmann (= Themenheft der Zeitschrift Cultura Tedesca, 25). Rom 2004b, 95–103. Busch, Brigitta/Busch, Thomas: Die Sprache davor. Zur Imagination eines Sprechens jenseits gesellschaftlich-nationa-
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III Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk – D Kulturwissenschaftliche Perspektiven
ler Zuordnung. In: Michaela Bürger-Koftis/Hannes Schwaiger/Sandra Vlasta (Hg.): Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010, 81–103. Dembeck, Till/Parr, Rolf (Hg.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen 2017. Egger, Irmgard: Mehrsprachigkeit. Zu einem Motiv der österreichischen Literatur am Beispiel von Ingeborg Bachmann. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), 692–706. Eggers, Michael: Simultan übersetzen. Geschlechter. Sprachdifferenzen und die Erzählstimme in Texten von Bachmann und Musil. In: Weimarer Beiträge 47 (2001), 576– 593. Greber, Erika: Fremdkörper Fremdsprache. Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan. In: Matthias Mayer (Hg.):
Werke von Ingeborg Bachmann. Interpretationen. Stuttgart 2002, 176–195. Göttsche, Dirk: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M. 1987. Grutman, Rainier: Des langues qui résonnent. L ’ hétérolinguisme au XIXe siècle Québécois. Montreal 1997. Helmich, Werner: Ästhetik der Mehrsprachigkeit. Zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur. Heidelberg 2016. Radaelli, Giulia: Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Berlin 2011. Yildiz, Yasemin: Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. New York 2012.
Dirk Weissmann
Anhang
Literatur und Siglen 1 Siglenverzeichnis (mit Siglen zitierte Ausgaben) W Bachmann, Ingeborg: Werke. 4 Bände. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München/Zürich 1978. GuI Bachmann, Ingeborg: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München/Zürich 1983. TKA Bachmann, Ingeborg: Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe. 4 Bände in 5 Bänden. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München/Zürich: Piper 1995. KS Bachmann, Ingeborg: Kritische Schriften. 4 Bände in 5 Bänden. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München/Zürich 2005. N Sigle für Nachlassblätter im Nachlass Ingeborg Bachmanns in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. 2 Andere Ausgaben Bachmann, Ingeborg: [Anonym] Die heiligen Stätten Palästinas [Nach ›The Listener‹. Übersetzt von Ingeborg Bachmann]. In: Der Turm 3 (1948), H. 1, 31 f. Bachmann, Ingeborg: Das schöne Spiel. In: Wiener Tageszeitung, 1.4.1949, 5. Bachmann, Ingeborg: Das Ufer. In: Wiener Tageszeitung, 3.7.1949, 5. Bachmann, Ingeborg: Die Versuchung. In: Wiener Tageszeitung, 7.8.1949, 6. Bachmann, Ingeborg: Versuch über Heidegger. René Marcic: Martin Heidegger und die Existentialphilosohie [Rezension]. In: Der Standpunkt (Bozen), 16.9.1949. Bachmann, Ingeborg: Die Mannequins des Ibykus. In: Wiener Tageszeitung, 16.10.1949, 7. Bachmann, Ingeborg: Karawane im Jenseits. In: Wiener Tageszeitung, 25.12.1949, 11. Bachmann, Ingeborg: Auch ich habe in Arkadien gelebt. In: Morgen. Monatsschrift freier Akademiker 7/4 (1952). Bachmann, Ingeborg: Laurenz träumt von der Liebe. In: Stimmen der Gegenwart, Bd. 3. Hg. von Hans Weigel. Wien 1953, 41–48. Bachmann, Ingeborg: Utopie contra Ideologie. Unveröffentlichtes, vollständiges Manuskript des Radios-Essays zu Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Sendetermin 27. April 1954, Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, LIT 423/14. Bachmann, Ingeborg: Ein Ort für Zufälle. Mit Zeichnungen von Günter Grass. Berlin 1965.
Bachmann, Ingeborg: In memoriam Karl Amadeus Hartmann [1965]. In: Epitaph. Karl Amadeus Hartmann. München 1966 [Ausstellungskatalog]. Bachmann, Ingeborg: Zugegeben, hier habe ich erlernt, mit den anderen auszukommen. In: Das literarische Profil von Rom. Hg. von Gerald Bisinger und Walter Höllerer. Berlin 1970, 76–77. Bachmann, Ingeborg: Die Hörspiele. München 1976. Bachmann, Ingeborg: An Kärnten. In: Die Brücke 7 (Klagenfurt 1981), Heft 2, 50. Bachmann, Ingeborg: Glaube. In: Andreas Hapkemeyer: Ingeborg Bachmann. Bilder aus ihrem Leben. Mit Texten aus ihrem Werk. München/Zürich 1983, 22. Bachmann, Ingeborg: Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation Wien 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich Wallner. München/Zürich 1985. Bachmann, Ingeborg: Ängste; Offenbarung. In: Susanne Bothner: Ingeborg Bachmann: Der janusköpfige Tod. Versuch der literaturpsychologischen Deutung eines Grenzgebietes der Lyrik unter Einbeziehung des Nachlasses. Frankfurt a. M./Bern 1986, 113 f.; 116 f. Bachmann, Ingeborg: Vor einem Instrument; Befreiung; Im Krieg; In Feindesland. In: Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a. M. 1987, 140 und 323 (Endnote 100); 171; 172; 184 f. Bachmann, Ingeborg: Briefe an Felician. Mit acht Kupferaquatinta-Radierungen von Peter Bischof. München/ Zürich 1991. Bachmann, Ingeborg: Vor einem Instrument [1945/46]. In: du. Die Zeitschrift der Kultur 1994 (Ingeborg Bachmann. Das Lächeln der Sphinx. Redaktion: Dieter Bachmann), H. 9, 22. Bachmann, Ingeborg: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hg. von Jörg-Dieter Kogel. München/Zürich 1998. Bachmann, Ingeborg: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt a. M. 1998. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Franza. Das »Todesarten«Projekt in Einzelausgaben. München 1998 (22004, 3–42016 in einer Ausgabe mit Requiem für Fanny Goldmann und andere späte »Todesarten«-Texte). Bachmann, Ingeborg: Ingeborg Bachmann: Requiem für Fanny Goldmann und andere späte »Todesarten«-Texte. Das »Todesarten«-Projekt in Einzelausgaben. München
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Anhang
1999 (22004, 3–42016 in einer Ausgabe mit Das Buch Franza). Bachmann, Ingeborg: Ich weiß keine bessere Welt. Un veröffentlichte Gedichte. Hg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München/Zürich 2000. Bachmann, Ingeborg: Die ital. Kommunisten. In: Hans Höller: Ingeborg Bachmann: »Die ital. Kommunisten«. Ein Kommentar anlässlich der Erstveröffentlichung des Gedichts. In: kolik. Zeitschrift für Literatur 18 (2002), 3. Bachmann, Ingeborg: [Brief an Walter Höllerer]. In: Patricia Preuß: Ingeborg Bachmann. Zu ihren Essays, Gedichten und Briefen an den »Akzente«-Herausgeber Walter Höllerer (Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Briefe und Texte 2: Ingeborg Bachmann). Sulzbach-Rosenberg 2002, 47. Bachmann, Ingeborg: Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Mit einem Nachwort von Hans Höller. Salzburg 2004. Bachmann, Ingeborg: Malina. Text und Kommentar. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche (= Suhrkamp BasisBibliothek). Frankfurt a. M. 2004. Bachmann, Ingeborg: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Frankfurt a. M. 2010. Bachmann, Ingeborg: Die Radiofamilie. Hg. und mit einem Nachwort von Joseph McVeigh. Berlin 2011. Bachmann, Ingeborg: »Male Oscuro.« Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl, unter Mitarbeit von Silvia Bengesser und Martin Huber). München/Berlin/Zürich 2017. Bachmann, Ingeborg: Das Buch Goldmann. Hg. von Marie Luise Wandruszka (= Ingeborg Bachmann: Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl, unter Mitarbeit von Silvia Bengesser und Martin Huber). München/Berlin/Zürich 2017. Bachmann, Ingeborg/Celan, Paul: Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2008. Bachmann, Ingeborg/Enzensberger, Hans Magnus: »schreib alles was wahr ist auf«. Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger. Der Briefwechsel. Hg. von Hubert Lengauer (= Ingeborg Bachmann. Werke und Briefe. Salzburger Bachmann Edition. Hg. von Hans Höller und Irene Fußl. Unter Mitarbeit von Silvia Bengesser). München/ Berlin/Zürich 2018. Bachmann, Ingeborg/Henze, Hans Werner: Briefe einer Freundschaft. Hg. von Hans Höller. München/Zürich 2004. 3 Bibliographien und andere Hilfsmittel Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk: Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Neue Teilregistratur des literarischen Nachlasses in der Österreichischen Nationalbibliothek. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht
und Dirk Göttsche. Mit einem Anhang: Konkordanz zu der von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum erarbeiteten »Registratur des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann«. Wien 1995. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk: Ausdruck der Datenbank des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann in der Österreichischen Nationalbibliothek. Unter Leitung von Robert Pichl hg. und erarbeitet von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Wien 1995 (Manuskript zur Auslage in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek). Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): Ingeborg Bachmann – »Todesarten«-Projekt. Transkription der nachgelassenen Überlieferungsträger. Münster 1998 (Manuskript zur Auslage in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek). Bareiss, Otto/Ohloff, Frauke: Ingeborg Bachmann. Eine Bibliographie. Mit einem Geleitwort von Heinrich Böll. München/Zürich 1978. Bareiss, Otto: Ingeborg Bachmann-Bibliographie 1977/78– 1981/82. Nachträge und Ergänzungen. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge 15 (1983), 173–217. Bareiss, Otto: Ingeborg Bachmann-Bibliographie 1981/82 – Sommer 1985. Nachträge und Ergänzungen, Teil II. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge 16 (1984/86), 201–275. Bareiss, Otto: Ingeborg Bachmann-Bibliographie Sommer 1985 – Ende 1988. [Nachträge und Ergänzungen,] Teil III. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge 17 (1987–90), 251–327. Bareiss, Otto: Ingeborg Bachmann-Bibliographie. Ende 1988 bis Anfang 1993 (Nachtrag IV). In: Robert Pichl/ Alexander Stillmark (Hg.): Kritische Wege der Landnahme. Ingeborg Bachmann im Blickfeld der neunziger Jahre. Londoner Symposium 1993 zum 20. Todestag der Dichterin (17.10.1973). Wien 1994, 163–303. Jakubowicz-Pisarek, Marta: Stand der Forschung zum Werk von Ingeborg Bachmann. Frankfurt a. M./Bern 1984. Koschel, Christine/von Weidenbaum, Inge von: Registratur des literarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann. Hg. von Robert Pichl. Aus den Quellen erarbeitet von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. Wien (Masch.) 1981. Schmidt, Ellen Marga: Ingeborg Bachmann in Ton- und Bildaufzeichnungen. Eine Dokumentation. In: Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 4. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München/ Zürich 1978, 427–528. Stock, Karl F./Heilinger, Rudolf/Stock, Marylène (Hg.): Bachmann-Bibliographien. Selbständige und versteckte Bibliographien und Nachschlagewerke zu Leben und Werk der Dichterin Ingeborg Bachmann. Graz 2016. 4 Ausgewählte Sekundärliteratur: Sammelbände Agnese, Barbara/Pichl, Robert (Hg.): Topographien einer Künstlerpersönlichkeit. Neue Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns. Internationales Symposium Wien 2006. Würzburg 2009. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu
Literatur und Siglen Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Würzburg 1998. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): »Über die Zeit schreiben« 2. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg 2000. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): Bachmann-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung. Stuttgart 2002. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hg.): »Über die Zeit schreiben« 3. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg 2004. Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Ingeborg Bachmann. Neue Bilder zu ihrer Figur. Innsbruck/Wien/Bozen 2007. Barbe, Jean Paul/Wögerbauer, Werner (Hg.): Ingeborg Bachmann. L ’oeuvre et ses situations. Actes du colloque 29, 30 et 31 Janvier 1986 Nantes. Nantes 1986. Béhar, Pierre (Hg.): Klangfarben: Stimmen zu Ingeborg Bachmann. Internationales Symposium Universität des Saarlandes 7. und 8. November 1996. St. Ingbert 2000. Benay, Jeanne (Hg.): »Und wir werden frei sein, freier als je von jeder Freiheit ...« Die Autorin Ingeborg Bachmann. Wien 2005. Böschenstein, Bernhard/Weigel, Sigrid (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Frankfurt a. M. 1997. Bognár, Zsusza/Bombitz, Attila (Hg.): »Ihr Worte«. Ein Symposium zum Werk von Ingeborg Bachmann aus Anlass ihres 80. Geburtstages. Wien 2008. Brinker-Gabler, Gisela/Zisselsberger, Markus (Hg.): If We Had the Word. Ingeborg Bachmann. Views and Reviews. Riverside CA 2004. Brokoph-Mauch, Gudrun/Daigger, Annette (Hg.): Ingeborg Bachmann. Neue Richtungen in der Forschung? Internationales Kolloquium Saranac Lake, 6.–9. Juni 1991. St. Ingbert 1995. Burdorf, Dieter (Hg.): »Im Geheimnis der Begegnung«. Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Iserlohn 2003. Cambi, Fabrizio/Larcati, Arturo/Lozzi, Giuliano/Schiffermüller, Isolde (Hg.): Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht. Perspektiven der Forschung. Rom 2016. du. Die Zeitschrift der Kultur: Ingeborg Bachmann. Das Lächeln der Sphinx. Redaktion: Dieter Bachmann, September 1994. Göttsche, Dirk/Meyer, Franziska u. a. (Hg.): Schreiben gegen Krieg und Gewalt. Ingeborg Bachmann und die deutschsprachige Literatur 1945–1980. Göttingen 2006. Göttsche, Dirk/Ohl, Hubert (Hg.): Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposium Münster 1991. Würzburg 1993. Heidelberger-Leonard, Irene (Hg.): »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?« Lesarten zur Kritischen Ausgabe von Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Mit einer Dokumentation zur Rezeption in Zeitschriften und Zeitungen. Opladen/Wiesbaden 1998. Hemecker, Wilhelm/Mittermayer, Manfred (Hg.): Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Wien 2011. Höller, Hans (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Wien/München 1982. Höller, Hans/Pöcheim, Helga/Solibakke, Karl Ivan (Hg.):
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Ingeborg Bachmann. Schreiben gegen den Krieg. Eine Ausstellung. Wien 2008. Kogler, Susanne/Dorschel, Andreas (Hg.): Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik. Wien 2006. Koschel, Christine/von Weidenbaum, Inge (Hg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann. München/Zürich 1989. Kucher, Primus-Heinz/Reitani, Luigo (Hg.): »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort ...« Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien/Köln/Weimar 2000. Larcati, Arturo/Schiffermüller, Isolde (Hg.): Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz. Darmstadt 2010. Larcati, Arturo/Schiffermüller, Isolde (Hg.): Ingeborg Bachmann in Italien. Re-Inszenierungen (= Themenheft der Zeitschrift Cultura Tedesca 45). Rom 2014. Leahy, Caitríona/Cronin, Bernadette (Hg.) (2005): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Würzburg 2005. Lichtmann, Tamás/Fanta, Walter (Hg.): Nicht (aus, in, über, von) Österreich. Zur österreichischen Literatur, zu Celan, Bachmann, Bernhard u. a. Frankfurt a. M. 1995. Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e. V. (Hg.): Ingeborg Bachmann. Zu ihren Essays, Gedichten und Briefen an den »Akzente«-Herausgeber Walter Höllerer. Sulzbach-Rosenberg 2002 [Autorin: Patricia Preuss]. Modern Austrian Literature 18, Heft 3/4 (Sonderheft Ingeborg Bachmann). Mayer, Matthias (Hg.): Werke von Ingeborg Bachmann. Interpretationen. Stuttgart 2002. Pattillo-Hess, John/Petrasch, Wilhelm (Hg.): Ingeborg Bachmann. Die Schwarzkunst der Worte. Wien 1993. Pichl, Robert/Stillmark, Alexander (Hg.): Kritische Wege der Landnahme. Ingeborg Bachmann im Blickfeld der neunziger Jahre. Londoner Symposium 1993 zum 20. Todestag der Dichterin (17.10.1973). Wien 1994. Schardt, Michael Matthias: Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Rezeptionsdokumente aus vier Jahrzehnten. In Zusammenarbeit mit Heike Kretschmer hg. von Michael Matthias Schardt. Paderborn 1994. Schardt, Michael M. (Hg.): Über Ingeborg Bachmann. Band 1: Rezensionen 1952–1992; Band 2: Porträts, Aufsätze, Besprechungen 1952–1992. Hamburg 2011. Scholz, Hannelore (Hg.): Undine geht nach Japan. Zu interkulturellen Problemen der Ingeborg Bachmann-Rezeption in Japan. Berlin 2001. Simons, Oliver/Wagner, Elisabeth (Hg.): Bachmanns Medien. Berlin 2008. Šlibar, Neva (Hg.): Ingeborg Bachmann weiter lesen und weiter schreiben. Ljubljana 2010. Solibakke, Karl Ivan/Tippelskirch, Karina (Hg.): »Die Waffen nieder! Lay down your weapons!« Ingeborg Bachmanns Schreiben gegen den Krieg. Würzburg 2012. Sprache und Literatur 48/2 (2019), Themenheft 112: Bachmanns »Ein Wildermuth«. Gastherausgeber Rupert Gaderer und Matthias Thiele. Stoll, Andrea (Hg.): Ingeborg Bachmanns »Malina«. Frankfurt a. M. 1992. Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (11964).
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Anhang
Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (21971). Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (31976). Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (41980). Text + Kritik 6: Ingeborg Bachmann (51995), Neufassung. Text + Kritik-Sonderband: Ingeborg Bachmann (1984), Gastredaktion Sigrid Weigel. Wimmer, Gernot (Hg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Historisch-poetische Korrelationen. Berlin 2014. 5 Ausgewählte Sekundärliteratur: Monographien Achberger, Karen R.: Understanding Ingeborg Bachmann. Columbia SC 1995. Agnese, Barbara: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996. Albrecht, Monika: »Die andere Seite«. Untersuchungen zur Bedeutung von Werk und Person Max Frischs in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«. Würzburg 1989. Amann, Klaus: »Denn ich habe zu schreiben. Und über den Rest hat man zu schweigen.« Ingeborg Bachmann und die literarische Öffentlichkeit. Klagenfurt 1997. Amstutz, Nathalie: Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker. Köln/Weimar/Wien 2004. Baackmann, Susanne: Erklär mir Liebe. Weibliche Schreibweisen von Liebe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hamburg 1995. Bahrawy, Lisa de Serbine: The Voice of History. An Exegesis of Selected Short Stories from Ingeborg Bachmann’s »Das dreissigste Jahr« and »Simultan« from the Perspective of Austrian History. New York 1989. Baldacci, Alessandro: Le vertigini dell’io. Ipotesi su Beckett, Bachmann e Manganelli. Milano 2011. Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach »Malina«. Ingeborg Bachmanns »Simultan«-Erzählungen. Würzburg 1997. Bail, Gabriele: Weibliche Identität. Ingeborg Bachmanns »Malina«. Göttingen 1984. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1988; 21997. Battiston-Zuliani, Régine: Lectures de l’identité narrative. Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, W. G. Sebald. Paris 2009. Beaudry, Jacques: Le cimetière des filles assassinées. Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann, Sarah Kane, Nelly Arcan. Montréal 2015. Bauer, Edith: Drei Mordgeschichten. Intertextuelle Referenzen in Ingeborg Bachmanns »Malina«. Frankfurt a. M./Bern 1998. Beck, Thomas: Bedingungen librettistischen Schreibens. Die Libretti Ingeborg Bachmanns für Hans Werner Henze. Würzburg 1997. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. München 1988. Beicken, Peter: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 2001. Bielefeldt, Christian: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann. Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld 2003. Bird, Stephanie: Women Writers and National Identity. Bachmann, Duden, Özdamar. Cambridge 2003. Boihmane, Sandra: Malina – Versteck der Sprache. Die Chiffre »Malina« in Ingeborg Bachmanns Werk und in Zeugnissen von ZeitzeugInnen. Berlin 2014.
Borhau, Heidi: Ingeborg Bachmanns »Malina« – eine Provokation? Rezeptions- und wirkungsästhetische Untersuchungen. Würzburg 1994. Bossinade, Johanna: Das Beispiel Antigone. Textsemiotische Untersuchungen zur Präsentation der Frauenfigur. Von Sophokles bis Ingeborg Bachmann. Köln 1990. Bossinade, Johanna: Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation. Freiburg 2004. Bothner, Susanne: Ingeborg Bachmann: Der janusköpfige Tod. Versuch der literaturpsychologischen Deutung eines Grenzgebietes der Lyrik unter Einbeziehung des Nachlasses. Frankfurt a. M./Bern 1986. Böttiger, Helmut: Ingeborg Bachmann. Leben in Bildern. Berlin/München 2013. Böttiger, Helmut: Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. München 2017. Brachmann, Jens: Enteignetes Material. Zitathaftigkeit und narrative Umsetzung in Ingeborg Bachmanns »Malina«. Wiesbaden 1999. Broser, Patricia: Ein Tag wird kommen ... Utopiekonzepte im Werk Ingeborg Bachmanns. Wien 2009. Brüns, Elke: Außenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich. Psychosexuelle Autorpositionen bei Marlen Haushofer, Marieluise Fleißer und Ingeborg Bachmann. Stuttgart/Weimar 1998. Burkart, Annette: »Kein Sterbenswort, ihr Worte!« Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath: Acting the Poem. Tübingen 2000. Caduff, Corina: »dadim dadam« – Figuren der Musik in der Literatur Ingeborg Bachmanns. Köln/Weimar/Wien 1998. Chişe, Ruxandra: Alterität als Eigenes. Ingeborg Bachmann und das vorübergehende Bleiben im Gedicht. Bielefeld 2017. Cho-Sobotka, Myung-Hwa: Auf der Suche nach dem weiblichen Subjekt. Studien zu Ingeborg Bachmanns »Malina«, Elfriede Jelineks »Die Klavierspielerin« und Yoko Tawadas »Opium für Ovid«. Heidelberg 2007. Couffon, Miguel: Ingeborg Bachmann. Le signe et la convention. Paris 2009. Däufel, Christian: Ingeborg Bachmanns »Ein Ort für Zufälle«. Ein interpretierender Kommentar. Berlin/Boston MA 2013. Denneler, Iris: Von Namen und Dingen. Erkundungen zur Rolle des Ich in der Literatur am Beispiel von Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Max Frisch u. a. Würzburg 2001. Dennemarck-Jäger, Brigitte: Der ungehörte Schrei. Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« und seine Interpreten. Eine psychotraumatologische Studie. Kröning 2008. Diallo, M. Moustapha: Exotisme et conscience culturelle dans l’oeuvre d’Ingeborg Bachmann. Frankfurt a. M. 1998. Dippel, Almut: »Österreich – das ist etwas, das immer weiter geht für mich«. Zur Fortschreibung der »Trotta«-Romane Joseph Roths in Ingeborg Bachmanns »Simultan«. St. Ingbert 1995. Dressler, Stephanie: Giuseppe Ungarettis Werk in deutscher Sprache. Unter besonderer Berücksichtigung der Übersetzungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Heidelberg 2000.
