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German Pages X, 412 [408] Year 2020
Markus Fauser / Dirk Niefanger / Sibylle Schönborn (Hg.)
Brinkmann Handbuch Leben – Werk – Wirkung
Markus Fauser / Dirk Niefanger / Sibylle Schönborn (Hg.)
Brinkmann-Handbuch Leben – Werk – Wirkung
J. B. Metzler Verlag
Die Herausgeber
Markus Fauser ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Vechta und leitet die Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann. Dirk Niefanger ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sibylle Schönborn ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
ISBN 978-3-476-02590-6 ISBN 978-3-476-05408-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/9783-476-05408-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
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Inhalt
Vorwort IX
I Biographischer Abriss 1 Wo aber ist das Leben? Markus Fauser 3 1.1 Vechta 1940–1959 3 1.2 Buchhandelslehre in Essen 1959–1962 5 1.3 Köln 1962–1975: Buchhändler, Student, freier Autor 6 1.4 Studium 7 1.5 Im Verlag Kiepenheuer & Witsch 7 1.6 Der Kölner Kreis 9 1.7 »Wie soll das alles weitergehen?« 11 1.8 Der Ausstieg: drei Wochen auf dem Land 12 1.9 Existenzangst, Melancholie, Depression und höchste Ansprüche 13 1.10 Rom, Austin, Tod in London 14 II Kontexte 2 Nachkriegsliteratur Volker C. Dörr 21 2.1 Nachkriegslyrik 21 2.2 Kölner Realismus und Nouveau Roman 24 2.3 1968 und die Politisierung der Literatur 25 2.4 Neue Subjektivität 26 3 Moderne Markus Fauser (3.1); Albert Meier / Ole Petras (3.2, 3.3) 30 3.1 Wiedergewinnen der Moderne 32 3.2 Französische Moderne 33 3.3 Amerikanische Moderne 36 4 Pop-Kultur Heinz Drügh 41 4.1 Beat 41 4.2 Pop 44 4.3 Rock 46
5 Wissensgeschichte I: Sprachkritik Matthias Bauer 50 6 Wissensgeschichte II: Nietzsche Dirk Niefanger 55 7 Wissensgeschichte III: Medientheorie Hans-Edwin Friedrich 58 8 Wissensgeschichte IV: Anthropologie Sibylle Schönborn 63 8.1 ›Neuropolitik‹: Bewusstseinserweiterung durch Drogen 64 8.2 Evolutionstheorie, Verhaltensforschung, Anthropologie 64 8.3 Kybernetik, Neurologie, physiologische Hirnforschung 65 III Konzepte 9 Ästhetik der Präsenz Eckhard Schumacher 69 10 Intertextualität Sibylle Schönborn 78 10.1 Dialog mit literarischen Vorbildern: Zitieren, Adaptieren, Transformieren 78 10.2 Der antiautoritäre Impuls: Kopieren, Plagiieren, Übersetzen, Kollaborieren 82 10.3 Literatur zweiter Ordnung: Sammeln, Arrangieren, Archivieren 84 10.4 Forschungsstand 85 11 Materialität Matthias Bickenbach 88 11.1 Bilder als Bilder 89 11.2 Die Krümel des Realen 90 11.3 Materialität der Medientechnik 91 11.4 Ausblick: Reproduzierte Materialität 91 12 Intermedialität I: Foto, Kunst, Comic Charis Goer 93 13 Intermedialität II: Film Matthias Bauer 97 14 Intermedialität III: Musik Stephanie Schmitt 102
VI
Inhalt
IV Poetologie 15 Literatur-, kunst- und kulturtheoretische Texte Dirk Niefanger 109 15.1 Keine Theorie 109 15.2 Absetzen von der Nachkriegsliteratur 111 15.3 Orientierung am amerikanischen Underground 115 15.4 Ausweitung der Kampfzone: Literaturund Kunstkritik 125 15.5 Auf dem Weg zum neuen Roman 127 15.6 Die Westwärts-Paratexte 130 V Poesie A Frühe Gedichte 139
16 Das erste lyrische Jahrzehnt Markus Fauser 139 16.1 Im Tempo der Tendenzen: Vorstellung meiner Hände (2010) 141 16.2 Existentialismus in Die wiederholte Schöpfung 142 16.3 Verkörperte Reflexion in Vorstellung meiner Hände 143 16.4 Die erste Buchpublikation: Ihr nennt es Sprache (1962) 145 16.5 Lyrische Suche: Eine Metapher für die Stille 147 16.6 Poetologie als (Selbst-)Kritik der lyrischen Formschule 149 16.7 Zwischen Allegorie und neuer Materialität: Le Chant du Monde (1964) 150 16.8 Abstraktion eigener Texte: Ohne Neger. Gedichte 1965 (1966) 154 16.9 Nachbildung des Neuesten: &-Gedichte (1966) 157 B Poplyrik
17 Was fraglich ist wofür (1967) Sascha Seiler 162 18 Godzilla (1968) Hans-Edwin Friedrich 165 19 Die Piloten (1968) Anna Estermann 169 20 Vanille (1969), Wortwechsel (1969/70) Michael Beck 172 20.1 Vanille (1969) 172 20.2 Wortwechsel (1969/70) 174 21 Standphotos (1969) Michael Beck 175 22 Gras (1970) Hans-Edwin Friedrich 179
C Späte Gedichte
23 Eiswasser an der Guadelupe Str. (1974/1985) Markus Fauser 183 23.1 Langgedicht 184 23.2 Poetische Verfahren 184 24 Westwärts 1 & 2 (1975/2005) Markus Fauser / Jörg Wesche 188 24.1 Ausgaben 188 24.2 Entstehung 189 24.3 Form 190 24.4 Buchtitel 191 24.5 Poetologische Aspekte 191 24.6 Arbeitsprozesse 193 24.7 Die beiden titelgebenden Gedichte 195 24.8 Themen und Motive 196 24.9 Orte und Räume 197 24.10 Schnappschuss-Serien 199 24.11 Rezeption und literaturgeschichtliche Stellung 200 25 Fragment zu einigen populären Songs (1975) Sylvia Heudecker 203 25.1 Publikations- und Entstehungs kontext 203 25.2 Fragmentarisierung 203 25.3 Brinkmanns Song 204 VI Prosa A Erzählungen
26 Frühe Erzählungen Moritz Baßler 209 26.1 Was unter die Dornen fiel (1959–1961/1985) 210 26.2 In der Grube (1962) 212 26.3 Die Bootsfahrt (1963) 212 26.4 Die Umarmung (1965) 213 26.5 Raupenbahn (1966) 215 26.6 Kleinere Erzählungen 220 B Roman
27 Keiner weiß mehr (1968) Oliver Kobold 225 27.1 Entstehung und Veröffentlichung 225 27.2 Noch einmal ein neuer Realismus 226 27.3 Verdinglichte Sexualität 227 27.4 Ein dialogischer Text 228 27.5 Präsenzerfahrungen 229 27.6 Entwicklungsroman und Pop-Manifest 230 27.7 Die Rezeption eines Bestsellers 231
Inhalt C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
28 Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (1973) Agnes Bidmon 235 28.1 Entstehungskontext 235 28.2 Aufbau, Form und Inhalt 235 28.3 Multimediales Erzählen: Cut-up-Technik/ Schnitt 237 28.4 Worlds End – Apokalypse oder Utopie? 238 28.5 »Wer spricht?« – Das Notizbuch als Autofiktion 238 29 Rom, Blicke (1979) Sibylle Schönborn 240 29.1 Tagebuch – Brief – Roman 241 29.2 Fortsetzungsroman: Postkartenund Snapshotserien 243 29.3 Roman-Essay: Lesen und Schreiben 244 29.4 Lesen 245 29.5 Schreiben 247 29.6 Forschung 247 29.7 Brinkmanns Goethe-Rezeption 248 29.8 Intermedialität 249 30 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls [...] (Tagebuch) (1987) Matthias Bickenbach 251 30.1 Der Roman eines Tagebuchs 252 30.2 Initiation: Die erste Seite als Exposition 254 30.3 Form und Themen 256 30.4 Welcher Aufstand wofür? 257 31 Schnitte (1988) Markus Fauser 259 31.1 Offene Kunstform 259 31.2 Themen aus der Nova-Welt 261 31.3 Poetologie: Schnitte und Blicke 262 31.4 Ästhetisierung durch Techniken 263 31.5 Augenblicke oder Sprache? 264 31.6 Forschung 264 32 RANDOM NOTES / free from it Stephanie Schmitt 268 D Briefe
33 Briefe an Hartmut Sibylle Schönborn / Dirk Niefanger 271 33.1 Brief und Briefsammlung 272 33.2 Poetik und Poetisches 273 33.3 Werkpolitik 274 33.4 Werkexegese 275 33.5 Philologenschelte 276 33.6 Biographische Bausteine 276 34 Weitere Briefwechsel Sibylle Schönborn 278 34.1 Hans Bender und Hans Henny Jahnn 278 34.2 Ulf Miehe und Alfred Kolleritsch 279 34.3 Ron Padgett 279
VII
34.4 Nicolas Born 280 34.5 Hermann Peter Piwitt 281 34.6 Henning John von Freyend und Helmut Pieper 282 VII Weitere Werke A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen
35 Kollektive Produktion Hans-Edwin Friedrich 287 35.1 Netzwerke 287 35.2 Kollaborationen 289 35.3 Oberflächenübersetzungen 292 B Editionen und Übersetzungen
36 Acid. Neue amerikanische Szene (1969) Stefan Greif 296 37 Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969) Stefan Greif 301 38 Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte (1969) Eva Ulrike Pirker 305 39 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot (1970) Harald Zapf 311 40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen Markus Fauser 315 40.1 Erwin’s (1969) 316 40.2 Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969–1970) 317 40.3 Der Fröhliche Tarzan. Eine neue Zeitschrift für Dichtung aus Köln (1970) 318 C Hörspiele, Hörbücher
41 Hörspiele Olaf Selg / Sibylle Schönborn 320 41.1 Akustischer Kontext 320 41.2 Hörspielhistorischer Hintergrund 321 41.3 Auf der Schwelle – ein ›Neues Kriminal hörspiel‹? 322 41.4 Der Tierplanet: Auseinandersetzung mit Sprache 324 41.5 Besuch in einer sterbenden Stadt: Intertextuelle Wechselwirkungen 325 41.6 Anmerkungen zu den Hörspielsendungen 327 42 Wörter, Sex, Schnitt. Brinkmanns Tonbandarbeiten Cornelia Epping-Jäger 330 42.1 Wörter Sex Schnitt / Die Wörter sind böse 330 42.2 Das Tonband als audioliterales Schreibgerät 332 43 The Last One Jörgen Schäfer 336
VIII
Inhalt
D Filme, Fotoarbeiten
44 Filme Jörgen Schäfer 339 44.1 Schrift und technische Graphien (Foto-, Phono-, Kinematographie) 340 44.2 Die Filme 341 45 Wie ich lebe und warum Stephanie Schmitt 344 46 Chicago Stephanie Schmitt 345 VIII Wirkung und Editionsgeschichte 47 Zeitgenössische Rezeption Enno Stahl 349 47.1 Wahrnehmung in der Presse: Person und Wirkung allgemein 349 47.2 Die Wirkung der Werke im Einzelnen 354 47.3 Rezeption durch andere Autoren 359 47.4 Sonstige Wirkung: Bildende Kunst, Ausstellung, Film, Bühne, Medien 362 47.5 Übersetzungen 364
48 Ausgaben und Nachlässe Markus Fauser 368 48.1 Ausgaben, Bibliographie 368 48.2 Die wichtigsten Nachlässe und Sammlungen 368 48.3 Texte und Probleme 370 Anhang Abkürzungen 375 Werke Fabiana Piacentini 376 Literaturverzeichnis Franziska Vitzthum 392 Die Autorinnen und Autoren 402 Werkregister Marcus Botschan /
Christiane Zauner-Schneider 404
Personenregister 407
Vorwort Periodisch gefeiert, kaum je intensiv gelesen; kultisch verehrt, aber doch nur aus Interesse an der skandalösen Person; zum Klassiker erhoben, aber beim Lesen schon nach wenigen Seiten aufgegeben. So könnte man die heute spürbare Wirkung des jung verstorbenen Autors Rolf Dieter Brinkmann (16. April 1940 bis 23. April 1975) in einem zugespitzten Satz fassen. Die Einen, die sich zu den Fans des Literaten zählen, nennen seinen Namen mit einigem Enthusiasmus, die Andern, die seinem Werk nicht viel Verständnis entgegen bringen können, nehmen seine mittlerweile unumstrittene Stellung in der jüngeren Literaturgeschichte mit Achselzucken zur Kenntnis. Zwar scheinen die Vorbehalte gegen seinen Umgang mit der Herkunft, die gerade auch in seiner Heimatstadt Vechta im Südoldenburger Land umhergeistern, an Bedeutung zu verlieren. Aber der solitären Figur des radikalen Kritikers, der Person des unleidigen, schwierigen und unerträglichen Menschen, der jederzeit in der Lage war, auch besten Freunden sein abweisendes Gesicht zu zeigen, begegnen die meisten Zeitgenossen und Nachgeborenen mit Zurückhaltung. Wenn sie ihm Interesse entgegen bringen, gilt es dieser bemerkenswerten und auffälligen Erscheinung des Literaturbetriebs in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, weniger den Wegen und ästhetischen Irrwegen des Werks. Wie kein anderer am literarischen Leben beteiligter Autor hat Brinkmann vernichtende Urteile gefällt, maßlose Bannflüche ausgestoßen, Widerworte ohne Rücksicht auf eigenen Vorteil und Schaden in die Runde geworfen. Die kultische Verehrung beruht auf dem vom Autor nachdrücklich gepflegten Image des verkannten Genies, des missachteten Einzelkämpfers, einem Bild, das mit den tatsächlichen Erfolgen und dem Werk wenig zu tun hat. Bis heute geht von dieser Geste der Abgrenzung von allem und jedem eine anziehende Wirkung aus. Selbst das hervorragend gelungene filmische Porträt, das Harald Bergmann unter dem Titel Brinkmanns Zorn unter Verwendung von originalen Materialien im Jahr 2007 einer staunenden Öffentlichkeit präsentieren
konnte, zeigt die widerständige Kämpfernatur, die an angeblich widrigen Umständen zugrunde gehen musste – und damit eine Lieblingsfigur des postmodernen Zeitalters. Ganz ohne Zweifel befördert auch hier der frühe Unfalltod die Überhöhung Brinkmanns. Mythen über Mythen, das scheint aus heutiger Sicht das größte Problem zu sein, will man eine gerechte, an Zusammenhängen orientierte wissenschaftliche Aufarbeitung voranbringen. Den Mythos Brinkmann zu zerlegen, ist gewiss keine kleine Aufgabe und eine der Absichten dieses Buches. Immer wieder begegnen auch heute noch Arbeiten, die ins Verklärende abgleiten, seine Urteile kritiklos übernehmen, wenn sie nicht einfach hagiographischen Intentionen nachgehen. Ein Klassiker wird Brinkmann wohl nie werden, das hätte auch seiner ganzen Anlage widersprochen und seinen schärfsten Protest hervorgerufen. Vor jeder Form von Mythisierung aber kann nur die gründliche literaturgeschichtliche Einordnung schützen, die auch kritische Wertungen aus informierter Sicht nicht scheut und den in ihrer Zeit verankerten literarischen Experimenten ohne vorschnelle Begeisterung nüchtern begegnet. Man muss nicht jeder starken Formulierung gläubig anhängen, wenn man sie Wert genug findet, erklärt zu werden. Und wer sich die Mühe macht, das Umfeld des Literaten Brinkmann zu erkunden, seinen Lesegewohnheiten nachzuspüren, wird nicht nur reich belohnt, sondern erstaunliche Entdeckungen machen. Abgesehen vom biographischen Schicksal, das untrennbar mit der nachhaltigen Wirkung verbunden ist: Der erste wirkliche Erfolg Brinkmanns trat nach dem Roman Keiner weiß mehr von 1968 ein, er fand erst wieder 1975 seine Bestätigung mit dem posthumen Gedichtband Westwärts 1&2, der in kürzester Zeit viele Auflagen erzielte, und kulminierte vier Jahre nach dem Tod 1979 in der ersten Nachlassedition unter dem Titel Rom, Blicke, dem Buch aus Briefen und Postkarten über den Aufenthalt in Italien. Diese beiden zuletzt genannten Bücher wurden als Skandalbücher wahrgenommen und haben den Mythos des Autors als »enfant terrible« des literarischen Lebens stark befördert.
X
Vorwort
Aber schon die darauf folgenden Nachlasseditionen, die Gedichte Eiswasser an der Guadelupe Str. und der Band mit den Erzählungen von 1985, haben nicht annähernd dasselbe Interesse erfahren wie die Bücher der siebziger Jahre. Die Erzählungen waren über zwanzig Jahre in der Erstausgabe lieferbar, denn längst hatte die Wiederkehr des Erzählens begonnen und man las damals die Romane von Gabriel García Márquez, Umberto Eco, Sten Nadolny oder Christoph Ransmayer, nicht mehr die experimentelle Prosa des »Nouveau roman«. Einer der neueren Mythen ist schließlich der vom Popliteraten oder vom Urvater des Pop. Selbstverständlich muss Brinkmann ab Mitte der sechziger Jahre im Kontext der Popkultur gelesen werden, selbstverständlich hat er seinen Anteil, wenn nicht den größten Anteil an der Vermittlung amerikanischer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt. Und bekanntlich war er einer der ersten, die beim Schreiben von Gedichten unter dem übermächtigen Eindruck des Rock’n’Roll standen. Selbstverständlich spielt die Popmusik für die Alltagskultur in der damals jungen Generation sowie für ihr Lebensgefühl die schlechthin herausragende Rolle. Dem Sound dieser Zeit nachzugehen, gehört zu den Aufgaben jeder Darstellung der Texte Brinkmanns, schon weil von der Musik in dieser Generation eine Art Lebensorientierung erwartet wurde. Nur zu schnell aber wird Brinkmann heute in einem Atemzug genannt mit der neuen Popliteratur der neunziger Jahre, für die der Begriff geschaffen wurde. Gerne erscheint er da als Urvater des Pop. Und in diesem Zusammenhang erfolgt die Berufung auf Brinkmann sicher zu Unrecht. Denn die neuen Popliteraten unterscheiden sich in ihrem unverkrampften Umgang mit Konsum und Medien fundamental von Brinkmanns Verständnis. Wir müssen auch akzeptieren, dass Brinkmann sich schon 1971 davon wieder abwendet. Der Blick vom Anfang her, vom Beginn seiner Arbeit in den fünfziger Jahren mit Texten der französischen Moderne, belegt dann auch ganz andere Prägungen und Hintergründe. Sie haben sich durch die sehr kurze Phase der Beschäftigung mit Pop hindurch erhalten. Seine gesamte Prosa hatte ohnehin nichts mit Pop zu tun und nur ein sehr kleiner Teil seiner Gedichte ist davon angeregt. Am tiefsten aber unterscheidet sich Brinkmann von der jüngeren Literatur durch seinen hohen, ja höchsten Anspruch an eine ernsthafte Literatur. Jede Orientierung am kommerziellen Erfolg verwirft er jederzeit, sobald er den für ihn ausgemachten Zweck der Literatur gefährdet sieht. Sie erscheint ihm selbstverständlich als das einzige Instrument gründlicher Erkenntnis menschlicher Bedingungen. Immer
wieder geht es ihm um die Befreiung des Menschen, um ein neues Bewusstsein jenseits gesellschaftlicher Begrenzungen. Und natürlich dienen auch die ästhetischen Versuche, die Formexperimente diesem Zweck einer umfassenden Einsicht in die Lage des modernen Menschen. Vielleicht liegt heute gerade darin eine Herausforderung des Werks, an die anzuknüpfen wäre. Unser Dank gilt vor allem dem ehemaligen Bibliotheksdirektor der Universität Vechta, Dr. Gunter Geduldig, der in mühevoller Suche nicht nur eine fast vollständige Sammlung Brinkmann aufgebaut, sondern gemeinsam mit Claudia Wehebrink in der Universitätsbibliothek Vechta die Personalbibliographie zum gedruckten Werk Brinkmanns erarbeitet hat. Sie wird seit vielen Jahren von Claudia Wehebrink periodisch fortgeführt und ist online benutzbar. Mit den genannten Unternehmen waren wichtige Grundlagen für die Arbeit am Handbuch bereits geschaffen. Auch die Sicherung von Informationen der Zeitzeugen gehört zu den bleibenden Verdiensten von Gunter Geduldig. Diese Vorarbeiten konnten in jüngster Zeit durch Ankäufe von Nachlässen erweitert werden, so dass in Vechta mittlerweile die größte Sammlung von Handschriften Brinkmanns zu finden ist. Die Herausgeber danken den Autoren der Artikel, sowie den Mitarbeitern in Düsseldorf, Erlangen und Vechta bei der redaktionellen Herstellung des Bandes. Mit diesem Handbuch liegt die erste Gesamtdarstellung zum Werk Rolf Dieter Brinkmanns vor. Der Versuch, alle Texte zu berücksichtigen, hat auch schnell die Grenzen des Unternehmens offengelegt. Bisher waren nur einzelne Texte Gegenstand intensiver Forschung und für wenige Texte findet sich eine größere Zahl von Forschungsarbeiten. Andere Texte wurden fast gar nicht behandelt. In diesen Fällen dürfen die Herausgeber auf Verständnis hoffen. Und natürlich auf Abhilfe. Verstanden als Anregung zu intensiver Auseinandersetzung mit einem lohnenden Gesamtwerk wie auch mit sperrigen Texten, die eine ästhetische Herausforderung darstellen, verbinden die Autoren der Artikel die Hoffnung auf eine zukünftig größere Leserschaft. Wenn das Handbuch seinen wahren Zweck erreicht, nämlich die Leser an das Werk Brinkmanns heranzuführen und sie auf seine Texte neugierig zu machen, hat es alles erreicht, was von ihm zu erwarten war. Im Frühjahr 2020 Markus Fauser (Vechta), Dirk Niefanger (Erlangen), Sibylle Schönborn (Düsseldorf)
I Biographischer Abriss
1 Wo aber ist das Leben? Wie auch immer die Nachwelt ihn einschätzt: Ob sie glaubt, er wollte am Ende gar kein Dichter sein, ob sie meint, er sei bloß auf die Welt gekommen, um zu krakeelen, ob sie ihn für einen oberflächlichen Arrangeur von aufgeschnappten Songs, Textzeilen und Heftchenreklame oder für das einzige Genie der Nachkriegsliteratur hält, ob er als das unerträgliche Enfant terrible des Literaturbetriebs dasteht, das zielsicher alle Freunde vergrault hat, oder ob er zum letzten großen Erneuerer und Grenzgänger zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur stilisiert wird – gleich, wo er stehen darf und ganz gleich, ob seine Schreibweise tatsächlich als Herausforderung überdauert – woher und wie dieser Autor zum Schreiben kam, bleibt im Dunkel. Wann und wie er seine Urwahl traf, wann und warum jenes unbedingte Sich-Einsetzen begann, durch das jeder Einzelne darüber entscheidet, was er ist und sein wird, wann und weshalb er genau empfand, dass er ein anderer geworden war, können wir nach Lage der Dinge nicht erklären. Und die Aufgabe, selbst ein so kurzes Leben auch nur in den wichtigsten Daten festhalten zu wollen, steht vor ungeahnten Schwierigkeiten. Wer ihn kannte, hat wohl auch keinen Vorteil, denn einerlei, ob vor der Neugier der Nachwelt geschützt oder durch strenge Nachlassverwaltung zurückgehalten, das Fehlen wichtiger Details provoziert geradezu die Spekulation. So muss auch der folgende Versuch an den Grenzen des Belegbaren Halt machen und das Wahrscheinliche aus dem bloß Vermuteten oder Naheliegenden erschließen.
1.1 Vechta 1940–1959 Dass zunächst andere jedes Leben prägen, bleibt besonders für Brinkmann eine bestimmende Herausforderung. Geboren am 16. April 1940 im Marienhospital in Vechta i. O. (in Oldenburg, Land), wächst er in einem katholischen Elternhaus auf, der Vater Josef Brinkmann (1913–1967), Schriftsetzer bei der Oldenburgischen Volkszeitung, arbeitet seit 1946 als Büroangestellter beim Finanzamt Vechta (Fauser 2018, 84). Der Bruder Karl-Heinz wird 1944 geboren. Nach der
Volksschule Vechta 1946–1951, die Familie wohnt mittlerweile nicht mehr am Fliegerhorst, sondern am Kuhmarkt 1 in Vechta, wechselt Brinkmann auf das humanistische Gymnasium Antonianum, in dem er die Klasse 9 wiederholt und in der Klasse 10 wegen mangelhafter Leistungen in Latein, Griechisch, Mathematik und Chemie scheitert. 1957 während der Proben zur Aufführung des Schultheaters stirbt die Mutter Maria Brinkmann (geb. 1908), im Krieg Küchenhilfe am Fliegerhorst und Hausfrau, an Brustkrebs (Geduldig/Schüssler 1995, 47). Dass der Vater noch einmal heiratet, verstört den Sohn. Vom 17. März 1958 datiert die Abmeldung vom Gymnasium. »Der Schüler geht ins Berufsleben über« steht im Personalbogen, der Vater hat eine Lehrstelle beim Finanzamt Oldenburg besorgt, wo Brinkmann bis Herbst 1958 als Steueranwärter für die mittlere Laufbahn tätig ist, die er bald ausschlägt. Schon im September 1958 meldet er sich am Clemens-AugustGymnasium in Cloppenburg an, erscheint aber nicht oft zum Unterricht und versucht im Oktober 1958 am Gymnasium Meppen die schulische Laufbahn weiterzuführen, die er aber ebenfalls abbricht. Es folgen Gelegenheitsarbeiten bei der Bahn und in der Landwirtschaft. Er lebt in einem emsländischen Dorf bei einem Freund. Seit der Schulzeit begleitet ihn das Insuffizienzgefühl wegen der Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen, das Schulgeld für das Gymnasium kostet die Familie Opfer, sie zieht in Vechta mehrfach um, der fehlende Grundbesitz gilt in der Region als Makel. Generell beherrscht ihn das Gefühl der Unsicherheit (Erk, 302), das sich immer wieder in heftig vorgetragenen Ressentiments gegen Bildung Bahn bricht. Später werden die mangelnden Sprachenkenntnisse die Arbeit an den Übersetzungen behindern: »Er hat ja nur SchulEnglisch gesprochen«, erinnert sich der Freund RalfRainer Rygulla (Geduldig/Sagurna 1994, 99; RB, 388), kein Französisch, wie er selber über seine Reise nach Paris per Anhalter im April 1958 sagt (RB, 327). Andererseits entwickelt er sehr früh und über das Übliche hinausgehende Interessen für die Literatur. Lesevorlieben wie die Heftchen (Erk, 303, 289), die Romane von Karl May, Friedrich Gerstäcker in der Kindheit und erste literarische Fertigkeiten ab 1956/57 sind belegt. Nietzsche, Benn und Sartre fesseln ihn, in
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_1
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I Biographischer Abriss
einem Schulaufsatz beschreibt er eine Wunschreise nach Paris zum Grab Heines (Geduldig 1995, 51). In der örtlichen Buchhandlung Korth stöbert er gerne (Erk, 233, 258; Geduldig/Sagurna 1994, 34) und verfasst erste Gedichte, meist Jugendlieben wie Gisela Reinholz (geb. 1941) oder Elisabeth Piefke (geb. 1939) gewidmet. Der Schüler richtet seit 1957 Briefe an Hans Bender (1919–2015) mit Einsendungen für die Akzente und schreibt am 2. April 1956 an Gottfried Benn, dessen Gedichte und Essays er schon intensiv studiert hat (Geduldig/Sagurna 1994, 40). Von seinem Deutschlehrer Georg Neumann erhält er im März 1958 ein fulminantes Gutachten über seine literarischen Fähigkeiten. Er legt es seinen Gedichten bei, die er ohne Erfolg an die Lyriker Manfred Hausmann (1898–1986) und Wolfgang Weyrauch, Lektor bei Rowohlt von 1950 bis 1958, schickt (Fauser 2018, 88 ff.). In den beiden letzten Vechtaer Jahren war er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Rhetorika Vechtensis am Gymnasium, die auch eine kleine Bücherei besaß (Zimmers 1989). Die Schüler trafen sich regelmäßig an Sonntagen, um nach strengen Regeln literarische Texte vorzutragen oder kleine Vorträge zu halten. Das Protokollbuch (Geduldig/Schüssler 1995, 60, 64 ff.), eine Kladde, dokumentiert in meist zwei- bis dreiseitigen Zusammenfassungen den Verlauf und die wesentlichen Thesen oder auch Vorfälle, die nicht selten zu hitzigen Diskussionen und Strafaktionen führten. Im Alter von 16 Jahren tritt er mit Vorträgen über den Existentialismus hervor. Die Reihe beginnt am 13. Mai 1956: »Im ausgearbeiteten Vortrag sprach Brinkmann über das Thema ›Der Existenzialismus und sein geistiges Konzentrat‹. Kritiker Diekmann erkannte lobend an, daß Brinkmann sein Thema vorher bekanntgegeben hätte. Er kritisierte jedoch, daß der Vortragende nicht genügend das Wesen des Existenzialismus erklärt hätte. Diekmann bemängelte ferner an den Ausführungen Brinkmanns, daß die Zuhörerschaft z. B. über Begriffe wie ›die intellektuelle Mode‹ oder der ›existenziellen Prosa‹ vollkommen im Unklaren gelassen wurde. Der Kritiker erklärte, daß wir durch ein gewisses konfessionelles Vorurteil nicht unvoreingenommen über den Existenzialismus urteilen könnten, was Brinkmann in seinem Vortrag gefordert hatte« (Fauser 2011, 107). Schon zwei Wochen später, am 27. Mai 1956 folgte der zweite Vortrag, in dem Brinkmann »den Begriff Existentielle Prosa« erklärte und dann über den »Aufbau des Existentialismus« sprach. Am 3. Juni 1956 beschließt er seine Reihe: »Im ausgearbeiteten Vortrag beendete Brinkmann seine Vortragsreihe mit Unter-
suchungen über die linksradikale Seite des Existentialismus. Er gab in seinem Vortrag Charakteristiken führender Existentialphilosophen wie: Martin Heidegger, Jean Paul Sartre. Heidegger, so sagte er, habe die Vorstufe zu Sartre gelegt. Im Ganzen sei die existentielle Form Sartres die schärfste in dieser philos. Richtung. Brinkmann ging darauf auf das Hauptwerk Sartres ein: ›Das Sein und das Nichts‹. [...] Sartre stellt uns ein einfaches Beispiel vor Augen: Ein Esel jagd [sic] einen an einen Stab befestigten Maiskolben nach, den er aber nie erreichen kann. Zudem sei der Mensch von Geburt an zur Freiheit und zum Leben [verbannt] verdammt. Zum Gottesproblem sage Sartre: Der Mensch besitzt vollständige Freiheit, also kann kein höheres Wesen über ihm stehen. Der Geist wird als Geist gedacht, aber ein Geist kann nur aus sich selbst Geist hervorbringen. [...] Kritiker Diekmann bemängelte das Fehlen des Existenzphilosophen Jaspers und legte dar wie wir gerade an Jaspers die Struktur der E – Philosophie erkennen könnten. Brinkmann lehnte jede Stellungnahme zur Kritik ab, da er fürchtete, daß der Vortrag zerredet werden würde« (Fauser 2011, 108 f.). Zuletzt sorgt Brinkmann für einen Tumult, weil die katholischen Schüler sich weigern, weitere Texte von Sartre anzuhören und Brinkmann sie mit der existentialistischen Auslegung einer Bibelstelle schockiert. Erste Erfahrungen mit der modernen Literatur sammelt er in Vorträgen über Benn und Brecht, AlainFournier, Jens Rehn, Rimbaud, August Stramm, Hesse und in rezitierten Gedichten von Schnurre, Pound, Heine und Rilke sowie eigenen Texten (Schwäne im Herbst, Im Regen, Später, Du). Eine weitere Aufgabe der Rhetorika bestand darin, jährlich ein Theaterstück aufzuführen. Bei Molières Der Geizige ist Brinkmann im Herbst 1956 Regieassistent. Sein Auftritt in der Hauptrolle als Kriegsheimkehrer Beckmann in Borcherts Stück Draußen vor der Tür im Oktober 1957 wird von der lokalen Presse hoch gelobt (Geduldig/Schüssler 1995, 60 ff.; Fauser 2018, 23–32). Im Rückblick gestaltet sich die Zeit in Vechta als eine zwar geordnete, aber dennoch ruhelose Jugend. Das erinnerte Leben kennt die Bombennächte, während der Kindheit wohnte die Familie in der Nähe des bombardierten Flugplatzes (Erk, 233, 244), eine »namenlose Bedrohung«, sowie vor allem die als bedrückend erfahrene Situation im Elternhaus (Erk, 191 ff., 308). Prägend erscheint auch der Katholizismus in Vechta, jeden Montag geht die Schule geschlossen zur Kirche, ein Foto zeigt Brinkmann 1949 als Messdiener (»Terror der Religion«, »katholisch verseuchte Bevölke-
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rung«, BrH, 112), die Kleinstadt als Erfahrungsraum (»Krüppel- und Zwangswelt«), das Landleben überhaupt (»erstarrtes Dasein«, Erk, 109). Aufmerksamkeit erregen die Radiosender der Besatzungsmächte AFN, BFN (man lebt in der britischen Besatzungszone) oder die Musikbox der Eisdiele, die seine Begeisterung für Rockmusik wecken. Immer wieder kommt er später auf diese frühe Erfahrung seit 1955/56 zu sprechen (Erk, 259; BrH, 76, 116; Fauser 2018, 11–22). Das »Muster [...], das mich erledigen wollte« (Erk, 246) formt der Autor später in eine Lebensgeschichte des Leidens um, bestehend aus einer psychischen Verstümmelung seit der Elterngeneration, die bis zur Identifikation mit den Kriegsopfern reicht (Späth 1989, 6). Der angstbesetzten Erfahrung des jungen Schülers kam gewiss der damals als Provokation empfundene Existentialismus gelegen, immerhin stand Sartre auf dem Index Romanus, und die von den Mitschülern Bernd Witte und Elisabeth Piefke überlieferte Vorliebe für schwarze Kleidung signalisierte den Bohemien bzw. die Außenseiterrolle des Existentialisten (Fauser 2018, 33–43), die Brinkmann ebenso kultivierte wie die bereits zur Schau getragene Pose des informierten Schriftstellers (Geduldig/Sagurna 1994, 51, 57. Zur Vechtaer Zeit ausführlich: Fauser 2018).
1.2 Buchhandelslehre in Essen 1959–1962 Als letzte Chance erscheint dem Vater die Buchhandlung in Essen, zu der Josef Brinkmann den Kontakt herstellt. Im Juni 1959 verlässt Brinkmann Duisburg, wo er zwischenzeitlich in der Familie eines Küsters untergekommen war (Erk, 243) und zieht in das Ludwig-Wolker-Heim in der Elisenstraße 64 in Essen. Das vom Caritasverband unterhaltene Haus mit siebzig Plätzen für die katholische Jugend nahm Lehrlinge aus Handwerksberufen und kaufmännischen Berufen auf. In der katholischen Münsterbuchhandlung, für die Aufnahme muss er einen kleinen Aufsatz schreiben, und an der Berufsschule Essen beginnt er die Lehre, im April 1960 lernt er Ralf-Rainer Rygulla (geb. 1943) kennen, beide wohnen im Lehrlingsheim im selben Zimmer. Im ersten Jahr müssen die kaufmännischen Gehilfen im Keller Bücher packen, Botengänge erledigen und Liturgica verkaufen. Weihwasserbecken, Rosenkränze und Gebetbücher gehen durch ihre Hände. Interesse schöpfen sie nur an der modernen Literatur, die hier erstmals leichter zugänglich wird. Die Münsterbuchhandlung führt auch eine gut sortierte belle-
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tristische Abteilung. Das Verhältnis zum Lehrmeister Bruno Festag ist allerdings getrübt durch Vorfälle wie das »Bücherklauen«, von dem auch Rygulla berichtet, und die anschließende Durchsuchung seines Zimmers. Brinkmann geht nur noch widerwillig in die Buchhandlung: »endlose häßliche Kette von Eindrücken an Essen,3 Jahre Terror,Angst,Wahnsinn, Drohungen,Entlassungen,Schreie,Schnüffeln,Runter schleichen,Pack-Keller(:sah 1 Jahr lang nicht Tageslicht/:& die öden Wartestunden vor der Wahn-Buchhandlung morgens,das Angerastkommen des Wagens,der Schlüssel wird rausgeworfen aufs Pflaster/: da soll ich keinen Haß haben?An das Gute glauben? Ich weiß!)« (Erk, 220). Das Heimleben erfährt er als beengend, ihm fehlt der Privatbereich, man lebt in Dreibett-Zimmern, Gemeinschaftskost im Speisesaal, Schippen im Kohlekeller, fast ohne Geld, denn für die Lehre bekommt man gerade einmal DM 100 im Monat. Aber der Leiter des Heims, Josef Breuer, berichtet von Kurzgeschichten Brinkmanns für die Adventsfeier und vom Theaterspiel, in dem er wieder glänzt. Ein Foto von der Aufführung der Posse Liebe übers Kreuz von Gerhard Schumann im September 1959 zeigt ihn im Narrenkostüm mit Schellenkappe. Die strenge Kontrolle führt zu Spannungen und zur Ausweisung aus dem Heim (»rausgeschmissen, im Kolpinghaus gewohnt, Zimmer bei Kärsten, zum ersten Mal ruhig«) sowie zum endgültigen Bruch mit dem Vater, der sich nun weigert, noch einmal zu helfen (Erk, 192, 220). Volljährigkeit und Geschäftsfähigkeit erreichte man damals erst mit 21 Jahren. In der Mansardenwohnung in der Schinkelstraße 57 bei Kärsten scheint ein freieres Leben möglich. Rygulla berichtet vom gemeinsamen Bohème-Dasein, den Essener Jazztagen, Konzerten in der Grugahalle mit Dave Brubeck 1960, Thelonious Monk, Gerry Mulligan (Erk, 193), man besuchte die Jazzkneipe auf der Rüttenscheider Straße, den Filmklub im Haus der Technik und führte bei einer Party eine Bücherverbrennung durch (Rygulla 1995, 52). Gemeinsam mit Rygulla liest und diskutiert er intensiv, vor allem Hans Henny Jahnn, E. E. Cummings, Henry Miller, René Char, Jacques Prévert und Alain Robbe-Grillet. Louis-Ferdinand Céline wird zur wichtigsten Entdeckung und zum bewunderten literarischen Vorbild in dieser Zeit (Rygulla 2008, 114–116). Schon am 2./3. Juli und noch einmal im September 1959 schreibt er an Hans Henny Jahnn unter dem Eindruck der Lektüre von Perrudja und Die Nacht aus Blei. Noch ohne eigene Publikationen präsentiert er sich dem arrivierten Schriftsteller gegenüber in der
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Pose der einsamen, in ihrer »Neigung und Veranlagung für Literatur« durch Pfarrer und Honoratioren unterdrückten Dichternatur und möchte mit ihm über das Schreiben reden. Er fühle, »wie mich etwas ergriffen hat«, er »zögere« noch, in den Bereich »einzudringen, wo das Leben unter dem Zwang des Schöpferischen verläuft«, habe aber sein Talent entdeckt und möchte nun gegen alle Borniertheit endlich seiner Bestimmung folgen. Insgesamt ist die Zeit in Essen auch die bedeutende Phase der literarischen Inkubation, er schreibt sehr viel, »auf geliehenen Schreibmaschinen« (RB, 335), korrigiert mit Tinte (Rygulla 2008, 114) und schafft tatsächlich die erste Publikation im Jahr 1960. Im Aprilheft der vom Jugendamt der Stadt herausgegebenen Zeitschrift Essener Jugend kann er das kurze Prosastück Straßenszene unterbringen, der Titel ist eine Anleihe bei Jahnns Strassenecke von 1931. Das ermuntert weitere Versuche. Er reicht ohne Erfolg Texte beim Merkur und bei Akzente ein, erzählt Hans Henny Jahnn von einem Roman und Hans Bender von einem Lyrikband. Weitere Veröffentlichungen einzelner Gedichte erscheinen im selben Jahr in Zeitschriften wie Neues Rheinland, in Fliegende Blätter oder blätter + bilder, aber erst Victor Otto Stomps (1897–1970) bringt in seinem Lyrik-Jahrbuch Alphabet 1961 drei Gedichte, die der Autor, sichtlich bemüht um einen wohlklingenden Künstlernamen, mit der prätentiösen Schreibung »Diether Brinkmann« unterzeichnet. Ein Teil der Gedichte aus dieser Zeit ist im Nachlass seines Schulfreundes und Mitbewohners in Köln, Peter Hackmann (1940–2010) erhalten und in Vorstellung meiner Hände von 2010 publiziert. Für die Prosa ist das Jahr 1959 markant, in dem er in Essen mit der Niederschrift der sechs kurzen, posthum 1985 gedruckten Erzählungen Was unter die Dornen fiel begann. Seinen ersten Erfolg wenige Jahre später in Köln wird auch die Prosa bringen. Ohne Zweifel: Die Ausbildung zum Buchhändler in der Essener Zeit schafft die Grundlage für ausge zeichnete Kenntnisse der Gegenwartsliteratur, für den Überblick über alle wichtigen Tendenzen, insbesondere auch bei den Übersetzungen aus der fremdsprachigen Moderne. Der Zugriff auf Zeitschriften, Anthologien wie auf alle neuen Taschenbuchreihen, in denen die großen Verlage Klassiker und Neuerscheinungen der internationalen Literatur einem hungrigen Leser der Nachkriegszeit präsentierten, bleibt eine zu erforschende Voraussetzung der Texte, die in dieser Zeit erstmals in breiterem Umfang entstehen. »Lehre eines kaufmännischen Gehilfen mühsam be-
endet nach zweieinhalb Jahren« wird er später in einer Sendung für den WDR vom 26.1.1974 sagen, die einzige Stelle, an der er sich öffentlich darüber äußert. Der Abschluss 1962 ist von der IHK Essen bestätigt. Köln, das Brinkmann beim Lehrgang an der Deutschen Buchhändlerschule kennenlernt (BrH, 108), eröffnet zwei neue Möglichkeiten: die Arbeit in der Universitätsbuchhandlung Witsch und die Chance, ohne Abitur mit abgeschlossener Berufsausbildung doch noch zum Studium zugelassen zu werden. Im April 1962 zieht er um.
1.3 Köln 1962–1975: Buchhändler, Student, freier Autor Die Arbeit in der Buchhandlung von Joseph Caspar Witsch (1906–1967) markiert den Neubeginn und den Eintritt in den Literaturbetrieb. Witsch war nicht nur Inhaber und Leiter des 1948 gegründeten Verlags Kiepenheuer & Witsch, seit 1950 in Köln, einem der bedeutendsten der Nachkriegszeit, sondern lud häufig Autoren in die Universitätsbuchhandlung zu Lesungen oder organisierte im Umfeld kulturell-politische Veranstaltungen (Möller 2014, 491 ff.). Witsch war außerdem seit 1959 Vorsitzender des Verlegerausschusses im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und damit auch an der Westdeutschen Buchhändlerschule (bis 1961 in Köln angesiedelt) tätig. Brinkmanns Verlag ist neben den Rundfunkanstalten Deutsche Welle, Deutschlandfunk und dem WDR, alle waren Anziehungspunkte für Autoren und Komponisten aus ganz Deutschland, sicher die wichtigste Institution beim Versuch, Köln zur Kunstmetropole auszubauen. Bei Witsch arbeitete neben Hartmut Sander (Erk, 132) auch Klaus Willbrand (geb. 1941). Aus der gemeinsamen Tätigkeit in der Buchhandlung heraus entstand ein Kleinverlag und Brinkmanns erstes Buch, das er mit Willbrand realisierte. Vom 15. Juni 1962 datiert die Vorvereinbarung und am 27. August 1962 schlossen sie den Vertrag für die Gedichtbroschüre Ihr nennt es Sprache (V, 92); sie sollte die einzige Publikation des Verlags, aber nicht Brinkmanns einziger Versuch einer Verlagsgründung mit Sander bleiben. Brinkmann wohnt zunächst in der Teutoburgerstr. 9 bei Köhler, nur wenige Meter von Heinrich Bölls Geburtshaus entfernt, dann in der Engelbertstr. 65 im vierten Stock zur Untermiete bei dem Maler Georg Esser (geb. 1928), mit dem Brinkmann allem Anschein nach in intensivem Austausch stand. In der studentischen Wohngemeinschaft mit drei Zimmern, Küche, Bad, wohnen bis 1965 auch die Freunde Peter Hack-
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mann (seit Januar 1963) und Helmut Pieper. Seine spätere Frau Maleen Kramer (geb. 1940) lebte zunächst in Müngersdorf (Erk, 309 ff.), sie war zum Studium der Biologie für das Lehramt an Volksschulen von Gütersloh nach Köln gekommen. Wann sie sich kennengelernt haben (Köln 1962, Erk, 250, 277), entzieht sich der Nachprüfbarkeit. Auskunft über ihre Geschichte geben nur vereinzelte Blätter im Tagebuch (Verlobung in Paris 1963; Erk, 98) und die bisher publizierten Briefe. Wir verfügen über einige Daten überhaupt nur, weil der Autor wie kein anderer sein eigenes Leben zum Material nahm, so dass zwangsläufig auch private Lebensäußerungen ihren Niederschlag in den eigenen Aufzeichnungen oder von Freunden fanden. Da wir sie aber noch nicht durch archivalische Dokumente ergänzen können, müssen sie vorläufig besseres Wissen ersetzen. Wohl erst nach der Heirat am 24. Juli 1964 (Erk, 311) und der Geburt ihres Sohnes Robert am 1. November 1964 zieht Maleen in die Wohnung in der Engelbertstraße, die sie fortan allein bewohnen. Heinrich Vormweg hat die Wohnung der kleinen Familie und den Arbeitsort bei seinem Besuch im Winter 1965 beschrieben. In der Mitte des Zimmers sieht er den kleinen Tisch, an dem Brinkmann arbeitet, den Plattenspieler, verstreut die Schallplatten, die wenigen, aber sehr gut sortierten, vollgepfropften Bücherregale, welche von ausgezeichneter Kenntnis aktueller Tendenzen zeugten, die von Bildern übersäten Wände, meist Fotos aus Zeitschriften, Striptease-Girls, ein paar originale Ölbilder von Georg Esser. Gewöhnlich arbeite er vom späten Vormittag an, von etwa elf bis sechzehn Uhr, danach und abends laufe er durch die Stadt auf der Suche nach Material. Einige Fotos von Henry Maitek aus dem Jahr 1969 zeigen ihn an seinem Schreibtisch (Geduldig/Schüssler 1995).
1.4 Studium Wie konnte Brinkmann ohne Abitur studieren? Der Kultusminister des Landes NRW rief in einer Annonce in der Kölnischen Rundschau vom 11. März 1961 gerade Interessenten wie Brinkmann dazu auf: »Eine Chance für begabte junge Männer und Frauen mit Reifeprüfung oder Begabtensonderprüfung bietet der Beruf des VOLKSSCHULLEHRERS« (Heinen 1985, 128) und warb für die Pädagogischen Akademien des Landes. Seit 1962 gehörte die katholische Pädagogische Akademie in Köln zur PH Rheinland. Bei seiner Bewerbung für das Stipendium in der Villa Massimo
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reichte Brinkmann zum Jahresbeginn 1972 einen »Werdegang« ein, in dem er darauf Bezug nahm. Zugleich findet sich in diesem offiziellen Schreiben ans Ministerium die einzige Auskunft über diese Frage, denn spätere Selbstporträts lassen zwischen 1960 und 1964 gerne eine Lücke und verschweigen sogar den Abschluss zum Buchhändler: »Mittl. Reife. Von 1959– 1962 Buchhändler-Lehre, Abschlußprüfung als Einzelhandelskaufmann. Tätigkeit als Buchhändler. 1963 Begabtensonderprüfung an der PH Rheinland, Abt. Köln. Bis 1968 Studium an der PH Rheinland, Köln. Seit 1968 als freier Schriftsteller tätig. Sehr schwierige wirtschaftl. Verhältnisse; Frau studiert, Sohn krank.« (Dossier Auswahl Villa Massimo) Die Akten zu den Begabtensonderprüfungen für die PH im Universitätsarchiv zu Köln sind nicht mehr vorhanden und bisher konnte das Archiv die Immatrikulation in der Kartei der PH Rheinland Abteilung Köln nicht nachweisen. Nach gängiger Praxis wurden nur sehr wenige Bewerber auf diesem Wege aufgenommen. Dennoch können wir davon ausgehen, dass die Angaben korrekt waren, in jedem Fall berichtet Brinkmann in Briefen und Tagebüchern immer wieder von seinem nicht abgeschlossenen Studium an der PH bis 1966 oder 1968, dem er auch als Gasthörer nachgegangen sein könnte. In der Germanistik besuchte er Seminare bei Theodor Brüggemann (1921– 2006). Die außer Pädagogik belegten Studienfächer sind aber nicht erwähnt. Ebenfalls nicht nachweisbar ist seine verschiedentlich geäußerte Angabe zu einem Lehrauftrag an der PH im Winter 1974 (BrH, 60, 114). Zum engeren Freundeskreis an der PH zählten Maleen Kramer, Helmut und Monika Pieper, Linda und Ulrike Pfeiffer, Rolf Eckart John, Ralf-Rainer Rygulla (seit 1967 eingeschrieben). Viele sicherten sich damals mit dem Honnef (Vorläufer des BAföG) den Lebensunterhalt (so auch die junge Familie), zögerten den Grundwehrdienst hinaus oder umgingen ihn ganz (Berufsausbildung, Studium, Heirat) und blieben schon deshalb möglichst lange eingeschrieben (Rygulla 2008; Geduldig/Sagurna 1994, 105).
1.5 Im Verlag Kiepenheuer & Witsch Schon 1962 lernt Brinkmann Dieter Wellershoff (1925–2018) kennen. Der Benn-Experte und -Herausgeber, Lektor bei Kiepenheuer seit 1959, ermöglicht ihm die Publikation in seiner im selben Jahr erschienenen Anthologie Ein Tag in der Stadt, nachdem seine Assistentin Renate Matthaei (geb. 1928) im Hau-
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se ihn für Prosa empfohlen hatte. Matthaei hatte als erste, kurz nach ihrem Einstieg beim Verlag Ende 1961, die eingereichte Textauswahl gelesen und war später seine allein zuständige Lektorin. Als Brinkmann in den Verlag kam, beeindruckte er durch profunde Kenntnis der neuen französischen, englischen und amerikanischen Literatur (Möller 2015, 249). Mit diesem Kontakt zu den beiden Lektoren öffnete sich für den jungen Autor das Tor zum Literaturbetrieb. Prosa war damals für einen Debütanten die einzige Chance, Wellershoff lehnte auch nach langem Warten mit Schreiben vom 16. Mai 1963 den eingereichten zweiten Gedichtband Vorstellung meiner Hände ab und bat um weitere Erzählungen. Wellershoff kann Brinkmann bei Witsch etablieren, er braucht ihn für sein Programm des »Neuen Realismus« und da kommen die vom Nouveau roman beeinflussten Erzählungen Brinkmanns gelegen. Ende April 1962 war die Endfassung von Die Grube bei Wellershoff eingegangen, der vorher noch einige Streichungen durchsetzen konnte. Aber schon im aufschlussreichen, längeren Brief vom 30. Januar 1964 an den gerade gewonnenen Autor beklagt Witsch sein ungebührliches Verhalten: »plötzlich stellen Sie uns Ultimaten«, was er »töricht« nennt, natürlich komme ihm die »Unverschämtheit« seines Auftretens als »eine Art von JungerAutoren-Hochmut« vor, und er bedauere sehr, aber die ungerechtfertigten Vorwürfe an den Lektor hätten doch »etwas merkwürdig Streithaftes bekommen«. Witsch klärt ihn über das Verhältnis zwischen Autor (ein selbsternannter »Gott«) und Verleger (eben kein »untertäniger Diener«) auf, er legt dar, der »Optionsvertrag« sei bloß eine Formalität, »die Summe gleichgültig«, womit er sich die Forderung nach »Garantien« verbitte, die selbst zwischen Verlegern und etablierten Autoren »absurd und lächerlich« seien, denn: »Bei näherem Zusehen sieht es nie so golden aus, wie es erzählt wird.« Mit der ganzen Erfahrung des erprobten Verlegers stellt sich Witsch vor sein Lektorat und zieht in dem gewitzten, sprachlich großartigen Schreiben alle Register. Er bittet den Autor, doch seinen Lektor, der sich so sehr für ihn einsetze und »obwohl« er ihn »zum genauen Denken zwingt«, als ein »Geschenk des Himmels« zu begreifen. Inständig versichert er ihm, dass der Verlag noch sehr viel von ihm erwarte, bevor er am Ende des Briefes dem begabten Nachwuchs die Hand zum Gespräch reicht, das tatsächlich stattfand, bevor der Brief hinausging (Witsch 1977, 227–230). Wenig später, bei der Autorentagung des Verlags vom 3. bis 5. Juni 1964 in Kronenburg/Eifel, eine Idee von Wellershoff, sieht man auf dem Foto alle Akteure am Tisch
versammelt bei der Lesung Brinkmanns, der, so der damalige Werbeleiter Jörg Schröder, nicht ohne heftige Unmutsäußerungen begann (Geduldig/Sagurna 1994, 74; Möller 2015, 241–248). Wellershoff verschaffte ihm also einen bevorschussten Vertrag mit Kiepenheuer, DM 300 monatlich, »die Summe auf ein Versprechen und Optionsverträge sind nun mal so«, klang es bei Witsch seigneural, nachdem Brinkmann ein Jahr zuvor bei einem Buchgrossisten in Köln gearbeitet haben soll, also wohl bei dem seit 1955 in Köln ansässigen Koehler & Volckmar (Erk, 138 nicht nachweisbar, Geduldig/Sagurna 1994, 105). Wie sich die Zusammenarbeit mit dem Verlag über die Jahre gestaltete, vor allem bezüglich der mehrfach abgelehnten Lyrikbände, bedarf der Erschließung weiterer Quellen. Mit dem damaligen Assistenten Witschs, seinem Schwiegersohn Reinhold Neven DuMont lieferte sich Brinkmann eine heftige Fehde wegen des Covers mit dem Büstenhalter für Raupenbahn. Er war damals aus London zurückgekehrt mit dezidierten Vorstellungen von Modernität. Immerhin verfasste er dann für die Festschrift zum 60. Geburtstag von Witsch die kleine Erzählung Stoppelmarkt (1966). Der Band ermöglicht außerdem einen schönen Blick in das literarische Leben der Zeit, bringt er doch Texte der damals hoch gehandelten Autoren, Übersetzer, Graphiker und Freunde des Hauses. Der Umgang mit Brinkmann und Auftritte mit anderen Autoren sollen immer schwierig gewesen sein. Von verbalen Aggressionen bis zu Ansätzen von körperlichen Attacken bei Wutanfällen reichte das Spektrum der auffällig gegensätzlichen Impulse eines streitbereiten Autors. Brinkmann will sich nun als freier Schriftsteller versuchen, er kann auch erste Erfolge feiern mit den Erzählungen Die Umarmung 1965 und Raupenbahn 1966 sowie mit dem Roman 1968. Aber erst 1967 bringt der Verlag einen Gedichtband und Gras von 1970 wird das letzte Buch bei Kiepenheuer sein. Zu keinem Zeitpunkt kann er von seiner schriftstellerischen Leistung leben. Ernsthafte Bemühungen von Wellershoff, seit 1960 als Lektor regelmäßig bei den Tagungen der Gruppe 47 (Boge 2009), ihm dort eine Bühne zu verschaffen, hat er ausgeschlagen, wie auch Der Spiegel zum 17. Juni 1968 berichtet, mehrfache Einladungen auf Postkarten von Hans Werner Richter habe er ignoriert (so Rygulla 2008, 119). Freunden gegenüber stellt er die Ablehnungen, übrigens genau wie Witsch im Brief an Brinkmann selber, als Ausweis von Unabhängigkeit dar. Unter dem neuen Verleger Reinhold Neven DuMont (geb. 1936, Geschäftsführer 1967 und seit April
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1969 alleiniger Inhaber) kommt die Ablösung von Kiepenheuer, dem einzigen größeren Verlag, zu dem er eine längere Beziehung unterhielt. Für den Gedichtband Die Piloten setzt er »den teuersten Schutzumschlag in der Verlagsgeschichte« durch. Wogegen Brinkmanns Vorschlag, Zeitschriften zu machen, endgültig auf kalkulatorischen Widerstand stößt (Neven 2004, 137–140). Er wird sie mit Rygulla und John in Privatdrucken realisieren. Den Bruch mit Kiepenheuer führt Brinkmann im Winter 1971 gezielt herbei, auch ohne Alternative zu einer, wenn auch geringen, geregelten Einkunft. Am 15.11.1971 kündigt er angeblich mündlich am Telefon: »[...] bin ich ein Angestellter für DM 500 im Monat?« (Erk, 252). Laut lamentiert er über die Abhängigkeit von Verlagen, die zu wenig bezahlen, er fühlt sich ausgebeutet – »ganz unbedachte Unterstellungen«, warnte Witsch schon 1964 –, vom »Parasitentum« ist die Rede, nachdem er wenige Tage zuvor schriftlich unter heftigen Beschimpfungen um Verlängerung eines Abgabetermins gebeten hatte (Erk, 199–200, 350). Dass er Verlagsmitarbeiter beleidigte, sie von oben herab behandelte, so dass sie die Arbeit mit ihm als unzumutbar verweigerten, überliefert Wellershoff, der sich da schon längst zurückgezogen hatte (Geduldig/Sagurna 1994, 118, 121).
1.6 Der Kölner Kreis Seine Freunde in Köln bewundern ihn. Zu seinem Lebensstil in dieser Zeit gehören die großen Popkonzerte, Kinobesuche, die Kneipen, der Jazz- und Beatclub Storyville. Nächtelang zieht er mit Freunden durch die Stadt. Die lokale Szene bietet einen reizvollen Mix aus Musik, Literatur, bildender Kunst, Happening und Film, der Brinkmanns Spektrum bis in den Multimediabereich hinein enorm erweitert. Zugleich ist Köln aber auch noch die vom Krieg zerstörte und oft unansehnliche Stadt eines misslungenen Wiederaufbaus. Es ist dieser, aus seiner Sicht heruntergekommene Ort, den er als »rotten Cologne« (BrH, 23) verwünscht und dennoch als Gegenhalt braucht. Seine despektierlichen Äußerungen über das katholische Köln, das er nicht verlassen möchte, stehen denen über Vechta in nichts nach. Brinkmann schart einen kleinen Kreis von Verehrern um sich (Erk, 193 RB, 325), man trifft sich im Nachtcafé Santa Marlena am Ring, mit Freunden in der Ehrenstraße bei XScreen oder in den Hahnentorlichtspielen. In seiner Wohnung soll er gelegentlich Lesungen abgehalten haben. In der Stadt führt er immer ein kleines Notizbuch mit
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und natürlich die Instamatic-Kamera, mit der er viel fotografiert. Mit seinen überbordenden Ideen begeistert er die Freunde und genießt die wachsende Bekanntheit seiner Person und eine gewisse Autorität nicht nur unter jüngeren Autoren. Neben der Popmusik, hervorzuheben sind außer den von ihm weniger geschätzten Beatles besonders die Rolling Stones oder die neuen Bands The Who, The Doors, The Fugs, The Velvet Underground, die psychedelische Musik der Soft Machine, gewinnt das Kino immer größeren Einfluss. Schon am frühen Nachmittag sieht er gerne Filme. Sein Bruder KarlHeinz arbeitet als Filmvorführer im Ufa-Palast (Erk, 338) und verschafft ihm Freikarten (Geduldig/Sagurna 1994, 83–85, 113, 123). Zur damals heiß gesuchten Freizügigkeit gehören auch die Prostituierten und Experimente mit Drogen (Geduldig/Sagurna 1994, 71, 79–81, 108). Auf den Partys in der Wohnung der Gruppe Exit kreisen Joints, man reicht »Kiff-Plätzchen«, mit Freyend steht er eines Morgens um sechs »stockhigh« an einer Kreuzung (Erk, 138), vom »Potrauchen« (Erk, 120, 121, 193, 267, 290, 304) ist häufig die Rede; einmal schildert er im Rückblick das intensive »Raumempfinden«, die »Weite, die nicht aufhörte«, nur vergleichbar dem Effekt beim Hören von Popsongs. Der längere Brief an Hartmut Schnell stellt diese zeittypische Verbindung von Popsongs und Drogen ausführlich her, feiert sie geradezu als die wahrhaft grundlegende Veränderung des Lebensgefühls in den 1960ern. Im Rausch erreicht er den Zustand »hoch über den alltäglichen Fixierungen«, denn »da oben, in dem farbigen glühenden Luftraum, ist es tatsächlich wortlos«, allerdings erlebt er auch den Absturz, Halluzinationen beim Entzug (Erk, 359) und totalen Orientierungsverlust (BrH, 88–103). Die Literaturredaktion im Deutschlandfunk Köln schickt ihn 1965 nach London für einen Text über den Piccadilly Circus (Erk, 133, 248, 257, 313). So trifft er Rygulla wieder, der seit 1963 als Buchhändler bei Foyles in der Charing Cross Rd. war, um der Wehrpflicht zu entgehen, und in diesem Jahr soll auch das erste Popgedicht entstanden sein (Rygulla 1995, 53). Er besucht ihn mehrere Male. Jedes Mal genießt er die lebendige Musikszene in der Stadt, mit der Liste der besuchten Londoner Clubs (BrH, 40) könnte man seinen Musikgeschmack rekonstruieren. In den Jahren 1966 bis 1969, direkt nach der Rückkehr Rygullas, arbeiten sie in Köln zusammen an den amerikanischen Übersetzungen, zu denen Rygulla und Rolf Eckart John (1944–2015), der ebenfalls in London Buchhändler war, die Textvorlagen aus dem »Indica Bookshop« be-
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sorgten (Material im DLA Marbach). Die gleichfalls daraus hervorgegangenen Kollaborationen sind noch nicht alle bekannt (Geduldig/Sagurna 1994, 103). Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Vermittlung transatlantischer Literatur spielen damals auch die Amerikahäuser. Brinkmann nutzt sie dankbar (BrH, 162, 164, 210). Aus dem Kölner Kreis, namentlich von Hartmut Sander, ging auch das Engagement in der Oberbaumpresse hervor. Ende 1966 gründeten Martin Dürschlag und Sander in einem Abrisshaus an der Berliner Oberbaumbrücke den Kleinverlag, bei dem im ersten Jahr neben Brinkmann auch Peter O. Chotjewitz (1934–2010) und Peter Handke als Teilhaber mitwirkten. Schon Anfang 1967 übernahm der SDS und diktierte die neue Richtung. Rygulla und Brinkmann konnten nur in der Anfangsphase ihre Projekte zum sogenannten Untergrund realisieren, die Briefe an Sander spiegeln die Enttäuschung über diesen zweiten gemeinsamen Versuch einer Verlagsgründung (Kramer 2004; Spindler 1988; Sander 1969). London hat seinen Lebensstil verändert, sein Verhalten bei Lesungen und anderen öffentlichen Auftritten radikalisiert, wie sein Verleger Neven DuMont meint. Zwei namhafte Beispiele machen das deutlich. Der Kontakt zur Gruppe XScreen in der Ehrenstraße, dem Kölner Studio für unabhängigen Film, bedeutet nicht nur den Zugang zum neuen Medium und den Start der Versuche im Super-8-Format, sondern auch einen publikumswirksamen Auftritt. Am 24. März 1968 fand im Kino Lupe auf der Zülpicher Straße die erste Veranstaltung des neuen Experimentalkinos statt. Und am 15. Oktober 1968 richtete das Kollektiv das Festival Underground Explosion in der U-BahnStation am Kölner Neumarkt aus. Die natürlich gegen das damals sogenannte Establishment gerichtete Veranstaltung wollte dem Zweiten Kölner Kunstmarkt Konkurrenz machen und wurde wegen angeblich pornographischer Filme Otto Muehls von der Polizei gesprengt. Brinkmann sollte eine Lesung mitgestalten, beteiligte sich an den Protestaktionen – ein Foto von Jens Hagen zeigt ihn mit Megaphon mitten unter Demonstranten – und schrieb einen bissigen Kommentar über die Kölner Kulturpolitik (»diese muffige Verfilzung«) und den Polizeieinsatz unter dem Titel Kunst in Köln?. Im Stadt-Anzeiger vom 18. Oktober 1968 stand, auch der Kölner Schriftsteller Brinkmann sei festgenommen und in der Nacht gegen 0.30 Uhr wieder freigelassen worden. Er habe versucht, mit der Polizei zu diskutieren, sein Kommentar: »unmöglich«. Drei Tage später durfte eine offizielle Delegation mit
Brinkmann gemeinsam mit dem sehr wohlgesonnenen Kulturdezernenten Kurt Hackenberg eine vom Polizeichef einberufene Diskussion im Präsidium bestreiten, die Brinkmann nach kurzer Zeit abbrach (http://www.koeln-im-film.de). Zu den Studenten der 68er-Generation hatte er jedoch keinen Zugang, wie sein Auftritt beim Teach-in am 5. Februar 1969 in der Universität zu Köln, eingeladen vom Germanisten Walter Hinck, belegt. Brinkmann wurde nach seinem Vortrag über abgerichtetes Bewusstsein vom SDS gestört, kehrte ihre Argumente einfach um, nannte die Genossen »abgerichtet« und beschimpfte sie als »Frustrierte«. Als er nicht mehr durchkam, drehte er den eigens mitgebrachten Plattenspieler auf, packte schließlich die zuvor in der Ecke aufgestellte rote Documentawurst und zog unter Flüchen ab (Kritschil 1969; Foto, Geduldig/Sagurna 1994, 117). Der zweifellos bekannteste und sein Bild bis heute prägende Skandal ereignete sich bei der Podiumsdiskussion der Berliner Akademie der Künste am 17. November 1968: »Skandal wegen Kritikerbeleidigung« notiert die Selbstdarstellung lakonisch (BrH, 111). Bei der Lesung schleuderte er den Kritikern Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki einen in verschiedenen Versionen überlieferten Satz entgegen: »wenn ich ein Maschinengewehr hätte, würde ich Sie jetzt niederschießen« (Vanille, 129). Die an den Surrealisten André Breton erinnernde Provokation galt der bundesrepublikanischen Literaturkritik insgesamt, so jedenfalls nahmen alle großen Feuilletons den Vorfall mit Abscheu auf, und war nach Reich-Ranicki bloß Teil eines von vorneherein geplanten medienwirksamen Auftritts (Geduldig/Sagurna 1994, 132). Im März 1969 gründete Jörg Schröder (geb. 1938, zuvor 1962–1964 Werbeleiter bei Kiepenheuer und ab 1965 bei Melzer) in Frankfurt seinen eigenen Verlag und engagierte Rygulla als Lektor von 1969–1971. Brinkmann, der sich schon 1967 bei ihm gemeldet und Rygulla empfohlen hatte, konnte hier bei März nun die amerikanischen Projekte umsetzen. Er prägte damit das Programm des neuen Verlags von Anfang an. Für seine Arbeit und einige Gutachten erhielt er einen monatlichen Zuschuss von DM 300. Zusammen mit den Honoraren will Schröder ihm von März 1969 bis Herbst 1970 durchschnittlich DM 1000 im Monat bezahlt haben. Dennoch erinnert sich Schröder an viele Querelen, an die »erpresserische Art«, mit der Brinkmann auftrat, an seinen Versuch, bestimmte Titel durchzusetzen, einzelne Cover abzulehnen und an den Rauswurf als letztes Mittel, um die Angriffe zu beenden. Auch die Freundschaft zu Rygulla wird durch
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dessen Wechsel ins Lektorat auf die Probe gestellt und endet nach einer Standpauke zum Thema Literatur und Verhaltensweisen, die Brinkmann der in Schröders Wohnung einberufenen Mannschaft hält (Erk, 342; Geduldig/Sagurna 1994, 70). Die Hoffnung auf ein undogmatisches Verlegertum und das Loblied auf den kleinen Einmannbetrieb, auf die leicht lenkbare, von Seiten des Autors beliebig steuerbare Minipresse, das Brinkmann schon bei der Oberbaumpresse anstimmte, finden schnell ihre Grenze an den ungerührt von ideologischen Sorgen durchgesetzten Absichten Schröders, die Brinkmann dann wieder für das Scheitern der angeblich authentischen Kunst verantwortlich machen konnte (Bandel 2011, 186). Auch die kurze Begegnung mit der Kölner Gruppe Exit von deren Gründung 1969 bis zu ihrer Auflösung 1971 stand ganz unter diesem Zeichen der Suche nach unkonventionellen Wegen, die er beim März Verlag schon wieder vermisste (Erk, 282). Hier lernte er den Maler Henning John von Freyend (geb. 1941) kennen, der mit den beiden anderen Graphikern Berndt Höppner (geb. 1942) und Thomas Hornemann (geb. 1943) an der Gewerbeschule in Basel studiert hatte. 1969 eröffneten sie in der Steinfeldergasse 24 ein Ladenlokal. Die Gruppe trat als Kollektiv auf und produzierte ohne persönliche Signaturen nur unter dem Label EXIT. Sie verwendeten Alltagsgegenstände, orientierten sich an der Objektivität von Fotos, zeichneten Bonbons, Hundekuchen und Eisbecher oder malten das Acrylbild mit dem bunten Hemd, das Brinkmann aus London mitbrachte (Erk, 257, 260). Als Plakat warb man mit dem von Freyend gemalten Hemd am 13. Dezember 1969 für die Wohnungseröffnung der Malerkommune am Hohenzollernring 36, bei der Brinkmann Gedichte aus dem neuen Band Gras vorlas. Die Bildermacher, so ihre Bezeichnung, produzierten »Wegwerfkunst« in Bildermappen, schmalen Zeitungen (Der Gummibaum 1969; Erwin’s 1969) oder gestalteten Buchumschläge zu Gras und Cover wie zu Silverscreen. Freyend, der mit seiner Frau Linda Pfeiffer ab 1970 für wenige Jahre im Nachbarhaus Engelbertstr. 67 wohnte, porträtierte Brinkmann 1972 in Öl auf Leinwand (100 × 80 cm) auf einem Sessel sitzend und noch einmal 1983 in einem 80 × 70 cm großen frontalen Kopfporträt. Noch gänzlich unerforscht ist die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Graphik und Malerei. Aus der Vechtaer Zeit sind Versuche im Stil der Buchgraphik belegt. Schon in Essen muss ihm die längst aufgelöste Gruppe COBRA Anregungen für eigene Versuche gegeben haben. Und Köln entfaltet Mitte der
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1960er Jahre eine bunte Kunstszene mit reichem Galerieangebot, auch am Rand des etablierten Kunstmarkts. Aquarelle, Skizzen und Tuschzeichnungen Brinkmanns sind vereinzelt überliefert. Sie können sicher nicht die Einordnung als Mehrfachbegabung belegen, aber das Ausmaß seiner bildnerischen Betätigung, die Bezüge seiner Texte auf die aktuelle Kunst, gerade ausgehend von möglichen Kontakten zur Kunstszene sind nicht annähernd bekannt.
1.7 »Wie soll das alles weitergehen?« Geldsorgen plagen die Familie bis zum Ende, mehrfach steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür, zum Glück wohnt man »pfändungssicher« (BrH, 60), ständig lebt er »auf Pump« (BrH, 94, 105), bekennt aber: »bei Menschen vergesse ich immer das Bezahlen« (RB, 111). Eine »kleine Erbschaft« (RB, 388) hält nicht lange und im Tagebuch fasst er einmal die Lage zusammen: »erinnerte mich an Geld [...] wa habe ich nicht getan,gelogen,geklaut,verscheuert,gearbeitet,erpresst,erbettelt,getrickst,auf den Gefühlen gespielt, um Geld zu kriegen« (Erk, 138, 316). Maleens Eltern unterstützen die kleine Familie, sie nimmt selber häufig Gelegenheitsarbeiten an (RB, 446; Erk, 120, 311), doch das alles reicht nicht. Mehrmals habe er Bibliotheken verkauft (BrH, 114, 156, 162, 180) und 1971 sogar sein amerikanisches Material für nur DM 800 an die Buchhandlung Walther König in Köln gegeben, die sich auf Popart spezialisierte (Geduldig/Sagurna 1994, 106). Gleichwohl spricht sich Brinkmann prinzipiell gegen Brotarbeit aus. Zum Vertrag mit Kiepenheuer und den Zahlungen von Schröder kommen gelegentlich andere Verpflichtungen hinzu, vor allem im Rundfunk, wie der Vertrag mit dem WDR (Erk, 257; Geduldig/Sagurna 1994, 105) oder die Übersetzungen für die Anthologie Fuck You! von Rygulla 1968 bei Melzer; Letztere bringt knapp DM 500 ein. Jedenfalls erscheint die Lage, in die sich Brinkmann manövrierte, eine teilweise absichtlich erzeugte Not zu sein. Kompromisslos und radikal erkauft er sich die bedingungslose Freiheit, die grundsätzliche Ablehnung einer Arbeit mit geregeltem Einkommen. Jürgen Theobaldy berichtet im Nachruf, wie verständnislos er auf Erwerbsarbeit bei Kollegen reagierte, mit Ressentiments und Sozialneid (Erk, 226, 241). Selbst Tätigkeiten, die der Arbeit des Autors nahestehen, lehnt er ab oder hält sie nicht lange durch. Seine spott- und hasserfüllten Tiraden gegen das »Rentnerdasein«, die er in einem Brief
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aus Rom an Piwitt schickt (RB, 262), der sich um die Sozialversicherung sorgt und den Eskapismus kritisiert, haben zumindest den realen Hintergrund, dass Brinkmann ohne Berufsausübung nichts zu erwarten gehabt hätte. Gewiss, die Künstlersozialkasse war bis 1983 nur eine Forderung, aber keine Realität. Noch Anfang der 1970er Jahre war die finanzielle Lage der Autoren generell schwierig. Preise und Stipendien waren noch nicht im Überfluss vorhanden, die Existenz als freier Schriftsteller war ein großes Wagnis, an dem viele scheiterten und das auch sehr erfolgreiche Autoren wenigstens zeitweise aufgeben mussten (Arnold 1981, 250 ff.). Die Dotierung der Stipendien und längerfristigen Förderpreise überstieg selten DM 1000 im Monat (Arnold 1981, 255). Unterstützung hat Brinkmann dennoch immer wieder gefunden. Allerdings ohne die vorhandenen Kontakte langfristig zu pflegen. Nachdem ihn zwei Jahre zuvor Wellershoff erhalten hatte, bekam Brinkmann 1964 den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstler, ausgestattet mit sehr bedeutenden DM 6000 (Erk, 306). Vom Oktober bis Dezember 1971 brachte ihm das angesehene Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen zusammen mit 13 anderen Autoren monatlich DM 1000 (Erk, 356 und Morgenstern 1972), welche die schlimmsten Folgen direkt nach dem Bruch mit Kiepenheuer abmilderten und die Auszeit in Longkamp finanzierten. In den zehn Monaten in Rom und den drei Monaten in Austin schickte er einen Teil der Einkünfte nach Hause. Im Juli 1975 schloss der PetrarcaPreis, den seine Frau posthum entgegennahm, die Reihe der Auszeichnungen ab. Man ist versucht, an Martin Walsers Essay über eine gewisse »Klasse« der Schriftsteller zu erinnern, denen er provokativ – er wählt nicht grundlos Brinkmann als Beispiel – die Rechthaberei, die Selbstsucht, (»jeder lutscht an seinem Mythos«, Walser 1970, 36), ja einen vor aller Augen zynisch ausgelebten Narzissmus vorhält. Auch wer Walsers Psychologismen nicht zustimmt, wird doch das Missverhältnis zwischen Klagen und Handlungen bei Brinkmann nicht übersehen können. Die Situation in Köln bleibt auch rein äußerlich beengt. Sie »wohnen in einer 76 Qm. großen Wohnung in der Innenstadt Kölns (Altbauwohnung, sehr verwohnt, die meisten Familien im Haus sind Gastarbeiterfamilien, Türken, Griechen), nicht mal heißes Wasser« (BrH, 115). Und in einem langen Brief vom 11.2.1975 an Hartmut Schnell beklagt er, das Haus in der Engelbertstraße sei »eine Art westdeutscher Innenstadt–Industrie
slumhaus« (BrH, 183). Der Wohnraum erforderte tatsächlich Organisationstalent, die drei Zimmer teilten sich in Roberts Zimmer, »Maleens Schlaf&Arbeitszimmer« sowie »das Mittelzimmer«, in dem er saß und manchmal bis um halb vier nachts auf der Schreibmaschine tippte (BrH, 214) – er lebte ohnehin gerne nachts – oder beim Schreiben Schallplatten hörte (BrH, 125, 188). Immer drückender macht sich die familiäre Hilflosigkeit bemerkbar. Seine Frau hat ihr Studium wegen der neuen Belastungen mit dem Sohn noch nicht beenden können, will weiter Heilpädagogik studieren (BrH, 157) und man ist zeitweise, zuletzt im Todesjahr, auf Sozialhilfe angewiesen (BrH, 95, 244). Große Sorgen bereitet der Sohn Robert, bei dem im Alter von fünf Jahren Gewissheit besteht über die mehrfache Behinderung. Lange Passagen in den Aufzeichnungen aus Rom machen eindrucksvoll die ungeahnten Verpflichtungen, ja, die Verzweiflung über die grundlegende Änderung der Lebensbedingungen 1969 nachvollziehbar (RB, 387–391). Brinkmanns intensives Interesse für Gehirnforschung ist auch aus der persönlichen Situation erklärbar, wobei er dazu neigt, Fehlentwicklungen der Umwelt wie der Gesellschaft anzulasten.
1.8 Der Ausstieg: drei Wochen auf dem Land Im Mai 1970 zieht er aus all dem die Konsequenz, fasst den Entschluss und vertraut ihn dem Tagebuch an: »aus allem ausgestiegen« (Erk, 315). Seine Flucht führt aufs Land, wo er den Ausweg aus der Apathie sucht – »wie soll das alles weitergehen?« (Erk, 294) – und die Schreibkrise überwinden will, die sich um 1970 einstellte und ihn selbst bei den täglichen Aufzeichnungen blockierte. In der letzten Zeit in Köln muss Brinkmann drogenabhängig gewesen sein, mehrfach wird von Entzug berichtet, die Ersatzdroge Apomorphin (Erk, 223; Lit.mag. 1995, 97) war nun abgesetzt und er fuhr weg, um sich zu entgiften. Den 24. November 1971 kommt er in Longkamp, Kreis Bernkastel an und wird dort bis zum 12. Dezember mit seinem Freund Freyend bleiben (Erk, 270 ff., 300). Sie wohnen bei dem Bauern Heinrich Ferleyko in einer alten Mühle (Erk, 275), ohne Heizung und Wasser, wo er bei Kerzenlicht zu schreiben versucht. Freyend malt oft in der Natur. Das große Projekt eines zweiten Romans kommt in Longkamp nicht voran. Das erwähnt er eher beiläufig
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im Brief an Pieper (Erk, 351). Aber die Lage gestaltet sich dramatischer. Auf engstem Raum reflektiert das Tagebuch sämtliche Schwierigkeiten: die enge Wohnung in Köln, der fehlende Abschluss an der PH, die Kündigung bei Kiepenheuer, der Rückzug aus dem literarischen Betrieb, das befürchtete Ende der Schriftstellerei, der Abbruch aller Freundschaften in Köln, die Entfremdung vom gesellschaftlichen Leben, die wachsende Aussichtslosigkeit, mit der ihn seine Umwelt immer häufiger konfrontiert. Auch die Ehekrise findet keine Lösung (Erk, 257, 268–275, 297), Tagesabläufe kollidierten seit Jahren (Erk, 211), Beleidigungen, Handgreiflichkeiten (Erk, 298) und Trennungen treibt die Erinnerung wieder hervor. Schon unmittelbar vor der Flucht aufs Land notiert er: »Ich denke 1956 und 1971:Ich will hier raus!« (Erk, 259). In einem der letzten Briefe, gerade zurück in Köln von einer Reise nach Osnabrück, wo er sich über Wochen bei der Zahnarztfamilie von Elisabeth Piefke (Zöller) einquartierte und viel Geld borgte, muss er betrübt feststellen: »Seltsam, ich bin nun fast 35 Jahre, habe noch nie etwas eigenes besessen« (BrH, 238), deutet die Lage aber sofort wieder um in eine allgemeine gesellschaftliche Misere, in der man eben auch nicht existieren könne. Die Dominanzgeste bleibt erhalten, das übersteigerte Bild vom missverstandenen Außenseiter, vom großen Einzelnen, entlehnt er einer von Hans Henny Jahnn vorgegebenen Pose, die er im Bändchen Aufzeichnungen eines Einzelgängers von 1959 findet, das er ganz fasziniert in Rom noch einmal studierte. Dem korrespondiert ein literarisches Anlehnungsbedürfnis an etablierte, aber unerreichbare Figuren, gegen die er sich nicht behaupten muss. Benn, Jahnn, Arno Schmidt und Burroughs ernennt er zu seinen Fixsternen, weil die Identifikation mit ihrer literarischen Stilisierung auch über die eigene missliche Lage hinweghilft. Zivilisationskritik und Wahrnehmung der Umwelt als Dystopie folgen weitgehend den Science-Fiction-Romanen von James Graham Ballard. Die literarische Bedingtheit und innere Widersprüchlichkeit dieses unerschütterten Selbstbildes hinterfragt er zu keinem Zeitpunkt.
1.9 Existenzangst, Melancholie, Depression und höchste Ansprüche Zur intellektuellen Biographie dieses Schriftstellers gehören einige andere, höchst bemerkenswerte Ambivalenzen, die sich gerne in starken Posen äußern. Fast alle Augenzeugen klagen darüber: Helfer und För-
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derer wie Wellershoff hat er zielsicher verstoßen, den gesellschaftlichen Eklat in jeder Lage herbeigeführt, Zerwürfnisse rechthaberisch provoziert, wichtige Multiplikatoren des Literaturbetriebs verprellt oder mit Hass und Verachtung überzogen, selbst ihm wohlgesonnene Kollegen wie Nicolas Born, ohne die in diesen Verhaltensweisen herbeigesehnte Befreiung zu erleben. Die geringe Zahl der Nachrufe spricht für sich, dagegen stehen über Jahre gepflegte Freundschaften wie die zu Rygulla oder Helmut Pieper. All dies berichten Betroffene, all dies ist begleitet von exzessiven, geradezu hinreißenden Liebeserklärungen an seine Frau, den behinderten Sohn und zugleich überformt von einem offenkundig unabwendbaren Schuldkomplex, bis hin zum ungeklärten Verhältnis dem Katholizismus gegenüber, gerade auch in der Sexualität (Erk, 310, 359): »Ist das katholisch?«, fragt er sich einmal erstaunt, diese Unnachgiebigkeit gegen sich selbst, dieses »nicht sich gut finden,alles weiter an Höhere leiten usw. usw.« (Erk, 320; Geduldig/Sagurna 1994, 123, 127). Wellershoff nennt ihn einen Hypochonder (Geduldig/Sagurna 1994, 128); er selbst notiert: die »Wüste ist psychischer Art« (RB, 182; Erk, 275). Die »depressive Klaustrophobie«, gesteht er in einem Brief an Freyend im September 1972, habe ihn wieder eingeschlossen. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, eine den Arbeitsprozess lähmende, entsetzliche Aussichtslosigkeit begleiten ihn regelmäßig in der Kölner Zeit (Erk, 343). Seine imaginierte Angst vor Krebs, die ihn nicht nur beim Rauchen befällt (Erk, 95), ist Teil eines als sicher diagnostizierten und für real gehaltenen »Angstund Todesuniversum[s]« (Erk, 223, 338, 359), das sich bis in die »Angstszene Kultur und Literatur« erstreckt (Erk, 365 FW, 247), von der er sich gleichwohl ausgegrenzt wähnt. Alle Berufstätigen hält er für Verstümmelte, das Land für ein Arbeitslager. Aus dem Widerspruch zwischen der versuchten Existenz als freier Schriftsteller, der höchsten Anforderung an ein auf allen Ebenen befreites Leben und dem Fehlen durchschlagender Erfolge findet er keinen Ausweg. Vielleicht paart er deswegen zeitlebens die selbstquälerische Erkenntnis – »Wer bin ich?Ich bin nichts!?« (Erk, 263) – mit dem bequemen Ressentiment gegen alle, die sich arrangieren oder mit den Gegebenheiten zurechtkommen, er reklamiert für sich den Träumer und muss schon in der Schulzeit im Winter 1957 von der Jugendfreundin an der Hand genommen werden: »wake up to reality« ruft sie ihm aus Frank Sinatras Song I’ve got you under my skin zitierend ins Gewissen; ein Satz, der in ihm
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zeitlebens nachhallt (Erk, 287; RB 43, 434). Dem Tagebuchschreiber bleibt jenes »Unbefriedigtsein« (RB, 391, 394) übrig, das er Jahnn gerne nachspricht, er selber macht bei seiner existentiellen Suche nach Intensität in jedem Augenblick die »Erfahrungen der IchAuflösung in allen Stadien durchgemacht« (Erk, 117– 126) und findet am Ende seine persönliche Grenze: »ich kann nur sprechen,sobald mir etwas nicht gefällt/ das Schöne ist für mich sprachlos« (Erk, 193).
1.10 Rom, Austin, Tod in London Zusammen mit Maleen, Helmut Pieper und Hermann Peter Piwitt gehört auch Henning John von Freyend zu den Empfängern der langen Briefmonologe aus Rom. Darin verschärften sich die schon in Köln Ende der 1960er Jahre erwähnten Probleme und drängten – eine für den Autor bemerkenswerte Parallele zu Longkamp (RB, 281 f.) – in aller Breite in die Schreibmaschine. Das ehrenvolle Stipendium der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom sicherte ihm für zehn Monate den Lebensunterhalt. Vom 1. Oktober 1972 bis 31. Juli 1973 gewährte das Bundesministerium des Innern den Studienaufenthalt und stellte den Autor in eine illustre Reihe von vorangegangenen Gästen. Ein vorbereitendes Einführungsgespräch fand am 16. Mai 1972 in Husum mit Piwitt als dem Sprecher der damaligen Stipendiaten statt. Die Verhandlungen über die Zahlungen führte das Kultusministerium NRW in Rücksprache mit der in Rom seit 1965 tätigen Direktorin Elisabeth Wolken. Sie wies ihn auf den erhöhten Satz für Familien hin, den Brinkmann noch vor Weihnachten erbat, und dann erhielt er monatlich DM 1512,50. Ein Drittel davon ließ er von der Landeshauptkasse Düsseldorf nach Hause überweisen. Den Aufenthalt seines Jahrgangs teilen mit ihm der Maler Eberhard G. Willikens, die Bildhauer Jürgen Goertz und Gernot Rumpf, der Architekt Dieter E. Godel, die Schriftsteller Nicolas Born, mit dem er gelegentlich ausgeht, Heike Doutiné, Alf Poss sowie die Komponisten Hans-Joachim Hespos und Robert Wittinger. Hinzu kommen noch der Maler Günther Knipp (geb. 1935) vom Vorjahr, der ihn in Rom fotografierte und zeichnete, und die drei Ehrengäste Prof. Albrecht Goes, der Graphiker und Lyriker Roger Loewig, der Museumsdirektor Prof. Leopold Reidemeister. Brinkmann zieht sich zurück, an den gemeinsamen Abendessen der Stipendiaten nimmt er ohnehin nicht teil. In den Briefen erwähnt er – wie alle anderen außer Knipp – mit ausschließlich abfälligen
Worten noch den vormaligen Stipendiaten Peter O. Chotjewitz (1934–2010), der in Rom geblieben war, den Kontakt zur Villa hielt und Brinkmann, der ihn aus der Oberbaumpresse kannte, nach Hause einlud (Geduldig/Sagurna 1994, 71). Brinkmann bezieht das am Ende der Reihe gelegene Atelier 10 und fertigt für seine Frau von der ganzen Anlage eine Zeichnung nach dem Grundriss (RB, 20) an, die akribisch alle Abmessungen und Gegenstände darstellt (RB, 24, 45). Für seine Lesung am 30. März 1973 um 21 Uhr ist die offizielle Einladungskarte erhalten. Bald nach der Ankunft reist er vom 21.–24. Oktober zum Literatursymposion nach Graz. Alfred Kolleritsch (geb. 1931) hatte ihn im Namen des Forums Stadtpark und des Steirischen Herbst zur Lesung am 23. Oktober 1972 eingeladen. Rom, Blicke berichtet mit Bildmaterial einschließlich der Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten des literarischen Betriebs ausführlich darüber (RB, 36 ff., 87–116, 140–146). In das 50 Kilometer südöstlich von Rom gelegene Bergdorf Olevano, in die Außenstelle der Akademie in der Casa Baldi, zieht sich Brinkmann erstmals vom 21. Dezember 1972 bis zum 2. Januar 1973 zurück (Karten RB, 365, 382). Die Aufenthalte wiederholen sich ab dem Frühjahr. Maleen und der Sohn Robert begleiten ihn während ihres Besuches von Anfang März bis Ende April. Sie kommen auch mit der Familie Nicolas Borns zusammen, dem einzigen Stipendiaten außer Knipp, zu dem Brinkmann Kontakt zuließ. Später berechnet Brinkmann den Aufenthalt in Olevano auf ein Drittel seiner gesamten Zeit in Italien (BrH, 115). Der italienische Aufenthalt ist durch zahlreiche Vorfälle getrübt. Chotjewitz erinnert sich an »große Kräche, die er veranstaltete« im Umgang mit den anderen Gästen (Geduldig 1994, 71 f.), von den Auseinandersetzungen mit der Direktorin erzählt er selbst (»da wurde ich gestern abend [...] laut und ausfallend«, sie lässt ihm ausrichten, »dass sie keine Belehrungen wünsche« RB, 197–200) und einmal, am 1. Dezember, muss der Leiter des Goethe-Instituts Michael Freiherr Marschall von Bieberstein diplomatisch elegant das offizielle Abendessen mit italienischen Schriftstellern retten (RB, 288–290). Schon im April 1973 gibt die Direktorin an Brinkmann eine dringliche Warnung wegen seiner exorbitanten Telefonschulden heraus, der Apparat wird Anfang Mai abgeschaltet. Bald darauf stellt Brinkmann den gewöhnlich problemlosen Verlängerungsantrag für das Stipendium bis zum spätesten Zeitpunkt am 15. September, den das Kultusministerium aber mit dem Hinweis auf die ausstehenden Kosten ablehnt, da sich die Schulden
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bereits auf etwa die Hälfte des Gesamtstipendiums belaufen. Zwar versucht Brinkmann durch sein Bleiben bis September die Bewilligung zu erzwingen, erhält aber seit August keine Bezüge mehr. In Köln werden die im Schreiben des Kultusministeriums genannten DM 6000 einen Pfändungsversuch nach sich ziehen, weil nur ein geringer Teil erstattet worden war (BrH, 60; RB, 446). Außerdem hält ihm das Kultusministerium in dem Schreiben vom 13. Juni 1973 die Abwesenheit seit dem 4. Mai vor. Eine Abwesenheit von mehr als einem Monat lasse die Voraussetzungen für das Stipendium entfallen: »Mit dem Stipendium ist der tatsächliche Aufenthalt in der Villa Massimo zwingend verknüpft.« Er war den ganzen Mai in Köln geblieben, wohin er die Familie auf ihrer Rückreise von Olevano begleitet hatte. Brinkmanns Vorschlag, die Verlängerung des Stipendiums für die ausstehenden Forderungen einzubehalten, lehnt Düsseldorf ab. Der Schriftwechsel zum »Fall Brinkmann« (Elisabeth Wolken) endet mit dem Schreiben vom 11. September aus Düsseldorf, in dem sich das Ministerium mit großem Befremden gegen die Unterstellung verwahrt, die Förderung des noch immer in der Villa weilenden Künstlers sei »keineswegs so überwältigend gewesen«. Der schriftstellerische Ertrag in den Briefen kündet von einer starken Vereinzelung, von einem großen Unbehagen und Fluchten (RB, 405), die sich in eindrucksvollen Szenen der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit niederschlagen, wie der vom nächtlichen Straßenkehrer in Graz (RB, 144) und der vom bewegungslosen Sitzen auf der Steinmauer in Olevano mit den religiösen Gedanken (RB, 406–408). Mehr denn je befallen ihn Zweifel am Zwang des Schreibens (Erk, 320), Stipendiaten berichten, er sei tagelang nur fotografierend durch die Stadt gezogen, seine Zeitgenossen nehmen eine »unbewußte tiefe Verletzung« (Piwitt) oder schlicht den »Tiefpunkt« wahr (Vormweg 1995, 22). Künstlerisch gesehen wendet er sich hier endgültig vom Film ab, der ihn im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs interessierte, und kehrt zur Fotografie bzw. zu Literatur und Hörspiel zurück. Brinkmann wählt vom amerikanischen Scrapbook her bekannte Text-Bild-Verfahren und entwirft Collagen. Spätestens im März 1973 hat er mit Schnitte begonnen, einem Einklebealbum mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Textstücken als Vorarbeiten zu einem zweiten Roman. Er schreibt im Mai in Köln weiter (Erk, 371–410 und Work in Progress, FW). Der zweite längere Auslandsaufenthalt führt an die University of Texas nach Austin. Hans Bender, im Winter 1968/69 vor Ort, empfahl Brinkmann (Bender
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1995, 37). Vom Januar bis Mai 1974 ist er im Frühjahrssemester Gast als »writer in residence« am German Department bei Leslie Willson (1923–2007). Er bezieht eine Wohnung nahe der Universität im Voyageurs Appartment 311 East 31st Street, erhält einen Schlüssel zum Bibliotheksturm, wo er ungestört jederzeit arbeiten kann. Die Bezahlung als Associate Professor beseitigt alle Geldsorgen (Schnell 2002). Einmal in der Woche hält er ein Kolloquium, in dem er aus seinem Werk liest mit anschließender Diskussion. In seinem Seminar mit acht Teilnehmern über den Einfluss der amerikanischen auf die deutsche Lyrik lernt er den Studenten Hartmut Paul Schnell (geb. 1937) kennen. Sie werden Freunde und Brinkmann wird dann von Köln aus in den Briefen an Hartmut versuchen, Schnells Masterarbeit, die 1975 fertig gestellte Übersetzung von ausgewählten Gedichten Brinkmanns, mit breiten Selbstdarstellungen zu lenken. Allerdings hat Schnell die Briefe kaum genutzt. Willson und Schnell berichten über die für den Autor wichtige Anerkennung durch den amerikanischen Aufenthalt, über den stark formellen Unterrichtsstil, aber auch über die bekannten Schwierigkeiten und erwähnen den unangenehmen Vorfall beim Gastvortrag des renommierten Germanisten Reinhold Grimm, dem Brinkmann zum Entsetzen der Zuhörer auf rabiate Weise den angeblich durchgängigen Gebrauch von Klischees vorrechnete. Wieder greift das Ressentiment aus dem Tagebuch, das auch sonst die Texte durchzieht: »ich bin auch zum Glück kein Akademiker mit aufgeweichtem Rückgrat« (Erk, 252). Den größten Erfolg seiner schriftstellerischen Karriere bedeutet zweifellos die Einladung zum Cambridge Poetry Festival vom 17. bis 21. April 1975. Er wohnt gemeinsam mit Jürgen Theobaldy im Haus von John James (geb. 1939), der die Verbindung zu den Lyrikern der Cambridge School herstellt, er lernt Peter Riley (geb. 1940) und Andrew Crozier (geb. 1943) kennen. Höhepunkte sind die Lesung mit Michael Hamburger, Erich Fried, Reiner Kunze, Jürgen Theobaldy am Nachmittag des 20. April, vorher aber die große Abendlesung am 19. April 1975, bei der er neben John Ashbery (geb. 1927), John James und Lee Harwood Platz nehmen darf. Er liest aus seinem letzten Buch, das kurz nach seinem Tod erscheinen wird. Mitschnitte der beiden Lesungen wurden 2005 veröffentlicht. Ausgerechnet London, das er immer wieder gerne aufsuchte, das ihm als Inbegriff der weltoffenen Kultur und eines modernen Lebensstils galt, wird auf der Heimreise, die er gemeinsam mit Theobaldy antritt,
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I Biographischer Abriss
zum Todesort. Der Augenzeuge berichtet in seinem erschütternden Essay von der erregten Spannung an diesem Tage, von seinem aufgewühlten Zustand wegen der unbeherrschbaren Zumutungen des Lebens, die ihn eben wieder bedrückten. Sie waren gerade aus dem Rhine Hotel gekommen. Beim Überqueren der Westbourne Grove im Stadtteil Bayswater tritt Brinkmann, bekleidet mit seinem weißen Staubmantel am 23. April gegen 10 Uhr abends spontan auf die Straße. Er wollte nur rasch hinüber in das Pub The Shakespeare, das er früher öfter besucht hatte. Eine schwarze Limousine schleudert ihn hoch. Er ist sofort tot. Im Rinnstein bleibt er liegen. Nur während des Schreibens konnte er wahrhaft leben. In helle Erregung versetzte ihn alles, was ihn davon abhielt. Bücher verschlang er wie seine Zigaretten, immer auf der Suche nach einer Antwort auf die eine, drängende Frage: Wo aber ist das Leben? Dass er es nach so kurzer Zeit verlor, mag man als eine seltsame Ironie der Geschichte nehmen, genau wie die Tatsache, dass er am Ende nach Vechta zurückkehrte. Dem Grabstein auf dem katholischen Friedhof wurden erst 1992 ganz unten die Lettern »Rolf Dieter 1940–1975« hinzugefügt. Bis dahin ruhte er anonym im Familiengrab. Literatur
Selbstauskünfte des Autors finden sich in den frühen Lexikonartikeln (Geduldig, Bibliographie) und in BrH, 107– 116. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Literaturbetrieb in der Bundesrepublik Deutschland. Ein kritisches Handbuch. 2., veränd. Aufl. München 1981. Bandel, Jan-Frederik/Barbara Kalender/Jörg Schröder: Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art. Hamburg 2011. Bender, Hans: »Vielleicht erinnern Sie sich meiner.« Rolf Dieter Brinkmann und die »Akzente«. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 28–37. Blüher, Joachim (Hg.): 100 Jahre Deutsche Akademie Rom Villa Massimo 1910–2010. Köln 2010. Boge, Birgit: Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch. Joseph Caspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948– 1959). Wiesbaden 2009. Born, Nicolas: Die Welt der Maschine. Aufsätze und Reden. Hg. von Rolf Haufs. Reinbek bei Hamburg 1980. Born, Nicolas: Briefe 1959–1979. Hg. von Katharina Born. Göttingen 2007. Breuer, Josef: Kalter Salat und Tischordnungen? Ehemalige Bewohner des Ludwig-Wolker-Heimes in Essen erinnern sich an die Jahre 1955 bis 1963. In: Die Heimstatt. 43 (1995), 73–86. Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hans Henny Jahnn. In:
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Markus Fauser
II Kontexte
2 Nachkriegsliteratur 2.1 Nachkriegslyrik Aus einer flüchtigen Rückschau mag es so scheinen, als sei die (west-)deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg weniger aus Ruinen auferstanden, sondern, nachdem sie ›tabula rasa‹ gemacht und einen ›Kahlschlag‹ unternommen (oder durchlitten) habe, in einer ›Stunde Null‹ von einer unbelasteten ›Jungen Generation‹ von Debütanten völlig neu erschaffen worden – und zwar 1947, in dem Jahr, das der Gruppe der neuen vorgeblich maßgeblichen Autoren seinen Namen geliehen hat. Diese Sicht hat mehr mit gütiger oder selbstgefälliger Verklärung zu tun als mit der historischen Realität. Vielmehr lassen sich an der Literatur Tendenzen nachweisen, die aus der Rückschau wenig schmeichelhaft wirken, aber gleichwohl über große Schlüssigkeit verfügen und die auch das politische Leben prägten. Es wurden nur in geringem Maße Neuanfänge gemacht, und auch die wiesen einen hohen Grad dessen auf, was erst in den letzten der 1960er Jahre grundsätzlich, radikal und massiv in Frage gestellt wurde: mehr oder minder bruchlose Kontinuität. Das stärkste Moment der Kontinuität über die in vielem nur scheinbare Zäsur 1945 hinweg knüpft sich an die Beobachtung, dass es in Deutschland keine ausgeprägte Tradition einer kritischen Beobachtung (oder gar Beeinflussung) der Gesellschaft durch Künstler und Intellektuelle gibt. Aber wie die Politik wurde auch die Literatur nach 1945, in den Westzonen und später der Bundesrepublik, maßgeblich von denen geprägt, die sie auch zuvor schon geprägt hatten, und wie in Politik, Justiz und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens hatten auch auf dem Feld der Literatur viele derjenigen, die vor 1933 maßgeblichen Einfluss hatten, nach 1945 große Schwierigkeiten, wieder in ihre angestammten Rollen zurückzukehren. Mit offenen Armen zurückempfangen wurde von den Emigranten, so sie denn überhaupt zurückkehrten, kaum jemand. Während es schwer war, sich als ehemaliger Widerständler zu inszenieren, wenn man keine widerständigen Handlungen vorweisen konnte (unternommen wurden solche Versuche dennoch), lag es nahe, sich immerhin eine oppositionelle Haltung zuzuschreiben. Ein beliebtes Muster der Selbststilisierung war dasje-
nige des Inneren Emigranten, der von sich behauptete, an nichts mitgewirkt, vom meisten nichts gewusst, dafür aber selbst einiges erlitten zu haben. Zuweilen wurde daraus, gerade gegenüber den Remigranten, die es sich in der Zwischenzeit angeblich an angenehmen Orten hatten gutgehen lassen, eine nicht unerhebliche Dignität abgeleitet. Frank Thiess, der für sich reklamierte, den Begriff ›Innere Emigration‹ erfunden zu haben, hat mit seiner an Thomas Mann gerichteten Einschätzung wohl vielen aus tiefster Seele gesprochen: »Ich glaube, es war schwerer, sich hier seine Persönlichkeit zu bewahren, als von drüben Botschaften an das deutsche Volk zu senden, welche die Tauben im Volke ohnedies nicht vernahmen, während wir Wissenden uns ihnen stets um einige Längen voraus fühlten« (Thiess 2000, 338). Während viele der Inneren Emigranten so sehr zurückgezogen gar nicht gewesen sind (genau wie viele Vertreter der sog. ›Jungen Generation‹ so jung schon nicht mehr waren, sondern in Teilen ebenfalls bereits während des ›Dritten Reichs‹ literarisch tätig gewesen waren), trifft die Kategorie, sofern sie überhaupt sinnvoll erscheint, auf einen ihrer prominentesten Vertreter wohl tatsächlich zu. Wie einige andere Intellektuelle auch – an vorderster Front ist hier der Freiburger Philosoph Martin Heidegger zu nennen – hatte Gottfried Benn die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 frenetisch begrüßt und sich der neuen Führung als Vordenker angedient, um dann bald enttäuscht feststellen zu müssen, dass diese an Denkern nicht interessiert war: weil das wenige Denken, sofern dieser Begriff überhaupt angemessen ist, dessen es bedurfte, bereits geleistet war – nicht zuletzt von Hitler selbst in Mein Kampf. Dass man bereits vorher alles hat absehen können, wollte hinterher freilich niemand gewusst haben. Benn etwa erklärte 1950 in seiner wenig Einsicht zeigenden Rechtfertigungsschrift Doppelleben, er habe das »Parteiprogramm [...] nie bis zu Ende studiert« (Benn 1991, 84). Was Benn von Heidegger freilich unterscheidet, war eine entscheidende Differenz zum Nationalsozialismus: Benn war nach allem, was man weiß, kein Antisemit. Alles andere als ein politischer Kopf, hatte er sich von der nationalsozialistischen Machterschleichung ein Ende einer lähmenden historischen Mittelmäßigkeit, eine Wiederkehr großer Zeiten voller »schöpferische[r]
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_2
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Wucht« erhofft – was er den Emigranten wie Thomas Manns Sohn Klaus nicht ohne Häme hinterhergerufen hatte (Benn 1989, 25) –, er hatte Linke, Liberale und Intellektuelle ob ihrer Kleinmütigkeit beschimpft, war dann denunziert und aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden (was einem Berufsverbot gleichkam), hatte sich dann unmissverständlich, entschieden und drastisch vom NS-Faschismus losgesagt und sah sich nach dem Krieg ausgegrenzt und abgeschoben in Berlin als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten praktizieren. Und auch wenn er alles andere als Reue über seine Irrtümer zeigte – eines kann man ihm immerhin nicht vorwerfen: einen Opportunismus, der ihn dazu gebracht hätte, solche Reue zu heucheln. Dies hat seinen Grund in der adligmilitärischen Ehre-Doktrin, die persönliche »Werthaltungen von allen moralischen Beimischungen zu reinigen versucht« (Lethen 2006, 244). Es waren weniger, wie es Benn schien (Dyck 2006, 330), die Remigranten, die das literarische Leben nach 1945 in den Westzonen und der jungen Bundesrepublik bestimmten, als vielmehr diejenigen, die weniger ›belastet‹ waren als Benn: Romanautoren wie Hermann Kasack etwa oder Lyriker wie Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. Lehmann, der, anders als Benn (wenn auch wohl nicht aus Überzeugung) Parteimitglied gewesen war, konnte bereits 1946 wieder publizieren – und steht exemplarisch für die Kontinuität der Literatur seit den 1930er Jahren, über 1945 hinweg: Indem er weiter ›naturmagische‹ Lyrik produzierte, die mithalf, den Mythos eines katastrophalen Geschehens zu installieren, das über die Deutschen verhängt worden war und für das eigentlich niemand Verantwortung trug. In der Tradition solcher Naturlyrik steht auch Günter Eich (der keineswegs nach 1945 debütierte), der den mythischen Tendenzen dann zwar zunehmend kritisch gegenüberstand (Ohde 1986, 358), an einer magischen Transzendenz der Natur aber festhielt. Da die alliierte Kontrollbehörde in Berlin Benn die Publikation untersagte, konnte sein erster Nachkriegs-Gedichtband, der unter dem Titel Statische Gedichte vor allem Gedichte der Jahre 1937 bis 1944 versammelt, 1948 vorerst nur in einem kleinen Zürcher Verlag erscheinen. 1949 ist Benn dann zurück im Geschäft, was im Wesentlichen das Verdienst seines Verlegers Max Niedermayer ist, in dessen Wiesbadener Limes Verlag sein Prosaband Der Ptolemäer sowie der Essayband Ausdruckswelt erscheinen. Benn erlebt »das größte Comeback seit Lazarus« (Lethen 2006, 261), wird von führenden Kritikern besprochen und
steigt schnell zum wichtigsten Lyriker der jungen Bundesrepublik auf. Im Oktober 1951 verleiht ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis. Benns im August 1951 an der Universität Marburg gehaltenen Vortrag Probleme der Lyrik soll Brinkmann schon zu Schulzeiten, wie sein Mitschüler Hermann Rasche berichtet (Rasche 1994, 40 f.), mit großem Interesse gelesen haben. Besonders Benns Kritik an den in der zeitgenössischen Lyrik zu »Wortklischees« geronnenen Farbadjektiven – mit Ausnahme von »blau« – und seine Attacken gegen den »seraphische[n] Ton«, den er als »billige Spekulation auf die Sentimentalität und Weichlichkeit des Lesers« geißelt (Benn 2001, 18 f.), sollen dem jungen Brinkmann Vergnügen bereitet haben. Später allerdings hat dieser sich dann über den Vortrag »mit den darin ausgesprochenen privat-lustigen Verdikten, z. B. keine Farben in einem Gedicht zu gebrauchen außer blau = kosmisch« (Über Lyrik und Sexualität, 65), eher mokiert. Tatsächlich einschlägig für die Poetik Brinkmanns ist aber wohl Benns Konzept der »Artistik« als »Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben« und »gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust« (Benn 2001, 14; dazu Pornschlegel 2008) – wofür bei Benn nicht zuletzt die Farbe Blau eintritt: »›Was sich erhebt, das will auch wieder enden, / was sich erlebt – wer weiß denn das genau, / die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden / und dort die Weite, hoch und dunkelblau.‹« (Blaue Stunde, 1950; Benn 1986, 247) Benns Auffassung von Lyrik und der Rolle des Dichters traf den Nerv der Zeit, weil sie auf die Sinnlosigkeit der Geschichte und des Handelns in ihr, auf die vermeintliche Hilflosigkeit des Einzelnen gegenüber dem Verhängnis, in scheinbar angemessener Weise reagierte: durch Verbrämung der völligen Verweigerung gegenüber dem Politischen, die überhaupt nur eine Sinnstiftung ermögliche – »im Raum der Kunst« (Fischer 1986, 189), unter dem Begriff »Artistik«. (Dass sich gerade christliche Autoren in Benn wiederfanden, beruht aber wohl auf einem Missverständnis seiner Konzeption des absoluten Kunstwerks als »profanes Abbild des deus absconditus« [Späth 1986, 21 f.].) Die Statischen Gedichte als Versuch, »in einer Welt, die kein ›Sein‹ mehr besitzt, weil ihre metaphysische Ordnung zerfallen ist, in der dichterisch geformten Ordnung des Kunstwerks ein Analogon des einst vorhandenen Makrokosmos zu schaffen [...],
2 Nachkriegsliteratur
das in seiner gesetzmäßigen Struktur die verlorene metaphysische Ordnung der Welt bewahrt« (Steinhagen 1969, 269), vollenden nicht nur die expressionistische Lyrik Benns, sondern stellen auch den Gipfel der »Artistik« dar: den definitiven Rückzug aus der (politischen) Wirkungssphäre auf die reine poetische Form (Steinhagen 1969, 244–252). »Statisch« sind diese Gedichte nicht in stilistischer Hinsicht; vielmehr erscheint Statik als »der verklärte Gegensatz des sinnlosen Prozesses fortwährender Verwandlung, der Leben und Geschichte heißt. [...] Die autonomen, abgeschlossenen, in sich ruhenden Gebilde sind das Gestalt gewordene Ohne-mich« (Wellershoff 1958, 234 f.). (Dabei geht die Wahrnehmung der Sinnlosigkeit durchaus einher mit einer scharfen Kritik an den Entfremdungsprozessen der modernen Gesellschaft [Späth 1986, 24].) Brinkmann teilte mit Benn die Geringschätzung gegenüber politisch engagierter Literatur, etwa Brechts und seiner Epigonen, verbunden mit einem Verständnis des Autors als Außenseiter (Pankau 2008/09, 108) – freilich ohne den pseudo-aristokratischen Zug, den diese Haltung bei Benn hatte. Die plakative Offenheit gegenüber massenkulturellen und -medialen Produkten, die Benn an den Tag legt, der vorgeblich »mehr aus Zeitungen lernt als aus Philosophien« und »dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette« (Benn 2001, 30 f.), erscheint bei Brinkmann im Kontext der Pop Art radikalisiert. An die Stelle des für Benn zentralen kalten, distanzierten Moments der Durchformung als Ausdruck eines »geistige[n] Prinzip[s]« (Benn 2001, 21) tritt bei Brinkmann die distanzlose, Authentizität versprechende, Unkontrolliertheit des Schreibakts (Pankau 2008/09, 99–101). Neben den daneben weiter bestehenden, aber an Gewicht abnehmenden Versuchen, im Naturgedicht metaphysischen Trost angesichts des als sinnlos wahrgenommenen Politischen (und auf diese Weise eine lyrische Kontinuität zur Vorkriegszeit) zu stiften, bleibt Benns Paradigma einer formalistischen Bestimmung von Lyrik bis weit in die 1960er Jahre bestimmend. Wenn Walter Höllerer mit seinem Essay Nach der Menschheitsdämmerung schon durch die Wahl des Titels und dessen Referenz auf Kurt Pinthus’ wirkmächtige expressionistische Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung (1919/20) versucht, den Anschluss der Nachkriegslyrik an den Expressionismus herzustellen, und wenn er es mit seiner Anthologie Transit (1956) unternimmt, die Nachkriegslyrik unter einer vereinheitlichenden Poetologie zusammenzuführen, deren
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Schlagwörter »Gestalt«, »Aufbau«, »Struktur« und »stilistisches Grundelement« lauten (Späth 1986, 33), dann stimmt das durchaus mit Benns Auffassung des absoluten Gedichts zusammen. Anders als Benn aber, der dem Verlust einer metaphysischen Behaustheit die Form des Gedichts entgegenstellen wollte, sucht Höllerer, darin wieder der Naturlyrik näher, Orientierung im Mythos: als ein Aufgehobensein in der ewigen Wiederkehr des schon Bekannten (Späth 1986, 34 f.). Gemein ist all diesen Tendenzen eine radikale Abkehr von Formen eines gesellschaftlich-politischen Engagements der Dichtung – und damit setzen sie eigentlich das Moment der Inneren Emigration fort. In letzter Konsequenz führt dabei die starke Betonung der Form zu einem Verzicht auf Inhalt – auch aus der eher diffusen Angst heraus, Inhalte ließen sich, wie der NS-Faschismus gezeigt habe, in ideologische Dienste nehmen (was für Formen freilich genauso gilt, wenn nicht noch mehr). Ihr »konsequentes Ende« finden diese Entwicklungen, im Kontext einer allgemeinen Entpolitisierung der westdeutschen Gesellschaft in den 1950er Jahren, im »reinen Sprachexperiment der Konkreten Poesie« (Späth 1986, 35). Für einen gewissermaßen strukturalistischen Blick auf die Entwicklung der deutschen Nachkriegslyrik organisiert sich diese anhand einer Polarität, die mit Schiller gesprochen als Dichotomie von Form und Stoff aufgefasst werden kann. Für den langsam erwachenden Widerstand gegen eine restaurationskonforme Idolatrie der Form und für ein entschiedenes Plädoyer für den Stoff stehen dabei vor allem die Namen Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Peter Rühmkorf. Letzterer schrieb in seinem Brief über Benn, den er 1955 unter dem Pseudonym Leslie Meier im Hamburger Studenten-Kurier veröffentlichte (dessen Mitherausgeber Rühmkorf war und aus dem später die linke Zeitschrift konkret hervorging), über seine Generation: »[...] man verzichtete darauf, seine Illusionen zu verbuttern und seine Menschlichkeit lyrisch auszuschütten, dafür stand eine solide Hoffnungslosigkeit zur Verfügung, eine Basis aus Gram, und daß man sich rückhaltlos für sie entschloß, war zu einem nicht geringen Teil dem zu verdanken, der uns in dieser Zeit den Mut zum Monolog lehrte: Gottfried Benn« (Meier 1971, 281). 1962 geht Rühmkorf in seinen Abendliche[n] Gedanken über das Schreiben von Mondgedichten mit der gesamten Nachkriegslyrik hart ins Gericht, die er – und damit meint er unausgesprochen, aber unverkennbar Benn und seine Adepten – im »zeit-, gegenstands- und bedingungslosen Enthaltsamkeitsbezirk des derzeitigen abendländischen Kunstquietis-
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mus« verortet; »lautlosen Anklang, stumme Nachfolge, blindes Vertrauen« finde dabei das »Evangelium vom absoluten, freien, unabhängigen Ich, geoffenbart im absoluten, freien, unabhängigen Kunstwerk« (Rühmkorf 1962, 123; dazu Späth 1986, 39). Er selbst tritt demgegenüber, aber auch gegen Tendenzen zum inhaltsfreien Gedicht, nicht für »politische Aktivität der Lyrik« ein, sondern für die Mitte zwischen »totale[m] Engagement und totale[m] Desengagement« (die beide »gleich tödlich für das Wesen der Kunst« seien) (Rühmkorf 1962, 127). Formal steht Rühmkorf für eine Richtung der deutschen Lyrik, die das »unartifizielle, realitäts- und subjektivitätsgeladene, einfache Gedicht« bevorzugt (Späth 1986, 41), dabei aber spielerisch-parodistisch gesellschaftskritische politische Position bezieht. Deutlich wurde diese Haltung im Kontrast zum weitgehend um sich kreisenden Sprachexperiment auf einem 1961 von Walter Höllerer unter dem Titel »Lyrik heute« veranstalteten Lyrik-Symposium der von ihm zusammen mit Hans Bender seit 1954 herausgegebenen Zeitschrift Akzente, das als »Kristallisations- und Polarisationspunkt« dieser beiden Entwicklungsrichtungen gedeutet werden kann (Späth 1986, 41).
2.2 Kölner Realismus und Nouveau Roman Auch wenn Brinkmann selbst seine Affinität zur Prosa Benns, vor allem zu derjenigen der Nachkriegszeit, betont hat (Schwalfenberg 1997, 145–154): entscheidender für seine eigene Prosa ist wohl der unmittelbare Einfluss von Dieter Wellershoff. Wellershoff, der 1952 an der Universität Bonn die erste Dissertation über Benn angefertigt (was dieser mit deutlichem Behagen zur Kenntnis genommen hat [Benn 2001, 43]) und 1959 bis 1961 dessen Gesammelte Werke herausgegeben hat, wird als »Brinkmanns Mentor« nicht wenig daran mitgewirkt haben, dass Brinkmann sich nach seiner ersten Begegnung zu Schulzeiten weiter mit Benns Prosa und seiner Lyrik auseinandergesetzt hat (Pankau 2008/09, 102; Späth 1986, 19). Vor allem aber Wellershoffs eigenes Konzept des »Neuen Realismus« ist entscheidend für Brinkmann, den jener recht eigentlich entdeckt und dann gefördert hat: als Lektor beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, in dem 1962 die Anthologie Ein Tag in der Stadt mit Brinkmanns Erzählung In der Grube erschien. Das Konzept eines »Neuen Realismus« erläuterte Wellershoff zuerst 1965 in Die Kiepe, der Hauszeitschrift von Kiepenheuer & Witsch; der Begriff selbst,
der schon im Umfeld des französischen Nouveau Roman (s. Kap. 26) eine prominente Rolle spielte (Peitsch 1990, 64), wurde wohl von Walter Höllerer, der ihn 1964 in seinem programmatischen Essay Veränderung in seiner Zeitschrift Akzente verwendete (Ewenz 2012, 264), in die Debatte eingeführt: Höllerer stellt hier eine Verbindung zwischen neueren amerikanischen und deutschen Autoren, unter ihnen Wellershoff, her, denen er einen neuen Zug zur sinnlichen Wahrnehmung der alltäglichen Realität attestiert. Wellershoff kritisiert dann in seinem Beitrag, dass die Literatur der Nachkriegszeit »einen starken Zug ins Phantastische oder Groteske gehabt oder [...] sich der Herstellung gegenstandsentlasteter Textmuster gewidmet [habe]« (Wellershoff 1965, 1; dazu Ewenz 2012, 265), und stellt dem das Konzept eines »neuen Realismus« gegenüber; wie er andernorts ausführt, fordere dieses, »der Welt die konventionelle Bekanntheit zu nehmen und etwas von ihrer ursprünglichen Fremdheit und Dichte zurückzugewinnen, den Wirklichkeitsdruck wieder zu verstärken, anstatt von ihm zu entlasten« (Wellershoff 1969, 88; dazu Ewenz 2012, 266). Wellershoffs Verabschiedung »metaphysische[r] Ansprüche« in der Konzentration auf »das gegenwärtige alltägliche Leben in eine[m] begrenzten Bereich« und »den Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis« (Wellershoff 1965, 1) kann sich durchaus auf die Programmatik des französischen Nouveau Roman berufen (Ewenz 2012, 265); Ähnliches gilt für die Abkehr vom philosophischen Existentialismus zugunsten einer Orientierung an der Soziologie, verbunden mit einem aufklärerischen gesellschaftlich-humanen Interesse. Ein Unterschied besteht darin, dass im Falle von Wellershoffs Neuem Realismus die Programmatik der Praxis weitgehend voranging – während im französischen Falle die Zusammengehörigkeit der Autoren erst hinterher deutlich geworden ist (Peitsch 1990, 64). Durch sein Wirken im Lektorat von Kiepenheuer & Witsch beförderte Wellershoff die Bildung von etwas, das mit einigem Recht »Kölner Schule« genannt werden kann – etwa durch Verlagsankündigungen, die die Zusammengehörigkeit der Hausautoren unter der Rubrik »Neuer Realismus« programmatisch betonten (Peitsch 1990, 72). Aber Wellershoff hatte bereits vor seinen programmatischen Äußerungen in dieser Richtung zu wirken begonnen: Als 1962 neunzehn Verlage gemeinsam den Band Bücher der Neunzehn. Neunzehn deutsche Erzählungen publizierten, setzte er gegen seinen Verleger Joseph C. Witsch, einen der Initiatoren des Projekts, durch, dass der Verlag nicht mit seinem Zugpferd Heinrich Böll,
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sondern mit Brinkmann darin vertreten war (Peitsch 1990, 71). Dessen Porträtfoto gehörte denn auch, u. a. neben denen von Günter Seuren und Nicolas Born, zu denjenigen, die den Text zum »Neuen Realismus« in der Kiepe umrahmten. Brinkmann selbst lässt sich weniger als zur Kölner Schule zugehörig verstehen; vielmehr sieht er sich, wie sein Mentor Wellershoff, in der Nähe zu Positionen des Nouveau Roman, besonders zum Programm Alain Robbe-Grillets, das der sprachlich hergestellten ›objektiven‹ Sinngebung der Welt eine subjektive Detailbesessenheit entgegensetzte – in Form von Momentaufnahmen (Späth 1989, 34 f.).
2.3 1968 und die Politisierung der Literatur Die politische Geschichte Deutschlands ist bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dadurch charakterisiert, dass sie in wesentlichen Teilen unpolitisch ist, dass der Stellenwert des öffentlichen Diskurses, der sich seit der Aufklärung ausbildet, lange durch einen starken Zug zur Innerlichkeit geschwächt ist. An die Stelle politischer Reflexion tritt dabei, verstärkt seit der Aufklärung, das moralische Räsonnement. Theodor W. Adorno konstatiert 1950 eine erstaunliche »Auferstehung der Kultur in Deutschland«, eine gerade bei jungen Menschen spürbare starke »Beziehung zu geistigen Dingen«. Gegenüber der Zeit vor 1933 sei aber das »politische Interesse erschlafft«, es herrsche ein »Zwang zur Verinnerlichung«, der sich in »intellektuelle[r] Leidenschaft« äußere (Adorno 1950, 469). Die Kultur, deren Verkommen zur industriell gefertigten Massenware sich »noch nicht herumgesprochen« habe, liefere nur noch einen »gefährlichen [...] Trost der Geborgenheit im Provinziellen« (Adorno 1950, 470 f.). Was hingegen fehle, sei das Bemühen um »Einsicht in die Gesetze«, die dem zurückliegenden Geschehen der nationalsozialistischen Herrschaft, des Weltkriegs und der Judenvernichtung zugrunde lagen – im Sinne einer Frage auch nach den gegenwärtigen Möglichkeiten der Freiheit: »Es ist, als ständen die Menschen unter einem geistigen Bann. Unfreiheit und Autoritätsglaube, wäre es auch bloß der Glaube an die Autorität dessen, was nun einmal ist, sind ins allgemeine Bewußtsein eingewandert« (Adorno 1950, 472). Dieses Bündnis aus Kulturindustrie, Innerlichkeit und normativer Kraft des Faktischen wird erst durch die gesellschaftlichen Prozesse aufgebrochen, die meist unter die plakative Formel ›1968‹ gefasst werden. Zusammen wirkten hier Reaktionen vor allem
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seitens der Generation der Studierenden auf verschiedene, teilweise nicht mit einander zusammenhängende politisch-zeitgeschichtliche Prozesse wie den Vietnam-Krieg, die Bildung der großen Koalition im Jahre 1966 und vor allem die von ihr initiierten Notstandsgesetze, die im Mai 1968 beschlossen wurden, sowie die Pariser Studenten-Unruhen im selben Monat – wobei der Protest, der sich seit Anfang 1968 gegen die Notstandsgesetze formierte und immer stärker organisierte, deren parlamentarische Durchsetzung eher erleichterte. Parallel dazu verschiebt sich die Reflexion der jüngeren literarischen Autoren vom Moralischen ins Politische, und es kommt zu einer allgemein wahrnehmbaren Politisierung der Literatur. Nachdem die Pariser Studenten im Mai 1968 buchstäblich den Tod der (bürgerlichen) Literatur ausgerufen haben, wird auch im Kursbuch 15 des Jahres 1968 von mehreren Autoren für eine radikal andere Literatur plädiert, was später zur Bildung der »Legende« führt, dort sei der ›Tod der Literatur‹ proklamiert worden (Briegleb 1992, 43). Hans Magnus Enzensberger, der die Zeitschrift Kursbuch, einen ebenfalls wichtigen Stichwortgeber für den Überbau der Studentenbewegung, 1965 begründet hatte, distanziert sich dort aber von den Todeserklärungen der oft »Totgesagte[n]«, der die Krise zur »Existenzgrundlage« geworden sei. Allerdings rechnet er ebenso entschieden mit der Literatur nach 1945 ab, indem er ihr pauschal ihre »Entlastungs- und Ersatzfunktion« für nach Ende der NS-Herrschaft ausgebliebene notwendige gesellschaftlich-politische Veränderungen vorhält, deren Grund er letztlich im Ökonomischen, in der Marktkonformität der Literatur erkennt (Enzensberger 1968, 188, 190). Den einzigen Ausweg für eine Erneuerung sieht er, wie andere auch, in Dokumentar- und Reportageliteratur als Formen gesellschaftlicher Einflussnahme (Späth 1986, 117 f.). Vertreten wurden dazu, neben Formen unmittelbar propagandistischer und agitatorischer Literatur, auch, etwa von Martin Walser, Programme eines sozialistischen Realismus, der Möglichkeiten einer besseren Welt aufzeigen sollte (Bullivant 1992, 286 f.). F. C. Delius hatte bereits 1966 die provokativ-sozialkritischen Möglichkeiten von Dokumentarliteratur ausgelotet: mit seinem Text Wir Unternehmer. Über Arbeitgeber, Pinscher und das Volksganze. Eine Dokumentarpolemik anhand der Protokolle des Wirtschaftstages der CDU/CSU 1965 in Düsseldorf. (Als »Pinscher« hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard auf dem Wirtschaftstag der CDU Autoren wie Rolf Hochhuth beschimpft, die sich kritisch mit dem Handeln der
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marktwirtschaftlichen Akteure auseinandersetzten.) Delius, der als Lyriker (Abschied von Willy, 1966) zu den Autoren gehörte, die »repräsentativ das politische Credo der Studentenbewegung und die Motive ihres Protests [formulierten]« (Braun 1992, 424), provozierte dann 1972 mit der Satire Unsere Siemens-Welt. Eine Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S. einen handfesten literarischen Skandal. Die Wahl der sozial-liberalen Koalitionsregierung 1969 führte zu einer gewissen Beruhigung und allgemeinen Entpolitisierung, ja durchaus einer politischen Saturiertheit auch der literarischen Autoren, die aber dann durch den Ministerpräsidentenbeschluss vom 28. Januar 1972 (den sog. »Radikalenerlass«), der die Verfassungstreue von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes anmahnte, aufgestört wurde (Bullivant 1992, 293). Zwar gab es massive Kritik seitens literarischer Autoren an den Beschlüssen – Nicolas Born prognostizierte noch 1975, dass deren »Anwendung ausstrahlt oder ausstrahlen wird auf alle Lebensbereiche«: »Angesichts zukünftiger ökonomischer und ökologischer Katastrophen soll offenbar ein an Tollwut grenzender Geisteszustand von Wohlverhalten erzeugt werden« (Born 1980a, 55). Anders aber, als es 1968 aussah, fehlte nun offenkundig für grundsätzliche politische Veränderungen die Basis in der Bevölkerung; vielmehr kam es zu einer Radikalisierung von Randgruppen und deren Abtauchen in den terroristischen Untergrund (Kreuzer 1992, 223). Literarische Antworten auf die bis Ende der 1970er Jahre zunehmend geradezu hysterische Reaktion des Staates auf terroristische Bedrohung werden angemahnt, aber kaum gegeben – eine Ausnahme, die aber gerade nicht durch ihre literarische Qualität überzeugt, stellt Heinrich Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974) dar (Buch 1978b, 23; dazu Bullivant 1992, 295). Daneben und stärker zeigt sich eine Tendenz zur Verinnerlichung, zu Formen der Ausstellung von (literarisierter) Subjektivität.
2.4 Neue Subjektivität Die Entwicklung des Paradigmas der Neuen Subjektivität zu Beginn der 1970er Jahre ist eng mit der Studentenbewegung und ihren (ursprünglichen) Zielen verkoppelt. Herbert Marcuse, einer der Vordenker der studentischen Proteste, fordert 1969 in seinem Versuch über die Befreiung das »Bündnis der neuen Sinnlichkeit mit einer neuen Rationalität«; zwischen Sinn-
lichkeit und Vernunft vermitteln und damit den »Umbau der Gesellschaft« leiten soll dabei die Phantasie. Bestanden habe ein solches Bündnis, so Marcuse, bereits: in Form der Kunst; allerdings habe die hinter den Entwicklungen von Vernunft und Phantasie zurückbleibende materielle Wirklichkeit die phantastischen Entwürfe dazu verdammt, »etwas Irreales, Ausgedachtes und Fiktives zu bleiben. Kunst konnte keine Technik zum Umbau der Wirklichkeit werden; die Sensibilität blieb unterdrückt, die Erfahrung verstümmelt« (Marcuse 1969, 19). Dem politischen Protest der Studenten bescheinigt Marcuse, »nun in eine Dimension hinein[zureichen], die vordem als ästhetische Dimension wesentlich apolitisch war«; aktiviert werde dabei »die humane Sinnlichkeit, die gegen das Diktat repressiver Vernunft aufbegehrt und dadurch die sinnliche Gewalt der Imagination beschwört« (Marcuse 1969, 51 f.). Hatte Schiller dem politischen Handeln nach dem Scheitern der Revolution die Kraft zur Weltveränderung abgesprochen und sie für die Kunst reklamiert, so diagnostiziert Marcuse nun den umgekehrten Befund und weist der politischen Kraft der außerparlamentarischen Opposition genau diejenigen Veränderungen der Gesellschaft als Aufgabe zu, die der künstlerischen Phantasie bisher verwehrt geblieben sind. Erneut aber, so mag es jedenfalls scheinen, reagiert die Literatur, wie schon im Falle Schillers, damit, die Ziele zu bewahren, die denjenigen, die über die Mittel verfügen, abhandengekommen sind. Wahrnehmbar aber ist zunächst eine Zunahme in der Literatur, in Lyrik wie Prosa, ausgestellter persönlicher Befindlichkeiten, dazu in der Lyrik, in formal schlichter Aufmachung, Alltagsbeobachtungen, »Momentaufnahmen des Ich und seiner Umwelt, lässig und provokativ« (Kreuzer 1992, 227), und die zeitliche Koinzidenz ist unbestreitbar. Schon für Peter Rühmkorf, 1975, »datiert die Geburtsstunde des neuen Ich-Gefühls mit Zerfall der Studentenbewegung« (Rühmkorf 1975, 188; dazu Kreuzer 1992, 227). Eine wichtige Rolle spielte dabei ab 1973 das im Rowohlt Verlag erscheinende Literaturmagazin, in dem u. a. Born, Delius und Hans Christoph Buch ihre Positionen formulierten (Braun 1992, 433). Auf einem Grazer Literatursymposium zum Thema Realismus fordert Buch 1974, »daß wir nicht länger auf Befreier hören sollten, die im Privatleben Unterdrücker sind, und die uns dazu auffordern, die Befriedigung unserer persönlichen Bedürfnisse bis nach der Revolution zu verschieben«. Buch versteht dies noch als Plädoyer für das Aufzeigen der »utopischen Möglichkeiten«, »die in der täglichen Wirklichkeit ersticken und verküm-
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mern« (Buch 1978a, 13), und damit als Widerstand gegen eine normative Realität. Von außen betrachtet stellt sich der kausale Zusammenhang zwischen dem Scheitern der studentischen Revolte und einer Orientierungssuche, die die Literatur in den Bereich einer möglicherweise »humanen Sinnlichkeit«, jedenfalls aber zu einer Konjunktur des Subjektiven diesseits gesellschaftlicher Zwänge führt, freilich oft als vollständiger Rückzug aus der politischen Wirkungssphäre ins Privateste dar: Adolf Muschg, Schweizerischer Dichter und GermanistikProfessor an der ETH Zürich, konstatiert 1976 nicht ohne an Positionen der Kritischen Theorie gemahnenden Sarkasmus: »Die Ware Aufklärung bewies, daß sie wie jede andere dem Gesetz der Sättigung [...] gehorchte. [...] Der linke Verstand [...] begann stillzustehen und sich in sich selbst zurückzuziehen, um daselbst Gefühl zu werden«, und die Klappentexte der Bücher stellen »die persönliche Depression als rechtmäßigen Erben der politischen Revolte« vor (Muschg 1976, 25; dazu Kreuzer 1992, 224). Was aber meist ignoriert werde, sei die Tatsache, dass »in Beziehungen und Bindungen, in Ehen, und was von ihnen übrig ist, die schwerste gesellschaftliche Arbeit geleistet« wird; es gehöre zu den »Versäumnissen der neuen Linken«, das »systemüberwindende Potential« der schönen Künste übersehen zu haben, das sich auch im Rekurs auf das Private zeige: »Die Dunkelheit des Einzelfalls, mit dem es die Kunst zu tun hat, ist kein Werk der Verdrängung, im Gegenteil: sie macht Verdrängtes sichtbar, ihre Form erlaubt ihr Aufklärung auch unter schwerstem Druck« (Muschg 1976, 32). Gleichviel, ob das Private ein systemüberwindendes Potential hat oder nicht (und die weitere Entwicklung zeigt, dass es in der Bewegung des Rückzugs und der Abwendung vom Politischen zusehends verlo rengeht): unter implizitem Rekurs auf Modelle literaturgeschichtlicher Pendelbewegungen in der Abfolge radikaler Gegen-Gegenentwürfe erscheint nicht-teilnehmenden Beobachtern die neue Tendenz als Ausgleichsbewegung; so konstatierte etwa Marcel Reich- Ranicki 1975 in der FAZ in seinem Resümee der Frankfurter Buchmesse: »Was man als neue Subjektivität anpreist, ist die Rückkehr zu jener notwendigen Perspektive, die – als Folge einer einseitigen Politisierung der Literatur – allzu häufig in der vergangenen Zeit vernachlässigt wurde« (Reich-Ranicki 1975, 21). Lyriker wie Jürgen Theobaldy forderten entsprechend ein Ende der Vernachlässigung des je eigenen Ichs: Der Bezug aufs »Selbsterlebte« sei Ausdruck des Versuchs, »angesichts der öffentlichen Parolen« noch
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»Verläßliches, Überprüfbares« auszusprechen (Theobaldy 1978, 223; dazu Jung 1988, 263). Für Theobaldy allerdings ist die »Hinwendung auf Alltägliches« kein Ausweis des Verzichts auf politische Wirkung, sondern im Gegenteil Ausdruck der »Politisierung aller Lebensbereiche« (Theobaldy 1978, 222). Vielleicht handelt es sich beim Rückzug aus der politischen Kampfzone, der womöglich nur vermeintlich ein Rückzug aus dem Politischen ist, auch nur um den Ausdruck von »Skepsis« »nicht zuletzt gegen die gerade noch so gepriesene Vernunft« (und ihre Allmachtsphantasien) (Hamm 1976, 122; dazu Kreuzer 1992, 239). In der Summe jedenfalls sind Programmatik und literarische Produktion der Neuen Subjektivität »durch das spezifische, von einer Dialektik aus Kontinuität und Bruch bestimmte Verhältnis ihrer Autoren zur Stundenbewegung gekennzeichnet« (Hoffmann 2006, 36). Für Kontinuität sorgt dabei etwa das Verhältnis zum Realismus in der Literatur. Was die frühe Studentenbewegung der Literatur als ganzer vorgeworfen hatte: dass durch sie Veränderungsimpulse in den Bereich der Kunst verdrängt und dadurch absorbiert worden seien – ein Vorwurf, der etwa von marxistischer Seite der deutschen Literatur zur Zeit der Französischen Revolution gemacht worden ist –, wird nun auf literarische Gesellschaftskritik und Dokumentarliteratur umgemünzt. Zugleich wird konstatiert, dass die Kritik an den bestehenden Verhältnissen in der Negation immer (auch) deren Affirmation bedeutet. Nicolas Born etwa diagnostiziert illusionslos die deformierende Macht des Realen, wenn er feststellt, dass »[d]er gesellschafts- und systemkritische Autor [...] nur verstanden [wird], wenn er sich in den vorherrschenden Schreibweisen ausdrückt und wenn er sich an dem vorgestanzten Realitätsbegriff orientiert, der für ihn selektive Wahrnehmung bedeuten muß, und zwar im Sinne des Systems, das er kritisieren will. [...] Das System schafft das, was es selbst als Realität definiert, und der Autor liefert dann den passenden Realismus dazu.« Damit trügen Autoren des gesellschaftskritischen Realismus zur »Reproduktion der Verhältnisse [...] bei, indem sie die Verhältnisse beschreibend reproduzieren« (Born 1980b, 49, 47; dazu Hoffmann 2006, 37). Demgegenüber plädiert Born für eine Betonung der subjektiven Erfahrung mit einer alles andere als idealen Realität, dafür, nicht die Phantasie an ihrer Realisierbarkeit zu messen (was bedeutet, die normative Kraft des Faktischen anzuerkennen), sondern umgekehrt die Realität an den Vorstellungen der Phantasie. Aufgabe der Literatur sei es, »den sowohl
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zerstörerischen wie auch aufbauenden, auf jeden Fall aber erschütternden Zusammenprall der Imagination mit dem Faktischen darzustellen bzw. dieser Zusammenprall selber zu sein« (Born 1980a, 56; dazu Hoffmann 2006, 39 f.) – in Form utopischer »positiver Gegenvorstellungen« zur »totalen Faktizität der Außenwelt« (Born 1980b, 53). Von engagierteren Positionen aus sah das sehr nach einer eskapistischen Proklamation der Idylle aus. Auch wenn Born dem entgegnete, die vorgebrachte »Forderung [...], auf dem Teppich zu bleiben und nicht wunschzudenken«, sei geradezu »viehisch« – (»Die Sehnsucht nach der ungestörten Idylle kann ohnehin nur noch imaginativ erfüllt werden. Warum sollte sie nicht intakt gehalten werden?«) (Born 1980b, 52; dazu Hoffmann 2006, 41) – übersieht seine Position doch, dass die »Sehnsucht nach der ungestörten Idylle« alles andere bedeutet als eine Störung des Nicht-Idyllischen, dass vielmehr die Kehrseite dieser Sehnsucht die Affirmation des Bestehenden ist. Die Gefahr besteht, dass – wenn auch die Autoren womöglich noch über genug kritisches Bewusstsein verfügen, um die Diskrepanz zwischen der Idylle und der Realität dieser in Rechnung zu stellen – spätestens der Leser die (womöglich nur vermeintliche) Einladung zum Eskapismus annimmt (Hoffmann 2006, 42). Aber auch die radikalere These, dass schon die Autoren die soziale Realität aus dem Blick verlieren, wird bereits von den Zeitgenossen formuliert. Buch beschleicht 1976 der »Verdacht, daß unsere sensiblen Schriftsteller ihre Sensibilität einzig und ausschließlich auf die eigene Person anwenden und gleichzeitig immer unempfindlicher werden für die Probleme anderer«, so dass letztlich die ausgestellte »Sensibilität [...] zur Negation der Solidarität« werde (Buch 1978c, 31 f.). Der Grund dafür sei der notwendige Narzissmus des Schriftstellers: »wer sich selbst und seine Leiden nicht ständig übermäßig wichtig nimmt, bringt keine Zeile zu Papier« (Buch 1978c, 33; dazu Hoffmann 2006, 42 f.). Dadurch aber verwandelt sich die von Marcuse geforderte Sensibilität für die Deformation der Phantasie in eine ›Neue Innerlichkeit‹: einen Narzissmus, der die Verhältnisse, indem er sich von ihnen abwendet, zementiert (Hoffmann 2006, 43). In der Unklarheit, ob das Subjektive noch eine politische Dimension habe, erweist sich der Terminus ›Neue Subjektivität‹ zwar tatsächlich als bloß »vage Formel« (Braun 1992, 430), aber das unterscheidet ihn von kaum einem anderen Namen einer literarischen Strömung. Der gelegentlich beschrittene Ausweg, im Blick auf die Themen und Schreibweisen von einer »Alltagslyrik« zu sprechen, die ein »pragmatischer Gestus«
kennzeichne (Buselmeier 1977, 31), hat den Nachteil, die (eindeutigen) Mittel, nicht die (uneindeutigen) Zwecke ins Zentrum zu rücken. Eines aber scheint im Rückblick deutlich: Der von Adorno für die unmittelbare Nachkriegszeit diagnostizierte »Zwang zur Verinnerlichung« hat sich erneut durchgesetzt. Literatur
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Volker C. Dörr
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3 Moderne Als eine Art Bilanz erschien 1970 in Brinkmanns Verlag Kiepenheuer & Witsch die von seiner Lektorin Renate Matthaei herausgegebene Anthologie Grenzverschiebung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur der 60er Jahre. Unter den fünfundvierzig Autoren der jüngeren Generation wie Nicolas Born, Peter Handke, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Bernhard und Ernst Jandl steht Brinkmann mit Prosa und Gedichten in einer Reihe mit namhaften Autoren einer erklärten Moderne. In einer Situation der Verunsicherung und des Anbruchs einer neuen Zeit verzeichnet Matthaei konzeptuelle Suchbewegungen und dokumentiert Wege in eine unbekannte Literatur. Die Nachkriegsjahre als Zeit der Erschöpfung, der Anpassung und der verinnerlichten Zwänge lagen zurück, der bewusste Bruch mit Erwartungen war der neue Trend. Formale Neuerungen, ästhetische Experimente und das Ausloten der Grenzbereiche von Kunst und NichtKunst, ihr Überschreiten in die Aktion hinein standen damals im Zentrum des Interesses. Brinkmann fand in diesem Kontext einer Suche nach noch nicht bearbeiteten Gegenständen und ungewohnten Schreibweisen seine Zuordnung zu den am Alltag orientierten Autoren, den Literaten, die sich um die liegengelassene unordentliche Realität kümmerten, die aus dem Banalen den poetischen Funken schlagen konnten (Matthaei 1970, 31). Die Produkte der technischen Medien, von Reklame, Illustrierten, Filmen, Fernsehen, die überall einwirkenden Mythen des Konsums und ihre Funktion für das Bewusstsein waren Gegenstand der Poesie dieser Gruppe von Autoren. Bei aller Erwartung an diese ›Erweiterung des Literaturbegriffs‹, wie das Schlagwort hieß, fiel schon früh die antiindividualistische und antipsychologische Attitude einer solchen Stilisierung auf. Und gerade diese Haltung, als radikale Neuheit vorgetragen, wies deutliche Bezüge zur Tradition der Moderne auf. Sprachliche Reflexion, konkrete Poesie, Happening, Dokumentarismus, neuer Realismus, intellektuelles Einzelgängertum hatten ihre Ursprünge spätestens im Expressionismus. Die versprochenen Grenzverschiebungen waren nicht nur in weiten Teilen Wiederaufnahmen von Tendenzen seit dem frühen 20. Jahrhundert, sondern gehörten seither zum Selbstverständnis jedes Modernen (Batt 1974, 8). Brinkmann war 1968 mit seinem Roman Keiner weiß mehr einem größeren Publikum bekannt und sofort als Vertreter einer provokanten Modernität wahrgenommen worden. Die Destruktion des geschlos-
senen Erzählzusammenhangs, der Zweifel an Sinn und Möglichkeiten des Erzählens überhaupt, die thematische Zerstörung des Humanen, der Identitätsverlust, die Konzentration auf das Marginale, der antiliterarische Gestus der Erzählhaltung, das Durchbrechen der Fiktionalität in der Bevorzugung von Figurationen unmittelbarer Gegenwärtigkeit, die erotische Entgrenzung, die kreativitätssteigernde Wirkung von Drogen (Kiesel 2004, 118–121), das waren freilich Grundzüge der Literatur seit der frühen Moderne. Nun allerdings sollte der Bezug zwischen Material und Form anders hergestellt werden als bei der normalen Wiedergabe von Realität in der Sprache. Dass Sprache der Welt nicht mehr leichthin nahekommen könne, war eine Grunderfahrung der Moderne, die Brinkmann radikalisiert. Erfahrung und Wirklichkeit in ihrer herkömmlichen Zuordnung sind suspekt und ihrerseits Gegenstand der Befragung. Alles Vorgeformte verfällt einem grundsätzlichen Verdacht. Naive Selbstgewissheiten der Wahrnehmung stellt Brinkmann bei seinen Beschreibungen mit komplexen, bezugslosen, bisweilen ins Unbegreifliche laufenden Konfrontationen in Frage (Vormweg 1968, 20). Der mit Brinkmann bekannte Kritiker Heinrich Vormweg hat diese Tendenzen innerhalb einer forcierten Moderne kritisch begleitet und minutiös analysiert. Brinkmann ballt eine Masse von Wahrnehmungen innerhalb einer Situation zu einer Geste, er schafft in der Prosa plastische Figurationen des Erfahrenden selber, die sich immer wieder auflösen. Er zeigt einen Zerstörungsprozess in weit fortgeschrittenem Stadium, bei dem er das Individuum ausschaltet. Der Text kreist nicht mehr um ein Ich, sondern um autonom gewordene Wahrnehmungen (Vormweg 1968, 41). Die Ich-Auslöschung markiert dann auch ein Ende, jenseits dessen Artikulation nicht mehr möglich ist (Vormweg 1968, 66). Situiert man Brinkmann innerhalb einer Geschichte der literarischen Moderne in der Nachkriegszeit, so kommt er zunächst von der Kunstliteratur der klassischen Moderne her und öffnet sich in den 1960er Jahren zunehmend neuen Schreibweisen, gerade auch in der vermeintlich modernen Ablehnung jeder Tradition. Sodann schließt Brinkmann mit seiner Lyrik an die internationale Poesie an. Die Vielgestaltigkeit der Moderne lernt er in den zahllosen Übersetzungen kennen, die seit den 1950er Jahren den Markt bereicherten. Mit seinen eigenen lyrischen Projekten trägt er entscheidend zur Durchsetzung des modernen Gedichts bei und damit zur Konstitution einer »Weltsprache der Poesie« (Kiesel 2004, 39–40). Als markante Zäsur der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_3
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Lyrikgeschichte kann das Jahr 1965 gelten. Zeitgleich mit wichtigen poetologischen Statements von Walter Höllerer, Hans Magnus Enzensberger und Karl Krolow erscheinen die Lyrikbände Brinkmanns, die am nachhaltigsten überkommene Vorstellungen vom Gedicht erschüttern und das Konzept einer scheinbar rohen, direkten, nicht artifiziellen Sprache dokumentieren (Braun 1992, 437). Gerade die zerrissene Struktur der Texte und das Ineinander von Momentaufnahmen, soweit sie die chaotische Gleichzeitigkeit von Bewusstseinsreizen darstellen, belegen bis hin zur Mehrspaltigkeit der Collagen die Anlehnung an bekannte Verfahren moderner Weltliteratur. In dieser Perspektive treffen auf Brinkmann gleich mehrere Kriterien der klassischen Moderne zu: Die Überwindung der Antithese von Natur und Zivilisation führt zu einer Darstellung ihres problematischen Verhältnisses. Das Einverständnis mit der zivilisatorischen Welt wird aufgegeben, ihr Verlust steht im Zentrum der Kunst. In ästhetischer Hinsicht erzwingt die Erkenntnis von der zerbrochenen Substanz des modernen Lebens Verfahren der Darstellung einer von Diskontinuität geprägten Welt. Destruktion und Dekonstruktion, Reflexion und Kritik dominieren. Die Konkurrenzmedien der Künste kommen in den Blick, im Falle Brinkmanns (mit Einschränkungen) die Fotografie und der Film. Derartige Entgrenzungen finden freilich ihr Korrektiv im durchaus traditionalistischen Selbstverständnis Brinkmanns als ›Dichter‹. Und die Erweiterung der Techniken um außerliterarische Möglichkeiten trägt nur zeitweise, sie führt in den 1970er Jahren sogar wieder zurück ins Medium Buch. Poetologisch greift Brinkmann die These vom Ende der Avantgarden auf. Er teilt mit anderen die epochale Diagnose vom Ende einer Progression bei den künstlerischen Mitteln und will doch zugleich wie Leslie Fiedler darüber hinaus. Brinkmanns Verortung und Orientierung in der Moderne trägt Züge einer trotzigen Behauptung jeder Neuerung gegen alles Hergebrachte (Kiesel 2004, 295–297). Zugleich scheint er aber immun gewesen zu sein gegen jede Ästhetisierung der Lebenswelt. Sein Plädoyer gegen eine Sakralisierung der Form und für eine »Poesie der Oberfläche« lässt sich so verstehen (Schäfer 1981, 185). Grundsätzlich spricht Brinkmann mit einem heiligen Ernst. Bemerkenswert bleibt seine hohe, ja, höchste Erwartung an Literatur. Von seinen ersten Anfängen an begreift er Poesie als existentielle Handlung. Er scheint einem inneren, unzerstörbaren Kern des Individuellen verpflichtet zu sein, wenn er immer
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wieder nach dem Leben, der Lebendigkeit fragt. Dieses Vertrauen auf eine letzte Unbedingtheit in sich selber verbindet ihn mit vitalistischen Konzepten der Moderne. Ein weiteres, noch nicht durchdrungenes Erbe seines kulturkritischen Ansatzes ist das Ausweichen in Transzendenz. Bei aller Ablehnung einer hinter den Dingen liegenden Bedeutung kann Brinkmann nicht auf Allegorie verzichten, denn über den Dingen wölbt sich das geschlossene Weltbild eines Konsumhimmels und die ästhetische Behandlung der Objekte umgibt sie mit einem Schein, den der Autor auf materieller Ebene strikt ablehnt (Schäfer 1981, 186). Nicht eine bloße Reprise der (frühen) Moderne ist sein Ziel. An die Stelle des bloßen Selbstbezugs in der avantgardistischen Moderne tritt ein neuer Mythos namens Gegenwart. Diese unmittelbare Präsenz, eine nie zuvor gesehene Gegenwart, springt im künstlerischen Akt aus der überraschenden Zusammenstellung der Details hervor, der den Bezug zur Realität nicht verloren hat wie in der Avantgarde üblich. Auch in dieser Frage ist Brinkmanns Poetik im Kern traditionellen Konzepten verpflichtet. Bemerkenswert ist eine gewisse Inkonsequenz beim Umgang mit den Koordinaten des eigenen Kunstverständnisses. Das zentrale Begriffspaar ist der Gegensatz von »Fortschritt« und »Erweiterung«, vorgetragen in den beiden Anthologien Acid und Silverscreen. In erklärter Distanz zur Avantgarde von gestern nimmt Brinkmann Partei gegen den Fortschritt und behauptet, Kunst könne sich immer nur erweitern. Dennoch sei die Situation die gleiche geblieben wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nur die Orientierung in der Überfülle des Vorhandenen zwinge zu neuen Methoden. Die Arbeit mit und im Material wirke einerseits gegen jede Sinnbildung sowie gegen die Erwartung des Lesers an einen Sinn hinter den Produktionen. Andererseits aber sollen die Techniken des Arrangements von Fremdmaterial dazu führen, dass sich der Schreiber selber realisiere. Unterschwellig kehrt hier eben doch ein Fortschrittsglaube wieder. Bedeutend bleibt seine Stellung zwischen dem immer wieder verweigerten Traditionsbezug und der intensiven Auseinandersetzung mit kanonischen Beständen, das Hin und Her zwischen Anschluss und Verweigerung, die Erneuerung der Moderne bei gleichzeitigem Abstand zu ihrer reinen Selbstbezüglichkeit, die Übernahme ihrer poetischen Verfahren bis hin zum erfundenen Zitat, das Schwanken zwischen Materiellem und Spirituellem, profan gesagt: zwischen Hingabe und Sucht.
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3.1 Wiedergewinnen der Moderne Der noch in Westwärts 1 & 2 vielfach verwendete Mond ruft schon in Brinkmanns frühen Gedichten kein Sehnsuchtsbild à la Caspar David Friedrich auf. Seine Jünglingsgedichte haben »nichts mehr zu tun / mit Eichendorff« (V, 42), sondern geben sich bewusst ›modern‹ im Sinne von Gottfried Benns Marburger Vortrag Probleme der Lyrik (1951). Bereits der 16-jährige Schüler verehrt dieses Plädoyer für eine Lyrik, die nicht aus ›Stimmungen‹ heraus ›entsteht‹ (vgl. Kobold 2014, 39–49); was er sich von Benn sagen lässt, ist vor allem die Einsicht, dass der ›große Dichter‹ notwendig »ein großer Realist« sein will: »er belädt sich mit Wirklichkeiten, er ist sehr irdisch« (Benn 1951, 17). Wenn Brinkmann gut ein Jahrzehnt später von der Absicht spricht, »alle Vorurteile, was ein Gedicht darzustellen habe und wie es aussehen müsse, so ziemlich aus mir herauszuschreiben« (Piloten, 6), denkt er mutmaßlich an die in Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer (1955) dokumentierte ›nachholende Modernisierung‹ (vgl. Fauser 2011, 13). Die poetischen Anfänge Brinkmanns, der diese Sammlung exemplarischer Lyrik mit Selbstkommentaren der Verfasser früh erworben hat, stehen im Verzicht auf Metrik, Reim und Interpunktion zugunsten einer grammatikwidrigen, alogisch-surrealen Lakonie durchweg unter dem Eindruck dieser betont artifiziellen Dichtung. Die erste Abkehr vom westdeutschen Standard der kultiviert-gemäßigten, insofern ›klassischen‹ Moderne markiert Le Chant du Monde (1964), wo sich hochkulturelles Bildungsgut bereits unverbunden neben Alltagsmaterial findet (vgl. Röhnert 2004, 132). Auf französische Anregungen deutet dabei das dem Spätsurrealisten Jean Follain entliehene Motto, dessen Verwendung der Rückblick von 1974 als Symptom von »ganz verworrenen ›lyrischen‹ Ansichten« kommentiert (BrH, 38). Hat sich Brinkmann noch 1965 nur vage auf die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts berufen, motiviert ihn um 1968 die US-amerikanische Gegenwartsliteratur zur genaueren Wiederbeschäftigung mit der französisch-amerikanischen Avantgarde. In vielfachen Zitat-Fetzen und Paraphrasen ist diese Konzentration auf Rimbaud, Apollinaire und Céline, Ezra Pound, T. S. Eliot und W. C. Williams (vgl. Röhnert 2004, 133; Di Bella 2015, 99) während der 1970er Jahre in Westwärts und Schnitte eingegangen. Was der junge Brinkmann alles gelesen und gut bzw. schlecht gefunden hat, kann im Nachhinein nur zum geringen Teil belegt werden (vgl. u. a. Rygullas
kursorische Hinweise in Carius 2008, 114). Dieser Mangel an verbindlicher Information erlaubt kaum mehr als Spekulationen über die prägenden Muster: Offenbar pflegt Brinkmann zur Schulzeit und darüber hinaus das seinerzeit gängige Rollenbild des poète maudit (vgl. Fauser 2011, 122) und unterfüttert diesen Habitus eines nihilistischen Ästheten philosophisch: »Es wurde erzählt, er sei ein Existentialist« (Elisabeth Piefke-Zöller in Geduldig/Sagurna 1994, 57). Anhand des Protokollbuchs der ›Rhetorika Vechtensis‹, das selbstorganisierte Diskussionen der ambitionierten Schüler an Brinkmanns Gymnasium verzeichnet, ist immerhin eine Serie von Vorträgen gut belegt (vgl. Fauser 2011, 107–109), in denen der Sechzehnjährige die Modetheorie existenzieller Sinnlosigkeit gegen die Glaubensgewissheiten des etablierten Christentums ausspielt (mutmaßlich auf der Grundlage von Emmanuel Mouniers Einführung in die Existenzphilosophien von 1949). Zur gesicherten Lektüre gehören bereits früh »wilde Bücher, raffinierte Bücher, Bücher von großen Einzelnen« (RB, 202): neben Hans Henny Jahnns Perrudja (1929) namentlich Reise ans Ende der Nacht (Voyage au bout de la nuit, 1932) und Tod auf Kredit (Mort à crédit, 1936) des von Brinkmann »zum Märtyrer des Existentialismus« (Fauser 2011, 110) stilisierten Louis-Ferdinand Céline. Um 1960 kommen mit Alain Robbe-Grillet und Michel Butor die Hauptvertreter des innovativen französischen Prosa-Paradigmas Nouveau roman hinzu; von deutschen Autoren schätzt Brinkmann seinerzeit neben Gottfried Benn und Karl Krolow den ausgewiesenen Nonkonformisten Peter Rühmkorf (dem ›roten Rühmkorf‹ ist 1962 Ihr nennt es Sprache dediziert). Das auch in schulischen Referaten verarbeitete Wissen um die deutschsprachigen Tendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdankt er nicht zuletzt Gottfried Benns Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955), während ihm die internationale Lyrik der ersten Jahrhunderthälfte namentlich in Hans Magnus Enzensbergers epochalem Museum der modernen Poesie (1960) begegnet ist. Festzuhalten bleibt die »intensive Aneignung der Moderne« im Rahmen einer »ausholenden Zitatpraxis, die Bergengruen, Bachmann, Mallarmé, Pound, Benn und Prévert nebeneinander stellt« (Fauser 2011, 119 f.) und das Finden eines eigenständigeren Ausdrucks in Le Chant du Monde vorbereitet: »Brinkmann scheint in der Tat das Museum der modernen Poesie – und mehr als dieses – schon derart absorbiert zu haben, dass es ihn nach Neuem, Anderem drängte« (Röhnert 2004, 133).
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3.2 Französische Moderne Da Brinkmanns Gymnasialzeugnisse keinen Französischunterricht ausweisen (vgl. Vechta! 1995, 49; 57), kann ihm die Literatur von Charles Baudelaire bis Alain Robbe-Grillet nur in Übersetzung zugänglich gewesen sein. Für die emphatische ›Moderne‹ Frankreichs scheint ihn namentlich Hugo Friedrichs schnell zum Referenzwerk gewordene Überblicksdarstellung Die Struktur der modernen Lyrik (1956) empfänglich gemacht zu haben, wo zweisprachige Textbeispiele spanischer und italienischer Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts die literaturhistorische Charakterisierung Baudelaires, Rimbauds und Mallarmés garnieren (Brinkmann ist offenbar dort auf die zwei Zeilen aus Federico García Lorcas Muerte (1935) gestoßen, die seinem Gedicht, das er sich selber zu seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag schrieb am 16. April 1962 voranstehen; vgl. Kobold 2014, 141 f.). Im Hinblick auf die »moderne Lyrik« als europaweite »Stilgemeinschaft« betont der Romanist Friedrich ähnlich wie Gottfried Benn den engen »Zusammenhang der Heutigen mit den Franzosen des 19. Jahrhunderts« (Friedrich 1956, 8) und bringt damit auch dem jungen Brinkmann diejenigen Autoren nahe, an denen er anfangs Maß nehmen wird. Dass Friedrichs Auflistung der auffälligsten Schreibverfahren im Horizont der ›Moderne‹ überall bei Brinkmann ein Echo gefunden hat, zeigt, wie sehr er in eben dieser Tradition verwurzelt ist (vgl. Pornschlegel 2008, v. a. 598): »Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, dislozieren, astigmatische Sehweise, Verfremdung ...« (Friedrich 1956, 15). Charles Baudelaire, von Brinkmann vordergründig kaum beachtet (nur einmal erscheint der Name, eher absichtslos verschrieben, als ›Beaudelaire‹; vgl. BrH, 11), gilt Hugo Friedrich als Vorläufer der eigentlichen ›Moderne‹. Der Dichter der so formstrengen Fleurs du mal (wörtlich: ›Die Blüten des Bösen‹, zuerst 1857) hat allerdings bereits das gleiche ›Problem‹ zu lösen versucht, das auch Brinkmanns Dichten durchgehend bestimmt: »wie nämlich Poesie möglich sei in der kommerzialisierten und technisierten Zivilisation« (Friedrich 1956, 25). Friedrichs Struktur der modernen Lyrik präsentiert Baudelaire vor allem als Begründer einer neuen poetischen Kunst, die das Hässliche als ästhetisch starken Reiz zu nutzen weiß und »an den Anfang des künstlerischen Aktes« folglich »das Zerle-
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gen stellt«; mehr noch als Baudelaires eigene Lyrik sei die »seiner Erben« deshalb als »entromantisierte Romantik« zu begreifen (Friedrich 1956, 41;43). Über das gemeinsame Flaneur-Motiv lässt sich Einer jener klassischen direkt auf Baudelaires Sonett À une passante beziehen (Di Bella 2015, 428 f.), dem allerdings Photographie (St, 52) und Einfaches Bild (St, 124) noch näher verwandt sind. Gründlicher als von Baudelaire hat Brinkmanns Schreiben von Arthur Rimbaud profitiert, den er bereits »um 1955, 1956« entdeckt haben will (BrH, 116). Mit Ausnahme der frühen ›Ophelia‹-Adaption in Wenn ich komme (1960; vgl. Kobold 2014, 63–75) erreicht Rimbauds Einfluss »indes erst in Brinkmanns Spätwerk mit seinen zahlreichen Bezugnahmen auf Le Bateau ivre und Une saison en enfer seinen Höhepunkt« (Kobold 2014, 74), nachdem Werner Dürrsons zweisprachige Ausgabe (1970) den bequemen Zugang zu Une saison en enfer (›Eine Zeit in der Hölle‹; 1873) eröffnet hat (vgl. Kobold 2014, 74 f.). An die Rimbaud-Lektüre zur Schulzeit müssen Brinkmann auch die Schlusszeilen von Ted Berrigans Sonnet 74 (vgl. Apollinaire, 28 f.) erinnert haben, die das als »herzzerreißender Fakt« (UN 274) aufgenommene Bild aus Le Bateau ivre (›Das trunkene Schiff‹, 1871; v. 93–96) vom »Kind, das in der Abenddämmerung an einem Tümpel in Europa spielt« (Unkontrolliertes Nachwort, 274), in der Ich-Form zitieren. Rimbaud, der sich seinen literarischen Ruhm mit 16/17 Jahren erschrieben hat, mag dem in etwa gleichaltrigen Gymnasiasten Brinkmann allein deshalb schon imponiert haben, wird ihm aber besonders durch den von Hugo Friedrich hervorgehobenen »Traditionshaß« zum Vorbild geworden sein. Das Postulat »exécrer les ancêtres« aus Rimbauds ›2. Seher-Brief‹ (An Paul Demeny, 15.5.1871; bei Friedrich frei als ›Die Ahnen verfluchen‹ übersetzt), findet 1969 ein konkretes Echo in Brinkmanns emphatischer Parteinahme für Leslie Fiedlers Konzept einer literarischen Postmoderne: Mit Angriff aufs Monopol (›Ich hasse alte Dichter‹) aktualisiert Brinkmann die »provozierende Absonderung Rimbauds von Publikum und Epoche« und besonders »von der Vergangenheit« (Friedrich 1956, 48). Friedrich erwähnt in diesem Zusammenhang vor allem Rimbauds ›Heftigkeit‹, die den Unterschied von Vers und Prosa ignoriert und ihren ›Kern‹ in einer ›brodelnden Erregung‹ hat, die »keine nachvollziehbaren Sinngefüge mehr« hervorbringt, »sondern Fragmente, gebrochene Lineaturen, sinnlich scharfe, aber irreale Bilder« (Friedrich 1956, 44). Mit nur wenigen Abstrichen könnten diese Kate-
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gorien auch für Westwärts, Teil 2 gelten, wo Brinkmann einleitend Rimbauds ›Tümpel‹-Motiv aus dem Kontext reißt, um es in eine brüchige Allegorie der heruntergekommenen Lebenswelt des alten Europa einzufügen; in Verbindung mit Motiven aus Rimbauds Biographie taucht es im Abschnitt ›6.‹ noch einmal auf (Ww 72; 85). Zwei der Motti des Villa Massimo-Drucks Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (1973; FW, 95– 118) sind Rimbauds Eine Zeit in der Hölle, der Sammlung von lyrisch-expressiv überhöhter, doch autobiographisch grundierter Kurzprosa, entnommen und stützen »die für Brinkmanns Spätwerk typische Zivilisations- und Sprachkritik« (Kobold 2014, 74). In Schnitte hat sich Brinkmann mehrfach bei Rimbaud bedient (aufgelistet in Strauch 1998, 198); die komplexe Zitat-Montage (Sch, 8) aus Eine Zeit in der Hölle schließt dort auch die leicht variierte Eindeutschung der ersten Zeile aus dem berühmten Voyelles-Gedicht (›Vokale‹) ein »A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu« (»A schwarz E weiß I rot O blau U grün« (Sch, 8). Demgegenüber wird die berühmte Formel »Il faut être absolument moderne« (›Es gilt unbedingt modern zu sein‹) am Ende von Une saison en enfer von Brinkmann hier ebenso wenig aufgegriffen wie der nicht minder prominente Spruch »Je est un autre« (›Ich ist ein anderer‹) aus dem ›2. Seher-Brief‹, der später z. B. in den Erkundungen (365) zitiert wird. Rimbauds persönliche wie poetische Vehemenz steht Brinkmann letztlich näher als die ostentative Entspanntheit der US-amerikanischen Pop-Lyriker, die Susan Sontag camp genannt hat. In besonderem Maß ist es Rimbauds »ziellose Zerstörung der Realität [...] als das chaotische Zeichen für die Unzulänglichkeit des Realen überhaupt« (Friedrich 1956, 57), die Brinkmann überbieten will, um auf die faktisch gewordene ›Realitätszerstörung‹ im Medium der Kunst trotzdem antworten zu können. Vor diesem Hintergrund lassen sich Brinkmanns Text/Bild-Collagen seit Rom, Blicke als konsequente Weiterführung von Rimbauds Impuls begreifen, mit ästhetischen Mitteln »durch eine willentlich zertrümmerte Wirklichkeit hindurch« eine Wahrheit zu erkennen, die nach den realgeschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts allerdings keine der »leeren Transzendenz« (Friedrich 1956, 46) mehr sein kann. Rimbaud bleibt für Brinkmann der vitalste literaturgeschichtliche Bezugspunkt im 19. Jahrhundert, weil er rückhaltloser als Baudelaire das Hässliche der Lebenswelt genutzt hat, um die sinnliche Intensität seiner Sprache ins Extrem zu steigern. Die Schock-Äs-
thetik der ungeschönten Benennung menschlicher Körperlichkeit, die Hugo Friedrich mit Blick auf Rimbauds Les Assis (›Die Sitzer‹, 1871) erläutert, treibt Brinkmann in der Explizitheit des dirty speech zwar auf die Spitze, wäre ohne Rimbauds Vorarbeit aber nicht zu denken: »Was wohnlich, bequem anmuten könnte, wird durch Querschläger getroffen, meist am Ende eines Textes und durch Einbruch eines brutalen oder vulgären Wortes. Aufreißen, nicht Schließen ist der Wille dieses Dichtens« (Friedrich 1956, 63). Stéphane Mallarmé, den Die Struktur der modernen Lyrik als zweite Leitfigur der neuen Poesie vorführt, ist bei Brinkmann weitgehend folgenlos geblieben. Zu wenig verbindet Mallarmés Bemühen um die »Schönheit der absoluten Form« (Friedrich 1956, 88) mit Brinkmanns gewollter Nachlässigkeit in Metrik und Orthographie. Weder die »Vernichtung des Dinglichen« (Friedrich 1956, 97) noch die »Ursituation modernen Dichtens« im »Alleinsein mit der Sprache« passen zu Brinkmann, der sich zu keiner Zeit wie Mallarmé »jede Einmischung in die Gegenwart« (Friedrich 1956, 106) verboten hat. Allerdings ist Mallarmé derjenige Dichter, der in Un coup de dés (1897) das ›lange‹ Flächen-Gedicht mit vorbereitet hat, das Brinkmann zurzeit von Westwärts vor allem in der Ausprägung bei W. C. Williams (insbesondere in Paterson, 1946–1958) und Ted Berrigan aufgreift (vgl. z. B. February Air / Februarluft; Apollinaire, 42; 43). Auf Guillaume Apollinaire kann der junge Brinkmann ebenso über Hugo Friedrichs knappe Charakterisierung, er verquicke »die höchst reale Welt der Maschine mit den Traumbildern des Absurden« (Friedrich 1956, 165), aufmerksam geworden sein wie über Enzensbergers Museum der modernen Poesie (Der Elefant und Unterm Pont Mirabeau). 1964 ist Apollinaires Vortrag Der neue Geist und die Dichter (1918 gedruckt) in Akzente erschienen. Der darin propagierte ›neue Realismus‹ rechnet »die Überraschung, das Unbekannte« zu den »hauptsächlichen Quellen der heutigen Poesie« und schließt mit der Prophezeiung, die neuen Dichter würden »schließlich eines Tages die Poesie maschinisieren, wie man die Welt maschinisiert hat. Sie wollen die ersten sein, die eine ganz neue lyrische Sprache erfinden, für die neuen Ausdrucksmittel, die zur Kunst die Bewegung hinzubringen, nämlich das Grammophon und das Kino« (Apollinaire 1964, 166 f.; 120; 124). Ab 1968 taucht »der Name des Motors der neuen Pariser Kunst- und Literaturszene der Zeit um 1912/14« bei Brinkmann wiederholt auf und gibt einem Gedicht von Gras den wohl temporal zu lesenden Titel Nach Guillaume
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Apollinaire. Diese Verweise auf Apollinaire stehen für Brinkmanns Anspruch, die Leistung seines Pariser Vorläufers am Ende der 1960er Jahre zu wiederholen (vgl. Röhnert 2004, 141). Brinkmann mag sich in der Tat zum »Motor einer alternativen deutschen Kunstund Literaturszene« (Röhnert 2004, 137) stilisieren, zumal er in der Vorbemerkung zu dem an entlegener Stelle (Collection 7, London 1970, 67–69) in englischer Sprache publizierten Gedicht Homage à G. Apollinaire eingesteht, wie er mit Apollinaires »actual poems which are just as deep as they are superficial« umgegangen ist: »So I have taken a few poems of Apollinaire’s and made out of them a poem of my own« (vgl. Röhnert 2004, 139 f.). Die Arbeit an der Berrigan-Übersetzung Guillaume Apollinaire ist tot. Und Anderes (1970; der deutsche Titel ist u. a. dem Sonnet 37 entnommen) scheint Brinkmann noch einmal auf den im Umkreis des Pariser Kubismus (Picasso) schreibenden Vorläufer der Surrealisten verwiesen zu haben (vgl. Mueller 2001, 202), dessen literaturgeschichtlicher Rang in der Durchsetzung einer interpunktionsfreien Lyrik (Alcools, 1913) sowie der Reaktualisierung des im Barock geläufigen Figurengedichts (Calligrammes, 1918) begründet ist. Brinkmanns direkteste Kontakte mit der Lyrik Apollinaires sind signifikant: Im 1968/69 entstandenen Langgedicht Vanille (Röhnert 2004, 138, führt den Titel auf Tristan Tzara zurück) fungiert Apollinaire »als Stichwortgeber für verschiedene avantgardistische Verfahrensweisen, die dort exzessiv praktiziert werden« (Röhnert 2004, 138), bleibt jedoch neben anderen Namen eines von zahlreichen ›objets trouvés‹. 1969 veröffentlicht Brinkmann gemeinsam mit RalfRainer Rygulla den Versuch, »ohne Kenntnis der Fremdsprache (in diesem Fall des Französischen) ein Gedicht zu übertragen nach dem im Augenblick des Lesens sich einstellenden Oberflächenverständnisses« [!] (März-Texte 1969, 304), wobei in einem dadaistischen Spiel aus Apollinaires La jolie rousse (›Die hübsche Rothaarige‹) Der joviale Russe wird (vgl. Schmitt 2012, 215). Zuletzt überblendet der 2. Abschnitt von Rolltreppen im August (Ww, 97) Guillaume Apollinaire in Jim Morrison, den »in Paris verstorbenen und von Rimbaud inspirierten« (Röhnert 2004, 144) Sänger der von Brinkmann geschätzten Doors. Was Brinkmann als Lyriker mit der französischen Moderne seit Baudelaire verbindet, ist in erster Linie die Sensibilität für deren Innovationen, die er über unterschiedliche Vermittlungsstufen aufgreift, mit anderen Tendenzen (speziell der New Yorker Beat-Lyrik) verschneidet und im eigenen Schreiben weiterführt.
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Entscheidend ist dabei, dass sich der französischen Lyrik seit dem späten 19. Jahrhundert insbesondere die ›Befreiung‹ des Verses von der Verpflichtung auf metrische Geschlossenheit verdankt. Diese Abkehr von traditioneller Form-Disziplinierung hat eine alternative Schönheit möglich gemacht, die sich mit dem Nichtschönen verbindet und die Dissonanz als wichtigsten ästhetischen Wert zu nutzen weiß. Für die französische wie für die deutsche Literaturgeschichte ist der Ursprung dieser nicht mehr auf Harmonie abzielenden Ästhetik in der Romantik anzusetzen, der das Bewusstsein zugrunde liegt, in der Gegenwart keiner klassisch-antiken Vollkommenheit mehr gewachsen zu sein und folglich alternative Lösungen suchen zu dürfen. Was in dieser Hinsicht für Deutschland Friedrich Schlegels Über das Studium der griechischen Poesie (1797) bedeutet, markiert für Frankreich Victor Hugos Idee einer ›modernen Muse‹ der Wahrheit, der das Nebeneinander von Schön und Hässlich, Gut und Böse, Licht und Schatten in der göttlichen Schöpfung bewusst ist (Préface à Cromwell, 1827). In dieser Traditionslinie ist seit Baudelaires Stadtgedichten eine lyrische Intensität möglich, die in ihrer Distanz zur Tradition nach immer mehr Radikalität verlangt und über Rimbaud schnell zur gänzlichen Formzertrümmerung bei den Surrealisten geführt hat, von deren befreiender Wirkung Brinkmann ab 1969/70 weniger direkt als über die Vermittlung über die Beat-Literatur profitiert (vgl. die Anspielungen auf André Breton und René Magritte in Apollinaire, 144 f.; 82 f., sowie den lakonischen Witz auf Kosten von Magrittes Le fils de l’homme in Gras, 29). Das wichtigste französische Vorbild für seine Erzählprosa hat Brinkmann schon zur Gymnasialzeit entdeckt, 1961 mit einem Gedicht in memoriam (V, 77 f.) gewürdigt und auch in Vanille (Vanille, 136) sowie in den Anmerkungen dazu erwähnt. Louis-Ferdinand Célines bis heute bekannteste Romane Voyage au bout de la nuit (1932: ›Reise ans Ende der Nacht‹) und Mort à crédit (1936: ›Tod auf Kredit‹), die Brinkmann in den 1970er Jahren ein zweites Mal begeistern, weisen in der Rücksichtslosigkeit ihrer moralimmunen Realistik dem Roman Keiner weiß mehr (1968) insbesondere motivisch die Richtung. Die peinlich genaue Beschreibungstechnik, von Brinkmann schon in seinen frühen Erzählungen erprobt, ist hingegen mehr am Nouveau roman Alain Robbe-Grillets geschult. Dessen poetologische Überlegungen, die Brinkmann sowohl einem Artikel der Akzente (Für einen Realismus des Hierseins. In: Akzente 1956, 316–318) als auch der Essay-Sammlung Argumente für einen neuen Ro-
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man (1965) entnehmen konnte, stehen wie Céline in der Nachfolge von Gustave Flauberts ›impassibilité‹ und bestärken Brinkmann bei seinem »Lieblingsthema: das Objektale, wie Robbe-Grillet sagt« (Vormweg 1990, 8 f.). Als weniger exponierte Vertreter des Nouveau roman bleiben Nathalie Sarraute, Robert Pinget und Michel Butor (zu Brinkmanns unveröffentlichtem Rundfunk-Essay über Butor vgl. Di Bella 2015, 113– 121) hinter Robbe-Grillets These zurück, die Welt sei weder sinnvoll noch absurd, sondern sie »ist einfach« (Robbe-Grillet 1956, 316). Robbe-Grillet folgert daraus die Notwendigkeit einer Ästhetik der Oberfläche, um die »Konventionen des Sehens« (Robbe-Grillet 1965, 22) zu problematisieren bzw. die Routinen des Alltags poetisch zu sprengen. Begreift man den Nouveau roman als literarische Begleiterscheinung des Existentialismus, dann erklärt sich Brinkmanns frühes Interesse auch von weltanschaulicher Seite her.