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Autorinnen und Autoren apl. Prof. Dr. Monika Albrecht, Universität Vechta,
Kulturwissenschaften; Promotion Münster 1988 (»Die andere Seite«, über Bachmann und Max Frisch, 1989), Habilitation Salzburg 2009 (»Europa ist nicht die Welt«. (Post)Kolonialismus in Literatur und Geschichte der westdeutschen Nachkriegszeit, 2008). Mithg.in der Kritischen Ausgabe von Bachmanns Todesarten-Projekt (1995) und Kritischen Schriften (2005); Forschungsschwerpunkte: Kritischer Postkolonialismus und vergleichende postkoloniale Studien; Memory Studies und Erinnerungspolitik, Ecocriticism und Anthropozän. Prof. Dr. Bettina Bannasch, Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg; Promotion 1995 (Von vorletzten Dingen. Schreiben nach »Malina«. Ingeborg Bachmanns »Simultan«-Erzählungen); Habilitation 2005 (Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ›bildende Bild‹ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Literatur seit der Haskala; Transnationalität und Transkulturalität (in) der Literatur; literatur- und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung; deutschsprachige Literatur Südosteuropas. Dr. Maria Behre, Gymnasiallehrerin für Deutsch, Katholische Religionslehre und Philosophie sowie Fachmoderatorin in der Lehrerfortbildung zu den Fächern Philosophie und Praktische Philosophie bei der Bezirksregierung Köln; Promotion Münster 1986 (»Des dunkeln Lichtes voll«. Hölderlins Mythokonzept Dionysos); Monographien zu Rose Ausländer (2005, 2018) und Johannes Bobrowski (2012), Juryarbeit sowie Kulturvermittlung beim Walter-Hasenclever-Literaturpreis der Stadt Aachen seit 1995. Forschungsschwerpunkte: Hannah Arendt, Aristoteles, Emotionsforschung. Dr. Silvia Bengesser, Senior Scientist am Literaturarchiv Salzburg (Editionsphilologie, Archivarbeit); Mitarbeit an der Salzburger Bachmann Edition (Ingeborg Bachmann Forschungsstelle des Litera-
turarchivs Salzburg). Forschungsschwerpunkte: Franz Stelzhamer (Briefwechseledition), Adalbert Stifter (Kommentar zur 3. und 4. Fassung der Mappe meines Urgroßvaters; HKG, 6,4; EDV-gestützter Fassungsvergleich online), Dialektliteratur und Literaturlandschaft. Dr. Joachim Eberhardt, Direktor der Lippischen Landesbibliothek / Theologischen Bibliothek und Mediothek, Detmold. Promotion Göttingen 2000 (»Es gibt für mich keine Zitate«. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns). Publikationen u. a. zu bibliothekarischen Themen und zur Literatur des 19. Jahrhunderts. Dr. Irene Fussl, Promotion Salzburg 2006 (›Geschenke an Aufmerksame‹. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans, 2008); seit 2013 an der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle des Literaturarchivs Salzburg; gemeinsam mit Hans Höller Gesamtherausgeberin der Salzburger Bachmann Edition. Forschungsschwerpunkte: Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Paul Celan, Marie von Ebner-Eschenbach. Prof. Dr. Dirk Göttsche, Professor of German, University of Nottingham; Promotion Münster 1986 (Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, 1987), Habilitation Münster 1999 (Zeit im Roman. Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, 2001). Mithg. der Kritischen Ausgabe von Bachmanns Todesarten-Projekt (1995) und Kritischen Schriften (2005). Forschungsschwerpunkte: Zeit, Erinnerung und Geschichtspolitik in der Literatur; postkoloniale und interkulturelle Literaturwissenschaft; Kleine Prosa; Realismus in den europäischen Literaturen. Prof. Dr. Peter Goßens, Professor in der Sektion Komparatistik der Ruhr-Universität Bochum; Promotion Bonn 1998 (Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. Edition und Kommentar); Habilitation Bochum 2011 (Weltliteratur. Modelle transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert). Kurator der
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Ausstellung »Displaced. Paul Celan in Wien (1947/1948)« im Jüdischen Museum der Stadt Wien (Katalog Frankfurt a. M. 2002). Forschungsschwerpunkte: Diskurse der Weltliteratur, Paul Celan, Theorie und Praxis der Übersetzung, Arbeiten zur deutsch-jüdischen Literatur und zur Wissenschaftsgeschichte. Prof. Dr. Britta Herrmann, Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Promotion München 1999 (Töchter des Ödipus. Zur Geschichte eines Erzählmusters in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts); Habilitation Bayreuth 2008. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 20./21. Jahrhunderts, Hörtexte (z. B. Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst, Hg., 2015), Anthropologie, Literatur und Wissensgeschichte (z. B. Über den Menschen als Kunstwerk. Zu einer Archäologie des (Post-)Humanen im Diskurs der Moderne (1750–1820), 2018). Prof. Dr. Hans Höller, bis 2012 Professor am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg; mit Irene Fußl Gesamtherausgeber der »Salzburger Bachmann Edition«; Mithg. der Zeitschrift Sprachkunst (Österr. Akademie der Wissenschaften); Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes (2013); Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung (Hg. mit Anna Estermann, 2014); Der unbekannte Thomas Bernhard (2015); Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag (2016); Bandhg. der Jean Améry-Edition und der Thomas Bernhard-Werkausgabe. Prof. Dr. Christine Kanz, Hochschulprofessorin an der University of Education Linz, Gastprofessorin an der Universität Gent, Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg; Promotion Bamberg 1998 (Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur); Habilitation Marburg 2008 (über die Figur des gebärenden Mannes in der Historischen Avantgarde). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literatur und Anthropologie, Ecocriticism. Dr. Andrea Kresimon, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Germanistik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Promotion Bochum 2003 (Ingeborg Bachmann und der Film – Intermedialität und intermediale Prozesse in Werk und Rezeption). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Theorie und Didaktik der Mündlichkeit und der ästhetischen Kommunikation.
Dr. Katya Krylova, Lecturer in German, Film and Vi-
sual Culture, Universität Aberdeen (GB); Promotion Cambridge 2011 (Walking Through History. Topography and Identity in the Works of Ingeborg Bachmann and Thomas Bernhard); weitere Publikationen: The Long Shadow of the Past. Contemporary Austrian Literature, Film, and Culture (2017); New Perspectives on Contemporary Austrian Literature and Culture (Hg. 2018). Forschungsschwerpunkte: Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur im österreichischen Kontext. Prof. Dr. Arturo Larcati, Assozierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Verona, seit 2019 Direktor des Stefan Zweig Zentrums der Universität Salzburg. Monographien zum Expressionismus, zur Autorenpoetik der Nachkriegszeit und zu Ingeborg Bachmann. Mitherausgeber des Stefan Zweig Handbuchs (2018). Prof. Dr. Sara Lennox, Professorin emerita des Department of German and Scandinavian Studies der University of Massachusetts, Amherst (USA); Präsidentin der German Studies Association, 2007– 2008; Honorary Doctor of Letters (2012) der DePauw University in Greencastle IN; Promotion University of Wisconsin, Madison 1973 (The Fiction of William Faulkner and Uwe Johnson); Autorin von Cemetery of the Murdered Daughters. Feminism, History, and Ingeborg Bachmann (2006); Hg. u. a. von Remapping Black Germany. New Perspectives on Afro-German History, Politics, and Culture (2016). Prof. Dr. Joseph McVeigh, Professor für Germanistik am Smith College in Northampton MA (USA). Promotion University of Pennsylvania in Philadelphia 1984 (Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Literatur nach 1945); Autor von Ingeborg Bachmanns Wien 1946–1953 (2016) und Herausgeber von Ingeborg Bachmann: Die Radiofamilie (2011). Aufsätze u. a. zur österreichischen und deutschen Nachkriegsliteratur, deutsch-amerikanischen kulturellen Beziehungen und zu Medien und Literatur. Jun.-Prof. Dr. Jonas Nesselhauf, Universität des Saarlandes, Kunst- und Kulturwissenschaft; Promotion Vechta 2016 (Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, 2017). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Medien- und Kulturwissenschaft, Medien und Ökonomie, Kulturanthropologie.
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Isolde Schiffermüller, Professorin für Deut-
sche Literatur an der Universität Verona. Promotion Innsbruck 1980, Habilitation Rom 1998 (Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren). Mithg. Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass. Eine kritische Bilanz (2010); Ingeborg Bachmann in aktueller Sicht: Perspektiven der Forschung (2016); Ingeborg Bachmann: »Male oscuro«. Aufzeichungen aus der Zeit der Krankheit (2017). Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur, interdisziplinäre Studien zu Literatur, Philosophie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert, Dream Studies. Prof. Dr. Marion Schmaus, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg; Promotion Tübingen 1998 (Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault, 2000); Habilitation Tübingen 2006 (Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936), 2009). Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Ge-
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genwart, Romantik, Märchen, Literatur und Anthropologie, Intermedialität. Prof. Dr. Jost Schneider, Professor am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum; Promotion Bochum 1989 (Alte und neue Sprechweisen. Untersuchungen zur Sprachthematik in den Gedichten Hugo von Hofmannsthals), Habilitation Bochum 1996 (Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Methodologie, Lesegeschichte, Geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literaturdidaktik. Prof. Dr. Dirk Weissmann, Professor für deutsche Literatur und Kultur an der Universität von Toulouse (Toulouse Jean-Jaurès). Promotion 2003 mit einer Arbeit zur französischen Celan-Rezeption (Sorbonne Nouvelle, Paris-3). Habilitation 2016 mit einer Arbeit zur Interkulturalität und Mehrsprachigkeit in der deutschsprachigen Literatur (ParisSorbonne). Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität und Literatur, Mehrsprachigkeit und Literatur, deutsch-französische Literatur- und Kulturkontakte, Theorie und Geschichte der literarischen Übersetzung.