3.3 Amerikanische Moderne Brinkmanns Begeisterung für die US-Kultur wird schon früh Bekenntnis (»Harlem liegt nicht weit entfernt von mir«, 1961/V, 35), gewinnt jedoch erst relativ spät programmatischen Charakter (z. B. Von Walt Disney, 1967/St, 143). Die 1969 mit den Anthologien Acid und Silverscreen übernommene Rolle des Literaturvermittlers hat, wie auch die Ausrichtung des eigenen Schreibens an den jüngeren Beat-Autoren, drei Voraussetzungen, die sich als Bemühen um (I) sprachliche Unmittelbarkeit, (II) Theorieferne und (III) unbedingte Aktualität nachweisen lassen. Die ›klassische‹ Moderne amerikanischer Prägung (T. S. Eliot, W. C. Williams, Ezra Pound) läuft demgemäß gleichsam im Hintergrund mit, bevor sie in den 1970er Jahren auch Gegenstand poetologischer Reflexionen wird. I) Brinkmann »mag deswegen die amerikanische Sprache so gern, weil sie [...] so wenig Oberbegriffe und Abstrakta hat« (BrH, 69). Insofern erlaubt »die Amerikanische Sprachhaltung, einfach und direkt etwas zu sagen«, und bietet einen »Freiraum«, der in der »deutschen überlasteten, mit Begriffen und weltanschaulichen Abstraktionen (unsinnlichen Begriffen) überlasteten Sprache« (BrH, 40) nicht möglich wäre. Die Sekundarität des sprachlichen Zeichens wird jedoch immer mitgedacht: »Spricht man, wenn man spricht / in Verkleidung? Wer spricht? / Eine Verkleidung? Der Friedhof, / die Bibliothek: Ye Shall Know / The Truth And The Truth Shall / Make Ye Free« (E, 6 f.). Der spezifische Sound der Fremdspra-
che ist folglich »Verkleidung« und macht Dinge sagbar, ohne dabei ungewollte Register zu ziehen (vgl. Poppe 2012, 906). II) Die neue amerikanische Dichtung ist ab 1960 nicht mehr »ausdrücklich und häufig zwanghaft amerikanisch«, sondern bereits »selbstverständlich« und so »für den europäischen Kulturbereich faßbarer« (Vorwort Silverscreen, 10/FW, 250). Wenn Brinkmann konstatiert, dass das Konzept ›Nationalliteratur‹ »heute mehr und mehr durch eine einheitliche Sensibilität gegenüber den vorhandenen Zuständen [...] durchbrochen« (Vorwort Silverscreen, 11/FW, 250) werde, zielt dies auf eine deutsche Literatur unter amerikanischen Vorzeichen. Konkret richtet sich Brinkmann »gegen das Verständnis vom Gedicht als elitäre[m] K-Prudukt« [!] (BrH, 128) und entwirft ein dezidiert unakademisches Schreibprogramm, das linguistische Poetik und Gattungsgeschichte zumindest implizit parallelisiert: »Denn besetzt von dem verschwommenen Wissen von einer sogenannten ›Modernen Lyrik‹ und deren abstrakt-theoretischen Implikationen, ist die Sensibilität der Aufnahme von Gedichten abgestumpft« (Vorwort Silverscreen, 8/FW, 248). Die in Silverscreen präsentierte Lyrik legt folglich eine andere Rezeptionshaltung nahe, als »durch Theorien auf Gedichte« zu schauen und darin »nichts anderes als Belege für unsere Theorie« zu erblicken, was »sehr langweilig« wäre (Vorwort Silverscreen, 8/FW, 248). Im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants (»Heißenbüttel [...], Becker, Baumgart oder Walser«; Angriff, 66) regt die ›neue amerikanische‹ Literatur zur Entautomatisierung der Wahrnehmung von Wirklichkeit an, weil »die Realisierung jenes Bewußtseins, mit dem Schreiben alles machen zu können«, zugleich »die Realisierung eines winzigen Teiles befreiter Realität ist« (FW, 271). III) Als dritte Voraussetzung forciert Brinkmann eine Art postmoderner Querelle, die den »verkrampften Zynismus« der ›Modernen‹ in der »Auflösung bislang geltender starrer Gattungseinteilungen« überbietet: »Literatur als Erfüllung einer Konvention, auch jener Erfüllung der Konvention Moderne, ist vorbei« (Vorwort Silverscreen, 20/FW, 259). Brinkmanns furiose Kampfschrift Angriff aufs Monopol kritisiert dementsprechend dezidiert die westdeutsche Gegenwartsliteratur und verteidigt die europäische Moderne (Duchamp, Benn, Céline) als Ideengeber der nachklassischen US-Literatur (Pynchon, Burroughs): »Entscheidend ist, daß das, was sie mit ihren Arbeiten begonnen haben, heute in den USA Auswirkungen zeigt, die nicht eine bloße formale Verfeinerung ist[!], sondern daß deren Tendenzen ergriffen und ver-
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ändert, aktualisiert worden sind, das heißt hineingetragen wurden in gegenwärtige Strömungen, Umwälzungen, das heißt lebendig geblieben sind, wohingegen im europäisch-abendländischen Bereich Impulse zu puren Kunstformen erstarren« (Angriff, 75). Ein bislang kaum gesehener zeitlicher Zusammenhang verleiht derartigen Statements besonderes Gewicht: Das Entstehen der von der Beat-Literatur beeinflussten Werke (ab Godzilla) geht Hand in Hand mit Brinkmanns Eintreten für die ästhetischen Normen der Beat-Literatur ab Mitte der 1960er Jahre (Schäfer 1998, 92) und diesem nicht voraus. Sein Schreiben lässt sich daher nicht aus der ›neuen amerikanischen Szene‹ heraus erklären, sondern nur tangential zu dieser: »Mich hat sehr beeindruckt ganz zu Anfang in den 50er Jahren G. Benn, dann lange nichts, außer amerikanische und englische Schlager, und dann, so um 1963, 1964 William Carlos Williams« (BrH, 39). Bereits »um 1955, 1956« macht Brinkmann den »Einfluß von G. Benn, Ezra Pound, Arthur Rimbaud« (BrH, 116) geltend, wobei er einräumt, Pound »als Schüler in einer Taschenbuchausgabe und Auswahl, ohne zu verstehen« (BrH, 199) gelesen zu haben. Dabei handelt es sich offensichtlich um den von Eva Hesse zusammengestellten und übersetzten Band Dichtung und Prosa (1956 als Lizenzausgabe des ArcheVerlags bei Ullstein erschienen), dem ein ›Geleitwort von T. S. Eliot‹ voransteht. Hesses Auswahlband lässt sich als Handreichung für junge Dichter lesen, und als solche wird Brinkmann ihn rezipiert haben: »Wenn ein älterer Künstler einem jüngeren hilft, dann vor allem durch kleine Kniffe oder warnende Hinweise« (Pound 1956, 144). In dem in Auszügen ebenfalls aufgenommenen A stray document (ursprünglich in Make it new!, 1935) skizziert Pound seine frühe Poetik und wiederholt die drei Grundsätze des Imagismus, wonach »die Sache selbst wiederzugeben« sei, man »kein einziges Wort [...] verwenden [solle], das nicht zur Darstellung« beitrage, und in puncto Rhythmus »in der Zeitfolge des musikalischen Satzes und nicht nach dem Metronom zu komponieren« habe (Pound 1956, 143). Diese drei Aspekte lyrischer Produktion sind in Brinkmanns Werk leicht aufzuzeigen (vgl. z. B. Röhnert in Röhnert/Geduldig 2012, 107), und nur das Diktum, es sei besser, »im Leben ein einziges image dargestellt zu haben, als dicke Bände zu verfassen« (Pound 1956, 144), scheint während der letzten Jahre keine Gültigkeit mehr gehabt zu haben. Einer als Vorwegnahme postmoderner Intertextu alitätskonzepte zu lesenden Aufforderung Pounds (»Laß dich von so vielen großen Künstlern, wie du
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magst, beeinflussen, aber sei so anständig, den Einfluß zuzugeben, oder versuche ihn nicht offen hervortreten zu lassen«; Pound 1956, 145) entspricht noch in Briefe an Hartmut die nicht weiter reflektierte Bemerkung: »[L]etztens las ich die Cantos von Ezra Pound. Kennst Du den? Ganz gut, Burroughs hat viel von dem gelernt. Ich bin immer in Gefahr, mich korrumpieren zu lassen von dem, was ich lese, und was ich lese finde ich meistens gut« (BrH, 153). Eklatant wird dieses Verfahren einer gleichsam subkutanen Aneignung in der »Vorbemerkung« zu Westwärts 1&2: »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben [...]. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus« (Ww, 8 f.). Diese Bemerkung spielt nicht allein auf Jim Morrison und The Doors an, sondern deckt sich auch mit einem Ratschlag Pounds: »[V]erhalte dich wie ein Musiker, wie ein guter Musiker, wenn du mit der Phase deiner Kunst zu tun hast, die Parallelen mit der Musik hat. Da herrschen die gleichen Gesetze, denen auch du unterstehst« (Pound 1956, 147). Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die Affinität zu Pound im Zuge eines biographischen Diskurses in Westwärts wiederum an die Oberfläche gelangt. Brinkmann beschließt die Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i. O. für H. P. mit einem direkten Zitat aus Canto LXXXI: »NS: hier las ich, vor 18 Jahren, / ›was du innig liebst, ist beständig, / der Rest ist Dreck‹ von E. P.« (Ww, 151; Eva Hesse übersetzt das originale ›dross‹ mit ›Schlacke‹; vgl. Pound 1956, 133). Ein stärker abgewandeltes Zitat ist in ›D-Zug‹, den vierten Teil von Einige populäre Songs, eingebaut: »(›Weitab und / im fremden Land // sein‹ E. P.)« (Ww, 185; vgl. Röhnert 2007, 387); bei Hesse lautet die betreffende Stelle aus Pounds Nachdichtung des altenglischen Poems The Seafarer »Daß ich fortfahr, daß ich fern von hier / Trachte nach fremdem Festland« (Pound 1956, 39). Aufschlussreich ist daran zum einen, dass Brinkmann offenbar aus dem Gedächtnis zitiert und der mittlerweile verstorbene Dichter (1885–1972) zum anderen als Quelle prägnanter Wendungen dient, deren Gültigkeit nonchalant vorausgesetzt wird: »Was die Literatur anbetrifft, scheint Europa am Ende zu sein, bereits E. Pound schrieb: ›Seit 1920 sind die Entwicklungen in der englischen Dichtkunst fast durchweg Amerikanern zuzuschreiben.‹ Woran liegt das? An der Energie, Abmessung der Welt, Umwelt, durch die Atemlänge?« (Unkontrolliertes Nachwort, 317).
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Im gleichen Gestus erklärt Brinkmann seinem Briefpartner Hartmut Schnell die Verwendung von Pound-Motiven in Fragment zu einigen populären Songs: »Das Erscheinen der vielen ... usw. ist ein direkter Verweis auf einen frühen Zweizeiler bei Ezra Pound [...], The appearance of ...« das Gedicht heißt Metrostation. Ist in Pounds Gedichtband Personae enthalten. – Aber ich hab in Erinnerung an Pounds Eindruck mir einmal das klar gemacht, was hier in Köln in einer Metrostation geschieht, morgens, abends, nach Ladenschluß, wie erloschen die Leute sind, und eben nicht, wie Pound noch sagte, ein Blütenzweig usw.« (BrH, 199 f.) Der inhärente Widerspruch ist deutlich: Das »aus 28 Zeilen kondensiert[e]« (Hesse in Pound 1956, 153) Gedicht In a station of the metro macht zwei für sich genommen banale ›Erscheinungen‹ (im Original: ›apparition‹) durch Kombination zu einem ›image‹; Brinkmann hingegen schreibt ein 18 Druckseiten füllendes Langgedicht, in dem einzelne Snapshots ein bewegtes Bild erzeugen: »[D]as Erscheinen der vielen toten, blicklosen Augen / in der Menge, im Ubahnschacht, nach halb sieben abends, // oder wie kann ich sagen, hier in diesem Landstrich« (Brinkmann 1975, 117). Natürlich beleuchtet der Hinweis auf Pound zuallererst die poetologische Unzuverlässigkeit Brinkmanns. Er illustriert aber zugleich seinen Modus der Aneignung, der Ezra Pound zum Material eines weitgehend unbewussten Cut-Up macht (»Ich bin übrigens ganz erstaunt, wie sehr das verknüpft ist! Ich hab es beim Schreiben gar nicht so exakt gewußt«; BrH, 200). Der Gegenstand wird nicht nur aufgegriffen, sondern auch variiert (vgl. BrH, 199 f.) und um weitere Fundstücke (hier Stefan George) ergänzt: »Jetzt, / da dieses Gedicht endet, jetzt / da wir ›durch diesen totgesagten Park‹ gehen, / jetzt, da die vielen toten Gesichter und Augen in den / Ubahnschächten sich aufgelöst haben in einzelne Blicke« (Brinkmann 1975, 122). Im Gegensatz zu seinem Umgang mit W. C. Williams, dem er einen hohen poetologischen Rang zuweist, scheint Brinkmann Pound auf eine Weise inventarisiert zu haben, die nicht mehr zu entscheiden erlaubt, welche Idee wo ihren Ursprung hat. So hätte Brinkmann selbst vielleicht nicht zu sagen gewusst, ob der ansonsten rätselhafte Titel des Gedichtbandes Ohne Neger (1965) eventuell auf Eva Hesses Bemerkung zurückgeht, »ein Neger« habe Pound während seiner Haftzeit »aus einer Kiste heimlich einen Schreibtisch« gefertigt (Hesse in Pound 1956, 160). Brinkmanns Auseinandersetzung mit William Carlos Williams erfolgt in spezifischer Konstellation.
Nach ersten Versuchen Rainer M. Gerhardts und Walter Höllerers hat vor allem Hans Magnus Enzensberger mit seinem Museum der modernen Poesie (1960) und einem 1962 erscheinenden Auswahlband (Die Worte, die Worte, die Worte) zur Popularisierung Williams in Deutschland beigetragen (Lamping 1994, 45). In seinem Nachwort präsentiert er Williams als Dichter, der sich von seinen der klassischen Moderne zugehörigen Freunden und Kollegen (Pound, Eliot, Gertrude Stein usw.) durch sprachliche Unmittelbarkeit, Theorieferne und einen starken Gegenwartsbezug absetzt (Enzensberger 1962, 177, 181 f., 188) und insofern dem Paradigma neu-subjektiver Lyrik entspricht. Dass Brinkmann seine Williams-Kenntnis Enzensberger verdankt, ist jedoch nur wahrscheinlich, aber kaum beweisbar. Offenbar hat er Texte im amerikanischen Original erst 1965 in London (vgl. BrH, 39) erworben, und auch in diesem Zusammenhang dient Williams zuvorderst der Abgrenzung: »Die deutsche Lyrik war mir äußerst widerwärtig und langweilig, immer Gräser, Natur, Gefühle, künstliche Metaphern, unkonkret, viehlosophisch, elend gebosselt intellektuell auf die deutsche Bosselart – was hatte das mit mir zu tun, was ich sah, fühlte, was mich einfach jeden Tag umgab?« (BrH, 39 f.) Franz Link spricht der Poetik von Williams in der Tat Merkmale der Innovativität und Gegenwärtigkeit zu (Link 1996, 189), doch entsteht in Brinkmanns Engführung, zumindest auf dieser persönlichen Ebene, das Paradox einer größeren Nähe des zeitlich und räumlich weit(er) entfernten Dichters. Die von Lamping beschriebene »Verschiebung« als Resultat »mangelnder Reflexion dieser Differenz« von Entstehungs- und Rezeptionssituation gilt insofern auch für Brinkmann (Lamping 1994, 48). Valent wird dieser Befund hinsichtlich der Programmatik, die Brinkmann aus seiner Williams-Lektüre ableitet. Wiederholt betont er die Faktizität (oder Realitätshaltigkeit) der Dichtung Williams’, der »sehr gut gesagt« habe, »was Imagination ist / immer gegen Realität, mit der Realität!« (BrH, 162). In Brinkmanns – aus Sicht des Amerikaners durchaus diskutabler – Lesart speist sich Poetizität aus der Anschauung der Dinge, die in Dichtung zu ›Images‹ werden: »wie W. Carlos Williams sagt, in Paterson: ›no ideas but in things!‹ keine Ideen, die nicht in Dingen, real, körperlich, sich manifestiert[!] – – – und ein Buch ist genauso ein Ding wie eine Landschaft ...!!!« (BrH, 121). Lamping zeigt am Beispiel des Gedichts Trauer auf dem Wäschedraht im Januar (Ww, 28), dass Brinkmann in der »Wahl eines alltäglichen, in der Tat naheliegenden Gegenstandes«, im »(ungekünstelt) um-
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gangssprachliche[n] Ton« sowie in der »Anordnung der (durchweg freien) Verse zu Dreiergruppen« seinen Text als »reinstes Williams-Erbe« ausweist (Lamping 1994, 55). Diese Form der Terzinen findet sich bereits in Gras (Nach Guillaume Apollinaire; St, 354 f.), Standphotos (Hommage à Joe Brainard aus Tulsa, Oklahoma; St, 292 f.), prominenter dann in Piloten (Ein bestimmtes Bild von irgendwas; St, 189). Als erstes Langgedicht im Sinne von Williams wäre Brinkmanns Gedicht ›Für Frank O’Hara‹ (St, 309–315) zu bestimmen, wobei jedoch auch Apollinaire, Cendrars oder Eliot Pate gestanden haben können (Di Bella 2015, 99), umso mehr der titelgebende O’Hara. Das spätestens im fünften Buch von Williams’ Paterson entwickelte Flächengedicht dominiert Westwärts 1 & 2, ist aber bereits in Gras (»Gedicht«; St, 323) vorbereitet. Neben Williams wäre hier wiederum Ted Berrigan als Impulsgeber anzunehmen, dessen Werke Brinkmann 1970 herausgibt. Eine genauere Rekonstruktion der Ableitungsverhältnisse verhindert allerdings der Einfluss von Williams auf die von Brinkmann stark rezipierte neue amerikanische Szene, die von Williams in gleicher Weise profitiert hat wie Brinkmann von ihnen. So zitiert Brinkmann im Nachwort zu Silverscreen die »Bemerkung des Lyrikers H. Norse: ›Pop Art fängt an mit W. C. Williams This is just to say: I have eaten / the plumps [...]« (Vorwort Silverscreen, 26/ FW, 264) und stellt sich somit in die lange Reihe der Williams-Adepten, von denen der aus Paterson stammende Allen Ginsberg vielleicht der berühmteste ist. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass William Carlos Williams für Brinkmann weniger als dichterisches Vorbild denn als dezidiert ›amerikanischer‹ Typus von Interesse ist, da er im Gegensatz zu den europäisch geschulten poetae docti T. S. Eliot und Ezra Pound eine programmatische Distanz zu allem Akademischen pflegt. Im Zuge der skizzierten Einschreibung in die neue amerikanische Dichtung nimmt Williams, stärker noch als Pound, diejenige Position ein, die im europäischen Kontext Arthur Rimbaud oder Gottfried Benn besetzen. In gleicher Weise stehen USAutoren wie Walt Whitman oder Wallace Stevens für eine alternative Poetik ein, die »direkt und brutal kopiert wird« und zeigt, »mit welcher Schärfe sich durch die Kopie die jüngeren Lyriker von den älteren absetzen« (Vorwort Silverscreen, 25/FW, 263). Eben weil die USA als empfundener Hauptsitz des Underground und der Popkultur in den 1960er Jahren zum Identifikationspunkt Brinkmanns werden, eignet britischen und irischen Autoren kaum distinktives Potential. Von James Joyce wird lediglich der Begriff
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›Epiphanie‹ übernommen (vgl. BrH, 74); spätere Bezugnahmen sind wenig schmeichelhaft: »Der Fluß überhaupt, ein Fluß, ist ja auchn olles Symbol, fließendes Leben, Joyce [...]« (BrH, 254). Bei Brinkmann ist keine Rede von den üblichen popkulturellen Referenzpunkten William Blake, Lord Byron oder Oscar Wilde. Literatur
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Markus Fauser (3.1) / Albert Meier / Ole Petras (3.2, 3.3)
4 Pop-Kultur
4 Pop-Kultur 4.1 Beat ›Beat‹ ist eine literarische Bewegung in den USA mit Zentren in New York und San Francisco. Seine Anfänge liegen in den 1940er, seine Blüte in den 1950er bis 1960er Jahren. Eine viel zitierte Bestimmung des Begriffs ›Beat‹ geht auf die Subkultur-Ikone Herbert Huncke zurück. ›Beat‹ meine »exhausted, at the bottom of the world, looking up or out, sleepless, wide- eyed, perceptive, rejected by society, on your own, streetwise« (zit. nach Charters 1992, xviii). John Clellon Holmes, Dichter und Universitätsprofessor, erklärte die Bewegung 1952 im New York Times Magazine zu einer regelrechten ›Generation‹. Ihr Initialmoment sei das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs. »This is the Beat Generation« (Holmes 1952/1988, 57), titelt Holmes, damit sei freilich von Beginn an »[m]ore than mere weariness« (58) gemeint, mehr als reiner Überdruss oder Erschöpfung durch den erst kurz vergangenen Weltkrieg (›war-weariness‹ ist neben ›world-weariness‹ die lexikalisch geläufigste Verwendung des Begriffs; der Begriff ›generation‹ ruft Erinnerungen an die lost generation nach dem Ersten Weltkrieg auf). Das Gefühl, benutzt worden zu sein (»having been used«) verbindet Holmes mit »a sort of nakedness of mind, and, ultimately of soul« (58), einer Art durchaus produktiver Nacktheit, Blöße oder Ungeschütztheit des Geistes und letzten Endes der Seele. Charakterisiert Huncke ›Beat‹ mit Eigenschaften wie »wide-eyed« und »perceptive« (s. o.), so schreibt Holmes von einem »feeling of being reduced to the bedrock of consciousness«, einem Gefühl, auf den Grund des Bewusstseins zurückgeführt zu sein (58). Bob Dylan nimmt diese Gefühlslage in seinem Song Like a Rolling Stone aus dem Jahr 1965 auf, oder vielleicht sogar aufs Korn, wenn er singt: »How does it feel? To be on your own, with no direction home, A complete unknown, like a rolling stone.« Dylans ebenso affirmativer wie stets auch ein wenig ironischer Umgang mit den ›Beats‹ wird auch deutlich in der ersten Szene von D. A. Pennebakers Dokumentarfilm Don’t look back. Während Dylan dort seinen (auf Jack Kerouacs Roman The Subterraneans von 1958 anspielenden) Song Subterranean Homesick Blues nicht etwa singt, sondern performt, indem er stumm, im raschen Wechsel handgeschriebene Karteikarten mit Schlagworten aus den Lyrics wegschnippt, steht versetzt hinter ihm am Rand des Bildkaders gemeinsam mit dem Folksänger Bob Neuwirth ein langbärtiger und irgendwie tatteriger oder fahrig
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wirkender Allen Ginsberg. Die Beat-Autoren selbst vertreten ihre Botschaft der Wesentlichkeit zwar ernsthaft, die publizistische Rahmung ihrer Auftritte lässt aber ebenfalls Raum für Ambivalenzen. So unterstreicht Jack Kerouac – holy Jack, wie er mitunter genannt wird – die religiöse Komponente von Beat: »I am not ashamed to wear the crucifix of my lord. It is because I am Beat, that is, I believe in beatitude« (Kerouac 1959), platziert diese programmatischen Überlegungen aber im 1959er Juni-Heft des Playboy. Nicht zuletzt die Prätention von Transzendenz ebnet der Beat Generation den Weg zu ihrer frühen Rezeption in Deutschland. Die »Ambivalenz«, von der die Bewegung charakterisiert ist, sieht Walter Höllerer 1959 denn auch in der Zeitschrift Akzente präziser durch einen Bezug auf Gottfried Benns Roman des Phänotyp auf den Punkt gebracht als durch »jede wortklaubende Definition«. An die Seite der konkreten Gestalt: »Auge und Nase, Stirn und Braue, Mund und Kinn«, schreibt Benn in diesem 1949 publizierten Prosastück, trete nichts Geringeres als das »All«: der pompöse »Überwältiger der geprägten Formen« (zit. nach Höllerer 1959, 33), auch ein Verweis auf James Joyces Epiphanien fehlt bei Höllerer nicht (vgl. ebd.). Der erste Dichter aus dem Kontext der Beat Generation, den die Zeitschrift Akzente schon im Jahr zuvor druckt, ist denn auch mit dem Lyriker Gregory Corso der christlichste Vertreter der Gruppe (vgl. Olson 2017). In der neu geschaffenen Akzente-Rubrik »Der Schriftsteller und die Gesellschaft« macht Corso unter der Überschrift »Dichter und Gesellschaft in Amerika« (Corso 1958, 101) die deutsche Leserschaft mit dem »neue[n] amerikanische[n] Dichtertypus« bekannt (103), allein auf durchaus ambivalente Weise: Überhöhung und Sakralisierung kommen nie ganz ohne Deemphatisierung daher. Dieser neue Dichtertypus, so Corso, »geht in die Welt, begegnet Verrückten, Heiligen, Engeln, Seehunddompteuren, südamerikanischen Medizinmännern, betäubt sich mit Narkotika, erlebt Visionen und Erleuchtungen, verschreibt dem ersten besten seine Seele« (103). Auch die Anthologie Beat, die Karl O. Paetel im Jahr 1962 vorlegt, exponiert eine beseligende Komponente: So schreibt Paetel in der Einleitung: »Kerouac hat mir einmal, um sich von Mailers Definition abzugrenzen, erklärt: ›Beat ist Hip plus Religion!‹« (Paetel 1962, 18). Als ›außer-amerikanische Parallele zur Beat Generation‹ fällt Paetel »vor allem [...] auch die deutsche Jugendbewegung der ersten Jahre« (16) ein (von der er selbst geprägt wurde). Beat trete der »Mammonisierung« der Gesellschaft entgegen. Durch »Dichtung, Musik und Eros [...] und manchmal
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_4
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Rauschgifte« versuche man die »Welt des ›Organisationsmenschen‹«, der Bürger und squares, der Spießer, zu überwinden (9). Soziologisch wäre als Hintergrund dafür der sogenannte Fordistische Kompromiss zu nennen, ein Bündnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern, dessen Parameter eine standardisierte Massenproduktion, strenge Arbeitsdisziplin bei gleichzeitig relativ hohen Arbeitslöhnen und wachsenden Konsumoptionen bilden. Bereits 1943 konstatiert Leo Löwenthal vom Frankfurter Institut für Sozialforschung im amerikanischen Exil, dass die Idole der Produktion durch diejenigen des Konsums abgelöst würden (vgl. Hecken 2006, 51 f.). Der Beat-Literat aber, schreibt Corso, »verachtet die Konformität, den Standard des Mittelstandes und das Geld« (Corso 1958, 103). Beat sei programmatisch: »›antiestablishment‹, [...] against conformity, consumerism, and the values of mainstream culture« (Belletto 2017, 1). Freilich bleiben die Beats durchaus »hypnotized by the language of advertising and commodification« (Weinreich 2017, 51). Als »promise of joy in the great city of kicks« inszeniert beispielsweise Jack Kerouac den Gang des Ich-Erzählers in eine »cafeteria« namens »HECTOR’S » (Kerouac 1972, 10 f.) in Visions of Cody, einem experimentellen Spinoff seines Erfolgsromans On the Road aus den Jahren 1951/52. Die Auslöser dieser ›Kicks‹ werden so einlässlich geschildert, dass neben ironischer oder ästhetischer Distanz auch affektive Bindung und psychische Insistenz sichtbar werden: »But ah the counter! as brillant as B-way outside! Great rows of it – one vast L-shaped counter – great rows of diced mint jellos in glasses; diced strawberry jellos gleaming red, jellos mixed with peaches and cherries, cherry jellos top’t with whipcream, vanilla custards top’t with cream; great strawberry shortcakes already sliced in twelve sections, illuminating the center of the L – Huge salads, cottage cheese, pineapple, plums, egg salad, prunes, everything – vast baked apples – tumbling dishes of grapes, pale green and brown – immense pans of cheesecake, of raspberry cream cake« (Kerouac 1972, 10). Für Regina Weinreich verkörpert diese Passage aufgrund ihres »sound system[s]«, des Geflechts aus Wiederholungen, Assonanzen und Alliterationen, geradezu eine »Homeric hymn« (Weinreich 2017, 53). William Burroughs, dessen Bild auch auf dem Sgt. PepperCover der Beatles zu sehen ist, schreibt in seinen Erinnerungen an Kerouac: »Kerouac opened a million coffee bars and sold a million pairs of Levis to both sexes« (Burroughs 1985, 180). Diese etwas flapsig formulierte Bemerkung lässt sich soziologisch insofern zu-
spitzen, als sie »Counter Culture« nicht nur – wie man das kennt – in die Tradition »künstlerisch-ästhetischer Gegenkulturen« seit der Romantik stellt (Reckwitz 2017, 286), sondern zudem vorführt, wie gut sich die ›romantische‹ Behauptung von »creative power« oder »unique individuality« (Holmes 1959/1988, 69; 74) mit einem »Selbstverwirklichungsgedanke[n]« verträgt, der sich nicht zuletzt in der Suche nach »heterogenen«, dabei so gut wie immer konsumgetriebenen »Kulturund Erlebnisofferten« (Reckwitz 2017, 290 f.) materialisiert. Einen ähnlichen Verdacht hegt schon Hans Magnus Enzensberger in den frühen 1960er Jahren, verliert dabei aber die Ambivalenz des Arrangements aus den Augen. In den Stilgeboten der ›Hipster‹, die, wie Enzensberger mit gleichsam hochgezogenen Augenbrauen schreibt, »Kleidungsstücke, Philosophen, Speiselokale und Jazzmusiker« umfassen, walte trotz der Strenge des »Kodex« vorwiegend ›ästhetische Beliebigkeit‹ (Enzensberger 1962, 69). Die Beat Generation sei rasch, und Enzensberger meint eindeutig, zu einem »Warenzeichen« geworden, das im besten »Einverständnis mit der Bewußtseins-Industrie« (68) stehe. Das ist freilich eine theoretische Einstellung, bei der alle Katzen grau bleiben müssen. Denn es lässt sich durchaus fragen, ob Kulturindustrie immer gleich Kulturindustrie und ob sie automatisch affirmativ sein muss. Ganz zu schweigen von der Präsenz kulturindustrieller Paradigmen in einem literarischen Text. Oder umgekehrt, ob der Verzicht darauf, wie er in der Literatur die Regel darstellt (vgl. Seiler 1998, 288–303), schon den Ausweis ästhetischer Widerständigkeit bedeutet. Oder ob nicht, um es noch einmal anders zu wenden, das Warenzeichen in der Literatur sogar ästhetisch innovativ sein kann. Ziehen wir, um das zu verdeutlichen und in direkter historischer Nachbarschaft zum angesprochenen Phänomen noch einmal Gottfried Benn heran, diesmal aber nicht mit Überlegungen aus den 1940er Jahren, sondern mit seinem späten Gedicht Hör zu. Benn hat diesen Text zwischen 1954 und 1955 geschrieben, ihn dann jedoch als »albern u. gemütlich« (Benn 2001, 333) verworfen und aus seinem letzten Gedichtband Aprèslude gestrichen. Erschienen ist das Gedicht erst postum, 1960 in der Zeitschrift Merkur: Hör zu Hör zu, so wird der letzte Abend sein, wo du noch ausgehn kannst: du rauchst die ›Juno‹, ›Würzburger Hofbräu‹ drei, und liest die Uno, wie sie der ›Spiegel‹ sieht, du sitzt allein
4 Pop-Kultur an kleinem Tisch, an abgeschlossenem Rund dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme. Um dich das Menschentum und sein Gebarme, das Ehepaar und der verhasste Hund. Mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein, zu träumen in ein sonniges Gelände, dich schlossen immer ziemlich enge Wände von der Geburt bis diesen Abend ein. Mehr warst du nicht, doch Zeus und alle Macht, das All, die großen Geister, alle Sonnen sind auch für dich geschehn, durch dich geronnen, mehr warst du nicht, beendet wie begonnen – der letzte Abend – gute Nacht. (Benn 1960/1982, 442)
›Gemütlich‹ ist dieses Gedicht wahrlich nicht. Aus Zeus wird »Juno«, nicht die Göttin, sondern eine nach ihr benannte Zigarette; »das idealistische, erhabene, seraphische Gedicht« (Benn 2001, 274) mag nicht mehr gelingen, traurig und unsanft landet man mit seinen Ambitionen in einer biederen bundesdeutschen Kneipe. »Von Zeit zu Zeit muss das Gedicht entpoetisiert werden«, schreibt Robert Gernhardt, »und Gottfried Benn war zweimal dazu berufen, ihm diesen Dienst zu leisten. So, wie sein ›ersoffener Bierkutscher‹ am Jahrhundertbeginn das Ende von Goldschnittlyrik und Décadence-Gedichten einläutete, so räumen seine drei Gläser ›Würzburger Hofbräu‹ auf mit dem Gräserbewisper und dem falschen Trost der Nachkriegsdichtung« (Gernhardt 2010, 361). Hier setzt auch Rolf Dieter Brinkmanns programmatischer Essay Der Film in Worten ein, der den Schluss der Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene bildet und mit seinem Titel auf einen gleichnamigen Text Jack Kerouacs anspielt. In den »Literaturprodukte[n] der BRD gegen Ende der fünfziger Jahre«, bemängelt Brinkmann, fänden sich schlicht keine »Verweise auf aktuelle Gegenstände«, auf »Material, das [...] für seine Zeit charakteristisch ist« (FW, 229 f.). Vielmehr zögen es bundesdeutsche Literaten vor, »sich mit dem Bekannten weiterhin auf[zublähen] wie fränkische Kirschgärten, nordische Flechte, die Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen)« (230). Das ›genormte Verhalten‹, das sich darin manifestiert, ließe sich indes »löchrig« machen, wenn man nach dem Vorbild der »Beat Generation« wenigstens Material wie die »Jazz-Szene« inkorporierte, ganz zu schweigen davon, wenn man die Sache stärker ins
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Detail zu triebe und die »Stirnlocke Bill Haleys«, das »wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards« Erwähnung fände. Zu diesem Verfahren gehört es, dass jene »acht goldene[n] Schallplatten«, die Elvis Presley »schon 1957« erhalten hat, nicht nur summarisch gewürdigt, sondern einzeln, Stück für Stück, aufgezählt werden: »Too much; Playing for keeps; All shook up; That’s when your heartaches begin; Loving you; Teddy Bear; Jailhouse Rock; Treat me nice« (229 f.). Zu solch ostentativer, gegen einen literarischen Konsens gerichteten Akribie gehört auch das präzise Warenzitat mit Markennennung. Noch bis Mitte der 1960er Jahre schreibt Brinkmann eine Prosa, die eher der literarischen Moderne als dem Beat verpflichtet ist bzw. der zu dieser Zeit einflussreichsten Avantgarde in Europa, dem Nouveau Roman (vgl. Drügh 2011, s. Kap. 26). Zentral für dessen Programmatik ist die Wendung gegen »die alten Mythen der ›Tiefe‹« etwa in Form von Hermeneutik oder Psychologie. Ästhetisch realisiert sich das in deskriptiven Texturen, in denen die »Oberfläche der Dinge« wirklich nur als Oberfläche und nicht als »Maske ihres Herzens« (Robbe-Grillet 1969, 48–49) erscheint. Eine Vielzahl solcher Detailwahrnehmungen oder Oberflächentexturen findet sich in Brinkmanns frühen Erzählbänden Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966) in Form abstrakter, ornamentaler oder geometrischer Arrangements. Nur punktuell wird darin eine präzise identifizierbare Wirklichkeit kenntlich; so zu Beginn der Erzählung In der Seitenstraße, wenn dort ein Blick von der Straße in einen kleinen Lebensmittelladen geschildert wird. Neben den genannten geometrischen Anordnungen oder Blickleitungen (etwa durch Regale) bzw. Rahmungen oder Verspiegelungen (durch Schaufenster) kommen nämlich am Rande auch konkrete Objekte der Konsumsphäre zur Sprache. So erfährt man, dass es sich bei Früchten, auf denen der Erzählerblick kurz zur Ruhe kommt, um »spanische Apfelsinen, Handelsklasse A« handle, oder auch, dass sich in einem Regalfach »Maggiflaschen« befänden. Vorrangig scheint der Text jedoch vor allem daran interessiert, Markennamen zu camouflieren, wie in der Darstellung eines »Kondensmilch«-Arrangements deutlich wird (unverkennbar, aber eben unausgesprochen: Bären Marke): »Oben auf dem langgestreckten Regal stand ein aus dicker Pappe ausgeschnittener Bär. Der Bär sah freundlich aus, er stand aufgerichtet und hielt zwischen den Tatzen eine weiße Dose, auf der ein ähnlich freundlich aussehender Bär mit dickem, aufgeblasenem Kopf und schwarzen Glasaugen abgebildet war.
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Die Nase war ein roter Punkt. Er ließ seinen Blick von dem Reklameschild herabgleiten« (Erz, 205 f.). Offensichtlich hat man es hier mit einem Schwellenphänomen zu tun, in dem die für das Selbstverständnis ernster Literatur zentrale Distanzierung von den Banalitäten des Alltags auf deren programmatische Erwähnung trifft. Mit Brinkmanns Hinwendung zur US-amerikanischen Beat-Literatur erhöht sich die Frequenz und Intensität solcher Warenreminiszenzen. Im Vorwort zu seiner Übersetzung von Frank O’Haras Lunch Poems von 1969 propagiert Brinkmann die »Hereinnahme alltäglicher Details« in die Literatur, Details, die »hier wie dort in den USA immer noch ausgeklammert bleiben [...] als lebten ›Dichter‹ nur mit kostbarsten gedanklichen Wertgegenständen, in einer Welt ohne Schlager, Schlagzeilen und Kinoplakate, ohne ganzseitige Reklamen für Cinzano, Rank Xerox und arden für men, ohne Autounfälle und persönliche Disaster, Mittagessen und Sonderangebote an Armbanduhren, ohne Röcke, die über Luftschächte hochgeblasen werden« (FW, 211). Dies kann exemplarisch für das Wirken einer »erweiterte[n] Sinnlichkeit« stehen, welche die »bekannte Unsinnlichkeit des Denkens abendländischer Intellektueller« (FW, 227) attackiert.
4.2 Pop Die offensivste Verwendung des Begriffs ›Pop‹ im Kontext der literarästhetischen Diskussion der späten 1960er Jahre findet sich in Leslie Fiedlers viel diskutiertem Essay Cross the border, close the gap. Der Text basiert auf einer Rede, die Fiedler 1968 an der Universität Freiburg gehalten hat und die im Oktober desselben Jahres in der Wochenzeitung Christ und Welt erschienen ist. Erst im darauf folgenden Jahr wurde der Text in gekürzter Version mit dem Titel, unter dem er bekannt geworden ist, in den USA publiziert; in bemerkenswert anderem Kontext, nämlich (dem Vorbild Kerouacs folgend s. o.) im ›Herrenmagazin‹ Playboy. »Im Zeitalter der Pop-Art«, schreibt Fiedler, vollziehe auch die Literatur, die stets viel stärker als andere Künste einem »gespreizten« Kanon (Fiedler 1969/1994, 59) verpflichtet gewesen sei, die »Abkehr« von ihren Säulenheiligen: »von unserem vielgeliebten Herman Melville«, von »Henry James und Nathaniel Hawthorne«, von »der Kirche der Kulturreligion«, in der entgegen seiner eigenen Einschätzung auch noch T. S. Eliot »gefangen« geblieben sei (59; 62). »Pop-Autor[en]« (63) hingegen kultivieren
ihre »Pop-Formen« mit Blick auf den »Kompromiß des Marktplatzes« und die »Exploitation durch die Massenmedien«. Das bedeutet für Fiedler in erster Linie die Orientierung an Genres wie »Western, Science-fiction und Pornographie« (62). Wenn auch nicht in seiner offensiven Hinwendung zu Märkten und Medien, so doch mit seinem transgressiven Appeal ist Fiedlers Pop-Ansatz als Erbe der Beat Generation zu erkennen. So hält er die pop- oder postmoderne Kultur seiner Zeit für »apokalyptisch, antirational, offen romantisch und sentimental«. Der Umgang mit Literatur kulminiere in einer »ekstasis des Lesens«, überhaupt sei »Pop Art« »im Grunde stets religiös« (58; 73).Von einer vergleichbaren »neue[n] Sensibilität« ist auch im Kontext von 1968 die Rede. Herbert Marcuse weist sie in seinem Versuch Über die Befreiung als »politischen Faktor« aus. Es gehe um einen »Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und Schuld« »Miniröcke gegen Apparatschiks, Rock’n Roll gegen sowjetischen Realismus« (Marcuse 1969, 43; 46). Auch eine »sozialistische Gesellschaft« könne, ja solle »leichtfüßig und spielerisch« (46) sein. »[D]as Ästhetische« (47) schlechthin bilde als Verwischung der »Grenzen zwischen Sensibilität und Imagination«, wie sie Kants ›dritte Kritik‹ (50) begreift, den Fluchtpunkt des Befreiungsbegriffs. Auch Viktor Šklovskijs Verfremdungsbegriff wird in diesem Kontext bemüht (vgl. 64 f.). Die eigentliche Pop-Ästhetik der 1950er und 60er Jahre bleibt jedoch in Bezug auf gesellschaftspolitische Visionen zurückhaltender. Deutlich stärker als Beat hat Pop indes von Beginn an ein ästhetisches Interesse an den visuellen Oberflächen der Konsumkultur. Für die angemessene Wahrnehmung der Flut von massenmedial und merkantil vermittelten Phänomene, so zeigt sich der britische Pop ArtKünstler Richard Hamilton überzeugt, sei ein geeignetes Sensorium, eine Sensibilität erst zu entwickeln. Im Begleittext zur Ausstellung This is tomorrow, mit der die britische International Group 1956 ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit tritt, schreibt Hamilton: »Tomorrow can only extend the range of the present body of visual experience. What is needed is not a definition of meaningful imagery but the development of our perceptive potentialities to accept and utilize the continual enrichment of visual material« (Hamilton 1982, 43). Die Verben ›to accept‹ und ›to utilize‹ markieren eine affirmative Haltung, die geprägt ist von einem grundsätzlichen Respekt für die Massenkultur. Auch als akademischer Lehrer vertritt Hamilton die Auffassung, Design und Kunst nicht getrennt voneinander betrachten zu können. Das Royal
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College of Art in London, an dem er in den späten 1950er Jahren unterrichtet, ist die einzige akademische Institution dieser Zeit, die autonome Kunst und Design gleichberechtigt auf dem Programm stehen hat. Hamiltons Arbeit ist von der Überzeugung geprägt: »that the artist in 20th century urban life is inevitably a consumer of mass culture and potentially a contributor to it.« (Hamilton 1982, 43). Auf vergleichbare Weise denkt Susan Sontag in ihrem Essay One Culture and the New Sensibility. Ebenfalls kantianisch versteht auch sie Kunst nicht als Ausdruck einer Erkenntnis oder als Vehikel einer Moral, sondern als »representation of (new) modes of vivacity«. Diese neue Vitalität, der neue Verve, durchkreuzt die alten Demarkationslinien zwischen »›art‹ and ›non-art‹« und zwischen ›»high‹ and ›low‹ (or ›mass‹ or ›popular‹)« (Sontag 1964/1966, 300; 297). »Art today is a new kind of instrument, an instrument for modifying consciousness and organizing new modes of sensibility« (Sontag 1964/1966, 296). Daraus resultieren »new standards of beauty and style and taste« (Sontag 1966, 304), wie sie Sontag auch in ihrem berühmten Essay Notes on Camp von 1964 vertritt. »It’s good because it’s awful« (Sontag 1966, 292) lautet hier die Formel gegen die herkömmlichen Geschmacksregimes. Camp steht dabei für den Modus einer ästhetischen Aneignung massenkultureller Erzeugnisse, gibt eine Antwort auf die Frage, »how to be a dandy in the age of mass culture« (288). Auch wenn Sontag, die ihrerseits ziemlich auf Distinktion bedacht ist, meint, ›Pop Art‹ sei »more flat and more dry, more serious« (292), mithin deutlich weniger sophisticated als ›Camp‹, so lässt sich der entscheidende ästhetische Moduswechsel auch bei Andy Warhol beobachten. Es geht um einen Wechsel der ästhetischen Einstellung, der auf die gesamte Sphäre ausgreift, auch auf das, was vorher »the serious« (ebd.), die ernsthafte Hochkunst war: »Once you got Pop, you could never see a sign the same way again« (Warhol/Hackett 1980, 39). Damit einher geht eine doppelte Bereitschaft bzw. Fähigkeit: sich einerseits mit dem zu konfrontieren, was die meisten für banal halten, dabei andererseits ästhetische Verfahren der Distanzierung und Umbesetzung zu kultivieren, mit denen das Banale wiederum als »fantastic« (Sontag 1966, 285) und entsprechend die Sensibilität des Camp-Artisten nicht als verkümmert, sondern als besonders ausgeprägt erscheint: »The connoisseur of Camp has found more ingenious pleasures. Not in Latin poetry and rare wines and velvet jackets, but in the coarsest, commonest pleasures, in the arts of the masses« (Sontag 1966, 289).
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Solcher ›Dandyismus‹, der die derbsten und gewöhnlichsten Vergnügungen der Massen in raffinierte Lust übersetzt, bleibt Brinkmann fremd. Bei aller Schärfung des »sinnlichen Bewußtseins (oder bewußter Sinnlichkeit)« (FW, 235), die auch er beschwört, schwingt doch oft mit, was Susan Sontags als »psychopathology of affluence« (Sontag 1966, 289) ausweist. Auf grelle Weise sichtbar wird das in Keiner weiß mehr. Dort ist es die »fixe Idee« des Erzählers, sich fortwährend »mit Sachen vollgestopfte Schaufenster« einer »sehr öde[n]« (Keiner weiß mehr, 188/134) Stadt anzusehen. Erkennbar wird ein ebenso angeekeltes wie obsessives Verhältnis zur bundesdeutschen Massenkultur: »Deutschland, verrecke. Mit deinen ordentlichen Leuten in Massen sonntags nachmittags auf den Straßen. Deinen Hausfrauen. Deinen Kindern, Säuglingen, sauber und weich eingewickelt in sauberstes Weiß. Mit den langweiligen Büchern, den langweiligen Filmen. Mit Roy Black und Udo Jürgens. Mit Thomas Fritsch. [...] Mit dem Kölner Dom. Verrecke, auf der Stelle, sofort. Mit deinen Dralonmännern. Lupolenmännern. Deinen ausgebufften Polyesterjungs in all den Büros von halb neun bis fünf Uhr nachmittags [...]. Mit deinen ausgeleierten Triumphmieder-Mädchen. Fanta-Mädchen. Helanca-Mädchen. Deinen höheren Bleyle-Vetrix-Töchtern. Und Hildegard Knef. [...] Verreckt. Aus. Auch du, Hans-Jürgen Bäumler. Und du, Marika Kilius. Und du, Pepsi-Mädchen Gitte. Und du, Palmolive-Frau. Und du, Luxor-Schönheit Nadja Tiller. [...] Onkel Tchibo auf Reisen. Langnese Eiscremekonfekt. Mon Cherie. [...] Undwassonstnochalles, undwassonstnochalles, wassonstnochalles, wassonstnoch. [...] Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken.« (Keiner weiß mehr, 186 f./132 f.). Auch die Konterkarierung »bekannter literarischer[r] Vorstellungsmuster«, wie Brinkmann sie gleich zu Beginn von Der Film in Worten propagiert, setzt auf eine »tagtäglich zu« machende »sinnliche Erfahrung«, die nicht nur von dem Glamour popkultureller Ikonen geprägt ist, wie »Jerry Lee Lewis« oder dem »Rock Bill Haleys and his Comets« (FW, 223), sondern auch von dem im wahrsten Sinne »Nächstliegenden, Greifbaren« (ebd.). Etwa dem »Kühlschrank in der Küche«: »[U]nd drin liegt ein Stück Schmierwurst von Hertie? ... Steaks in Klarsichtfolie?« (ebd.). Die Verankerung des Schreibens im Hier und Jetzt, die, wie Moritz Baßler schreibt, als »typische Pop-Erzählweise« von »›Es war einmal‹« oder »›Ich tat‹« auf »einen Modus des Daseins« umstellt, ein »›Ich bin‹« (Baßler 2015, 113), verfährt hier dennoch nicht rein feststellend, sondern tentativ und fragend. Auch das ist
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freilich nicht untypisch für das Verfahren der Popliteratur. Neben das »Be here now« (Baßler 2015, 113), das »Gerade Eben Jetzt« (Schumacher 2003, Titel), tritt als Schreibweise der Gegenwart ein »Definitely Maybe«, wie Baßler in Anspielung auf Albumtitel der Band Oasis schreibt (Baßler 2015, 113). Das heißt: Jede Präsenz und Intensität wird paradigmatisch relativiert, und zwar dadurch, dass es Jerry Lee Lewis sein kann, von dem hier die Rede ist, oder Bill Haley, oder die Doors, Elvis oder Carl Perkins – oder eben auch Schmierwurst von Hertie (oder Horten, oder Karstadt oder Aldi). Oder ein in Klarsichtfolie eingeschweißtes Steak. Präsent (Klarsichtfolie!), aber doch nur eine Möglichkeit. »Weniger pathosfähig« (104), wie Baßler meint, muss eine solche »Öffnung des gegenwärtigen Möglichkeitsraums« (113) aber nicht zwangsläufig sein. Man rufe sich nur vor Augen, wie exquisit das Schwelgen in Möglichkeiten sein kann, wenn man in der New Yorker Kunstszene zu Hause ist und kurz zur Mittagspause das Büro verlässt. So simuliert es Frank O’Hara mit seinen Lunch Poems, die Brinkmann 1969 ins Deutsche übersetzt. Das Gedicht The Day Lady Died, datiert auf den Todestag Billy Holidays, schwelgt ebenso in ausgesuchten Kunstreminiszenzen von Hesiod bis Genet wie in exquisiten Genussmitteln (Gauloises, Picayunes, Strega), um dann in einer einmaligen, einem buchstäblich den Atem verschlagenden Erinnerung zu kulminieren: The Day Lady Died It is 12:20 in New York a Friday three days after Bastille day, yes it is 1959 and I go get a shoeshine because I will get off the 4:19 in Easthampton at 7:15 and then go straight to dinner and I don’t know the people who will feed me I walk up the muggy street beginning to sun and have a hamburger and a malted and buy an ugly New World Writing to see what the poets in Ghana are doing these days I go on to the bank and Miss Stillwagon (first name Linda I once heard) doesn’t even look up my balance for once in her life and in the Golden Griffin I get a little Verlaine for Patsy with drawings by Bonnard although I do think of Hesiod, trans. Richmond Lattimore or Brendan Behan’s new play or Le Balcon or Les Nègres of Genet, but I don’t, I stick with Verlaine after practically going to sleep with quandariness
and for Mike I just stroll into the Park Lane Liquor Store and ask for a bottle of Strega and then I go back where I came from to 6th Avenue and the tobacconist in the Ziegfeld Theatre and casually ask for a carton of Gauloises and a carton of Picayunes, and a New York Post with her face on it and I am sweating a lot by now and thinking of leaning on the john door in the 5 Spot while she whispered a song along the keyboard to Mal Waldron and everyone and I stopped breathing. (O’Hara 1964/1992, 402 f.)
Nicht exquisit, sondern durch und durch banal ist dagegen das Warenzeichen bei Brinkmann: »Schmierwurst von Hertie«, und es insistiert im Text auf fast schmerzhafte Weise: »[F]ick dich selbst in der abgerückten Stille eines Nachmittags gegen den offenstehenden Kühlschrank, aus dem das leise Wimmern eines Stücks Schmierwurst von Hertie in Klarsichtfolie kommt ... Sie erinnern sich?« (FW, 240). Im selben Atemzug wie die absurd verdrehte sexuelle Bildlichkeit provoziert auch die schiere Nennung des Konsumartikels mitsamt Markennamen. Und Letzteres, dieser Verstoß gegen literarische und ästhetische Gepflogenheiten, wird, nächste Stufe der Provokation (wir befinden uns im Jahr 1969!), für politischer erklärt als jede Form engagierter Literatur: »Der Unterschied zu den europäischen Literaturprodukten der Gegenwart besteht darin, daß sich diese Autoren [deren Texte in Acid abgedruckt werden, HD] nicht haben besetzen lassen von der allzu billigen (und primitiven) Ansicht, das wäre schon ›fortschrittlich‹ und damit wäre schon etwas ›gewonnen‹, wenn sie ihre Arbeiten mit politischem Inhalt füllen. Sie gehen davon aus, daß eine literarische Arbeit selber ein Politikum darzustellen hat, indem sie Übereinkünfte des Geschmacks, des Denkens und der Vorstellungen sowie hinsichtlich des Gattungsgebrauchs und der inhaltlichen Momente bricht... ›Zeit sich umzusehen auf diesem abgewirtschafteten radioaktiven Bullen verseuchten Planeten‹ (Burroughs) – ›Steaks in Klarsichthüllen? Schmierwurst von Hertie?‹« (FW, 228).
4.3 Rock Die Terminologie um die musikalischen Stile Rock’n’Roll, Beat, Pop und Rock ist nicht ganz unkompliziert. Während Rock’n’Roll ab Mitte der 1950er Jahre in den USA mit Acts wie Bill Haley, Little Ri-
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chard, Jerry Lee Lewis und allen voran Elvis Presley zu einem Synonym dezidiert jugendkultureller Popmusik mit stark sexualisiertem Appeal wird, ist Beat als musikalischer Stil zu unterscheiden von der jazzaffinen Beat Generation. Es handelt sich dabei um eine britische Anverwandlung des Rock’n’Roll ab etwa Mitte der 1960er Jahre mit Protagonisten wie den Beatles, den Rolling Stones oder den Kinks. Pop wiederum bildet einerseits einen umbrella term im Sinne von ›popular music‹ überhaupt, andererseits steht Pop in Opposition zum Rock, wie er sich ab den späteren 1960er Jahren mit Bands wie Led Zeppelin oder den Rolling Stones entwickelt. Gilt Pop als kommerziell, flach und anspruchslos, so nimmt Rock für sich in Anspruch, authentisch, intensiv-expressiv, rau und gegenkulturell zu sein. Die dadurch zum Ausdruck gebrachte kulturelle Hierarchie dreht sich im Laufe der 1970er Jahre wieder um, wenn Pop mit Akteuren wie Sparks, Roxy Music oder David Bowie Momente von Artifizialität und Experiment nicht zuletzt auch auf dem Feld des Geschlechts markiert, während Rock ein eher krudes, oft traditionell-männlich geprägtes Gendering vertritt. Es ist ein ›rockiger‹ Impetus, und zwar in mehrfacher Hinsicht, wenn Brinkmann in seinem Statement zur Fiedler-Debatte Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter eine erste Salve von Invektiven gegen die Reihe der Fiedler-Kritiker mit folgender Bemerkung unterbricht: »Ich schreibe das hier, während auf meinem Dual-Plattenspieler HS11 eine Platte der Doors abläuft, Disques Vogue, CLVLXEK 198, mit Jim Morrison – vocals, Ray Manzarek – organ, piano, bass, Robby Krieger – guitar, John Densmore – drums, und sollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen anstatt weiterzutippen ...« (Angriff aufs Monopol, 66). Zu unterscheiden wäre hier zunächst der Aspekt der Ekstase und Überschreitung. Der Bandname »Doors« geht auf ein Buch von Aldous Huxley zurück, in dessen Zentrum psychedelische Experimente mit Meskalin stehen. Der LSD-Proselyt Timothy Leary bezieht sich darauf mit seiner »›Politik der Extase‹« (Schäfer 1998, 126), die wiederum auf Leslie Fiedlers Ekstase-Konzept verweist. Vielleicht ist es ja so, insinuiert Brinkmann, dass man Ekstase literarisch im Vergleich mit der Musik überhaupt nur schwer erreichen kann. »Rock«, so formuliert es Chester Anderson in seinen Notizen zur neuen Geologie, die Brinkmann und Rygulla in den Band Acid aufnehmen, Rock fordert »eine intensive Teilnahme« und ist dezidiert »keine typographisch ausgerichtete Kunstform« (An-
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derson 1969, 357). Ziemlich unekstatisch, soviel ist sich Brinkmann sicher, ist jedenfalls die Debatte mit »deutsche[n] Dichter[n]«, an denen man nichts als »das Mickrige« oder »Krämerhafte« wahrnimmt. Nicht zuletzt wirft Brinkmann seinen Kollegen ihre »enorme Uninformiertheit« (Angriff aufs Monopol, 66 f.) vor. Konkret hält er ihnen die »technischen Apparaturen« (ebd.) vor Augen, die akribische Verwendung von »advanced technology« im Kreativprozess, wie sie als konstitutiv für die Rockmusik gilt (Garofalo 1997, 5 f.). Die Aufmerksamkeit auf technische Verfahren spiegelt sich ferner in der hyperpräzisen Nennung nicht nur der Bandcredits der Doors, sondern sogar der Liefernummer der französischen Pressung. Der Dual-Plattenspieler und die Doors, und das ist nicht despektierlich gemeint, insistieren in Angriff aufs Monopol auf strukturell vergleichbare Weise wie die »Schmierwurst von Hertie« im Film in Worten. Entsprechend hebt der Text gegen Schluss die technoide Feier des Plattenspielers HS11 mit seinem »leuchtendrote[n] Punkt in der Metallverkleidung« (ein Verwandter des Bordcomputers HAL 9000 aus Stanley Kubricks ebenfalls 1968 erschienenem Film 2001: A Space Odyssee, wie es scheint) noch einmal mit der aus der Schmierwurst-Isotopie bekannten Formel hervor: »Sie erinnern sich?« (Angriff aufs Monopol, 76). Neben technischer Präzision und drogeninduzierter Ekstase wird Rock bei Brinkmann aber auch deutlich grüblerischer zur Markierung eines Gefühls von Entfremdung genutzt, als Verweis auf jene Strange Things oder People, die die Doors besingen und zu denen man die Musik dann sogar leiser stellt, um sich der eher deprimierenden Wirklichkeit zu überlassen: »Und nun habe ich eine andere Platte der Doors aufgelegt: Strange Days, Produced by Paul A. Rothchild, audio engineering – Bruce Botnick, Sunset Sound Recorders, Hollywood; disc mastering – Ray Hagerty, Madison Sound, New York; cover concept & art direction – William S. Harvey. Elektra EKS 74 014 copyright words and music to all songs by The Doors. Ich stelle HS11 leiser, es ist früher Nachmittag, 4.XI.68 – 14 Uhr 32. Das Kind zwei Zimmer weiter im abgedunkelten Raum will nicht schlafen und weint aus Langeweile vor sich hin. Es hat einen Hirnschaden, das Steuerungszentrum ist seit der Geburt ausgefallen, ein paar Zellen zertrümmert. Eine Therapie wurde in den USA entwickelt, man nahm den Kindern den toten Teil des Gehirns heraus, in der BRD bleibt man mißtrauisch. An der Wand: Andy Warhol, March 15th through April 3rd, 1965, Morris International, 130 Bloor Street, Toronto. Eine kolorierte Porträtaufnahme vom Star Liz
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Taylor (Ehemann Richard Burton: ›Wenn sie geht, sieht sie von hinten aus wie eine französische Nutte‹). Materialien eines ereignislosen, wäßrigen Novembernachmittags« (70 f.). Eigentümlich, wie hier das Motiv der popkulturell überlegenen US-Kultur und der bundesdeutschen Ignoranz in das Narrativ von Brinkmanns Leben mit der Behinderung des Sohns übertragen wird. Datiert werden ebenso der erlebte Nachmittag wie die Warhol-Ausstellung in Toronto. Die zitierte Äußerung Richard Burtons über seine Ehefrau Liz Taylor moduliert das popmusikalische Motiv des Theres-she-goes-again auf ziemlich brutale Weise. Rock ist zweifellos eine »male form« (Frith/McRobbie 1978/1990, 373). Performances wie die von Elvis, Robert Plant oder Mick Jagger, die sich durch sexuelle Aggressivität und Dominanzgehabe auszeichnen, nennen Frith und McRobbie »›cock rock‹« (374). »She’s under my thumb«, prahlen die Rolling Stones in dem gleichnamigen Song vom Album Aftermath aus dem Jahr 1966, und meinen damit eine Frau, die zuvor aufmüpfig gewesen ist und in der Liebesbeziehung deutlich Oberwasser gehabt hat; »The change has come / she’s under my thumb«, und damit scheinen zu Jaggers und Richards’ Zufriedenheit die natürlichen Verhältnisse wiederhergestellt zu sein: »And ain’t it the truth, babe?«. Rock-Machismo findet sich auch bei Brinkmann, wenn er im Film in Worten in Bezug auf die »erweiterte Sinnlichkeit« fabuliert: »Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt« (FW, 227). Zur transgressiven Feier taugt das Rockige freilich immer weniger. Den Refrain des Rolling Stones-Songs She smiled sweetly vom Album Between the Buttons (1967): »But she smiled sweetly / She smiled sweetly / She smiled sweetly / And said don’t worry / Oh, no no no / Oh, no no no / Oh, no no no«, reduziert das Motto von Keiner weiß mehr auf die letzten drei Zeilen: »Oh, no no no / Oh, no no no / Oh, no no no« und gibt als Quelle, um nur ja keinen Zweifel an der damit ausgedrückten Verzweiflung aufkommen zu lassen, nur das Album an, nicht aber den positiv klingenden Songtitel. Entsprechend geht es im Roman weniger um sexuelle, musikalische oder drogeninduzierte Entgrenzung als um grüblerisch vorgetragene Eheprobleme: »und als er kurz darauf vom Balkon aus mit Rainer, das Zimmer hinter sich voll vom Gedröhn der Musik, die Rainer laut aufgedreht hatte, sie noch einmal mit dem anderen Mädchen, das den Wagen fuhr, einsteigen sah, ohne hinaufzublicken, um zu sehen, ob er vielleicht vom Balkon aus ihnen
nachsah, war es ein nochmals zwischen Haß und unverständlich bleibender Zärtlichkeit schwankendes Gefühl gewesen, das ihn schwerfällig machte, starr, aus dem er herauszukommen versuchte, denn damit, das wenigstens begriff er klar, war nicht weiterzukommen, nie, niemals« (Keiner weiß mehr, 10/9). Das (doppelte) Trikolon des Mottos wird zur Formel der Negation: »nicht [...], nie, niemals«. Es geht: »[...] weg, von ihr fort, weg« (ebd.). Jener »ungehemmte Strom an Körperflüssigkeiten« (Hecken 2017, 39), der im Rock gerne als Zeichen »expressive[r], entgrenzte[r] Vitalität« (ebd.) und Sexualität gefeiert wird, gerät in Brinkmanns Roman eher zum Verhandlungsfeld ehelicher Prokreation bzw. von deren Verhinderung und wird entsprechend irritiert und angeekelt geschildert: »Das Kind hatten sie weder gewollt noch verhindert, daß es zu leben angefangen hatte als ein schleimig ungenaues Ding in ihr drin [...]. Mit einer gekrümmten Stricknadel wäre es so leicht herauszuholen gewesen, mit viel Blut wahrscheinlich, dunklem, tranigen Schleim [...]. [Und] er erzählte ihr, was er von diesem oder jenem Mädchen gehört hatte, [...] wie die damit fertiggeworden waren, blutend, dadurch geschwächt, doch erleichtert, das gallertige Ding aus sich herausgeholt zu haben. Beispielsweise mit einem Schlauch, den sich das Mädchen da unten reingesteckt hatte, ein paar Tage lang, ohne ihn zu entfernen, bis es eben zu bluten angefangen habe, angesogen durch das Stück Schlauch. Sie hat es bluten lassen, erzählte er ihr, weiterbluten lassen, einfach weiterbluten lassen, natürlich, sagte er, tat das weh, was tut nicht weh schließlich« (Keiner weiß mehr, 13/11). Das ist zweifellos keine Ekstase, wie sie die Rolling Stones 1969, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Keiner weiß mehr, im Titelsong ihres 1969er Albums Let it bleed in gewissermaßen routinierter Transgression abfeiern: Ah, get it on rider, hoo Get it on rider Get it on rider You can bleed all over me, yeah Get it on rider, hoo Get it on rider, yeah You can cream all over, you can come all over me, ah Get it on rider ey
Literatur
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Heinz Drügh
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II Kontexte
5 Wissensgeschichte I: Sprachkritik Von einer systematischen Auseinandersetzung mit der Ideengeschichte oder der Entwicklung philosophischer Gedanken, wie sie etwa ein Hochschulstudium vermittelt, kann bei Brinkmann keine Rede sein. Sein Interesse gilt vor allem zwei einflussreichen, wenn auch im akademischen Betrieb nicht kanonisierten Autoren, deren Gemeinsamkeit in ihrer sprachkritischen Haltung liegt: Fritz Mauthner (1849– 1923) und Alfred Korzybski (1879–1950). Mauthner war ein vielseitiger Schriftsteller, der Romane, Essays und Dramen, Bücher über Aristoteles, Spinoza und Schopenhauer sowie über die Geschichte des Atheismus, vor allem aber voluminöse Abhandlungen über die Sprache verfasst hat, die ihm als eine soziale Tatsache gilt, in der sich der Gemeinschaftssinn der Menschen bekundet, die aber schlecht geeignet sei, wahre Erkenntnisse über die Welt zu vermitteln. Zunächst erschienen 1901 und 1902 Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bde.), dann 1907 Die Sprache. 1910 veröffentlichte Mauthner ein dreibändiges Wörterbuch der Philosophie, das Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache bietet, 1920 gefolgt von der Abhandlung Muttersprache und Vaterland; schließlich wurde 1925 aus seinem Nachlass herausgegeben: Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Brinkmann hat sich intensiv wohl nur mit dem ersten dieser Werke befasst. Mauthner setzt in Beiträge zu einer Kritik der Sprache voraus, dass das Sach- und Wortgedächtnis beim normalen Menschen aufs engste miteinander verschränkt sind, weshalb es im Denken beständig zu Rückschlüssen von der Wort- auf die Sach- und Weltkenntnis komme, obwohl verschiedene Sprachen nicht nur unterschiedliche Strukturen (Grammatik), sondern auch verschiedene Bedeutungssysteme (Semantik) aufweisen. Von einer einfachen Entsprechung zwischen Welt und Sprache, Gedächtnis und Wirklichkeit könne also keine Rede sein. Mit seiner scharfen Trennung von Realitäts- und Bewusstseinsfilm wandelt Brinkmann diese Sicht der Dinge auf seine Weise ab, wobei ihn der Umstand bestärkt haben dürfte, dass Korzybskis berühmtes Diktum ›the map is not the territory‹ im Prinzip das Gleiche besagt: Die Karte – Sprache – darf nicht mit dem Gelände – der Wirklichkeit – verwechselt werden. Mauthner hatte die Frage nach dem Wesen der Sprache als Kunstmittel zu der tieferen Frage nach dem Wesen der Sprache als Erkenntniswerkzeug geführt. Er bemerkt, dass sie voller Widersprüche stecke, die es in
Wirklichkeit gar nicht gäbe. Mit dieser Sicht der Dinge kommt Mauthner der non-elementaristischen Lehre von Korzybski und dessen ›law of non-identity‹ (s. u.) sehr nahe, stellt er doch fest: »das aufmerksame Beobachten zweier ähnlicher Tatsachen muß notwendig zur Beachtung ihrer unterscheidenden Merkmale führen, wenn der Unterschied für unsere Organe groß genug ist; denn es gibt keine identischen Tatsachen« (Mauthner 1986, 56 f.; B I, 3–19). Folgerichtig fasst Mauthner das Sprechen, das ständig den Eindruck erzeugt, es gäbe verschiedene Tatsachen, die unter denselben Begriff subsumiert werden könnten, als eine Tätigkeit des Menschen auf, die Artefakte schafft (vgl. Mauthner 1986, 68 f.; B I, 3–19), und deren Sinn weniger in der korrekten Bezeichnung der Dinge als vielmehr darin liege, soziale Beziehungen zu stiften. »Die Sprache ist Gemeineigentum«; sie existiere »niemals für sich allein, sondern immer nur zwischen den Menschen« (Mauthner 1986, 77; B I, 24–29) und entwickele sich im sozialen Verkehr beständig weiter. »Ein konstantes Wort für einen konstanten Begriff gibt es so wenig wie eine mathematische Linie« (Mauthner 1986, 82; B III, 340–343). Auch sie sei reine Abstraktion. Man müsse sich aber nicht an das Abstrakte, Absolute, scheinbar Zeitlose, sondern an das Konkrete, Relative, Zeitbedingte halten und so von dem »Wortaberglauben« (Mauthner 1986, 84; B II, 33–34) befreien, von den Gespenstern, zu denen die Begriffe werden, weil sie, Wiedergängern vergleichbar, auftauchen, sobald zwei Tatsachen einander halbwegs ähnlich sehen. Zu diesem Spuk gehört, dass vor allem Substantive suggerieren, ihnen müsse unbedingt etwas Außersprachliches entsprechen. »Die meisten Menschen leiden an dieser geistigen Schwäche, zu glauben, weil ein Wort da sei, [...] müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen« (Mauthner 1986, 86; B I, 158–161). Doch ein Begriff, der für die Erfassung dieser oder jener Situation geprägt worden sei, passt – wenn überhaupt – nur metaphorisch auf eine andere Situation. »Durch Metaphern hat sich die Sprache entwickelt« (Mauthner 1986, 86; B I, 158–161), durch bildliche Ausdrücke mithin, die man nicht unbedingt wörtlich nehmen und schon gar nicht verdinglichen darf. Brinkmann konnte Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache umstandslos zur Begründung seiner Poetik (s. Kap. 15) verwenden, weil sich diese Poetik ebenfalls gegen abstrakte Begriffe und in ihrer Bedeutung festgelegte Wörter wandte. Im Einzelnen übernahm er von Mauthner die Erkenntnis »Widersprüche gibt es nur in den Wörtern« (Ww, 260 und BrH, 140 f.) sowie die These, »daß in der Sprache kei-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_5
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ne Erkenntnisse zu machen sind (F. Mauthner)« (Ww, 267). Er schließt daraus, dass ernsthafte Aussagen, genau genommen, Tautologien seien, »also Stilvarianten der Wirklichkeit« (Ww, 268), die echten Veränderungen im Wege stehen. Was man loswerden müsse, sei der »›Wortaberglauben‹ wie Fritz Mauthner das sagte, in: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3Bd. Verlag F. Meiner 1909–1923 / oder wie Alfred Korzybski das in seinem Buch Science and Sanity genau erklärte (beide haben auf mich einen starken Eindruck gemacht)« (BrH, 129). Der Grund ist klar: beide Denker bestärkten Brinkmanns Interesse am Konkreten, Individuellen. Eben der »Wortaberglaube« (BrH, 129) werde den Kindern jedoch, wie Brinkmann in Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten voller Empörung registriert, stets als erstes eingeimpft: »In einer norddeutschen Kleinstadt, kurz nach Schulanfang, sind in den Schaufenstern Schulbücher ausgestellt, deren Titel verräterisch genug ist: ›Wort & Sinn‹, Wörter stiften Sinn, machen Zusammenhänge sinnvoll. Der Wortzusammenhang soll entscheidend sein, und auf den Wortzusammenhang, wie Rechtschreibungsstunden, wird geachtet. (Über der Fragmentarisierung der Sprache zerbricht der Sinn, deswegen die Aufforderung in den Schulen, jedenfalls erinnere ich mich daran, ›in ganzen Sätzen zu sprechen‹, warum aber bereits in ganz frühkindlichem Alter das Beharren vieler Kinder auf ihrem Autismus?)« (Ww, 283) Brinkmann suggeriert hier einen sich in Autismus (und Legasthenie) manifestierenden Widerstand gegen das, was Heranwachsenden im Erziehungs- und Bildungssystem, von der Volksschule bis zur Universität tagtäglich angetan werde und spricht allen Ernstes von: »[...] Kinderschändung, sie betrifft das Gehirn [...] Übel zugerichtet von Anfang an durch die fixierten Wörter, Weltansichten, Sinnzusammenhänge [...]« (Ww, 309). Dagegen begehrt der Lyriker auf: »Jedes Gedicht enthält in sich die Verneinung der Sprache« (Ww, 271). Leicht ist diese Verneinung freilich schon deshalb nicht, weil sie – solange Brinkmann Texte schreibt – auf Wörter angewiesen bleibt. »Das Eintauchen in die Oberfläche der Welt ist immer noch schwierig, die Verständniswörter müssen abgestoßen werden, und das ist eine schwierige Arbeit« (Ww, 287). Tatsächlich wird man die Sprache weder dadurch los, dass man einen ›Film in Worten‹ dreht noch dadurch, dass man die Zeichen im Schriftbildraum der Literatur nicht mehr syntaktisch, sondern kartographisch, diagrammatisch auslegt, als Display möglicher Relationen, als ›Schalttafel‹. Das Layout der ›Schalttafel‹ gewinnt für
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Brinkmann vor allem deshalb Relevanz, weil es eine nicht-lineare, multiordinale Verknüpfung von Wörtern und Gedichtzeilen, aktuellen Wahrnehmungen, Empfindungen und Erinnerungsmomenten oder Gedächtnisszenen erlaubt. Die Idee der multiordinalen Verknüpfung aber stammt von Alfred Korzybski. Korzybski, der 1879 in Warschau geboren wurde, studierte Ingenieurwissenschaften, war im Ersten Weltkrieg dem Aufklärungsstab der russischen Armee zugeordnet und arbeite später auch in Kanada und in den USA, wo er nach der Veröffentlichung seines ersten Buches Manhood of Humanity (1921) blieb, für das Militär. Sein wissenschaftliches Hauptwerk Science and Sanity erschien erstmals 1933. Korzybski, der bis zu seinem Tod 1950 an dem von ihm gegründeten Institute of General Semantics – zunächst in Chicago, dann in Lakeville, Connecticut beheimatet – lehrte (an einem seiner Seminare nahm 1939 im Alter von 25 Jahren William S. Burroughs teil), verband in diesem Buch Überlegungen aus der Mathematik und der Semiotik, der Psychologie und der Physiologie. Beispielsweise folgerte er aus der Irritabilität jedes Organismus durch Ereignisse in dessen Umwelt, dass es zwischen dem Innen und dem Außen strukturelle Beziehungen geben müsse und dass diese Beziehungen das zentrale Nervensysteme und seine Peripherie – die Sinnesorgane – in ihrem Verhältnis zur Umwelt bestimmten (vgl. Korzybski 1933, 102 f.). Indem er die physiologische Tatsache der Irritabilität mit der Vorstellung verband, dass die Bedeutungen, die Irritationen von einem Lebewesen beigemessen werden, nicht mit den Ereignissen, die sie ausgelöst haben, identisch sind, sondern bereits auf der untersten Stufe der Bewusstheit Abstraktionen darstellen, meinte er viele psychologische Schwierigkeiten, die sich aus unzulässigen Identifikationen ergeben, auflösen zu können. Seine ›General Semantics‹, die paradoxer-, aber konsequenterweise behauptet, dass es keine allgemein gültigen Bedeutungen gibt, rekurriert insbesondere auf die Entwicklung der Mathematik im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, die mit der Entwicklung der zeitgenössischen Semiotik dadurch verbunden war, dass beide Disziplinen auf Relationen und Funktionen abstellten, die verschiedene Abstraktionsgrade von der konkreten Gegenständlichkeit der menschlichen Lebenswelt aufwiesen. Werde unmittelbar aufeinander bezogen, was zu verschiedenen Abstraktionsgraden, etwa zu unterschiedlichen Begriffen oder logischen Klassen gehöre, entstehe – ähnlich wie es Mauthner in Beiträge zu einer Kritik der Sprache formuliert hatte – eine unnötige Verwirrung, die, wenn
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II Kontexte
sie nicht beseitigt werde, zu (geistigen) Krankheiten führe. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Gesundheit ergebe sich somit aus der Notwendigkeit, Kurzschlüsse zu vermeiden, indem man sich einerseits die Unterschiede von Wort und Ding, Zeichen und Bezugsgegenstand vor Augen führe, andererseits jedoch nach strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Vorstellung und Wirklichkeit suche – Ähnlichkeiten, die es immer nur auf Zeit geben könne, weil die Wirklichkeit dynamisch und nicht statisch sei. Aus diesem Grund wandte sich Korzybski gegen die drei Grundsätze des aristotelischen Denkens, die das westliche Denken unkritisch verinnerlicht habe: »The Law of Identity: whatever is, is. | The Law of Contradiction; nothing can both be and not be. | The Law of Excluded Middle: everything must either be or not be« (Korzybski 1933, 404). Korzybski stellt diesen Grundsätzen erstens die Regel des eingeschlossenen Dritten gegenüber, der zufolge etwas, je nach Betrachtungsweise, Bewertungsart und Bedeutungslehre sowohl das eine als auch das andere sein kann. Zweitens erklärte er im Anschluss an die Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead, dass sich Widersprüche dadurch vermeiden oder auflösen ließen, dass man verschiedenen Abstraktionsgraden oder Begriffsklassen zuweist, was sich scheinbar nicht miteinander vereinbaren lässt. Und drittens pochte er auf das ›Law of Non-Identity‹, das er am Beispiel der Karte erläutert. Die für Korzybskis Konzept der Sprache Ausschlag gebende Stelle in Science and Sanity, auf die Brinkmann immer wieder zurückkommen sollte, lautet: »Two important characteristics of maps should be noticed. A map is not the territory it represents, but, if correct it has a similar structure to the territory, which accounts for its usefulness. If the map could be ideally correct, it would include, in a reduced scale, the map of the map; the map of the map, of the map; and so on, endlessly, [...]. If we reflect upon our languages, we find that at best they must be considered only as maps. A word is not the object it represents; and languages exhibit also this peculiar self-reflexiveness, that we can analyse languages by linguistic means. This self-reflexiveness of languages introduces serious complexities, which can only be solved by the theory of multiordinality [...]. The disregard of these complexities is tragically disastrous in daily life and science« (Korzybski 1933, 58). Was aber besagt ›theory of multiordinality‹ genau? Korzybski versteht darunter vor allem die Eigenart bestimmter Worte, in verschiedenen Kontexten, die sich durch den Grad ihrer Abstraktheit voneinander abhe-
ben, unterschiedliche Bedeutungen anzunehmen. Er schreibt: »The main characteristic of these terms consists of the fact that on different levels of orders of abstractions they may have different meanings, with the result that they have no general meaning; for their meanings are determined solely by the given context, which establishes the different orders of abstractions« (Korzybski 1933, 14). Unter dieser Voraussetzung müssen Begriffe den Menschen immer dann in die Irre führen, wenn sie intentional aufgefasst werden. Die Alternative besteht für Korzybski in der extentionalen Bedeutungsermittlung. Er verdeutlicht diese Alternative anhand der Methoden, durch die man zu einer Definition gelangt: »[...] the first type of definitions which enumerates individual members is to be called a definition of extension, the second, which gives a defining ›property‹, is to be called a definition by intension« (Korzybski 1933, 173). Schließlich nutzt er die Unterscheidung von Intention und Extention für die Lösung des Problems, dass sich aus dem Grundsatz der ›General Semantics‹ ergibt. »If words are not things, or maps are not the actual territory, then, obviously, the only possible link between the objective world and the linguistic world is found in structure, and structure alone« (Korzybski 1933, 61). Die Lösung lautet dann: »The extensional method is the only method which is in accordance with the structure of our nervous system as established by survival« (Korzybski 1933, 176). Zu einer umfassenden Neukonzeption menschlichen Denkens und Verhaltens wird Korzybskis ›General Semantics‹ allerdings erst durch den Zusammenhang, der zwischen seinem Hauptwerk Science and Sanity und dem Vorläufer-Buch Manhood of Humanity besteht. Manhood of Humanity ist Korzybskis Antwort auf die Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkriegs. Um weitere Katastrophen dieses Ausmaßes zu verhindern, müsse man die Gesetze der menschlichen Natur von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus klären. Denn allein die genaue Kenntnis dieser Gesetze setze die Menschheit in den Stand, die Kräfte und Fähigkeiten jedes Einzelnen auf das Wohl aller zu lenken (vgl. Korzybski 1923, 1). Auf die zentrale Frage »What is Man?« lägen bislang nur falsche Antworten vor. Weder die Behauptung, dass der Mensch eine Art Tier sei, noch die Behauptung, er sei eine Einheit aus etwas Animalischem und etwas Übernatürlichen, halte der wissenschaftlichen Überprüfung stand (vgl. Korzybski 1923, 3). An den Steuerungsversuchen der Vergangenheit kritisiert er aber nicht nur, dass sie von einem falschen Menschenbild
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ausgegangen sind, sondern vor allem, dass sie kaum mit dem technischen Fortschritt der Zivilisation Schritt halten konnten (vgl. Korzybski 1923, 21 f.). Die ethischen und politischen, sozialen und ökonomischen, psychologischen und philosophischen Überlegungen hinkten diesem Fortschritt hinterher und seien daher unfähig, verlässliche Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Zukunft abzustecken. Werde die sich dynamisch entwickelnde Wirklichkeit jedoch an überholten, statischen Ideen gemessen, steuere die Menschheit in sich verkürzenden Intervallen in Katastrophen wie den Ersten Weltkrieg, die es zu verhindern gelte. Um dem vorzubeugen, müsse man eine klare Vorstellung davon entwickeln, was Menschen tatsächlich leisten können. Eine solche Vorstellung werde durch Vergleiche zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, also naturwissenschaftlich, gewonnen. Pflanzen verfügen über die besondere Fähigkeit Sonnenenergie in organische Energie umzuwandeln; sie konstituieren dadurch eine Klasse der chemiebindenden Lebewesen (vgl. Korzybski 1923, 58). Im Unterschied zu Pflanzen, die sich nicht fortbewegen können, besitzen Tiere die Fähigkeit, Ortswechsel vorzunehmen; sie bilden daher die Klasse der raumbindenden Lebewesen (vgl. Korzybski 1923, 59). Menschen teilen mit den Tieren die Beweglichkeit, besitzen jedoch darüber hinaus die Fähigkeit, Errungenschaften der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft nutzbar zu machen, also Zeit zu binden; sie stellen daher eine Klasse für sich dar (vgl. Korzybski 1923, 59 f.). Wichtig ist Korzybski, dass sich die Fähigkeit, Zeit zu binden, als Exponential-Funktion modellieren lässt: Angemessen genutzt, geht es mit dem zivilisatorischen Fortschritt immer schneller und steiler voran. Das bedeutet zugleich, dass Rückschritte oder gar Abstürze aufgrund der zunehmenden Fallhöhe mit der Zeit immer schlimmere Folgen haben müssen. Dieser Gefahr müsse man durch jene Steuerung begegnen, die Korzybski ›Human Engineering‹ nennt. Die Pointe liegt darin, dass diese Art der Steuerung ohne metaphysische Spekulationen über die Essenz der zeitbindenden Fähigkeit des Menschen auskommt und sich ganz und gar auf die Wirkweise menschlicher Fähigkeiten konzentrieren kann (vgl. Korzybski 1923, 77). Korzybski ratifiziert damit die Wende vom Substanzzum Funktionsdenken, in der für Ernst Cassirer die wesentliche Differenz der modernen, wissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft gegenüber älteren Zivilisationsstufen lag. Sein Ansatz erlaubt es, jede Generation als einen Produktionsfaktor materiellen und spirituel-
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len Wohlstands zu betrachten, auf deren Errungenschaften die nächsten Generationen aufbauen können. Der Wohlstand einer Generation bemisst sich für ihn daher nicht etwa an der Summe des Geldes, das im Umlauf ist, sondern an ihrem Beitrag zur Produktivitätssteigerung. Geld ist dafür bestenfalls ein Maßstab (vgl. Korzybski 1923, 106 f.) Tiere oder Pflanzen schaffen weder Wohlstand noch bleibende Güter oder Werte; sie fangen sozusagen mit jeder Generation von vorne, im Naturzustand, an. Knapp hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Manhood of Humanity mag der Begriff ›Human Engineering‹ auf Vorbehalte stoßen, die ihre Berechtigung in seinem Missbrauch haben. Korzybski argumentierte allerdings ausschließlich »for the benefit of all« (Korzybski 1923, 140) und wandte sich dezidiert gegen die sozialdarwinistische Theorie des ›survival of the fittest‹, die im Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus Karriere gemacht hatte. Sie sei für zeitbindende Lebewesen gänzlich ungeeignet; ihre Auswirkungen auf die Menschheit bezeichnet Korzybski unmissverständlich als »sinister and degrading« (Korzybski 1923, 142). In der Sache laufen seine Vorstellungen auf eine Generationen und Kulturen übergreifende Solidarität hinaus, wie insbesondere Korzybskis Kritik an der deutschen Politischen Philosophie deutlich macht. Ihr fataler Fehler habe darin gelegen, das Gemeinwohl mit dem des Nationalstaates gleichzusetzen und dessen Wohl wiederum gegen das der übrigen Menschheit auszuspielen, was zwangsläufig kriegerische Auseinandersetzungen verursachen musste (vgl. Korzybski 1923, 162–165). Richtig verstanden ist ein zeitbindendes Lebewesen aber nicht nur ein zivilisiertes, sondern vor allem ein zivilisierendes (vgl. Korzybski 1923, 197), das gegen die militärische Zerstörung der gemeinsa men Errungenschaften und den Rückfall der Menschheit in die Barbarei an arbeitet. Brinkmann hat sich in seiner Gesellschaftskritik nicht ausdrücklich auf Korzybski bezogen, was nicht ausschließt, dass seine Lektüre von Manhood of Humanity seinen Blick auf das kapitalistische Wirtschaftssystem beeinflusst hat. Explizit nimmt er immer wieder auf Korzybskis Sprachkritik Bezug. Liest man in »Westwärts Teil 2« die Marginalie »Kuh A ist | Nicht Kuh B, | sagt A. | Korzybski« (Ww, 90), muten diese an den Rand geschriebenen Wörter freilich zunächst wie eine Parodie auf den wissenschaftlichen Diskurs an. Doch Brinkmann gibt hier eine der vielen markant formulierten Merksätze wieder, die er aus Science and Sanity übernommen hat; den bekanntesten dieser Merksätze ratifiziert er folgendermaßen:
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II Kontexte
»Korzybski: das Wort ist nicht die Sache, die Landkarte nicht das Gelände, das sie darstellt« (RB, 61). Im gleichen Sinne konstatiert er, ebenfalls in Rom, Blicke: »Tatsächlich ist die Landkarte nicht der Ort, wie Korzybski sagt. Alles ist viel zu sehr mit alten Bedeutungen aufgeladen« (RB, 83). Brinkmann hat sehr wohl verstanden, dass es im Rahmen des fortlaufenden ›adjustment‹ von Denken und Sprechen, das Korzybski aus Gründen der Gesunderhaltung von Mensch und Menschheit verlangt – »The problem of ›insanity‹ is the problem of maladjustment.« (General Semantics Seminar, 222) – darauf ankommt, immer wieder von neuem kartographisch tätig zu werden und sich von überholten Bedeutungen frei zu machen. Er verbindet den dazu erforderlichen Blick für das Neue, Andere, das Individuelle und Konkrete mit der Maxime von William Carlos Williams ›no ideas but in things‹ »oder wie A. Korzybski sagt: ›When in perplexity, read on‹« (BrH, 142). Aber Brinkmann sieht, wie Korzybski, auch, was dem kartographischen Akt der Selbst- und Welter neuerungen entgegensteht: »Angst tritt auf, sobald man ein fremdes Territorium betritt« (RB, 297). Angst aber führt zu Fehlrahmungen der Wirklichkeit und anderen Missverständnissen. So hält er sich denn immer wieder vor Augen: »›In Case of Misunderstanding, read on!‹ (Korzybski)« (RB, 199) und setzt auf die Dynamisierung von Wahrnehmung und Sprache, Bewusstsein und Schrift. »Kunst wird ja meistens noch statisch gesehen (ZB. hat Benn sogar noch seinen ersten Nachkriegsband: Statische Gedichte genannt), dabei ist jedes Produkt, also auch ein Gedicht, der Ausdruck von lebendigen Menschen zu einer Zeit – A. Korzybski spricht deswegen auch vom Menschen als jemand der ›time-binding‹ macht – daß heißt nicht, daß jemand mit dem, was er tut, die Lebendigkeit in seinem Produkt erstarren läßt, das wäre falsch abstrahiert, und das würde wieder für die Ansicht vom Statischen sprechen, sondern: es heißt er mittelt die Lebendigkeit seiner Zeit, er benutzt die Bewegungen seiner Zeit für das, was er tut, und sei’s nur ein Gedicht zu schreiben.« (BrH, 144) Brinkmanns Korzybski-Lektüre kommt, wie dieses Stelle belegt, keineswegs ohne produktive Missverständnisse aus; entscheidend ist jedoch die Ermutigung, die der Dichter durch den Denker erfährt, denn »[...] jede Bedeutung = Verlängerung des Realen,
Sichtbaren in die Gedankenmuster hinein ist überflüssig, Schrott – Korzybski hat da ganz recht!« (RB, 411). Folgerichtig kommt Brinkmann immer wieder auf diesen Autor zurück (vgl. BrH, 117) und empfiehlt Hartmut, der eine wissenschaftliche Arbeit über seine Gedichte schreiben will, sowohl die Lektüre von Science and Sanity (vgl. BrH, 135) als auch von Manhood of Humanity (vgl. 230). Der umfangreichste Verweis auf Korzybski in Brinkmanns Texten bezieht sich auf Letzteres. Brinkmann zitiert aus diesem Buch ungewöhnlich ausführlich. Offenbar kann er seine eigene Poetologie am besten mit den Worten von Korzybski ausdrücken – rhythmisch angeordnet in dem Gedicht »Guten Morgen in Köln«: »if we think verbally we act as biased observers / [...] and so remain in our rut / of old orientations. In contrast / when we think without words or in pictures (which involve / structure and therefore relations) we may discover new aspects and re / lations [...]« (Ww, 245). Man kann in dieser Juxtaposition zwischen einem elementaristischen Denken in einzelnen Begriffen auf der einen und einem Denken in Bildern, die genau genommen Schaubilder, Diagramme sind, eine wesentliche Anregung für ein Gedicht wie »Roma die Notte« sehen, das schon vom Layout her nicht mehr als ›Film in Worten‹, sondern als ›Schalttafel‹ angelegt ist und im Schriftbildraum mögliche Zeichen- und Gedankenverknüpfungen auslegt, die sich eben nicht mehr auf ein Schnittbogenmuster reduzieren lassen (s. Kap. 13 und 44). Literatur
Korzybski, Alfred: Manhood of Humanity. The Science and Art of Human Engineering. New York 1923 (Reprint Forgotten Books 2012). Korzybski, Alfred: Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics [1933]. Englewood 51994. Korzybski, Alfred: General Semantics Seminar 1937. Transcription of Notes From Lectures in General Semantics Given at Oliver College. Hg. von Homer J. Moore, Jr. New York 32002. Mauthner, Fritz: Sprache und Leben. Ausgewählte Texte aus dem philosophischen Werk. Hg. von Gershon Weiler. Salzburg/Wien 1986. Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Drei Bde. [1901/02]. Dritte Auflage (identisch mit der zweiten). Leipzig 1923. Reprint: Hildesheim 1969.
Matthias Bauer
6 Wissensgeschichte II: Nietzsche
6 Wissensgeschichte II: Nietzsche Brinkmanns Vorbehalte gegen »die sogenannten Verbindlichkeiten der Ästhetik« (BrH, 50) bezogen sich wohl auch auf die Aufladung literarischer Texte mit philosophischen Ideen. In den Briefen an Hartmut mokiert er sich recht deutlich über »dieses Dealen mit Sprache und Theorien usw.«; es sei »alles nur purer sinnlich-leerer Akademismus, Zweitsysteme, die sich aufblähen zu Erstsysteme[n]« (BrH, 129, vgl. 41). Dichter seien eben »nicht Belieferer von Universitätsseminaren oder Massenmedien« (ebd.). Insofern wundert es nicht, wenn Brinkmann sich in seinen Texten wenn er sich überhaupt auf Philosophen bezieht, dann auf jene, die im akademischen Diskurs als Außenseiter ihrer Zunft wahrgenommen werden. Hierzu zählen ganz sicher die Sprachphilosophen Fritz Mauthner und Alfred Korzybski, dazu zählt aber auch der jenseits der akademischen Philosophie – zumal seiner analytischen Richtung – sehr viel populärere Friedrich Nietzsche, auf den Brinkmann über seine Gottfried Benn- und Wilhelm Reich-Lektüre gestoßen sein könnte. In den Erkundungen nennt er ihn in einem Atemzug mit Denkern, die er in seinen Texten weit häufiger zitiert: »weg mit Reich,Nietzsche,Korzybski/:weiter« (Erk, 224). Brinkmann nähert sich Nietzsche in Rom, Blicke – fast möchte man sagen folgerichtig – nicht über dessen Texte, sondern vor allem über die berühmte Turiner Anekdote, die im Januar 1889 die beginnende Geisteskrankheit des Philosophen (vgl. auch Erk, 224) markiert; so notiert er »1 Gaul müde und abgeschlafft und hinter sich ein schwarzer nasser Haufen Kot samt Droschke, in dem ein dösendes Bauerngesicht saß« (RB, 52) Später wird klar, dass hier tatsächlich Nietzsches ›Italien-Erlebnis‹ gemeint ist: »Nietzsche, aber der ist im Süden ganz schön verrückt geworden, als er die armen Kreaturen sah plus Mensch, umarmte einen Droschkengaul – und das nimmt jeder alles so hin als pure Biographie? [...] Ohne zu fragen, ob sie nicht einer Mythe aufgesessen sind« (RB, 187) Offenbar liegt ihm an einer ›Entmythologisierung‹ Nietzsches: Den falschen Umgang mit Nietzsche bemängelt er daher, als der konservative Dichter Albrecht Goes, ein »protestantische[r] Pfarrer-Greis«, sich in einem Gespräch »erfrechte [...] sogar Nietzsche zu erwähnen« (RB, 64). Eine Parallele könnte man in Brinkmanns Aber gegen die ›Mythen‹ sehen, die sich im Laufe der Zeit mit seiner eigenen Person verbanden: »was für Mißverständnisse, die meine Person betrafen in den jeweiligen Zusammenhängen« (RB, 325).
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Doch nicht nur der Turiner Zusammenbruch Nietzsches wirkt auf Brinkmanns Italien-Bild. Insgesamt scheine er – so Röhnert (vgl. 2001, 98) – beim Baseler Philosophen die Haltung des »geborenen Mittelländer[s]«, des »guten Europäer[s]« also (Nietzsche 1999, Bd. 5, 200), abgeschaut zu haben, der »zu umfänglich« sei, »um in irgendeiner Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben« wisse (ebd.). Ganz ähnlich grenzt sich Brinkmann immer wieder gleichermaßen vom fettigen »Olivensüden«, dem verfaulten »Süden Europas« oder überhaupt von der »südliche[n] Zone« (Ww, 211, vgl. 107 f.) wie von seiner nördlichen, durch den Krieg geprägten kargen Welt ab (vgl. ebd. und 152 f.). Insbesondere in den späten Westwärts-Gedichten (vgl. Ww, 26, 47, 61, 66 ff. usw.) und dem Fragment zu einigen populären Songs – »der Süden zerfallen | der Norden erstarrt« (Fragment, 110) – finden sich immer wieder räumliche Verortungen, Zuweisungen und Stereotype, die an Nietzsches problematische ›Ethnologie‹ der »Völker und Vaterländer« aus Jenseits von Gut und Böse erinnern (vgl. Nietzsche 1999, Bd. 5, 179–204). In Westwärts Teil 2, dem Gedicht mit der Korzybski- Marginalie (s. Kap. 5), findet sich im 6. Abschnitt eine Passage über den kranken Nietzsche, der Besuchern in Weimar von seiner Schwester Elisabeth FörsterNietzsche regelrecht vorgeführt wurde; die Benennung Nietzsches durch Brinkmann wirkt provozierend vertraulich, so als wisse er um den ›echten‹ Menschen Nietzsche hinter all seinen Inszenierungen: »Und Fritz, der oben im Zimmer mit Kamillentee | behandelt wird, Nietzsche? Er wird zum Klavier | geführt, das an der Wand steht, und er macht etwas Musik« (Ww, 85; vgl. Kramer 2012, 846). Überliefert ist in den einschlägigen Biographien, dass der geisteskranke Nietzsche vor allem auf Musik reagierte, die man nutzte, um den Besuchern einen halbwegs lebendigen Menschen zu zeigen. Dass Brinkmann den Umgang Elisabeth FörsterNietzsches mit dem kranken Philosophen im Kopf hatte, lässt sich möglicherweise aus der Verwendung ihrer zusammen mit Peter Gast verantworteten, aber höchst umstrittenen Kompilationsausgabe Der Wille zur Macht (1930) schließen. Brinkmann zitiert die Ausgabe zwei Mal in den Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans (1974, s. Kap. 15): »Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!« (FW, 286, 295, im Willen zur Macht: Nr. 602, vgl. Nietzsche 1999, Bd. 11, 146, Fragment 25[505]). Das Zitat korrespondiert mit einer bekannteren Formulierung, die Brinkmann vermutlich aus Nietzsches Also sprach
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_6
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Zarathustra (1883–1885) kennt: »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« (Nietzsche 1999, Bd. 4, 340 und 5, 399). Denn er selbst variiert im Schlusssatz der Notizen und Betrachtungen bezeichnenderweise nicht mehr das Fragment 25(505) in der Version des Willens zur Macht, sondern den Anfang der ursprünglichen Sentenz: »Nichts ist wahr – Alles erträumt!« (FW, 295). Daraus kann man folgern, dass Brinkmann hier nicht einfach eine in der Postmoderne beliebte Formulierung (im Sinne von ›anything goes‹ nach Cole Porter) aufgreift, sondern sich eingehender mit der Bedeutung des bekannten Nietzsche-Satzes auseinandergesetzt hat. Im Kontext der Notizen und Beobachtungen verweist er auf das für Brinkmann typische Zusammendenken von Sprach- und Erkenntniskritik; falsch sei das »Eintreten für eine andere Gesellschaftsordnung« (FW, 286) in der Literatur; es verschleiere, wie sehr der Autor selbst Teil dieser Ordnung sei: »Zugleich wird die Frage verdeckt, ob der Zustand der Außenwelt wie der innere Zustand der einzelnen Person in gleichem Maß verwüstet ist, so daß gar nicht mehr gesehen werden kann, worauf sich die Vorstellung richten soll; was überhaupt noch ergriffen werden kann, das Wert hätte, ergriffen zu werden. ›Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!‹, sagte bereits vor nicht ganz hundert Jahren Friedrich Nietzsche.« (FW, 286). Wie im Zarathustra geht bei Brinkmann der Weltveränderung notwendig die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit voraus. Die wichtigste Referenzpassage bei Nietzsche ist vermutlich das Kapitel »Der Schatten« im vierten Teil des legendären »Buchs für Alle und Keinen«; hier setzt sich Zarathustra, nach der Belehrung anderer, mit sich selbst auseinander: »Mit dir« – gemeint ist der eigene Schatten – »verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse Namen. [...] ›Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‹: so sprach ich mir zu« (Nietzsche 1999, Bd. 4, 340). Dass Brinkmanns Alltägliches Gedicht (Ww, 40–44) mit seinen vielen Schatten-Variationen, die Schattenmorellen (119) oder die »Schattenmenschen«, die in Westwärts, Teil 2 die Straßen bevölkern, »redend« (77), (auch) auf das Schatten-Kapitel im Zarathustra zu beziehen sind, wäre eine Überlegung wert. Schließlich wird Nietzsche sogar in einem der genannten Gedichte erwähnt (Ww, 85). Recht deutlich werden in den Rolltreppen im August die »Schatten« des wandernden Zarathustras zitiert: »Hast du, offenes Ohr, die schrägen Vögel gehört? | Sie wandern ihren eigenen Schatten nach. | Wer sonst brächte es fertig, von dem eigenen Schatten zu leben?« (Ww, 102) Bei Nietzsche ist es in Abwandlung des
Ahasver-Mythos der Schatten, der dem Erkenntnissuchenden folgt: »Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim« (Nietzsche 1999, Bd. 4, 339). Die Verfolgung durch den eigenen Schatten wird hier zur Allegorie einer nicht enden wollenden Auseinandersetzung mit sich selbst. Dies macht die produktive Unruhe Zarathustras aus, die Brinkmann zu kopieren scheint: »Der Schatten lacht, ich lache« (Ww, 102). Als Folge einer solchen Selbsterkenntnis als Selbstkritik wird jedenfalls im Zarathustra die ›Umwertung aller Werte‹ behauptet, die zu Brinkmanns Zeiten freilich längst zum geflügelten Wort geworden ist. Seine Sprachkritik, seine Vorbehalte gegenüber bürgerlichen Wertsystemen, seine Abgrenzung gegen die Schattenwelt und seine Skepsis gegenüber vermeintlichen Autortäten scheint Zarathustra in einfachen Formeln vorformuliert zu haben – ein »freier Geist und Wanderer« (Nietzsche 1999, Bd. 4, 341); so verstand sich Brinkmann auf seinen vielen Touren durch abseits gelegene Gegenden und nächtliche Städte selbst. Erst die Stille des Alleinseins öffnet den Blick für die je eigene Umwelt und ihre mannigfaltigen Oberflächen neu. Noch in einem seiner letzten Texte, dem Fragment zu einigen populären Songs (1975) finden sich Passagen über den Schatten und den Süden, die man auf Nietzsche beziehen könnte (vgl. Fragment, 107, 110); vor allem variiert hier Brinkmann aber nochmals seine eigene Nietzsche-Variation aus den Notizen und Beobachtungen: Hatte es dort noch »Nichts ist wahr – Alles erträumt!« (FW, 295) geheißen, wird jetzt die Wahrheit durch die Realität ersetzt: »Nichts ist wirklich, alles erträumt (der Westen, weiter westwärts)« (Fragment, 112). Der gleiche Gedanke fände sich »auch mehrmal bei W. S. Burroughs«, erläutert Brinkmann in den Briefen an Hartmut (BrH, 192). Er sei typisch »für die Lebensform des Westens« (ebd.). Die Nord-Süd-Achse der ›Ethnologie‹ Nietzsches hat sich bei Brinkmann – im Rekurs auf Burroughs – zu einer, man möchte sagen, zeitgemäßeren ost-westlichen Raumtopologie gewandelt, wobei der Drang nach Westen noch mit Zarathustra-Sehnsüchten wie Einsamkeit und Zivilisationsferne besetzt wird. Natürlich taucht die Nietzsche-Anspielung im Gedicht neben vielen anderen Verweisen, Zitaten und Intertexten auf und wird im Selbstkommentar ja eigens mit dem Burroughs-Hinweis überblendet. Insofern muss man sich abschließend fragen, wie viel interpretatorischen Wert für den Gesamtzusammenhang sie am Ende noch hat oder haben kann (vgl. Windrich 2012,
6 Wissensgeschichte II: Nietzsche
863). Immerhin war die Nietzsche-Variation Brinkmann so wichtig, dass er sie Hartmut Schnell ›tief im Westen‹ erklären wollte. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Fragment zu einigen populären Songs. In: Literaturmagazin 3. ›Die Phantasie an die Macht‹. Literatur als Utopie. Hg. von Nicolas Born. Reinbek bei Hamburg 1975, 105–122. Kramer, Andreas: Westwärts, Teil 2. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 836– 846. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe [KSA]. Neu-
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ausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999. Röhnert, Jan: »Canneloni in Olevano«. Auch Brinkmann in Arkadien? – Anmerkungen zu Rolf Dieter Brinkmanns Italienbild in seinen Gedichten. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns [in] Vechta [im Jahr] 2000. Vechta 2001, 90–99. Windrich, Johannes: Fragment zu einigen populären Songs. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 861–872.
Dirk Niefanger
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7 Wissensgeschichte III: Medientheorie Marshall McLuhan wurde Ende der 1960er Jahre in Deutschland durch sein Buch Die magischen Kanäle – so der deutsche Titel von Understanding Media. The Extension of Man – schlagartig bekannt. Seine Thesen machten schnell die Runde. Rasch erschienen seine drei Hauptschriften in Deutschland. Die magischen Kanäle, bereits 1964 in den USA veröffentlicht, machte 1968 den Anfang; ein Jahr später folgten Die Gutenberg-Galaxis (The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, 1962) und das von Jerome Agel zusammengestellte, mit Quentin Fiore verfasste Das Medium ist die Massage (The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, 1967), das einen Druckfehler (»Massage« statt »Message«) geschickt ummünzte. McLuhan gehörte zu den ersten, die über die Auswirkungen der modernen Medien nachgedacht und eine Medientheorie ausgearbeitet hatten. Er hatte ein Geschick für aphoristisch zugespitzte, schlagwortartige Formulierungen und originelle metaphorische Begriffe, scheute sich nicht vor überspitzten Thesen, die ungewohnte Perspektiven auf vertraute und neue Gegenstände abwarfen. Seine Bücher legte er thematisch breit an – nicht zuletzt, weil er einen extensiven Medienbegriff voraussetzte –, indem er bislang von der theoretischen Neugierde vernachlässigte populäre Gegenstände einbezog, so dass seine Bücher von der Rhetorik des tua res agitur beflügelt wurden und wie eine theoretische Flankierung der Pop Art anmuteten. Originalität und Entdeckerpathos vieler Passagen rührten von der monokausalen Rolle her, die er den Medien zuschrieb. McLuhan entfaltete auf dieser Grundlage eine Gesamtdeutung der Gegenwart, die von einer globalen Ausbreitung der Technik gekennzeichnet sei und extrapolierte sie prognostisch. »Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben. Rasch nähern wir uns der Endphase der Ausweitung des Menschen – der technischen Analogiedarstellung des Bewußtseins, mit der der schöpferische Erkenntnisprozeß kollektiv und korporativ auf die ganze menschliche Gesellschaft ausgeweitet wird, und zwar auf ziemlich dieselbe Weise, wie wir unsere Sinne und Nerven durch verschiedene Medien bereits ausgeweitet haben« (McLuhan 1992, 11).
Die planetare Ausweitung des Zentralnervensystems war die Grundlage der berühmt gewordenen Formel von der Welt als globalem Dorf (McLuhan 1968, 47; McLuhan/Fiore 2012, 63). Die Medien als zentrale Träger dieses Prozesses haben – so McLuhan – tiefgreifende Auswirkungen: »Alle Medien krempeln uns völlig um. Sie sind so weitreichend in ihren persönlichen, politischen, wirtschaftlichen, ästhetischen, psychologischen, moralischen, ethischen und sozialen Konsequenzen, dass sie keinen Teil von uns unangetastet, unberührt und unverändert lassen. Das Medium ist die Massage. Jedes Verständnis sozialer und kultureller Veränderungen ist unmöglich, wenn man nicht weiß, wie Medien als Umwelten funktionieren« (McLuhan/ Fiore 2012, 26). Diese starke Grundthese arbeitet McLuhan weniger systematisch als exemplarisch reihend aus. In der einfachsten und durchschlagendsten Form lautete sie, dass das Medium die Botschaft sei; diese ist »die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt« (McLuhan 1992, 18). Er unterscheidet kalte und heiße Medien, wobei er unter heißen Medien solche versteht, die »nur einen der Sinne« ansprechen und diesen so »erweitert [...] bis etwas ›detailreich‹« erscheint (vgl. McLuhan 1992, 35). Die so veränderte Gegenwart führe zu Ungleichzeitigkeit; technische Entwicklung und menschliches Bewusstsein seien nicht mehr aufeinander abgestimmt. Dem vorelektrischen Zeitalter hatte der spezialisierte, fragmentierte, visuelle, alphabetisierte Mensch entsprochen (vgl. McLuhan 1992, 67, 266); dieser war überständig geworden, bleibe aber nach wie vor der dominante Typus. »Wir leben jetzt gewissermaßen mythisch und ganzheitlich, aber wir denken weiter in den alten Kategorien der Raum- und Zeiteinheit des vorelektrischen Zeitalters« (McLuhan 1992, 16). Die Unabgestimmtheit erwecke eine neue Sehnsucht nach Selbsterforschung. »Diese innere Reise sucht nach Wegen, alle Sinne zu erwecken, langverlorene menschliche Fähigkeiten wiederzufinden und neue sinnliche Reize jenseits der engen sexuellen zu entdecken« (McLuhan 1969, 375). Eine literarische Form der Stunde, in der die Auswirkungen und das Potential der neuen Medien reflektiert werden, sei die Science Fiction (vgl. McLuhan/Fiore 2012, 124). In der Pop Art, den Comics und der Werbung werde dem gegenwärtigen Leben die spezialisierte Routine der Gesellschaft vor Augen geführt (vgl. McLuhan 1992, 195, 261). Die Missbilligung, die die traditionellen Eliten dem alltäglichen Erscheinungen der modernen Massenkultur zollten, zeige, dass ihnen aus dem Blickwinkel der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_7
7 Wissensgeschichte III: Medientheorie
Hochalphabetisierten nicht beizukommen sei (vgl. McLuhan 1992, 266). Das dominante Medium der überkommenen Eliten, das Buch, orakelte McLuhan, werde sich verabschieden: Das Ende der GutenbergGalaxis stehe bevor. Diese Krise berge jedoch Möglichkeiten. Die Gegenwart sei eine »Zeit der Grenzüberschreitungen, der Auflösung alter Kategorien, des Herumexperimentierens« (McLuhan/Fiore 2012, 10). Der Moment der Verbindung zweier Medien sei ein »Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht« (McLuhan 1992, 73) – auch daher das Plädoyer für comic books und Werbung. Die Überlegungen McLuhans spielten für Leslie Fiedler eine zentrale Rolle. Dessen 1965 in der Partisan Review veröffentlichter Essay The New Mutants, den Brinkmann und Rygulla 1969 in Acid aufnahmen, und sein Freiburger Vortrag machten ihn in Deutschland bekannt. Am letzten Juni-Wochenende 1968 hielt er auf dem Symposion »Für und wider die zeitgenössische Literatur in Europa und Amerika« einen Vortrag, der unter dem Titel Das Zeitalter der neuen Literatur in zwei Teilen in der Zeitschrift Christ und Welt veröffentlicht wurde. Bekannt geworden ist er in der im Playboy Ende 1969 erschienenen ausgearbeiteten Fassung von Cross the Border, Close the Gap (Fiedler 1969b; deutsch erstmals Fiedler 1984). Der von McLuhan diagnostizierte gegenwärtige Stand des historischen Prozesses fordere zwingend eine neue Literatur, deren Profil Fiedler als postmodern bezeichnet. »Wir leben heute [...] in einer völlig anderen, einer apokalyptischen, betont romantischen und sentimentalen Zeit: in einer Zeit, die sich der fröhlichen Unvernunft und einer geradezu prophetischen Verantwortungslosigkeit verschrieben hat« (Fiedler 1968a). Seine medientheoretischen Überlegungen konzentrieren sich auf das Medium Buch; er korrigiert und modifiziert McLuhans These vom Ende der Gutenberg-Galaxis: »Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: ich behaupte nicht wie Marshall McLuhan, daß das gedruckte Buch verschwinden wird und damit etwa auch der Roman, die erste für den Druck erfundene Form; ich meine nur, daß das gedruckte Buch in all seinen Erscheinungsformen – vielleicht am auffälligsten der Roman – radikalen funktionalen Veränderungen unterworfen ist. Kein Kommunikationsmittel hat je nur deshalb auf seine Existenz verzichtet, weil ein neues, leistungsfähigeres gefunden wurde« (Fiedler 1968a). In Boris Vian, der unter seinem Klarnamen literarische, als Vernon Sullivan Kriminalromane geschrieben hatte, Jazzmusiker und Chansonkomponist gewe-
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sen war, erblickt Fiedler den Prototyp des neuen Schriftstellers; William S. Burroughs gilt ihm als »Poeta laureatus« des »neuen Zeitalters« (Fiedler 1969a, 31). Postmoderne Literatur verbinde höchste ästhetische Ansprüche mit Popularität und Trivialität. Dazu am besten geeignet seien Pornographie, Science Fiction und – den amerikanischen Gegebenheiten entsprechend – Western. In der neuen Literatur realisiere sich jedoch ein anthropologisches Substrat; die »große Reise« sei zur »innere[n] Schau« (Fiedler 1968b) geworden. Die neuen Mutanten endet mit der Folgerung, dass »die neue Welt, die der neue Mensch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewohnen soll, nur entdeckt werden kann durch die Eroberung des inneren Raums: durch ein Abenteuer des Geistes, die Erweiterung der psychischen Möglichkeiten des Menschen« (Fiedler 1969a, 31). In diesen Jahren spielt auch für Brinkmann die »Radikalisierung der Phantasie auf eine Zukunft hin« (FW, 224) eine wichtige Rolle, ohne dass jedoch damit eine teleologische Ausrichtung verbunden wäre. Er folgt McLuhan wie Fiedler, indem er die Science Fiction als kongeniale Literatur der Gegenwart begreift, wie er im Anschluss an Arthur C. Clarke ausführt: »[...] wenn wir um ein Winziges unsere Phantasie verschieben und diese Science-Fiction-Projektion auf uns hier, jetzt konkret anzuwenden versuchen, so meint das dann nichts anderes als ein Vorstoß in die innere Dimension von uns selbst, die ebenso ein riesiger Raum ist wie der Weltraum, in den Raketen, Astronauten, Telestars, Mars-Sonden, Mondlandefahrzeuge hinauskatapultiert werden ... die gewöhnlichen Assoziationsfelder müssen nur durchbrochen werden« (Einübung, 148 f.). In den Erkundungen ist nachzulesen, dass um 1970 Science Fiction-Texte zu seiner bevorzugten Lektüre gehörten. Wolfgang Ignée, der Feuilletonredakteur von Christ und Welt, initiierte im Anschluss an den Abdruck von Fiedlers Freiburger Vortrag eine Serie von Stellungnahmen zu dessen Thesen (vgl. Ott/Pfäfflin 1998, 366 ff.). Im politisierten Umfeld von 1968 stieß Fiedler sowohl von Seiten der Neoavantgarde (Becker, Heißenbüttel), als auch bei den konservativer ausgerichteten (Holthusen, Baumgart) und den politisch engagierten Autoren (Walser, Chotjewitz) auf schroffe Ablehnung (zur Fiedler-Debatte: vgl. Schäfer 1998, 29 ff.; Selg 2001, 94 ff.; Steinaecker 2007, 102 ff.; Walther 2007; Pankau 2010; Rümmele 2012, 56 ff.). Brinkmann setzte sich mit Fiedlers Thesen in seinem Essay Angriff aufs Monopol (s. Kap. 15) auseinander, der als einzige positive Stellungnahme die Debatte
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in Christ und Welt beendete. Der Essay geht von dem Befund aus, dass die breite Abwehrfront gegen Fiedler eine Rückzugsposition sei, die den Bruch des europäisch-abendländischen Kulturmonopols nicht wahrhaben wolle. Für die Ausarbeitung der These ist der Rückgriff auf Überlegungen McLuhans wichtig. Sie werden nicht nur argumentativ, sondern auch punktuell als autobiographische Rekursion in Spiel gebracht. Die Einschaltung der Schreibsituation – »Ich schreibe das hier, während auf meinem Dual-Plattenspieler HS 11 eine Platte der DOORS abläuft« (Angriff, 39) – ist nicht nur eine provozierende Geste, sondern bringt die technischen Medien und ihre Auswirkungen auf den Schreibprozess ins Spiel. Dem entspricht argumentativ die These, die Gegner Fiedlers seien »bestimmt durch eine Sensibilität, die sich durch die ausgestoßenen Produkte als überaltert erwiesen hat« (Angriff, 39). Die Bedeutung der amerikanischen Szene sieht Brinkmann, Einwände Fiedlers gegen McLuhan aufgreifend, im Widerspruch zwischen der Zunahme der literarischen Aktivitäten und der Popularität der These vom Ende der Gutenberg-Galaxis. Er behandelt als zentrale Frage, »inwieweit kulturelle Leistungen vom Stand der Technik unbeeinflußt sind und sein können, wollen sie relevant sein« (Angriff, 44). Während McLuhan die Medien als Ursache für die Veränderungen ansieht, geht Brinkmann vorsichtiger von einem Wechselverhältnis aus. Seine Schlussfolgerung läuft wie die McLuhans auf die Implosion hinaus, den Einbruch ins Innere, den Brinkmann mit dem wörtlichen Zitat des Schlusses von Fiedlers Die neuen Mutanten ausspricht (vgl. Angriff, 40, 46 f.). Brinkmanns Bezugnahmen auf McLuhan sind in wichtigen Grundzügen erarbeitet, aber noch nicht systematisch untersucht worden (vgl. Späth 1986, 128 ff.; Steinaecker 2007, 95 ff.). Neben der konzeptionellen Übernahme einiger Basisthese aus dem Bereich der Medientheorie, deren Kausalität jedoch gelockert wird, finden sich zahlreiche Einzelzitate, die sich auf Details beziehen. McLuhans Medientheorie bietet den Rahmen für die in der Pop-Phase entwickelte und in der Breite des Werkes literarisch erprobte Diagnose einer »neuen Sensibilität« (Einübung, 147) – der Terminus wird geradezu inflationär verwendet – auf der Grundlage einer fundamentalen technischen Veränderung der menschlichen Umwelt »auf die elektrifizierte, durch Elektronik veränderte Großzivilisation hin, die als die ›natürliche‹ angenommen worden ist« (FW, 225). Werbung ist ihr dominantes Merkmal. Diese Veränderung ist »grundsätzlich zu nehmen« (Ott/ Pfäfflin 1998, 233 [Informationstext]).
Der Erkundung dieser neuen Sensibilität, »die völlig selbstverständlich Erfahrungen aus dem Umgang mit technischem Gerät integriert hat« (FW, 224), und dem »vorbehaltlose[n] Sicheinlassen auf Leben, Umwelt, Dinge, Bewegung« (FW, 213) sind die Arbeiten der späten sechziger Jahre gewidmet. Dabei ist eine Korrelation zwischen Umwelt und Bewusstsein vorauszusetzen. Auf der einen Seite ist die veränderte Umwelt zu erfassen und zu analysieren; auf der anderen Seite wird die Innenwelt, der inner space, erforscht. Beides ist jedoch vielfältig miteinander verbunden, ist gewissermaßen rückgekoppelt; darüber hinaus ist die Erkundung des Bewusstseins eine hochgradig reflexive Bewegung, da sie ein Verfahren ist, das selbst wieder Gegenstand der Erkundung sein muss. Dieser Hintergrund hat Konsequenzen für alle Aspekte der schriftstellerischen Arbeit Brinkmanns, auf Texte, Publikationsformen, auf das Konzept der Autorschaft. Das zeigt die intensivierte Aufnahme autobiographischer Erfahrungspartikel in die Texte, die die Anwesenheit des Autors anzeigen und sicherstellen sollen, es zeigt die Ausweitung der Autorschaft auf kollektive Arbeitsformen (s. Kap. 35) und auf andere Kunstformen (s. Kap. 41 und 42), die das ältere – mit McLuhan zu reden, alphabetisierte – Konzept vom Autor als genialem Schöpfer von Wortkunstwerken ablöst. »Das heißt also«, sagt Brinkmann, »daß durch das Aufkommen neuer Medien, neuer Kommunikationsformen, z. B. sagen wir mal des Fernsehens, weil das ja grad so aktuell ist, das Buch und das heißt: sowohl schreiben wie verlegen wie lesen, also alles, was zum Buch gehört, das Medium Buch erst entschlackt worden ist, daß völlig neue und eigenständige Möglichkeiten am Buch sichtbar sind« (März 1, Interview mit einem Verleger, 288). Die Auslotung des Mediums Buch setzt bei der Distribution, den vielfältigen Aktivitäten im MärzVerlag, ebenso an wie bei der Frage der Buchgestaltung, ob es um Kunstbücher (Godzilla, Standphotos) oder die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern in der Umschlaggestaltung (Gras) geht oder aber Brinkmann selbst dem Schutzumschlag gestaltet (Die Piloten). Brinkmann reflektiert die Folgen, die sich für seine Texte ergeben, in Essays, führt sie dort auch im Textarrangement als Selbstthematisierungen vor. Er spürt ihnen in den eingeführten Gattungen nach – für die Prosa kommen ihm die Techniken des Nouveau roman und des inneren Monologs zupass; die als Aussprache des Dichtersubjekts geltende Lyrik ist für ein solches Vorhaben ohnehin die geeignete Gattung – und entwickelt sie im Sinn seines Projekts experimen-
7 Wissensgeschichte III: Medientheorie
tell weiter, um die angemessenen Formen dafür auszubilden. Die Anthologie- und Übersetzungsprojekte versammeln die maßgeblichen, dem eigenen Ansatz verwandten Beispiele aus der aktuell avanciertesten Literaturszene der USA, die sich im technisch fortgeschrittensten Umfeld entwickelt hat. Fortschritt meint nicht, so Brinkmann in dezidierter Distanz zur zeitgenössischen Neoavantgarde, einen aus der hegelianischen Geschichtsphilosophie abgeleiteten Fortschritt der Kunst, sondern ihre Extension: »Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich« (FW, 232) Von diesem Ausgangspunkt her liegt die Wendung zu avantgardistischen Techniken aus dieser Szene nahe. Brinkmann macht sich im Zuge der Arbeit an Acid (s. Kap. 36) mit der Technik des Cut-up vertraut und entwickelt eine eigenständige Ausprägung, die sich in der praktischen Durchführung von der Burroughs’, Mary Beachs, Jürgen Ploogs und anderer unterscheidet. Die Resultate sind vor allem die umfangreichen aus den bekannten Medien der Subjektivität, Tagebuch und Brief, entwickelten Collagemappen der frühen 1970er Jahre, die nicht nur auf die eingehende Erfahrung der eigenen Sensibilität und ihrer spezifischen Umwelt abzielen, sondern auch mit der Verbindung von Bild und Text experimentieren. Brinkmann scheint sich noch nicht sicher gewesen zu sein, ob diese Mappen seinem Anspruch zu genügen vermochten; immerhin erschien ein Auszug (World’s End. Aus dem Notizbuch Rom 1972/73) als Villa Massimo Druck 1973 in limitierter Auflage (s. Kap. 28). Die technischen Leitmedien, auf die sich Brinkmann konzentriert, sind Film und Photographie. Sie werden als Motivspender, Reflexionsgegenstand und poetologische Modelle immer wieder verwendet und schließlich auch als Ausdrucksmittel genutzt. Dieser poetologische Hintergrund ist häufig mit Rückgriffen auf McLuhan verbunden, in erster Linie auf Understanding Media. Allerdings geht das nicht ohne Missverständnisse im Detail ab. So sieht Brinkmann ein wichtiges Moment in McLuhans »Propagierung des Visuellen« (BrH, 145), die jedoch in dessen Überlegungen der Phase der Gutenberg-Galaxis zugehört, dem alphabetisierten Typus, und gerade nicht den gegenwärtigen Zustand auszeichnet (vgl. Steinaecker 2007, 95 f.). Da man jedoch im »Zeitalter der Ablichtungen« (FW, 265) lebt, arbeitet Brinkmann mit visuellem Material. Er richtet seine Texte, soweit es das Sprachmaterial angeht, auf »den inneren Bildschirm« als »künstlich hergestellte Bild-Reihen« (FW, 256) aus, damit das Gedicht »einen ikonografischen Charakter« (FW, 217) annehme. Andererseits werden die Texte
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mit fremdem wie eigenem Bildmaterial angereichert bis hin zur Fotoserie von Westwärts 1 & 2. Literatur
Baumgart, Reinhard: Die fünfte Kolonne der Literatur. Der Prediger Leslie A. Fiedler streichelt die Furien der NachModerne. In: Christ und Welt (11.10.1968). Becker, Jürgen: Der Schrei. In: Christ und Welt (4.10.1968). Bohrer, Karl Heinz: Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror. München 1970. Chotjewitz, Peter O.: Feuerlöscher für Aufgebratenes. Was Fiedler »dufte« findet, stinkt und ist bürgerlich. In: Christ und Welt (8.11.1968). Fiedler, Leslie A.: The New Mutants. In: Partisan Review 32/4 (1965), 505–525. Fiedler, Leslie A.: Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik. In: Christ und Welt (13.9.1968a). Fiedler, Leslie A.: Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science Fiction und Pornographie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen. In: Christ und Welt (20.9.1968b). Fiedler, Leslie A.: Die neuen Mutanten. In: Rolf Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969a, 16–31. Fiedler, Leslie A.: Cross the Border, Close The Gap. In: Playboy, Dezember 1969b, 151, 230, 252–258. Fiedler, Leslie A.: Überquert die Grenze, schließt den Graben. In: Jörg Schröder (Hg.): Mammut. März-Texte 1 & 2. Herbstein 1984, 673–697. Hädecke, Wolfgang: Fossil mit Vernunft. In: Christ und Welt (18.10.1968). Heißenbüttel, Helmut: Tote Aura. In: Christ und Welt (4.10.1968). Holthusen, Hans-Egon: Anti-Helden gegen Troja. Leslie A. Fiedlers seltsame Katzensprünge. In: Christ und Welt (25.10.1968). Kurz, Paul Konrad: Über moderne Literatur III. Standorte und Deutungen. Frankfurt a. M. 1971. März Texte 1. Hg. von Jörg Schröder. Darmstadt 1969. Marchand, Philip: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Biographie. Stuttgart 1999. McLuhan, Herbert Marshall/George B. Leonard: Die Zukunft der Sexualität. In: Rolf Dieter Brinkmann/RalfRainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969, 368–376. McLuhan, Herbert Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf/Wien 1968. McLuhan, Herbert Marshall: Die magischen Kanäle. »Understanding Media« [1964]. Düsseldorf/Wien/New York/ Moskau 1992. McLuhan, Herbert Marshall: Geschlechtsorgan der Maschinen. Playboy-Interview mit Eric Norden. In: Martin Baltes/Rainer Höltschl (Hg.): absolute Marshall McLuhan. Freiburg 2011, 7–55. McLuhan, Herbert Marshall/Quentin Fiore: Das Medium ist die Massage. Ein Inventar medialer Effekte. Zusammengestellt von Jerome Agel. Stuttgart 22012. Neumann, Robert: Ritter Kunos ... Fiedler braucht kein Alibi. In: Christ und Welt (1.11.1968).
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Ott, Ulrich/Friedrich Pfäfflin (Hg.): Protest! Literatur um 1968. Marbach 1998. Pankau, Johannes G.: Angriffe aufs Monopol: Literatur und Medien – Brinkmanns Aufnahme der US-Kultur. In: Thomas Boyken/Ina Cappelmann/Uwe Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. Paderborn 2010, 161–177. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Selg, Olaf: Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel. Prosaformen bei Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 2001. Späth, Sibylle: »Rettungsversuche aus dem Todesterritorium«.
Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografie in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007. Walser, Martin: Mythen, Milch und Mut. In: Christ und Welt (18.10.1968). Walser, Martin: Über die Neueste Stimmung im Westen. In: Kursbuch 20 (1970), 19–41. Walther, Danny: Die »Fiedler-Debatte« oder Kleiner Versuch, die »Chiffre 1968« von links ein wenig aufzuschreiben. M. A. Leipzig 2007. Zeller, Michael: Gedichte haben Zeit. Aufriß einer zeitgenössischen Poetik. Stuttgart 1982.
Hans-Edwin Friedrich
8 Wissensgeschichte IV: Anthropologie
8 Wissensgeschichte IV: Anthropologie In den 1960er und 1970er Jahren häufen sich in den Natur- und Geisteswissenschaften Positionierungen, die sich mit ihrer Gegenwartskritik und ihren Zukunftsprognosen auf das Ziel einer friedlichen gesellschaftspolitischen Revolution konzentrieren. Während die Psychologie in den USA mit dem Einsatz von bewusstseinsverändernden Drogen (Leary) experimentiert, stellt die Anti-Psychiatrie (Laing, Szasz) in Europa machtgestützte Unterscheidungen von Krankheit und Gesundheit infrage, weist die vergleichende Verhaltensforschung auf die evolutionsbiologischen Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren hin und begründet der Club of Rome 1972 mit seiner Studie Die Grenzen des Wachstums ein transnationales, globales ökologisches Bewusstsein innerhalb der westlichen Welt. Brinkmann befasst sich in der Kölner Zeit intensiv mit wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Werken aus den Humanwissenschaften wie der Biologie, Psychologie, Neurologie und den Sozialwissenschaften, der Anthropologie, Ethnologie sowie der Verhaltens- und Hirnforschung. Diese Lektüre hinterlässt neben seiner Rezeption der amerikanischen und deutschen Gegenwartsliteratur mindestens ebenso deutliche Spuren in seinem Werk wie in seinen zeitkritischen und poetologischen Essays (vgl. die Sammlung Film in Worten, s. Kap. 15). So montiert Brinkmann in Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten, seinem letzten großen Essay, drei Abbildungen ein, die die Funktionsweise des tierischen und menschlichen Gehirns darstellen (vgl. Ww, 282, 300, 302) und in Rom, Blicke erläutert er sein Interesse an einer vergleichenden Verhaltensforschung: »Ja, und jetzt [...] kann ich Dir auch sagen, warum mich die Arbeiten bei von Hentig über Gängster und Bilz über Tiere so sehr faszinieren: sie meinen beide das Thema zwischen ganz anonymen, eingeborenen vitalen Strängen, verifiziert an Gängstern, verifiziert an tiermenschlichen Verhaltensweisen« (RB, 417). Hermann Peter Piwitt wirft Brinkmann daraufhin vor, dass er nicht nur ein evolutionsbiologisches statt dem gesellschaftspolitischen Erkenntnisinteresse folge, sondern in einem »anderen System von Wirklichkeit« (RB, 263) lebe: »Ich mach den Marxisten, Du machst den, der glaubt, wissenschaftliche Erkenntnisse, medizinische, biologische, anthropologische, seien nicht von den jeweiligen ökonomischen Ver-
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hältnissen konditioniert« (RB, 261). Schließlich glaube Brinkmann fälschlicher-, respektive sträflicherweise, man müsse nur »das menschliche Nervensystem statt die Nervenzentren der Macht kontrollieren« (RB, 261). Diese von Piwitt richtig beobachtete Orientierung hat bei Brinkmann verschiedene Motive und speist sich aus mindestens drei eng miteinander verknüpften Quellen. So kommt Brinkmann mit seinen Arbeiten zur amerikanischen Literatur- und Kunstszene insbesondere über seine Rezeption der Werke William S. Burroughs’ mit unterschiedlichsten Theorien zur Veränderung des menschlichen Bewusstseins im Zusammenhang mit der Theorie der ›Neuropolitik‹ durch bewusstseinserweiternde und -verändernde Drogen des Psychologen Timothy Leary als Idee einer friedlichen Revolution über den Eingriff in das neuronale System des Menschen in Kontakt. Daneben besucht Brinkmann, ohne offiziell eingeschrieben zu sein, Vorlesungen und Seminare der Pädagogischen Hochschule in Köln, an der seine Frau und eine Reihe seiner Freunde studierten (vgl. RB 264). Hier erwirbt er in den 1960er Jahren Grundkenntnisse in Sozial- und Entwicklungspsychologie, Evolutionstheorie und Anthropologie, Verhaltens- und Umweltforschung, liest die einschlägigen Einführungs- und Lehrwerke zur Psychologie (Bleuler, Krech/Crutchfield) und befasst sich mit psychologischen Fragen zur Entstehung, Analyse und Therapie von psychischen Störungen (Bilz, Laing) und mit Psychiatrie und Antipsychiatrie (Laing, Szasz). Schließlich konzentriert Brinkmann – ausgelöst durch die Hirnschädigung seines Sohnes während der Geburt – sein Interesse auf die Neurologie und die Hirnforschung, um sich nicht nur den Stand der Wissenschaft zur Funktionsweise unseres Gehirns anzueignen, sondern auch Möglichkeiten des Gehirns jenseits des normalen Gebrauchs seiner Funktionen auszuloten. Maleen Brinkmann befasst sich in den 1970er Jahren in ihrer Examensarbeit mit dem Thema ›Verhaltensänderung durch RNS (Ribonukleinsäure)‹, während zeitgleich der Sohn mit Ribonukleinspritzen behandelt wird (vgl. BrH, 32), obwohl sich Brinkmann noch in Rom, Blicke kritisch gegenüber Versuchen geäußert hatte, das menschliche Gehirn durch chemische Manipulationen zu verändern und der Hoffnung auf eine pharmakologische Lösung der Weltprobleme eine radikale Absage erteilt hatte (RB, 443 f.).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_8
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8.1 ›Neuropolitik‹: Bewusstseinserweiterung durch Drogen
8.2 Evolutionstheorie, Verhaltensforschung, Anthropologie
In den 1960er Jahren rezipiert Brinkmann auch unterschiedlichste eskapistisch-holistische Welterklärungsund -verbesserungslehren aus den USA. Mit Burroughs (The Job, 1969) verfolgt Brinkmann das Ziel das »menschliche Nervensystem« von dem »Kontrollsystem der Sprache« zu befreien und die sprachlich wie ikonographisch vermittelten »semantischen Reaktionen« und Steuerungen des Stoffwechsels (Burroughs 1986, 24) aufzubrechen, um von den immensen ungenutzten Fähigkeiten des Gehirns Gebrauch zu machen. Burroughs empfiehlt dazu neben seiner Cut-up und Fold-in Technik eine Reihe von pseudowissenschaftlichen auf umfassenden Heilsversprechen basierende Verfahren wie die Behandlung mit dem E-Meter des Scientology-Begründers L. Ron Hubbard, mit der Orgon-Energie Wilhelm Reichs (vgl. RB 68, 192, 386) oder das Erlernen der Maja-Hieroglyphen als Überwindung des logozentrischen Denkens durch Bilderschriften. Die meisten Autoren propagieren dazu neben dem Drogenrausch mystische Erfahrungen, vergleichbar den Halluzinationen der Psychotiker, als Aufbruch in andere, unkontrollierte Wahrnehmungsund Bewusstseinsdimensionen (Laing, Gelpke) (RB 284). Der Psychotiker, der Mystiker, der Drogenesser und der »Outsider« (Wilson) werden zu Idealtypen dieser Gesellschaftsutopien, die in ihren Visionen eine wahre Revolution vorlebten, weil sie darauf abzielten, »nicht die menschlichen Verhältnisse [zu] ändern, sondern den Menschen [...] selbst.« (Gelpke 1966, 242) So sieht Laing im »Verrückten« einen zu übersinnlichtranszendenten Erfahrungen Begabten oder säkularen Mystiker und eine »groteske Karikatur« unserer »›geistigen Gesundheit‹«, da dieser als »innere[r] archetypischer Vermittler« nach dem Tod des »falschen Selbst« [...] eine Wiedergeburt und die eventuelle Re-Etablierung einer neuen Art von Ego-Funktion« (Laing 1967, 132) verheiße. Ein zentrales gemeinsames Element mystischer, psychotischer Erlebnisse wie der Rauscherfahrung besteht in der Gleichzeitigkeit einer grenzenlosen, ungeordneten Vielzahl von Wahrnehmungen jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, Subjekt und Objekt, die parallel im Bewusstsein präsent sind. Diese Intensität der Wahrnehmungssituation im Drogenrausch ohne ein bewusst steuerndes, strukturierendes und selektierendes Ich versucht Brinkmann in seiner späten Lyrik wie in den Materialalben als poetisches Prinzip zu nutzen und künstlerisch zu simulieren.
Brinkmann interessierte sich im Zusammenhang mit den Möglichkeiten, festgefügte, kulturelle Konditionierungen zu durchbrechen, nicht nur für evolutionsgeschichtliche Theorien zur Entwicklung des menschlichen Gehirns, sondern auch für die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Der populärwissenschaftliche Autor Robert Ardrey beschreibt die Evolutionsgeschichte des Menschen als einen Prozess der Verdrängung und Unterdrückung des alten menschlichen »Tiergehirns«, das die »symbolische Sprache« und »abstrakte Begriffsbildung« (Ardrey 1971, 395 f.) des neuzeitlichen Gehirns nicht verstehe. Daher könne nur die Anerkennung, Erforschung und Zähmung des wilden Tiers in uns, die von jedem Einzelnen aufs Neue geleistet werden müsse, die Zivilisation dauerhaft retten. Brinkmann fordert in seiner Poetologie, die Reaktionen aus diesen alten Teilen des menschlichen Gehirns wieder anstelle der jüngeren, sprachlich verfassten neuronalen Schaltungen wahrzunehmen: »Lautlos bewegt sich der Schatten eines Tieres durch dein Gehirn, weich und schmerzlos, Gegenwart, (der Autismus bei Kindern ist dieses sanfte zeitlose gleiten), die Einzäunungen weggeklappt, ein Ichgefühl anderer Art als das Wortverständnis umreißt den Körper, du bist da, [...] zärtlich, präzise, und du schaltest jetzt ein anderes Bild, eine neue Landschaft, nicht von Wörtern und Formulierungen verstümmelt« (Unkontrolliertes Nachwort, 283 f.). Auch die Umweltlehre des Biologen Jakob von Uexkülls (RB 279) spielt eine Rolle in Brinkmanns Schreiben; denn von ihm übernimmt er die Theorie, dass nicht nur Tiere, sondern auch Menschen in jeweils unterschiedlichen Welten, genauer Umwelten leben, in die sie eingeschlossen sind. Auch die Welt des Menschen, die vom Nervensystem als Innenwelt geprägt wird, bleibe dem anderen prinzipiell fremd und unzugänglich. Neben Raum und Zeit nimmt von Uexküll in seiner Bedeutungslehre eine dritte Bedeutung erzeugende Kategorie, die Umwelt, an. Das Ziel seiner Umweltlehre besteht darin, ein Bewusstsein für die natürliche Vielfalt möglicher Umwelten zu schaffen: »Nur die Erkenntnis, das alles in der Natur seiner Bedeutung gemäß erschaffen ist, und daß alle Umwelten als Stimmen in die Weltpartitur hineinkomponiert sind, eröffnet uns einen Weg, der aus der Enge der eigenen Umwelt hinausführt« (von Uexküll 1970, 168). Die philosophische Erkenntnis dieser Umweltlehre,
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dass der Einzelne seinen je subjektiven Raum und seine subjektive Zeit als seine Umwelt konstituiere, setzt Brinkmann in den Selbstbeobachtungen und Weltwahrnehmungen der späten Materialalben um, die das eigene Umfeld mit demjenigen anderer, Menschen wie Tieren, konfrontiert. Brinkmann leitet aus diesen Lektüren u. a. seine Kritik an einem anthropozentrischen Weltbild und der Verdrängung der gemeinsamen Wurzeln von Mensch und Tier ab, wenn er in Rom, Blicke formuliert: »Tier, Mensch, daß immer von vornherein nicht ganz akzeptiert werden möchte vom Bewußtsein des Menschen, daß zuerst alles gleich ist und alles an Leben teilhat – das Primäre ist das Tier, dann erfolgt die Spezialisierung Mensch, und es ist zunächst, bevor man in Details geht, ungemein wichtig begriffen zu haben, daß Tier, Pflanze, Mensch Teil hat an dem Bedrückenden und dem Zwang, der auf dem Leben liegt« (RB 310). Auf derselben Basis einer vergleichenden Verhaltensforschung versuchte der Psychopathologe Rudolf Bilz, der sich mit seinen Forschungen unmittelbar auf von Uexküll bezieht, psychopathologisches Verhalten beim Mensch neu zu interpretieren, indem er es als ein natürliches Schutzverhalten aus prähistorischen Zeiten der Menschheitsgeschichte begreift. Ähnlich wie von Uexküll versteht Bilz »Subjekt und Umwelt als eine geschlossene dynamische Ganzheit« (Bilz 1962, 27) und damit als »selbstregulatorisch geordnetes System«. (39) In den Reaktionen psychisch Kranker erkennt Bilz ein menschheitsgeschichtlich frühes »Wildheitsphänomen« eines überwachen umweltbezogenen Aufmerksamkeitszwangs, einen ›Wilden‹, Kindern und Psychotikern eigenen »SubjektZentrismus«, (35) bei dem jedes Ereignis in der Umwelt auf den Wahrnehmenden selbst bezogen werde. Am Ende, so Bilz, könne ein »archaisch-wildes« Reaktionsverhalten insbesondere »in Katastrophenzeiten« zum »Trend zur Verwilderung« mit einem »völligen Verlust des Verdrängungsschutzes« werden (37 f.). Umwelt und Umweltwahrnehmung stehen dabei in einem direkten Rückkoppelungssystem: »Subjektiv, in seinem Erleben, wandelt es sie, so wie die Umwelt das Subjekt wandelt« (41). Mit Bilz setzt sich Brinkmann in Rom, Blicke intensiv auseinander und überträgt seine Analysen menschlichen Verhaltens auf seine eigenen Beobachtungen (vgl. RB, 296 ff.). Gleichzeitig experimentiert er nach Bilz in den Erkundungen mit unterschiedlichen Formen gesteigerter Aufmerksamkeit, mit dem »dissoziierten Wachsein« des wahrnehmenden Bewusstseins (vgl. Schönborn 2011, 221).
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8.3 Kybernetik, Neurologie, physiologische Hirnforschung Brinkmann geht es bei seiner Auseinandersetzung mit den hier angerissenen Wissensdiskursen um ein neues Verständnis des Menschen, das ihn nicht nur als Spezialfall des Tieres, sondern auch als jeweils einmaliges Lebenswesen mit einer nur ihm eigenen Umweltbeziehung begreift. Tier und Mensch werden damit als prinzipiell gleichwertig und nur durch ihre Umwelt unterschiedene Spezies eines allgemein Lebendigen begriffen, deren evolutionsbiologische Gemeinsamkeiten gegenüber den sie trennenden Merkmalen in den Vordergrund gerückt werden. Dieses evolutionsbiologische Verständnis vom Menschen, das Brinkmann vor allem in seinen späten Texten vertritt, verdankt sich u.a seinen Versuchen, sich die Umwelt und Umweltreaktionen seines Sohnes zu erschließen. Mit Bilz spricht er ihm eine entwicklungsgeschichtlich weit zurückreichende »Wildheit = Witterung« in seinen Wahrnehmungen zu, mit denen er andere als die konventionalisierten »Verknüpfungen« in seinem Bewusstsein herstelle: »Geräusche, Gerüche, Tastempfinden, Blicke: (die gar nicht meßbare feine dünne Empfindung bei Robert:auf Grund seiner Hirnstörung [...] seine feinste Witterung für Störungen des Fluidums in einem Raum, zwischen Menschen – uns – das wortlose Begreifen, einschwingen [...] es hängt von der Intensität der ausgestrahlten und empfangenen Gehirnwellen ab sowie von einem empfangsbereiten inneren Bildschirm – und dieser empfangsbereite innere Bildschirm ist bei R. stark vorhanden« (RB, 415 f.). Wenn Brinkmann sich in den 1970er Jahren mit Fragen nach dem Subjekt, dem selbstbewussten Ich befasst, so wendet er sich dabei konsequent von der älteren Philosophie oder Psychologie ab und einer, seinerzeit aktuellen empirischen Hirnforschung zu. Brinkmann verabschiedet damit philosophische und psychoanalytische Theorieansätze zugunsten naturwissenschaftlicher und damit gleichzeitig die Idee vom selbstbewussten Ich zugunsten einer Anthropologie, die auf der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und seines neuronalen Systems basiert. Die frühen Experimente mit bildgebenden Verfahren zur Visualisierung der Strukturen und der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns mit bunten Fernsehröhren, die der amerikanische Kybernetiker und Hirnphysiologe William Grey Walter (RB 115) durchführte, faszinieren Brinkmann insbesondere deswegen, weil sie flüchtige »Toposkopien« (Grey Walter 1962, 75) der
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Gehirntätigkeit aufzeichnen und sichtbar machen sollten (vgl. Schönborn 2011, 218 ff.). Von diesen ›pop-artistischen‹ Versuchsanordnungen Grey Walters angeregt (vgl. BrH, 137) entwirft Brinkmann anstelle eines ordnenden, logozentrischen Ichs in seinen späten Collagealben Momentaufnahmen neuronaler Muster des menschlichen Gehirns bei der Arbeit als Bilder der »Gehirnlandschaft« (Sch, 143) oder als »Gehirnfilm« (Sch, 148, vgl. BrH, 74), zu der er eine Neuropoetik der Kombination aus Science und Fiction formuliert: »Sammeln und Daten Jagen:Womit ich jage?(Literaturangabe:Bilz,von Hentig,Hans,Walter Grey,Burroughs,Korzybski,Reich,Grundlagen der Psychologie Bd.1&2,Ardrey,African Genesis,[...],nicht alle positiv:sondern wandle ab!« (Erk, 230; vgl. Schönborn 2011, 228) Ganz ähnlich fordert der Zoophysiologe und Kybernetiker Wolfgang Wieser (RB 379 f.) den Zusammenschluss von Natur- und Geisteswissenschaften zu einer Zukunftsforschung, die Utopien aus Science und Fiction (vgl. Wieser 1970, 158) als »Spiel mit Möglichkeiten« (177) entwerfen solle. Von diesem lässt sich Brinkmann inspirieren, ohne allerdings Wiesers ebenso naive wie problematische Planspiele mit naturwissenschaftlichen »Regelmechanismen« der Genetik und Eugentik zur Verbesserung des »kybernetischen Supersystem[s]« der »menschliche[n] Gesellschaft« zu übernehmen (182). Literatur
Ardrey, Robert: Der Gesellschaftsvertrag. Das Naturgesetz von der Ungleichheit der Menschen. Mit Zeichnungen von Berdine Ardrey. Wien/München/Zürich 1970. Bilz, Rudolf: Psychotische Umwelt. Versuch einer biologisch orientierten Psychopathologie. Beiträge aus der Allgemeinen Medizin. Stuttgart 1962.
Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. Umgearbeitet von Manfred Bleuler. Berlin/Göttingen/Heidelberg 91955. Burroughs, William S.: Der Job. Gespräche mit Daniel Odier. Übers. von Hans Hermann. Frankfurt a. M./Berlin 1986. Gelpke, Rudolf: Vom Rausch im Orient und Okzident. Stuttgart 1966. Grey Walter, William: Das lebende Gehirn. Entwicklung und Funktion. Köln/Berlin 1961. Hubbard, L. Ron: Dianetics. Die Entwicklung einer Wissenschaft. Kopenhagen 1974. Krech, David/Richard S. Crutchfield: Grundlagen der Psychologie. 2. Bde. Weinheim/Basel 1968/1971. Laing: Ronald D.: Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt a. M. 1967. Laing, Ronald D.: Das geteilte Selbst. Köln 1972. Laing, Ronald D.: Wahnsinn und Familie. Köln 1975. Leary, Timothy: Politik der Ekstase. Hamburg 1970. Schönborn, Sibylle: Bilder einer Neuropoetik. Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der ›Schnitte‹ und ›Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch)‹. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 213– 228. Szasz, Thomas: Geisteskrankheit, ein moderner Mythos? Freiburg 1972. Szasz, Thomas: Die Fabrikation des Wahnsinns. Freiburg 1974. Uexküll, Jakob von/Goerg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelt von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Bedeutungslehre. Mit einem Vorwort von Adolf Portmann und einer Einleitung von Thure von Uexküll. Frankfurt a. M. 1970. Wieser, Wolfgang: Genom und Gehirn. Information und Kommunikation in der Biologie. München 1970. Wilson, Colin: Der Outsider. Eine Diagnose des Menschen unserer Zeit. Mit einer Einführung von Eugen Gürster. Stuttgart 1957.
Sibylle Schönborn
III Konzepte
9 Ästhetik der Präsenz »Und wofür sind die Gedichte?« fragt Rolf Dieter Brinkmann in einem Brief an Hartmut Schnell aus dem Sommer 1974 (BrH, 74). In seiner Antwort auf die selbstgestellte Frage skizziert Brinkmann in Kurzform zentrale Aspekte seiner Ästhetik, indem er verschiedene, durchaus divergierende Lesarten des für ihn zentralen Begriffs der ›Gegenwart‹ entfaltet. Im Mit- und Gegeneinander einer zeitlichen Auffassung von Gegenwart im Sinne von Augenblicksfokussierung, Momentanismus und Plötzlichkeit, eines räumlichen Verständnisses von Gegenwart im Sinne von Anwesenheit, Körperlichkeit und physischer Präsenz sowie eines sinnlich-ästhetisch fokussierten Konzepts von Präsenz im Sinne von jouissance und Überschreitung, entfaltet sich das, was man als Brinkmanns »Ästhetik der Präsenz« begreifen kann (vgl. Fauser/Schierbaum 2016, 15 ff., vgl. zudem Schumacher 2003; Zier 2012). Wenn Brinkmann hervorhebt, die Gedichte seien »für mehr Gegenwart, viel vollere Gegenwart, mit den bei Seite geschobenen Wörtern, Ausdrücken, für Gegenwart und Sinnlichkeit und Lust« (BrH, 74), scheint er Fragen der Zeitlichkeit zunächst auszublenden. Die »vollere Gegenwart« verweist in der Kopplung mit Sinnlichkeit und Lust vielmehr auf die Überwindung der Unterscheidung von Kunst und Leben, die für die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ebenso relevant war wie für die Pop-Ästhetik der 1960er Jahre, auf Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Präsenz, die nicht mehr »Wörter« und »Ausdrücke« begrenzt werden, auf ein performatives Potential, dessen Präsenzeffekte mit Interventionen von »außen« in Verbindung gebracht werden und so immer auch als Unterbrechung, Überschreitung oder Störung wirken können: »und dann: Krach! haut was rein, von außen usw.« (BrH, 74), ergänzt Brinkmann diese Lesart von Gegenwart entsprechend. Wenige Zeilen zuvor hatte er die Gegenwart jedoch schon aus anderer Perspektive fokussiert: »Was passiert denn in einem noch so scheinbar winzigsten Augenblick? Wie sind da die Vorgänge?« (BrH, 74) Immer wieder, nicht nur im Blick auf Gedichte, überlagert sich für Brinkmann die Frage nach der Produktion von Präsenz mit Reflexionen über die Zeitlichkeit des Augenblicks, immer wieder konfrontiert er den
Akt des Schreibens mit der Aktualität eines Präsens, dessen Zeitindex – wie in den Briefen an den Freund in Austin, Texas – alles andere als gesichert erscheint: »Was macht Ihr heute abend? Genau, jetzt, im gleichen Moment, dh. vor sieben Stunden? Was habt Ihr heute abend gemacht?« (BrH, 225) Wiederholt evoziert Brinkmann Konstellationen, in denen sich Vorstellungen zeitlicher und räumlicher Gegenwart verschränken, in denen sich Präsens und Präsenz in einem Begriff von Gegenwart überlagern, der sowohl Fragen nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur als auch Fragen nach der Möglichkeit einer schriftlichen Repräsentation von Gegenwart aufwirft: »Wie ist die Gegenwart? Welche Struktur hat sie? Eine Vergangenheitsstruktur?« (BrH, 194) Es gibt wenig Fragen, die Brinkmann von seiner frühen Lyrik und Prosa bis zu den 1975 erschienenen Westwärts-Gedichten so beharrlich verfolgt hat wie die »Frage, was [...] überhaupt Gegenwart« (BrH, 203) sei. Eine eindeutige Antwort findet sich in den Texten nicht. An ihre Stelle treten vielmehr über Variationen und Verschiebungen immer wieder neu fortgesetzte Reihen von Fragen. Diese Fragen lassen Brinkmanns Texte auf eine eigentümlich präzise, aber gleichwohl niemals eindeutig fixierbare Art als das erkennbar werden, was er ihnen eher beiläufig Anfang der 1970er Jahre zuschreibt: als eine »in der Gegenwart« betriebene »Grundlagenforschung der Gegenwart« (Erk, 129). Eine Voraussetzung dafür bildet das emphatische Selbstverständnis als Autor, der sich selbst als Akteur in der Gegenwart positioniert und mit kaum weniger Emphase anderen – insbesondere der deutschen Gegenwartsliteratur und dem deutschen Literaturbetrieb – vorhält, nicht oder nicht mehr Teil der Gegenwart zu sein. Hier setzt etwa Brinkmanns Beitrag zur Debatte um Leslie Fiedlers programmatische Streitschrift für eine neue, an den Maßstäben von Pop ausgerichtete Literatur und Literaturkritik an, wenn er im Anschluss an Fiedlers polemische Abkehr von der »Todesagonie der Moderne« – »diese Literatur ist tot, das heißt, sie gehört der Geschichte und nicht mehr der Gegenwart an« (Fiedler 1968) – den Ton und den Gestus der Polemik aufnimmt, ein »grundsätzliches Mißtrauen gegen jede Freundlichkeit« der »häßlichen, zynischen alten Männer des Kulturbetriebs« formuliert und sich offensiv von ihnen wie vom Literaturbetrieb abwendet, um
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_9
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zugleich neue Perspektiven zu eröffnen: »Sollte ich mich in diese traurige und nur noch langweilige Litanei einreihen? Ich schreibe das hier, während auf meinem Dual-Plattenspieler HS11 eine Platte der DOORS abläuft, [...] und sollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen anstatt weiterzutippen ...« (Angriff, 70 und 65 f.) Brinkmann überführt seine Attacken gegen Literatur und Kritik, die er immer auch als Plädoyer für ein Sich-Einlassen auf die Gegenwart präsentiert, nicht in eine argumentativ entwickelte Gegenposition, er konfrontiert sie vielmehr mit konkurrierenden Szenen, mit Interventionen »von außen«. So wie er in der FiedlerDebatte Pop-Musik als eine mit Aktualität und einer potentiell aggressiven Vitalität konnotierte Alternative zur Erstarrtheit der Literaturszene präsentiert, konfrontiert er in der Vorbemerkung zu Die Piloten die »berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis« mit den performativen Qualitäten von popkompatiblen Gangsterfilmen: »Wie sagte Warren Beatty zu den deutschen Kinobesitzern beim Start von Bonnie und Clyde: ›Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehrfeuer müßt ihr den Ton ganz aufdrehen!‹« (St, 186) Die Möglichkeit, mit Plattenspieler, Schallplatten und Verstärker oder mit dem Sound des Maschinengewehrs in einem sprachlosen Akt den normativen Ruf nach Stil, die »Todesagonie« der in ihrer eigenen Vergangenheit verfangenen Literatur und die Langeweile der Literaturkritik zu überwinden, wird von Brinkmann wiederholt in Aussicht gestellt, aber, und das ist hier entscheidend, letztlich nicht realisiert. Er setzt vielmehr in immer neuen Wendungen an, die Erhöhung der Phonstärke, die der Medien- und Szenenwechsel verspricht, über verbale Attacken, Wutausbrüche und Hasstiraden in die Form der Schrift zu übertragen. Brinkmann hört nicht auf weiter zu tippen, sondern trägt den Konflikt, der die Literatur in seiner Lesart vom Leben trennt, sprachlich aus, in dem Medium, in dem er ihn als Konflikt formuliert hat. Erst die Unmöglichkeit, in einem Buch tatsächlich den Ton aufzudrehen, gibt diesem Versuch seine Brisanz und Relevanz. Brinkmanns Vereinnahmung von Leben, Lautstärke und Lärm erscheint nie nur als eine vitalistische Geste, die an die Stelle der Literatur tritt, sondern ist immer auch ein Moment des Schreibens, das gerade dadurch, dass die Möglichkeiten und Grenzen seiner performativen Kraft im Kontrast zu den Präsenzeffekten anderer Medien und Darstellungsformen markiert werden, immer wieder neu herausgefordert wird. Brinkmann versteht sich in einem durchaus emphatischen Sinn als Schriftsteller, als
Dichter. Als ein Schriftsteller allerdings, der sich durch sein Auftreten im Literaturbetrieb und mit seinen Texten gegen jene »Schlagwörter« wendet, die für ihn die deutsche Sprache und den deutschen Kulturbetrieb bestimmen: »Zuerst kommt immer Literatur, Kultur, Kunst usw. und dann erst Leben, Lebendigkeit. Ich für mich kann das nicht akzeptieren« (BrH, 141). Im Zentrum steht dabei, wie Brinkmann 1969 in den »Notizen« zur Anthologie Silverscreen schreibt, eine Vorstellung von »Gegenwart, die auf den, der schreibt, bezogen ist, nicht aber die Erfüllung allgemeiner Forderungen ist, die immer Forderungen des Bestehenden sind« (FW, 249). Brinkmann folgt auch in dieser Hinsicht der Programmatik Fiedlers, der zufolge die Gegenstände einer zukünftigen Literaturkritik nicht mehr nur »auf der Buchseite« sein sollen, »sondern Wörter in der Welt«, im »Herzen und im Kopf des einsamen Lesers«, der, wie Fiedler schreibt »für die Dauer eines Augenblicks, und nur für diesen einen Augenblick, durch die Ekstase des Lesens von all diesen Zusammenhängen befreit wird« (Fiedler 1968). Entscheidend für Brinkmanns Verständnis von Literatur ist dabei, dass die Verbindung von Kunst und Leben im Akt des Schreibens, der Subjektivität konstituiert, immer wieder neu realisiert werden muss: »Alles ereignet sich nur jetzt, in einem Augenblick, und in diesem einen Augenblick ist die Person, die schreibt, anwesend. Sie schreibt nicht, um ›Literatur‹ weiterzuentwickeln [...], sie realisiert sich jetzt in dem einen Gedicht« (FW, 249). »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern«, schreibt Brinkmann 1974 in der Vorbemerkung zu seinem Gedichtband Westwärts 1&2 (Ww, 8 f.). Die Leichtigkeit, die Brinkmann im Schreiben zu erreichen versucht, erscheint aus der Perspektive der Selbstbeschreibung als ein nur schwer zu realisierender Wunsch. Das Schreiben wird als ein Notbehelf inszeniert, dessen Schwerfälligkeit Brinkmann nicht allein auf die mangelnde Beherrschung der Schreibmaschine zurückführt, sondern auch als Konsequenz einer Restriktion auf und durch das Medium Sprache beschreibt. Wie der Sound der Musik oder die Tonspur des Films erscheinen auch die auf der Gitarre gespielten Songs als potentielle Alternativen zur Literatur, die dieser aus Brinkmanns Perspektive, geht es um Effekte von Unmittelbarkeit und Präsenz, überlegen sind. Gleichwohl beschreibt er, zurückhaltend, aber durchaus bestimmt, die WestwärtsGedichte als den Versuch einer Annäherung an das
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vorausgesetzte Ideal: »Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus« (Ww, 9). Dem Wunsch nach einer auf den Schreibenden im Augenblick des Schreibens bezogenen Gegenwart korrespondiert die Suche nach einer Form von Literatur, die an die Stelle der »vorgegebenen Sinnmuster« und des »Rückkopplungssystems der Wörter, das in gewohnten grammatikalischen Ordnungen wirksam ist«, Verwendungsweisen von Sprache setzt, die auf die »tagtäglich zu machende sinnliche Erfahrung« reagieren und abzielen (FW, 223). Mögliche Vorbilder findet Brinkmann in dieser Hinsicht im Kino wie in der Einfachheit und Unmittelbarkeit der Pop-Musik, wiederholt verweist er jedoch auch auf literarische Bezugspunkte, auf Gottfried Benn und William Carlos Williams, vor allem aber auf Lyrik, Prosa und Essays aus der »Neuen Amerikanischen Szene«, auf Autoren wie Ted Berrigan, William S. Burroughs, Harold Norse, Frank O’Hara, Tom Veitch, Anne Waldman und Andy Warhol, die er u. a. für die Anthologien Acid und Silverscreen übersetzt und kommentiert. »Das auffälligste Merkmal der O’Haraschen Gedichte ist ihre unmittelbare Präsenz. Jedes Gedicht ist sofort ganz da«, schreibt Brinkmann im Nachwort zu seinen Übersetzungen von Gedichten Frank O’Haras (FW, 215). Und auch in den »Notizen« zur Anthologie Silverscreen erscheint bereits im ersten Abschnitt genau das als Kennzeichen der »Neuen Amerikanischen Lyrik«, was Brinkmann einige Jahre später noch als Ziel seiner eigenen Texte beschreibt: »Das Überraschende der neuen amerikanischen Gedichte ist, daß sie zunächst einfach nur da sind« (FW, 248). Überraschend wirken die schnelle Erfassbarkeit (»sofort ganz da«) und unvermittelte Präsenz (»einfach nur da«) der Gedichte, weil für Brinkmann sowohl vergleichbare Formen von Lyrik als auch derartige Kriterien im deutschsprachigen und europäischen Kontext von einer wirkungsmächtigen Tradition verdrängt werden, in deren Zentrum er die Tendenz zur theoretischen Abstraktion sieht. Aus der Perspektive der »Neuen Amerikanischen Szene« erscheint also nicht Sprache schlechthin, sondern der konventionelle – den Konventionen der Moderne folgende – Umgang mit Sprache und Literatur als Problem: »Daß ein Gedicht einfach nur da ist, stellt heute für das abendländische Bewußtsein von Gedichten sowohl für den Produzenten wie auch für den Leser den schwierigsten Ausgangspunkt dar. Denn besetzt von dem verschwommenen Wissen von einer sogenannten »Mo-
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dernen Lyrik« und deren abstrakt-theoretischen Implikationen, ist die Sensibilität der Aufnahme von Gedichten abgestumpft« (FW, 248). Die Unterscheidung von Abstraktion und Sensibilität, die sich in dieser Polemik abzeichnet, findet sich nicht allein in Brinkmanns Auseinandersetzungen mit der amerikanischen Lyrik. Sie bestimmt auch seine eigenen Texte, ist ein entscheidender Ausgangspunkt für Brinkmanns Attacken gegen den deutschen Literaturbetrieb und prägt auch seine Ende der 1960er zunächst neugierige, Anfang der 1970er Jahre aber zunehmend skeptische Haltung gegenüber der Entwicklung der Studentenbewegung. Immer wieder polemisiert Brinkmann gegen die »Konvention des abstrakten Denkens« (FW, 249), immer wieder geht es darum, »die eigene Sensibilität gegenüber dem verordneten Ausdruck durchzusetzen« (FW, 262), immer wieder fordert Brinkmann das, was er 1968 im Anschluss an Fiedler mit der »Bezeichnung ›POP‹« assoziiert: eine »Sensibilität, die den schöpferischen Produkten jeder Kunstart – Schreiben, Malen, Filmen, Musikmachen – die billigen gedanklichen Alternativen verweigert« (Angriff, 71). Ein entscheidendes Verfahren für die »Einübung einer neuen Sensibilität« (vgl. Einübung) ist die radikale Gegenwartsfixierung. Wenn Brinkmann schreibt, in den Gedichten, die »einfach nur da« sind, sei »Gegenwart enthalten«, geht es auch um »Verweise auf aktuelle Gegenstände« (FW, 249, 229), aber vor allem um jene Präsenzeffekte, die Brinkmann der neuen amerikanischen Literatur zuschreibt. Die Begeisterung für Popmusik findet in dieser doppelten Perspektive ebenso ihren Grund wie Brinkmanns Interesse an »Themen, Vorstellungen, Arbeitsmethoden«, die »auf die elektrifizierte, durch Elektronik veränderte Großzivilisation« verweisen (FW, 225). Unablässig wiederholt er sein Plädoyer für eine Sensibilität, die »auf gegenwärtige Reizmuster zu reagieren versteht«, für eine Literatur, die »völlig selbstverständlich Erfahrungen aus dem Umgang mit technischen Geräten integriert hat«, die sich an »zeitgenössischem Material« orientiert und »keine alteingenisteten, verinnerlichten Muster, keine heimeligen, liebgewordenen Vorurteile zu verlieren [hat], wenn sie sich auf Gegenwart einläßt« (FW, 213, 224). An die Stelle von historischen Verweisen und utopischen Entwürfen rückt eine scheinbar rückhaltlose Beschränkung auf die Gegenwart, deren Relevanz weniger durch perspektivierende Positionierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmt wird als vielmehr durch die Fixierung auf eine Form von Aktualität, die sich im Akt des
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Schreibens und im Akt des Lesens immer wieder neu realisieren muss und erst so das produzieren kann, was Brinkmann im Blick auf seine Vorstellung von sinnlicher Präsenz »Attraktivität« nennt (FW, 227). Dies gilt für Brinkmanns Lyrik und Prosa, aber auch für seine poetologischen Texte, für seine Essays. Um nicht selbst der Tendenz zur Abstraktion zu verfallen, die er angreift, unterbricht Brinkmann seine programmatischen Äußerungen immer wieder durch Einfälle, Zitate, Assoziationen und Abschweifungen, die nicht selten das soeben Gesagte aufheben, angreifen oder unvermittelt in einen anderen, nicht notwendig der Logik des Arguments folgenden Zusammenhang katapultieren. Die poetologischen Texte entfalten nicht das Programm einer systematisch entwickelten Ästhetik, sie führen vielmehr genau das vor, was Karl Heinz Bohrer 1968 im Rahmen seiner skeptischen Kritik an Brinkmanns Versuchen, Pop-Phänomene nach amerikanischem Vorbild in Gedichte zu übersetzen, als eine »noch zu entwickelnde Form des Essays« beschreibt: Essays, bei denen sich »Analyse des Phänomens und spontane literarische Einbildungskraft die Waage« halten (Bohrer 1968). So thematisiert Brinkmann ein Jahr später in Der Film in Worten genau das, was er zugleich praktiziert, wenn er als »zeit-adäquate Form« des »Essays« eine sich »erst vereinzelt andeutende« Form beschreibt, »die heterogenstes Material zu einem Thema sammeln und miteinander verbinden kann, [...] – collagenhaft, mit erzählerischen Einschüben, voller Erfindungen, Bild – also Oberflächenbe schreibungen, unlinear, diskontinuierlich ... ein Raum, in dem herumzuspazieren einfach wieder Spaß macht und das gedankliche Arrangement von der gleichen Einfallsfülle ist wie der Gegenstand der Reflexion, ein zärtliches Treiben von winzigen Lichtpunkten auf einer Schalttafel« (FW, 233). Das Projekt, gegen die Festlegungen der Sprache in und mit der Sprache »neue sinnliche Ausdrucksmuster zu schaffen« (FW, 235), ist nicht grundsätzlich gegen Abstraktionsbewegungen gerichtet. Brinkmann wendet sich mit seinen Texten vielmehr gegen eine Form von Abstraktion, die nur einen Beleg für den Begriff schafft, »nicht aber ein attraktives Objekt selber, aus dem sich der Begriff ergeben würde und das zugleich (im selben Augenblick) über ihn hinausführte« (Brinkmann 1984, 143). Genau diese doppelte Bewegung, die Abstraktion und Attraktivität wechselseitig aufeinander bezieht, versucht er in Gang zu setzen, indem er abstrahierende Überlegungen mit der sinnlichen Präsenz von Musik, Filmen und Bildern konfrontiert, indem er Medien und Darstellungsformen,
über die aus seiner Perspektive die Vorstellung eines »attraktiven Objekts« leichter zu realisieren ist, nicht nur thematisiert, sondern ihre performativen Qualitäten in die literarischen Schreibverfahren zu übersetzen versucht. »Vermischungen finden statt – Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild(Vorstellungs-)zusammenhängen« (FW, 228), so beschreibt Brinkmann ein in dieser Hinsicht zentrales Verfahren, das die in Acid versammelten amerikanischen Texte und ihre Präsentation in der Anthologie ebenso bestimmt wie viele seiner eigenen Texte. So verweist der Titel von Brinkmanns programmatischem Essay in Acid, Der Film in Worten, auch auf den Versuch, die von ihm verschiedentlich adressierte neue Sensibilität nicht nur abstrakt zu proklamieren, sondern auch im Text zu demonstrieren. Brinkmann löst syntaktische Strukturen auf, präsentiert Zitate, Satzfragmente, heterogenes Material, aneinandergefügt durch Montagetechniken, Schnitte und andere auf die Form der Schrift übertragene ›filmische‹ Verfahren: »›Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‹ (Kerouac) ... ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster ... Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität« (FW, 223). Während Brinkmann in Der Film in Worten allein mit sprachlichen Mitteln versucht, »die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich zu lassen« (ebd.), sind die Texte in Acid und Silverscreen mit Fotografien, Comics und Zeitungsausschnitten durchsetzt, mit Text-Bild-Montagen, deren Kompositionsprinzipien Brinkmann wiederholt auch für seine eigenen Texte nutzt. Neben die Frage, ob und wie Vorstellungen in der Sprache performativ produziert, wie Bilder durch Wörter repräsentiert oder beide wechselseitig aufeinander bezogen werden können, rückt dabei immer wieder auch der Wunsch, Bilder an die Stelle von Wörtern treten zu lassen, Texte ohne Worte zu produzieren. Die Westwärts-Gedichte werden eingerahmt durch Fotoserien, Brinkmann veröffentlicht mit Chicago und Wie ich lebe und warum Texte, die allein aus Fotos zusammengesetzt sind (vgl. FW, 143 ff. und 279 ff.), und zitiert, durchaus programmatisch, Burroughs Äußerung: »Wenn Sie anfangen, in Bildern zu denken ohne Wörter, befinden Sie sich auf dem Weg!« (FW, 205) Ein weiterer Weg der Verschränkung von Abstraktionsprozessen und Effekten sinnlicher Präsenz ist die Fixierung auf Sexualität und Pornographie, die die formalen Experimente auf thematischer Ebene sup-
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plementiert. Auch in dieser Hinsicht weist Brinkmann Ende der 1960er Jahre die »Bewegung, die auf erweiterte Sinnlichkeit drängt«, als eine aus, »die ganz selbstverständlich auch das Denken, die Reflexionsfähigkeit in sich aufgenommen« und die »bekannte Unsinnlichkeit des Denkens abendländischer Intellektueller« hinter sich gelassen hat: »Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt« (FW, 227). Entsprechend koppelt Brinkmann die sinnliche Präsenz, die der Abstraktion nicht mehr nur entgegengesetzt, sondern zugleich auch unterstellt werden soll, in Acid an Bilder, die Körperlichkeit und Sexualität oder auch, analog zur Programmatik Fiedlers, Obszönität und Pornographie vorführen und thematisieren (vgl. Fiedler 1968). Auch in seinen eigenen Texten, etwa in dem 1968 veröffentlichten Gedichtband Godzilla und in den Materialbänden aus den 1970er Jahren, übernimmt Brinkmann das Verfahren, seine Texte so mit Comics, Zeitungsausschnitten und Pin Ups zu verbinden, dass sich Kontrasteffekte aufbauen, die an die Stelle von diskursiven Kommentaren treten, aber deren Funktion übernehmen können, da sie performativ produzieren, was argumentativ nicht ausgeführt wird. Die »Vermischungen« von Text und Bild, die wechselseitigen Verschränkungen von Abstraktionsprozessen und sinnlicher Präsenz, werden in den Texten über intermediale Konstellationen auf diese Weise offensiv vorangetrieben, mit vergleichbaren Effekten aber immer wieder auch, wie in zwei Zeilen des Gedichtbandes Eiswasser an der Guadelupe Str., in der Restriktion auf Sprache abrupt unterbrochen: »:Hier kommen Titten! / :Nein, nur das Wort.« (E, [Bl. 22v]) Wiederholt verweist Brinkmann in seinen Texten auf Vorstellungen und Bilder, die aus seiner Perspektive der Sprache in ihrer sinnlichen Präsenz überlegen sind. Aber auch wenn er Film, Fotografie oder Popmusik gegen die Sprache ausspielt, geschieht das aus der Position des Schriftstellers, dessen »einzige Lebensäußerung«, wie Maleen Brinkmann betont, immer Sprache gewesen ist, der sich »gezwungen hat, jeden Moment immer in Sprache auszudrücken« (Brundiers 1987). Brinkmanns Texte zeigen, dass dieser selbstauferlegte Zwang nicht als Einschränkung zu verstehen ist. Sie gewinnen ihre Eindringlichkeit und ihre Attraktivität vielmehr gerade dadurch, dass sie an Modellen ausgerichtet werden, die den Wunsch nach Unmittelbarkeit und sinnlicher Präsenz vermeintlich leichter erfüllen können als sprachliche Abstraktionen. Die performativen Effekte von Musik, Filmen
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und Bildern, von »attraktiven Objekten«, bilden in diesem Sinn sowohl eine Voraussetzung als auch ein Ziel für das Schreiben, sie werden Teil einer auf die Gegenwart ausgerichteten Subjektivität, die ihre Darstellungskraft in der Auseinandersetzung mit Abstraktionsbewegungen entwickelt, die den Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion im Schreiben austrägt: »der Ausgangspunkt des Schreibens ist das Subjekt, Kopf und Körper zusammen, – eine nach innen und nach außen schwingende Tür ... Wahngebilde, Halluzinationen, verquere Sprache – Starre, die in Bewegung gerät« (FW, 234). »Es kam ihm nicht auf bestimmte Stile an, nicht auf formale Aspekte, sondern auf Bewegung, nicht auf das bloße Feststellen, auf akademisches Einordnen, sondern auf flexible Bezüge, eine offene Szene«, schreibt Brinkmann über Frank O’Hara (FW, 212). Wie an vielen anderen Stellen ist Brinkmanns Kommentar zur amerikanischen Lyrik auch in diesem Fall zugleich als Selbstbeschreibung zu lesen. Der Wunsch, eine Offenheit herzustellen, die flexible Bezüge ermöglicht, zielt dabei sowohl auf den Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte als auch auf die spezifische Form der Texte ab. Die gesuchten offenen Szenen konstituieren sich dabei häufig über die Konfrontation von Feststellung und Bewegung, über das Oszillieren zwischen Formausprägungen und Auflösungsprozessen. Der Übergang von Starre in Bewegung wird dabei nicht nur zu einem Gegenstand der Beschreibung, sondern bestimmt als rhythmisierendes Moment auch die Sprache, wird zu einem textgenerativen Moment, das nicht zuletzt auch den von Brinkmann wiederholt hervorgehobenen Eindruck unmittelbarer Präsenz erzeugt. In einem Brief an Hartmut Schnell schreibt Brinkmann, seine Gedichte seien »Kurzzeitgedächtnisszenen – – – ›epiphanien‹ manchmal, wie das dann bei Joyce heißt – – – kurze, rasche Einblicke, so zwischen Tür und Angel, in einer dauernd rein und rausschwingenden Pendeltür« (BrH, 75). Nicht nur hier wird eine auf Dauer gestellte Bewegung als Voraussetzung eines Schreibens erkennbar, das die beschriebene Bewegung fortsetzt und in sprachlichen Momentaufnahmen zugleich so fixiert, dass die Zeitstruktur der »kurzen, raschen Einblicke« auch die schriftlich verfassten »Kurzzeitgedächtnisszenen« bestimmt. Im Wechsel von Stillstand und Bewegung rückt nicht zuletzt das ins Zentrum der Aufmerksamkeit, was sich gewöhnlich dem Blick entzieht: der Augenblick. »Ich denke«, schreibt Brinkmann in der »Notiz« zu Die Piloten, »daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem
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Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht [als] scheinbar isolierte Schnittpunkte« (St, 185). Die Formulierung »zwischen Tür und Angel«, mit der er diese Form der Fixierung auch im zitierten Brief veranschaulicht, verdichtet entscheidende Charakteristika jener Verfahren, die ein Gedicht für Brinkmann zum »snap-shot« machen. Nimmt man die Wendung beim Wort, wird die räumliche Perspektive, die den Rahmen für den Blick vorgibt, auf einen Punkt zusammengezogen, der – als Verbindung »zwischen Tür und Angel« – Bewegung ermöglicht, selbst aber in der Bewegung nahezu stillsteht. Das räumliche Bild schlägt jedoch aufgrund seiner konventionellen Lesart unweigerlich auch in Dimensionen der Zeitlichkeit um. Der Punkt »zwischen Tür und Angel« wird zum Ausgangspunkt einer Temporalisierung des Blicks, der, verkürzt auf einen Augenblick, immer nur punktuell fixierte Ausschnitte erfassen kann, diese Perspektivierung in den Wiederholungsschleifen einer oszillierenden Bewegung – »in einer dauernd rein und rausschwingenden Pendeltür« (BrH, 75) – aber strukturell auf Dauer stellt. Als gängige Floskel verweist die Formulierung »zwischen Tür und Angel« zugleich auf die Beiläufigkeit dessen, »was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat«. Die »kurzen, raschen Einblicke« lassen den Augenblick »zwischen Tür und Angel« nicht als besonders hervorgehobenen, außergewöhnlichen Moment erscheinen, als zufällige Sistierung erhält er seine Signifikanz, wie Brinkmann im Blick auf sein Gedicht »Bild« schreibt, nicht durch die Aufladung mit Bedeutung, sondern durch die Konzentration auf die Gegenwart und ihre (foto-)grafische Fixierung: »Bild: 1 Schnappschuß, Momentaufnahme, ohne Bedeutung, Gegenwart, nichts anderes« (BrH 134; St, 317). Neben Gedichte, die in diesem Sinn darauf abzielen, »nichts anderes« als Gegenwart zu präsentieren, setzt Brinkmann allerdings auch solche, die in reflexiven Gegenbewegungen explizit zeigen, dass die »snapshots« als Momentaufnahmen immer auch etwas anderes vor Augen führen als das Phantasma unmittelbarer Gegenwart. »Eine Tür weht / zufällig zu und / ist eine Tür. // Ich komme hinterher / und sage dasselbe« (St, 272), markiert Brinkmann in dem Gedicht »Bestimmte Orte« die Position des Schreibenden, die das Verfahren der »snap-shots« auch dann steuert, wenn sie im Text unbestimmt bleibt. Was sich als lapidare
Feststellung einer wiederholenden Verdopplung ausgibt, verweist auf ein zentrales Moment der Gedichte, das Brinkmann ebenso häufig betont wie den Wunsch nach unmittelbarer Präsenz – die in vielfachen Variationen formulierte Einsicht, dass der Augenblick, den ein Gedicht präsentiert, in dieser Form nicht ohne die schriftliche Fixierung zu denken ist. Auch wenn er sich im Schreiben gerade gegen diese Voraussetzung wendet, zeigen Brinkmanns Texte sehr deutlich, dass der Moment »zwischen Tür und Angel« der schriftlichen Darstellung bedarf, nicht nur um nachträglich erinnert werden zu können und Dauer verliehen zu bekommen, sondern um überhaupt als Moment deutlich zu werden. In dem Gedicht Einen jener klassischen, ein mittlerweile selbst klassisches Beispiel für Brinkmanns gegenwartsfixierte Ästhetik, inszeniert er das Hören eines »schwarzen Tangos in Köln« aus »der offenen Tür einer / dunklen Wirtschaft« als einen signifikanten Augenblick, den das Gedicht vergegenwärtigt, indem es seine Effekte in einer Wiederholungsschleife beschreibt und auf diese Weise zugleich evoziert: »beinahe / ein Wunder: für einen Moment eine / Überraschung, für einen Moment / Aufatmen, für einen Moment / eine Pause in dieser Straße« (Ww, 35). Am Ende des Gedichts zeigt Brinkmann allerdings wiederum, dass die Unterbrechung, die den Moment als Moment markiert, im Text nicht nur nachträglich beschrieben, sondern erst durch die schriftliche Fixierung, erst durch den Akt des Schreibens kommunizierbar wird: »Ich / schrieb das schnell auf, bevor / der Moment in der verfluchten // dunstigen Abgestorbenheit Kölns / wieder erlosch.« (ebd.) Der Wechsel vom Präsens zum Präteritum unterstreicht allerdings auch, dass das Aufschreiben den Moment nie nur als präsentischen Augenblick hervorhebt, sondern zugleich auch auf seine Vergangenheit verweist. In einer Anmerkung zu seinen O’Hara-Übersetzungen pointiert und verallgemeinert Brinkmann dieses Problem, wenn er schreibt, Literatur mache die »Gegenwart, in der es sich scheinbar noch so heftig bewegt, einmal darauf eingelassen, unaufhaltsam zur endgültigen Vergangenheit« (Brinkmann 1969, 76). Das Projekt einer Ästhetik, die sich, ausgerichtet auf eine als offen und unabgeschlossen gedachte Gegenwart, gegen die Festlegungen der Sprache richten soll, verwickelt sich angesichts derartiger Verfahren der schriftlichen Gegenwartsfixierung unweigerlich in paradoxe Konstellationen. Aus der Perspektive von Brinkmanns Beharren auf der Wahrnehmung von Augenblicken »jenseits der Sprachebene« erscheinen
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Sprache und Schrift als Einschränkungen, die geradezu systematisch verhindern, dass »die starre Fixierung in den Abstraktionen der Gegenwart zerreißt« (FW, 280). Brinkmann wendet sich aber auch in dieser Hinsicht nicht von der Sprache ab, sondern baut gerade über diese Paradoxien das Spannungsmoment auf, dem seine Texte den Effekt von Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit allererst verdanken. Er präsentiert nicht nur Augenblicke, sondern macht auch die Präsentation der Augenblicke zu einem Gegenstand der Texte. Der Effekt der Gegenwärtigkeit, den die Texte evozieren, verdankt sich dabei nicht zuletzt der Konzentration auf den Akt des Schreibens. Die Reflexion auf Verfahren der Verzeitlichung, die Brinkmann auch in seinen Gedichten wiederholt vollzieht, wirkt nicht notwendig als ein relativierender Gegenpol, sondern kann den erwünschten Effekt der Präsenz noch verstärken – wie etwa in dem Gedicht Ein Tag an der Grenze, das seine eigene Form der Zeitstrukturierung in einer reflexiven Schleife benennt und auf diese Weise zugleich performativ produziert: »Plötzlich, wie das Wort plötzlich« (Ww, 25). Es ist eine Konsequenz einer derartigen Fokussierung auf die gegenwärtige Situation, dass sich Brinkmann im Blick auf die Form der Momentaufnahmen kaum auf literaturgeschichtlich tradierte Muster beruft, sondern sich, sieht man von den Nachahmungen der aktuellen amerikanischen Vorbilder ab, vielmehr offensiv von ihnen abwendet. Dies gilt insbesondere für die literarisch und philosophisch vielfach überdeterminierte Metapher des Augenblicks. Die Augenblicke, die die Gedichte über das Verfahren des »snapshots« vergegenwärtigen, werden von Brinkmann weder mystisch verklärt noch symbolisch verdichtet, sie dienen fast nie als Ausgangspunkt für Erinnerungsprozesse oder andere Formen narrativer Entfaltung, der in Einen jener klassischen beobachtbare Versuch, einen spezifischen Augenblick als Glücksmoment hervorzuheben, findet sich auch eher selten, und selbst der im Brief an Hartmut Schnell nachgetragene Hinweis auf den Begriff der Epiphanie bei James Joyce kann leicht eine falsche Fährte legen. Brinkmann schließt in seiner Verweigerung des symbolisch aufgeladenen Augenblicks zwar an Verfahren an, die auch viele Texte der klassischen Moderne bestimmen, im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen letztlich jedoch weder der »emphatische Augenblick«, den Bohrer im Blick auf Proust, Joyce, Musil und Woolf als ein »Kennzeichen der modernen Literatur« konzeptualisiert hat, noch die »profane Erleuchtung«, die Benjamin als Charakteristikum des
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Surrealismus beschrieben hat. (vgl. Bohrer 1981, 63 ff. und 180 ff.) Auch wenn sich in den Gedichten wiederholt Türen öffnen, lässt Brinkmanns Augenblicksfixierung nur Spuren eines säkularisierten Konzepts von Epiphanie, eines Glücksversprechens oder eines utopischen Kerns erkennbar werden, Spuren, die eher auf die Abwesenheit derartiger Vorstellungen verweisen, auf »die Illusion / erleuchteter Augenblicke, / und daß sie Türen sind, / durch die du eintrittst« (Ww, 157). Mit der beiläufigen Ambivalenz, die viele seiner Texte kennzeichnet, stellt Brinkmann jedoch noch in der Geste der Verweigerung Bezüge zu eben den literarischen Traditionen her, von denen er sich distanziert. Die Texte sind jedoch nicht auf Anspielungen oder versteckte Zitationen hin angelegt, sondern bilden vielmehr ein Verhältnis zu potentiellen Präfigurationen aus, das dem der amerikanischen Vorbilder entspricht. Diese haben, schreibt Brinkmann, nicht nur »die Verpflichtung zur Tradition ›Gedicht‹ durchbrochen, sondern sie haben zugleich auch die Teile in sich aufgenommen, die aufgehoben zu werden verdienten, und zwar ohne sie als bedeutsam zu zitieren – Anklänge an die französische Lyrik des Surrealismus sind nicht selten« (FW, 262). Brinkmann widersetzt sich nicht prinzipiell eingeführten literarischen Mustern, sondern wendet sich von der historischen Patina und dem Bedeutsamkeitsbonus ab, die literaturgeschichtlich kanonisierte Formen aus seiner Perspektive eher belasten denn nobilitieren. Auch wenn er in einigen Punkten an jene Verfahren anschließt, die Bohrer mit dem Begriff des »emphatischen Augenblicks« belegt, geschieht dies nicht in Form einer Vergewisserung gegenüber den entsprechenden literarischen Traditionen. Diese erscheinen, wenn überhaupt, nur als Ausgangspunkte von Abgrenzungsbewegungen. So werden die Verweise auf den Surrealismus ebenso von seiner Gegenwartsfixierung bestimmt wie die Forderung, »Material« in die »literarischen Produkte einzulassen, das weitaus bestimmender ist als ein Blatt, das man durch die Luft schaukeln sieht« (Einübung, 153). Das durch die Luft schaukelnde Blatt, ein Topos der Naturlyrik, dient Brinkmann nur noch als ein negativ konnotierter Bezugspunkt, als ein Bild »von gestern«, das über den Gestus der Abgrenzung die Perspektivierung auf die Gegenwart deutlicher fokussieren soll: »das Bewußtsein ist mit Bildern von gestern verstopft, obwohl wir heute da sind, für einen Augenblick, und dann wieder für einen Augenblick, und wieder für einen Augenblick« (ebd.). Weder die kurzen Gedichte, die als aneinandergereihte »snap-shots« eine Serie von Einzelbildern
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III Konzepte
präsentieren, noch die Langgedichte in Westwärts 1 & 2, in denen disparate Momentaufnahmen durch die typographische Anordnung so nebeneinander gestellt werden, dass die Vorstellung kontinuierlich ablaufender Zeit durch die Überlagerung simultan präsentierter Zeitfenster aufgesprengt wird, zielen auf die Präsentation eines mit Bedeutsamkeit aufgeladenen, emphatisch herausgehobenen Augenblicks ab. »Alle Momente sind gleichwertig, und ohne weiteres kann man sagen: banal, oberflächlich«, schreibt Brinkmann im Blick auf O’Haras Gedichte (FW, 210). Auch in seinen eigenen Texten rückt an die Stelle des besonderen Augenblicks die Banalität zufällig anfallender, alltäglicher Situationen, die durch ihre strukturelle Wiederholbarkeit, potenziert durch Verfahren der Serialisierung, noch verstärkt wird. Jedes ›Jetzt‹, das Brinkmann präsentiert, erscheint als Teil einer potentiell verlängerbaren Serie, die Vorstellungen von Singularität zwar in Aussicht stellt, aber zugleich immer schon mit den Möglichkeiten der unabschließbaren Vervielfältigung konfrontiert: »jetzt,jetzt,jetzt,jetzt,jetzt,ad infinitum!« (Erk, 240) Fast manisch weist Brinkmann über die akkumulierende Aufreihung von Augenblicken – »jetzt und jetzt und jetzt« – die literarische Tradition, deren kanonisierte Formen und ihre potentielle Bedeutsamkeit als vergangen ab und konterkariert sie durch die Suche nach aktuellem, scheinbar rein gegenwärtigem Material: »Literatur, die sich von dem Zwang befreit hat, ›Literatur‹ darzustellen, kann sich auf diese Augenblicke und die riesige Materialfülle dieser Augenblicke einlassen« (Einübung, 154). An die Stelle eines emphatischen Literaturbegriffs rückt so eine nicht minder emphatische Konzentration auf alltäglich anfallendes Material, ein beweglicher Blick, der »die momentan sich anbietenden Dinge und Szenen wie zum ersten Mal aufnimmt«, der, selbst wenn er gezielt angesteuert und programmatisch wiederholt wird, »wieder wie der erste ist, weil er nicht verleugnet, daß, was immer er sammelt, Oberfläche ist, jetzt und jetzt und jetzt und jetzt ...« (FW, 215). Wenn Brinkmann im Anschluss an Frank O’Hara betont, dass »für Literatur die einzig reale Zeit die Gegenwart ist«, korrespondieren die Paradoxien der Zeitlichkeit, die er in der Konzentration auf den Augenblick zu pointieren und mit dem Verfahren des »snap-shots« zu realisieren versucht, der Fixierung auf die Oberfläche und das »zeitgenössische Material«. Die Konzeption von Zeitlichkeit wird supplementiert durch Vorstellungen von zeitlicher Aktualität und räumlicher Gegenwart, die sich in der Konzentration auf »alltägliche Details« ebenso verdichten
wie in den programmatischen Begriffen der »Oberfläche« und des »Abfalls« (FW, 211 ff.). Auch wenn sich Brinkmann unablässig gegen Festlegungen und andere Formen der Ordnungsbildung wendet, hat er in seiner Fixierung auf die Gegenwart, die Präsens und Präsenz auf nahezu systematisch unsystematische Weise verschränkt, eine Ästhetik entworfen, die nicht nur weitgehend konsistent, sondern in ihren Effekten und Ergebnissen auch durchaus vorhersehbar ist. Brinkmann imprägniert seine Texte aber gegen diese vermeintlichen Selbstwidersprüche, indem er die Tendenz zur Abstraktion, die nicht zuletzt durch seine Serialisierung des Jetzt eingeleitet wird, mit der Unterbrechung vorgegebener Zusammenhänge und der radikalen Rückbindung an einen je spezifischen Augenblick, ein je spezifisches Jetzt konterkariert. »Zusammenhänge sehe ich keine«, kommentiert er in dieser Hinsicht seinen Abstand von der Annahme einer verbindlichen Ordnung, der nicht zuletzt auch, durchaus ambivalent, das gegenwartsfixierte Schreiben bestimmt: »Hätte ich eine Theorie anzubieten, ein Weltbild, eine Ansicht, eine Ideologie, wäre mir zu schreiben leichter gefallen. So aber ist nichts außer dem einen Augenblick, an dem ich schrieb, da gewesen. Und so ist immer der jeweils zuletzt geschriebene Satz ein Ende gewesen, von dem ich mit jedem Mal neu beginnen mußte, also lauter Endpunkte, aber genausogut und zutreffend ist, Anfänge, und diese Anfänge ausweiten, gehen, fortgehen« (Ww, 263). Das Wort ›Jetzt‹, mit dem Brinkmann seine Texte durchsetzt, unterstreicht diese Konstellation ebenso wie die minutiösen Datierungen, mit denen Brinkmann seine Essays und auch viele seiner Gedichte versieht. Sie dokumentieren einen Schreibprozess, der nicht nur den Akt des Schreibens in seiner Gegenwartsfixierung zu erfassen versucht, sondern den Texten zugleich auch ihr eigenes Verfallsdatum einschreibt: »... alle Verbindungen gelten nur jetzt, 22. II.69, abends 21 Uhr 03«, schreibt Brinkmann am Ende von Der Film in Worten (FW, 247). Jedes ›Jetzt‹ setzt in diesem Sinn einen Endpunkt, dessen Fixierung aber immer nur vorläufig bleibt, immer auch auf einen potentiellen Neuanfang verweist, und den Texten so jene Dynamik unterlegt, die sie einfachen und eindeutigen Bedeutungszuweisungen entzieht – auch und gerade dann, wenn die Gegenwartsfixierung selbst zum Gegenstand des Schreibens wird. So schreibt Brinkmann über seine Gedichte: »Eindeutig und festlegbar auf ein Verständnismuster sind sie nicht. [...] Alles ist sehr zweifelhaft, unentschieden, wie und was ein Vorgang in einem Moment ist – auch unsicher ist
9 Ästhetik der Präsenz
die damals eingenommene Haltung, nicht ein-deutig fixierbar, immer zwischen Stillstand, Anhalten, und Bewegung, Gehen, Durchqueren, durchkreuzen, abändern« (BrH, 74). Die Gegenwartsfixierung, die jedes ›Jetzt‹ markiert, wird weder über Verstehensprozesse aus der konkreten Situation gelöst noch über begriffliche Abstraktionen in ein überzeitliches Modell transformiert. Als immer wieder neu angesteuerter Ausgangs- und Fluchtpunkt der Texte stellt sie vielmehr das Projekt einer »in der Gegenwart« betriebenen »Grundlagenforschung der Gegenwart« (Erk, 129) auf Dauer: »jetzt,jetzt,jetzt, jetzt,jetzt,ad infinitum!« (Erk, 240) Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Anmerkungen zu den Gedichten. In: Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte. Übers. von Rolf Dieter Brinkmann. Köln 1969, 76–81. Brinkmann, Rolf Dieter: Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹ [1969]. In: Jörg Schröder (Hg.): Mammut. März Texte 1 & 2. 1969–1984. Herbstein 21984, 141–144.