Werkregister 1 Gedichte A [Abends frag ich meine Mutter] 65, 67, 299 Abkehr 66 Abschied 65 Abschied von England 74 Alle Tage 74–75, 353 Am Akragas 88 An den Frieden 66 An der Brücke stehen die Soldaten 66 An die Sonne 9, 85, 91, 314–315, 399, 402 An Felician 67 An jedem dritten des Monats 343, 389 An jemand ganz anderen 99 An Kärnten 27, 66 Ängste 4, 27, 66–67, 77, 176, 331 Anrufung des Großen Bären (Gedicht) 8, 84–86, 91, 313 Anrufung des Großen Bären (Gedichtband) 7, 9–10, 24, 28, 32, 79, 83–92, 95, 192, 203, 279, 312, 319, 387, 390, 400 Aria I 88, 203, 387, 396 Aria II (Freies Geleit) 10, 87–88, 90, 203, 387, 396 Auf der Reise nach Prag 98 Aufblickend 65 Ausfahrt 6, 65, 70, 73–75, 78, 333, 390 B Befreiung 27, 66 [Beim Hufschlag der Nacht] 65 Bekenntnis 66 Betrunkner Abend 65, 331 Bewegung des Herzens 65, 177 Beweis zu nichts 70 Bleib 88, 91–92 Böhmen liegt am Meer 16–17, 20, 27, 54–55, 95, 98, 222, 290–291, 308, 320, 330, 384, 396, 402, 404 Brief in zwei Fassungen 85, 88, 91, 401 Bruderschaft 92 Buntes Abendspiel am Firmament 66 C Curriculum vitae 7, 84 D Das erstgeborene Land 89, 308, 390, 399–400 Das Göttliche 306 Das Spiel ist aus 84, 86, 90–92, 309, 329
Dein Tod, und wieder 99 Dein Wunsch sei 66 Dem Abend gesagt 65, 389 Depressionen 65, 175 Der Gärtner 65, 67 Die blaue Stunde 86, 91, 333 Die Brücken 70, 74, 406 Die dunklen Wünsche 66 die fallen in seine Gelenke 66 Die gestundete Zeit (Gedicht) 74, 76–81, 295, 322, 332 Die gestundete Zeit (Gedichtband) 6–7, 24, 28, 31, 65, 67– 68, 70, 72–74, 76, 78, 80, 83–86, 192, 201, 221, 226, 279, 292, 331, 334, 373, 387, 390, 399 Die große Fracht 54, 74, 331, 333 [Die Häfen waren geöffnet] 65 Die Nacht entfaltet den trauernden Teil des Gesichts 66 die radikale Mitte 99 Die schöne Nacht 66 Die unirdische Welle 66 [Die Welt ist weit] 65, 70, 299, 332 Dunkles zu sagen 71–72, 76–78, 332, 390 E Ein Monolog des Fürsten Myschkin 8, 70, 72–73, 77–78, 200–201, 322, 331, 386, 396 [Ein Tag vergeht] 66 Eine Art Verlust 16, 19, 97, 391 Eine einzige Stunde 66 Einem Feldherrn 78 Einem Winter entgegen … 65 Enigma 18, 20, 27, 92, 95–98, 222, 263, 299, 320, 388–389, 391, 395–396 Entfremdung 5, 65, 67 Erklär mir, Liebe 9, 85–86, 91, 303, 319, 331, 387 [Es könnte viel bedeuten] 65, 67 Exil 55, 77, 90, 92, 404–406 F Frage 388 Freies Geleit (Aria II) 10, 87–88, 90, 387, 396 Früher Mittag 70, 76–77, 271–272, 312, 314, 327, 334 G Gebet 66 Gedanke 10, 65 Geh, Gedanke 91–92 Geschlossen erst, wird mir das Auge wach 66 Gestirn des Glückes 66
Werkregister Glaube 27, 66 Goethe 175, 315 Göttliches 66 Große Landschaft bei Wien 76, 314, 327, 334, 387 H Habet acht 389 Harlem 83, 88, 381, 387 Heimkehr über Prag 98 Heimweg 9, 88 Herbstmanöver 75, 327, 399 Hinter der Wand 65–66, 331, 375 Holz und Späne 73–74 Hôtel de la Paix 92 I Ich frage 4, 65–66, 176 Ich könnte dienen und mich selbst ertränken 66 Ich möchte still sterben / So möcht ich sterben still vor Seligkeit 66 Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte 25, 27, 95, 241, 343, 381, 400–401 Ihr Worte 13, 92, 95, 222, 273, 374 Im Gewitter der Rosen 70, 203, 387 Im Krieg 27, 65 Im Sommer 65 Immer wieder Schwarz und Weiß 381 In Apulien 88, 90 In der Sturmnacht 66 In Feindesland (In Feindeshand) 27, 66 In memoriam Karl Amadeus Hartmann 27, 96, 388 Incipit 218 J Jüdischer Friedhof 98 K Keine Delikatessen 20, 27, 52, 58, 92, 95, 97–98, 222, 286, 300, 320, 391, 396 Klage 4, 65, 306 Kunst und Natur 66 L Landnahme 84, 89–90, 390 Liebe: Dunkler Erdteil 10, 83, 86, 88, 91, 346, 381, 387 Liebesgedicht. An deinem Strome hab ich getrunken 66 Lieder auf der Flucht 8, 79–80, 84–85, 87–91, 299, 319, 328, 331–334, 390, 396, 400, 402, 407 Lieder von einer Insel 7, 81, 84, 88, 91, 220, 388, 390, 396, 400, 402 M Mein Herz spricht 66 Mein Vogel 9, 84–87, 91, 303, 315, 332–333 Meine Beatles 99, 389 Melancholie 4, 66 Memorial 97 Menschenlos 65 Mild und leise 97, 391 Mirjam 92, 113
Mit einem Dritten sprechen 347 Montagmorgen 65, 67 N Nach dieser Sintflut 92 Nach grauen Tagen 60, 66, 177–178 Nach vielen Jahren 88 Nacht der Liebe 99 Nachtbild 66 Nachtflug 75, 78 Nachtlied 389 Nebelland 7, 84, 91 [Noch fürcht ich] 65 Nord und Süd 88, 91, 399–400 Notturno 387 O Offenbarung 27, 65, 175, 332 Oh, welch ein Glanz ist heute in der Nacht 66 Oh, wie ich mich ans Herz der Welt verschwende 66 Ostern 175 P Paris 314, 327 Poliklinik Prag 27, 98 Prag Jänner 64 16, 18, 20, 95, 98, 222, 384, 404 Preisgabe 306 Psalm 77, 332 R Rede und Nachrede 85–86, 91–92 Reigen 328, 333 Reklame 85, 88, 91–92, 187, 195, 203, 383, 387 Römisches Nachtbild 85 S Salz und Brot 74–75 Schallmauer 27, 97 Schatten Rosen Schatten 88 Scherbenhügel 88 Schranken 66 Schwarzer Walzer 8, 88, 387, 394 [Sehnsucht Glut sank, versank] 66 Silbermond 386 Silberner Tag 66 Soziologie 99 Sterne im März 70, 74 Strangers in the Night 99, 391 Strömung 10, 52, 92 T Tage in Weiß 322, 390 Tagwerden 65 Terra Nova 381 Thema und Variation 390 Toter Hafen 88 Trauer 66 Trüber Sinn 66
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Anhang
U Übermaß 65 [Und sei die Erde] 66 [Unstillbar. Ich reise in einem winterlichen Wald] 66 Unter dem Weinstock 88 V Vergeblichkeit 66 Vision 65 Von einem Land, einem Fluß und den Seen 84–86, 89, 91, 299, 314, 387, 390 Vor einem Instrument 4, 27, 66, 387, 389 Vor Sonnenuntergang 65 W Wahrlich 17, 85, 96, 348 [Was für die Sonne geht] 66 Was wahr ist 88, 299 Wenn Du vom Lichte bist 66 Wenn ich Dein denke 66 Wenzelsplatz 27, 98 Wie soll ich mich nennen? 65, 188 [Wir gehen, die Herzen im Staub] 65, 67 Wunsch 175 Z Zünde Lichter 66 Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust 175, 315 Zwischen Tag und Nacht 66, 177
2 Andere Werke A Alles 11–12, 59, 105, 113–114, 185, 238, 300, 341, 344, 368, 372 [Anna-Fragment] 5, 105–107, 335 Auch ich habe in Arkadien gelebt 6, 107, 312 [Auf das Opfer darf sich keiner berufen] 243, 245 Auf Reisen 178 B [Beitrag zum 80. Geburtstag von Rudolf Alexander Schröder] 251 Belagerungszustand (Übersetzung von Albert Camus’ Schauspiel) 209, 296, 352–353 Belinda-Libretto 9, 25, 201–203, 387 [Bertolt Brecht: Vorwort zu einer Gedichtanthologie] 20, 259 Besichtigung einer alten Stadt 20, 155, 161, 293, 327, 392, 406 Biographisches 6, 225–226, 236, 272, 279 Briefe an Felician 4, 27, 66, 178–179, 270, 299, 309, 316, 334, 389 Briefe einer Freundschaft siehe Briefwechsel mit Hans Werner Henze Briefwechsel Bachmann/Hans Magnus Enzensberger VII, 28, 42–43, 222–223, 340, 346, 403, 407 Briefwechsel Bachmann/Hans Werner Henze VII, 28, 42, 201, 217, 219–220, 222, 340, 387, 407
Briefwechsel Bachmann/Paul Celan VII, 28, 42, 60, 79, 219, 221–222, 307, 340 C Cälian Hambrusch 4, 178 Carmen Ruidera 3, 175–176, 316 D Dämmerstunde 178 Das Buch Franza 4, 17–20, 25–26, 35–39, 41, 43, 52–53, 59, 79, 99, 107, 122, 126–129, 131–132, 145, 148, 150, 154, 157–159, 168, 179, 196–197, 226, 240–243, 250, 256, 258, 260, 269, 273–275, 279, 284, 292–293, 297, 305, 308–309, 313, 319–322, 327, 329–330, 332, 343, 351, 358–361, 363– 366, 368, 370, 372–374, 378–381, 384, 392–393, 406 Das Buch Goldmann, cf. Todesarten (Eugen-Roman II), Requiem für Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman VII, 27–28, 155–159, 217 Das Denkmalamt 4, 178–179 Das dreißigste Jahr (Erzählung) 11, 24, 61, 111, 113, 121, 185, 237, 250, 255, 292, 296, 302–303, 327–328, 353 Das dreißigste Jahr (Erzählungsband) 11, 13–14, 28, 31–32, 37, 40, 52, 83, 95, 101, 110, 113, 120, 122–123, 163–164, 178, 203, 236, 238, 256, 271–273, 295, 300, 314, 329, 335– 336, 343, 402 Das Gebell 21, 59, 168–169, 172, 323, 373 Das Gedicht an den Leser 252–253, 263, 300, 309 Das graue Haus 175, 177 Das Herrschaftshaus (Übersetzung von Thomas Wolfes Schauspiel) 6, 181, 209 Das Honditschkreuz 3, 176, 178, 316, 406 Das Lächeln der Sphinx 5, 104, 238, 302, 359 Das schöne Spiel 5, 102, 345 Das Tremendum siehe Die Glasglocke Das Ufer 5, 103 Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils 8, 184, 231, 233, 250 Der dunkle Turm siehe Der schwarze Turm Der Fall Franza siehe Das Buch Franza Der gute Gott von Manhattan 10–11, 14, 24, 32–33, 41, 58– 59, 79, 83, 122, 184–185, 187, 189, 193–195, 203, 250, 252– 253, 296, 303, 307–309, 315, 329, 334, 343, 353, 384–385, 396 [Der Hinkende] 11, 108 Der junge Lord (Libretto zur Oper von Hans Werner Henze) 17, 24, 205–206, 208, 218, 220, 264, 314, 386, 407 Der Kommandant 5, 105–106, 335, 373 Der Mann ohne Eigenschaften (Radio-Essay) 250, 281 Der Prinz von Homburg (Libretto zur Oper von Hans Werner Henze nach H. v. Kleist) 12–13, 160, 203–204, 220, 263–264, 386 Der schwarze Turm (Übersetzung von Louis MacNeices Schauspiel) 6, 182, 209 [Der Schweißer] 59, 121, 313 Der Spion 177 Der Tod wird kommen 11, 123, 183, 236–237 Der Wiener Kreis, Logischer Positivismus – Philosophie als Wissenschaft 231–232 Deutsche Zufälle siehe Ein Ort für Zufälle Die ausländischen Frauen 19, 172