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Bohrer, Karl Heinz: Dem Teufel folgt Beelzebub. Rolf Dieter Brinkmann, seine neuen Gedichte »Die Piloten« und amerikanische Romantizismen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.1968. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Brundiers, Ludwig: Als ich ohne Wörter im Kopf war, begann ich tastend zu sehen. Zur Aktualität Rolf Dieter Brinkmanns. WDR Fernsehen 1987. Fauser, Markus/Martin Schierbaum: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 7–25. Fiedler, Leslie A.: Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik. In: Christ und Welt, 13.9.1968. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. Zier, Tobias: Literarische Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte. Evidenzverfahren in den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmann, Diss. Bonn 2012. In: http://hss.ulb.uni-bonn. de/2012/3075/3075.pdf.
Eckhard Schumacher
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10 Intertextualität Brinkmanns Werk ist von einer programmatischen Intertextualität geprägt, die verschiedenste traditionelle wie neue Formen der Verarbeitung fremden Textmaterials aufweist. Dabei lassen sich neben grundsätzlichen bewussten wie unbewussten Einflüssen insbesondere in den Anfängen drei verschiedene Konzepte von Intertextualität unterscheiden: Ein erstes grundlegendes die frühe Werkphase prägendes klassisches, das sich bis ins Spätwerk hinein zieht, besteht aus der Aneignung literarischer Traditionen, insbesondere der der europäischen Moderne, und Auseinandersetzung mit dem Kanon. Hier stehen Adaptionen von Themen, Stilen und Formen oder Distanzierungen durch parodistisch verfremdende Transformationen im Vordergrund. Dem schließt sich mit Brinkmanns Kritik an der offiziellen bundesdeutschen Nachkriegsliteratur um die Gruppe 47 und ihrer Nachfolger, den Vertretern einer politischen Literatur im Kontext der Studentenbewegung, eine Hinwendung zur amerikanischen Gegenwartsliteratur, zu Anti- und Alltagskunst-Bewegungen des Pop, an. Intertextuelle Schreibverfahren nehmen in diesem Kontext eines antiklassizistischen Literatur-, Autor- und Werkverständnisses neue Formen des Zitierens, Plagiierens, Kopierens, des (Oberflächen)übersetzens und Kollaborierens an. Das dritte und radikalste Konzept literarischer Intertextualität begrenzt diese nicht mehr auf ein hochkulturelles (literarisches) Textkorpus, sondern dehnt dieses potentiell auf alle in der Gegenwart zugänglichen Texte aus, indem aktuelle Gegenwart als ein unendlicher, entropischer Textzusammenhang verstanden wird. Mit diesem poetologischen Programm radikaler Intertextualität entsteht eine Literatur zweiter Ordnung, die, anstatt originäre Texte zu produzieren, überwiegend vorgefundenes Textmaterial verarbeitet, und damit Formen des Sammelns, Arrangierens und Ausstellens von textförmiger alltäglicher Umwelt in den Vordergrund rückt.
10.1 Dialog mit literarischen Vorbildern: Zitieren, Adaptieren, Transformieren »Die Vögel aus den Gedichten Jacques Préverts« (V, 28)
Johannes Pankau (Pankau 2008/9, 95) stellt zu recht fest, dass Brinkmann kaum ein ›gelehrter‹ Autor im traditionellen Sinne, wohl aber ein umso ›belesenerer‹
gewesen sei, da ihm neben einer abgeschlossenen Schulbildung auch ein literaturwissenschaftliches Studium fehlte. Stattdessen habe ihm als Lehrling im Buchhandel potentiell der gesamte Bestand lieferbarer Bücher, insbesondere auch aktuelle Neuerscheinungen, zur Verfügung gestanden. Auf die Phase einer »nachholende[n] Moderne« (Fauser 2011) folgt die Rezeption des Nouveau Roman von Nathalie Sarraute, Michel Butor bis Alain Robbe-Grillet, der für Brinkmanns frühe Prosa stilbildend wird, gefolgt von einer ebenso extensiven Lektüre wie intensiven theoretischen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik und Prosa. Später kommen mit Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt Autoren hinzu, die als Protagonisten eines Gegenkanons zur deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts rezipiert werden. In Rom holt Brinkmann in der Bibliothek der Villa Massimo schließlich angeregt durch Schmidts Radioessays mit Autoren wie Karl Philipp Moritz, Adam Müller, Christian von Massenbach die Lektüre von weiteren Außenseitern der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere auch des Romantikers Ludwig Tieck, nach. Zunächst eignet sich Brinkmann weitgehend affirmativ die gesamte europäische Moderne- und Avantgarde-Entwicklung an (Fauser 2011, Kap. 10), ergänzt um die deutsche Lyrik nach 1945 mit ihrem Exponenten Benn. Fauser prägt für diese Form einer nahezu zwanghaften, eklektischen Aneignung der Tradition den Begriff der »Mimikry«, die von epigonalen Anverwandlungen, wörtlichen Übernahmen über Stilimitationen bis zu experimentellen Umschriften reicht. Vorherrschend sind in dieser Phase Adaptionen von Formen, Strukturen und Schreibverfahren, die ihre Prätexte nur in seltenen Fällen zu erkennen geben wie z. B. in dem Gedicht am 19. März 1964 (Chant du Monde, 45), das sich mit seiner einfachen Aufzählung persönlicher Besitztümer als Remake von Günter Eichs »Inventur« (1947) zu erkennen gibt. Als Reminiszenz auf Eichs Gedicht nimmt Brinkmann mit »Kaffee«, »Zigarette« und »dem letzten Schlager / der Rolling Stones« eine historische Momentaufnahme der Schreibszene seiner Gegenwart des Jahres 1964 auf, die er mit derjenigen von 1945 aus Eichs Gedicht konfrontiert. Verbunden werden die beiden über die historische Distanz hinweg durch das gemeinsame Schreibwerkzeug, den Bleistift, und ihr poetisches Programm. Dagegen referiert »Einfaches Bild« (St, 124) parodierend auf das schwülstig-erotische Bildrepertoire der frühen expressionistischen Lyrik Benns, wenn es den Blick auf eine von Baude-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_10
10 Intertextualität
laire zur Ikone männlichen Begehrens verfestigte anonyme Passante noch einmal variiert. Brinkmanns Gedicht referiert mit dem Titelzitat auf diese eingeführte poetische Szene männlicher Blickökonomie und entkleidet das ikonographische Muster mit seiner emotionslosen nüchternen Sprache von Benns mystischem Schwulst, wenn er es zu einer scharf konturierten Schwarz-Weiß-Photographie umformt, bei der der doppelte Schattenwurf der Figur und die Materialität des Strumpf, genauer seine Unversehrtheit (»ohne Laufmaschen«), die visuelle Ausrichtung der männlichen Phantasie ganz unaufgeregt ins Zentrum des Begehrens leitet. Neben den vielen lyrischen Dialogen mit Autoren der europäischen Moderne, denen Kobold (Kobold 2014) für das Frühwerk akribisch nachgegangen ist, prägen Brinkmanns Schreiben vor allem Adaptionen literarischer Formen und poetischer Programme, allen voran Alain Robbe-Grillets Konzept des Nouveau Roman, das Brinkmann in den frühen 1960er Jahren rezipiert (Strauch 1998, 35–41) und das er in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung auf eine Vielzahl von Texten aller Gattungen überträgt. So spielen vor und parallel zu Brinkmanns Adaption des amerikanischen Alltagsgedichts Robbe-Grillets Transformationen von fotografischen und filmischen Darstellungsverfahren in Brinkmanns Lyrik, seiner Prosa wie den großen Essays zur Literaturtheorie eine zentrale Rolle. Von Robbe-Grillet übernimmt Brinkmann nicht nur den Begriff der »Momentaufnahme« des schmalen Prosabändchens Instantanés (1962) (deutsch Momentaufnahmen, 1963), sondern ahmt Robbe-Grillets Konzentration auf die distanzierte Beschreibung einer gegenwärtig sichtbaren, von anonymen Figuren bevölkerten Welt aus einer festen Beobachterposition (Mecke 2011, 40 f.) nach. Brinkmann erläutert in seinen Briefen an Hartmut programmatisch die Bedeutung des Nouveau Roman für sein Schreiben: »Der Nouveau Roman wurde in BRD bekannt etwa Anfang der 60er Jahre und hatte eine literarische Methode, wertfrei nur zu beschreiben, als Programm (Butor, Robbe-Grillet, Sarraute usw. alles Franzosen), mich interessierte das für mein zwei ersten Erzählbände, also keine Handlung, Geschichten, sondern nur wie eine Kamerabewegung über die Oberfläche hinweg gleiten« (BrH, 149). Insbesondere die als »Beschreibung« gekennzeichneten frühen kleinen Prosatexte Strip und Piccadilly Circus ahmen Robbe-Grillets »Momentaufnahmen« urbaner Räume wie der Rolltreppen und Tunnel innerhalb der geschlossenen Welt der Métro aus den »Instantanés« in end-
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losen Sätzen mit ihrem detaillierten, präsentischen Beschreibungsstil nach. Die völlig emotionslosen, zeitdehnenden Wahrnehmungen eines anonymen Beobachters bei Robbe-Grillet werden bei Brinkmann zu schnellen, abgehackten, stark rhythmisierten bis hektischen Wahrnehmungsfetzen eines teilweise als selbstbewusstes Ich auftretenden Erzählers, der die Dinge nicht nur popliterarisch mit ihrem Produktnamen adressiert, sondern sich selbst wertend in die Beobachtung der unmittelbaren Umwelt einmischt. In dem in einem Sammelband unter dem Titel Porträts publizierten Prosatext Am Hang entsteht aus der Beschreibung des namentlich nicht genannten Bundeskanzlers Konrad Adenauer im Garten seines Hauses in Rhöndorf ein atmosphärisch hoch verdichtetes Tableau der bundesdeutschen Nachkriegsära. Von Robbe-Grillet übernimmt Brinkmann des Weiteren das poetische Verfahren der Bilderzählung (Dieterle 1988, 171 ff.), mit dem Kunstwerke der Moderne, allen voran des Surrealisten René Magritte, in Szene gesetzt werden, um sie in der sprachlichen Transformation zu verlebendigen wie z. B. in dem Gedicht »Le fils de l’homme«, das das gleichnamige Magritte-Bild aus dem Jahr 1964 in eine erzählte Miniatur umformt. Robbe-Grillets literarisches Verfahren der Ekphrasis eines (fiktiven) Bildes (Smith 2000, 19) des symbolischen Surrealisten Gustave Moreau in der Momentaufnahme »Die geheime Kammer«, bei der sexualisierte Gewaltphantasien um das Zentrum einer weiblichen Leiche kreisen, adaptiert Brinkmann in der Erzählung Der Auftrag in Gestalt einer Nacherzählung einer typischen (fiktiven) Filmszene aus dem amerikanischen Gangsterfilm wie z. B. aus Murder by Contract (Lerner 1958), den Brinkmann in den 1960er Jahren in Kölner Kinos sah. Wie bei Robbe-Grillet steht die minutiöse Beschreibung der tödlichen Verletzung des Gewaltopfers, der »rote Fleck«, aus dem das Blut in verschiedenen »Rinnsalen« austritt, sich wie der Text mäandernd ausbreitet und schließlich versiegt, im Zentrum des Textes. »Der Auftrag« gibt sich so gleichermaßen als eine Erzählung einer (fiktiven) Filmszene und damit als (fingierte) Intermedialität und zum anderen als Intertext zu Robbe-Grillets Erzählung »Die geheime Kammer« zu erkennen, die ihrerseits aus einer Bilderzählung nach einem (fiktiven) Gemälde von Gustave Moreau besteht. So erweist sich die Erzählung als ein mehrfach geschichteter und in sich verschachtelter intermedialer Intertext. Wie sein Vorbild Robbe-Grillet verweigert Brinkmann mit dieser intermedialen Adaption der Darstellungsverfahren von Malerei, Fotografie und Film die traditio-
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III Konzepte
nelle Funktion literarischer Narrationen: Denn der Momentaufnahme fehlt der erklärende Kontext, der den Moment in eine Handlungslogik einbindet. In seinen Bilderzählungen spielt Brinkmann daher wie sein Vorbild das Räumliche des Bildes gegen die Chronologie der Erzählung aus wie schon Lessing in seiner frühen Medientheorie Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie theoretisch dargelegt hatte. Brinkmanns frühe Erzählungen erweisen sich so nicht nur als intertextuellen Dialog mit dem Nouveau Roman, sondern darüber hinaus auch als intermediale Transformationen der (fiktiven) Bilderzählungen Robbe-Grillets und Michel Butors. So bittet Brinkmann für die vierte als Prosa-Heft geplante Ausgabe des Gummibaums Hermann Peter Piwitt und Gerd Fuchs um eben solche »Filmnacherzählungen« nach dem Vorbild des Nouveau Roman, deren Produktionsverfahren er exakt vorschreibt: »Ich stelle es mir so vor, daß der Film einfach nacherzählt wird, groß oder genau, nur in Details, das bleibt jedem selbst überlassen. Es können die Filmnamen benutzt werden oder die Schauspielernamen, aber die Handlung sollte erzählt werden, ohne Kommentar, denn der Blick dessen, der sie nacherzählt, ist ja der Kommentar.« (Literaturmagazin 36, 70) Aus Brinkmanns Faszination für Gewaltszenarien der amerikanischen Gangsterfilme wie für die legendären Namen der großen Gangsterbosse entsteht nach seiner Lektüre von Hans von Hentigs kriminal-psychologischer Studie »Der Gangster« in Kombination mit William S. Burroughs aus kurzen fragmentarischen Szenen zusammengesetztem Drehbuch The Last Words of Dutch Schultz (1970) das Hörspiel Auf der Schwelle (1970), das Burroughs Filmprojekt nicht nur in ein anderes szenisches Medium des Performativen überträgt, sondern dessen Cut-up-Verfahren noch einmal potenziert. Brinkmanns Hörspiel vermischt mit dem cut-up Verfahren Elemente des französischen Nouveau Roman und des amerikanischen Gangsterfilms mit der psychologischen Anthropologie von Hentigs, indem es den Gangster als Repräsentanten eines extrem wachen, auf den Augenblick bezogenen Umweltbewusstseins zum Vorbild für seine Poetik genauester Umweltbeobachtung macht, wie Brinkmann in seinem Radioessay am Beispiel der Romane Butors ausführt: »und es ist nicht eine bloße Zufälligkeit, dass wie bei Robbe-Grillet [...] kriminalromanhafte Elemente verwendet werden (der lauernde, tastende Blick, das Zusammenstellen von Fakten auf ein Alibi hin, das Motiv einer Gewalttat – Mord)« (Butor 1966, 14). Neben der Bewunderung für den Ty-
pus des poète maudit, den Burroughs neben Rimbaud idealtypisch in Brinkmanns Texten immer wieder repräsentiert, prägt seine intensive Burroughs-Lektüre ab den späten 1960er Jahren sein Schreiben nicht nur inhaltlich als Adaption harter, brutaler Gewaltdarstellungen wie in The naked Lunch und Soft Machine, wenn er z. B. in den Hörspielen drastische Schilderungen von Gewaltexzessen ins Zentrum rückt, um ihre verstörende Wirkung jenseits beruhigender narrativer Erklärungsmuster mit Burroughs cut-up und fold-in Verfahren zu potenzieren. In der Lyrik übernimmt Brinkmann in den späten 1960er Jahren darüber hinaus die Mündlichkeit simulierende Rhythmisierung des Beats der »Bop-Prosodie« aus der amerikanischen Tradition von W. C. Williams, Charles Olson und Robert Creeley bis zu den Beat-Autoren Allen Ginsberg und Jack Kerouac (vgl. Meyer-Sickendieck 2014, 370), die Intermedialität in der Intertextualität praktiziert, indem sie z. B. die »Rast- und Atemlosigkeit« aus Ginsbergs Howl als »musikalische[s] Verfahren« des Jazz auf »den eigenen Schreibprozess« überträgt (Meyer-Sickendiek 2018, 28). Brinkmanns lange Prosagedichte ahmen mit ihren gebrochenen Langzeilen und der »step down-line« den Rhythmus der Alltagsprache aus der Lyrik seiner Vorbilder Frank O’Hara und Ted Berrigan nach. So stellt Brinkmann in seinen poetologischen Statements und Kommentaren zu seinen Gedichten insbesondere im Briefwechsel mit Hartmut Schnell Beziehungen zwischen Literatur und Musik (Jazz, Rock, Pop) her, die durch die häufige Bezeichnung einzelner Gedichte als »Lied« unterstützt werden, und weist nebenbei auf die Bedeutung des »Sprechrhythmus« z. B. für das Gedicht »Nacht« (BrH, 253) hin. Weit mehr als die Nachahmung des Sprechrhythmus’ fasziniert ihn aber der druckgraphische Effekt, die harte, fragmentierende Schnitttechnik an der amerikanischen Lyrik: »mich hat in erster Linie an den amerikan. Gedichten die Form interessiert, wie ein Gedicht im Druck aussah, z. B. schmal oder zerrissen, in einzelne Assoziations Sprünge usw. – das war alles für mich neu« (BrH, 123). Für Brinkmann scheint neben der Rhythmisierung des Textes die visuelle Öffnung geschlossener Gedichtformen durch die Aufsplitterung des linearen Textganzen in einzelne verstreut im Raum angeordnete Textfragmente, die Leerstellen innerhalb der graphischen Anordnung der Textpartikel entstehen lässt, von besonderem Interesse gewesen zu sein. In diesem Sinne äußert er sich gegenüber Hartmut Schnell: »Die Lücken, der Raum oft um die Sätze des Gedichtes soll eigentlich nur ver-
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deutlichen, daß um jedes Bild, jede Zeile, ein Umweltfeld gehört, das jeder für sich ergänzen kann.« (BrH, 191) Aus der lockeren, aufgelösten Form der amerikanischen Vorbilder, die dort dem einfachen Sprechrhythmus folgt, wird bei Brinkmann die graphische Auflösung konventioneller Formen und inhaltlicher Zusammenhänge, die dem Leser Widerstände bei der Rezeption entgegen setzten oder ihm produktive Freiräume eröffnen soll, seinen eigenen Text einzufügen und das Gedicht kreativ fortzuschreiben. Fremder als die Formadaption des amerikanischen Langgedichts wirken Brinkmanns Importe von Stoffen, Motiven und Inhalten der amerikanischen Lyrik. Lamping weist in diesem Zusammenhang am Beispiel von Brinkmanns Williams-Adaptionen darauf hin, dass »die Aneignung des Fremden« zugleich eine »Verfremdung des Eigenen« (Lamping 1996, 85) bedeute. Das Zufällige, Inkommensurable und Kontingente des in den amerikanischen Gedichten arrangierten Materials aus Kommunikations- und Gedankenfetzen, Zeitungs-, Werbe- Film- und Comiczitaten wirkt in seiner Übertragung ins Deutsche in gesteigerter Form befremdlich, komisch oder absurd. Wirken die Zitate aus der Geschichte der amerikanischen Populärkultur insbesondere der Filmgeschichte, abgesehen von aktuellen Filmklassikern wie Warren Beattys Bonnie and Clyde, in der (kulturellen) Übersetzung teilweise fremd, erzeugen die Übertragungen auf die deutschsprachige Populärkultur ebenso wie die wilde Bricolage aus historischen und zeitgenössischen, deutschen und amerikanischen Filmgrößen in Synthetisches Gedicht 7.2.68 (Gras, 237–239) nicht nur befremdende Effekte, sondern vielmehr konstitutives Nicht-Verstehen und Ratlosigkeit beim Leser: In der Übertragung des amerikanischen Vorbilds auf die deutsche Kulturgeschichte verweisen die durch ihre Rolle im Nationalsozialismus belastete Anny Ondra, die UFA-Größe Mady Christians und die Operetten- und Schlagersängerin Hilde Brauner, wenn sie dem Leser überhaupt bekannt sind, vor allem auf die dunkle Seite deutscher Geschichte und halten kein Identifikationspotential wie die Hollywood-Legenden Humphrey Bogart, Mae West und Marilyn Monroe für den Leser bereit; statt Glamour, Sex-Appeal und Idolstatus, spießige Mittelmäßigkeit, Kitsch und NS-Verstrickung. Dazu kommt, dass Brinkmann in den vielen Filme und Filmgeschichte thematisierenden Gedichten aus dem Band Gras, diese eher aus einer Tradition der Kritischen Theorie als Kritik an der Medienindustrie mit ihren Verwertungsinteressen und Kommerzialisierungstendenzen thematisiert, wie sie der Autor durch die Vorlesungen
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des populären Kunstsoziologen Alphons Silbermann an der Universität zu Köln bekannt sein durfte, denn als Feier von Populärkultur im Sinne Leslie Fiedlers und seinen amerikanischen Vorbildern, wie er selbst formuliert: »Mae West & Tausend Watt: ironische Durchbrechung der Filmklischeewelt gegen das künstliche ausgestattete Leben, gegen die miesen Schauspielerbiografien usw. alles alter vergammelter Glimmer / und junge Sexfotzen, die auf Rollen warten usw., alles verrottet durch Geld und Schau« (BrH, 134). Die verfremdende Transformation von Formen und Stilen gehört so zu einem konstitutiven Merkmal von Brinkmanns Schreiben und ließe sich für nahezu alle Texte nachvollziehen wie z. B. auch für das Gedicht Dialog für den Russen Daniil Charms im Dezember / Und für Robert Brinkmann am 12. Dez. 1973 (Ww, 49), das Charms’ absurde Kurzprosa aus Fälle nachahmt. Mit seinem Gedicht bringt Brinkmann Charms absurde Texte dem deutschen Leser näher, wenn er für den Sohn eine Nonsensgeschichte im Stil von Charms’ Kinderliteratur um einen »italienischen Gastarbeiter« der Kölner Straßenreinigung, einen Uhrmacher, eine »norditalienische Uhr«, die Farbe »rot« und ein Klavier konstruiert. Charms Form der Kurzprosa verwandelt Brinkmann dazu mit den beiden abgesetzten Kurzdialogen in ein Prosagedicht. Für die späte Prosa kommt dem Werk Arno Schmidts eine zentrale Bedeutung zu, das nicht nur Lektüreanregungen und einen Referenztext für Brinkmanns Geschichtspessimismus vom Untergang Europas (Menke 1998), sondern darüber hinaus ein Muster für die formale Konzeption der späten Materialbände lieferte. Neben den amerikanischen Scrapbooks bilden Schmidts Texte das Vorbild für Brinkmanns späte Prosa. Schmidt reflektiert diese Form in seinen Berechnungen: »Das ›Fotoalbum‹ ermöglicht nicht nur die vom Themenkreis geforderte scharfe Einstellung einzelner Bilder, sondern es gibt auch den Prozeß des ›Erinnerns‹ präzise wieder! [...] immer erschienen zunächst zeitrafferisch einzelne, sehr helle, Momentaufnahmen (= Bilder) um die herum sich im weiteren Verlaufe der ›Erinnerung‹ dann ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (= Text) stellen: eine solche Kette von Bild-Text-einheiten ist das Endergebnis jedes bewußten Erinnerungsversuches«. (Schmidt, Berechnungen, 102) Arno Schmidts maschinenschriftliche lexikalisch, syntaktisch und graphisch eigenwillige Textkonstruktionen aus Zettels Traum sind als Präfigurationen wie Prätexte von Brinkmanns später Prosa zu lesen. So übernimmt Brinkmann in den späten Prosaarbeiten die Fragmen-
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tierung des fortlaufenden Textes durch den gegen die Syntax verstoßenden Einsatz von Satzzeichen, Trennungsstrichen, Doppelpunkten, die Schmidt in seinen Berechnungen erläutert: »Was ist eigentlich Interpunktion? : Keile, Striche, Bogen, Punkte, zur Akzentuierung, Darstellung von Pausen verschiedener Länge, Definierung von Stimmlagen, Hebung und Senkung. [...] Instrumentierung der Perioden«. (Schmidt, Berechnungen 103) Für diese Prosa aus »Erinnerungen«, »Träumen« und »längeren Gedankenspiele[n]« entwickelt Schmidt eine Darstellungsform in Spalten, um die einzelnen voneinander unabhängigen Textelemente deutlich abzugrenzen (Schmidt, Berechnungen 3, 281 f.), wie sie sich später bei Brinkmann finden lassen. Außerdem übernimmt Brinkmann im letzten Teil der Erkundungen Schmidts Verfahren der kleinteiligen Gliederung eines Textes durch optisch hervorgehobene Überschriften, Satzanfänge oder Stichworte wie z. B. in Schwarze Spiegel. Zettels Traum liefert als reprografiertes, aus verschiedenen Textblöcken montiertes und um Bildmaterial ergänztes Typoskript neben den amerikanischen Scapbooks ein weiteres Vorbild für die späte Prosa und insbesondere für die gegenüber Rom, Blicke und Schnitte textlastigeren Erkundungen. Brinkmann überträgt Schmidts Verfahren der Unterbrechung und Störung des Erzähl- und damit Leseflusses durch die Segmentierung in kleinste Texteinheiten oder graphische Hervorhebung der jeweiligen Textanfänge eines Abschnitts auf seine chronikartigen Aufzeichnungen aus Erinnerungsfetzen, Dialogen, Gedankensplittern und Reflexion in der Mühle in Longkamp über der Mosel aus dem November 1971 (Erk, 275–294, 302–342), die zusammen so etwas wie ein Psychogramm, eine Standortbestimmung, ein Porträt seiner Generation und eine Bilanz der Gegenwart leisten sollen. Schmidts Erzählsituation einer isolierten durch eine von Zerstörung gekennzeichnete, menschenleere Natur streifenden Erzählerfigur in Schwarze Spiegel ist derjenigen von Brinkmanns Aufenthalt in Longkamp als bewusster Selbstversuch nach Schmidtschem Vorbild im Rückzug aus der »Zivilisation« vergleichbar. Die Notizen dokumentieren darüber hinaus auch, dass Brinkmann zumindest in Erwägung zog, diese Form bzw. den Text selbst für einen neuen, zweiten Roman (Erk, 281, 284, 286) zu übernehmen, wie der poetologische Eintrag (Erk, 285) unter der Überschrift »Roman und vereinzelte Romanansätze« (Erk, 284) oder Überlegungen zum Tagebuch (Erk, 317) belegen. Anders als bei Schmidt entsteht mit der Form-Adaption aber keine Verfremdung realistischen Erzählens, sondern ein ho-
mogener Bewusstseinsstrom als innerer Monolog aus Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen.
10.2 Der antiautoritäre Impuls: Kopieren, Plagiieren, Übersetzen, Kollaborieren (wie schön irre ist es zu lesen: ›Über allen Gipfeln zieht es.‹)« (FW, 263)
Der Amerikaner Ron Padgett entwickelte um den Begriff der »Imitation« ein neues Konzept von Intertextualität, in dessen Zentrum Formen des Zitierens und Plagiierens als »Akt[e] des Kopierens« stehen. Brinkmann zitiert in diesem Kontext auch Ted Berrigan mit der Aufforderung »Mach’s neu und setze deinen Namen darunter« (FW, 235, 265) und übernimmt dieses poetische Programm des Plagiarism für sein eigenes Literaturverständnis und seine Schreibpraxis. Spätestens seit seiner Orientierung auf die amerikanische Lyrikszene in den 1960er Jahren ist für Brinkmanns Werk eine erweiterte Intertextualität konstitutiv, die von der Grundannahme ausgeht, dass Schreiben immer schon und insbesondere die »post-moderne Literatur« (FW, 251) nichts anderes als Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von vorgefundenem »Material« (FW, 249) in weitestem Sinne sei. In den USA war mit der technischen Entwicklung neuer Reproduktionstechniken der Xerox-machine die sogenannte Xerographie entstanden, die nicht nur neue, vielfältig variierbare Verfahren literarischer Reproduktionen möglich machte, sondern auch zu einer neuen Definition von Werk und Autor führte. Diese neue Technik führte zum einen zur Auflösung fest umrissener, statischer Autor-, Leser-, Werk- und Stilbegriffe und ließ eine unbegrenzte »Verfügbarkeit von Stile[n]« (Silverscreen, FW, 259) im Nebeneinander entstehen und öffnete zum anderen die Grenzen zwischen Sprachen und Nationalliteraturen zu einem frei verfügbaren »literarische[n] Großraum« (FW, 251). Brinkmann importiert diese amerikanische Entwicklung mit seinen Arbeiten an den beiden Anthologien Acid und Silverscreen, stellt sie ausführlich in den beiden begleitenden literaturtheoretischen Essays dar, und übernimmt diese neuen intertextuellen Schreibverfahren für sein eigenes Schreiben. So geht er mit den amerikanischen Lyrikern Ron Padgett, Ted Berrigan und Frank O’Hara davon aus, dass Literatur – auch Lyrik – als Verwertungsprozess von »populäre[m] Material« (FW, 236) zu verstehen sei, bei dem
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ein Dichter nicht mehr als autonomer Schöpfer sprachliche Artefakte, sondern vielmehr als Arrangeur »momentane und zufällige Kombinationen« (FW, 249) forme. Ausgehend von McLuhans antiau toritärer Maxime »Die Xerographie – geistiger Diebstahl für alle« (FW, 265) waren in den USA neue Formen des Plagiarism entstanden, die diesen als Grundlage jeden Schreibens begriffen und zum poetischen Programm erhoben. Neben dem klassischen Zitat steht eine Vielzahl neuer intertextueller Techniken wie Collagen und Montagen, Verfremdungen klassischer Texte zum Gag, Praktiken der »found poetry (aus Zeitungs- und Illustriertenberichten montiert) (FW, 260) und Cut-up/fold-in-Verfahren nach Burroughs, die alle Prinzipien des Plagiierens, Kopierens und des Recyclings folgen. Dazu kommen Formen der Oberflächenübersetzung (262, 265) oder der Kollaborationen mit Kollegen (245). Letztere vergleicht Brinkmann mit »light shows«, mit denen »ineinandergerinnende Vorstellungen« meist in »einen Witz, einen Gag« (256) münden, mit dem traditionelle Vorstellungen von dem Gedicht als herausragender Gattung hoher Kunst demontiert werden sollen. So verfremden z. B. Oberflächenübersetzungen als rein lautliche Übertragungen das Original bis zur Unkenntlichkeit und Unverständlichkeit, indem sie einen völlig neuen Text entstehen lassen, der Konzepte einer das Original bewahrenden und vermittelnden Übersetzung pervertiert. Ein anderes Verfahren besteht darin, »exakte Übersetzungen« (262), d. h. Interlinearübersetzungen anzufertigen, um diese dem eigenen Gedicht als Fremdkörper einzufügen und so fremde, ungewohnte Effekte zu erzeugen und überraschende Wirkungen entstehen zu lassen: »das eigene Gedicht ergibt sich überraschend aus dem Zusammenführen mehrerer fremder Texte, aus Oberflächenübersetzungen etc.: Die Möglichkeit des eigenen Ausdrucks liegt im Arrangement der Fertigteile, sobald die psychische Dimension dessen, der das macht, darin enthalten ist!« (265) Röhnert spricht in diesem Zusammenhang von einem Verfahren der »Bricolage« (Röhnert 2005, 113). Dieser konzeptionellen Intertextualität des Zitierens, Plagiierens, Übersetzens und Kooperierens entspricht zugleich ein veränderter Autor- und Werkbegriff. So verzichtet diese Poetik der Intertextualität auf ein starkes Autor- bzw. Werkverständnis, indem sie den Autor im Sinne von Michel Foucaults provozierender Frage »Wen kümmerts, wer spricht?« nicht mehr als alleinigen autonomen Schöpfer und damit geistigen Eigentümer eines ›Werks‹ versteht, sondern
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als Instanz, die hinter das Material, das sie auswählt und verarbeitet, zurücktritt, bzw. kollektiv mit einem oder mehreren Kollegen einen gemeinsamen Text erschafft (vgl. Der Gummibaum, Born/Brinkmann). Damit verschwindet der Autor mit seinem identifizierenden Namen in einer gleichgesinnten Gruppe von Künstlern. Mit dem Autor wird zugleich auch ein traditioneller, starker Werkbegriff eines autonomen Kunstverständnisses zur Disposition gestellt. Brinkmann reflektiert diese Konsequenz einer Poetik des Plagiierens, Kopierens und des Recyclings 1969 im Kontext einer Demokratisierung bzw. Sozialisierung von Kunst: »Die intellektuellen Spezialisierungen nehmen ab, der Autor hört auf, ›Autor‹ zu sein und wird jemand, der dieses eine Gedicht geschrieben hat (der Begriff ›Gesamtwerk‹ wird somit zu einem wichtigen Teil als verschleiernder Begriff bloßen Profitdenkens denunziert.)« (FW, 251) Er übernimmt von seinen amerikanischen Vorbildern vor allem die Verfahren des Sammelns und Montierens von fremdem Textmaterial im Sinne der »found poetry«, indem er sie aus ihren herkömmlichen Zusammenhang herauslöst und isoliert, um sie dann neu um eigene assoziative »Gedankenfetzen« herum zu arrangieren, wie er es für die Entstehung des Fragment zu einigen populären Songs gegenüber Hartmut Schnell erläutert (vgl. BrH, 186–209). Diese von der Entwicklung neuer Reproduktionstechniken ausgelösten Konzepte intertextueller Schreibverfahren des Kopierens, Plagiierens, Montierens und der Oberflächenübersetzung sind auf Travestien und Parodien eingeführter Formen, Stile und Inhalte angelegt. So treiben die amerikanischen Autoren ein respektloses Spiel mit traditionellen Formen, wenn sie diese genauestens kopieren, aber mit fremden Inhalten füllen, um damit eine groteske Spannung zwischen Formen und Inhalten herzustellen oder die Bestände der Tradition zu banalisieren, zu trivialisieren und zu parodieren (Mueller 1999, 123). So ist unter einer Oberflächenübersetzung auch mehr als eine lautliche Übertragung (s. Kap. 35) zu verstehen, da sie einen Transfer von Formen und Inhalten in andere Kontexte vornimmt, bei der das Transferierte seine Gestalt und Bedeutung ändert (Mueller 1999, 123 f.). Die den amerikanischen Vorbildern gewidmeten Gedichte wie Gedicht ›Für Frank O’Hara‹, Hommage à Joe Brainard aus Tulsa, Oklahoma, Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire / Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire ahmen daher Programm und Form der Lyrik der adressierten Autoren nach (Greif 2012, 260 f.) wie z. B. das letztere, das disparate Beobachtungen aus Brinkmanns alltäglicher
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Umwelt mit Zitaten aus Padgetts Lyrikband zu einer surrealistischen Hommage an den Autor verdichtet. So identifiziert sich das lyrische Ich mit einer »Schachtel Poulain-Schokolade«, d. h. also mit dem Gedicht »Poulain« von Ron Padgett (Padgett 1973, 63), dem es sich wortwörtlich einverleibt. Mit diesem surrealistischen Bild gibt sich das Ich als ein Textprodukt aus bewussten Lektüren, zufällig in der Umwelt aufgefundenen Texten und unbewusst erzeugten sprachlichen Bildern zu erkennen. Während Padgetts Gedicht »Poulain« als Momentaufnahme ein klassisches Dinggedicht im Stil W. C. Williams darstellt, transformiert Brinkmann sein Gedicht zur »found poetry« im Stil des langen amerikanischen Gedichts, indem er es aus einer Montage von Zitaten aus verschiedenen Gedichten Padgetts zusammenfügt. So montiert Brinkmann sein Gedicht aus Passagen der italienischen Übersetzung von Ode to the Futurist Painters and Poets (Padgett 1973, 92) und Ode to the Astronauts (101), indem er die einzelnen Zitate aus ihrem Zusammenhang bei Padgett isoliert und in einen fremden Kontext einstellt. Padgetts Nachruf auf die italienischen Futuristen, mit denen dieser die Avantgarde-Bewegung der Moderne angesichts der Mondlandung der Amerikaner für überholt und tot erklärt, widerspricht Brinkmann mit seinem Gedicht, wenn er die in dem amerikanischen Prätext überlieferten Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts in seiner Zitatmontage neu belebt. Brinkmanns Gedicht wird so zum Dialog mit Padgett, dessen Konsequenz in einer Revision seines AvantgardeVerständnisses zu finden ist. In Brinkmanns Gedicht sind so Spuren des Futurismus und des amerikanischen Autor unter einer transparenten Oberfläche aktueller Gegenwartsbeobachtung wie in einem Palimpsest übereinander gelagert. Mit den verschiedenen Verfahren der Oberflächenübersetzung und der »found poetry«, die die lyrische Variante des Cut-up/Fold-in-Verfahrens darstellt, experimentiert Brinkmann auch am Beispiel von Guillaume Apollinaire, dessen Gedicht La jolie Rousse er in einer Kollaboration mit R. R. Rygulla bearbeitet. In dem Gedicht Nach Guillaume Apollinaire entsteht – vermittelt über Ted Berrigan – eine »found poetry«, die beide Autoren in einen dritten lyrischen Kontext übersetzt und so ein Palimpsest aus Zitaten der Lyrik Apollinaires und Berrigans entstehen lässt, das als eine Übersetzung surrealistischer und amerikanischer Lyrik in einem neuen Kontext zu lesen ist. Entscheidend bei diesem Verfahren ist, dass fremde Prätexte und Kontexte miteinander vermischt und an Gegenwart angekoppelt werden und so ein surrealistisches
Gedicht in der Tradition Apollinaires entsteht, das Unzusammenhängendes wie die großen Fragen der Menschheit mit Banalem zu absurden oder komischen Pointen zusammenschließt: »Doch da war noch etwas, woran wir uns festhalten konnten. / Es war das Brisk, das wir immer benutzten.« (St, 355).
10.3 Literatur zweiter Ordnung: Sammeln, Arrangieren, Archivieren »total ausgeträumtes Material / ausgeräumte Müllgelände,faulende Wörter.« (Sch, 76)
Nach seiner Rezeption der allgemeinen Sprachkritik von Fritz Mauthner und Alfred Korzybski in den 1970er Jahren (s. Kap. 5) vertritt Brinkmann eine radikal konstruktivistische Position des linguistic turns, wenn er in seinen Texten immer wieder auf die Unhintergehbarkeit der sprachlichen Verfassung unser Welt hinweist und die alltägliche Umwelt als sprachlich und ikonographisch verfasste und medial vermittelte begreift, die er wie einen Text im erweiterten Sinne lesbar zu machen versucht. Unter dieser Prämisse entstehen Brinkmanns späte Prosaarbeiten als ein einziger aus vielen vorgefundenen atomisierten Einzeltexten, dem alltäglich abfallenden Material aus Texten und Bildern, zusammengefügter kontingenter und unabgeschlossener Intertext. Intertextualität wird ein weiteres Mal zur Intermedialität erweitert, da neben Texten auch Bilder in der Tradition der Dadaisten verarbeitet werden und die Materialität des verwendeten Materials über die Collagetechnik mit Schere und Klebstoff ausgestellt und damit seine Herkunft bewusst sichtbar gemacht wird. Brinkmanns letzte Prosaarbeiten radikalisieren die intertextuellen Schreibverfahren der »found poetry« aus den späten 1960er Jahren, indem sie die Leerstellen der Gedichte bis auf die letzte Stelle mit Text- und Bildmaterial ausfüllen. Fehrmann, Linz, Schumacher, Weingart sprechen in diesem Zusammenhang von »Praktiken des Sekundären«, deren Produkt »Originalkopie[n]« darstellen, da »auch vermeintlich sekundäre Artefakte oder Praktiken des Sekundären in den Status eines Originals rücken können«. (8) Wirth bezeichnet diese Collagetechnik des »Schneiden[s] und Kleben[s]« als »Pfropfen« im Derridaschen Sinne, »durch die das Zitat als corps étranger in den eigenen Text transplantiert wird.« (Wirth 28) Für seine Prosatexte und Hörspiele adaptiert Brinkmann seit dem Beginn seiner intensiven Burroughs-
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Lektüre Cut-up und Fold-in Verfahren, die er in den späten Materialheften mit der Collagepraxis der amerikanischen Scrapbooks (s. Kap. 31) kombiniert. Burroughs ging es mit seinem Cut-up und Fold-in-Verfahren, das Texte nach dem Zufallsprinzip zerschneidet und mit ebenso zufällig entstandenem Textmaterial neu auffüllt, um die Zertrümmerung von konventionellen sprachlich verfassten Wahrnehmungszusammenhängen und Denkstrukturen und damit Sinnsystemen, die das Bewusstsein des Einzelnen prägen und dominieren. Das Ziel dieser Abfallverwertung bestand in der Freisetzung des Bewusstseins von sprachlichen Präfigurationen und Reaktionsmustern. In dem von Brinkmann in Acid aufgenommenen Beitrag Die unsichtbare Generation entwirft Burroughs die Cut-upTechnik für auditive Medien wie Tonbänder, um die Kontrolle des Bewusstseins durch Sprache zu durchbrechen (Acid, 169). Während er in The Job sein Cutup/Fold-in-Verfahren dezidiert für den Umgang mit Texten ausformuliert: »Ich mache eine Anzahl cut-ups und wähle schließlich die aus, die mir am erfolgreichsten scheinen. Die Auswahl und Anordnung der Materialien geschieht ganz bewußt, doch ein Zufallsfaktor entscheidet, wie ich an das Material herankomme [...] man kontrolliert, was man in die Montagen einbringt; man hat aber keine vollständige Kontrolle über das, was herauskommt. Das bedeutet, ich wähle eine Seite aus, die ich dann zerschneide, und ich habe Kontrolle über das, was ich einbringe. Was dann bei den cut-ups herauskommt, füge ich einfach wieder in die Erzählstruktur ein.« (The Job, 14 f.) Dieser neuen Form einer radikal erweiterten Intertextualität dient das gesamte in der aktuellen Gegenwart verfügbare Material als potentieller Prätext, das der Autor nicht mehr im eigenen Text verarbeitet, sondern das er als fremdes Material in seiner unveränderten Eigenart sammelt, neu arrangiert und ausstellt. Die späten Prosaarbeiten stellen mithin ein einziges Archiv aus Intertexten, d. h. heterogenem Fremdmaterial dar, das vom Autor aus einem größeren Ursprungszusammenhangs herausgelöst, neu zusammengefügt und in fremde Kontexte eingestellt wird. Diese Text-Bild-Collagen beziehen ihr Material nicht nur aus der gesamten literarischen Tradition, sondern bevorzugt aus internationalen Zeitungen, Zeitschriften der Yellow Press, Werbeprospekten, Pornomagazinen, Fotoromanen und Comics in verschiedenen Sprachen. So variiert z. B. die Doppelseite 77/78 aus »Schnitte« (Di Bella, 522–539) das Thema Sexualität am Beispiel von z. T. kleinsten, auf Fotografien
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leicht bekleideter oder nackter weiblicher Körper geklebten Textausschnitten aus Sexanzeigen, neben Zitaten von brutalen Sex- und Gewaltszenen im New Yorker Gangstermilieu, aus Joyce Finnegans Wake, von mehreren Zeilen aus verschiedensten Rolling-Stones Songs – »Geile Zwitterstimmen und Gewimmer eingefroren in schwarzen Kunststoff-Rillen« (77) –, Selbstzitaten, z. B. aus dem Gedicht Meine blauen Wildlederschuhe, der Paraphrase des Presley/PerkinsSongs My Blue Suede Shoes (vgl. Pankau, in: Röhnert/ Geduldig 351) und autobiographischen Fragmenten über eine Pubertät in der deutschen Provinz der 1950er Jahre frei nach dem Motto des Filmsongs Love Is A Many Splendored Thing aus dem Jahr 1955 (76), die mit dem Anfang von Goethes Werther »Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund« (77) kurzgeschlossen werden. Die Collage verteilt dieses heterogene Textmaterial – »total ausgeträumtes Material / ausgeräumte Müllgelände, faulende / Wörter« (76) – auf den beiden Bildseiten zu einer Mindmap zum Thema Sexualität, um am Ende die berühmte Eingangspassage aus dem Werther mit der Aufforderung »This Way Out« [...] UND DU BLICKST DICH NICHT UM« für Brinkmanns Gegenwart zu variieren. Die Leistung des Autors als Zweitverwerter von vorgefundenem Textmaterial, der (nur noch) Literatur zweiter Ordnung aus dem Abfall der Hochkultur bis zum alltäglichen Trash der Warenwelt erschafft, besteht in der Selektion, der Sammlung und dem neuen Arrangement des kontingenten Materials zur ausschnitthaften Momentaufnahme eines unendlichen fluiden Textuniversums. Das Selektionsprinzip, das diesen Collagen zugrunde liegt, ist allerdings ein zutiefst einfaches, das auch das parallel zu Schnitte entstehende RomBuch dominiert, nämlich die für Brinkmann zentrale Formel von der alles bestimmenden Trias Sex, Geld und Tod, die hier erneut verdichtet als eine »durchgehend geöffnete Todes-Show« (76) inszeniert wird.
10.4 Forschungsstand Während Brinkmanns Werk unter Aspekten der Intermedialität extensiv beforscht wurde, fehlen eingehende und systematische Studien zur Intertextualität seines Werks, abgesehen von Kobolds und Fausers Darstellung des frühen Werks sowie Untersuchungen zur Rezeption der amerikanischen Lyrik (Mueller) oder zu einzelnen Textbeziehungen (Lamping, Röhnert, Greif) noch. Es sind insbesondere zwei gänzlich verschiedene Traditionen und Einflussräume, die in
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der Forschung für Brinkmanns Schaffen getrennt in den Blick genommen werden, nämlich die amerikanische Literatur von der Beat Generation bis zur Popliteratur (Lamping, Meyer-Sickendiek) und die europäische Moderne (Fauser, Kobold). Beide Positionen werden in Muellers Untersuchung zur Rezeption und Vermittlung amerikanischer Lyrik zusammenge führt, wenn sie die Frage aufwirft, ob nicht spätestens über den Umweg der amerikanischen Lyrik vor allem auch die deutschsprachige Moderne von Rilke über den Expressionismus bis zum Dadaismus, die die Amerikaner intensiv rezipierten, in neuer, vermittelter Gestalt in sein Werk eingegangen sei (Mueller 1999, 114). Strauch, Pankow, Menke und Di Bella schließlich weisen eine Reihe von Intertexten, insbesondere auch zum Spätwerk (Di Bella) nach und liefern damit Quellenmaterial für eine erweiterte Forschungsdiskussion zur Thema Intertextualität bei Brinkmann. Darüber hinaus enthalten eine Reihe von kleineren (Röhnert/Geduldig) und größeren Untersuchungen wie Dieter Lampings Ausführungen zur Williams-Rezeption, Jan Röhnerts Arbeiten zur Aneignung der französischen Avantgarde (Rimbaud, Reverdy, Jacob, Apollinaire, Cendrars) und Menkes Beitrag zu Arno Schmidt und Hans Henny Jahn wichtige Einzelergebnisse. Literatur
Burroughs, William S.: Der Job. Gespräche mit Daniel Odier. Übers. von Hans Hermann. Frankfurt a. M./Berlin 1986. Di Bella, Robert: »...das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. In: Studien zur Kulturpoetik. Bd. 18. Hg. von Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes. Würzburg 2015, 497–564. Dieterle, Bernard: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Berlin 1988. Fauser, Markus: Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik. In: Ders. (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 103–124. Fehrmann, Giesela/Erika Linz/Eckhard Schumacher/Brigitte Weingart (Hg.): Einleitung. In: Dies.: Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 7–18. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M. 2003, 234–270. Greif, Stefan: Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire / Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 254–265. Hentig, Hans von: Der Gangster. Eine kriminal-psychologische Studie. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1959.
Kobold, Oliver: »Lange nachdenkliche Gänge«. Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik und Prosa 1959–1962. Heidelberg 2014. Lamping, Dieter: Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie? Über W. C. Williams’ deutsche Rezeption. In: Ders.: Literatur und Theorie. Über poetologische Probleme der Moderne. Göttingen 1996, 69–85. Mecke, Jochen: Das Schicksal der Schaulust: von der Poetik des Blicks zur Ästhetik der Uneigentlichkeit. In: Volker Roloff/Scarlett Winter/Christian von Tschilschke (Hg.): Alain Robbe-Grillet – Szenarien der Schaulust. Tübingen 2011, 39–60. Menke, Timm: Die italienische Reise als Schwanengesang auf die alte Welt: Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt in Rolf Dieter Brinkmanns ›Rom. Blicke‹. In: Anil Bhatti/ Horst Turk (Hg.): Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Bd. 48). Bern 1998, 103–111. Meyer-Sickendiek, Burkhard: »Creating a spontaneous bop prosody«: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf-Dieter Brinkmanns. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (2014), 369–391. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Lyrik, »nach Jazz-Arrangements strukturiert«: Rolf-Dieter Brinkmann und die Beatgeneration. In: Carsten Gansel/Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Stile der Popliteratur. neoAvantgarden. Edition text + kritik. München 2018, 19–45. Mueller, Agnes C.: Lyrik »made in USA«. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik. Amsterdam 1999, 102– 152. Padgett, Ron: Grosse Feuerbälle. Gedichte, Prosa, Bilder. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Amerikanischen von Rolf Eckart John, Ralf-Rainer Rygulla, Anselm Hollo und Josephine Clare. Reinbek bei Hamburg 1973, 147–148. Pankau, Johannes G.: Berührungen – Rolf Dieter Brinkmann und Gottfried Benn. In: Joachim Dyck [u. a.] (Hg.): Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne 1 [Jahrbuch]. Im Auftrag der Gottfried-Benn-Gesellschaft. Berlin 2009, 93–110. Plath, Nils: Zur »Fortsetzung, Fortsetzung, Fortsetzung, Fortsetzung«. Rolf Dieter Brinkmanns ›Schnitte‹ zitieren. In: Gisela Fehrmann [u. a.] (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 66–85. Röhnert, Jan: »Es grüßt uns sehr / Herr Apollinaire«. Zur Präsenz der französischen Avantgarde in der deutschen Nachkriegslyrik – der Beitrag Rolf Dieter Brinkmanns. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 134 (2004), 129–146. Röhnert, Jan: Der Fächer mit der Aufschrift ›Kleiner Nordwind‹. Die Max-Jacob-Episode von Aragons ›Anicet‹ in der Lesart Rolf Dieter Brinkmanns: Recycling oder Bricolage? In: Arcadia 40/1 (2005), 97–116. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Röhnert, Jan/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Zwei Bde. Berlin/Boston 2012. Robbe-Grillet, Alain: Momentaufnahmen. München 1963.
10 Intertextualität Schmidt, Arno: Berechnungen. Berechnungen I. Berechnungen II. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III. Essays und Biographisches. Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Bargfeld 1995, 101–106, 163–168, 275–284. Smith, R. Charles: Understanding Alain Robbe-Grillet. Columbia 2000.
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Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur TextBild-Montagetechnik. Tübingen 1998. Wirth, Uwe: Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufprfropfung. In: Giesela Fehrmann/Erika Linz/Eckhard Schumacher/Brigitte Weingart (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 18–33.
Sibylle Schönborn
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11 Materialität Brinkmanns ästhetisches Credo führt mit der »Einübung einer neuen Sensibilität«, die sich zugleich auf die Gegenwart und »die riesige Materialfülle dieser Augenblicke« (Brinkmann 1995, 153) konzentriert, in Darstellungsprobleme, die mit Sprache zwar thematisierbar, aber von ihr selbst alleine nicht einlösbar scheinen. Angesichts einer Gestaltung von Gegenwart, die in Momentaufnahmen die authentische Wahrnehmung des Wirklichen thematisiert, reicht Beschreibung nicht aus. Sind akustische Phänomene etwa durch Lautmalerei repräsentierbar, »Klappende Räder: Klick-klack-klick klack« (Erk, 8), so entziehen sich Musik oder taktile Eindrücke der Sprache ebenso wie die Unmittelbarkeit eines Bildes dem abstrakten Wort (Brinkmann 1995, 148). So avanciert die Fotografie, der Film und die Musik bzw. der Song zu alternativen Zugängen einer intermedialen, affektiven Ästhetik, die der Literatur Abstraktion und Konventionalität vorwirft und nach Wegen sucht, unvermittelte Spontaneität und Wahrnehmung zu leisten. Die Sammlung und Collage von Text und Bildmaterial aus der Öffentlichkeit sowie eigene fotografische, akustische und filmische Aufnahmen führen Brinkmann Ende der 1960er Jahre zu einem konsequenten Einbezug der Materialität in seine Texte. War sein erster Gedichtband, Chant du Monde, noch konventionell durch künstlerische Grafiken illustriert, so tritt die Materialität des Montagematerials in Godzilla erstmals konstitutiv hervor und führt in den Materialheften und Collagebüchern Erkundungen, Rom, Blicke und Schnitte zu einer eigenen intermedialen Ästhetik (Schmitt 2012), in der nicht nur ihre Inhalte oder Aussagewerte Relevanz haben, sondern auch Materialität. Sie ist für die seit 1971 angefertigten Materialmappen und den daraus publizierten Montagebücher konstitutiv. Die Materialität von Bildern und auch von Schrift ist in den aus dem Nachlass herausgegebenen Montagebüchern sichtbar gemacht und damit Teil des Werks. Es geht dabei nicht nur um die Frage, was die Text-Bilder oder Bild-Texte inhaltlich aussagen oder bedeuten. Neben dem »Sinn« tritt das Sinnliche, die Materialität der Kommunikation (Gumbrecht/Pfeiffer 1988). Das Verfahren der Collage, das Herausreißen oder Ausschneiden von Material und deren Kombination nutzt, neben eigenen Fotografien, vor allem bereits reproduzierte, also öffentliche Bilder und Texte, etwa aus Tageszeitungen oder Illustrierten, »genau an diesem Schnittpunkt beginnt eine neue, alte, erweitere Art der Literatur« (Brinkmann 1995, 152). Die Colla-
ge kombiniert so nicht nur heterogenes Fremdmaterial zu neuen Sinnzusammenhängen und lässt Text und Bild einander korrespondieren oder kontrastieren, sondern sie zeigt und archiviert das ›Originalmaterial‹ auch in seiner Materialität, etwa den jeweiligen Papier- und Druckformen: Gerasterte Bilder in Tageszeitung, Hochglanzbilder aus Illustrierten, Fotokopien, Postkarten, Quittungen oder Fahrscheine. Brinkmanns Materialhefte überschreiten damit das Paradigma »Buchdruck« und verweisen auf die mediale Vielfalt von Druckformen innerhalb derer das gedruckte Buch in einmontierten Ausschnitten nur eine materialisierte Form bildet. Wenn zudem Schreibmaschinentyposkripte oder handschriftliche Notizen integriert werden (etwa RB, 168; 188: 229), verweist dies auch auf der Textebene auf die Materialität des Schreibens. In Rom, Blicke ist dies nur auf den Collageseiten offensichtlich, da der Text für den Druck eingerichtet wurde, in Erkundungen und Schnitte sind die Typoskripte samt allen Einschreibungen des Schreibprozesses (Tippfehler, Streichungen, Anmerkungen) reproduziert. Literaturtheoretisch stellt die sichtbar gewordene Materialität der Schrift etablierte Hierarchien und Unterscheidungen durchaus vor Probleme (Benne 2015). Nicht zuletzt wird die Ordnung von Text und Illustration aufgelöst in ein Geflecht, in dem ebenso Texte und Schrift als Bild erscheinen wie die Montage von Bildfolgen als Textzusammenhang gelesen werden können. Die in Rom, Blicke etwa als Fotokopie in Bildseiten montierten Texte Arno Schmidts (z. B. RB, 159) sind einerseits Teil der Bildstrecke, andererseits aber lesbarer Text und damit Teil der Geschichte, die Brinkmann erzählt. Eine Durchsicht von Rom, Blicke auf die Materialität von Schrift hin zeigt schnell, dass dem typographisch eingerichteten Drucktext alle möglichen Formen gegenüberstehen: handschriftliche Passagen (z. B. RB, 25; 286), Notizen im Bildmaterial (z. B. RB, 154; 371), eingestreute Typoskripte (z. B. RB, 265), Fotokopien oder auf Postkarten geklebte Schriftzeilen (z. B. RB, 227 ff.). Ebenso ist die Vielfalt der versammelten ›Bilder‹ groß: Fahrkarten und Quittungen werden ebenso wie Postkarten, Tageszeitungsausrisse oder Illustrierte als Bildmaterial verwendet wie auch Kunstwerke (RB, 7), eigene Fotografien und Landkarten (Göllner 2014). Die Collagen Brinkmanns sind in ihrer intermedialen Konfiguration von Text und Bild nicht nur hinsichtlich ihrer Aussagewerte relevant (Petersdorf 2009; Di Bella 2014), sondern verweisen auf ein künstlerisches Verfahren im Umgang mit Fremdmaterial, das seine Vorläufer einerseits in den Collagen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_11
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der Avantgardebewegung von Dadaismus und Surrealismus hat (Spies 1988), andererseits konkret an die Überschreitung der Grenzen von »high and low« in Pop Art und Popliteratur anschließt (vgl. FW, 231), wie sie Brinkmann und Rygulla mit ihrer Anthologie Acid präsentierten. Nicht zuletzt ist auch auf die Tradition von Alben zu verweisen (Kramer/Pelz 2013) und vor allem auf Scrapbooks, in denen, anders als im Tagebuch westeuropäischer Herkunft, das Notizbuch zum Ort der Versammlung eingeklebter Objekte wird, die das Leben und die Wahrnehmung des Autors kreuzen. Brinkmanns Collagenwerke unterscheiden sich allerdings durch ihre dezidiert thematisch und motivisch ausgerichteten Inhalte von dieser Tradition autobiographischen Schreibens. Sie lassen sich sowohl als Tagebuch und/oder Autobiographie lesen, aber auch als kritische Gesellschaftsgeschichte und als Suche nach einer Ästhetik der Literatur als eine »zeit-adäquate Form, die heterogenstes Material zu einem Thema sammeln und miteinander verbinden kann« (FW, 233). Die Funktion der Materialität im Werk Brinkmanns steht einerseits im Kontext eines autobiographischen Schreibens um 1970, in dem ein »authentischer Kommunikationsrahmen« durch die Präsentation von Materialien geschaffen wird (Rupp 1988, 265). Andererseits hat Brinkmann in der Überschreitung der Gattungen Tagebuch, Autobiographie, Roman und Materialsammlung eine bis heute Leser und Literaturwissenschaftler herausfordernde Form der Literatur geschaffen. Die Funktion der Materialität ist dabei nicht auf die Integration von Bildern in Texte zu reduzieren, sondern muss auf drei unterschiedlichen Ebenen reflektiert werden, um die verschiedenen Dimensionen des Materials und seiner Funktionen hervortreten zu lassen.
11.1 Bilder als Bilder »... ich blättere eine Zeitschrift durch [...] auf der Innenseite des Umschlags eine Make-up Reklame« (Brinkmann 1995, 153). Der Einsatz von visuellem Fremdmaterial als integraler Bestandteil der Literatur Brinkmanns ist schon in früheren Werken Brinkmanns zu beobachten. In Godzilla werden Fotografien junger Frauen in Unterwäsche zur Schreibfläche (St, 160–182). Die Bilder entstammen, wie der Untertitel der Originalausgabe notiert, »Plakaten aus der Illustrierten-Werbung« (St, 371). Ihre Verwendung als Schreibfläche verwandelt den Blick. Nicht die von der
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Werbung präsentierte Wäsche, sondern die Körper der Frauen rücken in den Fokus. Indem sie anstelle der weißen Fläche des Papiers zum Träger der Schrift werden, kehren sich Aussage und Funktion der Bilder um. Die Bilder sind weder Illustration des Textes noch erfüllen sie weiterhin die Funktion der Werbung. Der zur Werbebotschaft funktionalisierte Körper der Frauen wird gleichsam re-materialisiert und so die Obszönität ihrer Präsentation als Wäschemodel hervorgehoben. Dies wird durch die Gedichte, die obszön auf die Frauenkörper reagieren, betont. Godzilla deckt damit die Logik des »sex sells« auf. Voraussetzung dafür aber ist die Materialität der Bilder, die als Werbebilder erkannt werden müssen. Wer sie nur als Darstellung halbnackter Frauen sieht, missversteht den Gedichtband pornographisch. Die medienkritische Reflexion, die in ihm angelegt ist, ergibt sich erst durch den Kontext der zum Schreibmaterial gemachten Fotos. Eine Umkehrung der Aussage eines Bildes durch die De- und Rekontextualisierung der Collage lässt sich bei Brinkmann durchgehend beobachten. Die Materialität des montierten Bildes übernimmt dabei eine doppelte Funktion. Sie ist stets konkreter Verweis auf die Realität, auf das Faktische. Zugleich ist sie aber auch Hinweis auf die soziale Konstruktion der Wirklichkeit, die Brinkmann als Konditionierung durch Massenmedien kritisiert. Was thematisch als Kritik der Medien mit Worten oder Begriffen gefasst werden kann, erhält durch die visuelle Materialität der Bilder eine Evidenzfunktion. Es kommt nicht nur auf den Inhalt der Bilder an, sondern auch darauf, dass sie etwa aus einer Tageszeitung stammen oder eine Ansichtskarte zeigen. Das ›vor Augen stellen‹, in dem die rhetorische Figur der Evidenz ihre Kraft entwickelt, erscheint hier nicht als Erweckung von Imagination durch Worte, sondern als konkretes Bild aus einem konkreten Kontext. Brinkmann nutzt die Form der Collage nicht nur als Kombination heterogener Fremdmaterialien zu Konstruktion neuer Sinnzusammenhänge. Das Verfahren der Collage ist immer auch Verweis auf Herkunft und Materialität des Materials. Denn Collagen zeigen gleichsam an, dass sie ausschneiden und neu kombinieren. Man kann die sauberen Scherenschnitte oder die unsauberen Ausrisse – etwa in Schnitte – deutlich sehen. Das Collagierte erinnert so stets auch an den Kontext, dem es entnommen wurde, auch wenn dieser nicht konkret bekannt ist. Erinnert wird damit an den Status und an die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge etwa von Schlagzeilen oder Werbung. Die typi-
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sche Rasterung der Fotografie aus Tageszeitungen bleibt sichtbar und wird so zu einem Verweisungszusammenhang. Bildtheoretisch gefasst zeichnen sich Brinkmanns Collagewerke dadurch aus, dass sie den Begriff der Illustration unterlaufen. Die Bilder illustrieren nicht, was im Text gesagt wird. Sie verweisen vielmehr durch ihre Materialität auf die zeitgenössische Realität und öffnen in ihren Kombinationen eigene Bedeutungszusammenhänge. Ihre Funktion ist damit einerseits die eines Archivs und der Dokumentation. Andererseits werden Aussagen im neuen Kontext jedoch verschoben und strukturelle Ähnlichkeiten von Motiven sichtbar gemacht. Die Materialität ist dabei entscheidend, das einzelne Bild als Information ist ein Stellvertreter für zahllose ähnliche Bilder der Tagesnachrichten. Wo aber etwa eine Schlagzeile aus der Zeitung einmontiert wird, ist deren Aussagekraft eine andere, als wenn Brinkmann den Satzinhalt selbst hinschriebe oder nur zitierte. Die Kenntnis der konkreten Quellen, aus dem das Material entnommen wurde, mag dabei weitere Aufschlüsse versprechen, ist jedoch für den Verweiszusammenhang insgesamt nicht notwendig. Zeitungen und Werbeanzeigen, eigene Fotografien, Fahrscheine, auch Münzen und Geldscheine werden so zu Beweisstücken. Ihre Verwendung als Bildmaterial stellt die gesellschaftskritischen Themen Brinkmanns damit in einer Form vor Augen, die darauf verweist, dass diese gerade durch ihre mediale Repräsentation verdeckt werden. Brinkmann rekonstruiert eine Geschichte der Verdrängung von Angst, Gewalt und Sexualität durch die Präsenz von Angst, Gewalt und Sexualität in der Gesellschaft. Die Materialität des Collagematerials erlaubt es, die im alltäglichen Kontext nur untergründig wahrgenommenen Motive in den Vordergrund zu stellen. Die ausgewiesene Materialität zielt nicht zuletzt nie nur auf ein Ereignis, sondern auf die Struktur der Repräsentation in der öffentlichen Wahrnehmung.
11.2 Die Krümel des Realen Die Funktion der Materialität ist eng mit Brinkmanns poetologischem Credo für eine »neue Sensibilität« verbunden. Die Wirklichkeit soll möglichst ungefiltert wahrgenommen werden, eigenständig, ohne die Zurichtung durch Begriffe oder Leitbilder der Gesellschaft. Dies impliziert eine Veränderung des Literaturbegriffs. Anders als andere Programme des Realis-
mus soll auch das verdrängte Hässliche und Banale aufgenommen werden. Gegenstand von Lyrik sei nicht mehr länger das Hohe und Symbolische, sondern »ein paar Krümel auf der Armlehne« (Brinkmann 1995, 148). Die hiermit ausgesprochene Funktion von Resten gibt dem Begriff der Materialität eine weitere Dimension. Sie geht nicht darin auf, dass Brinkmann das Hässliche und Alltägliche fotografiert. Als Gegenbegriff zum Geistigen führt Materialität vielmehr die Widerständigkeit des Konkreten ein. Brinkmann betont, dass, insbesondere Lyrik, sich dem Alltäglichen öffnen soll: »Ich bin keineswegs der Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt« (Die Piloten, St, 185). Das aber heißt, dass alles zum Material werden kann. Anders aber als in der Symbolsprache der Dichtung erfordert die Aufmerksamkeit auf das noch banalste Detail eine Erfassung der konkreten Materialität. Brinkmanns Plädoyer für eine neue Sensibilität wird zu einer Phänomenologie des Alltags. Der Wahrnehmung steht dabei aber die massen- und multimediale Realität zur Seite und überlagert sie. Brinkmann verweist auf Gottfried Benns Wort von den »Gelegenheiten« (FW, 238) und auf eine Ästhetik, die diese auf neue Weise nutzt: »eine sich andeutende Erweiterung der Kunst, deren Formen sich nach dem vorgefundenen Material richteten« (FW, 230). Dass Brinkmann die Momentaufnahme der Fotografie als ästhetisches Modell, neben dem »Erinnerungsfilm« (Brinkmann 1995, 151), für seine Literatur favorisiert, fügt dem vorgefunden Material den eigenen medientechnischen Umgang hinzu. »Material« und »Gelegenheiten« kulminieren in der Aufnahme des Realen im Ausschnitt, Brinkmann macht Tonbandaufnahmen, fotografiert und filmt. Dass dem »Snapshot« dabei eine besondere poetologische Rolle zukommt, ist in der Medialität der Fotografie begründet. Fotografie kennt keine Unterschiede zwischen Details, das Unbedeutende wird ebenso detailgetreu aufgenommen wie das Bedeutende. So kann Fotografie als Vorbild einer ungefilterten Realität erscheinen, auch wenn diese u. a. durch Ausschnitt und Belichtung gestaltet wird. Absichtslose Details erscheinen, die der Wahrnehmung im Alltag entgehen. Erst die Materialität des Fotos lässt diese betrachten. Fotografie kann sich so, gerade im spontanen »Snapshot«, den sozialen Sehgewohnheiten und ihren Hierarchien widersetzen. Brinkmanns Momentaufnahmen stellen diese Qualität des Fotografischen heraus und lassen das, »was abfällt« zum Material werden.
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11.3 Materialität der Medientechnik Neben diesen beiden Ebenen des Materialbegriffs muss die Materialität des Medialen als dritte Perspektive reflektiert werden. Nicht zuletzt werden Medien als Material in ihrer Materialität zu einem Gegenstand Brinkmanns literarischer Reflexion und Praxis. Es geht hierbei nicht nur um eine Wiederverwendung von Medien, sondern Brinkmanns Umgang zeigt zwei produktive Überschreitungen des üblichen Mediengebrauchs. Während die erste in Sammlung, Collage und Montage die Aktivität einer eigensinnigen Verwendung gegen die Passivität des Konsums bedeutet, wendet die zweite den Gebrauch von Medientechniken rekursiv auf ihre Materialität zurück. In Tonbandaufnahmen experimentiert Brinkmann mit Geräuschen, er kratzt am Mikrophon, nimmt unartikulierte Laute auf oder Verkehrslärm (Morgenroth 2009; Binczek 2012). Seine Fotografien zeigen Unschärfen, verwackelte Bilder, in denen die Spontaneität Priorität vor dem gelungenen Bild hat. Der Film ist für Brinkmann nicht nur Anregung im Kino (Röhnert 2007), sondern der eigene Umgang mit 8 mm-Filmen bringt eine Beschäftigung mit sich, die Filmstreifen manuell mit Schere und Klebestreifen montiert und so auf die materiale Ebene vor dem kontinuierlichen Filmeindruck blickt. All dies sind Hinweise darauf, dass Brinkmanns Umgang mit Medien diese nicht in ihren zentralen kulturellen Funktionen nutzt, sondern deren Medialität reflektiert (Fauser 2011). Burroughs’ Cut-ups sich überlagernder Tonbandaufnahmen als eine Form der »écriture automatique«, aber auch McLuhans Medientheorie mögen hier Anregungen für die eigene Praxis gegeben haben. McLuhans Theorem, »the medium is the message«, lässt Medien nicht mehr als neutrale Übertragungskanäle für Inhalte begreifen, sondern stellt ihre je spezifische Form und Wirkung heraus. Um der »narkotischen« Wirkung von Massenmedien zu entkommen, hat McLuhan explizit die intermediale Montage als künstlerisches Verfahren empfohlen (McLuhan 1970, 63).