Werkregister Die blinden Passagiere 8, 243–244, 250, 381 Die Fähre 4–5, 101, 177–178, 375 Die Glasglocke / Das Tremendum (Sylvia Plath: ›Die Glasglocke‹) 19, 257–258, 354 Die ital. Kommunisten 281 Die Karawane und die Auferstehung 5, 105, 329 Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation) VIII, 4–5, 25, 27, 68, 229–232, 238, 248, 295–296, 299, 314, 322, 368, 373 Die Mannequins des Ibykus 6, 104, 316 Die Radiofamilie VII, 6, 27, 39, 181–183, 186–187, 193, 290, 292, 308, 357 Die Schwärmer (Rundfunkbearbeitung von Robert Musils Theaterstück) 9, 250, 328 Die Straße der vier Winde (geplantes Hörspiel) 7, 184, 191 Die Versuchung 5, 103 Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar 12, 72, 183, 185, 188, 200, 238, 253, 255, 263, 295, 366, 386 Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium 11, 184, 251–252 Die wunderliche Musik 9, 262, 386 Die Zikaden 8, 24, 105, 184, 191–194, 196, 220, 312, 387, 391, 400, 402 Dissertation siehe Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers Drei Wege zum See 21, 40, 51, 59, 122, 161, 169–171, 217, 236, 288–293, 297, 309, 315, 330, 337, 345, 358, 404, 406 E Ein Fenster zum Ätna 8, 108, 154 Ein Geschäft mit Träumen (Erzählung) 6, 107, 190, 313 Ein Geschäft mit Träumen (Hörspiel) 6, 181, 186–187, 190– 191, 195–196, 313, 345, 373, 391 Ein Maximum an Exil (über Leo Lipski: ›Piotruš‹) 19, 257– 258, 351 Ein Ort für Zufälle 16, 24, 26, 32, 38–39, 50, 97, 123, 127– 129, 239–243, 254, 257, 313, 323, 333, 367, 374 Ein Schritt nach Gomorrha 13, 41, 59, 116–117, 123, 256, 308–309, 314, 336, 344, 383 Ein Wildermuth 13, 58, 117–119, 327, 335, 372, 384–385 Entstehung eines Librettos (Der Prinz von Homburg) 204, 264 [Entwürfe zur politischen Sprachkritik] 252 Eugen-Roman I 11, 122, 126, 154 F Fataler Monolog (Übersetzung von Roberto Calassos Essay) 210 [Ferragosto] 237–238, 308, 401 Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung VIII, 11–13, 24, 32, 54, 74, 90, 95, 126, 134, 136, 150, 152, 154, 183, 187, 192–194, 198, 223, 236, 241, 248–257, 263, 273, 279–280, 295–296, 299–300, 308, 310, 313, 318, 321–322, 326, 328, 332–336, 346, 351–354, 358, 386 Franz Kafka: ›Amerika‹ (Radio-Essay) 249, 335 Franz Werfel: ›Der Tod des Kleinbürgers‹ (Rundfunk bearbeitung) 181 Franza-Roman siehe Das Buch Franza Freud als Schriftsteller (verschollener Radio-Essay) 357 Freundinnen 20–21, 128, 173
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G [Georg Groddeck] 19, 168, 243, 257–258, 366 Geschichte einer Liebe 11, 122 Gier 20–21, 25, 27, 128–129, 154, 161, 293, 321, 392 [Giuseppe Ungaretti] 210 Giuseppe Ungaretti: Gedichte (Übersetzung) 14, 209–214, 222, 271, 352 Goldmann/Rottwitz-Roman 18, 20–21, 26, 28, 41, 126–129, 154, 156–161, 275, 283–284, 288, 292, 321–322, 326–327, 337, 345, 354, 375, 381 [Gruppe 47] 252, 273 H Hans Weigel: ›Seitensprünge‹ [Rezension] 5 Hel Dörrias 4, 178 Herzzeit siehe Briefwechsel Bachmann mit Paul Celan Hommage à Maria Callas 9, 244, 264 I Ihr glücklichen Augen 20–21, 59, 161, 166–167, 239, 251, 258, 315, 320, 322, 327, 347, 363, 366, 373, 392 Im Himmel und auf Erden 5, 103, 375 In meinem Herbst 178 Ins tausendjährige Reich (Musil-Essay) 7, 250, 305, 309, 328 J [Jede Jugend ist die dümmste] 235, 243–244, 323 Jugend in einer österreichischen Stadt 11, 59, 102, 110, 112, 117, 121, 171, 226, 245, 269, 273, 289, 296–297 K Karawane im Jenseits siehe Die Karawane und die Auferstehung Kosmische Ekstasen – Alfred Mombert: ›Der himmlische Zecher‹ [Rezension] 249, 255 Kriegstagebuch VII, 4, 39, 179, 225–226, 269, 318 L Leipzig 243 Logik als Mystik (verschollener Radio-Essay) 232, 299 Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte 7, 231, 299 M ›Male Oscuro.‹ Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe VII, 27, 95, 141, 155, 225, 227, 344 Malina 4–5, 18–21, 24, 26, 28, 31–38, 40, 52–54, 56, 59–60, 67, 73, 78, 85, 96, 107, 122, 126–142, 145, 147, 149–150, 154–155, 157–159, 161, 164, 179, 182, 185, 188–191, 197, 217–218, 220, 222, 227, 233, 241–243, 248, 250–252, 258, 272, 275–276, 282–284, 287–293, 297, 299–300, 302–303, 305–309, 312–316, 318–323, 326–329, 332, 334–336, 340– 341, 343–348, 351–352, 354–355, 358–364, 367–370, 372– 375, 379, 383–384, 386–388, 390–396, 402, 404, 406 Margarete Holm 178 Musik siehe Die wunderliche Musik Musik und Dichtung 12, 193, 200, 203, 263–264, 299, 386, 390, 394
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Anhang
N Notizen zum Libretto (Der junge Lord) 264 O Otello 257, 264 P Philosophie der Gegenwart 231 Portrait von Anna Maria 10, 14, 58, 120–121, 354, 384–385 Probleme Probleme 20–21, 105, 161, 165–166, 313, 322, 335, 347, 367 Probleme zeitgenössischer Dichtung siehe Frankfurter Vorlesungen R [Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises] 236, 253–254, 256, 300 Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises siehe Ein Ort für Zufälle Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden siehe Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar [Reflexionen über die Beziehung zwischen italienischer und deutscher Literatur] 260 [Reflexionen zu Barbey d’Aurevilly, Lafayette und Flaubert] 259 Religiöses Behagen? – José Orabuena: ›Kindheit in Cordoba‹ [Rezension] 248 Requiem für Fanny Goldmann 18, 25, 28, 39, 59, 126–127, 129, 154, 157, 275, 279, 283, 321, 323, 381 Römische Reportagen 8, 25, 27, 39, 58, 84, 235–237, 244, 281, 342 Rosamunde 19, 21, 25, 128, 171–172, 347, 355, 369 S Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins 7, 184, 231, 233, 299 ›schreib alles was wahr ist auf‹ siehe Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 222 Schwestern 178 Simultan (Erzählung) 19, 21, 99, 122, 165, 209–210, 355, 375, 383, 391, 402, 404–407 Simultan (Erzählungsband) 19–21, 24, 26, 31, 33–35, 37– 38, 40–41, 54, 101, 123, 128–129, 154, 161, 163–167, 169– 173, 209, 229, 239, 274, 276, 288–290, 296, 315, 321–322, 327, 365–366, 373, 375, 404–405 [Sissi-Fragment] 172 Stadtgift 178 Stadt ohne Namen 5, 105–106, 178, 335, 373 Sterben für Berlin 14, 123, 273
T Tagebuch 15, 216, 243, 245–246, 300, 318, 326, 405 Tagwerden 177 Todesarten (Eugen-Roman II) 4, 11, 15–18, 25–26, 28, 34, 36, 39–40, 42–43, 53, 78–79, 83, 85, 92, 95, 97, 101, 126– 127, 129, 131–132, 134, 138, 145, 150, 154–161, 164, 167, 170, 172, 179, 190, 227, 233, 238, 241, 260, 272–275, 284, 287, 292, 309–310, 312–313, 315–316, 320–323, 326, 330– 331, 335–336, 343, 345, 353–354, 360, 362, 379, 381, 392 Todesarten-Projekt 14–19, 25–28, 37–38, 41, 95, 99, 106– 108, 122–123, 126, 128–131, 135, 145, 154, 157–158, 161, 164, 171, 229, 233, 241, 274–275, 279, 284, 289, 292–293, 296, 302–303, 314, 316, 320, 323, 327, 329, 334, 336, 353, 358–360, 363, 365, 374 Todesarten-Zyklus 19–20, 25–26, 34, 103, 127–130, 154, 157, 168, 292, 386 U Undine geht 13, 34, 79, 119–120, 132, 189–190, 243, 251, 256, 263, 295, 300, 303, 309, 313–314, 374 Unsere Toten siehe Der Tod wird kommen Unter Mördern und Irren 13, 55, 115, 134, 243, 245, 271, 273, 296, 303, 335 Utopie contra Ideologie 309 V Versuch einer Autobiographie 225–227 Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (Rundfunkbearbeitung von Robert Musils Theaterstück) 11, 182, 250, 328 W Was ich in Rom sah und hörte 8, 50, 237–238, 241, 243, 252, 303, 312, 346, 401 Watten und andere Prosa / Ein Versuch (über Thomas Bernhard) 259 Wien-Venedig siehe Geschichte einer Liebe [Witold Gombrowicz] 239, 257, 351 Wohnen, Weiterwohnen 191 [Wozu Gedichte?] 8, 86, 252 Wüstenbuch 16–18, 26, 39, 41, 99, 127–129, 145, 149–150, 240, 242–243, 282, 322, 343, 355, 373, 378–379, 381 Z Zeit für Gomorrha 11, 122, 273, 336 Zugegeben 237–239, 345 [Zur Entstehung des Titels ›In Apulien‹] 252, 256 [Zwischentexte zur konzertanten Aufführung des ›Freischütz‹] 264
Personenregister A Achberger, Karen 37, 315 Achmatowa, Anna 17, 96, 348, 351 Adler, Alfred 136, 358, 362 Adorno, Theodor W. 13, 39–40, 97, 104, 106, 119, 122, 126, 141, 216– 217, 235, 246, 248, 255–256, 262– 263, 273–274, 296, 300, 302, 306, 308, 310, 326, 386 Agnese, Barbara 28, 250, 321, 352, 400, 402–403 Aichinger, Helga 6 Aichinger, Ilse 5–7, 9, 28, 31, 67, 73– 74, 101, 110, 113, 141, 178, 188, 217, 219, 345, 399 Aischylos 355 Albrecht, Monika 26–27, 38, 41, 43, 148, 163, 323, 363 Alexander, Franz Gabriel 369 Alexander, Peter 55 Allende, Salvador 52 Alsop, Stewart 123 Altenberg, Peter 96, 388 Améry, Jean 21, 33, 51, 171, 245, 276, 291, 331 Amichai, Yehuda 19 Anaximander 314 Anders, Günther 229, 302–303 Andersch, Alfred 7, 10, 12–13, 15, 31, 70, 75, 217–219, 270, 280, 340, 345, 379, 402 Andersch, Gisela 12 Andersen, Hans Christian 263 Angst-Hürlimann, Beatrice 34, 83 Annunzio, Gabriele d’ 97, 319 Anouilh, Jean 181, 186 Anzengruber, Ludwig 170 Apollinaire, Guillaume 227 Arendt, Hannah 14, 115, 280, 296, 302, 306 Aristoteles 78, 152 Arlt, Ingeborg 52–53 Arnold, Heinz Ludwig 20 Assmann, Aleida 272 Atzler, Elke 33 Auden, Wystan Hugh 17, 192, 353, 358 Auer, Fred 17, 19
Auer, Heidi 58 Augustinus 305 B Baackmann, Susanne 41, 120 Bach, Johann Sebastian 201, 387 Bächler, Wolfgang 6 Bachmann, Heinz (Bruder) 3, 217 Bachmann, Isolde (Schwester) 3, 59, 191, 217 Bachmann, Matthias (Vater) 3–4, 183 Bachmann, Olga (Mutter) 3 Bachtin, Michail 41, 147 Badiou, Bertrand 221 Baehr, Christoph 213 Baldwin, James 354 Balzac, Honoré de 19, 67, 128, 146, 161, 163–164, 320–321, 345 Banfield, Ann 166 Bannasch, Bettina 40 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée 126, 145, 149, 159, 161, 259–260, 320–321 Bareiss, Otto 34 Barthes, Roland 254 Bartók, Béla 314 Bartsch, Kurt 36, 185, 188–190, 192, 197, 220, 269, 276, 281, 295 Baudelaire, Charles 68, 225, 229, 296, 322 Bauer, Christoph W. 54 Bauer, Edith 60 Bauer, Karin 41 Baumann, Hans 19, 271 Baumgart, Reinhard 11–13, 33, 55, 58, 212, 273, 352–353 Beauvoir, Simone de 122, 146, 344, 353 Beck, Thomas 200, 203, 206 Becker, Jürgen 21, 33 Becker, Peter von 54 Beckermann, Ruth 28, 60, 222 Beckett, Samuel 51, 134, 141, 147, 255, 286–287, 353 Beethoven, Ludwig van 141, 335, 392– 393, 395 Behre, Maria 40, 341 Beicken, Peter 36, 305, 357 Bellini, Vincenzo 141, 387, 392–394
Bellow, Saul 112 Benedikt, Michael 68 Bengesser-Scharinger, Silvia 27 Benjamin, Walter 11, 39, 77, 111, 150, 170, 178, 211, 238, 252, 256, 302– 304, 308, 310, 336 Benn, Gottfried 67, 71, 121, 255, 286, 299, 331–333 Berg, Alban 96, 388, 392 Bergengruen, Werner 111 Bergmann, Ingmar 141, 154–155, 274 Beringer, Peter 58 Bernhard, Thomas 20, 51, 108, 141, 217, 257, 259, 281, 293, 346, 374 Berto, Giuseppe 141, 358 Best, Otto 16, 18, 126–127 Bieberstein, Karin Maria Freifrau Marschall von (geb. Magnus) 346 Bieberstein, Michael Freiherr Marschall von 346 Bielefeldt, Christian 201, 204 Bienek, Horst 32 Bilmin, Mizgin 142 Bisinger, Gerald 210 Blackwood, Algernon 141 Blake, William 259 Blanchot, Maurice 120 Bloch, Ernst 13, 21, 141, 248, 306, 308, 310 Blöcker, Günter 12, 33, 83, 342 Blok, Alexander 351 Bloom, Harold 41 Bo, Federico dal 213 Boa, Elizabeth 37 Bobrowski, Johannes 13, 345 Boehlich, Walter 15, 98, 320 Böhme, Jakob 399 Böhmisch, Susanne 163 Böll, Annemarie 13 Böll, Heinrich IX, 6–7, 9–10, 15, 27, 31, 50, 68, 110, 126, 179, 217, 219, 248–249, 305, 333, 340, 345, 352 Bolterauer, Lambert 357 Bondy, Barbara 32 Borchert, Wolfgang 110 Borges, Jorge Luis 351 Borhau, Heidi 60 Böschenstein, Bernhard 213, 242
428
Anhang
Bothner, Susanne 40, 67 Böttcher, Anna 60 Böttiger, Helmut 340 Boym, Svetlana 291 Brahms, Johannes 392 Braun, Volker 54 Breasted, James Henry 151, 359 Brecht, Bertolt 14, 20, 68, 76, 78, 110, 126, 141, 203–204, 257, 259, 331, 333–334, 343–344 Brehm, Bruno 270 Brentano, Clemens 313, 315 Breuer, Josef 361 Brinker-Gabler, Gisela 41 Britten, Benjamin 182 Broch, Hermann 316, 337 Bronnen, Arnolt 123 Broser, Patricia 309 Browning, Robert 182 Brusatti, Otto 142 Buber, Martin 306 Büchner, Georg 16, 67, 239, 243, 264, 313, 316 Buckle, Richard 320 Burckhardt, Jacob 230, 306 Burckhardt, Lucius 282 Burroughs, William 354 Busch, Wilhelm 114 Buss, Verena 59 Butor, Michel 17 Byron, George Gordon Noël Lord 206 C Caduff, Corina 40 Caetani, Marguerita 11, 218–219, 399, 403 Calasso, Roberto 18, 20, 210, 218–219, 399, 403 Callas, Maria 9, 96, 141, 200, 202, 245, 264, 319, 393 Cambi, Fabrizio 399, 402 Camus, Albert 39, 113, 178, 209, 296, 352 Canali, Laura 89 Capote, Truman 192 Carnap, Rudolf 229 Carrière, Mathieu 59 Carroll, Lewis 141 Cassirer, Ernst 229 Celan, Paul VII, 4–7, 11–13, 20, 28, 39, 42, 50, 60, 67–68, 70–74, 76, 79–81, 87, 91, 96, 110, 119, 137, 141, 149, 179, 181, 186, 188, 210, 213, 217– 219, 221–222, 241, 245, 255, 264, 291, 296, 300, 305–307, 316, 319, 323, 326, 332, 340–342, 345, 353, 374–376, 383–384, 391, 400, 406 Celan-Lestrange, Gisèle 216, 221–222 Céline, Louis Ferdinand 134, 336 Cervantes, Miguel de 319
Césaire, Aimé 149, 351 Chabrol, Claude 384 Char, René 310, 353 Chişe, Ruxandra 40 Churchill, Winston 272 Cixous, Hélène 163, 372 Claudius, Matthias 393 Colet, Louise 321 Collins, Wilkie 149, 322 Coltrane, John 392 Conrad, Joseph 112 Courbet, Gustave 8 Cramer, Heinz von 186 Curtius, Ernst Robert 252, 336 Czechowski, Heinz 54 D Damek, Dagmar 59 Damm, Sigrid 52–53 Dante Alighieri 87, 141, 146, 149, 211, 280, 318–319, 323 Däufel, Christian 240 Davis, Colin 388 Davis, Miles 393 Davy, Walter 182, 186 Débussy, Claude 393 Defoe, Daniel 193 Deleuze, Gilles 146 Dempf, Alois 4, 107, 230, 295–296, 305–306 Demus, Klaus 13, 222 Demus, Nani (geb. Maier, Anna) 306, 309, 335 Deppe, Hans 110 Deutsch, Ernst 186 Diallo, Moustapha 41 Dickens, Charles 112 Dilthey, Wilhelm 229–230, 306 Dippel, Almut 40 Disney, Walt 196, 384 Döblin, Alfred 110, 337 Doderer, Heimito von 5, 105, 345 Dollfuß, Engelbert 157, 292 Domin, Hilde 28, 55, 218–219 Donizetti, Gaetano 393 Döpke, Oswald 9, 216, 219 Dor, Milo 345 Dorowin, Hermann 77 Dorst, Tankred 344 Dos Passos, John Roderigo 112 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 7, 72, 134, 141, 200, 220, 259, 320–321 Draesner, Ulrike 55 Dressler, Stephanie 213 Drewitz, Ingeborg 50 Droste-Hülshoff, Annette von 13, 80, 96 Duden, Anne 53 Dufhues, Josef Hermann 15 Duras, Marguerite 353
Durrell, Lawrence 123, 354 Dürrenmatt, Friedrich 15 Dusar, Ingeborg 37, 296 Duse, Eleonora 319 E Eberhardt, Joachim 39, 68, 104, 341 Eich, Günter 9–10, 28, 31, 71, 74, 113, 188, 218–219, 252, 345 Eich, Mirjam 113 Eichendorff, Joseph von 107, 175, 313, 372, 389 Eifler, Margret 35 Eigler, Friederike 41 Eilittä, Leena 163 Eisenreich, Herbert 191–192, 218 Eliot, T. S. [Thomas Stearns] 181, 186, 227 Eluard, Paul 226–227 Elýtis, Odysséas 355 Endres, Ria 35 Engelkamp, Johannes 365 Engels, Friedrich 123 Enzensberger, Hans Magnus VII, 10, 12–15, 17–18, 20, 28, 32, 42–43, 50, 54, 98, 127, 158, 211–212, 218, 222– 223, 245, 276, 286, 300, 326, 340, 346, 378, 402–403, 407 Eugen, Prinz von Savoyen- Carignan 138, 392 Euripides 355 Evrard, Pierre 9 F Fanon, Frantz 147, 150, 323, 378 Faulkner, William 101, 136, 141, 336 Federmann, Reinhard 306, 345 Fehl, Peter 34, 83 Felmayer, Rudolf 5, 65, 345 Feltrinelli, Giangiacomo 16, 399, 403 Ferlinghetti, Lawrence 17, 354 Feyerabend, Paul 306 Ficker, Ludwig von 232 Fitzgerald, F. Scott 355 Flaubert, Gustave 108, 116, 163, 260, 320–321 Flotow, Friedrich von 393 Fontane, Theodor 171, 315 Forman, Miloš 384 Forster, Georg 41 Foucault, Michel 78, 185, 196–197 Fouqué, Friedrich de la Motte 120, 314 Frankl, Viktor Emil 4, 6, 295, 305, 357–358, 364, 369 Franz Ferdinand (Erzherzog) 138 Franzobel 55 Freiligrath, Ferdinand 138, 141, 392 Freud, Sigmund 79, 90, 136, 148, 150– 151, 170, 172, 185, 218, 237, 258, 283, 357–364, 366–370, 372–373
Personenregister Fried, Erich 6, 19, 50, 54, 218 Friedrich, Hugo 300 Frisch, Max 11–16, 18, 28, 39, 42, 50– 51, 54, 58, 95–97, 112, 140–141, 149, 151, 155, 160, 163, 209, 217–219, 221, 223, 227, 271, 273, 282–283, 286, 340–345, 353, 374, 376, 383, 388, 400 Frisch-Oellers, Marianne 14, 51, 344 Frischmuth, Barbara 35 Frisé, Adolf 250 Fuchs, Ernst 19 Fußl, Irene 25, 27–28, 43, 70, 217 G Gabriel, Leo 5, 230, 295–296, 305–306 Gadda, Carlo Emilio 352 Gandhi, Mahatma 112 Gehle, Holger 71, 296 Genette, Gérard 37 George, Stefan 249, 254, 333 Gerhardt, Marlis 35 Gernhardt, Robert 54 Gide, André 101, 167, 226, 336 Gimpl, Georg 231 Ginsberg, Allen 19, 354 Giraud, Albert 393 Giraudoux, Jean 120 Glück, Wolfgang 58–59 Gluscevic, Zorana 290 Godard, Jean-Luc 384 Goethe, Cornelia 53 Goethe, Johann Wolfgang von 41, 87, 106–107, 165, 167, 175–178, 196, 206, 245, 312, 314–316, 318, 384, 399 Golisch, Stefanie 120 Goll, Claire 13 Goll, Yvan 13 Gölz, Sabine 41 Gombrowicz, Witold 15, 239, 257– 258, 351 Gomringer, Nora 56 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 165, 322 Göttsche, Dirk 26–27, 38, 42, 296, 303, 353, 363 Graener, Paul 204 Graf, Daniel 84 Grass, Günter 12, 15, 17, 50, 68, 112, 128, 186, 218, 241, 345 Grebe, Wilhelm 230 Greene, Graham 134 Grell, Petra 200, 206 Grillparzer, Franz 313, 316, 318, 392 Grimm, Hannelore 365 Grimm, Jakob und Wilhelm 84, 196, 314 Groddeck, Georg 19–20, 167, 243, 257–259, 347, 361, 365–366, 368, 373