11.4 Ausblick: Reproduzierte Materialität Die Reflexion über Status und Funktion von Materialität für das Werk Brinkmanns weist literatur- und medientheoretisch über die bisher geleisteten Ansätze unter den Paradigmen der Popkultur und der Intermedialität hinaus. Medientheoretisch überführt der Gebrauch von Apparaten und Medientechniken gegen
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den Strich, d. h. gegen ihre kulturelle Normalfunktion, ihre Nutzung wie ihre Rezeption in eine ästhetisch produktive Form, die eine kritische Reflexion impliziert, indem sie die Funktionsweise von Medien aufdeckt. Die kulturellen Normalfunktionen, der Filmgenuss im Kino, die ästhetisch wertvolle Fotografie oder das Werbebild, die rauscharme Studioaufnahme von Stimme oder Musik, zeigen sich als hochgradig arrangierte Kunstprodukte, in denen die Bedingungen ihres Entstehens und ihrer Medialität, das Rauschen und die Störung, herausgefiltert worden sind. Indem Brinkmann am Mikrophon kratzt oder Atemgeräusche aufnimmt, thematisiert er medientheoretisch das Aufnehmen des Aufnehmens. Die inzwischen publizierten »Originaltonaufnahmen« oder die Verfilmung des »medialen Nachlasses« haben diese Dimension Brinkmanns Werk deutlicher werden lassen (Brinkmann 2005; Bergmann 2006). Literaturtheoretisch relevant wird die Thematisierung solcher Materialität der Kommunikation bei der Reflexion – auch für aktuelle Leser – über die kulturellen und materiellen Bedingungen der Literatur. Der gedruckte Text, in ästhetisch ansprechend gesetzter typographischer Form, ermöglicht eine optimale Lesbarkeit und wertet das gedruckte Buch als ästhetisches Objekt auf. Doch die Materialität der Schrift verschwindet dabei hinter der Funktion der reibungslosen Übermittlung von Schriftzeichen zu Bedeutungen. Allenfalls Typographen, die Schriftformen, Abstände und Anordnungen reflektieren, nehmen die Unterschiede, die es für typographisch gesetzte Seiten gibt, aktiv wahr (Reuß 2014). Indem Brinkmanns Collagen die schöne Ordnung der Buchseite aufbricht und seine Leser mit der Vielfalt von Schriften und Bildern konfrontiert verweist er auf eine materiale Dimension des Schreibens, die im gedruckten Buch dem Leser entzogen ist: statt ›Reinschrift‹ spontane Notizen, Schreibfehler, Gestrichenes und Korrigiertes. Dies bringt literaturtheoretisch alle Fragen der WerkKategorie ins Spiel, Fragen ›erster Hand‹ oder ›letzter Hand‹, mit der sich normalerweise nur Editionsphilologen beschäftigen und die in der Literaturwissenschaft in ihrer Konzentration auf das edierte Buch lange Zeit als nicht relevante Dimension der Materialität von Texten ausgeschlossen waren (Benne 2015). Gerade unter den heutigen Bedingungen eines Medienwechsels vom gedruckten zum digitalisierten Text erscheint die Notwendigkeit einer solchen Reflexion jedoch geboten. Zugleich erweist sich Brinkmanns Schreibweise in den Montagebüchern als kritische Reflexion von Authentizität. Die Materialität der repro-
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duzierten Vorlagen verweist vielmehr auf die massenmedialen Bedingungen, in die das authentische Erleben eingefasst ist und auf die es reagiert. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 147–155. Brinkmann, Rolf Dieter: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. 5 CDs. Hg. von Herbert Kapfer und Katharina Agathos. Unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann. München 2005. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts: Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Frankfurt a. M. 2015. Bergmann, Harald: Brinkmanns Zorn. 4 DVDs. Berlin 2006. Binczek, Natalie: Das Material ordnen: Rolf Dieter Brinkmanns akustische Nachlassedition Wörter Sex Schnitt. In: Thomas Wegmann/N. C. Wolf (Hg.): »High« und »Low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Göttingen 2012, 57–81. Di Bella, Roberto: »...das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2014. Fauser, Markus (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011. Göllner, Sebastian: Das Bild bedrängt das Wort. Rolf Dieter Brinkmanns visuelles Konzept am Beispiel der Abbildungen und Fotografien in »Rom, Blicke«. Marburg 2014.
Gumbrecht, Hans Ulrich/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988. Kramer, Anke/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen 2013. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Frankfurt a. M. 1970. Morgenroth, Claas: Sprechen ist Schreiben auf Band. Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandarbeiten. In: Martin Stingelin/Matthias Thiele (Hg.): Portable Media. München 2009, 123–147. Petersdorff, Dirk von: Intermedialität und neuer Realismus. Die Text-Bild-Kombinationen Rolf Dieter Brinkmanns. In: Wolf Gerhard Schmidt/Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin 2009, 361–377. Reuß, Roland: Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches. Göttingen 2014. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Rupp, Gerhard: Körper-Konzept und sinnliche Erfahrung in frühen Autobiographien der (Post-)Moderne. In: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, 252–266. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an der Schnittstelle von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Spies, Werner: Max Ernst Collagen. Köln 1988.
Matthias Bickenbach
12 Intermedialität I: Foto, Kunst, Comic
12 Intermedialität I: Foto, Kunst, Comic Das Arbeiten in und mit verschiedenen Medien und Künsten ist zentral für Brinkmanns Werk: Er schrieb nicht nur literarische und essayistische Texte, sondern malte und zeichnete auch, fotografierte, produzierte Hörspiele (s. Kap. 41), machte Super-8-Filme (s. Kap. 44–46) und Tonbandaufnahmen (s. Kap. 42, 43). Von seinen ersten bis zu seinen letzten Arbeiten interessierte er sich besonders für die Unterschiede zwischen den Medien und die Möglichkeiten, wie diese produktiv gemacht werden können: »Es ist so, daß es sicherlich Grenzen gibt, die zeigen, daß Medien, was ihre Veränderung anbelangt oder die Möglichkeiten ihrer Veränderung, bis zu einem gewissen Grad sich sozusagen parallel ergänzen, ohne sich jemals zu berühren« (Brinkmann im Interview mit Schröder 1984, 289). Als Anderes der Sprache sind die visuellen (ebenso wie akustischen) Künste und Medien zentraler Bestandteil der Poetik und Ästhetik Brinkmanns und stehen im Kontext seiner fundamentalen, oft drastischen Sprachkritik, die sein gesamtes Werk durchzieht (s. Kap. 5): Seine Poetik (s. Kap. 15) ist gekennzeichnet von einer Aversion gegen das Abstrakte, Starre, Konventionelle, Zerebrale der Sprache und dem Bemühen, sprachliche Muster, Klischees und Automatismen und die damit einhergehenden stereotypen Vorstellungs- und Erlebnisweisen zu durchbrechen. Visuelle und akustische Medien und Künste bieten hier alternative Ausdrucksund Rezeptionsweisen und andere Modi der Wahrnehmung, der Empfindung und des Bewusstseins, die Brinkmann insbesondere bezogen auf ihr Verhältnis zur Sprache und die von ihnen ausgehenden Impulse, diese zu erweitern, zu modifizieren und zu erneuern, künstlerisch-praktisch erprobt und theoretisch-konzeptionell reflektiert. Intermedialität findet sich in Brinkmanns Werk einerseits in Form von intermedialen Bezügen, als Einzel- oder Systemreferenzen, und andererseits in Form von Medienkombinationen zwischen zwei oder auch mehreren Medien; einbezogen werden sowohl visuelle Medien wie Fotografie, bildende Kunst und Comic als auch audiovisuelle Medien wie Film (s. Kap. 13) und akustische Medien wie Musik (s. Kap. 14). Brinkmanns praktischer wie theoretischer Fokus auf Multi- und Intermedialität steht im Kontext zeitgenössischer kultureller Entwicklungen und Debatten: Angesichts der zunehmenden Bedeutung technischer (Massen-)Medien und des Aufkommens einer primär
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musikalisch und bildkünstlerisch fundierten Popkultur (s. Kap. 14) steht die Rolle der Literatur als Leitmedium zur Disposition, sei es in den politisch grundierten Debatten der BRD nach 1945 über die Legitimation von Literatur nach dem Faschismus oder um 1968 über den ›Tod der Literatur‹ als Medium der gesellschaftlichen Veränderung (s. Kap. 2.1 und 2.3), sei es in den postmodernen Thesen Marshall McLuhans vom ›Ende der Gutenberg-Galaxis‹ oder Leslie Fiedlers vom zeitgemäßen Crossover zwischen den Künsten und Medien (s. Kap. 7). Explizit oder implizit diese Strömungen aufgreifend, setzt sich auch Brinkmann mit dem medialen Wandel auseinander und begrüßt mediale Hybridisierungen, ohne dabei die Literatur pauschal für obsolet zu erklären, sondern vielmehr das Potential medialer Grenzverschiebungen und -überschreitungen betonend: »Vermischungen finden statt – Bilder, mit Wörtern durchsetzt, Sätze, neu arrangiert zu Bildern und Bild-(Vorstellungs-) zusammenhängen, Schallplattenalben, aufgemacht wie Bücher ... etc.« (FW, 228). In Abgrenzung von der deutschsprachigen Literatur seiner Zeit, die er als zu akademischintellektuell und hochkulturell, zu dogmatisch und selbstbezüglich, zu vergangenheitsorientiert und zu wenig international ablehnt, sieht er diese medialen Neuerungen, Verschiebungen und Vermischungen – ähnlich wie Intertextualität (s. Kap. 10) – als willkommene Möglichkeit, sich von der Beschränkung des Autors auf das Ausdrucksmittel Sprache und der Erwartung an schöpferische Originalität zu befreien, seine Arbeiten offener und mehrschichtiger zu gestalten und auch dem Publikum freiere, eigenständigere und ganzheitlichere Rezeptionsweisen zu eröffnen. Mit dem Erstarken der Intermedialitätsforschung seit den 1980er Jahren hat auch die Brinkmann-Forschung diesen Aspekt seines Schaffens zunehmend in den Blick genommen und seine besonderen Leistungen auf diesem Gebiet betont: »Brinkmanns Relevanz [liegt] gerade in seiner intermedialen Technik und Lesbarkeit« (Moll 2006, 15). In zahlreichen Studien werden insbesondere die Text-Bild-Beziehungen in seinen Arbeiten als »neuer Paragone« (Steinaecker 2007, 93) eingehend untersucht (vgl. z. B. Göllner 2014; Schmitt 2012; Steinaecker 2007; Strauch 1998; Urbe 1985). Während weitgehend Konsens darüber besteht, dass Visuelles bei Brinkmann als »positive[r] Gegenbegriff« zur Sprache fungiert (Bergmann/Fiedler 1999, 13), der mit Attributen wie Sinnlichkeit, Konkretheit, Offenheit, Unmittelbarkeit, Gegenwart, Alltag, Unkonventionalität und Antielitarismus assoziiert wird (vgl. z. B. Steinaecker 2007, 93; Weingart
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_12
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2005, 220), herrscht Uneinigkeit darüber, ob dieser positive Bildbegriff in den 1970er Jahren in einen die massenmediale Reizüberflutung und die kapitalistischen Verwertungszusammenhänge akzentuierenden kritisch-ablehnenden umschlägt (vgl. z. B. Ehrlicher 2002, 287; Göllner 2014, 318 f.; Steinaecker 2007, 127 und 150; Urbe 1985, 186 f.). Mit ›Bild‹ bezeichnet Brinkmann, der sich Hartmut Schnell gegenüber als »ein visueller Typ« (BrH, 126) beschreibt, einerseits Imaginäres – »Bild = Image, Vorstellung, Eindruck« (Einübung, 154) –, andererseits unbewegte oder bewegte visuelle Darstellungen – »Bild: 1 Schnappschuß, Momentaufnahme« (BrH, 134) und »ein Film, also Bilder [...] flickernd und voller Sprünge« (FW, 223). Bilder erscheinen ihm als besonders geeignet, Subjektivität und Realität zu erfassen und, als deren Schnittstelle, deren Verhältnis zueinander zu thematisieren, weshalb Bildlichkeit in diesem Sinne, in Abgrenzung zu traditionellen Konzepten von Sprachsymbolik, zu einem Leitkonzept seiner Poetik der kurzen Gedichte als literarische ›snap-shots‹ (vgl. »Notiz« zu Piloten) und von Langgedichten und Prosa als »Film in Worten« avanciert. Intermediale Bezüge zwischen Text und Bild finden sich in Brinkmanns Werk in unterschiedlichen Formen: So gibt es zahlreiche Gedichte, die ›Bild‹, ›Foto‹, ›Comic‹ oder ähnlich betitelt sind, z. B. »Kurzzeiliges Bild«, »Geschlossenes Bild« und »Photographie« in Chant du Monde, »Bild« in &-Gedichte, »Einfaches Bild« in Was fraglich ist wofür, »Das Bild« in Godzilla, »Ein bestimmtes Bild«, »Nichthinauslehnen / 2 ländliche Bilder«, »Daguerreotype von William Cody i. e. Buffalo Bill«, »Eine übergroße Photographie von Liz Taylor«, »Comic No. 1« und »Comic No. 2« in Piloten, »Bild« und »Photos machen« in Standphotos, »Bild« in Gras und »Fotos 1, 2« in Westwärts 1&2; daneben gibt es weitere auf Malerei oder Fotografie referierende Gedichte wie etwa »Chagall« in Vorstellung meiner Hände, »Nature morte« in Chant du Monde, »Einmal« in Was fraglich ist wofür, »Schauspielerin« in Gras und »Schlaf, Magritte« in Westwärts. Diese Gedichte sind seltener Ekphrasen im engeren Sinne, die sich auf ein konkretes Bildkunstwerk beziehen und dieses beschreiben, jedoch können sie in diese Tradition gestellt werden, geht es Brinkmann doch »bei seinen textuellen ›Schnappschüssen‹ darum, ›die Zeigefähigkeit der Sprache‹ zu steigern und damit letzten Endes um die Umsetzung der altehrwürdigen Begriffe der Vergegenwärtigung aus der antiken Rhetorik: der Enargaia und der Evidentia« (Steinaecker 2007, 109). Weniger offensichtliche, jedoch umso radikalere For-
men der intermedialen Bezugnahme auslotende Ansätze stellen die unmarkierten Systemreferenzen von Text auf Bild und Bild auf Text dar: Die charakteristische typographische Gestaltung der bildfreien Texte etwa in Piloten, Standphotos und Westwärts, die in der Tradition visueller Poesie besonders Guillaume Apollinaires und Frank O’Haras stehen, betont durch die Anordnung der Schrift auf der Seite, den Einsatz von Umbrüchen, Einzügen und Leerzeilen, von unterschiedlichen Schrifttypen, -größen und -auszeichnungen die visuelle Qualität der Texte und nähert so konzeptionell die Literatur den bildenden Künsten an (vgl. Greif 2011; Lehmann 1995). Umgekehrt rekurrieren die von Brinkmann aus eigenen Schwarzweiß-Fotos zusammengestellten textfreien Fotofolgen Wie ich lebe und warum (s. Kap. 45) und Chicago (s. Kap. 46) auf Narrativität, und sei es nur durch die Infragestellung klassischer Narration (vgl. z. B. Göllner 2014, 226 und 304–311; Lehmann 1995, 192; Moll 2006, 135; Paul 2011, 206): »Literatur reflektiert er hier in einem anderen Medium als das, was sie tatsächlich für ihn ist: als ›Bild‹, das die Kamera seiner Sensibilität der Umwelt entnimmt, verändert und reproduziert« (Matthaei 1970, 9). Ebenso zahlreich und vielfältig sind in Brinkmanns Werk Medienkombinationen aus Text und Bild, die zudem häufig mit den genannten intermedialen Bezügen verknüpft sind, so dass sich insgesamt ein sehr großes und oft vielschichtiges Spektrum an intermedialen Formen zeigt. Eher selten finden sich in Brinkmanns Publikationen von anderen Künstlern speziell angefertigte Illustrationen, mehrheitlich dienen ihm als Bildquellen einerseits in massenmedialen Printerzeugnissen wie Tageszeitungen, Zeitschriften, Büchern und Werbeprospekten oder auf Ansichtskarten vorgefundene Fotos, Illustrationen und Comics, andererseits eigene Instamatic-Fotos und Zeichnungen. Bei den Kombinationen erprobt Brinkmann gestalterisch unterschiedliche Grade der Annäherung von Text und Bild: In einigen Arbeiten sind Text und Bild getrennt, so dass die Bilder eher wie Paratexte erscheinen, wie etwa die vier Radierungen von Emil Schumacher auf Extraseiten in Chant du Monde (s. Kap. 16.7), die von Brinkmann angefertigte Cover-Collage, die drei »vom Autor übersetzten ironisierten Comics aus der literarischen Szene in New York« (St, 371) sowie die zwei Seiten aus Joe Brainards C-Comics in Piloten (s. Kap. 19) oder auch die Fotocollagen zu Beginn und am Ende von Westwärts 1&2. Vielfach sind Bilder in den Text montiert und bilden einen integralen Bestandteil der Arbeit, so beispielsweise die sechs Grafiken von Mar-
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tin Dürschlag in &-Gedichte sowie die vorgefundenen und eigenen Bilder z. B. im Langgedicht Vanille, in den Essays Flickermaschine, Die Lyrik Frank O’Haras, Nachwort Silverscreen und Unkontrolliertes Nachwort, in der Acid-Anthologie und auch auf vielen Seiten der Materialbände Rom, Blicke und Erkundungen. Auf die Spitze getrieben wird die gestalterische Annäherung von Text und Bild beispielsweise in den auf Farbfotos aus Wäsche-/Bademodenkatalogen gedruckten Gedichten in Godzilla, den auf transparente PVC-Folie gedruckten Gedichten über vier Farbätzungen von Karolus Lodenkämper in Standphotos und einigen der Collagen im Materialband Schnitte. Darüber hinaus finden zusätzlich auch im Detail auf den Bildern selbst vielfach Vermischungen mit Schrift statt, so wenn die ›objets trouvés‹ Zeitungsannoncen, Briefe oder Rechnungen sind oder wenn auf den fremden oder eigenen Fotos Schriftzüge etwa auf Schildern oder an Gebäuden zu sehen sind. Wie Text und Bild sich dabei jeweils zueinander verhalten, ist, der Vielzahl und Vielfalt der Kombinationen gemäß, höchst unterschiedlich – sie bestätigen und komplementieren, kommentieren und widersprechen sich. Einige der Text-Bild-Kombinationen Brinkmanns stehen in der Tradition mittelalterlicher und barocker Emblematik (vgl. Moll 2006, 185– 198; Steinaecker 2007, 157–159), auch Anregungen durch die Collagen des Dada und Surrealismus, die ›second order‹-Ästhetik der Pop Art sowie William S. Burroughs’ Cut-Up sind erkennbar, ebenso zeigt sich die Nähe zu zeitgenössischen medial grenzüberschreitenden Arbeiten wie dem auch gestalterisch einflussreichen The Medium is the Massage von McLuhan und Quentin Fiore, Ferdinand Kriwets ›Sehtexten‹ und Wolf Vostells intermedialen Arbeiten sowie die Inspiration durch zeitgenössische Zeitschriften wie Life und Twen und durch Werbeästhetik (vgl. z. B. Steinaecker 2007, 111–114; Weingart 2005). In der Gesamtschau der Werke Brinkmanns zeigt sich eine durchgehende theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Multi- und Intermedialität, wobei sich gewisse Verschiebungen hinsichtlich der präferierten Künste und Medien, der Verwendung von eigenem und fremdem Bildmaterial sowie des Verhältnisses von Text und Bild beobachten lassen, ohne dass dies notwendigerweise einer stringenten Programmatik folgt: In den frühen 1960er Jahren sind Brinkmanns eigenes bildkünstlerisches Schaffen (vgl. die Aquarelle und Tuschezeichnungen in Brinkmann 1995, 2, 12, 41, 145, 165 und 208 f.) wie auch die intermedialen Referenzen und Medienkombinationen noch vorrangig auf nicht technisch-massenmediale
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Kunst ausgerichtet, welcher er sich dann in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre dezidiert zuwendet, wodurch dann, neben Film und Musik, Fotografie und Comic relevant werden; Letzterer tritt jedoch in den 1970ern wieder in den Hintergrund, während Fotografie und Film bis zuletzt zentral bleiben und auch die bildenden Künste wieder häufiger thematisiert werden (vgl. z. B. den Essay Der Maler Günther Knipp und die zahlreichen kunsthistorischen Referenzen in Rom, Blicke). Was die Herkunft der Bildquellen betrifft, so verwendet Brinkmann – bis auf das Selbstporträt in Vanille sowie die Covercollage und die Comics in Piloten (die jedoch auf vorgefundenem Material basieren) – in den Arbeiten der 1960er Jahre ausschließlich fremdes Bildmaterial; erst ab 1970 kommen eigene Fotos hinzu, in späten Arbeiten wie Westwärts oder den Fotostrecken Wie ich lebe und Chicago verwendet er sogar ausschließlich eigene Fotos (vgl. zur fotografiegeschichtlichen Einordnung und zur Ästhetik der Fotos Brinkmanns Göllner 2014, bes. 109–139 und 195–250). Schließlich lässt sich eine Tendenz von der Sprache als dominantem Medium sowie einer deutlichen Trennung von Text und Bild in den frühen Arbeiten hin zu einer immer stärkeren Präsenz der Bilder und einer Hybridisierung von Text und Bild in den Arbeiten der Pop-Phase (vgl. Weingart 2005) und den späten Materialbänden (vgl. z. B. Göllner 2014; Gross 1993; Herrmann 1999; Moll 2006; Strauch 1998) beobachten, die als Indiz einer schriftstellerischen Krise und künstlerischen Umorientierung gedeutet, aber auch als fortgesetztes Arbeiten an und mit den Grenzen von Text und Bild und den Möglichkeiten von Intermedialität verstanden werden kann. Literatur
Bergmann, Harald/Ralf Fiedler: Der neue Westen. Bemerkungen zu Burroughs’ und Brinkmanns Cut-up Seiten. In: Delf Schmidt/Michael Schwidtal (Hg.): Literaturmagazin 44. Prag – Berlin. Libuše Moníková. Reinbek bei Hamburg 1999, 9–25. Brinkmann, Maleen (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995. Ehrlicher, Hanno: Ästhetik der Entblößung. Rolf Dieter Brinkmanns literarische Nacktheitsinszenierungen zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie. In: Kerstin Gernig (Hg.): Nacktheit. Ästhetische Inszenierung im Kulturvergleich. Köln/Weimar/Wien 2002, 273–299. Göllner, Sebastian: Das Bild bedrängt das Wort. Rolf Dieter Brinkmanns visuelles Konzept am Beispiel der Abbildungen und Fotografien in »Rom, Blicke«. Marburg 2014. Greif, Stefan: Schreiben gegen das ›ptolemäische Weltbild‹. Hybride Schrift-Bilder und Piktographie im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität
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der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 157–174. Gross, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns (= Metzler-Studienausgabe). Stuttgart 1993. Herrmann, Karsten: Bewußtseinserkundungen im »Angstund Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher. Bielefeld 1999. Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 182–197. Matthaei, Renate: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970, 7–10. Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt a. M. u. a. 2006. Paul, Morten: Redundante Wiederholungen, wiederholte Redundanzen. Ein Lektürevorschlag zu Rolf Dieter Brinkmanns Schnitte. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der
Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 193–212. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Schröder, Jörg: Interview mit einem Verleger (à la Paris Review Interview). In: Ders. (Hg.): Mammut. März Texte 1&2. Herbstein 1984, 283–296. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur TextBild-Montagetechnik. Tübingen 1998. Urbe, Burglind: Lyrik, Fotographie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a. M. u. a. 1985. Weingart, Brigitte: In/Out. Text-Bild-Strategien in Pop-Texten der sechziger Jahre. In: Wilhelm Voßkamp/Dies. (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. Köln 2005, 216–253.
Charis Goer
13 Intermedialität II: Film
13 Intermedialität II: Film Er sei »ein optisch orientierter Typ« (BrH, 128), der es genieße, über Oberflächen zu gleiten, schreibt Brinkmann über sich selbst in Briefe an Hartmut. Zwischen 1962 und 1966 sei er »dauernd in die Spätvorstellungen gegangen um 1/2 nach 11« (BrH, 41). Brinkmann wurde damals Mitglied des Kölner-Filmclubs XSCREEN, verteidigte dessen oft provokantes Programm gegen öffentliche Angriffe und kannte neben den Hauptwerken der Nouvelle Vague auch die Experimentalfilme der New Yorker UndergroundSzene. Mit der Zeit trat neben den Kinogänger der Filmemacher: »den Sommer 1968 verbrachte ich mit Super-8-Filmen in der Stadt« (Erk, 257), notiert Brinkmann in einem Tagebuch, das später unter dem ausgreifenden Titel Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand veröffentlicht wurde. Schon am Rande der Frankfurter Buchmesse 1968 wurden in einer Galerie fünf seiner Super 8 mm Filme vorge führt: »zwischen 1/2 Stunde und 11/2 Stunden« (BrH, 113). Doch im Winter 1969 verlegte Brinkmann sich auf das Fotografieren (vgl. BrH, 81 f.). Nun zog er mit einer Instamatic und einem Tonbandgerät durch Köln (vgl. Agathos 2007, 3 f.) oder experimentierte in seiner Wohnung mit Lauten und Geräuschen. Daraus folgt jedoch nicht, dass Brinkmann sein Interesse am Kino verloren hätte – eher ändert sich um diese Zeit die Filmkultur, was bei ihm zu einer neuen Einstellung ihren Produkten gegenüber führt. Zudem gehören Momentaufnahmen oder Schnappschüsse, wie man sie mit einem Fotoapparat macht, aus historischen wie systematischen Gründen zum kinematographischen Dispositiv: Ein Film kann Zustände ebenso wie Vorgänge, Bewegungslosigkeit wie Bewegtheit veranschaulichen; er besteht nicht nur aus Schwenks oder Kamerafahrten, sondern auch aus Standbildern. All diese Elemente des kinematographischen Dispositivs werden von Brinkmann mit den Formen der poetischen Sprache verschränkt und schließlich um das Display der ›Schalttafel‹ ergänzt. Die Entwicklung setzt mit Gedichten ein, die ›snap-shots‹ ähneln, führt zum ›Film in Worten‹, wird mit der Schnitttechnik des Cutups verbunden und lässt den Lyrik-Band Die Piloten (1968) geradezu als »Kinobuch« (Röhnert 2007, 325) erscheinen: die in diesem Band versammelten Texte und Text-Bild-Arrangements vergegenwärtigen anhand von Schauspielerinnen- und Schauspieler-Namen, Film-Titeln oder einzelnen Szenen die auf Celluloid gebannte Bilderwelt respektive das von dieser Welt geprägte Bewusstsein. Wenn man in Brinkmann
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aufgrund der Filme und Tonbänder, die er hinterlassen hat, vor allem aber aufgrund seines kinematographischen Schreibens heutzutage einen »multimedialen Chronisten« (Agathos 2007, 3) sieht, sollte man allerdings zweierlei bedenken: Erstens protokolliert und reflektiert Brinkmann in seinen literarischen und audiovisuellen Aufzeichnungen Zustände und Vorgänge unter den Zeichen der Mediendivergenz, nicht der inzwischen selbstverständlich gewordenen Medienkonvergenz. Filmkamera und Tonbandgerät, Fotoapparat und Schreibmaschine waren für ihn mechanische Geräte ohne unmittelbare Rückkopplung, die analog funktionieren und daher in ihrer Wechselwirkung auch keine MashUp-Produkte wie im digitalen Zeitalter ergaben. Vielmehr musste sich der Autor mit Schere und Klebestoff bewaffnen, um Textcollagen, Fotoromane oder Tagebücher und Reisejournale mit Zeitungsausrissen, Postkarten und Handzeichnungen herzustellen. Für die Erstausgabe seiner Standphotos (1969) im Duisburger Verlag von Guido Hildebrandt arbeitete Brinkmann mit dem Künstler Karolus Lodenkämper zusammen, der vier zweiteilige Farbätzungen beisteuerte. Die ›Blätter‹ im Din A4-Format bestanden aus rauer PVC-Folie, »so dass beim Blick auf die einzelnen Textseiten bereits die Gedichte der folgenden Seiten durchscheinen und teilweise mitgelesen werden konnten.« (Röhnert 2007, 346) Sieht man in dieser Machart einen Ausdruck jener »transmedialen Praxis der Schrift« (Gropp 2006, 296), die Petra Gropp an der Cut up-Technik (William Burroughs) festgemacht hat, die ihrerseits Anleihen bei der Collage der Bildenden Künste (Boris Groys) und der Film-Montage genommen hatte, ist das Ergebnis gerade darin aufschlussreich, dass mit der Differenz der Materialien auch die Eigenart der einzelnen Medien zu Tage tritt: der Linearität der Schrift, die nicht transparent sein darf, um lesbar zu bleiben, kontrastiert die PVC-Folie, die sowohl für die Lichtdurchlässigkeit der Kamera als auch für die Schaufenster- und Guckkastenscheiben steht, durch die der Dichter stets auf Konkretes blickt. Brinkmann hält das Konkrete in dem Bewusstsein fest, dass es die einzelnen Medien in verschiedene Sinnesmomente zerlegen. Zweitens zeigt sich die transmediale Praxis der Schrift, die sich bei Brinkmann unter den Vorzeichen der Mediendifferenz herausbildet, an gleitenden Übergängen zwischen Phänomenologie und Metaphorologie, Kultur- und Medienkritik einerseits, Autorpoetik andererseits. Wenn Brinkmann in Briefe an Hartmut schreibt, »Fast alle Gedichte sind wohl am
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_13
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genauesten zu charakterisieren als Momentaufnahmen« (BrH, 44), so dass jeder Gedichtband als »eine Gallerie [sic!] von Momentaufnahmen« erscheint (BrH, 48), so klingt dies, vordergründig betrachtet, als sei das Dichten eine andere Form des Fotografierens. Genau besehen, sind die Momentaufnahmen jedoch kritisch gegen den von Brinkmann so genannten »Realitätsfilm« (Ww, 277; BrH, 137) gerichtet, der gerade keine bewusst ausgewählten Einstellungen und auch keine Zeit- und Zeilensprünge kennt, die aus dem Rahmen fallen. Der poetische Text soll den Standfotos ähneln, »die von Fotografen während der Dreharbeiten eines Films geknipst werden« (BrH, 82). Sie erlangen ihre spezifische Bedeutung gerade dadurch, dass sie einer anderen Dramaturgie als die Geschichten verpflichtet sind, die in den Massenmedien erzählt werden. Diese Geschichten heben auf das Außergewöhnliche und nicht Alltägliche sowie auf Nachrichtenwerte ab, die jeweils andere, nicht die Zuschauer selbst betreffen, insgesamt also auf das Spektakuläre, Sensationelle. Brinkmanns Poetik erweist sich, daran gemessen, wie den Anmerkungen zu seinem Gedicht Vanille zu entnehmen ist, als Gegenprogramm: »Worauf es ankommt, ist sich den ›Fakt‹ anzuschauen, das vorhandene Material aufzunehmen, sich das ›Bild‹ zu beschaffen, also: in der Stadt herumgehen, Zeitung lesen, ins Kino gehen, zu ficken, sich in der Nase zu bohren, Schallplatten zu hören, dumm mit Leuten zu reden ...« (Mammut, 141). Rekapituliert werden hier gewöhnliche und alltägliche, weder spektakuläre noch sensationelle Tätigkeiten, an denen der Autor jedoch im Unterschied zum Film- und Fernsehzuschauer das Bild- und Urheberrecht hat. Das Gedicht, das eine Momentaufnahme ist, wird also gegen die ›Bewusstseinsindustrie‹ (Adorno) der Massenmedien ausgespielt: »Der Realitätsfilm läuft schneller und schneller, ein Wirbel ritualisierter Monotonie, Tag und Nacht flackernder, springender Film, und verdammt, für diesen blöden Realitätsfilm muß man auch noch zahlen, jeden Tag. Entrückungen, wo?« Dort, wo es Brinkmann gelingt, »Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus ausklingenden Gesprächen« (St, 186), also die audio-visuellen Spuren des eigenen Erlebens in etwas Anderes, vielleicht Bleibendes, in jedem Fall aber Eigenständiges zu überführen. Dabei kann im Prinzip alles, »was über den Bildschirm des Bewußtseins geht« (BrH, 125), in einem Gedicht auftauchen, entscheidend ist allein die ›Beleuchtung‹, in der es erscheint. Brinkmanns kinematographisch inspirierte Poetik setzt auf die beiden Verfahren der Filmaufnah-
me, die performativ nicht zu trennen sind: Die Wahl der Einstellungsgröße, die jeweils blickpunktspezifisch ist, und die Bestimmung der Helligkeit, die mit der Blende, der Belichtungszeit zusammenhängt. Die Dinge können grell angestrahlt oder nur in einer Abschattung vergegenwärtigt werden, sie konvergieren aber immer auf den leiblichen Standpunkt des Betrachters, der – wie Brinkmann schließlich in Italien entdeckt – gar nicht unbedingt technische Geräte braucht, um filmreife Aufnahmen zu produzieren. Auf einer nächtlichen Zugfahrt spielt sich vor seinen Augen eine »Gespenster-Schau« ab: »da torkelt schon wieder ein Uniformierter den Gang auf mich zu, und das schwarze, glänzende Ledertäschchen mit der Tötungswaffe schlenkert an der Seite befestigt am Rock, unter dem kraftlosen Licht des Wagenganges. Und rumms! Verschwindet der Kerl in gebrochenen Rhythmen in ein dunkles Abteilloch. – Cut up! – Denn die Blicke machen ja beständig cut ups! – Also hat der Burroughs gar nichts Neues erfunden! – Cut up: 2 Betrunkene Männer lachen schaukelnd durch das Spüllicht an mir vorüber und stopfen sich in der Gangtür zusammen. Die Illustrierte unterm Arm. Der Schlips baumelt. – in dem farblosen Licht der Abteile hingehauene, vom Schlaf durchgebrochene, verquere Gebilde, die atmen. – Stückweise Glieder. – Durch die Fetzen der Gardine gesehen« (RB, 93). In dieser Passage aus Rom, Blicke wird die literarische Technik des Cut-up mit dem Close-up-Verfahren der Filmaufnahme in Low Key-Beleuchtung verschränkt. Das Licht ist kraftlos, farblos, ein Spüllicht, in dem Gangtüren und Abteilfenster Teilstücke einer Wahrnehmung rahmen. In den gebrochenen Rhythmen einer relativ hohen Schnittfrequenz zeichnen sich für kurze Augenblicke bestimmte Details, etwa einzelne Glieder von Gestalten, ab. Zur Sprache gebracht werden Eindrücke, die eigentlich keinen kohärenten Text, sehr wohl aber eine Art Stimmungsbild ergeben. Doch die Passage geht weiter. Es kommt zu einem signifikanten, poetologisch folgenreichen Wechsel der Blickrichtung von Innen, vom Zugabteil, nach Außen, ins Gelände: »Draußen erfaßt der Blick die schwarze nächtliche Ebene, darin Lichtpunkte verteilt« (RB, 93). Das ist ein neuer, anderer Frame, ein Übergang von der Film-Cadrage zur ›Schalttafel‹. Das Display der ›Schalttafel‹ geht somit aus dem ›Film in Worten‹ hervor, der die beschleunigte Variante der Schnappschuss-Ästhetik war, mit der Brinkmann zum Bild vordringen wollte. Unter dem Titel »Bild« veröffentlichte er 1966 in &-Gedichte die Mo-
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mentaufnahme einer Frau, die – Strophe für Strophe – neu belichtet wird, wie sie einen Kinderwagen die Straße hinunterschiebt, bis sie irgendein Gegenstand verdeckt. Man kann in diesem kurzzeiligen Poem eine Reminiszenz an den Stummfilm sehen, in dem die Dinge beredt und die Menschen gegenständlich wirken; man kann an ihm das Zusammenspiel von wahrgenommener Bewegung – Verschiebung des Objekts im Gelände – und verfremdender Wahrnehmung – Tätigkeit des Subjekts – beobachten und erkennen, wie sich dergestalt der ›Film in Worten‹ vorbereitet, auf den Brinkmann dann, drei Jahre später, in einem für die 1969 publizierte Acid-Anthologie verfassten gleichnamigen Essay abheben wird. Es ist aber offensichtlich, dass es zunächst um die Mehrfachbelichtung einer Einstellung auf ein im Gedicht ausdrücklich als »langsam« qualifiziertes Geschehen geht. Die von Jack Kerouac entlehnte Metapher vom ›Film in Worten‹ zielt auf eine Abwendung der poetischen Sprache vom Abstrakten und Statischen, hin zum Konkreten und Dynamischen ab, denn: »die Verwirrung beginnt durch Schnittbogenmuster des Bewußtseins, die übernommen werden, auch in Formulier-Tricks, dialektischen Weisheiten [...] (RB, 342) Erneut aufgegriffen wird hier das Differential, das er schon in der Acid-Anthologie zwischen der Sprache und den Bildern der Massenmedienkultur auf der einen und den eigenen Gedichten auf der anderen Seite aufgespannt hatte. Dort ist zu lesen: »Für die Literatur heißt das: tradiertes Verständnis von Formen mittels Erweiterung dieser vorhandenen Formen auflösen und damit die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich lassen, statt dessen Vorstellungen zu projizieren – ›Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten‹ (Kerouac) ... ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser, syntaktischer Muster ... Bilder, flickernd und voller Sprünge.« (Der Film in Worten, FW, 223) Gemeint sind wohl die Zeilensprünge, die den ›Film in Worten‹ als Gedicht ausweisen. Das Zusammenspiel von fotografischer oder kinematographischer Einstellung und Beleuchtung, poetischer Sprache und Schriftbild ergab für Brinkmann eine »Flickermaschine« – so nennt er einen ebenfalls 1969 für die Anthologie Supergarde verfassten Text. In ihm setzt er sich »[...] mit der bewußtseins-präformierenden Kraft des Kinos auseinander. Dem Wort ›Kino‹ kommt hier eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen meint es die von der Filmindustrie gelieferten Bilder und stereo-
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typen Vorstellungswelten – die Standbilder zumeist erotisch konnotierter Posen bzw. Close-ups von Gesichtern, die Brinkmann jeweils in Dreierfolgen, in der Manier von Hitchcocks ›cross-cutting‹ seinem Text eingegliedert hat, illustrieren das. Zum anderen bezeichnet ›Kino‹ zugleich auch den innen, im Kopf ablaufenden ›Bewußtseins‹film, der sich sowohl aus den filmartig-oberflächlichen ›Second-hand‹-Bildern der Außenwelt speist als auch die Eindrücke singulären Erlebens mit seiner Patina überzieht.« (Röhnert 2007, 284 f.) Den Leser vor Augen gestellt werden sollen somit, was Brinkmann in einem seiner Briefe an Hartmut, »Kurzzeitgedächtnisszenen – ›epiphanien‹« genannt hat (BrH, 75). Anders als James Joyce, der den theologischen Begriff der Epiphanie im Anschluss an Walter Pater erstmals poetologisch gedeutet hatte, ging es Brinkmann aber nicht um den sprachlich vermittelten Einbruch von etwas Metaphysischem in die Lebenswelt, sondern um den Durchbruch zu Wahrnehmungen und Empfindungen jenseits der Konventionen und Schablonen, die das etablierte Sprach- und Mediensystem unaufhörlich reproduziert. Dieses System zeichnet ein Blickregime aus, das Brinkmann gerade nicht dynamisch und erotisch, sondern statisch und in vielen Fällen sogar pornographisch fand. Der Gegensatz zwischen Erotik und Pornographie ist allerdings heikel, denn: »Die Kamera kooperiert mit den sexuellen Wunschvorstellungen dessen, der sie steuert« (Röhnert 2007, 314) – sei es am Filmset oder im Kopfkino der Poesie, wenn ein ›Film in Worten‹ gedreht wird. Erst recht scheinen Text-Bild-Collagebücher wie Schnitte, vordergründig betrachtet, jene männliche Schaulust zu befriedigen, die Frauen zu Lustobjekten degradiert. Sie exponieren aber, genauer besehen, den Umschlag von Attraktion in Repulsion. »Nicht die leiseste Regung einer Erotik kann dort aufkommen, wo die Abbildung, Darstellung derartig kommerzielle Schönheit zeigt – die Nacktheit wird zur totalen Angezogenheit« (RB, 66). Brinkmann schwebten Mitte, Ende der 1960er Jahre andere Reize vor, er musste 1974/75 jedoch verbittert feststellen: »[...] die Ansätze zu einer neuen starken Sinnlichkeit, einem neuen starken Ausdruck, haben sie alle hier sogleich wieder abgeschnitten, 1970, bumms, wars zu Ende, zusammengeschlagen durch die mächtigen Massenmedien, ausgepowert durch TV [...]« (BrH, 88). Schon in Gras (1970) ist das Kino daher »kein Vehikel eines Pop-art-Bewußtseins mehr wie zumeist noch im Piloten-Band, sondern es ist selbst ein mit der Geschichte der Avantgarden eng
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verbundenes Medium von eigener Historizität« (Röhnert 2007, 352). Um die Hoffnungen der 1960er Jahre betrogen, sieht Brinkmann die Medienlandschaft ab 1969/70 mit den Augen eines Dissidenten. In dem Gedicht Canneloni in Olevano, das dann in Westwärts 1&2 erscheint, werden eingangs die trivialen, in Italien überaus populären, aber auch ungemein schematischen Fotoromane und die Fernsehantennen auf den Dächern erwähnt. Von einem Kino heißt es gegen Ende des Gedichts, dass es »die ganze Woche dunkel und abseits bleibt, um dann, am Samstag und Sonntag zu zeigen, wie sie in Rom farbig ficken«. Die kriselnde Filmindustrie versuchte sich Anfang der 1970er Jahre auch in Deutschland mit Sexfilmen über Wasser zu halten; die Zeit der Avantgarde und ihrer Experimente war vorbei; nun trat das Cinema of Exploitation an die Stelle des Autorenfilms, dem es in einer offensiven Wendung gegen Opas Kino um die erotische und politische Emanzipation der Zuschauer gegangen war. Konfrontiert man ein Poem wie Cinemascope aus Standphotos (1969) mit dem Gedicht Film, das Brinkmann zwei Jahre zuvor, in Was fraglich ist wofür (1967) veröffentlicht hatte, so lebt der ältere, durch den Tod des polnischen Schauspielers Zybigniew Cybulski veranlasste Text noch davon, dass die Wiederaufführbarkeit von Filmen, ja sogar von Sterbeszenen, emphatisch gegen das Ende der leiblichen Existenz aufgeboten und das Kino als ein Medium dargestellt wird, das virtualiter die Endlichkeit des menschlichen Lebens überwindet. Hingegen erscheint es in Cinemascope als eine auf seine leere Materialität reduzierte Apparatur zur Erzeugung von Illusionen. Der Himmel, der im Kino klarer als sonst wirkt, existiert nur für die Dauer der Vorstellung. »(Dahinter ist eine weiße Lein- / wand, sie ist absolut weiß, und / das ist die Leinwand, sie ist ab- / solut: weiß!).« Da leuchtet auf einer nächtlichen Zugfahrt durch Italien das Display der ›Schalttafel‹ auf – ein neues Medienmodell, dem das Druckbild vieler Poeme in Westwärts 1&2, einschließlich des Titelgedichts, entspricht. Es »bietet sich als Fläche und Feld dar. Die einfache Sukzession wird immer wieder aufgebrochen: vertikal durch Zeilensprünge und unbesetzte Texträume, horizontal durch Queranschlüsse. Die Wiederaufnahme von Zeilen und die Besetzung von Textraum, vertikal und horizontal, erfolgt auf der Folie eines Oberflächen-Rasters, und zwar in unterschiedlich räumlicher Versetzung entlang der ›idealen‹ Achsen: rechts – Mitte – links; oben – unten. Es entsteht so etwas wie eine Text-Partitur mit verschiedenen Text-Ebenen und Text-Spuren« (Großklaus 1995, 92).
Götz Großklaus, von dem diese Beschreibung stammt, entdeckt in Westwärts 1&2 visuelle, auditive, emotive und reflexive Spuren eines Fluges von Deutschland über London, New York und Washington nach Austin, Texas, die gleichzeitig präsent sind, während die leeren Textfelder mit der toten Zeit auch den toten Raum der Bewegung repräsentieren (vgl. Großklaus 1995, 93). Das Gedicht zeigt also auf, wie das Raumzeitgefüge im Flug eine andere Wahrnehmungsform erhält, doch es spielt diese Veränderung nicht mehr kontinuierlich ab wie einen ›Film in Worten‹, sondern diskontinuierlich. Großklaus spricht von »kognitiven Karten« und »offenen Netzplänen, über die alles mit jedem: das Nächste mit dem Fernsten augenblicklich in Verbindung gesetzt werden kann« und fügt hinzu: »Demgegenüber erscheint der Begriff der Montage als veraltet und einer mechanischen Epoche zugehörig« (Großklaus 1995, 96). Das ist der springende Punkt: Der Film-Streifen soll zu einer Oberfläche, einer ›Schalttafel‹ werden, auf der Lichtpunkte den Zusammenlauf synaptischer Bahnen veranschaulichen. Die transmediale Praxis der Schrift wird von der Linie auf den Raum, von der Momentaufnahme auf die Vergegenwärtigung multiordinaler Wort- und Gedankenverknüpfungen verschoben, womit Brinkmann einen Grundgedanken von Alfred Korzybski einzulösen versucht (s. Kap. 5): »Im Bild der Schrifttafel verbindet er Medialität und Kognition« (Gropp 2006, 297) gemäß seiner Überzeugung: »[...] Wort- und Gedankenverbindungen sind ja unüberschaubar, multidimensional« (BrH, 263). Nachzuvollziehen ist an den Gedichten aus der Zeit von 1970 bis 1974, die in Westwärts 1&2 versammelt wurden, wie Brinkmann zwischen dem ›Film in Worten‹ und dem neuen Medienmodell changiert, und warum ihm das Kino zu einem kulturellen, ästhetischen Problem geworden ist. Zieht man zum Vergleich ein Gedicht wie Einfaches Bild aus dem Band Was fraglich ist wofür (1967) heran, bei dem die »Schrift in der Inszenierung als Filmstreifen, den Leseblick vertikal dynamisierend« (Gropp 2006, 292), noch kinematographisch formatiert worden war, ist der Übergang vom Streifen in die Fläche des Schriftbildraums evident. Eine poetologische Bemerkung Brinkmanns unterstützt den Eindruck, dass es sich dabei tatsächlich um einen Übergang und nicht um einen Umbruch handelt. Denn schon in der Programm-Schrift Der Film in Worten lag für ihn die Faszination des Gedichts darin, dass in seiner poetischen Anlage, im Layout der Zeichen und Zeilen, »eine maximale Raumausdehnung bei minimalem Wort- und
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Zeitaufwand statt« hat (FW, 233). Beim Blick in die zeitgenössische Lyrik zeichne sich, wenn auch »nur erst vereinzelt« anhand von »Oberflächenbeschreibungen«, also »unlinear, diskontinuierlich« ein »Raum« ab, »in dem herumspazieren einfach wieder Spaß macht und das gedankliche Arrangement von dergleichen Einfallsfülle ist wie der Gegenstand der Reflexion, ein zärtliches Treiben von winzigen Lichtpunkten auf einer Schalttafel, das Geflecht dünner Drähte, blau, grün, gelb, rot – ein präziser, endloser count-down [...]« (FW, 233). Friedrich Schlegel hatte sich und seinen Leser einst die Frage gestellt, ob ein Leben Stoff für mehr als einen Roman abgebe. Brinkmann wandelt das Problem in »Samstagabend im Winter« zeitgemäß ab: »Und was bleibt von dem Argument, daß / Jeder nur einen Film in seinem Leben machen dürfte?« (Ww, 238 f. und 242) Im Ergebnis wenig, lautet die Antwort, wenn man Brinkmanns transmediale Praxis der Schrift verfolgt. Sie umgeht das Problem durch den beständigen Wechsel zwischen Stills und Szenen, Standfotos und Schalttafeln. Der ›Gehirnfilm‹, der sich dergestalt auf dem ›inneren Bildschirm‹ abzeichnet, unterläuft die Wahrnehmungs- und Empfindungsschemata der Massenmedienkultur und den ›Realitätsfilm‹, der unaufhörlich dem gleichen ›Schnittmusterbogen‹ folgt. Literatur
Agathos, Katarina: Poesie eines Güterzuges. Die Brinkmann-Bänder. In: Herbert Kämpfer/Katarina Agathos (Hg.), unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann: Brinkmann, Rolf Dieter: Wörter Sex Schnitt. Originalaufnahmen 1973. 5 CDs und 60 Seiten booklet. Köln 2007.
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Bauer, Matthias: Schnittmuster – Schalttafel – Bildschirm. Nachfragen zu Brinkmanns intermedialer Poetik. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 107–129. Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten [1969]. In: Ders./Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek bei Hamburg 1983, 381–399. Brinkmann, Rolf Dieter: Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille«. In: Jörg Schröder (Hg.) Mammut. März Texte 1&2. 1969–1984. 21984, 141–144. Brundiers, Ludwig: ›Als ich ohne Wörter im Kopf war, begann ich tastend zu sehen‹, zur Aktualität Rolf Dieter Brinkmann. WDR-Fernsehfilm. Köln 1988. Gropp, Petra: Szenen der Schrift. Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945. Bielefeld 2006. Großklaus, Götz: Wahrnehmungswandel im Übergang zum technischen Zeitalter. In: Götz Großklaus: Medien-Zeit Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt a. M. 1995, 72–102. Hagen, Jens: Fotosequenz ›R. D. B. filmend‹, Köln, Hohe Straße, Juli ’68. In: Literaturmagazin 44 (1999), 32–34. Hein, Wilhelm et al (Hg.): XSCREEN. Materialien über den Underground-Film. Köln 1971. Pickerodt, Gerhart: ›Der Film in Worten‹, Rolf Dieter Brinkmanns Provokation der Literatur. In: WB 37 (1991), 1028– 1042. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Schindler, Stefan K.: ›Der Film in Worten‹, R. D. Brinkmanns postmoderne Poetik. In: Seminar 32 (1996), 44–61. Tsakiridis, Vagelis (Hg.): Supergarde. Prosa der Beat- und Popgeneration. Düsseldorf 1969.
Matthias Bauer
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III Konzepte
14 Intermedialität III: Musik »Als ich in Rom war, habe ich diese Platte oft gehört. Irgendwann bin ich dort wieder angefangen und habe Musik gehört – sehr wenig und sehr sparsam. Ich hab’ dort gesessen, in einem Schaukelstuhl, in einem Liegestuhl und hab’ durch die Bäume gekuckt, es war ein gelber Nachmittagshimmel, ganz sanfte Musik. Ohne Wörter [Stille – nur Musik]. Es gab nichts zu denken, nichts zu sagen. Alles war da [nur Musik]. Ich erinnere mich gerne an die Tomatensuppe zu dieser Musik [nur Musik]. Was für ein Aufbruch! Was für ein Gefühl, neu anzufangen« (Wörter Sex Schnitt CD 2/Titel 6, 8:59–10:48). Mit diesen Zeilen beschreibt Brinkmann auf einem Tonmittschnitt eine Erinnerung an seine Zeit in Rom und die wiederum darin verborgene Erinnerung an ein zurückliegendes Konzerterlebnis in London. Durchsetzt und teilweise unterlegt ist der Text mit Musik von eben dieser erwähnten Platte, dem Song A Certain Kind der britischen Band Soft Machine. Die Relevanz der Musik für Brinkmanns Erinnerung, Lebens- und Denkweise und als Ort der Kontemplation, Kraft und Inspiration, ebenso wie der enge Zusammenhang zwischen Musik und Sprache tritt in dieser Sequenz sowohl inhaltlich, als auch durch die Art, wie sich Musik, Sprache und Stille zusammenfügen, konzentriert in Erscheinung. Musik ist in Brinkmanns Werk überaus häufig und vielfältig präsent. Sie bildet einen existentiellen Bestandteil seines Alltags, der zugleich Ausgangspunkt und Material seiner künstlerischen Äußerungen ist, und wird somit auch lesbar, sichtbar und hörbar, in seinen Texten (in Form von Bandnamen, Songtiteln oder Lyrics), auf Fotografien (die Musiker oder Plattencover integrieren) sowie in Film- und auf Tonbandaufnahmen. Auch sind zahlreiche seiner Arbeiten während des Hörens bestimmter Bands entstanden, tragen die Erinnerung an einen Song in sich oder zeigen sich inspiriert von dessen Machart oder der künstlerischen Haltung der Interpreten: »[W]ährend ich schreibe, höre ich manchmal Platten, und dann beim Schreiben verbinden sich das, was ich gerade schreibe, mit dem, was ich dazu höre und geben neue Assoziationen oder Spuren von Geschichten« (BrH, 188–189). Viele seiner Gedichte thematisieren Musik – oft schon paratextuell im Titel (etwa Kleines Lied für Unbegrabene, Le Chant du Monde, Alltägliche Musik oder Einige sehr populäre Songs) – allgemein oder im Speziellen (beispielsweise ist Bestandteil des Gedicht[s]
am 19. März »der letzte Schlager / der Rolling Stones« und legt so eine Verknüpfung zu deren derzeitig erschienenem Beatles-Cover I wanna be your man oder läuft »Velvet Underground Musik von 1969 im elektrisch / beheizten Zimmer« im Gedicht Lied am Samstagabend in Köln; St, 45 und Ww, 161–162). Auch seine Prosa greift Songs und Bands auf (vgl. exemplarisch den Text Der Film in Worten oder die Erzählungen Raupenbahn und Wurlitzer), Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr ist das Rolling Stones Zitat »Oh no, no, no / Oh no, no, no / Oh no, no, no« – ein Auschnitt aus dem Refrain ihres Songs She smiled sweetly als Motto vorangestellt. Der Bezug des Textes auf Musik ist dadurch bereits angedeutet, auch für sein Personal spielt sie auf der Handlungsebene eine wichtige Rolle: sie liefert Diskussionsstoff, bildet den Soundtrack zu einer resignierten Grundstimmung, oftmals ist sie beruhigender Gegenpol zur hektischen Umwelt (manchmal aber auch deren Teil), provoziert oder expliziert Momente der Nostalgie und Melancholie und veranschaulicht zudem Vorlieben der Charaktere und verortet sie so in einer bestimmten Szene (vgl. u. a. Schmiedt 1979, 17 f.; Kobold 2000, 48–50 und s. Kap. 27). Neben einzelnen Referenzen zum Jazz (bspw. in den frühen Erzählungen »In der Grube« und »Wenn sie morgens singen« oder im späten Gedicht Ein Abend), wird hauptsächlich Bezug zur aktuellen, im deutschen Sprachraum zur Zeit ihres Aufkommens als revolutionär und skandalös wahrgenommenen, angloamerikanischen Rockmusik der 1960er und 1970er Jahre getätigt: Jimi Hendrix, Bob Dylan, Leonard Cohen, Otis Redding, Soft Machine, Herman’s Hermits, The Beatles, The Kinks, The Fugs, Velvet Underground, The Doors, Hapshash and the Coloured Coats, The Heavy Metal Kids und The Rolling Stones (Tsakiridis 1969, 221 und s. Kap. 4.3). Durch das Aufgreifen dieser spezifischen Bands und Songs treten Brinkmanns Texte in differenzierte, (popkulturelle) Diskurse ein (vgl. Schäfer 1998; Seiler 2006). Sie besitzen bestimmte Implikationen, welche die musikalischen Verweise in sich tragen (vgl. Petras 2011). Dadurch können sie im Text zusätzlich die Funktion von Codes annehmen, indem sie sich auf einen bestimmten (soziokulturellen) Kontext beziehen, einen ideologischen Zusammenhang herstellen und ein intendiertes Set an Vorstellungen und somit auch ein Distinktionsvermögen mit sich bringen (vgl. Schmitt 2012, 77–104 und 222–228). Diese Codes können zudem als Indizien dafür fungieren, dass dieses fremdmediale System über die Thematisierung
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_14
14 Intermedialität III: Musik
von Musik hinaus auch auf die formale Gestaltung Einfluss genommen haben könnte. Durch die Kontaktnahme der Literatur zur Popmusik strebt Brinkmann, in der bewussten Überschreitung der imaginären Grenze zwischen hoher Kultur und niederer Unterhaltung, eine Dynamisierung erstarrter Formen an. Sein erklärtes Ziel, Literatur aus ihren festgefahrenen Strukturen zu befreien und Sprache zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu verhelfen, bedarf einer solchen Erschütterung. Die zeitgenössische, angloamerikanische Musik des Underground, ihr rebellischer Gestus, die Attitüde des Unangepassten, ihre Absage an gesellschaftliche Zwänge und ihre Irritation von Hörgewohnheiten stellt für Brinkmann kreative Impulse für derartige Veränderungen auf literarischem Gebiet bereit: »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus« (Ww, 8 f.). Vor allem die der Musik zugesprochene Sinnlichkeit, ihre direkte, intensive Wirkung auf den Körper, die Gefühls- und Vorstellungswelt, wissen Brinkmann zu begeistern. Aus der Position des Autors bedient er sich dieser Eigenschaften als Gestaltungsmaxime für seine Texte: sein Werk zeigt unterschiedlichste Ansätze, möglichst authentische Eindrucke zu vermitteln, eine Schlichtheit in Sprache und Form bei gleichzeitiger Absage an tradierte Gesetzmäßigkeiten zu erreichen, neue Bereiche des Bewusstseins zugänglich zu machen, eine Veränderung des Künstlerbildes zu bewirken (unter anderem durch das Lob des Laientums und zahlreich lyrische Kollaborationen) und neue technische Entwicklungen zu integrieren (wie z. B. intermediale Bezüge der Texte als Reaktion auf die Medienrealität – sowohl affirmativ als auch kritisch). Diese (auch) von musikalischen Vorbildern ausgehenden Wirkungsziele sind, ebenso wie die oben zitierte ›Einfachheit‹, auf Ebene des Textes, komplex konstruierte Effekte (vgl. auch Zeller 2010 und s. Kap. 9). Um in der Rezeption zur Entfaltung zu kommen, müssen diese Eigenschaften in eine texteigene Ästhetik umgewandelt werden (diese Prozesse sind besonders konzentriert in Brinkmanns Lyrik zu beobachten). Neben der Thematisierung von Musik und der Übersetzung ihrer Eigenschaften, fallen besonders oftmals spielerisch zitierte oder paraphrasierte Lyrics
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oder freie, verfremdete Übersetzungen dieser auf (vgl. Röhnert 2002). Obwohl hier lediglich die deckungsgleiche Komponente von den vokalmusikalischen Stücken in die Texte übernommen wurde, bergen die Zitate dennoch ihre vormalige Beschaffenheit, nämlich ihren fehlenden instrumentalen Part. Dadurch weist der Text auch über die Sprache hinaus, denn er bezieht sich auf etwas, was sich teilweise erst außerhalb ihrer Grenzen komplettiert. Zudem entsteht dadurch eine kreative Mischung zwischen Prosa und Liedtext, Lyrics und Lyrik, welche das Kunstund Gattungsverständnis in Frage stellt. Diese Hybridisierung gipfelt im Zitieren des kompletten Textes des Songs Plane, Too von Loudon Wainwright III, den Brinkmann seinem Gedichtband Westwärts 1&2 voranstellt und der auf einer Doppelseite mit seinem ersten Gedicht Ein gewöhnliches Lied abgedruckt ist (s. Kap. 24). Zusätzlich korrespondieren diese Zitate oftmals mit dem Phänomen der Mehrsprachigkeit, da es meist englische Songs sind, welche innerhalb der deutschen Texte wiedergegeben werden. Während Musik in ihrer direkten und unmittelbaren Wirkung den anderen Künsten überlegen ist, potenziert die englische Sprache, welche Brinkmann als freier und konkreter empfindet, diesen Effekt. Außerdem ist bei Brinkmann der angloamerikanische Sprachraum auch verbunden mit einigen seiner wichtigsten Vorbilder, vor allem in den Kreisen der Beat-Literaten, bei welchen er die produktive Verbindung zwischen Literatur und Musik als besonders gelungen verwirklicht ansieht (s. Kap. 4.1). Ein weiterer Bezug der Texte auf Musik zeigt sich in der Simulation von Darstellungsmodalitäten, welche ursprünglich dem Musikalischen zugesprochen werden, wie etwas Rhythmik, Tempo, Polyphonie (vgl. z. B. Wurlitzer bzw. Boyken 2010; Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin bzw. Ritz 2001) oder etwa die Technik des Samplings (besonders in den späten Materialbänden und Gedichten; vgl. auch Meinecke 2001). Da diese Eigenschaften und Arbeitsweisen teilweise Elemente umfassen, welche auch dem sprachlichen und filmischen Zeichensystem eigen sind, ist die Art der Inszenierung differenziert zu betrachten und auf eventuelle, anderweitige Verweise auf Musik als Indiz zu achten. Der Bezug wird beispielsweise dann deutlich, wenn Sprache (fast ausschließlich) auf ihre klangliche Dimension hin fokussiert wird und diese der semantischen Sprachfunktion übergeordnet ist. Ein Beispiel hierfür wäre die Übertragung des Gedichts La Jolie Rousse von Guillaume Apollinaire, das bei Brinkmann und Rygulla durch die Rezeption des
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III Konzepte
französischen Textes als rein klangliches Phänomen im Deutschen zu Der joviale Russe wird (s. Kap. 3.2 und Kap. 35.3). Musik ist eine performance art. Sie entfaltet ihre Bedeutung im Akt der Aufführung und des Hörens. Dass auch Brinkmann seine Texte ›performt‹, mit ihnen improvisiert, sie variiert und spontan interpretiert, wird besonders auf seinen Tonbandaufnahmen deutlich, welche oftmals Zeilen aus seinen gedruckten Texten aufnehmen und akustisch neu arrangieren. Wie stark Musikalität auch seine Lesungen beeinflusst, zeigt der Mitschnitt des Gedichts Rolltreppen im August seiner letzten Darbietung in Cambridge. Das hohe Tempo in Verbindung mit Betonung des Plosivs ›P‹ des repetitiven Wortes ›Panik‹, gibt einen starken, variierten Rhythmus vor, welcher, eines Schlaginstrumentes gleich, den Text strukturiert. Nur konsequent scheint, dass es auch Lesungen von Brinkmann gegeben hat, welche mit Musik kombiniert waren, seine Tonbandaufnahmen auch Songfragmente enthalten oder deren Geräuschkulisse phasenweise so arrangiert ist, dass sie fast an die zur damaligen Zeit in ihrer frühen Ausprägung aufkommende Musikrichtung Industrial denken lassen (vgl. zu den Hörspielen und Tonaufnahmen auch Tillmann 2012, 104–113 und s. Kap. VII.C bzw. Kap. 42). Auch visuell nimmt Brinkmann Kontakt zum musikalischen Bereich auf: Neben Darstellungen von Popstars und LP-Covern auf Fotografien, welche seine Texte durchsetzen oder in Form von Bildfolgen Teil seiner Bücher sind, ist das Cover seines Gedichtbands Die Piloten (1968) in auffälliger Ähnlichkeit zur Beatles-Platte Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) gestaltet. Eine Collage in schrillen, leuchtenden Farben zeigt in einer Comic- und Pop Art-Ästhetik ein wildes Gewimmel aus Körpern von (hauptsächlich) Film- und Popstars. Innerhalb dessen, auf dem Rückumschlag des Bandes, ist Brinkmann selbst dargestellt. Die Abbildung seines Kopfes ist mit der Sprechblase »IT IS NOT ENOUGH TO LOVE ART! ONE MUST BE ART!« (Piloten, Rückseite Cover) versehen. Brinkmann inszeniert sich hier selbst als eine Art Popstar, der in der Präsentation seiner Autorenpersönlichkeit sein künstlerisches Schaffen verkörpert und beglaubigt (vgl. auch Niefanger 2011; s. Kap. 19). Auch wenn seine anfängliche Begeisterung für Popmusik einer Phase der Resignation wich und erst aus seinen späteren Texten wieder ein Glaube an die subversive Kraft der Musik herauszulesen ist (vgl. u. a. Schäfer 1998; Seiler 2006, 147–195), haben gerade seine Referenzen auf Popmusik maßgeblich zu einer Er-
neuerung und Weiterentwicklung popliterarischer Schreibweisen um 2000 geführt (vgl. Schmitt 2012, 243–247). Dass seinen Texten oftmals ein performativer Charakter zugesprochen werden kann und sie eine grundlegende Begeisterung für Musik in sich tragen, zeigt sich auch an Reaktionen aktueller, deutschsprachiger Popmusik: 2002 vertonte die Kölner Band März die »Vorbemerkung« zu Westwärts 1&2, zur selben Zeit borgte sich Zimtfisch aus Berlin die Zeile »Die Geschichtenerzähler machen weiter« (Ww, 7) für einen ihrer Songtitel, während im folgenden Jahr das Album Jenseits von Jedem der Band Blumfeld erschien, deren Track »Alles macht weiter« sich ebenfalls deutlich von Brinkmanns Vorwort inspiriert zeigt (vgl. Seiler 2011, 254–256). Mit dem von Brinkmann entlehnten Satz »Die Tiere sind unruhig« (Wörter Sex Schnitt CD 5/Titel 2, 2:33–2:36) betitelt die Band Kante 2006 ihr Album und den ersten Song darauf. 2012 spukt Brinkmann in Gesellschaft anderer Verstorbener auf einem Lied des Hörspiels Orphée Mécanique des Hamburger Musikers und Medienkünstlers Felix Kubin: »Rolf Dieter Brinkmann ist tot. [...] Gezählte Tage, begossene Pudel, verblichene Fotos, staubige Schuhe, gerötete Augen, beschlagene Fenster, ein Blick auf die Uhr, dann komm’ die Gespenster« (Kubin 2012, Titel 2, 01:01–01:22) und 2015 steht eine Kooperation zwischen dem Musiker und Produzenten Justus Köhncke und Rolf Dieter Brinkmann sogar auf Platz eins der Liste der favorisierten Lieder des Jahres eines Mitarbeiters der Musikzeitschrift Intro (Justus Köhncke vs. Rolf Dieter Brinkmann: Winter in Köln). Die Relevanz der Musik für Brinkmanns Werk als inspirative Quelle, konstruktive Vorlage und künstlerische Äußerungsform schafft auch einen Fundus innovativer Impulse für nachfolgende Künstler und findet so eine Aktualisierung in der zeitgenössischen Popmusik. Literatur
Boyken, Thomas: »Die Umrisse verloren sich darin, die Körper wie aufgeweicht«. Körperdarstellungen in der frühen Prosa Rolf Dieter Brinkmanns. In: Ders./Ina Cappelmann/Uwe Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, 109–123. Kobold, Oliver: »Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten«. Rockmusik im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. (Eiswasser. Zeitschrift für Literatur Jg. 7, I/II). Vechta 2000, 46–53. Kubin, Felix: Orphée Mécanique. München 2012. Meinecke, Thomas: 2 Plattenspieler, 1 Mischpult. In: Gud-
14 Intermedialität III: Musik run Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Vechta 2001, 188–189. Niefanger, Dirk: Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 65–82. Petras, Ole: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld 2011. Ritz, Mark: Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel/Gert Mattenklott (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts-westwärts. Vechta 2001, 207–215. Röhnert, Jan: Meine blauen Wildlederschuhe. Notizen zu Rolf Dieter Brinkmann und der allmählichen Veränderung von Poesie nach dem Hören von Rockmusik. In: Zeichen & Wunder 41 (2002), 13–29. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der 60er Jahre. Stuttgart 1998. Schmiedt, Helmut: No satisfaction oder Keiner weiß mehr:
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Rockmusik und Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 34 (1979), 11–23. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Seiler, Sascha: ›Das einfache wahre Abschreiben der Welt‹ – Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. Seiler, Sascha: Pop-Mythos und Rebellion. Rolf Dieter Brinkmann und die zeitgenössische Popmusik. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 243–256. Tillmann, Markus: Populäre Musik und Pop-Literatur. Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2012. Tsakiridis, Vagelis: Super Garde. Prosa der Beat- und PopGeneration. Düsseldorf 1969. Zeller, Christoph: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970. Berlin/New York 2010.
Stephanie Schmitt
IV Poetologie
15 Literatur-, kunst- und kulturtheoretische Texte Die hier vorgestellten und diskutierten, vom Duktus her meist expositorischen Prosatexte entstammen verschiedenen kulturhistorischen wie medialen Kontexten und haben naturgemäß ganz unterschiedliche Intentionen. Sie dienen zum Beispiel der Positionierung im literarischen Feld, der Einleitung in eigene poetische Texte, der Rechtfertigung poetischer Verfahren, der literaturtheoretischen Auseinandersetzung oder schlicht dem ökonomischen Zugewinn. Sie sind differenten Gattungen und Textsorten zuzuordnen (Essay, Paratext, Fragment, Entwurf, Radiofeature, Kritik usw.) und enthalten verschiedene Äußerungsweisen (Erzählen, Darstellen, Beschreiben, Assoziieren usw.) und Schreibstile (polemisch, sachlich, assoziativ usw.). Sie reagieren in der Regel auf andere Texte und/oder Kunstwerke, eigene und fremde, verfahren dabei kritisch, apologetisch oder lediglich konstatierend. Weil die hier zu diskutierenden Texte in vieler Hinsicht so divers erscheinen, lassen sie es kaum zu, aus ihnen eine geschlossene Poetologie Brinkmanns abzuleiten. Die Forschung spricht dennoch relativ unbedarft – und trotz meist gleichzeitig formulierter methodischer Skepsis – von der »Poetik« Brinkmanns (Di Bella 2001; Jacob 2012; Kleiner 2013; Bauer 2016), von seinem »Kunstverständnis« (Schenk 1986), von seinen »poetologische[n] Selbstreflexion[en]« (Röhnert/Geduldig 2012, Bd. 2, 386) oder seiner »Poetologie« (Späth 1989, 43). Insofern rechtfertigt allein die Forschungssituation ein eigenes Handbuchkapitel zur Poetologie Brinkmanns. Doch behauptet es keineswegs in diesem Sinne die Poetik Brinkmanns – wenn auch vage – rekonstruiert zu haben, schon, weil sich seine poetischen Positionen nicht nur im Laufe der Jahre verändert haben, sondern auch innerhalb einzelner Texte deutlich variieren können. Was angesichts der schwierigen Lage allein bleibt, ist ein kulturhistorisches Spurenlesen in den programmatischen Prosatexten, das auf einen gewissen Überblick über sich wandelnde Positionen und Kontexte zielt.
15.1 Keine Theorie Von Rolf Dieter Brinkmann existiert keine ausformulierte Poetik, zumindest nicht als ›geschlossenes System‹ von annähernd allgemeiner Geltung für seine Dichtungen, sei sie auch zeitlich oder in Bezug auf literarische Gattungen begrenzt. »Hätte ich eine Theorie anzubieten, ein Weltbild, eine Ansicht, eine Ideologie, wäre mir zu schreiben leichter gefallen« (Ww, 263), resümiert er in einem seiner letzten Texte, im Unkontrollierten Nachwort (1974/75) zu Westwärts 1&2. Das, was er in den Notizen zum Band Silverscreen (1969) in Bezug auf die neueste, für ihn vorbildliche amerikanische Lyrik sagt, gilt cum grano salis auch für sein eigenes Werk: »Auffällig ist der anti-theoretische Zug [...]. Und so wie keine Theorie von den Autoren ›gepflegt‹ wird, so wird auch die Vorstellung von einem einheitlichen œuvre nicht mehr gepflegt.« (Silverscreen, 15, § 22) Gleich zu Anfang dieser Notizen hebt Brinkmann in Form eines kursiv gesetzten Lehrsatzes hervor, dass Theorien den Blick auf die Texte nur verstellen: »Wir sehen durch Theorien auf Gedichte und erblicken dann nichts anderes als Belege für unsere Theorie. Das ist sehr langweilig« (ebd., 8, § 1). Konsequenterweise gibt es auch keine poetologischen Texte von Brinkmann selbst, jedenfalls nicht im engeren Sinne einer einigermaßen systematisch gefassten Poetik, die mehr oder minder verbindlich Auskunft über seine Prinzipien dichterischen Schreibens, über geltende Präskriptiva, über seine Literaturtheorie oder seine ästhetischen Vorbilder geben. Dies gilt auch für jene expositorisch anmutenden Essays, die Maleen Brinkmann 1982 posthum unter dem Titel Der Film in Worten im ersten Band »einer auf vier Bände geplanten Edition der Prosa von Rolf Dieter Brinkmann« (FW, [309]) publiziert hat, und für die wenigen Paratexte mit vereinzelten poetologischen Hinweisen zu seinen Büchern. Diese Essays sowie seine Vor- und Nachworte werden zwar in der Regel dann herangezogen, wenn die Machart und Wirkungsabsicht der Dichtungen Brinkmanns aus seinen Selbstäußerungen rekonstruiert werden sollen (vgl. etwa Lampe 1983, 104–108; Kramer 2001, 269–292; Schwandt 2001, 162–167; Di Bella 2015, 28 passim), sie stellen aber weder präskriptive Verlautbarungen, noch poetische Stellungnahmen jenseits situativer
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_15
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IV Poetologie
Erfordernisse dar. Brinkmann erscheint streng genommen als ein Dichter »ohne Leitbild« (Adorno 1967, 7–19), der poetologische neben vielen anderen Äußerungen vornehmlich dazu nutzt, um seine »Positionierung« (Bourdieu 2001, 365) im kulturellen Feld zu betreiben. »Programme sind Übertreibungen. Es ist besser kein Programm zu haben«, schreibt Brinkmanns Weggefährte Nicolas Born (2007, 549). Fast identisch und äußerst strikt äußert sich Brinkmann in den Briefen an Hartmut (1974): »habe ich ein Programm? Gehöre ich zu einer Gruppe? Einer Richtung? / Beides nein! / Ein feststehendes theoretisches Programm und I Schema für meine Gedichte habe ich nicht.« (BrH, 124) In den Erkundungen (hier Mai – Juni 1973) geht Brinkmann in die gleiche Richtung, wenn er grundsätzlich fragt: »Und warum beschäftigen sich Schriftsteller mit Fragen der Literatur?« Seine Kritik an selbstreflexiver Poetik, die sich gerade im postmodernen Umfeld gehäuft findet, bringt er als rhetorische Frage anschließend in aller Häme vor: »Weil sie außer der Beschäftigung mit Fragen der Literatur wohl nichts mehr haben, he?« (Erk, 24) Ein solches selbstreflexives, aber im Kern reduktionistisches Verfahren der Dichtung, das vornehmlich um sich selbst kreist, passt nicht zu seiner prinzipiell offenen, für zufälliges Material sensiblen Rezeption der Wirklichkeit, der Oberfläche von Phänomenen und gegenwärtiger Dingwelten. In einer späteren Passage betont er die Unmöglichkeit, eine für sein Schaffen gültige Literatur- oder Kunsttheorie zu formulieren, die seinen poetischen Zugang kanalisieren würde: »Und ich kriege hier keinen Zusammenhang mehr zustande.Ich müßte nun eine passable Theorie zur Hand haben,die das Ganze für mich fein bündelt,ordnet,sehr Kommod,so richtig in ein System bringt,mit Zusammenhängen,die unabweisbar sind,daß ich tippe,Wörter [...],ja eine Theorie,einen großen Gedanken,der das alles ordnet,erträglicher macht [...].Ich schaffs bis zu sowas nicht.Schluß« (Erk, 5. Mai 73; Köln, 410). Im Anschluss an diese posthum publizierte Passage der Tagebücher Brinkmanns überlegt Genia Schulz, ob »vielleicht [...] doch eine Theorie als Schatten hinter Brinkmanns Texten« stecke (Schulz 1994, 164). Eine solche ›Theorie zweiter Ordnung‹, die sich aus den Dichtungen und ihren Verfahren, auch aus sekundär kumulierten Äußerungen in Paratexten und den genannten Essays mehr oder minder genau ableiten ließe, soll nicht Gegenstand des folgenden Artikels sein; die impliziten Poetiken der literarischen Werke im engeren Sinne (Roman, Erzählungen, Gedichte usw.)
bleiben aus methodischen Gründen weitgehend außen vor und den jeweiligen Spezialkapiteln (s. Kap. 9–14, 16–46) vorbehalten. Vielmehr werden im Folgenden die einzelnen Essays und Paratexte hinsichtlich ihrer poetischen Verfahren, ihrer dichtungstheoretischen Äußerungen, ihrer Kontexte und ihrer Positionierungen im literarischen Feld gelesen. Nur wenn man die hier vorgestellten Prosatexte als situative Stellungnahmen in je spezifischen kulturellen Konstellationen begreift, wird man Brinkmanns offener und reaktiver »Poetologie« (Späth 1989, 42–47; anders: Selg 2001, 18) gerecht. Beziehungen zwischen den einzelnen Essays und poetologischen Äußerungen sollen dennoch, wenn möglich, nachgezeichnet werden. Denn es gibt natürlich Gemeinsamkeiten der hier behandelten Texte; sie betreffen besonders ihre Machart, Rhetorik und kommunikative Eingebundenheit: (1) Fast alle vorgestellten Texte vermischen fiktionale und faktuale Darstellungsmodi, deskriptive und narrative Verfahren sowie Theoriefragmente und Alltagsbeobachtungen. (2) Sie verzichten immer wieder und meist mit provokativem Duktus auf argumentative und sprachlogische Zusammenhänge und ersetzen diese oft durch thesenartige Setzungen, assoziative Satzfolgen und (selten markierte) intertextuelle Verweise. (3) Sie thematisieren poetologische Zusammenhänge im Zuge einer ostentativen Praxeologie des Schreibens. Literatur wird dabei stets als soziale Tätigkeit vorgeführt, auch wenn das Dichten selbst als individuelle und einsame Arbeit begriffen oder zumindest ausgestellt wird. (4) Zur sozialen Praxis poetologischer Äußerung gehört bei Brinkmann stets die Abgrenzung zu anderen Autorinnen und Autoren, denen in der Regel ein veraltetes Literaturmodell zugeschrieben wird. Synchron agierende Kolleginnen und Kollegen werden so in einen diachronen Bezug gezwungen und durch einen vermeintlich neuen poetologischen Aspekt (ein Verfahren, ein Thema) überwunden. (5) Gleichzeitig bedient sich Brinkmann eines exzessiven Namedroppings, das die Andersartigkeit und Exklusivität seines poetologischen Diskurses sichtbar machen soll; hier fallen besonders Autoren des jüngeren amerikanischen Literaturmarktes auf. Einige an unterschiedlichen Orten erwähnte Essays oder Essayfragmente Brinkmanns mit vermutlich poetologischen Aspekten sind bislang noch nicht erschienen oder existieren nicht: 1969 kündigte der Verlag Kiepenheuer & Witsch eine »Sammlung seiner Essays über die ›Fugs‹, neue amerikanische Lyrik, die Literarisierung des Comics und das New American Cinema« an (Schäfer 1998, 23; 2001, 228); sie ist genauso
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wenig greifbar wie die Essays »›Wie ich fotographiere‹ [...] und ›Über die Texte der Rock’n’Roll-Musik‹« (FW, [312]), deren unfertiger Zustand Maleen Brinkmann vermerkt (vgl. FW, [312]) oder ein Band zu »Peace, Pot & Pussy, Essays zur neuen amerikanischen Szene«, der in einer biographischen Notiz erwähnt wird (Tsakiridis 1969, 219). In die Reihe bislang nicht nachgewiesener oder inzwischen verlorener Texte gehört auch das Rundfunkfeature Masse und Macht (offenbar am 7.9.1967 vom WDR in Köln gesendet), das in einschlägigen Bibliographien genannt wird (Behme/ Späth 1981, 92). Möglicherweise handelt es sich hier um eine Auftragsarbeit über Elias Canetti. Der Beitrag sei nach Auskunft des Rundfunkarchivs zurzeit weder als Hördokument noch als Manuskript auffindbar.
15.2 Absetzen von der Nachkriegsliteratur Als Beginn poetologischer Reflexion kann Rolf Dieter Brinkmanns Rundfunk-Feature Michel Butor (1966) gelten, das in der Reihe Schriftsteller unserer Zeit am 9. März 1967, 22.00–22.30 Uhr, vom Kölner Deutschlandfunk gesendet wurde (Produktionsnummer DZ429206, Tonträgerverweis 7017507). Als Produktionstag gibt das Rundfunkarchiv den 8. November 1966 an. In der Forschung wird zudem auf ein 16seitiges, bislang unveröffentlichtes Manuskript des Beitrags verwiesen (Di Bella 2001, 256 und 2015, 570). Es enthalte ein handschriftlich korrigiertes Sendedatum: zunächst 15. Dezember 1966, dann 9. März 1967. Produktionsdatum und Korrektur lassen also vermuten, dass eine frühere Sendung geplant war. Im Rundfunkarchiv liegt »ein Manuskript [...] leider nicht vor« (Mailauskunft Deutschlandradio, Dokumentation und Archive, 6.7.18); eine Kopie des Manuskripts, das in der Brinkmann-Forschung kursiert, zeigt hingegen einen Copyright-Nachweis des Deutschlandfunks, aber kein korrigiertes Sendedatum (wie bei Di Bella 2001, 256, und 2015, 570, angegeben). Vermutlich befindet sich daher noch ein weiteres Exemplar des Manuskripts im Privatbesitz von Maleen Brinkmann. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die vom Deutschlandfunk selbst aufgezeichnete Rundfunksendung, die zu wissenschaftlichen Zwecken abgehört werden kann. Angegeben wird immer der zeitliche Beginn des Zitats. Brinkmann selbst tritt in der Sendung als sehr ruhiger und überlegter Sprecher seines Features auf, wobei er die Zitate vom Schauspieler Hans-Peter Thielen, einer geübten Rundfunkstimme, präsentieren lässt.
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Das recht konventionell und im Vergleich zum späten Brinkmann relativ verständlich argumentierende Michel Butor-Feature setzt mit einer literaturgeschichtlichen Diagnose ein, die zeigen soll, dass es im Beitrag nicht nur um ein kenntnisreiches Porträt Butors, sondern auch um einen grundsätzlichen Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur und ihrer gesellschaftlichen Relevanz geht. Die Aussage, Brinkmann habe in dem Rundfunkessay »letztlich seine eigene Romanpoetik formuliert« (Di Bella 2001, 251) stimmt in dieser Allgemeinheit aber sicher nicht. Der Großteil des Beitrags behandelt das Romanwerk des Franzosen und dessen Ästhetik im Kontext des Nouveau Roman, die nicht ohne Weiteres auf Brinkmanns Texte bezogen werden kann – auch nicht auf seinen Roman Keiner weiß mehr (1968). Gerade gegen Ende des Features dominieren die Distanznahmen zu Butors Konzept einer bewahrenden Romanpoetik. Dennoch kommt Butor im Rundfunkessay immer wieder ausführlich selbst zu Wort oder wird von Brinkmann in seinen Grundgedanken möglichst wertfrei referiert. Damit kommt er den Anforderungen der Sendereihe Schriftsteller unserer Zeit nach, Porträts aktueller Autoren und ihrer spezifischen Kontexte für ein interessiertes Laienpublikum verständlich zu präsentieren. Zu Beginn ist eine allgemeinere Bestandsaufnahme zu hören: In der deutschsprachigen Literaturszene der Nachkriegszeit werde die »Krise des Romans« (0.13 m) und des Schreibens überhaupt nur akademisch und das heiße abstrakt verhandelt. Sie sei daher »praktisch folgenlos geblieben« (0.20 m). Brinkmann wertet dies als Symptom dafür, dass noch immer alte »Denkvorstellungen« (0.25 m) von Literatur dominieren würden. Dies sei insofern bemerkenswert, als viele einzelne Werke sich sehr wohl vom älteren Mainstream absetzen wollten. Dieser Negationsgestus bleibe aber rhetorisch, da diese Werke Stil und Form überwerten würden und die Absicht hegten, die Welt in einem »höheren Sinn zu deuten« (1.00 m). Die »deutsche Gegenwartsliteratur« präsentiere sich immer noch »als etwas, das aus dem Vollen und Ganzen zu schöpfen vermag« (2.03 m); sie scheine in ihren obskuren Fiktionen fertige, vor allem aber private Deutungsmuster zu liefern, ohne sich wirklich und vorbehaltlos auf die Gegenwart und ihre Dingwelt einzulassen. Die »Wirklichkeit [...] in ihrer jeweiligen speziellen Erscheinungsart« (3.04 m) werde ausgeblendet. Beispielhaft verweist Brinkmann hier auf Romane von Böll, Walser, Frisch und Grass; eine Ausnahme stellten Uwe Johnson und seine ersten beiden Romane
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IV Poetologie
Mutmaßungen über Jakob (1959) und Das dritte Buch über Achim (1961) dar. Anders als die Kollegen, deren Werke er mit Herbert Marcuse despektierlich als »Vehikel der Anpassung« (Marcuse 1968, 155) abtut, fordert er eine Literatur, die »Erkenntnisfunktion besitzt« (3.50 m). Sie bedinge eine neue Verfahrensweise, die auf Beschreibung von Realitätsausschnitten setze und deren Veränderungen aufnehmen solle. Ein Vorbild sei hier die französische Nachkriegsliteratur, insbesondere der Nouveau Roman (Claude Simon, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet und eben Michel Butor), dessen Eigenart es sei, »den Stoff dingfest zu machen« und sich »der Realität zu bemächtigen« (5.10 m). Der Vergleich der beiden literaturgeschichtlichen Konstellationen in Frankreich und Deutschland ist Brinkmann Anlass, die Romanästhetik des französischen Autors, Übersetzers, Kunstkritikers und Essayisten Michel Butor (1926–2016) zu skizzieren: Als Kernpunkt seiner Darstellung erscheinen die gesellschaftliche Relevanz des neuen Romans, der aber nicht gesellschaftskritisch im Sinne Sartres sei, und seine widerständige Verfahrensweise, die ein leichtes Konsumieren – weniger bei Butor, mehr bei den anderen Vertretern des Nouveau Roman – verweigere. Der neue Roman, verstanden als eine durchaus wandelbare Gattung, verlange nach einem neuen Leser, der bereit sei, sich stets auf die neuen Realitäten der Romanfiktionen einzulassen. Diese bezögen sich auf zum Teil (vergessene) Dinge der Wirklichkeit, auf einzelne Details der Alltagswelt. Die Sensibilität für diese Dinge erscheint Brinkmann in späteren poetologischen Überlegungen immer wieder relevant. Exemplarisch widmet sich Brinkmann zunächst dem Eingang des Romans La Modification (1957, dt. 1957), den er – wie alle Texte Butors – auf Deutsch zitiert. Hier hebt er die Objektbezogenheit und Genauigkeit der Beschreibung hervor, die aber »nicht additiv«, sondern durchaus »gestaltend«, wenn auch »unkonventionell« (11.07 m) konstruiert sei. Sie ziele auf Distanzierung und ein dialektisches Verhältnis von subjektiver Betrachtung und der Eingebundenheit des Gesehenen in objektive Verhältnisse. In diesem Sinn sei der gesamte Roman aufgebaut. Nun folgt eine Ausweitung der Reflexion auf das Gesamtwerk Butors, insbesondere auf seine Romanästhetik, auf Passage de Milan (1954, dt. 1967) und auf L ’emploi du temps (1956, dt. 1960). Brinkmann bezieht sich neben den genannten Romanen vor allem auf die Essaysammlungen Repertoire 1 (1963) und vor allem auf Repertoire 2. Probleme des Romans (1965) in deutscher Übersetzung von Helmut Scheffel.