Gsovsky, Tatjana 7–8, 72, 200–201, 220 Guattari, Félix 146 Guevara Serna, Ernesto (Che) 288 Günderrode, Karoline von 315 Günther, Jutta 58 Günzel, Elke 54 Gürtler, Christa 35, 40 Gutjahr, Ortrud 37, 256, 360, 364 H Hädecke, Wolfgang 198 Hagelstange, Rudolf 84 Hahn, Ulla 53–54 Haider-Pregler, Hilde 185–186 Hakel, Hermann 5, 65, 67, 179, 291, 306, 345 Haller, Gerda 22, 58, 320, 386, 402 Hambsch, Jasmin 37 Hamesh, Jack 4, 179, 225, 269–270, 306 Hamm, Peter 55, 58 Handke, Peter 54, 160, 345 Haneke, Michael 59 Hapkemeyer, Andreas 36, 121, 351, 402 Hartig, Ina 270 Hartleben, Otto Erich 393 Härtling, Peter 270 Hartmann, Karl Amadeus 7, 27, 40, 96, 201, 263, 388 Hartwig, Ina 31, 42, 276, 282 Hartwig, Theodor 229 Hasenclever, Walter 123 Hauff, Wilhelm 17, 206–208, 220, 314 Haushofer, Marlen 36 Hebbel, Friedrich 139, 200 Hecht, Anthony 19, 192 Heckenast, Gustav 218 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 87, 245, 293 Heger, Roland 193 Heidegger, Martin 5, 34, 67, 78, 121, 132, 141, 147, 229–230, 232, 295– 297, 299, 302, 314, 340, 344, 368 Heidelberger-Leonard, Irene 276, 283 Heilmann, Stephan 145 Heine, Heinrich 86–87, 204, 399 Heinrich, Jutta 53 Heinrich, Margareta 59 Heiser, Claude 166, 296 Heißenbüttel, Helmut 32, 296, 326, 353 Henze, Hans Werner VII, 6–14, 16– 17, 28, 40, 42, 58, 68, 70, 80, 88, 96, 110, 120, 141, 186, 191–194, 200– 201, 203, 205–206, 208, 217–220, 222, 262–264, 286, 303, 307, 313, 340, 346, 353, 386–388, 391, 396, 402, 407
429
Herder, Johann Gottfried 107 Hergouth, Alois 54 Hermann, Lucie 58 Hermlin, Stephan 13 Heym, Georg 333 Hikmet, Nazim 351 Hildesheimer, Wolfgang 8–9, 28, 218, 270, 340, 345 Hinterberger, Juliana 396 Hitchcock, Alfred 108, 384 Hitler, Adolf 3, 5, 12, 106, 112, 121, 226, 269, 271–272, 281, 283, 292 Hochleitner, Gabriele 61 Hocke, Gustav René 8, 11, 345, 358, 399 Hoell, Joachim 182 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 107, 207, 312, 314–316, 394 Hofmann, Paul 230 Hofmannsthal, Hugo von 39, 77, 102, 112, 119, 132, 138, 141, 147, 160, 200, 226, 289, 299, 318, 326–328, 332, 372 Holan, Wladimir 18 Hölderlin, Friedrich 39, 68, 83, 141, 229, 259, 263, 305, 312–314, 316, 322, 334, 399 Höller, Hans 25, 27–28, 35–36, 39–40, 42–43, 58, 67, 95, 98, 176, 179, 189– 190, 192–193, 196, 217, 220–221, 237, 269–271, 281, 287, 303, 313, 323, 328, 340, 344, 402 Höllerer, Walter 14, 58, 210, 218, 345, 353 Holschuh, Albrecht 34, 295 Hölszkys, Adriana 396 Holthusen, Hans Egon 14, 32, 83, 201, 270, 279, 296, 345 Homer 86, 201 Horaz 87 Horkheimer, Max 104, 122, 169, 302 Horn, Anette 39, 43 Horn, Peter 39, 43 Horney, Karen 369 Horváth, Ödön von 337 Hotz, Constance 31, 38 Huchel, Peter 10, 13 Hughes, Ted 351, 354 Humboldt, Wilhelm von 405 Huml, Ariane 399, 402 Huppert, Isabelle 38, 60 I Ibsen, Henrik 116, 323 Irigaray, Luce 120, 370, 372 Italiaander, Rolf 351 J Jaeggy, Fleur 20, 217 Jahn, Janheinz 351 Jahnn, Hans Henny 134, 337
430
Anhang
James, Henry 108 Jandl, Ernst 406 Jaspers, Karl 296 Jelinek, Elfriede 37, 54, 59–60, 122, 141, 293 Jené, Edgar 5, 73 Jens, Walter 10, 13, 32, 67, 73, 86, 218 Jérôme, Françoise 72 Jesus Christus 148 Johannes der Täufer 148 Johnson, Uwe 12, 14–16, 18, 20–21, 28, 50, 54, 58, 111, 126, 218–219, 245, 269–270, 307, 340, 345–346, 357 Jonas, Franz (österreichischer Bundespräsident 1965–1974) 292 Joyce, James 101, 112, 286, 326, 334, 336 Jung, Carl Gustav 42, 136, 147, 358, 362, 364 Jünger, Ernst 121 K Kafka, Franz 7, 16, 39, 104, 112, 178, 248–249, 255, 286, 289, 306, 309, 326, 334–335, 372 Kaiser, Gerhard R. 120, 252 Kaiser, Joachim 83 Kallman, Chester 192 Kálmán, Emmerich 392 Kann-Coomann, Dagmar 40 Kanz, Christine 353 Kasack, Hermann 101, 111 Kasantsákis, Níkos 355 Kaschnitz, Marie Luise 8–10, 13, 28, 101, 201, 218–219, 273–274, 286– 287, 343, 345–348, 399 Käutner, Helmut 205, 384 Kaváfis, Konstantínos 354–355 Kehlmann, Daniel 55 Keller, Ruth (Pseud. Bachmanns) 8, 184, 235, 281 Kellhammer, Angelika 58 Kempker, Birgit 55 Kerr, Alfred 121 Kesten, Hermann 7–10, 12, 218, 306, 345, 399 Kiefer, Anselm 54 Kiefer, Sebastian 83 Kienlechner, Sabina 276 Kienlechner, Toni 8, 50 Kierkegaard, Søren 132, 141, 296–297, 344 King, Martin Luther 288 Kirsch, Sarah 35, 54 Kirschner, Klaus 59 Kissinger, Henry 8, 42, 58, 194, 270, 306 Klafki, Wolfgang 115 Klee, Paul 8 Kleist, Heinrich von 3, 12–13, 160,
175, 203–205, 220, 264, 313–314, 316, 384 Kluge, Alexander 384 Knef, Hildegard 130 Knigge, Adolph Freiherr 206 Koelle, Lydia 80–81 Koeppen, Wolfgang 75, 111, 279 Kogel, Jörg-Dieter 27, 58, 184 Kohla, Herwig 58 Köhler, Barbara 54 Kolb, Richard 198 Kolmar, Gertrud 333 Köndgen, Cornelia 59 Korsch, Karl 77 Koschat, Thomas 392 Koschel, Christine 24–25, 27, 58, 60 Kracauer, Siegfried 170 Krafft-Ebing, Richard von 358 Kraft, Viktor 5, 230–231, 295, 306 Kramer, Stanley 273 Kraus, Karl 73, 292, 300, 327 Kraus, Werner 33 Krechel, Ursula 55 Kreisky, Bruno 101 Kresimon, Andrea 40, 187 Kristeva, Julia 37 Krolow, Karl 33 Kronauer, Brigitte 54 Krylova, Katya 41 Kucher, Primus-Heinz 40, 71 Kudrnofsky, Wolfgang 345 L Lacan, Jacques 37, 136, 300, 364–365, 372 Lafayette, (Marie-Madeleine) Madame de 260 Lange, Horst 249 Langgässer, Elisabeth 106 Larcati, Arturo 39–40, 89, 98, 213, 255, 287, 326 Larcher, Thomas 396 Lasker-Schüler, Else 87, 331, 333 Lattmann, Dieter 10, 345 Lawrence, David Herbert 116, 122, 337 Lawrence, Thomas Edward 123, 149 Lean, David 392 Leeder, Karen 38 Lehár, Franz 392 Leigh, Julia 61 Lengauer, Hubert 76, 222, 403 Lenk, Elisabeth 35 Lennox, Sara 35, 41, 281–283, 381 Lenz, Hermann 123 Leopardi, Giacomo 211 Lernet-Holenia, Alexander 218 Lessing, Gotthold Ephraim 116 Lettau, Reinhard 17 Leyhausen, Paul 358
Li, Shuangzhi 120 Lindbergh, Charles 112 Lindemann, Gisela 34 Lipski, Leo 19, 257–258, 345, 351 List, Herbert 31 Löcker, Elisabeth (»Bobbie«) 181 Loerke, Oskar 333 Loewe, Carl 392 Lorenz, Konrad 358 Löwenstein, Max Prinz zu 358 Lubkoll, Christine 104 Lühe, Irmela von der 256 Lukács, Georg 106, 121 Lumumba, Patrice 288, 351 M MacNeice, Louis 6, 182, 209 Maderna, Bruno 8 Maeterlinck, Maurice 393 Maetzig, Kurt 384 Magris, Claudio 289 Mahler, Gustav 96–97, 206, 220, 302, 387–389, 392 Mahrdt, Helgard 40 Maier, Katharina 55 Majakowski, Wladimir 351 Malinowski, Bronisław 163 Mallarmé, Stéphane 322 Malle, Louis 141, 384, 393 Manganelli, Giorgio 260, 351 Mann, Heinrich 337 Mann, Thomas 108, 141, 171, 226, 318, 334–335 Mansfield, Katherine 111 Manzoni, Giacomo 396 Marcel, Gabriel 132 Marcic, René 27, 230, 295 Marcuse, Herbert 185, 195–197, 302– 303 Marischka, Ernst (Regisseur der SissiFilme) 293 Markotic, Lorraine 120 Maron, Monika 52–53 Martinis, Romy 58 Martinos, Ernesto de 400 Marx, Karl 4, 123 Maurer, Georg 13 Maurois, André 336 Mauthe, Jörg VII, 181–183 Mayer, Hans 10, 13, 33, 58, 134, 306 Mayröcker, Friederike 54 McCarthy, Joseph R. 281, 342 McMurtry, Áine 319 McVeigh, Joseph 27, 39, 67–68, 183, 357, 402 Mechtenberg, Theo 34 Mehr, Mariella 55 Meier, Christian 272 Menapace, Werner 213 Mevissen, Sofie Friederike 41