In der erzählenden Prosa sei die genaue Erfassung von Raum und Zeit nicht als bloße Hintergrunddiegese zu verstehen, sondern als Konstituenten des jeweiligen Geschehens. Offenbar fasziniert Brinkmann, dass sich Butor in seinen Romanen, anders als etwa Robbe-Grillet, auf real existierende Orte (Rom, Mailand, Paris usw.) bezieht. Dem genauen Beschreiben im Kontext des Erzählens komme die Funktion zu, für den Leser und den Autor so etwas wie ein »Erkenntnisvorgang zu sein« (17.39 m); die geschilderten Sachverhalte und evozierten Objekte würden durch die Sprache entmythologisiert und dem Leser in konkreter Weise näher gebracht. Dabei lege der Erzähler sein eigenes Vorgehen als eine Arbeit an der Wirklichkeit offen. Trotz dieses Verfahrens lauere – insbesondere bei Butors durchaus sentimentalischen Rekursen auf vorgängige Kunst und Architektur und bei seinem »fatalen Hang zur Poesie« (25,06 m) – die Gefahr, dass seine Texte wieder in herkömmlicher Weise lesbar und interpretierbar würden und damit ihre intendierte Oberflächlichkeit verlören. Die Idee aber, in der Literatur eine Oberflächenkunst zu betreiben, die sich dem gesellschaftlichen »Verdinglichkeitsprozess« (24,21 m, passim) hemmungslos überlässt, kommt Brinkmanns späteren Vorstellungen einer an der amerikanischen Untergrundkultur orientierten neuen Popliteratur recht nahe. Sex und Politik (1966) erscheint als (Leser-)Zuschrift an die neomarxistische Publikumszeitschrift konkret. Der kleine Text begrüßt zunächst – vermutlich inspiriert durch Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft (1957) und Wilhelm Reichs Die sexuelle Revolution (1936, Neuausgabe 1966) – die pornographischen Darstellungen in der Zeitschrift als Akt der Befreiung von autoritärer Triebunterdrückung (s. Kap. 8). In diesem Kontext erscheint sie als Voraussetzung sozialer Veränderung nach dem Faschismus. Dieser Gedanke spielt in Brinkmanns späterer Lyrik (s. Kap. 17–25) und im Essay Über Lyrik und Sexualität (1969) eine wichtige Rolle, wobei er dort die politische Dimension der These weitgehend ausblendet. Dies gilt auch, anders als es der – vermutlich redaktionell gesetzte – Titel nahelegt, auch schon für seinen konkret-Beitrag: Hier kritisiert er die Kolumnen von Hubert Fichte (»Plattenragout«) und Rolv Heuer (»Taschenbuchtip«). Sie erscheinen ihm »völlig überflüssig, weil sich darin gar nichts bewegt und zeigt und so keine Wirkung hat« (Sex und Politik, 8). Der Vorwurf an Fichte und Heuer entspricht seinem Vorbehalt gegen die deutsche Dichterelite im Butor-Feature: Sie würden in ihren Kolumnen »reine
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Privatinteressen« vertreten. Brinkmanns Forderung, Subjektivität mit einem vorbehaltloses Einlassen auf den Verdinglichungsprozess zu koppeln, schließt ebenfalls an das Feature an: Er favorisiert »mehr Subjektivität, extrem und tief genug in den Dingen sich verlierend« (Sex und Politik, 8). Auch Brinkmanns Ruf nach einem provokativeren Ton in der Zeitschrift – sie solle »fluchig und göbelig« (Sex und Politik, 8) wie früher sein – erinnert an sein eigenes Schreiben und seine eigenen Posen (vgl. Schwandt 2001; Niefanger 2004 und 2011). Die in konkret präsentierte »Kulturpolitik« sei »recht schwachbrüstig« geworden, wohl nicht mehr radikal genug (Sex und Politik, 8). »Das humanistische Geschwafel« versteht er als »Rekurs auf die trauten alten Worte« des Establishments, die in Konkret nur »verschleierter als anderswo« seien (ebd.). Die frühe fundamentale Kritik am Zentralorgan der Neuen Linken in der Bundesrepublik findet seine spezifische Fortsetzung in Brinkmanns provokativem Auftritt beim Teach-in am 5. Februar 1969 in der Universität zu Köln (s. Kap. 1 und 2.3). Brinkmanns Essay Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter (1968) zielt auf ein Publikum deutlich jenseits der Pop-Avantgarde (s. Kap. 4) oder der Kölner Schule (s. Kap. 2.2); er kann, wenn man seine Rezeption als Maßstab nimmt, als sein vermutlich wirkungsreichster Text mit poetologischem Anspruch gesehen werden (s. Kap. 2.3). Der vergleichsweise nachvollziehbar argumentierende Essay erschien zunächst am 15. November 1968 in der evangelischen, eher konservativen Wochenschrift Christ und Welt – damals eines der auflagenstärksten Druckorgane mit intellektuellem Anspruch. Indiz für seine Relevanz ist, dass er in unterschiedlichen Anthologien zur Popkultur und Postmoderne nachgedruckt wurde (vgl. Gleba/Schuhmacher 2007, 38–48; Wittstock 2015, 116–127). Die im Essay ausführlich betriebene Dichterschelte nimmt die Positionierungsversuche des Butor-Features und der konkret-Zuschrift wieder auf. Vordergründig reagiert er aber auf die berühmte doppelte ›Gründungsurkunde‹ von Popliteratur und Postmoderne in Westdeutschland, auf Leslie Fiedlers zunächst im September 1968 ebenfalls in der Wochenzeitung Christ und Welt, dann ein Jahr später im amerikanischen Playboy erschienenen Essay Cross the Border – Close the Gap (dt. Das Zeitalter der neuen Literatur). Seine Thesen gehen auf einen improvisierten Vortrag mit dem Titel The Case for Post-Modernism am letzten Juni-Wochenende 1968 im Theatersaal der Alten Universität in Freiburg zurück, der im Rahmen eines Symposiums zum Thema ›Für und wider die zeit-
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genössische Literatur in Europa und Amerika‹ gehalten wurde. In seinem Essay schlägt Fiedler – »the wild man of American litarary criticism« (Vorspann zu seinem Essay in Christ und Welt, Fiedler 2015, 48) – einen deutlichen Bruch mit der etablierten Kultur sowie eine radikale Ausweitung der poetischen Verfahren und vor allem der dichterischen Gegenstände vor. Die Literatur müsse sich grenzüberschreitend Genres aus dem Bereich der Massen- bzw. Populärkultur öffnen wie dem Western, der Science Fiction oder der Pornographie; sie solle eingeübte Routinen verlassen und die Gräben zwischen ästhetisch anspruchsvoller und populärer Literatur, zwischen Künstler und Publikum oder zwischen Wirklichkeit und Fiktion einebnen (vgl. Goer 2013, 76–99; Fiedler 2015, 48–73). Auch wenn Fiedlers Vortrag und Essay in den einschlägigen Diskursen immer wieder als Initiationsereignisse gefeiert werden, muss man doch einräumen, dass es auch vor der Freiburger Rede ›Pop‹ (Artmann, Handke, Fichte, Chotjewitz, Michel, Fauser usw.) und gewissermaßen auch ›Postmoderne‹ (Enzensberger – vgl. Wittstock 2015, 15–18) in Deutschland gegeben hat. An der für die Erneuerung der deutschen Literatur nach der faktischen Auflösung der Gruppe 47 so immens wichtigen Fiedler-Debatte beteiligten sich neben Brinkmann u. a. Heißenbüttel, Baumgart, Hädecke, Walser, Holthusen, Neumann, Vormweg und Chotjewitz. Brinkmanns Beitrag erscheint in der Fiedler-Debatte deshalb so wichtig, weil er, »der einzige [...] ist, der sich dezidiert auf die Seite Fiedlers schlägt« (Gleba/Schumacher 2007, 21, vgl. Divers 2002). Er erregte Aufsehen, weil er »emphatisch für Fiedlers Literaturkonzept Stellung bezog« (Späth 1989, 43). Den Essay aus der Fiedler-Debatte herauszulösen und ihn als generell geltende Poetik oder als eigenständige Diskursbegründung zu lesen, wird dem Text wohl eher nicht gerecht (vgl. Schäfer 2001, 228; Poggi 2016, 99; Bogdal 2017, 147–156, besonders 150–152). Eigentümlich sind in Brinkmanns Essay die thesenartigen, oft polemischen Zuspitzungen, die mitunter sogar beleidigend wirken: So seien »Becker, Baumgart oder Walser [...] faul im Vergleich zu den Musikern« des Pop (Angriff, 39). Die sprunghafte Argumentation setzt eine gewisse Kenntnis des FiedlerEssays, aktueller Literaturdebatten (etwa um Benns Probleme der Lyrik, 1951) und der bislang erschienenen Beiträge der Debatte voraus. Hinzu kommen viele Anspielungen auf Größen des aktuellen Beat- und Mediendiskurses wie Harry Mathews, William S. Burroughs, Herbert Marshall McLuhan, Andy Warhol
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oder Susan Sontag sowie auf Markennamen, technische Angaben und Musik des Popdiskurses. Letzteres wird u. a. durch Beschreibungen der eigenen Schreibsituation in den Essay inkorporiert: »Ich schreibe das hier, während auf meinem Dual-Plattenspieler HS11 eine Platte von den DOORS abläuft, Disques Vogue, CLVLXEK 198, mit Jim Morrison – vocals [...]« (Angriff, 39). Das zum Teil exzessive, für den Popdiskurs aber durchaus übliche Namedropping und die darstellungsökonomisch wenig sinnvolle Nennung phonotechnischer Details dienen dazu, sich vom etablierten Kulturdiskurs in Deutschland abzusetzen und zu demonstrieren, wie weit sich der normale Leser (z. B. von Christ und Welt) von der aktuellen Kulturdebatte und der geltenden Popkultur ›im Westen‹ entfernt hat; beides gehört auch zur avantgardistisch verstandenen Selbstinszenierung des Autors (Niefanger 2004, 2011). Darüber hinaus haben die teils listenartigen Nennungen die Funktion das popkulturelle Wissen im deutschsprachigen Umfeld zu archivieren (vgl. Baßler 2002). Einen lebensweltlichen Bezug ganz eigener Provenienz konstruieren im Essay die eingestreuten Autobiographeme (vgl. Niefanger 2012, 290), hier besonders die Hinweise auf das eigene Kind »mit Hirnschaden« (Angriff, 43). Selbst in diesem privaten und prekären Bereich aktueller Empfindungen verweist Brinkmann auf den Fortschritt in den Vereinigten Staaten, während man »in der BRD [...] mißtrauisch« (43) gegenüber der angewendeten Behandlungsmethode sei. Die Auflösung des Privaten in der Momentaufnahme einer verdinglichten Welt, die Brinkmann hier vorführt, zeigt in der unverhofften Bewegung des Essays »jene Sensibilität, die den schöpferischen Produkten jeder Kunstart [...] die billigen Alternativen verweigert: hier Natur – da Kunst und hier Natur –, da Gesellschaft« (44). So stehen in einem einzigen Abschnitt des Essays wertfrei nebeneinander geordnete »Materialien eines ereignislosen, wäßrigen Novembernachmittags« (43): die Doors, Robert Brinkmann, Andy Warhol, Liz Taylor (»Richard Burton: ›Wenn sie geht, sieht sie von hinten aus wie eine französische Nutte‹«, Angriff, 43). Für Brinkmann ist es wohl »die Gesellschaft«, die »diesen Irrsinn hervorbringt« (46). Die gleichwohl oft »proklamierte Humanität« weise »wiederum den ungeheuren Zynismus ausgebuffter alter Männer aus.« (46) Vielleicht ungewollt, aber unübersehbar, zeigt sich insofern im schonungslosen weil strikt gleichgeordneten Nebeneinander von popartigen Momentaufnahmen, geradezu unbeabsichtigt rührenden Auto-
biographemen und kulturtheoretischen Thesen eine durchaus wirkungsmächtige Gesellschaftskritik, die allerdings selbst immer wieder in einen möglicherweise ungewollten Zynismus umzukippen droht. Die fünf Abschnitte nach einer Art Einleitung betitelt Brinkmann mit metaphorischen Phrasen. In einem Fall ist ein Zitat identifizierbar (aus Max Schneckenburgers Wacht am Rhein bzw. Johannes Mario Simmels Roman Lieb Vaterland magst ruhig sein). Die Abschnitte gelten zunächst dem Anlass und einer Bestandsaufnahme, dann der Kontrastierung amerikanischer Medientheorie mit deutscher Kultur-Xenophobie, schließlich der Entfaltung einer gegenwartsbezogenen Popkultur bzw. -literatur nach amerikanischem Vorbild. Wesentlicher Gestus des Beitrags ist ein Absetzen vom Vorherigen, ist die geradezu grundsätzlich klingende Negation des im eigenen Kulturraum Etablierten: »Der Kulturbetrieb« stecke »in der Krise« (Angriff, 38), schreibt Brinkmann, obwohl oder weil die »deutschen Dichter« (38) so weiter machen würden wie bisher. Sie hätten nicht bemerkt, »daß das europäisch-abendländische Kulturmonopol gebrochen ist« (38); man beharre »auf seinem eigenen Mist und ließ die Literatur zum alten Hut werden« (41). Der prinzipielle Argwohn älterer deutscher Kultur gegenüber Neuem übersehe die Inspirationskraft amerikanischer Kulturdiagnosen und die Kreativität der Beatliteratur. »Das meint: Es herrscht eine generelle, tiefverwurzelte Ignoranz und Abneigung gegen alles ›artfremde‹. Und wenn nun Fiedler daherkommt und etwas von der Bewegung in den USA erzählt, dann stößt das auf prinzipielle Blindheit. Aber Fiedler erzählt nicht nur, diesmal ist etwas anderes passiert: Er greift das Kulturmonopol des Abendlandes an« (42). Für die junge Generation bedeutet dies: »Der einzig zu gehende Weg für jüngere Autoren, wollen sie nicht durch die häßlichen, zynischen alten Männer des Kulturbetriebs kaputtgemacht werden, ist: grundsätzliches Mißtrauen gegen jede Freundlichkeit seitens dieser Leute – und [...] alles prüfen, das Beste behalten. Denn die alten Leute, selbst wenn sie ›jung‹ erscheinen, sind tot, weil sie keine Zukunft mehr haben« (42). Später, in den Notizen zu Silverscreen (1969) wird er von den »Züchtigungsrituale[n] feuilletonistischer Kritikerschreibe« sprechen (29, § 67). Brinkmann rekurriert hier auf ein Schlüsseltheorem der Frankfurter Schule, dass sich die Studentenrevolte von 1968 auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Herbert Marcuses Kritik der »repressive[n] Toleranz« (Marcuse 1965/1968, 100) – in Brinkmanns Zitat die »Freundlichkeit« (Angriff, 42)
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des etablierten Kulturbetriebs – richtet sich gegen ein politisches System, dass eine einhegende, mäßigende Toleranz nutzt, um sich selbst zu stabilisieren. Die Umarmungsstrategie werde – so Marcuse – auch und besonders mit Blick auf die Kulturökonomie virulent: »Die Gefahr ›zerstörerischer Toleranz‹ [...], ›wohlwollender Neutralität‹ gegenüber der Kunst ist erkannt worden: der Markt, der [...] gleich gut Kunst, AntiKunst und Nicht-Kunst, alle möglichen einander widerstreitenden Stile, Schulen und Formen in sich aufnimmt, liefert ein ›behagliches Gefäß, einen freundlichen Abgrund‹ [...], in dem der radikale Impuls der Kunst, ihr Protest gegen etablierte Wirklichkeit untergeht« (Marcuse 1968, 100). Marcuse fordert daher eine Kunst und Literatur, die sich widersetzt, die »Widerstand« gegen das Etablierte leistet (ebd.). Der amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler, auf den Brinkmann mit seiner Hasstirade auf die »häßlichen, zynischen alten Männer des Kulturbetriebs« (Angriff, 42) reagiert, bezieht sich nicht auf die Kritische Theorie und ihre Kritik an der »Kulturindustrie«, wie sie wortmächtig etwa auch Theodor W. Adorno vorgebracht hatte (Adorno 1967, 60–70). Er schlägt sich vielmehr auf die Seite der Massenkultur und sieht in dieser einen Hebel den etablierten bürgerlichen Kreisen und ihrer milieuorientierten Unterscheidung von guter/hoher und schlechter/niederer Kunst beizukommen. Brinkmann favorisiert in seinem Essay – auch wenn er sich zu Fiedler bekennt – aber einen letztlich avantgardistischen Ansatz, da er eine »spezifisch zeitgenössische Sensibilität« (Angriff, 47) beachtet wissen will, die »von den älteren Autoren nicht mehr geteilt und deswegen auch nicht mehr verarbeitet werden kann« (47). Er verlangt eine Ausweitung der Aufmerksamkeit auf die Grenzbereiche des Normalen (Drogenrausch, Wahnvorstellungen) und eine radikale Introspektion: »ungezielte Vorstöße von Kosmonauten des Innern« (48). Dieses Programm zielt aber nicht – mit Fiedler – auf eine Überbrückung von Gräben, sondern verlangt eine deutliche Hinwendung zur Gegenwart und daher – mit strikt avantgardistischem Duktus –, »daß die Kluft zwischen den Generationen sich noch weiter vertieft« (48). Alltag, Gegenwart und Popdiskurs auf der einen Seite und Absetzen vom Etablierten sind auch die Orientierungsmomente der Notiz zum Gedichtband Die Piloten (1968). Sie beginnt mit der Behauptung einer Abwendung von allen herkömmlichen Formen und Gegenständen der Lyrik und ihrer jetzigen Verwalter, die später nochmals aufgenommen wird. Diese »ausgebufften Kerle« (St, 185) würden die »Kulturellen
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Wörter« besetzt halten, statt sich neuen Wahrnehmungswelten unmittelbar zu öffnen. »Ich denke«, schreibt Brinkmann, »daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten« (185). Die so entstehenden Alltagsbilder seien nichts weiter als »scheinbar isolierte Schnittpunkte«, die man durch »genaue[s] Hinsehen« (185) erfassen müsse. Wie im Angriff aufs Monopol setzt sich Brinkmann auch in diesem Einleitungsessay von den etablierten Dichtern und der gängigen Dichtungstheorie ab, vor allem den sogenannten Form- und Stilproblemen der Nachkriegslyrik (Benn, Celan, Eich usw.): »Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, wie das noch immer Konvention ist. Sie können von mir aus auch ruhig weiterhin den berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis, die ihre persönlichen Skrupel angesichts der Materialfülle in feinziseliertem Hokuspokus sublimieren, als Beschäftigungsgegenstand (vorbehalten) bleiben« (St, 186). Brinkmann wertet die genaue Wahrnehmung und die Erweiterung des Repertoires gegenüber Form und »Stil« (186) im Gedicht auf. Dem feinsinnigen Lyriker stellt er einen Autorentwurf entgegen, der sich über eine sensible Alltagsrezeption definiert.
15.3 Orientierung am amerikanischen Underground Einer der ersten kritischen Texte Brinkmanns, der sich mit der amerikanischen Underground-Szene beschäftigt, ist eine kurze Besprechung des bekannten S/W-Experimentalfilms The Chelsea Girls (1966) von Andy Warhol im Kölner Stadt-Anzeiger vom 28. Dezember 1968. Der Film besteht aus 16 Episoden à 32 Minuten. Die Musik zum Film steuerte die Band The Velvet Underground bei; am Drehbuch hatte Ronald Tavel neben Warhol mitgewirkt. Zu sehen ist u. a. die deutsche Sängerin und Warhol Muse Nico (Christa Päffgen), deren erste Platte Chelsea Girl (1967) sich auf den Film bezieht. Gleich zu Beginn ist sie zusammen mit ihrem Sohn Ari Päffgen bei Alltagsverrichtungen in einer Küche zu sehen. Das Chelsea Hotel in Greenwich Village gehört zu den legendären Orten New Yorks und beherbergte u. a. Popgrößen und Dichter wie Bob Dylan, Patty Smith, Salvador Dalí, Arthur Miller, Dylan Thomas, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Falco oder Leonard Cohen. In dem Film, der das Hotel weltweit bekannt machte, wird das mehr oder minder
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fiktive Leben der Hotelbewohner und -bewohnerinnen gezeigt, wobei diese nur zum Teil selbst auftreten, meist aber durch Leute der Wahrhol-Factory gespielt werden. Hier setzt Brinkmanns Besprechung an, wenn er die weiche Grenze von Fiktivem und Faktischem im Film thematisiert: »Man muß begreifen lernen, daß ›Leben‹ Film ist und nichts Natürliches – wir alle leben in der Oberfläche von ›Bildern, die sich bewegen‹« (Chelsea Girls). Möglicherweise in Variation eines 1963 erschienen Buchs von Heinz Otto Burger »Dasein heißt eine Rolle spielen« (Burger 1963, Titel) formuliert Brinkmann eingängig: »Dasein heißt Kino, 24 Stunden lang jeden Tag« (Chelsea Girls). Der Warhol-Film sei »die bisher radikalste Realisierung dieses Fakts« (ebd.). Beim Zuschauen dieses Films, der zum Teil mit zwei simultan gezeigten Sequenzen arbeitet, löse »sich unmerklich das vorgegebene Empfinden von der angenommenen eigenen Realität auf – die Unterscheidung, was imaginär ist, das auf der Leinwand Projizierte oder man selbst« verwische »sich« (ebd.). Diesen Effekt habe bislang noch »kein Supermonsterstreifen geschafft« (ebd.). Die Macht der Bilder und die Verwischung der Realitätsgrenzen sind zwei Aspekte, die Brinkmanns ästhetische Konzepte der folgenden Jahre bestimmen werden. Eine Mischung aus Werbetext für die eigenen Übersetzungen des amerikanischen Lyrikers und dessen Vorstellung im Kontext der »Jungen amerikanischen Lyrik« (Höllerer/Corso 1962) stellen die kurzen Anmerkungen zu Frank O’Hara (1968) dar. Sie erschienen im ersten Heft des Literatur-Magazins Lit (1, 4–5) im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Im Anschluss an die Anmerkungen finden sich zwei Gedichtübersetzungen O’Haras von Brinkmann (5; s. Kap. 38). Das Heft enthält zudem den illustrierten Text Bilder. 28.6.–29.6. (aus einem in Arbeit befindlichen Roman), der hier natürlich nicht aus dem Nachlass (s. Kap. 48) veröffentlicht wurde, wie es in einer Dissertation fälschlich heißt (Rümmele 2012, 283). Brinkmann hat den Text vermutlich als eine Art Nebenwerk zu seinem gerade erschienen Roman Keiner weiß mehr (1968, s. Kap. 27) verstanden. In seinen Anmerkungen beschreibt Brinkmann die Lyrik des Amerikaners als »eine Mischung aus realistischer Detailtreue, faktischer Genauigkeit und poetisch-anmutiger Leichtigkeit und Unbekümmertheit« (Anmerkungen, 4). Er weist zwar auf O’Haras Vorliebe für neue französische Literatur und den Surrealismus hin, beharrt aber darauf, dass der Dichter »durch und durch amerikanisch« sei (4). In seinen Gedichten herrsche »die Geste des Persönlichen, Subjektiven«
(4) vor; die »große anmaßende Welterklärungsgeste« sei »dem Beharren auf dem sich in einem Augenblick anbietenden Realitätsausschnitt gewichen« (4). War Butor und der Nouveau Roman Brinkmanns Vorbild im Bereich der erzählenden Prosa, kommt Frank O’Hara und der amerikanischen Beatpoetry eine ähnliche Funktion im Bereich der Lyrik zu. Dies wird im großen Essay Die Lyrik Frank O’Haras (1969) noch deutlicher als in den kurzen Anmerkungen. Die längere Abhandlung, wiederveröffentlicht in Der Film in Worten (1982, 207–222), begleitete zunächst eine deutsche Ausgabe der Gedichte O’Haras, die Brinkmann übersetzt hatte. Auf seinen hinführenden Essay wird im Titel des bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschienenen Bandes explizit verwiesen: ›Lunch Poems‹ und andere Gedichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann (1969) (s. Kap. 38). Eine zweite Ausgabe erschien 1973 als Taschenbuch (dtv-Sonderreihe). Die Lunch Poems umfassen Gedichte O’Haras aus den Jahren 1953 bis 1964, die 1964 im Independent-Verlag Lawrence Ferlinghetti’s City Lights (San Francisco) publiziert wurden. »Brinkmann« habe »es verstanden«, schreibt Helmut Salzinger in einer zeitgenössischen Rezension des deutschen Bandes, »O’Hara schon allein mittels der von ihm besorgten Ausstattung des Bandes [...] aus seinem unverdienten Schattendasein herauszuholen.« (Die Zeit 50, 1969, Kultur). Zu dieser »Ausstattung«, die den eigentlichen Inhalt des Bandes attraktiver mache, gehörte auch der vierzehnseitige Essay Brinkmanns; seine Anmerkungen indes würden kaum alles Notwendige erklären. Verfasst hat Brinkmann seinen Essay, wie er am Ende vermerkt, im »Dezember 1968/Januar 1969« (FW, 222). Er steht im Kontext einer intensiven, verehrenden Beschäftigung mit dem amerikanischen Lyriker, die sich etwa in dem Gedicht ›Für Frank O’Hara‹ (1970; St, 309–315) oder der Widmung des Gedichtbands Die Piloten (1968; St, 187) niedergeschlagen hat; in der Notiz (St, 185–187) zu diesem Band heißt es: »Dankbar bin ich [...] den Gedichten Frank O’Haras, die mir gezeigt haben, daß schlechterdings alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht werden kann [...]. Ich widme deshalb den vorliegenden Gedichtband dem Andenken Frank O’Haras [...]« (St, 186 f.). Die Widmung war Brinkmann so wichtig, dass er sie schon am Ende der Anmerkungen zu Frank O’Hara (1968, 4) angekündigt und durch eine Kombination der Anmerkungen mit den O’Hara-Übersetzungen Ave Maria (Original in
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den Lunch Poems von 1964) und Hotel Particulier (Original mit dem bei Brinkmann fehlenden Titelzusatz »Broadside« als Kunstdruck der Kriya Press 1967) sowie einer Illustration aus den später erscheinenden Piloten (Comic-Strip von Joe Brainard) auf einer Doppelseite des Literaturmagazins Lit 1 (1968, 4 f.) zusätzlich gestützt hat. Auch der Essay Die Lyrik Frank O’Haras ist mit Bildern illustriert, deren Bezug zum Text sich allerdings nicht immer sofort einstellt, zumal Bildunterschriften – wie bei Brinkmann üblich – fehlen. Auf einem Bild, das die linke Seite des durchgehend zweispaltigen Textes fast ganz ausfüllt, findet sich etwa eine Ganzkörperabbildung O’Haras, dessen Habitus man auch einem der erwähnten amerikanischen Gangster zuschreiben könnte. Die einzelnen Abschnitte werden durch fettgedruckte Nominalphrasen und Kurzsätze eingeleitet, die dem Zurechtfinden im Prosatext auch bei nicht chronologischer Lektüre dienlich sind oder offenbar sein sollen. Neben den Informationen zu O’Haras Leben und Lyrik sowie zur Lyrik der New York School vermittelt der Essay ästhetische Vorstellungen, die man cum grano salis recht problemlos Brinkmann selbst zuschreiben kann. Im Bereich der Poetologie zeigen sich Nähen zu Angriff aufs Monopol, wenn er die Medientheorie McLuhans anführt, auf die Fiedler-Debatte anspielt (etwa mit einem Zitat von Chotjewitz, FW, 221), Popmusik (Rolling Stones, The Doors) und bildende Kunst (Jackson Pollock, David Smith) als Kontexte aufruft, eine Ausweitung poetischer Gegenstände sowie eine wenig formorientierte Sprache favorisiert und die Subjektivität des Zugriffs betont wird. Auch findet sich ein analoger Negationsgestus gegenüber der älteren Dichtung und ihrer autoritären »Dichterimages« (213). Ausdrücklich setzt sich Brinkmann hier von Helmut Heißenbüttel und Jürgen Becker ab: »Leute, packt Eure Schreibmaschine ein« (214). Der »Mystifizierung des Schreibens« (ebd.) stellt er ein Bekenntnis zum Gegenwärtigen gegenüber, das er auch O’Hara zuschreibt: »Literatur« hat »zeitgenössisch zu sein« (213). Beim Autor wird dabei »eine Sensibilität voraus[gesetzt], die auf gegenwärtige Reizmuster zu reagieren versteht« (213). Auffällig erscheint hier die für Brinkmann typische Engführung von Autor und Aussagesubjekt; Gedichte sollten auf »die eigene Perspektive des Autors« verweisen (215). Im Essay wird folglich nicht zwischen lyrischem Ich, Sprecher und Verfasser unterschieden, im Gegenteil, ihm scheint eine Überblendung von Text- und Autorintention besonders wichtig zu sein: »Das Gedicht ist Frank O’Ha-
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ra« (210) Der Autor sei »Beteiligter, Betroffener, Akteur« (209). Diese Involviertheit ins Gedicht steigere zwar dessen »Intensität« (209), dieses entfalte aber gleichzeitig ein Nebeneinander alltäglicher Details: »Alle Momente sind gleichwertig, und ohne weiteres kann man sagen: banal, oberflächlich, also tief« (ebd.). Ziel der Gedichte O’Haras sei die »gleiche Tiefe des Banalen« herzustellen und eine »totale Verklammerung von subjektivem Interesse und objektiven Gegebenheiten« (ebd.) anzustreben; der Dichter sammle »Oberfläche« (215), sagt Brinkmann und scheint diesen Oberflächenbezug zum Ausgangspunkt seines poetischen Weltbezugs zu machen. »Aus dem Essay Die Lyrik Frank O’Haras« schreibt er an Hartmut Schnell, »kann man meine Einstellung zu Gedichten und Gedichtemachen herauslesen.« (BrH, 126): »wir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer. Deshalb muß diese Oberfläche endlich angenommen werden, das Bildhafte täglichen Lebens ernst genommen werden, indem man Umwelt direkt nimmt und damit die Konvention ›Literatur‹ auflöst, [...] hinter der sich ein verrotteter romantischer Glaube, ein fades Prinzip Hoffnung an Literatur als vorrangiges Heilmittel verbirgt« (FW, 215). Damit ist der für die spätere Pop-Diskussion so wichtige Schlüsselbegriff »Oberfläche« (vgl. etwa Grabienski u. a. 2011; Hecken 2013) schon für die frühe Poetologie Brinkmanns reklamiert. Die Absage an Ernst Blochs Prinzip Hoffnung kann man einerseits als Distanzierung von der engagierten Literatur der 1968er (Enzensberger usw.) lesen, die seine früheren Essays immer wieder bestimmt haben, anderseits aber auch als grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber jeglicher allegorischen Überfrachtung des Dichterischen. Um der geforderten Entmystifizierung des Schreibens auch in seinem Essay gerecht zu werden, inszeniert der Autor eine typische Schreibsituation, die so ähnlich schon in seinen eigenen Gedichten (Gedicht am 19. März 1964; St, 45, vgl. Niefanger 2004, 90–95) aufgerufen worden war. Sie entspricht – was den Einsatz von Inspirationsmittel, Schreibgerät und die Auswahl einer spezifischen räumlichen Schreibsituation betrifft – zwar strukturell gängigen poetischen Mustern, sie steht diesen aber in der konkreten Ausfüllung dieser Struktur diametral entgegen; aufgerufen wird kein locus amoenus, sondern die eigene Etagenwohnung im Winter; statt den Vögeln oder Schafen hört man die Stones: »die letzte LP der Rolling Stones im Ohr, vor mir die Gedichte Frank O’Haras [...] Köln, Engelbertstr. 65, vierter Stock, 12.12.68, kalt und klar« (FW,
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221). Der Zeitlosigkeit und Muße dichterischer Inspiration in autonomen Konzepten (Klassik, Romantik usw.) steht die begrenzte Zeit der Alltagssituation des Dichtens bei Brinkmann entgegen: »Ich frage mich, ob ich dies in so kurzer Zeit noch fertig kriege« (221). Der Essay Über Lyrik und Sexualität (1969) erscheint im etwas bizarren Themenheft »Pornographie. Dokumente, Analysen, Fotos, Comics« der Streitzeitschrift, herausgegeben von Horst Bingel, dem Gründer des Frankfurter Forums für Literatur und von 1974 bis 1976 Vorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS). Das Heft versteht sich als Beitrag zur ›sexuellen Befreiung‹ und zur Enttabuisierung der öffentlichen Sexualmoral. Brinkmanns Essay, abgedruckt zwischen Beiträgen der Weggefährten Rygulla und Chotjewitz, schließt an die konkret-Zuschrift von 1966 und seinen wortreichen Beitrag zur Fiedler-Debatte von 1968 an. Selbst den Erscheinungsort des Beitrags könnte man als Fiedler-Referenz lesen, dessen wegweisender Aufsatz ja im amerikanischen Playboy erschienen war (s. o.). Die poetologischen Aussagen zur Lyrik denken den O’Hara-Essay aus dem gleichen Erscheinungsjahr (1969; FW, 207–222) weiter. Musterhaft die zeitgenössische Formdiskussion aufgreifend gilt der erste Bezug Gottfried »Benns Marburger Vortrag« (Über Lyrik und Sexualität, 65), Probleme der Lyrik (1951) (vgl. Kobold 2014, 39–49), den dieser vor Studierenden und im Hessischen Rundfunk gehalten hatte. Er sei der Ausgangspunkt für »theoretische[s] Geschwätz, das nicht mehr abreißt« (Über Lyrik und Sexualität, 65). In seiner Ablehnung einer überzogenen poetologischen Reflexion der eigenen Lyrikproduktion, die hier angedeutet wird, positioniert sich Brinkmann in der Nähe seines Freundes Nicolas Born (oder umgekehrt), der etwa zur gleichen Zeit in Bezug auf seine Lyrik notierte: »Programme sind Übertreibungen. Es ist besser kein Programm zu haben« (Born 2007, 549). In seinem berühmten Vortrag charakterisiert Benn das moderne Gedicht als weitgehend unpolitischen, formstarken und sehr autorbezogenen Modus poetischen Sprechens. Kennzeichen sei sein »monologischer Zug« (Benn 2003, Bd. 2, 1092). Auch wenn Brinkmann hier Benns komplexe poetologische Überlegungen auf dessen ›privat-lustige‹ Verbote einzelner Marotten reduziert, gibt es seit den Auseinandersetzungen mit dem Kölner Realismus (s. Kap. 2.2) durchaus eine gewisse Affinität Brinkmanns zu Benns Diktum »der große Dichter aber ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten« (Benn 2003, Bd. 2, 1069). Für die Argumentation hier spielt Benns eigenwilliger ›Realis-
mus‹ zunächst keine Rolle; Brinkmanns Realismusverständnis mit seinem Interesse an der Oberfläche des Sichtbaren ist anderer Natur. Statt aber seine Vorstellungen auszuführen, platziert er den nächsten erwartbaren Intertext: das »Vorurteil Adornos [...] nach Auschwitz sei keine Lyrik mehr denkbar« (Über Lyrik und Sexualität, 65). Gemeint ist das berühmte in Kritik und Gesellschaft (1951) geäußerte Verdikt, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben,« sei »barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben« (Adorno 1951/1995, 49). Gemeint war nicht die Lyrik an sich, insbesondere nicht ihre widerständigen Formen, sondern bestimmte ›einfache‹ Gedichtsparten wie die Natur- und Erlebnislyrik, die sich der gesellschaftlichen Kritik verschließen würden und daher affirmativ die unpolitische Haltung der Blut-, Bodenund Heimatdichtung zwischen 1933 und 1945 fortschreiben würden; nicht gemeint sind Formen der hermetischen und artistischen Lyrik (ganz besonders etwa Celan), die sich über ihre komplexe sprachliche Gestaltung einem seichten Verständnis und einer leichten Konsumierbarkeit widersetzen. Beide Positionen moderner Lyrik – Benns Konzept des absoluten Gedichts und Adornos Befürwortung einer Mimesis zweiter Ordnung über die Form – würden dazu dienen, so Brinkmanns Argumentation, »das Gedicht aus jeglichen realen Zusammenhängen zu lösen und es gegenüber konkreter Aktualität abzuriegeln« (Über Lyrik und Sexualität, 65). Brinkmanns Lyrik-Realismus setzt insofern auf zwei Momente: auf Konkretheit und Aktualität. Fragen der poetischen Gestaltung von Mimesis, wie sie Benn und Adorno aufwerfen, interessieren ihn nicht. Denn das Formbewusstsein habe zu einem elitären Poesieverständnis geführt und bewirkt, »daß das Gedicht heute die anti-demokratischste Form des literarischen Ausdrucks ist« (Über Lyrik und Sexualität, 66). Er unterstellt ihnen – nicht ganz richtig – eine Abkehr vom Realen, ja, einen wirklichkeitsfernen Ästhetizismus, weil für ihn die Wirklichkeit an Oberflächenphänomene und aktuelle soziale und mediale Praktiken gebunden ist und, um möglichst nah an die neuen lyrischen Gegenstände heranzukommen, der Inhalt gegenüber der Form aufgewertet werden müsse. Während die Lyrik der Etablierten sich dazu ermächtige, »auf die ›großen Dinge‹ der Nation oder gar der gesamten Menschheit zu achten« (66), fordert Brinkmann, »über die Verwendung des flachsten Ausdrucks und die Hereinnahme alltäglicher Bilder und Vorgänge das Gedicht umzufunktionieren zur gewöhnlichsten, selbstverständlichsten Ausdrucksart« (66). Das
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gelte insbesondere für den Bereich Liebe/Sexualität: Statt über »die ›wahre‹, durch keine Gesellschaftsordnung bzw. gesellschaftliche Unordnung vermittelte ›Liebe‹« (66) zu schreiben, fordert er eine Poesie, die Sexualität ohne Tabus und Schamgrenzen darstellt. Um die thematische Begrenzt- und Angepasstheit (vgl. 70) neuer westdeutscher Lyrik zu belegen und gleichzeitig auf die Vorbildfunktion neuester amerikanischer Autoren zu verweisen, vergleicht er in seinem Essay exemplarisch zwei Liebesgedichte: »Liebe« (67 f.) von Helga M. Novak und »Something« / »Irgendwas« von Robert White Creeley, einem Lyriker der Black Mountain poets. In Creeleys Gedicht werde »kein Ritual [...] angeboten, sondern ein Fakt, der gewiss banal ist, daher lyrisch« (Über Lyrik und Sexualität, 69). Brinkmanns »Plädoyer für das Alltägliche« (Boyken 2012, 332) stellt den hermetischen Charakter, das symbolisch Überhöhte und das Bedeutungsschwangere der Nachkriegslyrik insbesondere im Themenfeld Liebe/Sexualität radikal in Frage und favorisiert eine möglichst unverstellte Sprache der Liebe. Das Bekenntnis zur Körperdarstellung, die pornographische Elemente aufnimmt, und die Forderung, die Lyrik müsse sich auf die aktuelle Waren- und Medienwelt beziehen, sind Aspekte von Brinkmanns Konzepten, die einerseits der Fiedler-Debatte, andererseits der sogenannten ›sexuellen Befreiung‹ verpflichtet sind. Letztere ist freilich, wie man zeittypisch, aber ausgesprochen deutlich bei Brinkmann erkennen kann, auf eine einseitige Enthemmung männlicher Sexualität gerichtet. So wird die diskrete und selbstbewusste, in Brinkmanns Augen »verdrehte Sprache« (Über Lyrik und Sexualität, 67) der Autorin Nowak scharf kritisiert, während die übergriffige und im Wortsinn schamlose Beschreibung der verlegenen und schüchternen Frau nach dem Koitus bei Creeley gefeiert wird. Im Nachlassband Der Film in Worten (1982, 84–93) findet sich der Prosatext Flickermaschine (1969), gegenüber dem man ähnliche Vorbehalte formulieren kann. Schon mit seiner topographischen Situierung im Kölner ›Vergnügungsviertel‹ und durch die lediglich den Text illustrierenden Pin-up-Bilder schließt er thematisch und genderlogisch jedenfalls an Über Lyrik und Sexualität an; er trägt im Inhaltsverzeichnis die zusätzliche Gattungsangabe »Prosa« (FW, 310), die bei der Erstveröffentlichung fehlt, und einen etwas ungenauen Hinweis auf diese. Der Text wurde in die wichtigste Anthologie deutschsprachiger Beatprosa, Super Garde. Prosa der Beat- und Popgeneration (1969), aufgenommen, die Vagelis Tsakiridis, genannt ›Tsak‹, herausgegeben hat (Super Garde, 31–42). Weil der Satz
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des Originals anders und die Druckqualität besser ist als der Nachdruck im späteren Sammelband, erscheinen dort die Bilder konturenreicher; sie finden sich auch an anderen Stellen des Textes. Als der Band 1969 publiziert wurde, gehörte der deutsch-griechische Herausgeber – selbst Autor, Übersetzer und Bildhauer – zu den angesehensten links-kritischen Köpfen in Deutschland. Bei der letzten Tagung der Gruppe 47 (vgl. Niefanger 2019, 42–54), ein Jahr vor der Konzeption von Super Garde (oft fälschlich: Supergarde) hatte er – vorgeschlagen von etablierten Größe wie Erich Fried und Hans Werner Richter – nur knapp den begehrten Preis der renommierten Gruppe verfehlt, bekam aber als Ausgleich eine ansehnliche Geldspende. Ein damals noch laufender Asylantrag Tsaks in der Bundesrepublik Deutschland wurde 1968, kurz vor Erscheinen des Bandes, gewährt. In Super Garde sind Texte u. a. von Chotjewitz, Salzinger oder Wondratschek veröffentlicht worden. Tsakiridis betont in seinem Vorwort, geradezu anbiedernd die Affinität Brinkmanns zum Titel des Bandes, der den Avantgarde-Charakter der hier gesammelten Prosa proklamiert, und dessen Sympathie für den Herausgeber: »Brinkmann schrieb extra eine SUPER Geschichte, weil der Titel SUPER GARDE ihm gefiel und weil er mich mag« (Tsakiridis in: Super Garde 1969, 8). Werbewirksamer noch als die Hervorhebung des Originalbeitrags ist der Hinweis von Tsakiridis auf Brinkmanns Auftritt bei der legendären Podiumsdiskussion in der Berliner Akademie der Künste am 17. November 1968, wo er Marcel Reich-Ranicki bedroht haben soll: »Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, dann würde ich sie jetzt niederschießen« (Bohrer 1970, 10). Brinkmann habe Flickermaschine verfasst, so Tsakiridis, »weil er mit einem Maschinengewehr herumläuft – manchem älteren Lit-Kritiker ließ er seine Kugeln um die Ohren sausen!« (Tsakiridis in: Super Garde 1969, 8) Diese zum einen antiautoritäre und lebensge schichtliche, zum anderen bewusst beat-avantgardistische Verortung durch den Herausgeber, dann die klare topographische Verortung des Textes selbst rund um den Kölner Rudolfplatz sowie konkrete Zeitangaben, schließlich die hörbare, homodiegetische Erzählinstanz legen nahe, Brinkmanns Flickermaschine eher als eine experimentelle (autobiographische) Erzählung (s. Kap. 28–32) denn als einen poetologischen Text zu lesen. Gleichwohl enthält der Text Hinweise zur ästhetischen Gestaltung: »Erinnerungen in den Wörtern« würden hier zu »molekülartigen Gebilden zusammengeschlossen«. Es entstünden aber keine Sätze mehr, sondern »nur lose Folgen von Satzpar-
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tikeln« (FW, 84). Die Zerschlagung der Syntax und die Reduzierung des Evozierten auf kleine oder kleinste Sinneinheiten zeigen Nähen zur Prosa des expressionistischen Jahrzehnts, ohne dass mit den verwendeten und reflektierten Verfahren aber eine »Autonomie der Textur« (Baßler 1994, 32–38) bzw. Form angestrebt wird. Vielmehr geht es Brinkmann um eine neue Dimension realistischer Darstellung in »mediatisierten Lebensräumen« (Uthoff 2012, Titel). Deutlich wird dies schon am ›kinematographisch‹ anmutenden Titel der Prosa, der »das sinnlich-visuelle Erlebnis des Mediums betont« (Röhnert 2007, 284, vgl. 283–394), aber sich auch auf den »im Kopf ablaufenden Bewußtseinsfilm‹« (ebd., 285) bezieht. Dieser nehme die in ihrer Andersartigkeit angeglichenen Bilder der Außenwelt unverbunden und weitestgehend isoliert auf. Aufs Papier gebracht soll die so entstandene Textur »möglichst genau Leben simulieren« (FW, 86, vgl. 87). Voraussetzung sei aber ein Zustand »völliger Erschöpfung« (88), der »Kälte« (85) des oder der Wahrnehmenden, um den Bildern ungehemmt und ungeordnet Zugang zu verschaffen. Einer der wichtigsten, zugleich vergleichsweise recht programmatischen poetologischen Texte Brinkmanns aus dieser Zeit geht erneut auf einen Rundfunkbeitrag zurück: Einübung einer neuen Sensibilität (1969). Der posthum 1995 von Maleen Brinkmann edierte Beitrag wurde innerhalb der Sendereihe »Die Kunst ist tot – es lebe die Kunst. Wandlungen des kulturellen Bewußtseins in Deutschland« am 22. Juni 1969 im Hessischen Rundfunk gesendet (s. Kap. 41). Andere Beiträger waren zum Beispiel der Literaturkritiker und Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich oder der Skandal- und Happening-Künstler Wolf Vostell, dessen Aktion 14 Tage nach Brinkmanns Sendung zur Stürmung des Rundfunkgebäudes durch die Polizei führte. Die Sendereihe reagierte vielstimmig auf Hans Magnus Enzensbergers legendären Kursbuch-Essay Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend (1968) und kann als wichtiger Beitrag des Kulturbetriebs zur zunächst vornehmlich studentischen 1968er-Revolte gelten. Diesem Kontext können natürlich auch die oben erwähnten Beiträge Brinkmanns zum Verhältnis von Sexualität und Poesie zugeordnet werden, nur erscheinen die Äußerungen hier grundsätzlicherer Art. Denn im Kursbuch wurde wortreich nichts weniger als der ›Tod der Literatur‹ ausgerufen und gleichzeitig ihr mögliches Weiterleben anvisiert. »Die Literaturen feiern das Ende der Literatur. Die Poeten beweisen sich und anderen die Unmöglichkeit, Poesie zu machen«, heißt es dort (Enzensberger 1968, 187). Durch-
aus im Sinne Brinkmanns erscheint Enzensbergers Angriff aufs Establishment: »Bis heute« gebe »die Hervorbringung der bürgerlichen Epoche [...] den Ton an« (Enzensberger 1968, 193). Als Alternative schwebt Enzensberger – anders als Brinkmann und trotz der Überzeugung eigener Machtlosigkeit – aber eine weitreichende Politisierung, eine ›gesellschaftsrelevante‹ Literatur, vor. Vorbilder sind ihm Autoren, die ihre Texte dem investigativen Journalismus öffnen: Günter Wallraff, Bahman Nirumand, Ulrike Meinhof und Georg Alsheimer. Diskussionsstoff ergab sich auch aus seiner Forderung, das Buch als Medium des Literarischen zu verlassen und sich als Dichter in Formen des Performativen zu üben. Benchmark war hier »die Arbeit Fritz Teufels« (Enzensberger 1968, 196). Zeigen sich Brinkmanns Vorstellungen zur aktiven und provokanten Rolle der Literatur im öffentlichen und performativ bespielbaren Raum durchaus affin zu Enzensbergers Essay, so grenzt er sich von dessen politischem Realismus strikt ab. Wie in Angriff aufs Monopol nutzt Brinkmann in Einübung einer neuen Sensibilität die polemische Abgrenzung zu (vermeintlich) etablierten Autoren zur Bestimmung seiner eigenen Position; hier sind es aber die jüngeren KursbuchAutoren, die »Generation von 40 bis 50Jährigen« (Einübung, 147), die mit ihren Beiträgen zum »Tod der Literatur« einen »modischen [...] Chock« (147) ausgelöst hätten, der aber nicht zu einer wirklichen Veränderung geführt habe. Ausdrücklich genannt werden die zum Teil nicht einmal 40-jährigen Kursbuch-Autoren Michel, Karsunke und vor allem Enzensberger, später dann auch Reich-Ranicki. Das Alternativkonzept Brinkmanns erinnert zwar einerseits an Enzensbergers Plädoyer für eine performative Literaturkunst, andererseits setzt es sich aber vom politischen Realismus durch seinen Rückgriff auf die Alltags- und Populärkultur ab. Auch hier führt Brinkmann die »Oberfläche« (Einübung, 147) als ästhetisches Moment ein; damit wird aber (noch) nicht ein spezifisches Interesse an der Sichtbarkeit und Aufwertung der Alltagswelt verbunden, sondern eher eine Projektionsfläche der eigenen Sinnesorgane zur Steigerung der »neuen Sensibilität« assoziiert. Seine spezifische »Perspektive« (147) formuliert er – das Diktum vom »Tod der Literatur« nicht ohne Esprit variierend – in einer paradoxal wirkenden Formel: »[D]ie Literatur muß verschwinden, damit sie um ein Stückchen realer für jeden einzelnen von uns wird.« (147) Die Aufnahme des Realen soll also nicht oder möglichst wenig durch das Denken verstellt werden, sondern »durch die übrigen Schichten des Menschen«
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(148), durch alle Sinne, aktiviert werden. Der Gegenstand dieser Wahrnehmung, der »Stoff« des Dichtens, muss – hier greift er erneut auf die Fiedler-Debatte zurück – aus dem Alltäglichen stammen und »nicht die großen Werte dessen, was wir ›Kultur‹ nennen« repräsentieren (148). Brinkmann beansprucht dabei die Aufhebung der Grenze zwischen »Kultur und Zivilisation« (149), zwischen den Sphären der Kunst und den Zurichtungen der Alltagswelt, und in spezifischem Sinne auch die Subjektivierung dichterischer Gegenstände, um Freiräume für »eigene Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Erfahrungen und Gedankenprojektionen« zu schaffen (149). Zur Illustration dieser Forderung implantiert Brinkmann montageartig auch in diesem Feature immer wieder Momente der Populär- und Alltagskultur. Gewährsmann dieses Verfahrens wie seiner poetologischen Begründung ist – wie in den oben besprochenen Essays – Frank O’Hara, dessen »freundliche Geste des Sich-selbst-anbietens« (150) in einem Gedicht zunächst irritieren würde. Dieses sich offenbarende Dichter-Ich als subjektive Instanz der Alltagswahrnehmung interpretiert Brinkmann dennoch eher ›schwach‹ (im Sinne von Herrmann 2001) und versteht es daher tendenziell als Medium, als »Transportmittel« (Einübung, 151). Die angestrebte Auslöschung des logischen Apparats nimmt den zentralen Aspekt des Prosaentwurfs Flickermaschine und sein Plädoyer für die geistige Erschöpfung wieder auf: »[J]e leerer ich bin, umso mehr füllt sich ein Gedicht, der Roman, der Essay.« Entscheidend sei »wie intensiv ich mich auf die Gegenwart einlasse.« (151) Unkontrolliert offenbare sich dann auch das eigene Selbst, die »Verrücktheit des Schreibers«, seine »Konfusitäten«, seine »eigenen Wirrwarrs« (152). Poetologisch aufschlussreich – im engeren Sinne sogar, wenn man Poetologie und Poesiologie methodisch unterscheiden möchte – erscheint in diesem Feature insofern die neue Autorkonzeption, die Brinkmann entwirft, sein an Barthes (vgl. 1968, 12–17) erinnerndes Votum, »daß die kulturelle Definition ›Autor‹ aufgehoben ist und damit die Definition ›Leser‹« (151); beide erscheinen ihm lediglich als Funktionen einer heterogenen, auf die Gegenwart und seine Medien bezogenen Versprachlichungsmaschinerie ohne präskriptive Vorgaben, bei der sich die Perspektiven von Produzenten und Rezipienten überlagern und befruchten würden. Das Plädoyer für die neue Sensibilität verbindet sich insofern mit der Forderung nach einer Aufhebung von poetischen Regeln und mit einem Bekenntnis zu einer radikal gedachten Subjektivität, die diese selbst wieder in Frage stellt. Der Essay enthält
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am Ende ein Lob der vielfältigen amerikanischen Literaturszene und ihrer Multikulturalität. Um dies zu illustrieren lässt Brinkmann sein großes Feature über die Zukunft der Literatur mit dem ostentativen Blättern in der populären Pop- und Klatschzeitschrift Bravo ausklingen. Unter dem Label einer ›neuen Sensibilität‹ bewarb der März-Verlag seinen Pilotband Texte 1 (März Texte 1, 7), der das Langgedicht Vanille (108–142) und die Anmerkungen zu meinem Gedicht ›Vanille‹ (143–146) von Brinkmann enthielt (s. Kap. 20). Er gibt an, nur 6 Tage, nämlich im Oktober 1968 und im März 1969, am Gedicht gearbeitet zu haben; Hinweise auf eine intensive Beschäftigung mit poetischen Texten hält er »für eine Mystifikation, die dem Autor von der Gesellschaft aufgedrängt worden« sei (März Texte 1, 143). Mit der Herabsetzung der Autorfunktion schließt Brinkmann prinzipiell an die Einübung einer neuen Sensibilität an. Hier geht es aber nicht so sehr um den ›Tod des Autors‹ (vgl. Barthes 1968) im Produktionsprozess, als um das Bild des Autors in der Gesellschaft. Lange Arbeitszeiten und das Leiden des Autors würden in den Augen des Publikums gemeinhin und fälschlich als Qualitätsmerkmale des späteren Textes gelten. Brinkmann setzt sich davon ab, sein Gewährsmann für einen leichten, raschen Wurf ist Andy Warhol. Worauf es ankomme, sei »sich den ›Fakt‹ anzuschauen, das vorhandene Material aufzunehmen, sich das ›Bild‹ zu beschaffen« (143). Dem Material müsse man sich im Moment des Schreibens ausliefern. Die zufällige Auswahl des Materials, sein Arrangement – wenn man so will: seine Bearbeitung, die von einer ›tieferen‹ Bedeutungszuweisung bewusst absieht – machen das aus, was als Brinkmanns schon mehrfach erwähnte Oberflächenästhetik verstanden werden kann: »[I]ch finde gewöhnliche Sachen schön, weil sie nichts bedeuten, und daß sie nichts bedeuten, ist ihre Tiefe – je weniger ›etwas‹ Bedeutung hat, desto mehrt ist es ›es selbst‹ und damit Oberfläche, und allein Oberflächen, wie jeder weiß, sind ›tief‹! Es ist eine Tiefe, für die bisher geltende literarische Kategorien nicht mehr zutreffen.« Mit dem Konzeptkünstler Marcel Duchamp, während der Arbeit am Vanille-Gedicht verstorben, platziert Brinkmann eine zweite Größe des zeitgenössischen Kunstdiskurses. Von ihm entlehnt er – neben der Oberfläche – seine zweite, gleichfalls nur vage fassbare, ästhetische Kategorie: das Bild als Produkt konkreter Anschauung. In der Lyrik sollen »Wörter [...] zu Bildern entfaltet« werden (145). Die Bildhaftigkeit seiner neuen, an amerikanischen Vorbildern ori-
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entierten Lyrik dient ihm – wie schon so oft – dazu, sich von der etablierten, sprach- und gedankenfixierten Lyrikszene des gegenwärtigen Deutschlands und ihrer Vorliebe fürs Abstrakte (hier besonders Horst Bienek) abzusetzen. Die Verweigerung ›tieferer‹ Bedeutung in seinen Gedichten macht der Schluss der Anmerkung deutlich: »Warum Zitate? Weil ich sie nicht verstehe! Warum ein Gedicht? Weil ich es nach dem Schreiben nicht mehr verstehe« (146). Im gleichen Band des März-Verlags erscheint das zum Teil ironisch geführte Interview mit einem Verleger à la Paris Review Interview (13. April 1969, 285– 298), an dem Brinkmann neben Ralf-Rainer Rygulla, Erika und Jörg Schröder (Verleger) sowie Rolf Eckart John beteiligt ist. Das Interview, selbst an der berühmten Form einer Literaturzeitschrift (The Paris Review, Interviews, 1953 ff., u. a. 1965 mit William S. Burroughs, 1966 mit Allen Ginsberg, 1968 mit Jack Kerouac) orientiert, könnte Vorbild für den Gesprächsband des popkulturellen Quintetts Tristesse Royal (1999, mit Joachim Bessing, Benjamin von StuckradBarre, Christian Kracht, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg) gewesen sein. Für die Poetologie erscheint Brinkmanns These relevant, dass mit dem »Aufkommen neuer Medien, neuer Kommunikationsformen, z. B. [...] des Fernsehens, [...] das Medium Buch [...] erst entschlackt worden ist« (März Texte 1, 290); er sieht im »Konkurrenzverhältnis« der Medien offenbar eine Chance, die dem Buch »völlig neue und eigenständige Möglichkeiten« eröffnen könnte (290). Hierfür sei es sinnvoll, die neuen Medien als »Ergänzung« des Buchs zu denken (290). Das Verhältnis zu den Medien bietet Brinkmann auch die Chance, seine Ästhetik der »Oberfläche« (292), ein wünschenswertes, vorbehaltloseres Konsumverhalten und »ein neues Enviroment« (296) für die Kunst anzudeuten. Der Autor könne dann als bewusster »Massenmensch« (296), als populärer Künstler im eigentlichen Sinn, sich selbst verwirklichen. Brinkmanns bekannter Essay Der Film in Worten (1969), der titelgebend für den von Maleen Brinkmann 1982 edierten Sammelband Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen. 1965–1974 geworden ist (FW, Titel), erschien zunächst als Nachwort bzw. »Anhang« der von Brinkmann und Rygulla herausgegebenen Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene (1969) (Acid, 381–399) mit der Angabe »Köln, Februar 1969« (399). Diesem Text folgen die »Anmerkungen, Materialien, Nachweise«, die Rygulla zusammengestellt hat (400–416, mit Hinweisen auf Brinkmanns Übersetzungen im Band, 415) und eine Nach-
bemerkung der Herausgeber (417–418) mit Ausführungen zur Konzeption des Buches. Ursprünglich habe man an eine »rein literarische Anthologie« gedacht; jetzt sei daraus eine »Materialsammlung mit Lesebuchcharakter« geworden. Die »Erweiterungen der anfänglichen Konzeption« seien vor allem durch »essayistische Arbeiten über nichtliterarische Gegenstände« erfolgt, »deren Gehalt« aber »von der gleichen neuen Sensibilität durchsetzt ist, die auch die literarischen Arbeiten bedingt« (417). Brinkmanns poetologischer Schlüsselbegriff »Sensibilität« – im oben besprochenen Rundfunkbeitrag entfaltet – fällt in der kurzen Nachbemerkung noch zwei weitere Male: Die Texte des Bandes ergäben das »Gesamtbild einer einheitlichen Sensibilität, die sowohl den Trivialbereich wie den hochkulturellen Bereich einschließt und für die Begriffe wie Pop oder Subkultur nicht ausreichen« (417). Die Nachbemerkung schließt also nicht nur an Brinkmanns Realismus-Überlegungen an, sondern auch an die Fiedler-Debatte und speziell an seinen Angriff aufs Monopol. Einen deutlichen Akzent setzt die gemeinschaftliche Nachbemerkung mit ihrer Ablehnung des Politischen in der modernen Kunst: Das Politische besitze »für die Ausprägung und Einübung der neuen Sensibilität nicht die Relevanz [...] wie es das Klischee wahrhaben möchte« (418; vgl. aber: 381 f.). Man kann diesen Satz als Statement zur Rolle des Politischen im Umfeld der 1968er-Bewegung und – wie im Radio-Feature, dessen Titel hier zitiert wird – zu Enzensbergers Kursbuch-Essay (s. o., vgl. auch 384 mit einer kritischen Erwähnung Enzensbergers und 393 zur »Apo-Aktivität«) lesen (s. Kap. 2.3). Brinkmann lehnt Kulturtheorie ab und favorisiert ein »›andere[s]‹ Denken« (388). Daher realisiert sein eigener Essay Der Film in Worten die neue Sensibilität für Alltagswahrnehmungen und Medienerlebnisse dezidiert praxeologisch. Er kombiniert seine poetologischen Ausführungen mit Beschreibungs- und Evokationspassagen und überschreitet damit gleichermaßen die Grenze zum Poetischen wie zur Alltagswahrnehmung und nähert sich so den poetologischen Verfahren und Vorstellungen des Rundfunk-Features und des Prosatextes Flickermaschine deutlich an. Trotzdem enthält der Essay darüber hinaus detaillierte, wenn auch wenig geordnete Informationen zur amerikanischen Undergroundszene und ihren Autorinnen und Autoren (Anne Waldman, Tom Veitch, Gerard Malanga, William S. Burroughs usw.). Aber es dominieren assoziativ gesteuerte Gedankenketten, die mit Alltagsmomenten der Popkultur durchsetzt werden (Songtitel mit Zeitangaben der Abspieldauer
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usw.). Poetologische Argumentationen üblicher Provenienz vermeidet der Essay; einzelne ›Poetologeme‹ werden in eine eher allgemeine Kulturkritik der veränderten Welt – »Anwachsen der Bilder« (381), Werbung, Popmusik, zunehmende Bedeutung der Medien, insbesondere der »Umgang mit technischen Geräten« (381) – eingegliedert. Schon der erste Satz setzt sich vom Herkömmlichen ab: »Bekannte literarische Vorstellungsmuster verwischen sich« (381). Als programmatisches Substrat lassen sich die bei Brinkmann häufig zu lesenden Forderungen nach Grenzüberschreitungen in den Künsten und zwischen Hoch- und Populärkultur, nach Vielseitigkeit der poetischen Verfahren, nach einer Sensibilisierung der ästhetischen Wahrnehmung und nach einer generellen Ausweitung des Ästhetischen insbesondere in Richtung Medienwelt und Alltagskultur notieren. Vorbild bleibt die »neue amerikanische Literatur« (381), die der Acid-Band erstmals der deutschen Öffentlichkeit zugänglich macht, wobei er mit seiner Aufwertung der »literarischen Nebenprodukte« (386) bewusst oder unbewusst auf hehre antike Traditionen anspielt (Catulls nugae). Jedenfalls erscheint angesichts der intensiven poetologischen Verortung des Essays etwa in der Gegenüberstellung deutscher Nachkriegsliteraturen und angloamerikanisch beeinflusster Popkulturen fraglich, ob Brinkmanns Behauptung, dass das »Fehlen eines ausgeprägten ›kulturhistorischen Hintergrunds‹« sich als poetischer Vorteil erweise (386), auch für seinen eigenen Text gilt. Wortmächtiger wirkt hier jedenfalls der bloße Negationsgestus gegenüber den »tradierten Ausdrucksformen« (398), dem Etablierten und Verbindlichen (vgl. Barner 1987), das im Essay pauschal als die (singularisch apostrophierte) »Tradition« (Acid, 386) in Frage gestellt wird. Brinkmanns Haltung entspricht hier der Adornos in seinem berühmten Traditionsaufsatz (Adorno 1967, 29). Ein solcher Negationsgestus richtet sich auch gegen das Kleinbürgerliche – »Schlagt Heintje tot« (Acid, 391) – oder gegen GroßVerlage mit ihren etablierten Autoren (vgl. 392). Tatsächlich markiert Brinkmanns Essay aber selbst unterschiedliche neuere Traditionen wie die amerikanische Beatliteratur und ihre »Schreibart des cut-up und fold-in« (390), das Readymade nach Warhol, »die Kultur der Rockmusik« (ebd., 387) mit all ihren Mythen (etwa Dylans Newport-Auftritt 1965, vgl. Acid, 389) oder die Medienvorstellungen von »Marshall McLuhan« (389). Undogmatisch bezieht er sich auch mal auf Gottfried Benn: In seiner Prosa sei »früh schon ähnliches festzustellen« (397) wie in der neues-
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ten (Pop-)Prosa, die zwischen Essay und Erzählung oszilliere. Wie in Einübung einer neuen Sensibilität beschreibt der Essay insofern Möglichkeiten einer erweiterten Kunst bzw. Literatur. Hierzu zählen vor allem Verfahren der Poetisierung der Lebenswelt jenseits einer realistischen Mimesis, wie Brinkmann sie noch im Kölner Realismus um Wellershoff (s. Kap. 2.2) propagiert sehen konnte. »Das Rückkoppelungssystem der Wörter«, so reflektiert Brinkmann in diesem Essay seine ›Chandos‹-Krise »entspricht längst nicht mehr täglich zu machender sinnlicher Erfahrung« (Acid, 381). Diese werde zudem durch intertextuelle Fragmente überlagert: »Sprechblasen steigen aus dem übriggebliebenen Gerümpel vermittelter, sinnlich entleerter geschichtlicher Erfahrung auf ... erstarrter literarischer Ausdruck« (381). Brinkmanns Konzept setzt auf eine Ausweitung der poetischen Gegenstände, Verfahren und Formen, auf den »Film in Worten« (381, 385) – einer Formel, die er vom amerikanischen Beatpoeten Jack Kerouac (eigentlich Jean-Louis Lebris de Kérouac) übernommen hat (vgl. Meyer-Sickendieck 2018, 30 f.). Sie steht in »Wie schreibe ich moderne Prosa? Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber / Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel«, abgedruckt in der deutschen Übersetzung des Beat-Bestsellers On the road (1957, deutsch: Unterwegs, 1959). Brinkmann verwendet vermutlich die gerade erschienene neue Rowohlt-Ausgabe von 1968. Hier lesen wir unter Nr. 26 den vollständigen Satz, den Brinkmann im Essay ohne den Hinweis auf Amerika zitiert: »Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form« (Kerouac 1968, 285). Daraus leitet der Essay ein poetisches Verfahren ab, »Bilder, flickernd und voller Sprünge«, auf »hochempfindlichen Filmstreifen Oberflächen verhafteter Sensibilität« (Acid, 381) zu bannen. Der in Einübung einer neuen Sensibilität (vgl. Einübung, 147) und im O’Hara-Essay (vgl. FW, 215) eingeführte Oberflächen-Begriff wird dabei nicht nur für die Wahrnehmung und ihre Organe, sondern auch für das Wahrzunehmende, nämlich für die »Bilder«, die sich »ausdehnen« und zur »Oberfläche werden« (Acid, 382) genutzt. Diese Verwendung entspricht schon in Etwa der heute im Pop-Diskurs üblichen (vgl. etwa Grabienski u. a. 2011; Hecken 2013; Beregow 2018, besonders 159–172), auch wenn zunehmend die Materialität der Oberfläche, nicht so sehr – wie bei Brinkmann – deren Medialität im Vordergrund steht. Vage reflektiert wird in diesem Kontext die notwendige Originalität der literarischen Verfahren und das
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Ungewöhnliche der neuen poetischen Gegenstände: »Es kommt darauf an, etwas anderes zu tun« (Acid, 383) – Brinkmann zitiert hier variierend Andy Warhols Bonmot aus dem in Acid abgedruckten Interview mit Gerard Malanga (vgl. 356), das man wiederum als Variation der 11. Feuerbach-These von Karl Marx lesen kann. Originalität im Bereich des Poetologischen kann Brinkmanns Essay indes nicht unbedingt bescheinigt werden. Denn insgesamt bietet er, auch wenn er zu seinen bekanntesten Beiträgen im Kontext der Pop-Poetik zählt, nichts grundlegend Neues gegenüber dem bislang schon in den Essays Konstatierten und Geforderten. Einige Akzente jenseits des Gesagten setzen allenfalls die Intensität der assoziativen und montageartigen Verfahren, die in der Nachfolge Kerouacs programmatische Sprunghaftigkeit der Gedanken und Bilder sowie – geschuldet dem Veröffentlichungsort in Acid – die Ausführungen zur (vermeintlichen) Poetik der amerikanischen Underground-Szene und ihrer spezifischen gesellschaftlichen Kontexte (Nixon, Vietnam usw.). Diskursgeschichtlich verdient Brinkmanns Diskussion der Technikfeindlichkeit ästhetischer Entwürfe nach dem Faschismus gewiss Aufmerksamkeit (vgl. Acid, 383). Kritisch könnte man Brinkmanns technikaffine Position etwa auf die unter konservativen Intellektuellen der Nachkriegszeit recht populäre späte Kulturphilosophie Heideggers beziehen (Die Technik und die Kehre, 1953: Technik als ein Moderne-Phänomen, das den Zugang zum ›Eigentlichen‹ und ›Wahren‹ verstellt). Diskursgeschichtlich schließt eine solche Haltung an den Futurismus an, der andernorts von Brinkmann durchaus zustimmend erwähnt wird (vgl. etwa Ww, 316); dessen Zukunftsgläubigkeit hat in Brinkmanns Essay seine Parallelen. Die Auseinandersetzung mit amerikanischer Lyrik setzt Brinkmann in seinen eher unsystematischen Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie (1969) fort, die als Paratext der Sammlung Silverscreen erschienen ist. Hier fungieren die Notizen als eine Art Einleitung des Herausgebers. Die Sammlung kommt 1969 bei Kiepenheuer & Witsch heraus und wird 1971 in einer Sonderausgabe der Büchergilde Gutenberg verlegt; von Brinkmann stammen neben den Notizen einige Übersetzungen und die recht nüchtern und listenartig verfassten Anmerkungen zu den Autoren (Silverscreen, 36, 41, 59, 61 usw.) sowie die Hinweise zur Edition (209 f.; s. Kap. 37). Die Notizen sind in Der Film in Worten von Maleen Brinkmann mit einem leicht variierten Titel wiederveröffentlicht worden (FW, 248–269). Sie bestehen aus 75 durchnummerierten, relativ unverbundenen Abschnitten bzw.
Fotos. Die nicht näher nachgewiesenen Abbildungen des Nachdrucks erscheinen in Relation zur Gesamtseite im Vergleich zum Original kleiner und weniger kontrastreich. Obwohl sie in begrenztem Rahmen auch zur Semiose der Notizen beitragen, wirken sie vornehmlich illustrativ: Zum Beispiel zitiert Abschnitt 65 ohne Quellenangabe eine Aussage, die erotische Gegenstände in Gedichten aufwertet; dann folgt Abschnitt 66, der ein Pin-up in erotischer Pose bringt; der darauf folgende Abschnitt 67 verhandelt die Theorielosigkeit amerikanischer Lyrik (Silverscreen, 29 f.). Die Notizen rekonstruieren zwar keine Poetik der neuen amerikanischen Lyrik, zählen aber dennoch einige Aspekte auf, die sie charakterisieren soll und die Brinkmann als vorbildlich für die neue deutsche Lyrik ansieht: etwa ihre Verweigerung großer Themen (vgl. 9, § 7) verbunden mit einer »subjektiven und beiläufigen Ausdrucksart« (18, § 35), das Denken »in Bildern« (30, § 70), eine »Individualität des Schreibens«, die eine Umwertung der kulturellen Vorstellungen von »Autor« und »Leser« (16, § 27) bewirke, in diesem Zusammenhang auch die Ablehnung auratischer Dichterpersönlichkeiten und des abendländischen poeta-vates-Modells (vgl. 14, § 18), die »Auflösung des strengen Werk-Begriffs« (17, § 33), eine strikte Gegenwartsbezogenheit und eine »Sensibilität gegenüber den vorhandenen Zuständen« (11 § 9). Als eine Folge davon findet sich ein Votum für die Popularisierung der Literatur (vgl. 22, § 47), das ästhetische Bekenntnis zur »Dutzendware« (25, § 54), zum »Alltäglichen« (30, § 70) und zu schlichten Kopierverfahren (vgl. 25– 27, § 55–60) sowie die Verweigerung jeglicher Avantgarde-Vorstellung (29, § 67). Letzteres wirkt angesichts der Absetzungsgesten und der Proklamierung eines Neuanfangs in der amerikanischen (und auch deutschen) Literatur aber durchaus inkonsequent. In den Notizen bezieht sich Brinkmann erwartungsgemäß nicht nur auf die neuen amerikanischen Lyrikerinnen und Lyriker (Frank O’Hara, Ron Padgett, Tom Clark, Charles Bukowski, Robert Creeley, Ted Berrigan, Anne Waldman, Diane Wakowski usw.), sondern auch auf jene Referenzautoren, die man aus seinen anderen Essays kennt (Fiedler, Marshall McLuhan, Benn, Enzensberger oder Herbert Marcuse). Sie stehen, wie dort, für bestimmte Diskurse und Positionen Brinkmanns: Ausweitung der Stoffe, Nivellierung der Unterschiede zwischen Höhenkamm- und Populärliteratur, Medienwechsel, neue formorientierte Lyrik, Ende der Literatur/Erneuerung der Literatur nach 1968, Verhältnis von Literatur und Politik.
15 Literatur-, kunst- und kulturtheoretische Texte
Einige bislang nicht in den Essays diskutierte poetologische Prinzipien und Verfahren der amerikanischen Lyrik, die in den Notizen erwähnt werden, erweisen sich schließlich als relevant für Brinkmanns eigene Texte: Zu nennen sind beispielweise bewusste »Plagiate« oder das Verwenden unmarkierter Zitate (s. Kap. 3–4, 10), die »Oberflächenübersetzungen« (27, § 59; s. Kap. 16–25), die »Kollaborationen« (17, § 31; s. Kap. 35), die »gesteuerte[n] Abweichungen« von »gängigen Assoziationen« (24, § 52; s. Kap. 10–11) oder die »momentane Kombination« von vorhandenem »Material« (9, § 6; s. Kap. 11). In den Kontext der beiden amerikanischen Anthologien Acid und Silverscreen gehört auch die Edition von Ted Berrigans Apollonaire ist tot (1970) (s. Kap. 39), die auch »Notizen von Tom Clark, Allen Kaplan und Ron Padgett« (Berrigan, [3]) enthält. Brinkmann präsentiert in diesem Band allerdings keine programmatisch lesbare Einleitung, keine Notizen oder Essays, die Blicke auf eigene poetologische Vorstellungen offenlegen. Von ihm stammen vermutlich die Bilderläuterungen (176), der »Bio-Bibliographische Hinweis« (250), der »Quellennachweis« (251) und der »Übersetzungsnachweis und anderes« (253). Aus manchen Genre-Bezeichnungen Brinkmanns könnte man eine Erweiterung des gängigen Gattungsspektrums der Literatur ableiten: Anzuführen sind hier »Kollaborationen« (219), »Comic-Strip« (250) oder »Prosaskizze« (252). Berrigan gehörte zur neuen amerikanischen Lyrik der New York School.
15.4 Ausweitung der Kampfzone: Literaturund Kunstkritik Von etwa 1970 bis 1975, bemerkenswerter Weise in den Zeiten der eigenen Publikationspause literarischer Werke im engeren Sinne, weitet Brinkmann seinen poetologischen Blick deutlich aus. Er rezipiert nun öffentlich Texte eines russischen AvantgardeDichters, Gemälde und Zeichnungen eines Villa Massimo-Kollegen, die Memoiren einer amerikanischen Gangsterbraut, befasst sich mit dem UndergroundFilm oder lässt sich auf einen Beitrag zum Steirischen Herbst ein. Eine Äußerungsform Brinkmanns in dieser Zeit sind Rezensionen in recht renommierten Zeitungen und Zeitschriften, die insgesamt aber wenig experimentell ausfallen; allenfalls die rezensierten Bücher wirken in ihrer Disparatheit ungewöhnlich bzw. erscheinen in gegenwärtigen Literaturdiskursen wenig
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relevant: Die im Film in Worten unter dem verkürzten Titel »Besprechung Daniil Charms« wiederabgedruckte Buch-Besprechung Das Leben ist ganz anders: Leseerfahrungen mit Daniil Charms (1970) (FW, 201 f.), erschienen zunächst in Christ und Welt am 5. Juni 1970. In der gleichen kirchlich orientierten Wochenschrift hatte Brinkmann seine viel diskutierte Fiedler-Entgegnung Angriff aufs Monopol (1968, s. o.) unterbringen können. Die Charms-Besprechung erschien später nochmals in Der Gummibaum (Nummer 3, Jahrgang 1970; s. Kap. 40.2), Rygullas eher privater »Hauszeitschrift für neue Dichtung« (FW, 310). Dieser Wiederabdruck ist insofern erstaunlich, als die ›Underground‹-Zeitschrift sonst eher Erstdrucke präsentierte. Ungewöhnlich für eine Rezension ist ihre narrative Einkleidung; das besprochene Buch sei eher zufällig gekauft worden und auch der zitierte Abschnitt folge einem willkürlichen Zugriff. Von einer genauen Lektüre zeugt der Hinweis auf eine widersprüchliche Angabe des Sterbedatums: Im Nachwort wird das Jahr 1942 angegeben auf dem rückseitigen Deckel (vermutlich ein Druckfehler) mit 1940. Der russische Avantgarde-Künstler wurde verfolgt und konnte zunächst nicht oder kaum publiziert werden. Das besprochene Buch, eine Sammlung mit kurzen Texten unterschiedlicher Gattungen, war die erste Übersetzung (von Peter Urban), die in deutscher Sprache erschien; sie kam in erweiterter Ausgabe 2002 heraus. Brinkmann hebt in seiner Besprechung einerseits den (ungewollten) Humor der Texte, andererseits ihren geringen appellativen Zug hervor; der gelesene Text über eine alte Frau existiere, aber »wollte von mir nichts« (FW, 201). Paradoxerweise würden diese »anscheinend sehr« geringen Texte dennoch zurück »in die Hand« springen (201), also eine eigene Aufmerksamkeit verlangen. Brinkmann scheint hier seine ›Ästhetik des Besonderen im Alltäglichen‹ auf das kleine Büchlein des Russen zu übertragen. Im renommierten linksliberalen Spiegel erschien im gleichen Jahr eine recht ausführliche Rezension, die nicht in Maleen Brinkmanns Sammlung Der Film in Worten aufgenommen wurde: Die Phantastik des Banalen. Über Virginia Hill: ›Memoiren einer Gangsterbraut‹ (Der Spiegel, 17.8.1970, 108–110). Anders als bei der Charms-Rezension hält sich Brinkmann hier nicht mit kritischen Anmerkungen zurück: Die »Memoiren sind ein schlechtes Buch, das sich ohne ein Interesse an der Figur des Gangsters und an leerer Phantastik nur mühsam auswerten läßt« (110). In den vermeintlich authentischen Erinnerungen Virgina Hills aus dem Milieu des organisierten Verbrechens der 1930er Jahre
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in Chicago offenbare sich »die sinnloseste, überflüssigste Phantastik des Banalen« (108). Es zeige an, »von welchen immer noch mächtigen Fiktionen die so genannte Wirklichkeit besetzt ist« (110). Anders als beim Realismus der Kölner Schule, der Pathologien des Alltags wirklichkeitsnah erfassen wollte, konstatiert Brinkmann hier eine Pathologie der Fiktionen, die wir gewöhnlich für Wirklichkeiten halten. Selbst in einer »Trivialität« wie Hills Memoiren sind insofern »Artikulierung[en]« der Alltags- und Medienwelt erkennbar (110). Eine dritte Rezension Laßt das Stille-Virus frei! Zu W. S. Burroughs Buch ›Nova Express‹ erschien in der Stuttgarter Zeitung vom 24. Juli 1971. Möglich ist, dass die ›Schlagzeile‹ der Rezension von der Redaktion stammt. Jedenfalls ediert Marleen Brinkmann die Besprechung unter dem neuen Haupttitel Spiritual Addiction. Zu William Seward Burroughs’ Roman Nova Express in Der Film in Worten (FW, 203–206). Der neue Haupttitel befremdet insofern, als Brinkmann in seiner Rezension referiert, der Roman stelle gerade einen »Kampf gegen das, was Burroughs ›spiritual addictions‹ nennt« (205) dar. Dieser Kampf ist ihm Anlass generelle Ausführungen zur Figurengestaltung im Roman einzuschalten: Burroughs löse sich von der Figuren- und Charaktergestaltung üblicher Romane und ihrer »eindeutig erfassbare[n] Wirklichkeit« (205). In Nova Express sei die »Wirklichkeit ein ›Abtastmuster‹, das sich mit verändertem Stoffwechsel anders« (205) zeige. Insofern erscheint das Verfahren des Romans kompatibel zu Brinkmanns Oberflächenpoetik, die er schon in seinen ersten Essays entwickelt. Neu sind die durch den Roman angeregten Überlegungen zur »Stille« (204 f.) als das Andere der Sprache: Sie setzt sich ab vom Wortgeklingel der »Massenmedien« und der »politischen Proklamationen«, vom bloßen Verweisen der Worte auf Worte, vom »Agitationszirkus auf der Straße« (205). Die Stille bezeichne »die Fähigkeit, zu sehen, was tatsächlich geschieht, sobald der Verbalisierungsprozeß gestoppt ist. Aus dem sich fast immer ein vorprogrammiertes Reizreaktionsschema [...] herauslesen« lasse (205). Die Stille – in späteren Schriften Brinkmanns eine wichtige ästhetische Kategorie – ermöglicht also eine Wahrnehmung jenseits prägender Frames; sie erschließt der Literatur ungewöhnliche Perspektiven auf die Realität. Brinkmann koppelt diese Vorstellung an sein immer wieder formuliertes Programm in unvoreingenommenen Bildern zu denken. Der Titel des Erstdrucks macht den Ruf nach Stille zur zeitgemäßen Parole. Befremdlich wirkt heute Brinkmanns eher affirmativer Bezug
auf L. Ron Hubbards Scientology-Sekte und ihre Abrichtungsmethoden (vgl. 205 f.). Zur Erweiterung seiner Perspektive tragen auch zwei Beiträge Brinkmanns bei, die sich mit Phänomenen der Nachbarkünste befassen: Kunst in Köln? (1971), veröffentlicht in der inzwischen zu Liebhaberpreisen gehandelten Medienzeitschrift X-Screen. Materialien zum Underground-Film, herausgegeben von W & B Hein, Christian Michelis und Rolf Wiest, sowie Meister der Graphik. Die Zeichnungen von Günther Knipp (1974), veröffentlicht in der traditionsreichen Kulturzeitschrift Die Kunst und das schöne Heim (gegründet 1885, seit 1949 unter dem genannten Titel, erst seit 1984 als Die Kunst). Der erste Beitrag steht im Kontext des sogenannten Kölner X-Screen-Skandals im Oktober 1968 bzw. der Verleihung des Kölner Literaturpreises am 26. Oktober des gleichen Jahres. Polizisten hatten zunächst eine Veranstaltung mit Underground-Filmen, Lesungen und Musikdarbietungen in einem sich im Rohbau befindlichen U-Bahn-Schacht gesprengt. Später kam es zu Besetzungen des Kunstmarktes und der Oper, zur Belagerung des Polizeipräsidiums und zu Störungen des Straßenverkehrs in der Kölner Innenstadt (vgl. Holl/Glunz 2008, insbesondere 218–221, 249– 253; Stahl 2007). Brinkmann wurde bei der Polizeiaktion im U-Bahn-Schacht vorübergehend festgenommen und war später an einigen der genannten Aktionen beteiligt, auch an einem Schlichtungsgespräch beim Polizeipräsidenten. Sein erst drei Jahre später, 1971, erschienener Artikel wird durch drei Fotografien bebildert, die Redner während der Aktionen (u. a. Rolf Wiest und Kurt Hackenberg) zeigen. Die Vorgänge in Köln seien typisch gewesen für die Kulturpolitik: Bei Preisverleihungen feiere sich ein scheinbar liberales Establishment, während die vielversprechende Underground-Kultur behindert würde. So werde »Kunst« ein »harmlos kläffender Köter, darauf trainiert Fotzen auszulecken« (Kunst in Köln, 115); der »Zynismus einer abgelebten älteren Generation«, so Brinkmann im Tonfall seines Beitrags zur Fiedler-Debatte, käme so »deutlich zum Vorschein« (115). Ihnen »abstrakt, rhetorisch, mit genauen Analysen« zu begegnen habe »wenig Sinn« (115). Provokationen, wie in seinem Beitrag verbal vorgeführt, seien hingegen angemessen. Insofern wirkt es folgerichtig, wenn sich Brinkmann von Heinrich Böll als stets differenzierendem Preisredner und Jürgen Becker als Preisträger distanziert. In seiner Rede geht Böll nur sehr indirekt und distanzierend auf den X-ScreenSkandal ein, aber von den Provokationen der Under-
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ground-Künstler setzt er sich dennoch sichtbar ab (vgl. Böll 1974, 25). Die eindringliche Besprechung der Zeichnungen des »Weggefährten« und Villa-Massimo-Kollegen Günther Knipp (Blum 2016, 85; vgl. Knipp 1976) bekommt besondere Intensität durch sieben, zum Teil ganzseitige, hochwertig reproduzierte Abbildungen. Der Wiederabdruck der Fachbesprechung unter dem neuen, wenig präzisen und irreführenden Titel Der Maler Günther Knipp (FW, 270–274) im Sammelband Der Film in Worten (270–274) erscheint wissenschaftlich unbrauchbar, weil er die besprochenen Zeichnungen nicht präsentiert und im editorischen Anhang falsche Angaben zum Erstdruck macht. Die Betonung der »Stille« (Knipp, 481), die von den Bildern hervorgerufen werde, schließt an die Burroughs-Besprechung an. Denn auch Knipps Kunstwerke würden »nicht von vorhandenen Begriffen eines gefühlsverödeten Denkens« (481) ausgehen und jede allegorischen Bezüge verweigern: »sie zeigen, was sie zeigen« (481). Dabei wird diese »Stille« nicht als »Schweigen« (482) gedeutet, sondern als Moment intensiver und fokussierter Wahrnehmung einer »reduzierten Zivilisationskulisse« (482). Brinkmann erkennt in Knipps Zeichnungen offenbar einen zentralen Aspekt seiner eigenen ästhetischen Vorstellungen wieder, sein Denken »in Bildern« (Silverscreen, 30) – jenseits einer durch »Wörter, vorgegebenen Absichten, Zwecke[n], »Ziele[n]« oder auch »Ideologie[n]« strukturierten Welt, jenseits eines »durch Grammatik und in Grammatik versteinerten allgemeinen Zusammenhang[s]« (ebd.). Knipp zeige »Wege heraus aus einer ständigen bedrückenden Determination mittels Sprache« (Knipp, 488).