Personenregister Meyer, Conrad Ferdinand 230, 306 Meyer-Gosau, Frauke 240 Meyrink, Gustav 141 Michaux, Henri 326, 353 Michel, Karl Markus 32, 98, 276, 286– 287 Miglio, Camilla 400, 402 Mikulicz, Hilde 186 Miller, Henry 122, 134 Minden, Michael 332, 367 Misch, Georg 229–230 Mitgutsch, Anna 54 Mitscherlich, Alexander 275–276, 283 Mitscherlich, Margarete 275, 283 Mocali, Maria Chiara 351 Mollenhauer, Klaus 114 Mombert, Alfred 6, 249, 255, 305 Moníková, Libuše 54 Monk, Egon 14, 58, 121, 273, 385 Montaigne, Michel de 13 Montale, Eugenio 210, 352, 400 Montessori, Maria 113 Morante, Elsa 260, 351, 399–400 Moras, Joachim 7–10, 13, 270, 334 Moravia, Alberto 351 Moretti, Franco 89 Morgner, Irmtraud 35 Mörike, Eduard 312–314 Morris, Leslie 40 Morus, Thomas 308 Moser, Isolde siehe Bachmann, Isolde 217 Moses 148 Mosès, Stephane 305 Mozart, Wolfgang Amadeus 141, 206, 263, 387, 392–394 Münster, Clemens 10, 24–25 Múrolo, Roberto 392 Muschg, Adolf 270 Musil, Robert 3, 7, 9, 11, 39, 73, 77, 87, 115, 126, 139–141, 146, 149, 155, 157, 182, 184, 231, 235, 244, 246, 248, 250, 253–254, 256, 258, 280–281, 289–290, 299, 303, 305–306, 308– 310, 313, 316, 318–319, 326, 328– 332, 335–336, 352, 391 Mussolini, Benito 211, 271 N Nagy, Hajnalka 120 Nancy, Jean-Luc 120 Nebrig, Alexander 165, 315 Neruda, Pablo 351 Nestroy, Johann Nepomuk 316 Neumann, Horst Peter 34 Nick, Dagmar 54 Nietzsche, Friedrich 39, 86–87, 104, 121, 141, 210, 230, 249, 306, 313, 315–316, 364 Nikolaus von Cues (Cusanus) 306
Nono, Luigi 7–8, 40, 110, 202, 218– 219, 387, 396 Nora, Pierre 89 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 39, 134, 312–316, 329, 372 Novotny, Karl 357 O Oberle, Mechthild 40, 83 Oellers, Marianne siehe Frisch-Oellers, Marianne 14 Oelmann, Ute Maria 40, 70, 83 Oelze, Wilhelm 71 Offenbach, Jacques 387, 393–394 Ohloff, Frauke 34 Oki, Sayaka 165 Opel, Adolf 16–17, 98, 239, 354 Orabuena, José 6, 248–249, 305 Otto, Gabriele 37 P Paeschke, Hans 7–8, 10, 191 Palmers, Nina 59 Panofsky, Erwin 107 Papst Paul VI. 292 Paracelsus 120 Parise, Goffredo 352, 400 Pasolini, Pier Paolo 192, 260, 399, 401 Pasternak, Boris 351 Pausch, Holger 34 Pelloni, Gabriella 27, 363 Perkonig, Josef Friedrich 4, 66–67, 102, 177–179, 270 Perrault, Charles 314 Petrarca, Francesco 87, 211, 318–319, 391, 400, 406 Pfister, Manfred 312 Pfister, Oskar 357 Picard, Max 112 Pichl, Robert 25–27 Pietschnigg, Hubert 176 Pilliod, Philippe 11, 14 Piper, Klaus 9–11, 15, 17–18, 24, 126– 128, 130, 145, 159, 202, 217–218, 242, 270–271, 352, 403 Planté, Christine 120 Platen, August von 315 Plath, Sylvia 19, 39, 257–259, 354, 374 Platon 192, 391 Pound, Ezra 255, 286, 333 Powell, Michael 387 Pressburger, Emeric 387 Prévost, Marcel 166 Prokofjew, Sergej 321, 394 Proust, Marcel 10–11, 39, 55, 120, 134–135, 157, 184, 235, 250–251, 254, 286, 321, 334–336 Puccini, Giacomo 96, 264, 400 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 201
431
Q Quaroni, Pietro 281 Quasimodo, Salvatore 210, 352 R Raabe, Wilhelm 320 Radaelli, Giulia 165 Rank, Otto 358 Rapisarda, Cettina 40 Reed, Carol 134, 384, 392 Reich, Wilhelm 172, 369 Reich-Ranicki, Marcel 31–33, 130, 375 Reichel, Käthe 76 Reininger, Anton 83 Reinl, Harald 110 Reitani, Luigi 28, 40, 71, 402 Reitz, Edgar 384 Rétif, Françoise 120, 163 Richter, Gerhard 167 Richter, Hans Werner 6, 15–18, 31, 67, 110, 218, 252, 340, 345, 354 Rickert, Heinrich 229 Riefenstahl, Leni 60 Riegel, Werner 75 Rilke, Rainer Maria 68, 73, 78–79, 87, 112, 141, 177, 179, 218, 225, 299, 307, 318–319, 321, 331–332, 391 Rimbaud, Arthur 52, 112, 141, 149, 242, 253, 319, 322–323, 378 Ritter-Santini, Lea 213 Röhnelt, Inge 37 Rohracher, Hubert 4, 295 Rosenberg, Wolf 8 Rossellini, Roberto 89, 384 Rössner, Hans 14, 18, 20–21, 24, 126– 127, 161, 326 Roth, Joseph 21, 39–40, 77, 169, 289, 291, 313, 328, 330 Rühmkorf, Peter 74–75, 326 S Saar, Ferdinand von 333 Sacher-Masoch, Leopold von 358 Sachs, Nelly 13, 28, 96, 218–219, 222, 245, 306 Sade, Donatien-Alphonse-François de (Marquis de Sade) 123, 141 Sandberg, Peter 182, 209 Sänger, Peter 305 Sappho 80, 87 Sartre, Jean-Paul 74, 132, 149–150, 296, 352 Schaefer, Oda 111 Schaller, Klaus 115 Schallück, Paul 280 Schaunig, Regina 60, 177 Scheler, Max 104 Schell, Maximilian 273 Schiffermüller, Isolde 27, 40, 363
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Anhang
Schiller, Friedrich von 3, 104, 107, 116, 175, 312, 315, 384 Schindel, Robert 79 Schlager, Walter 186 Schlegel, Friedrich 116 Schlenstedt, Dieter 52 Schlich, Jutta 37–38 Schlinsog, Elke 26, 39, 97, 155 Schmerberg, Ralf 59 Schmid-Bortenschlager, Sigrid 291 Schmidt, Arno 13, 159 Schmidt, Tanja 256 Schnabel, Ernst 192 Schneider, Jost 187, 315 Schneider, Reinhold 106 Schnitzler, Arthur 102, 112, 226, 289, 318, 326–328, 372, 393 Scholem, Gershom 19, 302–303, 306, 308 Schönberg, Arnold 141, 299, 335, 392– 393, 395 Schottelius, Saskia 37 Schreckenberger, Helga 189 Schröder, Rudolf Alexander 27, 251 Schroeter, Werner 37–38, 40, 60, 141, 396 Schubert, Franz 392–393, 395 Schubert, Helga 53 Schuller, Marianne 360 Schult, Ursula 59 Schulze, Dr. Helmut 227 Schumann, Robert 392–393 Schuscheng, Dorothe 120 Schuster, Jörg 186 Schwaiger, Brigitte 54 Schwarzenberger, Xaver 59, 145 Schwarzer, Alice 37–38, 60 Schwarzkopf, Elisabeth 141, 393 Schwitzke, Heinz 187–188 Scott, Walter 176 Sedlmayr, Hans 183 Segal, Erich 33, 130 Sennett, Richard 163 Shakespeare, William 16, 39, 98, 205, 318, 320, 327, 363, 373, 384 Shelley, Mary 206 Sibelius, Jean 393 Sica, Vittorio de 384 Sieczynski, Rudolf von 392 Signorelli-Resnevic, Olga 319 Sinatra, Frank 99, 391 Šlibar, Neva 187 Sophokles 355 Spengler, Oswald 104 Spiel, Hilde 6, 20, 50, 218 Spiesecke, Hartmut 192, 194, 203 Stampa, Gaspara 39, 96–97, 179, 307, 318–319, 400 Stanzel, Franz 112 Staudte, Wolfgang 271, 384
Stefan, Verena 53, 148 Stendhal 307, 321–322 Sternheim, Thea 6, 27, 249, 305 Steuer, Wolfgang 59 Stieber, Josef 182 Stifter, Adalbert 218 Stoll, Andrea 41–42, 71, 194, 221 Strauss, Johann (Sohn) 392 Strauss, Richard 138, 200 Strauß, Botho 122 Strawinsky, Igor 206 Strindberg, August 114, 116, 141, 323 Strobel, Heinrich 201, 203 Struck, Karin 55 Suhrkamp, Peter 12 Summerfield, Ellen 34–35, 131 Süskind, Patrick 54 Susman, Margarete 245 Svandrlik, Rita 28, 400, 402 Svevo, Italo 134, 141, 336 Szondi, Peter 19, 306, 340, 352 T Tänzer, Gerhard 54 Tasso, Torquato 87, 388 Taubes, Jacob 302, 306 Tebbe, Thomas 55 ter Horst, Eleanor 314 Thackeray, William Makepiece 112 Thamer, Hans-Ulrich 276 Thau, Bärbel 37 Thiem, Ulrich 34, 331–333 Thimig, Hans 186 Thukydides 355 Tieck, Ludwig 313–314, 372 Timm, Uwe 54 Tolstoi, Leo 134, 141, 320–321, 332, 394–395 Toman, Walter 345 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe 352 Töpelmann, Sigrid 25, 52 Topitsch, Ernst 5, 306 Torberg, Friedrich 184, 218 Trakl, Georg 67, 73, 177, 306, 331 Trebitsch, Gyla 58 Trelawny, John Edward 206 Truman, Harry S. 281 Tschechow, Anton 323 Tucholsky, Kurt 262 Tumat, Antje 201, 203, 205 Tumler, Franz 17 U Uerlings, Herbert 41, 379–380 Ungaretti, Giuseppe 14, 18, 141, 209– 213, 218–219, 222, 242, 257, 259– 260, 271, 352, 399, 405 Unseld, Siegfried 8–11, 13, 16, 19–21, 83–84, 127–128, 159, 161, 217–218, 245, 271, 273, 336, 346, 403
V Valéry, Paul 226 Vanderbeke, Birgit 53 Verdi, Giuseppe 9, 200, 202, 257, 264, 392–393 Vergil 87, 107 Verhoeven, Paul 384 Vernes, Jules 12 Vidor, King 321, 332 Vigny, Alfred de 322 Vigorelli, Giancarlo 351 Visconti, Luchino 9, 89, 202, 204, 384 Vittorini, Elio 245 Vollenweider, Alice 213 W Wagner, Klaus 31 Wagner, Richard 96–97, 141, 315, 387–388, 391–393, 395 Wallmann, Jürgen P. 130, 188 Walser, Martin 15, 20, 33, 218, 245, 279, 286 Walser, Robert 123 Walton, William 192 Wandruszka, Marie Luise 27, 43 Watson, John Broadus 172 Webber, Andrew J. 240 Weber, Alfred 305 Weber, Carl Maria von 264 Weber, Hermann 242 Wedekind, Frank 4, 116 Weidenbaum, Inge von 24–25, 27, 60 Weigel, Hans 5–6, 12, 50, 58, 65, 67– 68, 70, 105, 107, 116, 140, 181, 184, 186, 188, 191–192, 194, 209, 218– 219, 291, 306, 342, 345, 357 Weigel, Sigrid 34, 36, 39, 42, 58, 68, 71, 104, 130, 190–191, 194, 238, 251, 254, 282, 291, 296, 302–303, 305, 365, 368 Weil, Simone 55, 84, 231, 233, 235, 250–251, 254, 281, 284, 305–306 Weiser, Peter 181–182 Weiss, Peter 273, 287, 326, 378 Welser, Ursula von 270 Werfel, Franz 123, 181 Weyrauch, Wolfgang 84 Wiedemann, Barbara 221 Wiesenthal, Simon 17, 218 Wilde, Oscar 15, 323 Wilke, Sabine 380 Wittgenstein, Ludwig 7–8, 34, 77, 90, 92, 105, 112, 118, 141, 229, 231–233, 235, 248, 250, 263, 299–300, 302, 306, 308–309, 322, 340, 344 Wohmann, Gabriele 374 Wöhrle, Peter 341 Wolf, Christa 35, 51–53, 78, 80, 91, 378
Personenregister Wolf, Gerhard 76 Wolf, Konrad 384 Wolfe, Thomas 6, 181–182, 209 Wondratschek, Wolf 33 Wüst, Ludwig 59
Y Yeats, William Butler 226–227 Young, Terence (Regisseur des Historien-Dramas Mayerling) 293 Z Zeller, Eva Christina 37, 54 Zeplin, Rosemarie 53
Zettl, Walter 19 Zilligen, Dieter 58 Zöllner, Martina 58 Zweig, Arnold 357 Zweig, Stefan 226, 318
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