15.5 Auf dem Weg zum neuen Roman Im Nachlassband Der Film in Worten (1982, 121–134) ist ein zweispaltiger, vorwiegend narrativer Text mit dem sperrigen englischen Titel To a world filled with compromise, we make no contribution (1972) abgedruckt (s. Kap. 26 und 27). Er wurde zunächst in der etablierten Zeitschrift manuskripte des Grazer Forums Stadtpark im Jahr 1972 veröffentlicht (12, 1972 [= 36], 38–45 und Kolleritsch/Tax 1980, 286–293). Hier sind die im Nachdruck kursiv gesetzten Passagen (einzelne Worte, Sätze, Sentenzen) fett gedruckt, fallen also stärker beim Lesen auf. Anders als bei der editio princeps etwa von Flickermaschine erscheint Brinkmanns Versuch hier im Umfeld österreichischer Avantgarde (et-
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wa von Rudolf Pointner, Klaus Hoffer, Hedwig Wingler oder Gert Friedrich Jonke) eher als ein Fremdkörper. Alfred Kolleritsch hatte einen Auftritt Brinkmanns beim angesehenen Grazer Literatursymposium organisiert, als dieser in Rom mehr oder minder unmotiviert sein Villa Massimo-Stipendium abfeierte. Mit der Lesung war die Veröffentlichung »in der nächsten nummer der literat[ur]zeitschrift« verbunden (Kolleritsch 1995, 111). In einem Brief an Kolleritsch gibt Brinkmann die Herkunft des Titels preis; er sei »einer Reklame für Jaguar-Wagen aus einer amerikanischen Herrenzeitschrift« (115), vielleicht dem Playboy, entnommen. Gemeint ist die mehrfach und in unterschiedlichen englischsprachigen Printmedien abgedruckte Werbung für das legendäre Modell XJ6 im Jahr 1972. Der Jaguar steht dort auf einem Rasenstück mit dem Heck an einer Steilküste, vermutlich in Cornwall. Die im Briefwechsel mit Kolleritsch mehrfach erwähnten »Fotos« (112), die den Text ursprünglich illustrieren sollten, sind in keinem der vorliegenden Drucke realisiert worden. Anfangs folgen die beiden Spalten einer Seite konsekutiv aufeinander, doch im Schlussteil wird der Textes dann in parallellaufenden Spalten organisiert. Ein Grund hierfür ist auf Anhieb nicht erkennbar. In gewissem Kontrast zu dieser Kolumnenanordnung, die den Satzroutinen der Grazer manuskripte folgt, und der einsetzenden Nummerierung, die den Parallelverlauf am Schluss anzeigt, steht der chaotisch wirkende, wohl assoziativ gesteuerte Wechsel von wenig zusammenhängenden narrativen und deskriptiven Passagen. Brinkmanns Prosa enthält nur sehr wenige poetologische oder poetologisch deutbare Passagen; es überwiegen Wahrnehmungsprotokolle und kurze Erzählpassagen, die aneinander montiert werden. Offenbar geht es in dem Prosatext darum, die »Grenzen« der »Gegenwart«, die sich aus »kontrollierten sinnlichen Eindrücken« zusammensetzt, zu überschreiten und diesen Vorgang narrativ zu erfassen (FW, 121). Das Sprecher-Ich strebt eine Wahrnehmung jenseits des »Wortmüll[s]« (FW, 128, vgl. 133) an; es versucht »nicht mehr länger auf die angebotenen Wörter zu reagieren« (FW, 129). Als eine Referenz erscheint Burroughs Konzept der »Stille« (FW, 124, 134 passim), der »stillen Bild[er]« (FW, 127) bzw. der »Lautlosigkeit« (FW, 125), mit der sich Brinkmann schon in der oben diskutierten Rezension zu Nova Express (1971) auseinandergesetzt hatte. Eine andere Referenz scheint – inspiriert durch den Villa Massimo-Aufenthalt – Goethes Italien-Ästhetik zu sein, in der das »sehen lernen« in der Natur neue, bislang durch die
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Kunst verstellte Perspektiven eröffnet (Goethe, HA 11, 415). Brinkmann proklamiert analog das Ideal eines Menschen, »der ohne Worte zu sehen gelernt hat« (FW, 130). Recht deutlich liest man in diesem Sinne – im saloppen Ton fingierter Mündlichkeit – eine Abkehr von Mimesis-Konzepten der frühen Kölner Jahre: »Gegen Realismus: Sofern über den Begriff Wirklichkeit nicht hinausgelangt wird, sollte man gar nicht erst versuchen zu schreiben, he?« (FW, 132) Im Erstdruck erscheint »Gegen Realismus:« als Eyecatcher fett gedruckt am rechten Rand der Spalte (manuskripte, 12, 1972 [= 36], S44). Diese poetologisch zentrale Aussage des späten Brinkmann findet sich auch im Collageband Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls (posthum 1987) im Kontext der maschinenschriftlichen »Notizen 1971« (53); hier ist »Gegen Realismus:« durch Unterstreichung hervorgehoben und wie im Erstdruck an den rechten Rand der Spalte gesetzt worden. Augenblickshaft, vielleicht im Sinne einer Epiphanie, soll die poetische Wahrnehmung die Grenzen der sprachlogisch erfassbaren Wirklichkeit transzendieren. Genau hier setzt Brinkmanns Work in Progress (Mai 1973) (FW, 135–141) an. Als Titelgeber des von Maleen Brinkmann herausgegebenen Sammelbandes, in dem die meisten poetologischen Schriften zu finden sind, hat das ›unvollendete Werk‹ eine gewisse Bekanntheit erlangt. »Das Prosastück« gehört zu den »bisher nicht gedruckten Texten« der Sammlung (309). Eine weitere Version ist bislang nicht bekannt. Wesentliche Verfahren des radikalen Prosatextes sind die selbst reflektierten Digressionen (»Schon war ich wieder abgeschweift«, FW, 135), wilde Assoziationen, die – sehr wohl als Verfahren reflektiert – nur scheinbar eine greifbare Semiose erzeugen (»Der Sinn wucherte: üppig«, FW, 136), und sprachspielerische Neologismen (»ich gummte mich zusammen«, FW, 136 – möglicherweise eine Anspielung auf späte Symptome der Syphilis). Erzähl- und Beschreibungsfragmente wechseln häufig, ohne dass unmittelbar verständlich wird mit welcher Motivation. Als poetologische Kernaussage ist vage eine Abwendung von der (Sprach-) Logik (»Durch das Wort verdammte Logik«, FW, 138; »da fuschte sofort Logik rein«, FW, 139) und von einfachen Benennungsregeln (»Semiologie in den Arsch«, FW, 140) zu konstatieren. Stattdessen schlägt der Sprecher »ne Verhütungspille für Wörter, Ordnungen, Flichtn« (FW, 140) vor. Poetologische Vorstellungen und poetische Verfahren sollen in diesem Text offenbar konvergieren. Beschäftigt man sich mit der Poetologie des späten
Brinkmann, wird man naturgemäß auf die Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans 1970/74 (FW, 275–295) zurückgreifen, die im Nachlassband Der Film in Worten (1982) erstveröffentlicht wurden. Die Jahreszahlen im Titel und ein Hinweis der Herausgeberin des Bandes (FW, 311) verweisen darauf, dass Brinkmann den Text zwischen 1970 und 1974 verfasst haben soll. Für die Druckfassung sei das Typoskript durch handschriftliche Notizen des Autors ergänzt worden. Dies erklärt möglicherweise einige Redundanzen und sprachliche Variationen. Zum Teil sei der Text vor dem Verein für Literatur in Duisburg (8. Februar 1971, vgl. Barbian 2012, 30), in der Villa Massimo (Frühjahr 1973) und bei seiner Gastdozentur in Austin/Texas (Frühjahr 1974) vorgetragen worden (FW, 311). Alle drei Fassungen des Beitrags sind zurzeit nicht zugänglich. Der Sprecher selbst bezeichnet seinen »Aufsatz« gleich zu Beginn als »Mischform aus Dialogen, abgebrochenen Reflexionen, Zuständen ohne besonderen Anlaß, stenographischen Beobachtungen, essayistischen Anstrengungen, die ich jedesmal, wenns mir zu langweilig wurde, unterbrach, Zitaten, kurzen Nacherzählungen« (FW, 275). Man kann also weder von einer Fassung letzter Hand sprechen, noch von einem fertigen Text über ästhetische Gegenstände. Vielmehr liegt eine Art work in progress vor, bei der sich – wie bei Brinkmann üblich – erzählende, beobachtende und literatur- bzw. wahrnehmungstheoretische Passagen abwechseln. Brinkmanns Vorstellung, der Wirklichkeit allenfalls über epiphanieartig erzeugte Bilder beizukommen, führt zu einem Verfahren, einzelne von der Filmtechnik inspirierte »Schnitte« (FW, 286 passim) zu setzen, die Wahrnehmungspassagen unterbrechen. Solche ›poetischen‹ Bilder werden dann ohne Überleitungen kombiniert. Auf diese Weise entstehen Sequenzen detailliert erfasster, meist trostloser Realitäten und »verwilderte[r] Traumarrangements der Gegenwart« (FW, 284). In den Notizen und Beobachtungen wird dieses Verfahren vorgeführt, die Schnitte als »Schnitte« immer wieder benannt und in Ansätzen reflektiert, wobei die hier vorgenommene ›Poetologisierung‹ Brinkmanns vermutlich vom Autor selbst als ›viehlologisch‹ und vom Literaturbetrieb bestimmt analysiert und daher abgelehnt worden wäre. Die Beobachtungssequenzen werden durch Zitate (meist aus dem endlichen Reservoir der Brinkmannschen Bibliothek: William S. Burroughs, Colin Wilson, Joseph Conrad, kritisch: Wolf Wondratschek) ergänzt. Neu sind die ausführlichen Zitate aus Reich speaks of Freud
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(1967), der Auseinandersetzung Wilhelm Reichs mit der Psychoanalyse. Selbst für dessen esoterische Überlegungen zur vermeintlichen Lebensenergie ›Orgon‹ scheint sich Brinkmann Anfang der 1970er Jahre interessiert zu haben. Der umstrittene Theoretiker der Seele, insbesondere sein Interesse für die Sexualität und seine körperorientierte Psychoanalyse wurde von der Studentenbewegung zum Teil euphorisch wiederentdeckt. Neben Reich zitiert Brinkmann in seinem Text die Psychoanalytiker Freud und Jung. Bislang kaum im Zitaten-Repertoire hatte Brinkmann Texte von Friedrich Nietzsche (s. Kap. 6), auch wenn sie seiner Sprach- und Erkenntniskritik (s. Kap. 5) durchaus nahestehen und ihre Lektüre wegen seiner Verehrung Gottfried Benns nahegelegen hätte; in den Notizen und Beobachtungen führt er den Philosophen nun mehrfach an. Er variiert vor allem ein bekanntes Zitat, das Nietzsche zuerst in der der Genealogie der Moral formuliert hat: »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt« (Nietzsche 1999, KSA 5, 399). Dieses Zitat taucht im populäreren Zarathustra, den Brinkmann vermutlich gelesen hat, in unterschiedlichen Versionen wieder auf: Die Grundformulierung – »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt!« (KSA 4, 340) – verbindet Zarathustra mit dem Bekenntnis, er habe »den Glauben an Worte und Werthe und große Namen« verloren (KSA 4, 340). Dieser sprachskeptische Kontext spricht dafür, dass Brinkmann sich bei seinen Zitaten (vgl. FW, 295) auf diese Stelle bezieht. Etwas wunderlich ist, dass in den Notizen und Beobachtungen gleich zweimal eine etwas entlegene Variante aus Nietzsches Nachlass zitiert wird: »Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!« (KSA 11, 146 – Fragment 25[505]; FW, 286, 295). Auch hier passt der Kontext zu Brinkmanns pessimistischer Poetologie, die von einem tiefen Vorbehalt gegenüber einer adäquaten Wahrnehmung der Umwelt und einer möglichen Verbesserung der Lebensumstände durch die Literatur geprägt ist; der einzelne Mensch sei nämlich durch den »Zustand der Außenwelt« wie durch seine innere Verfasstheit »verwüstet« (FW, 286); der Schriftsteller wüsste daher nicht mehr, worauf sich seine Vorstellungen einer besseren Welt beziehen sollten und was »Wert hätte, ergriffen zu werden« (286). Die entsprechende Nietzsche-Passage kann hier durchaus als Referenz gelten, resümiert sie doch den Perspektivismus, als einseitige Weltsicht, und betont den Illusionscharakter jeder Wahrnehmung, der aber zu einer Art OberflächenÄsthetik genutzt werden könnte: »Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um so werthvoller, bestimmter, schöner, bedeutungsvoller
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erscheint die Welt« (KSA 11, 146). Brinkmann wird dieses Fragment (25[505]) vermutlich aus dem berüchtigten von Peter Gast und Elisabeth FörsterNietzsche herausgegebenen Nachlassband Der Wille zur Macht (1930, Nr. 602) kennen. Die Notizen und Beobachtungen enden mit einer eigenen Variation des Zitats, die zeigt, dass sich Brinkmann das philosophische Darstellungsverfahren Nietzsches spielerisch angeeignet hat: »Nichts ist wahr – Alles geträumt!« (FW, 295) Poetologisch wird damit eine entgrenzte Fiktionalität im Modus des Traums (oder des Rausches) gefordert, die die Einhegungen alltäglicher Verbalisierung durchbrechen könnte. Damit ist das Grundparadox der Notizen und Beobachtungen nochmals angedeutet: Der neue Roman soll sprachlich erfassen, wie der Mensch »außerhalb des Sprachbereiches vielfältig agiert« (FW, 294), wie er sich »unterhalb des Gesagten« (FW, 293) bewegt, wie er »zwanghaftes Verbalisieren« (FW, 286) durch Körperlichkeit relativiert und allgemeiner: welche Relevanz Vorgänge »auf einer nicht-verbalen Ebene« (FW, 277) haben. Schon die ersten Sätze markieren mit dem Sprachkritiker Fritz Mauthner und dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, das maßgebliche Frame: Die Reflexion über psychische Vorgänge sei an die Grenzen der Sprache gebunden. »Die Mauern sind wirklich da. Und unsichtbare Mauern, Wortmauern, Satzmauern ... Begriffe, an denen die Körper hängen wie an Fleischhaken in den Metzgereien.« (FW, 275) Hier scheint Brinkmann an Wittgenstein zu denken, der in den Philosophischen Untersuchungen von den »Beulen« spricht, »die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat.« (1980, 81, § 119) Dem Denken hält Brinkmann den großen Anteil »nichtverbaler Erfahrungen« (FW, 276) in der persönlichen Entwicklung entgegen. Den »wortlosen Eindrücken und Erfahrungen, die Erfahrung der Fakten, die sich in wortloser Reihe gruppieren« (ebd.), stehe die Abrichtung durch Sprache und Sinngebung gegenüber, die das eigene Bewusstsein massiv einschränken würden. Die Notizen und Beobachtungen plädieren für eine Wiedererlangung der Erfahrungsbereiche jenseits der Sprachbarrieren, für eine Bewusstseinserweiterung jenseits der Sprache. Es überrascht kaum, dass der Text in diesem Zusammenhang auch auf Rauscherfahrungen durch halluzinogene Drogen zu sprechen kommt. Es entspricht ganz dem zeitgenössischen Popdiskurs. Zwar identifiziert der Sprecher in diesem Sinne als das »Problem des modernen Romans«– fast möchte man sagen noch in der Tradition von Georg Lukács –
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»das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit« (FW, 276). Doch setzt die Frage nach der »Bewusstseinsveränderung« (277) hier natürlich andere Akzente als der sozialistische Realismus (hier: das »Konzept des Sozialismus«, FW, 294, vgl. 286). Worum es gehe, konstatiert Brinkmann, sei, neue Konzepte zu erfinden, »nicht aber Literatur weiter zu treiben, in der es noch immer abstrakt um den menschlichen oder unmenschlichen Menschen geht« (FW, 294). Der neue Roman grenzt sich von solcher Sozial- oder Gesellschaftskritik deutlich ab. Er entzieht sich bipolaren Wertungen (gut/böse, Ordnung/Unordnung, Sprache/Wirklichkeit) und plädiert für ›bewegliche‹ Positionen, die sich dem klaren Zugriff verweigern. Wenn nicht das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern die Sprache, ist diese oder das Verständnis von ihr in erster Linie zu ändern und nicht die Lebenswirklichkeit oder die Verfügbarkeit von Produktionsmitteln. Und dies sei mehr als eine »Frage der Schreibmethode oder: Revolution« (FW, 277) und auf keinen Fall ein Problem der »Viehlologi« (FW, 277). Zunächst sei die Fokussierung der Literatur auf die Sprache zu durchbrechen; die Realität dürfe nicht dazu dienen, der Literatur bloß Material für künstliche Konstellationen und deren Versprachlichung zu liefern oder verstiegene Sprachreflexionen auslösen, sondern müsse als unauslöschlicher Teil der Sprache selbst aufgefasst werden. Denn es gebe kein »entweder Sprache oder Wirklichkeit« (FW, 278). Zum einen scheint »jede Einzelheit [...] jenseits der Sprachebene« (FW, 280) vorhanden und bei entsprechender Sensibilität und Bereitschaft intensiv wahrnehmbar zu sein, zum anderen »flammt« epiphanieartig »ein Gesamteindruck von dem, was gesagt werden möchte« auf (FW, 280). Damit sind die Einzelheiten zwar sprachlich nicht adäquat benannt, aber in der Art einer umgekehrten Synekdoche augenblickshaft erfasst. »Sprache verkleinert« (FW, 280) hier trotzdem freilich, tabuisiert, grenzt aus. Dem neuen Roman käme es zu, dennoch dem Wirklichen beizukommen, die Tabus zu markieren, Automatismen zu vermeiden, das Ausgegrenzte zu beschreiben und die Institutionen hinter sich zu lassen, die die Versprachlichung der Realität determinieren (Literatur, Markt, Ideologien, Staat usw.). Damit wären die »geläufigen Abstraktionen zu durchbrechen« (FW, 281). Dem entweder Literatur oder Wirklichkeit setzt der Beitrag die Ambiguität des Gleichzeitigen gegenüber: Der neue Roman ist oder konstatiert Wirklichkeit, ohne mit der ›äußeren‹ Realität übereinzustimmen: »Nichts ist wahr – Alles geträumt!« (FW, 295)
15.6 Die Westwärts-Paratexte Als (wohl ungewollter) Schlussstein seiner essayistischen Anstrengungen um eine für ihn nicht schreibbare oder allenfalls fragmentarisch präsentierbare Literaturästhetik, – wenn man so will – als das poetologische Testament Brinkmanns, können die autographen Paratexte zu Westwärts 1&2 (1975, 5–7 sowie 2018, 7–9 und 256–330; dazu: Vorläufiger Text, 15–16) gelesen werden. Sie verlassen den poetologischen Bereich des Romans und weiten den Blick nochmals aufs Grundsätzliche aus, in dem so gut wie alle Aspekte der früheren literatur- und kunstkritischen Schriften erneut zur Sprache kommen. Die Prosatexte zu Westwärts sollen geradezu emphatisch Wege zeigen, die Grenzen des rein Sprachlichen in der Sprache zu überwinden und das Körperliche wie das Wirkliche im Poetischen aufzuwerten. Als gemeinsame Denkbasis bleibt eine poetologische Sprachkritik (vgl. Ww, 267, 323 passim; s. Kap. 5), die sich an der adäquaten Verbalisierung des Unsagbaren abarbeitet. Sie ist einerseits formuliert in den schon in der Erstfassung von Westwärts (in der Reihe das neue buch) gedruckten Vorbemerkung (»R. D. B. 11./12. Juli 1974, Köln«, Ww 1975, 7), andererseits in einem monumentalen Prosatext, der zunächst um Zweidrittel gekürzt 1976 im Literaturmagazin 5 (1976, 228–248), dann von der Herausgeberin Maleen Brinkmann vollständig der ›ursprünglichen Fassung‹ der späten Lyrikbände (erweiterte Ausgabe: 2005, 22018) beigegeben wurde: Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (Ww, 256–330), verfasst offenbar etwas später als die Vorbemerkung, nämlich von August bis Oktober 1974. Nicht nur dieses Nachwort hat man in der Forschung als rahmenden Bezug zu der Vorbemerkung gelesen, sondern auch das möglicherweise poetologisch zu verstehende Schlussgedicht der Erstausgabe: Dieses Gedicht hat keinen Titel (Ww 1975, 179–184; vgl. Di Bella 2012, 823). Hinzu kommt als weiterer autographer Paratext der dem Herausgeber der Reihe das neue buch, Jürgen Manthey, telefonisch übermittelte Vorläufige Text (posthum, 1990). Er hätte vollständig in den Anhang der neuen Ausgabe von Westwärts 1 & 2 gehört (vgl. Ww, 333–335), wird dort aber bloß zitiert. In seinem Werbetext präsentiert Brinkmann eine recht präzise Zusammenfassung seiner poetologischen Positionen, die er im Jargon eines wohlwollenden Kritikers formuliert; zunächst umreißt er die Themen der Texte und ihre Intentionen: »Ihre Themen sind das alltägliche Leben in der Gegenwart, Sexualität, die Umgebung, die Unruhe, die Sprache und das
15 Literatur-, kunst- und kulturtheoretische Texte
Sprechen, das Hin und Her zwischen den verschiedenen Orten, Menschen und Bewußtseinszuständen. Sie machen die Entstehungen zu unvermuteten Augenblicken deutlich, drücken eine Sehnsucht nach einem intensiven Alltagsleben aus und zeigen die intensiven Momente des unmittelbaren Gegenwartslebens.« (Vorläufiger Text, 15) Anschließend markiert er – ohne sie explizit zu benennen – Verfahren des Cut-up, eine Schnitttechnik in der Tradition von Burroughs, der Intertextualität, der Intermedialität, der Digression und der Montage: »Stadtszenen und Landschaften, autobiographische Bruchstücke und fiktive Biographien, vermischt mit Briefstellen, Zeilen aus Rock’n’Roll-Liedern und Fragmente aus Unterhaltungen, Erinnerungen und Lektüren machen die Gedichte, die oft lange ausschweifende und abschweifende, rauschhafte Texte sind, zu einem intensiven Erlebniswirbel« (Vorläufiger Text, 15). Die gleichen Verfahren finden sich im Unkontrollierten Nachwort angewendet. Es erscheint daher in hohem Maße als poetisch-poetologische Mischform, die der Westwärts-Sammlung ein eigenes, erst mit der Neuausgabe von 2005/2018 verständliches Gepräge gibt. Nur in eingeschränktem Maße gilt dies schon für die Vorbemerkung, die narrative und diskursive Sprechformen mischt. Die erste noch auktorial autorisierte Fassung dieses Textes ist nicht, wie die spätere Fassung und die sinngebend gesetzten Gedichte des sorgfältig edierten Bandes, im Block-, sondern im Flattersatz gedruckt worden. Damit akzentuiert schon die Typographie wie die unprätentiöse Überschrift der Vorbemerkung eine gewisse Vorläufigkeit der poetologischen Überlegungen. Sie beginnen und sind in diesem Sinne durchsetzt mit einer O’Hara entlehnten Formulierung (vgl. Di Bella 2012, 817 und O’Hara 1969, übers. von Brinkmann, 19), die den work in progress-Charakter des Gesagten manifestiert: »Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter [...]. Auch die Interpretationen machen weiter [...] die Wörter machen weiter« (Ww 1975, 5 f.). Neben den autobiographisch wirkenden Narremen enthalten die wenigen Seiten des Paratextes eine der meist zitierten poetologischen Äußerungen Brinkmanns, die seine Nähe zur Popkultur und speziell zum Popsong andeutet: »Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern. Vielleicht ist mir aber manchmal gelungen, die Gedichte einfach genug zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.« (Ww 1975, 7)
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Die Suche nach einer poetischen Ausdrucksweise jenseits der Sprache erinnert an das Ende des ChandosBriefs von Hofmannsthal. Die Auflösung des Paradoxons – Poesie jenseits der Sprache – gelingt bei Brinkmann über die Musik, den Popkontext und über den work-in-progress-Charakter. Die Westwärts-Gedichte sollen als einfach, musikalisch und vorläufig verstanden werden. Aber natürlich sind die Texte des Bandes »nicht immer [...] ›so einfach wie Songs‹«. Denn zumindest die Langgedichte »in ihrer komplexen Verschränkung von Sprachreflexion, genauen Bildern und Zeitkritik« fordern ein genaues Lesen oder Mitsprechen (Steinaecker 2005). Vermutlich hat insbesondere der zitierte Songbezug und die Wiederholung der genannten O’Hara-Phrase dazu geführt, dass die Vorbemerkung und ihr Anspruch an Gedichte in der Popkultur und in konkreten Popsongs ungewöhnlich breit rezipiert wurden (vgl. Seiler 2011, 254 f.). Im weitesten Sinne könnte man auch Brinkmanns Radiofeature (s. Kap. 42) zum »Kölner Autorenalltag« zu den Paratexten von Westwärts 1 & 2 rechnen; schon der Titel der Schimpfkommentare – »Die Wörter sind böse« (gesendet am 26. Januar 1974 auf WDR 3, Regie Hein Bruehl, 48,44 Minuten) – verweist auf viele sprachkritische Formulierungen aus dem Unkontrollierten Nachwort (vgl. etwa 257, 260, 266, 272 usw.). Die Angaben zum Titel des Hörbeitrags variieren indes (vgl. Eckhard Schumacher 2006, 77). Im Gegensatz zur präzise einstimmenden Vorbemerkung »ist in dem umfangreichen Nachwort die Tendenz zur endlosen und schnell nervenden Selbstwiederholung festzustellen, von der auch die Tonaufnahmen und Materialbände geprägt sind« (Stein aecker 2005). Der geplante Status des Textes, der erst nach einem Drittel mit unkommentiertem Bildmaterial illustriert wird, bleibt bis heute unklar. Der Vorläufige Text zum Westwärts-Band lässt darauf schließen, dass das Unkontrollierte Nachwort zumindest ursprünglich zum Textensemble des Buches gehörte und unbedingt in enger Verbindung zu diesem gelesen werden muss (vgl. Späth 1986, 247–325; Jacob 2012, 788): »Als Anhang ergänzt und erweitert ein langer literarischer Essay, Aufzeichnungen aus dem Sommer 1974, die Gedichte. Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschenden literarischen Konventionen und kann ebenso gut als ein zusammenhängendes Prosabuch, Gedichtbuch wie Essaybuch gelesen werden« (Vorläufiger Text, 15). Einerseits pointiert das Zitat eine Gattungszugehörigkeit – »literarischer Essay« – andererseits werden die Gattungsgrenzen nivelliert; eine genaue bzw. ›phi-
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lologische‹ Benennung scheint letztlich kontingent oder aber Geschmackssache zu sein. Letzteres passt gut zu Brinkmanns Polemiken gegen die »gierige Viehlologie« (Ww, 287, vgl. 257, 269, 296, 317 passim) und gegen »deutsche glatzköpfige Professoren« (317) und ihre verengenden Lektüren zweiter Ordnung. Analoges findet sich bekanntlich in den Briefen an Hartmut (vgl. BrH, 121, 151). Viele Passagen des Unkontrollierten Nachworts schließen an bekannte Problemkomplexe der früheren Essays an, von denen nur die wichtigsten genannt seien: Sie grenzen sich vom etablierten Kulturbetrieb der BRD ab (vgl. Ww, 264, 303 f.), den ›alten Männern‹ bzw. »hochstilisierten Greisen« (259), auch von einigen »den Medien in den Arsch kriechenden Intellektuellen« (265, vgl. 279, 282) der 1968er Jahre, von der politischen Literatur (vgl. 286, 299), von der Philologie (vgl. 287) und der »Psycholinguistischen Turnerei« (264). Brinkmann wendet sich der »Oberfläche der Welt« (287) zu, favorisiert »das Zufällige [...] zwischen den erstarrten Dingen« (308) und zieht aus der Beat- bzw. Popkultur der Vereinigten Staaten seine Inspirationen. Gewährsleute, die oft auch ohne Nachweis zitiert werden, sind ihm dabei – wie schon früher – Jack Kerouac (274, 316), Ossip Mandelstam (274, 316), Gottfried Benn (256, 267, 276, 278 passim), Fritz Mauthner (267, 323, 328 passim), Daniil Charms (316), Allen Ginsberg (316), William S. Burroughs (312), Hans Henny Jahnn (283), Dieter Wellershoff (289 f.) oder Arno Schmidt (316), aber auch – sonst weniger oft angeführte – Autoren der Klassischen Moderne wie Ezra Pound (317), Bertolt Brecht (308, 328), Arthur Rimbaud (274), James Joyce (316) und Marcel Proust (316). Etwas ungewöhnlich erscheint auch die Erwähnung des beim Massimo-Aufenthalt rezipierten Romantikers Ludwig Tieck (276, 312), erwartbar das Namedropping von Popgrößen wie Leonard Cohen (293), Lou Reed (314), Charles Mingus (328) oder Joy Fleming (290: ›Neckarbrückenblues‹); wie »Göthes schmurgeliger Faust« (303), lustvoll anzitiert, zu verstehen ist, muss trotz des ungewöhnlichen Adjektivs kaum erklärt werden. Ein besonderes Augenmerk des Nachworts gilt der poetischen Sprachkritik (vgl. Späth 1988, 184–189; 1989, 74–90), die einerseits an bekannte sprachkritische Diskurse der klassischen Moderne (Mauthner, implizit: Nietzsche, Wittgenstein, Hofmannsthal), andererseits an die Diskussion um die hermetische Lyrik nach 1945 (Benn, implizit Celan, Adorno) anschließt; die Skepsis gegenüber dem mimetischen Potential der Sprache mündet in radikale Formulierungen wie »Sät-
ze geben keine Auskunft, Wörter geben keinen Sinn« (Ww, 257, vgl. 267, 273, 275, 328 usw.). Hinzu kommen Vorbehalte gegenüber der Macht sprachlicher Klassifikation (etwa in der Politik oder der Wissenschaft) sowie der Geltung von »Kulturinstituten« (264, vgl. Adorno 1963) und dem von »Massenmedien« (Ww, 263, vgl. McLuhan 1964) diktierten Sprachgebrauch, dem man in der heutigen Gesellschaft mehr unbewusst als bewusst folge (vgl. Ww, 258, 260, 263, 283, 309 usw.). Die sprachkritische Position Brinkmanns kulminiert in der paradox klingenden Aussage, dass ein »Schriftsteller [...], dessen Mittel die Sprache ist [...], gar nicht anders« kann, »als immer wieder darauf hinzuweisen, daß Sprache gar nicht wichtig ist« (260, vgl. 271). Denn die »Poesie ist immer das, was nicht gesagt, nicht formuliert worden ist« (277). Zwei Konzepte scheinen so etwas wie Dichtung unter diesen Voraussetzungen dennoch zu ermöglichen: zum einen die von William S. Burroughs entlehnte »Stille« (261, 264, 283, 312, 313, 328 passim) als wortloser Ausgangspunkt der Wahrnehmung, zum anderen die Epiphanie – »Empfindungen, Wahrnehmungen, augenblickshaft« (260, vgl. 263, 266, 298 usw.), »plötzliche Erleuchtung, was immer das ist« (313, vgl. 315) – als momenthafte Rezeption von Realitätspartikeln und wohl auch »Bildern« (287, vgl. 277, 263, 301), die aber in der ›Poetik‹ des Unkontrollierten Nachworts im Vergleich zu anderen Texten Brinkmanns eine deutlich geringere Rolle spielen. Er konstatiert, dass »jedes Gedicht, noch das perfekteste, in sich geschlossenste [...] ein Fragment« sei (Ww, 263, vgl. 294 f.). Es ist sprachreflexiv (vgl. 264), vorläufig (vgl. 280), in »Bewegung« (263, 280) sowie alltags- (vgl. 264, 313) und gegenwartsbezogen (vgl. 271, 290, 313, 330 usw.): »irdischer Rock’n’Roll, jetzt, hier« (271). Es stellt unverbundene Vorstellungen nebeneinander, baut »zufällig gefundene Zitate« (313) ein, akzeptiert »Gedankensprünge, Abbrüche, Risse« (263), »Abweichung[en]« (270), einen »Haufen von Einzelheiten« (277) und wirkt daher unstet, sprunghaft und assoziativ. Entsprechend klingt es wie »ein Stammeln, das jederzeit widerrufen werden kann« (280), verwendet es Cut-up-Verfahren, »Schnitte« (318), Assoziationen und setzt bewusst auf »das Nebeneinander« (277) von scheinbar Unzuvereinba rendem: »Ich gehe von einem Satz zum nächsten, und oft weiß ich nicht, wie dann das Folgende ist« (296). Insofern wirken einzelne Verse und viele Passagen des Nachworts wie Notate (»Zettel [...] mit Stichwörtern«, 298), wie rasch hingeworfene Eindrücke. Tatsächlich sei der »Gedichtband mehr Notizbuch als Gedichtband« (297, vgl. 319). Aus Gedichten – so Brinkmann
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– könne man nichts lernen (vgl. 282); sie scheinen ihm einerseits als eine Art »Archäologie« (329, vgl. Baßler 2002, trotz: 164) der Gegenwart, andererseits – fast klassizistisch – als Modi ästhetischen Erlebens jenseits dieser Gegenwart (»Wieso dieser Fetisch Realität?«, 290), die diese – wieder mal fast paradox – intensiver erlebbar macht (vgl. 288). Neben einer solchen avantgardistisch anmutenden Poetik, die zumindest einen unkonventionellen Anspruch hat, finden sich im Unkontrollierten Nachwort tatsächlich auch geradezu naiv anmutende Sätze einer eher wohltuenden Dichtkunst für jedermann; sie passen allenfalls zur Engführung von Popsong und Gedicht in der Vorbemerkung und zeugen vielleicht auch auf ihre Weise von der mangelnden Kontrolliertheit des Nachworts: »Poesie ist zärtlich. Poesie seufzt nicht, Poesie kann man in der Badewanne lesen« (274). Literatur
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Dirk Niefanger
V Poesie
A Frühe Gedichte 16 Das erste lyrische Jahrzehnt Erst Jahre nach Rolf Dieter Brinkmanns Tod wurde allmählich bekannt, wann poetischer Einsatz, Werk und Publikation begonnen hatten. Das erste lyrische Jahrzehnt reicht demnach vom begeisterten Brief an Gottfried Benn am 2. Mai 1956 bei der Lektüre seines Gedichts Fragmente bis zu dem schmalen Band &-Gedichte 1966. Die erstaunlich rapide und kontinuierliche Produktion mit ungewöhnlichem Witterungsvermögen für die akuten Ausdrucksformen fällt umso deutlicher auf, als Brinkmann in Vechta nicht eben die besten Bedingungen für eine literarische Karriere vorfand. Zugleich geben diese frühen Orientierungen des Schülers den Hinweis für eine Phasenbildung entlang der gelesenen Literatur oder speziell gepflegten Interessen, die nicht selten sichtbare Spuren in den Gedichten hinterlassen haben. Die Kenntnis der anfänglichen Versuche stützt sich auf ungedruckte Poesiealben mit Datierungen ab 1957. Erst jetzt zugänglich sind die Gedichte an Gisela Reinholz von 1957. Nachdem sie 1979 in der Wochenzeitung Die Zeit vorgestellt worden waren, sind sie bis 2015 in Privatbesitz geblieben, bevor sie in die UB Vechta gelangten. Innerhalb weniger Wochen von Februar bis März 1957, so lange die Liebesgeschichte zu der Schülerin des Lyzeums bis zu ihrer Abreise aus Vechta dauerte, entstanden 41 Gedichte, die er in Briefen von Mitschülerinnen nebst Botenlohn zustellen ließ und sie in ein Album auf gelben und blauen Seiten (sein erstes Buch) übertrug. Als Motti dienen Benns Statische Gedichte und ein von Günter Eich für die Anthologie Lyrik des Ostens übertragenes Gedicht des Wang We. Aus derselben Zeit stammen auch die Gedichte an Elisabeth Piefke. Drei Alben und ein Schnellhefter mit handschriftlichen Texten, manchmal nur wenige Zeilen auf einer Seite, sind im Original in der UB Vechta aufbewahrt. Irgendwo...lonely Street / corner: desire 57, enthält auf 50 handschriftlichen Blättern an Benn angelehnte Gedichte und ein längeres poetologisches Exzerpt mit der Herkunftsangabe aus
seinem im Limes Verlag erschienenen Vortrag Probleme der Lyrik von 1951, Vogelflüge, neunzehn Gedichte 1958/59 trägt die Widmung »für: Elisabeth« mit maschinenschriftlichen Gedichten, während Gedichte eines Jahres 1959 dieselbe Widmung bringt mit 34 handgeschriebenen Blättern. Dazu kommen weitere 32 handschriftliche Blätter Gedichte 57/58 für Elisabeth Piefke im Juli 1958. Sie enthalten auch Entwürfe unter dem Titel »Paris: 1958« und »Sonate 58« mit einem Motto von Dylan Thomas. Im Rückblick lässt Brinkmann die Erinnerung an die Benn-Lektüre schon 1955 beginnen und ironisiert das Endzeitbewusstsein (Erk, 211, 237). Einmal gibt er einen Hinweis auf ein Heft mit modernen Gedichten aus einem Schulbuchverlag, das ihn damals zur Nachahmung anregte (Erk, 289). Weitere Hinweise finden sich in den Protokollen der Rhetorika Vechtensis am Gymnasium anlässlich seiner Vorträge und Rezitationen zu Rimbaud, Heine, Rilke, Stramm, Hesse, Schnurre, Pound, Alain-Fournier oder Sartre. Motti für die Jugendgedichte liefern: Heinz Piontek Unablässiges Gedicht (aus: Die Rauchfahne 1953), Mallarmé Die Fenster und Dylan Thomas And death shall have no dominion. Sie stehen unterschiedslos neben Bergengruen Frage und Antwort (aus: Die heile Welt 1950), aber auch Karl Krolow Kurze Nächte (aus: Tage und Nächte 1956) sowie Ingeborg Bachmann Fall ab, Herz und Psalm (aus: Die Gestundete Zeit 1953, beide auch in Merkur 10/1953). Von Beginn an haben wir es mit einem gewaltigen Nachholbedarf in den 1950er Jahren zu tun, der ganz verschiedene Projekte einer nachholenden Moderne hervorbrachte. Ihr lässt sich das Frühwerk insgesamt zuordnen. Brinkmann greift, was er bekommen kann, auch wenn die Schreibung der fremdsprachigen Autorennamen Unsicherheiten aufweist. Er profitiert von der reichhaltigen Übersetzungsliteratur, von Zeitschriften und Anthologien. Dabei genügen oft schon kleinere Sammlungen, wie die 1956 von Eva Hesse veranstaltete zweisprachige Auswahl zu Ezra Pound Dichtung und Prosa. Mit einem Geleitwort von T. S. Eliot (1956), deren Lektüre er noch 1974 erwähnt (BrH,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_16
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V Poesie – A Frühe Gedichte
199). Darin lässt die Übersetzerin einen langen Gesang gerade mit der Stelle beginnen, die Brinkmann in Gedichte 57/58 als Widmung für Elisabeth Piefke voransetzt: »What thou lovest well remains, the rest is dross. Ezra Pound in: Pisan Canto LXXXI.« Auch ohne Kenntnis des vollständigen Textes wird es für einen die Freundin beeindruckenden Auftritt gereicht haben. Noch einmal wird er das Zitat verwenden und Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i. O. damit enden lassen: »Was du innig liebst, ist beständig – der Rest ist Dreck« (Ww, 151). Der Vers aus dem Ullstein Taschenbuch Nr. 129 begleitet ihn lange, wie man an seiner Wanderung von 1957 bis 1975 und an der erinnernden Verklammerung der Namen durch die gleichen Initialen E. P. in den Gedichten nachweisen kann. Hinzu kommt natürlich die Renaissance des Expressionismus. Kurt Pinthus’ berühmte Menschheitsdämmerung von 1920 wird seit 1959 bei Rowohlt als Taschenbuch verbreitet und die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts von Benn sorgte 1955 für die intensive Nachwirkung der frühen Moderne. Darin findet er den Anschluss an die europäische Literatur, den rasch auch neue Übersetzungen erleichtern. Rimbaud, zweisprachig 1946 und 1955 erschienen, verschafft ihm das Bild des »maudit«, des Verdammten, Verfluchten, des verwünschten Poeten der Moderne, das er begierig aufgreift. Seinen und den Positionen Mallarmés, in der zweisprachigen Ausgabe 1957, fühlt er sich verwandt; sogleich hat er sie verinnerlicht, auch wenn manche Lektüre den Schüler überfordern musste. Kein junger Autor aber konnte sich der Wirkung des wieder erstandenen Gottfried Benn entziehen, dessen Stimme eine von vielen bezeugte Kraft ausübte bis in die Nachbildung einzelner Redewendungen hinein (Kobold 2014, 42 ff.). Vom Motto aus Statische Gedichte 1949 auf dem Benn-Exzerpt und dem Reinholz-Album bis zu einem Pastiche, dem Widmungsgedicht »für Frl. Agnes Möllmann« mit dem Titel In Memoriam, das Brinkmann in Essen am 11. Februar 1960 auf das Titelblatt der Totenreden für Gottfried Benn von 1956 schreibt, um damit seine Verehrung für den verstorbenen Lehrmeister auszudrücken (UB Vechta), finden sich zahllose Belege für die starke Prägung der frühen Lyrik. Die Vorstudien für die Rhetorikavorträge verraten aber auch die Kenntnis hoch aktueller Debatten zum Thema Lyrik heute, so Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer von 1955 oder die Symposien »Fragen der Lyrik« und »Bausteine zur Poetik« aus Akzente 1957. Mimikry allenthalben. Der dichtende Schüler gewöhnt sich den kalten Blick, den Tonfall Benns an und
bedient zugleich die konventionellen Herbstgedichte, Spätsommerlieder und Abschiedsstimmungen: »Spät blühen die schmerzduftenden Rosen« (Später 1957) oder »das Feuerherz ist ausgebrannt« (Herbstland, gezeichnet »Herbst 57«). Auch hier waltet die Stille der Heimkehr, auch seine ersten Gehversuche lassen sich von der gesuchten Metapher Fallenstellerbeute oder einem Fallstrick der Melancholie verführen, welche den von Benn verworfenen seraphischen Ton nicht meiden. Vermischt mit angelesenem Bildungsgut stellen die Gedichte an Piefke eine in Tiefsinn getränkte Ophelia aus, die »das Sternenwelk« sich »ins Herz säte«. Wenige Monate später kann er in den Akzenten 7/1960 die Ophelia-Gedichte von Rimbaud, Heym und Brecht studieren. Das Bildreservoir regt ihn zu WENN ICH KOMME an, das 1960 in blätter + bilder erscheint und den Mythos eben nicht mehr erklärt, sondern lyrisch aufs Elementare reduziert (Kobold 2014, 63–74). Mimikry als Lernprogramm, das ist die Devise. Stilübungen in Romantik, Traumprotokoll und Technik poetischer Wortkombination. Freilich ist manches einfach übernommen wie das »Traumkraut« aus dem gleichnamigen Band von Yvan Goll (Kobold 2014, 87) und der späte Surrealismus existiert immer noch in wunderlichen Verbindungen, wie Karl Krolow sagte. Fisch, Wasser, Himmel, Wolken, Wind, Mond, Schatten grundieren die Metaphorik in allen Abstufungen bis hin zu den beliebten Genitivmetaphern eines Wolfdietrich Schnurre, die weit Entferntes zusammenzwingen. Der Bildervorrat der Romantik, die surrealistische Reihentechnik liefern die Rezepte. Höchste Willkür in der Bildfindung und offenkundig diffuse Bildhorizonte in der Symbolik treiben den Autor zu immer gewagteren Kombinationen. Die Gedichte aus der Vechtaer Zeit sind Vorübungen zu einem ersten Band, den Brinkmann unter dem Titel in der windschaukel am 27. Januar 1961 Hans Bender anbot unter Hinweis auf seine ersten Veröffentlichungen in kleineren Zeitschriften (Kobold 2014, 50–54). Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Ablehnungen arbeitete Brinkmann die Texte immer wieder um. Viele der Jahre später gedruckten Texte können weit zurück reichende Vorstufen aufweisen, die in unterschiedlichen Textkonvoluten der Essener und Kölner Zeit eingereicht wurden. In dieser Situation kommt der seit 2005 in Vechta vorhandene Teilnachlass gelegen. Er stammt von einem früheren Schulfreund und Mitbewohner der Kölner Wohnung, Peter Hackmann, der über die Umstände des Erwerbs nur bekannt gab, dass Brinkmann ihm das gesamte Konvolut in den 1960er Jahren überlassen habe. Die Manuskripte waren allerdings völlig
16 Das erste lyrische Jahrzehnt
ungeordnet und zudem zerrissen. Als eines der wichtigeren Dokumente darf das kurze Ablehnungsschreiben vom 16. Mai 1963 seines Lektors bei Kiepenheuer & Witsch gelten, in dem Dieter Wellershoff wegen der »Schwächen Ihrer Lyrik« dem Autor den eingereichten Gedichtband Vorstellung meiner Hände zurückschickte. Darin muss man auch den Grund für Brinkmanns Reaktion sehen. Wenn alle Annahmen und Behauptungen zutreffen, hat Brinkmann danach alle Gedichtsammlungen zerrissen, und sie sind dann unter ungeklärten Umständen (wohl 1963/64) in die Hände von Peter Hackmann gelangt. Darunter (über 300 Bl. Lyrik und Notizzettel) finden sich mehrere Lyrikbände, aus denen lediglich wenige Gedichte in anderen Fassungen von Brinkmann publiziert wurden. Erhalten sind in einigen Fällen bis zu 18 Vorstufen: Don Quichotte auf dem Lande: Gedichte 1959/1961 rolf diether brinkmann (Typoskript Durchschlag, 44 ungez. Blätter DIN A 4); Die wiederholte Schöpfung: Materielle Gedichte 1960/1963 (Typoskript, 31 ungez. Blätter DIN A 4); Vorstellung meiner Hände: Gedichte. 1963 (Typoskript, 34 ungez. Blätter, DIN A 4; beim Verlag eingereichte Fassung mit handschriftlichen Korrekturen des Autors und handschriftlichen Anmerkungen von Dieter Wellershoff sowie dem nicht zerrissenen Ablehnungsbrief. Dazu zahlreiche Vorstufen.); Ihr nennt es Sprache. Rolf Dieter Brinkmann 1962 (zwei Typoskripte mit 31 ungez. Blättern DIN A 4, wenigen in der Publikation 1962 nicht enthaltenen Gedichten und dem Autorenvertrag mit Klaus Willbrand). Diese Sammlungen erlaubten die Rekonstruktion einiger Gedichtbände zur Zeit des ersten Buches 1962 und die posthume, in 2000 Exemplaren gedruckte Publikation eines von Maleen Brinkmann ohne editorische Kriterien ausgewählten Teils 2010, in dem Die wiederholte Schöpfung fehlt. Allerdings lässt sich die Entstehungszeit nur selten eingrenzen, denn selbst die mit Datum versehenen Texte und Bandtitel wurden später überarbeitet, ergänzt und einzelne Texte mit der Schreibmaschine erneut abgetippt. Als Beleg für das Datierungsproblem dient das auffällige Bild »der Kuckuck fiel / unter Amnestie« (V, 31) aus dem Gedicht Aufforderung an den Ritter de la Mancha. Das Titelgedicht der ersten Sammlung 1959/ 1961 zitiert Wilhelm Lehmanns Gedicht Amnestie vom 29.7.1964 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das mit dem Vers »Ausrufer Kuckuck: Amnestie« begann. Noch drei Jahre nach der Datierung verändert Brinkmann seinen Text in Köln.
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16.1 Im Tempo der Tendenzen: Vorstellung meiner Hände (2010) Unter dem Titel »Lyrische Demoskopie« beklagte Alfred Andersch im 6. Heft 1956 als Herausgeber der Zeitschrift Texte und Zeichen die schiere Zahl eingereichter Lyrik. Dennoch sei der Durchschnitt der Arbeiten erstaunlich gut und lege von einer radikal aufgenommenen Moderne Zeugnis ab. Erkennbare Vorbilder hole man sich von draußen, die schwierigsten Meister wie Cummings und Pound seien gerade gut genug. Erstaunlich sei die »Epigonie allerneuester Ereignisse«, die »umfangreiche Bachmann-Nachfolge«, die »Aufnahme gewisser Phrasen Krolows« und anderer Vorbilder wie Heinz Piontek, Manfred Hausmann oder Wolfgang Weyrauch. Diese bemerkenswerte Lagebeschreibung liest sich wie eine Rezension der noch ungeschriebenen Gedichte Brinkmanns und auch frühe Wegbegleiter wie Wellershoff und Matthaei haben die fast zwanghafte Suche nach Orientierungsfiguren bei weitgehend fehlender Vorkenntnis sowie die stimulierende Wirkung einzelner Autoren auf die Formung des jungen Lyrikers erkannt. Der rasche Tonlagenwechsel in den drei frühen Sammlungen ist einer Art Topographie der lyrischen Tendenzen geschuldet. Den Anfang des Wegs durch die zeitbedingte Sprache weisen die Märchengedichte im Stile des Nachsurrealismus, mit denen die erste Sammlung anhebt. In Märchenzeit: Liebe eröffnet die erste Strophe ein Gespräch mit den Fischen, die Lyrikanthologie Transit enthielt ein ganzes Kapitel zur Republik der Fische (Kobold 2014, 105 ff.) und setzt die Bildkombination mit Zitaten aus Bachmanns Liebesgedicht Nebelland, »die Füchsin lacht«, und Karl Krolow fort. Auch bei Krolow liest man die Fischmetapher, die Märchenmetapher in den Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt, die nun in dem Wort von der Liebe wiederkehren, die »nicht länger mehr / ein vergebliches Eingeständnis / an die Herrschaft der Welt.« (V, 40) sein könne. Krolows Bild von der »Grammatik des Dichters« und von der Muse als einem »tödlich verwundeten Vogel« in Verhandeln ist zwecklos kombiniert Brinkmann zur »Grammatik« der »Vogelflüge« (V, 14; St, 17), er gewinnt dem Gelesenen eine neue Variante ab. Die zahllosen Mondkomposita in der Septemberballade fußen auf dem Zyklus Mondsand, den Hans Arp 1960 herausbrachte. Brinkmann kommentiert ironisch: »und ich singe / den Mond... mit viel Mondgedichten / in allen Taschen« (V, 41). Die Zitate sind nie markiert, wie die Verse über die »Erinnerung ... und einige Gedanken bei einer Seite
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Proust, wo er von der Liebe schreibt« (V, 17), sie entstammen dem Gedicht Im Museum von Rudolf Hartung, das in seinem Band Vor grünen Kulissen 1959 und in Akzente 8/1961 zu lesen war. In der Regel finden sich leicht veränderte Übernahmen, bei denen im Einzelfall nachweisbar wäre, wie der Autor versucht, das gerade Gelesene in den eigenen Kontext einzupassen. Die erste Sammlung ist ein einziges großes Stilpastiche, absichtlich oder involuntaire, gekennzeichnet durch Anklang, Übernahme, Weiterführungen und Kontrafakturen: Erinnerte Landschaft von Piontek liefert einfach den ersten Vers des Gedichts an Hans Bender (V, 11). Es fällt leicht, den Titel phänomenologisch zu deuten. Der merkwürdige Don Quichotte auf dem Lande geht auf Emmanuel Mounier Einführung in die Existenzphilosophien 1949 zurück. Darin las Brinkmann vom Ritter, der sich an der Kirche stößt, fand das Thema für seine Schülervorträge zum Existentialismus und verknüpfte nun diese Figur mit dem Titel Auf dem Lande von Karl Krolow aus dem Band Tage und Nächte 1956. In Mouniers »Don Quichotte der Existenz« bot der Ritter von der traurigen Gestalt ein willkommenes, weil bekanntes Bild für den heroischen, zum letzten, unbedingten Einsatz bereiten Menschen, der eben darum aus der bürgerlichen, ländlichen Gesellschaft herausfällt und »wider den Spott der Welt« als »Narr« dasteht, wie das Titelgedicht sagt. Nur ist bei Brinkmann nicht mehr Kierkegaard gemeint, sondern die Lage der Nachkriegszeit.
16.2 Existentialismus in Die wiederholte Schöpfung Mit diesem Band drängt die Tendenz in den Vordergrund: »und widersprich aller Metaphysik« lautete die Aufforderung an den Ritter de la Mancha, in der Sammlung Die wiederholte Schöpfung ist jetzt mehrfach die Rede vom Mitleid, »verkommen im Mitleid« (Schließe die Tür), »viehisches Mitleid« (Der verdammte Tod des Henri-Louis Destouches), »mein entsetzliches / Mitleid stirbt / unter der Last / physischer Bedürfnisse« (Le Chante du Monde (sic)), von der »Katastrophe / unsres Daseins« (Schließe die Tür) ist die Rede, mehrfach vom missratenen Dasein, vom »Widerspruch zum cartesischen Daseinsbeweis« (Die Wahrheit) oder man feiert den damals kultisch gelesenen Céline. Aus Anlass seines Todes 1961 stilisiert ihn Brinkmann zum Märtyrer des Existentialismus und beginnt mit den pathetischen Worten »Er / ist tot«.
Das Céline-Gedicht liefert auch den Titelvers der Sammlung: »in aller Stille / geschah es, daß in ihm die Schöpfung sich / wiederholte, das große Heilsgeschehen« (Der verdammte Tod des Henri-Louis Destouches). Selbstverständlich taucht der ganz nach Sartre klingende Schöpfungsbegriff ständig auf, so in Kleist, ein Liebeslied, das ein Rollen-Ich sprechen lässt: »Worte, diese / Eitelkeit unter der ich leide, maßlos / die mein Hirn sprengt und heraus / quillt die Schöpfung noch / einmal in rohem / Zustand«. An einigen Stellen finden sich zwischen den Gedichten und Gedichtentwürfen hin und her wandernde Lieblingsformeln, die nur auf die Lektüre philosophischer Texte zurückgehen können: die »Ungenüge einer Schöpfung« (Die Bombe in meinem Kopf und Die Wahrheit) oder das offensichtlich sehr beliebte »Drängen des Bewußtseins« verraten die Übernahme phänomenologischer Formeln. Das längere Gedicht Die Widmung wirft mit den Zentralbegriffen »Zeit«, »Schöpfung«, Bewußtsein«, »Dasein«, »Verzweiflung« und »Sterben« nur so um sich und kondensiert sie in einem einzigen Abschnitt, dem zweiten, zu einer Kurzeinführung in das moderne Lebensgefühl. Der Grundgedanke von der »wiederholten Schöpfung« gehört zum Kernbestand der Poetologie und Literaturtheorie bei Sartre. Im Essay über Baudelaire entwickelt Sartre die Urszene der Moderne aus der »Ur-Wahl«, der unbedingten Entscheidung zur Vereinzelung. Zwischen sich und die Welt drängt sich das sich selbst beobachtende Bewusstsein, das die Empfindung seiner Sinnlosigkeit und Flucht vor dem Abgrund zu der Aufgabe führt, sich unaufhörlich selbst zu erschaffen. Nur im Schöpferischen besteht die reine Freiheit, wodurch es teil hat an der Grundlosigkeit des Bewusstseins. Der herstellende Akt des Poeten lässt sich von daher phänomenologisch beschreiben als eine absolute Schöpfung, als die Wiederinbesitznahme der Welt. Gedichte sind »körpergewordene Gedanken«. Schon in der ersten Moderne lokalisiert Sartre einen Umgang mit Dingen, der für Brinkmann kennzeichnend werden sollte. Die im Gedicht apostrophierten Dinge beruhigen das Verlangen, Gedanken zu greifen. Brinkmann wählt den Untertitel Materielle Gedichte. Nach beiden Richtungen, in die Materie und ins Geistige, überschreiten diese Dinge sich selbst, sie sind porös für das Materielle und das Transzendente. Dass Brinkmann mit diesen frühen Gedichten die Beschränkung des ländlichen Lebens in seinem Geburtsort abschütteln musste, ist ebenso ausgemacht wie sein unbändiger Drang nach Anschluss an die moderne Kunst. Vorstellung meiner Hände trifft mit
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dem klugen Titel, er erinnert an Karl Krolows Gedichtband Unsichtbare Hände von 1962 oder an die Plastik La main (1947) von Alberto Giacometti, genau den Schwebezustand zwischen Präsentieren und Imaginieren, den Sartre umrissen hatte. Der menschliche Selbstbezug enthüllt am eigenartigen Verhältnis zu den Extremitäten seine Besonderheit. Denn das Bezogensein auf den Körper ist die elementare Erfahrung für die Beziehung zur Welt. Der Leib oder die Hände sind nicht einfach Dinge oder Werkzeuge, sondern Teil der bewussten Struktur des Bewusstseins. Das Vorstellen der Hände ist zugleich der Hinweis auf die Faktizität des In-der-Welt-Seins wie auch seiner Überschreitung. Fassbar und doch unbegreiflich steht der Körper als Zeichen für das Unfassbare des Ichs wie für das Unbegreifliche der Existenz im Vollzug. Die »Vorstellung« der Hände handelt vom Konkreten, Vorzeigbaren, und vom Abstrakten des Schreibens, von einer Tätigkeit, die zwar von konkreten Handlungen bedingt ist, dennoch aber jenseits solcher Bestimmungen liegt. Die Körpermetaphorik des Existentialismus eignet sich bei Brinkmann hervorragend für den Vergleich mit der künstlerischen Arbeit.
16.3 Verkörperte Reflexion in Vorstellung meiner Hände Sofort fällt der deutliche Wandel, die große Differenz in der Sprache und der Figuration auf. Die ganze Sammlung durchzieht ein höchst dramatischer, hyperbolischer Ton, eine sehr schwere, dunkle Sprache, mit Symbolen überfrachtet, die den ersten Leser Dieter Wellershoff abschreckte. Die komplizierte, labyrinthische Syntax, die mäandernden Bilderfluchten, das fast gezwungene Vorantreiben der Wortwahl von Metapher zu Metapher und die Gestaltung einzelner Bilder kommentierte der Lektor mit sehr scharfen Randbemerkungen (V, 93) und traf das Gewollte und Künstliche der Texte genau. Insbesondere bei der Reflexionslyrik in den drei Sammlungen ist Brinkmann sehr darum bemüht, eine philosophische Haltung herauszustellen. Im längeren Gedicht Die Wahrheit spricht ein Rollen-Ich über sein Verhältnis zur Wahrheit: »Wider / meine Herkunft« sei die Wahrheit gesetzt, die »aufrecht« stehe »zwischen Wachsein und Schlaf«. Das Ganze sei »in Widerspruch zum cartesischen Gottesbeweis« zu denken und »wider den freien Fall«. Neben der maschinenschriftlichen sind mehrere handschriftliche Fassungen überliefert, die den Arbeitsprozess belegen und
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dokumentieren, wie Brinkmann um Eigenständigkeit beim Umgang mit den philosophischen Texten kämpft. Eine weitere maschinenschriftliche Fassung mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen ersetzt den Titel durch Selbstvernichtung. Dort lautet der Beginn: »Wider / meine Herkunft, dem zufälligen Menschsein«. Mit deutlicherem Bezug auf die existentialistische Position spricht das Ich dann auch vom Aufbegehren gegen die Beschränkungen: »dagegen (erhebe) empöre ich mich und vernichte mich selbst durch die Wahrheit« (mit Tinte am Rand). Zuletzt trägt die im Verlag eingereichte Fassung des Gedichtes dann den Titel Mein endgültiges Ende, sie enthält die beschriebenen Neuerungen und bringt die prägnantere Formulierung: »dagegen vernichte / ich mich selbst durch die Wahrheit« (V, 70). Wenn beim jungen Brinkmann auch nur der Grundgedanke des Durchbrechens der Existenz im permanenten Setzen von Akten der Befreiung angekommen sein sollte, führen die Gedichte doch vor, dass diese Orientierung zu einer Steigerung der Produktivität gereichte. So bietet das Titelgedicht Vorstellung meiner Hände in einer Reinschrift (V, 82) eine ungleich präzisere Umsetzung des poetologischen Bildes als das später beim Verlag eingereichte Typoskript. Anders als bei der bemühten Metaphorik mit dem hergebrachten Schiffsvergleich in späteren Fassungen deutet der an Rilke erinnernde Vers vom »Schmerz an den Dingen« auf das Eigenleben der Dinge und darauf, dass sie nicht mehr umstandslos im Wortsinne zur Hand sind. Die Dinge ergreifen den Reflektierenden nicht mehr, ihre Existenz bleibt verborgen, sie führen ein beziehungsloses Dasein, zu dem das Ich keinen Zugang mehr findet. Dadurch wird auch das Imaginieren der beschäftigungslosen Hände zu einem fragwürdigen Vorgang. Das Widerständige der Dinge erfährt das unglückliche Bewusstsein an der eigenen Körperlichkeit. Und wie bei Gottfried Benn sind die Worte und die Dinge getrennt. Im Gegensatz zum offen weltanschaulichen Gedicht ist schon die Konkretion spürbar, zu der sich Brinkmann durchringt. Und das geschieht in ausführlichem Dialog mit der Tradition und den zeitgenössischen Neuerungen. Im Titel seiner Sammlung spielt Brinkmann auf die in Köln erschienene Galeriepublikation Lob der Hand von Focillon mit zwölf Radierungen von Hann Trier an (Gerlach-Laxner 1994, 28–31, 126–134), dem Maler, der die Technik des simultanen Malens mit beiden Händen praktizierte und nahezu spiegelbildliche Werke schuf. Im Kontext der modernen Kunst in Köln liest sich das Personalpronomen in
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Brinkmanns Titel wie ein Wettstreit des Literaten mit der abstrakten Malerei. Bei den literarischen Bezügen seien vor allem drei Charakteristika genannt: die Sprache der Sexualität, die Szenarien des Untergangs und die formale Anlehnung an die französische Lyrik. Der christliche Existentialismus eines Dylan Thomas, in Paris von den Philosophen gefeiert, grundiert die Sprache der Sexualität. Thomas zeigt in Ich träumte meine Schöpfung nicht bloß eine verwandte Darstellung des künstlerischen Aktes, sondern auch eine traditionsgesättigte und dennoch neue Sprache körperlicher Direktheit. Sein virtuoser, geradezu beschwörender Ton mit einer kultischen, religiösen Färbung produziert ein ekstatisch hymnisches, fast konvulsivisches Sprechen, das in Metaphern mit hohem Wiedererkennungswert mündet. Brinkmanns Formel »und blüh / dein / Geschlecht in mir aus, schmerzhaft / wie die Gesetze des Rosenkranzes« (V, 62) im Rondo für Maleen geht auf Thomas »solange der endlose Rosenkranz / Deines angebeteten Fleisches kreist« aus Unselig auf einen Tod wartend zurück. Thomas liefert also Bildinventionen und Muster für die Sprachführung bis in die Syntax hinein. Apokalyptische Szenarien begegnen schon bei Thomas, bei Brinkmann finden wir nun »vernichtete[s] Dasein« (V, 59), »nur noch Untergänge« (V, 57, 71, 80), Zerstörung, Verwesung und Tod auf jeder Seite. Man hat dahinter eigene Erfahrungen des Autors gesucht und stieß auf eine Erinnerung an den Fieberwahn mit 11 Jahren, in dem er mit »fürchterlicher Geschwindigkeit auf eine weiße, grelle, detonierende Bombe« zuraste, die im Vorgarten explodierte, ein Trauma, das Brinkmann mit den Worten »Wirklichkeit geht hoch!« (Erk, 224) und einem kleinen Exkurs zu psychoanalytischen Deutungsmöglichkeiten kommentierte. Wörter als bloße Projektionen – dieser Erkenntnis hing Brinkmann schon früh an. In Essen waren Jahnns Die Nacht aus Blei 1956 und Célines Reise ans Ende der Nacht 1958 Lieblingsbücher, die auch jetzt zum Einsatz kommen. Am Gedicht Die Bombe in meinem Kopf (V, 65) kann man studieren, wie sich ein möglicherweise vorhandenes Trauma in literarischen Mustern auflöst. Denn im Roman erzählt Céline die Geschichte vom Neger, der eine Bombe im Schreibtisch aufbewahrt, die er mit alten Rechnungen lädt: »Er begnügt sich mit der Idee. Im Grunde ist er nur ein Künstler.« (Céline, 188) Dieses Szenario von der Bombe in Gedanken verknüpft das Gedicht mit zahlreichen anderen Texten zu verwandten Themen in Ginsbergs Poem Rocket, Corsos Army und seinem als Flug-
blatt verbreiteten Langgedicht Bomb, in Junge Amerikanische Lyrik 1961 als Faltblatt enthalten. Bei dem apokalyptischen Bild kann man an Tristan Tzara L ’ homme approximatif (Klee-Palyi 1953, 157) denken, die größte Nähe weist der Text aber zu Lenore Kandel auf. In Zuerst schlachteten sie die Engel (Paetel 1962, 126–129), einem in drastische Bilder gekleideten Antikriegspoem, zählt das Gedicht sinnlose Handlungen und Verhaltensweisen auf, die Brinkmann am Schluss zu einer eigenen Litanei bringen, nur mündet sie bei ihm in die Wiederkehr eines Engels, der an den Todesengel Gari aus Jahnns Kurzroman gemahnt. Die apokalyptischen Texte (V 57, 68, 70) stehen im Kontext von Le Chant du monde und profitieren von dem gleichnamigen Buch Lurçats. Den französischen Surrealismus, der noch in den folgenden Büchern eine gewichtige Rolle spielen sollte, studierte Brinkmann in der Zeitschrift Das Lot 1947– 1952 und in den übersetzten Bänden der Reihe Das neue Lot 1959 / 1961, in der Anthologie von Alain Bosquet, vor allem aber in der damals umfangreichsten, zweisprachigen Anthologie von Flora Klee-Palyi, die dem deutschen Leser erstmals zahllose neue Namen, gerade auch aus der Vorkriegszeit bekannt machte. War Le moment créateur (Eickhoff, Akzente 3/1956) damals in aller Munde, auch in den Aufsätzen von Robbe-Grillet und Roland Barthes im gleichen Jahrgang, so öffnete Klee-Palyi 1953 doch gerade dem jungen Brinkmann die Augen für die formalen Möglichkeiten des zeitgenössischen Gedichts. Und seien es nur Experimente der äußeren Struktur wie die herausgerückten Anfangsverse im Gedicht: 1960 (V, 49; KleePalyi 1953, 62–66) oder die Prosagedichte (V, 18, 53), die den poèmes en prose nachgebildet sind. Thematische Anleihen begegnen bei einem poetologisch bedeutsamen Motiv, das in mehreren Anthologien vorkommt und sich bei den französischen Autoren einiger Beliebtheit erfreute: Im Innern des Baumes (V, 72). Pate stand hier Maurice Fombeure mit Mein Bildnis (Klee-Palyi 1953, 239; Hartung 1960, 100), ein Rollengedicht, in dem ein Baum über sich reflektiert. Yvan Goll Die inneren Bäume, René Char und Francis Ponge Der junge Baum sowie sein Gedicht vom jungen Baum liefern die Bildidee (Ponge 1959, 43–45). Die Dinge beschreiben, das lernte Brinkmann bei den Franzosen, bedeutete zuerst, sich aus ihnen herauszuhalten, ihnen gegenüber zu treten. Die Dinge der Welt sind unerreichbar, lediglich »Umkreist / von Gedanken wie auch von Wörtern« (V, 72). Wenn Brinkmann wie Ponge die Partei der Dinge ergreift, ist keine Komplizenschaft gemeint, sondern eine Methode, die sich ei-
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ne undurchdringliche Oberfläche ohne Seele, ohne Bedeutung wählt, um eine Reflexion daran festzumachen. Menschliches und Dinghaftes werden einander angenähert, die Beobachtung des Menschlichen wird in die wie auch immer geartete Innerlichkeit des Baumes hinein gebracht, »bis sich / der Baum ganz erfüllt / hat und zu Grunde / gehen kann« (V, 72). Ein Gedanke wird an einen Gegenstand geheftet und von diesem durch den ganzen Text getragen. Das Verfahren der verkörperten Reflexion modifiziert Dinge durch das Wort und verleiht ihnen poetische Valenz. So verwandelt das Wort die Dinge des Geistes in einen Zustand der Härte, gibt ihnen jene Gestalt, in der sie sich außerhalb ihres Inhalts im Gleichgewicht halten. Dabei spielt die Semantik des Worts oder seine begriffliche Herkunft keine vorrangige Rolle. Bemerkenswert in diesem Band sind die inflationär auftauchenden Substanzen wie Chlor, Ozon, Helium, Phosphor. In ihren neuen sprachlichen Verbindungen sollen sie schockieren, das Verständnis des Lesers bis zum Bersten strapazieren. Einziges Kriterium ist die Wahrheit des ausgedrückten menschlichen Gefühls, die auf dem Niveau kunstvoller Spiegelbilder entsteht. Dies vor allem kann man dem Teilnachlass entnehmen: Brinkmann feilt an den Texten, um eine eigene Sprache zu finden, und er setzt sich intensiv mit Traditionen auseinander, die er als Fermente nutzt und in neuen Kontexten zu verwandeln sucht. Die Wiederaufnahme und Umarbeitung oft nach Jahren ist ein Verfahren der Inversion, in dem Bestandteile der Tradition in sich selbst gekehrt gegen das bloße Fortschreiben von Bekanntem genutzt werden können. Auch diese Technik muss Brinkmann erst für sich entdecken. Der Teilnachlass bietet vielfache Gelegenheit und zahlreiche Studienobjekte für das langsame Entstehen einer Schreibweise.
16.4 Die erste Buchpublikation: Ihr nennt es Sprache (1962) Die erste Phase der Werkgenese ist jetzt erst nachvollziehbar und in ihrer Struktur verstehbar. Innerhalb des gesamten Projekts einer nachholenden Moderne in den 1950er Jahren kann Brinkmann seinen Platz beanspruchen. Natürlich dominieren die Suchbewegungen. Erkennbar ist aber das Bemühen um eine eigene Sprache jenseits der damals weit verbreiteten Trostlyrik im Naturgewand. Die intensive Aneignung der Moderne gleicht einem umfassenden Versuch der Materialisierung des veränderten Bewusstseins in der
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Wiederholung moderner Positionen. Eine Wiederherstellung, eine Wiederholung gibt es bekanntlich nur im Existentiellen. Während die Zeit und das äußere Leben einfach fortschreiten, gibt es die Wiederholung nur als Wiedererweckung einer schon einmal verwirklichten Existenz. In diesem Sinne versammelt Brinkmann seine ganze Kraft im Augenblick und macht die Wiederholung zu einer Erfahrung der Gegenwart. Alle Figuren des Rückgriffs dienen dazu, die Herrschaft der Zeit zu brechen, die unmittelbare Begegnung in der Präsenz herzustellen. Der leidenschaftliche und existentielle Leser Brinkmann verleibt sich das Gelesene ein, um es neu zu erfinden, so wie Sartre das in seiner Literaturtheorie lehrte. Im Akt des Lesens und Schreibens – bei Brinkmann ohnehin kaum auseinander zu halten – gehören weder Autor noch Leser mehr dieser Welt an, sie haben sich in einen Blick verwandelt. Wie für kaum einen anderen Schriftsteller gilt für Brinkmann, dass er die unaufhörliche Tätigkeit des Hervorbringens als eine Möglichkeit der Existenz betreibt. In einer Welt, in der alle selbstverständlich hingenommenen Wertvorstellungen fragwürdig geworden waren, sucht Brinkmann nach einem Halt. In der historischen Situation der späten 1950er Jahre spürt er das Fehlen einer Fluchtburg in der für ihn sinnlos gewordenen Außenwelt. Literarisch bedeutet das Distanz und Beschränkung. Keine frommen Gesänge mehr, sondern moderne »Wiederholungen«, wie ein Zyklus der Gedichte in der gerade auf Deutsch erschienenen Hauptstadt der Schmerzen von Paul Éluard hieß, so lautet das Gebot der Stunde. Wiederholen, nicht Epigonalität im negativen Sinne, sondern noch einmal Hervorholen und Anknüpfen im kritischen Dialog mit solchen Verfahren – das vor allem charakterisiert die Arbeitsweise bis zu den ersten Veröffentlichungen. Damit gerät die Sprache selber auf den Prüfstand. Zwischen Feststellung und Anklage changiert auch der Titel des Bandes. Bestandsaufnahme, kritisches Benennen und reflektierter Umgang mit dem Gegebenen, das ist die Devise, mit der man die Gedichte zur Hand nehmen soll. Die Forschung zu den frühen Gedichten fällt insgesamt mager aus. Besonders lückenhaft ist sie zu dieser ersten Publikation. Die bisher einzige Gesamtinterpretation bietet Kobold, in teils sehr gelungenen und ausführlichen Einzelinterpretationen. Allerdings beschäftigt sich die Forschung bis heute nicht oder erst ansatzweise mit dem Nachweis von Prätexten und Lektürekenntnissen Brinkmanns. Die wenigen Deutungen zu den frühen Gedichten bei Röhnert/Gedul-
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dig bemühen sich darum fast alle nicht, wie das Handbuch nur sehr spärliche Informationen zur Druckgeschichte bringt. Ohne minutiöse Rekonstruktion der entsprechenden Kontexte in der überaus reichhaltigen Literatur gerade der 1950er Jahre werden zukünftige Arbeiten nicht überzeugen können. Auch aus diesem Grund werden erste, bisher unbekannte Quellen hier verzeichnet. Die Editionsgeschichte verlief ungewöhnlich, das kleine Buch wurde sogleich unterdrückt (Kobold 2014, 277–280). Brinkmann hatte auch selbst für das Vergessen gesorgt, denn in seinen biographischen Auskünften verschwieg er die Publikation. Erst 1979 tauchte fast die gesamte Auflage von 500 Exemplaren der Broschüre in einem Kölner Antiquariat wieder auf. Die Texte des auf 29 Seiten gedruckten, in rotem Karton gebundenen Heftes Ihr nennt es Sprache. Achtzehn Gedichte Rolf Dieter Brinkmann, im Klaus Willbrand Verlag in Leverkusen im November 1962 erschienen, wurden im Jahr darauf in die von der Witwe herausgegebene Neuausgabe der Gedichte (St) an erster Stelle aufgenommen. Die Texte waren somit erst fünf Jahre nach dem Tod des Autors zugänglich. Was wir über die rechtlichen Aspekte wissen, ist im Hackmann-Nachlass in Vechta erhalten (V, 92). Nach der Vorvereinbarung vom 15. Juni 1962 unterschrieb Brinkmann mit seinem Arbeitskollegen der Buchhandlung Witsch am 27. August 1962 in dessen Wohnung den Vertrag, in dem nur wenige Regelungen getroffen wurden. Als Honorar dienten Freiexemplare. Die 14 zunächst genannten Gedichte wurden auf 18 erweitert, im Hackmann-Nachlass finden sich weitere Gedichte unter dem Namen der Broschüre. Brinkmann signierte wie vereinbart die ersten 200 Exemplare und nahm 20 Freiexemplare mit nach Hause. Dort entdeckte er vier Druckfehler und verbot sofort die Auslieferung der gesamten Auflage. Auch eine 10 Jahre später gegebene Zusage zum Verkauf nahm er mit einem Brief aus Rom sofort wieder zurück (Jappe 1979, 49). Das schmale Buch, dessen Herstellung den Buchhandelsgehilfen Willbrand und seinen Kompagnon Hartmut Sander viel Geld kostete, die DM 1200 waren verloren, sollte das erste eines neuen Verlags sein, es blieb sein letztes. Man hatte sich viel Mühe gegeben. Die typographische Gestaltung zeugt von der Sorgfalt der autorisierten Ausgabe, Brinkmann plante seinen ersten größeren Auftritt vor der Öffentlichkeit gründlich. Die Abfolge der Texte auf den Seiten ist in St beibehalten nur ohne die Majuskeln der Titel und ohne das auffällig zentrierte Satzbild. Alle auf der linken Seite gedruck-
ten Gedichte sind rechtsbündig, die gegenüber linksbündig gesetzt. Das Spiegelprinzip folgt einem Kerngedanken Éluards in seinem poetologischen Gedicht Der Spiegel eines Augenblicks. Die Bilder, welche er zeige, seien losgelöst von der Erscheinung und der Spiegel sei »hart wie der Stein, / Der ungestaltete Stein, / Der Stein der Bewegung und des Gesichts« (Éluard 1959, 92). Der wiederbelebten, traditionsreichen Kunstmetapher begegnet Brinkmann außerdem auch im Namen der Kölner Galerie »Der Spiegel« von Hein Stünke in der Richartzstrasse. Sie sorgte in der Stadt, in der Brinkmann gerade Fuß zu fassen begann, für die Einbürgerung der Avantgarde, der gesamten in Deutschland noch nicht sehr bekannten Moderne von Max Ernst und Hans Arp bis Karel Appel aus der Cobra-Gruppe, gerne auch gemeinsam mit französischen Gedichten in Übersetzungen. Ihre Publikationen erschienen in der Reihe Geh durch den Spiegel. Und später hießen die Kataloge und Malerbücher der Galerie Spiegelschriften. Markiert wird der Bezug im Namen des mit der Galerie eng verbundenen Kölner Künstlers Joseph Fassbender, einem gefragten Gestalter von Publikationen. Die »zwei Schmierzettel von Faßbender« (St, 13) beziehen sich wohl auf seine Glasradierungen zu Shakespeare von 1959, mit ihrer Kombination von bewusst gesteuerten Flüssigkeitsstrukturen und Papierschnitt, die entfernt an Schmierzettel erinnern. Wie Fassbender mit Buchstabenspielen war der bereits erwähnte Hann Trier in den Publikationen der Galerie in dieser Zeit stark vertreten und hatte im Lob der Hand ein Blatt auf einer Doppelseite vorgelegt, den prestidigitateur. Der Taschenspieler, eine über zwei Seiten hinweggehende Radierung aus Strichstrukturen, war in der Buchmitte gespiegelt. Der von den graphischen Inventionen der zeitgenössischen Kunstszene beeindruckte Autor tritt also selber mit einer konzeptuellen Versuchsanordnung hervor, die das poetologische Prinzip – jedes Gedicht ein Spiegel des Augenblicks – in das typographische Verfahren verlängert und darin die lyrische Reflexion über Lesen, Schreiben und Wahrnehmen verdoppelt. Gewidmet ist das Heft »Dem roten Rühmkorf«, ein Zitat aus dessen Schäfer-Lied. Der Brief an Peter Rühmkorf vom 7. Oktober 1962 (Kobold 2014, 356) belegt einmal mehr die umfassende Kenntnis aller neuen Tendenzen. Rühmkorfs Gedichte waren auch in Benders Junge Lyrik-Sammlungen enthalten, in die Brinkmann selber gerne aufgenommen worden wäre. Der aus seiner Sicht übermächtigen Präsenz anderer Autoren, so versteht er die vielen Ablehnungen auch von Hans Bender, begegnet Brinkmann mit einem
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kulturpolitischen Rundumschlag. Auf Abgrenzung bedacht, bezieht er deutlich Position in seiner poetischen Bestandsaufnahme Kulturgüter. Wie in einem Kuriositätenkabinett betrachtet er unterschiedslos Böll, Andersch, Fassbender, Borchert, Bense, Adorno, Enzensberger, Heißenbüttel, erinnert mit ihren Namen an ganz bestimmte Positionen im Kulturbetrieb, nur um die Genannten abzustrafen (Kobold 2014, 281–362). Das Gedicht sollte die direkte Auseinandersetzung provozieren, ganz im antielitären Geiste Rühmkorfs.
16.5 Lyrische Suche: Eine Metapher für die Stille Die Offensive führt Brinkmann mit einer umfassenden Überprüfung der Leistungsfähigkeit poetischen Sprechens fort. Sein großes Thema Metapher in der lyrischen Sprache hat die Forschung schon früh beschäftigt. Lampe behauptete, das Problembewusstsein Brinkmanns sei durch die Rühmkorf-Lektüre freigesetzt worden. Beginnend mit dieser Erfahrung lasse sich die Genese des Gesamtwerks als Bewegung von der Metapher zur präzisen Wahrnehmung der skizzierten alltäglichen Wirklichkeit nachzeichnen und damit als Befreiung von Metaphern überhaupt (Lampe 1983, 75 f.). Den Aspekt der Kritik an der Metapher greift Späth auf, verweist aber vorsichtiger auf die Destruktion der Metapher (Späth 1986, 91–97). Weder das gesamte lyrische Werk wäre damit zureichend beschrieben, noch die bemühte, zergliedernde Arbeit an der Metapher oder die Suche nach besseren Bildern, die der Autor entlang der frühen Lektüreerfahrung auf sich nimmt. Das Gelesene verleitet zu einer permanenten Selbstthematisierung des Schreibens, die man den Gedichten ansieht. Die auffälligen Bildfelder Staub – Stein – Stille umkreisen alle die Sprache und das Wortlose oder sind direkt darauf bezogen (Stimme – Schrei – Schweigen). Kaum ein Gedicht ohne die Nomina »Wort« oder »Worte«. Éluard, Char und Benn lehrten die neue Einfachheit, die von den Valenzen des Wortes ausgeht, sie feierten den kosmischen Wurf des künstlerischen Wortes und seiner Setzung. Anders als in der älteren Forschung ist zunächst von einer sprachkritischen Arbeit des Autors auszugehen, der sein Vertrauen in die poetische Benennungskraft übertragener Rede gerade nicht verloren hat. Im Mittelpunkt steht hier aber das Thema der Stille. Bereits im Essener Brief an Hans Bender am 27.1.1961
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erwähnt Brinkmann sein »Bemühen um eine Metapher für die Stille (die ja durchaus nicht ›harmonisch‹ im überlieferten Sinne zu sein braucht). Alles sind Augenblicke, wie wohl jedes ›wahre‹ Gedicht aus einer Augenblicklichkeit heraus lebt« (Bender 1984, 53) Gleich mehrere Gedichte zitieren »Staub« als Bild (St 16, 20, 22–24; auch in V, 35, 37), sie kreisen das Thema mit antithetischen Bildern ein oder mit Metaphern aus Bildbereichen, die sich assoziativ daran anlehnen. Epitheta wie der »singende Staub« (V, 37 aus Dylan Thomas 1952, 49) stellen den Kontext zur Stimme und zum Tode her. Sehr häufig gebraucht Schnurre in seinem Kassiber 1956 das Bild (7, 23, 46, 74), auch Piontek zitiert als Motto zu seinem Band Mit einer Kranichfeder von 1962 einen Vers von René Char über die am Himmel sichtbare »staubige Arbeit«. Und die schmale Anthologie Lektion der Stille, 1959 bei Hanser erschienen, die erste von Karl Dedecius, stellt zwei verwandte Themen ins Zentrum, alleine elf Autoren thematisieren die Stille und das Schweigen. Und in der Anthologie von Corso / Höllerer las er 1961 Loewinsohns Die Stille des Gedichts, in dem explizit »ein Augenblick voll Schweigen« (Corso/Höllerer 1961, 165) als sein Zentrum behauptet wird. Die Beispiele sind Legion, sie belegen die Suche nach einer zeitgemäßen Metaphorik für das große Thema in der gesamten nachsurrealistischen Literatur. Besonders Éluard eröffnet im Gedicht den »Raum für die größte Stille« (Éluard 1959, 38, 40, 42, 85). Wieder hat sich das Wort aus seinen herkömmlichen Bindungen gelöst und darf nicht mehr den Gesetzen der Logik gehorchen. Es wird zum Ausdruck neuer, überraschender Erfahrung, freigesetzt im unerwarteten Gebrauch. Brinkmann erweitert die Suche nach einer Form für das Wortlose. Eine eigenständige Version für das bereits häufig gebrauchte Bild, die einen zeitgemäßen Ausdruck für das Wortlose bietet. Das Sein (St 16) greift das Thema grundlegend auf und nähert sich der Stille über den zentralen philosophischen Begriff der Nachkriegszeit. Gleich drei Gedichte mit demselben Titel bieten die Anthologien: Éluard Sein (Enzensberger 1960, 206), Pierre Jean Jouve Das Sein, André Breton Le verbe être (Klee-Palyi 1953, 85, 160). Besonders die lange Klage Bretons über die Verzweiflung bildet den Kern von Brinkmanns »Zeugen lauterer Verzweiflung« (St, 16). Mit dem existentialistischen Bild »Die Stille drängt sich aus dem Stein« hebt die zusammen gedrängte Hinführung der Geburt zum Tode an. In einem einzigen Satz ohne Interpunktion komprimiert das Gedicht den nahtlosen Übergang in drei Strophen. Im abrupten Wechsel vom Präsens zum Präteri-
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tum vergegenwärtigt der Text das Zurücksinken jedes Menschen in den Tod, die »blühende Fäulnis der / Leiber voller Segen«. Der gesamte Prozess des Lebens wird nicht nur äußerst verkürzt, sondern auch in Bildern des Ekels und der Verzweiflung dargestellt. Wie in dem zur selben Zeit verfassten Gedicht Mein endgültiges Ende (V, 70), kreist auch Das Sein um die menschliche Selbstvernichtung, die jeden von Beginn an umgibt. Das Gedicht ist dennoch traditionell. Es greift zurück auf Rilkes Reden von Kind und Tod als den beiden Früchten der Frauen, vom Tod als der Frucht, um die sich alles dreht, vom Menschen als dem Tod-Gebärer, allesamt Lieblingsfiguren der existentialistischen Philosophie (ohne diesen Kontext bei Röhnert/Geduldig 2012, 31 ff.). Auch Cioran hatte in seinem Aufsatz Mittel zur Selbstvernichtung in Das Lot 5/1951 die negative Argumentation gewählt, die aus der Existenzangst eine gestaltende Kraft für das Leben macht. Erst so wird der Wert des verlorengehenden Seins begreifbar, eine Angst, die wie ein letztes Gericht die Eigentlichkeit der Existenz auf die Probe stellt und sie von der Stille des sie umgebenden Todes abgrenzt. Erst dadurch macht der Tod das Leben frei für die Annahme seiner eigentlichen Existenz. Diese Erfahrung der prinzipiellen Ungeborgenheit sollen die drastischen Bilder erlebbar machen. Das Schweigen (St 21) führt dann Stimme, Sprache und Schweigen zusammen. Eins »schwärzt« das andere »an«, in einer Art Kettenbildung reichen sie das weiter. Kobold (2014, 409–413) konnte zeigen, wie ein regelmäßig gebauter Text durch willkürliche Enjambements umgebrochen wurde, damit einzelne Signalwörter hervortreten, die dem Ganzen eine zirkuläre Struktur verleihen, an deren Anfang und Ende »Schweigen« steht. Die genannten Texte zeigen aber vor allem, dass Brinkmann hier von der einen, mustergültigen Metapher redet, die einen existentiellen Befund auszudrücken vermag. In Frage steht das radikale, schlechthin treffende, lyrische Bild für die Sprache. Es müsste auch ihr Gegenteil, das Wortlose, die gänzliche Abwesenheit von Wörtern immer mit umfassen. Erst gemeinsam mit ihrem Gegenteil würde diese Metapher das Sein in seiner ganzen Kraft enthüllen. Die Suche nach einer solchen existentiellen Dichtung umkreisen alle Texte des Bandes. Noch in seinen letzten Jahren, in der Zeit von Longkamp und Olevano (Sch) wird Brinkmann auf das Thema Stille zurückkommen. Er findet es immer wieder in der Literatur (Burroughs-Rezension) und Kunst (Knipp). Seine Suche nach dem spezifischen Raum des Gedichts, in dem sich das Wortlose ereig-
net, führt ihn auf den Spuren Éluards notwendig in die Debatten um die angemessene Metapher. Seine Versuche ordnen sich ganz in zeitgenössische Bemühungen ein, man braucht nur an die zahlreichen theoretischen Abhandlungen bei Benn, Hugo Friedrich oder Benders Anthologie von 1955 und in den Zeitschriften zu denken. Die Metapher gerät unter Verdacht. Sie ist keine harmlose Redefigur, sondern stellt eine heimliche Verbindung her, führt eine Erregung der Sympathie herbei. Sie läuft damit der modernen Erfahrung zuwider, die das Fehlen von Bedeutung registriert, den Mangel oder einen Riss sieht und ihn auch aussprechen müsste. Das Spüren der Leere überspielt aber die Metapher, sofern sie nicht die mit ihr einher gehende Bindung an das Metaphysische zerbricht. Das ist in Kürze das damals diskutierte Problem der poetischen Sprache, um die sich auch Brinkmanns Sammlung dreht. Es kulminiert im Titelgedicht am Schluss. Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand benennt daher jenen Sprachgebrauch, der dem beschriebenen Zustand nicht mehr gerecht werden kann. Im Sinne einer Kontrafaktur rufen die ersten Strophen Signalwörter aus Klassik, Romantik und Moderne auf, teils in Zitatmontagen verschränkt (Kobold 2014, 382– 408), die alle in Zeiten der Unmenschlichkeit nicht mehr standhalten, besonders die in der dritten Strophe gebrandmarkten Beschwichtigungstechniken der Nachkriegslyrik. Metaphysische Suche nach dem Wortlosen versus Entmythologisierung der zeitgenössischen Sprache (bei Röhnert/Geduldig 2012, 28), der zum Schweigen verdammte Beobachter vor den Trümmern seines unbrauchbaren Werkzeugs (Kobold 2014, 408), in diese Richtungen gehen die Interpretationsansätze. Dabei ist die »Sprache der Steine« (St, 29) nicht nur eine biblische, sondern eine der am häufigsten benutzten zeitgenössischen Metaphern. Bei allen Lyrikern finden sich Belege, ob Erich Fried (Späth 1986, 78–83) oder Paul Celan, bei Ernst Meister oder Dusan Matic (»Jedes Wort, alle Worte sind Steine in meiner Kehle« in Enzensberger 1960, 222) und angelehnt an Éluard vermag die Poesie den flüchtigen Augenblick im steinharten Spiegel zum Ausdruck zu bringen. Am deutlichsten kehrt das Bild bei Wolfgang Weyrauch wieder, in seinem Buchgedicht die minute des negers von 1953, wo sie sich über mehrere Seiten hinzieht: »Stammelnder Stein / hat zu stammeln aufgehört. / Stammelnder Stein / hat sprechen gelernt. / Stammelnder Stein kann zu singen anfangen« (68–77). In freien Rhythmen spricht der Pilot Joseph Billings in letzter
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Minute bevor er einen Felsen rammt, Anklage und Warnung zugleich, die Litanei vom sprechenden, dann stammelnden und singenden Stein, dessen Gesänge den Tod und die Lautlosigkeit überdauern werden. Walter Höllerer hingegen gebraucht die Metapher nicht nur in seinem eigenen Gedicht Steinwurf, sondern kommentiert die Metapher im Kapitel »Ränder des Schweigens« seiner Anthologie Transit als typisch moderne »Chiffren für Gesten (...) Wo die Sprache an ihre Grenzen kommt, springt die Metapher ein. Die notwendige Metapher erscheint, wo es noch nichts zu definieren gibt. Das Gedicht führt durch seinen Rhythmus und Bilder an Bewußtseinsformen heran, die erschlossen werden.« (Höllerer 1956, 24) Aber bei Brinkmann gerät eben diese allzu häufige Verwendung der Metapher unter Verdacht. Wenn in allen Lyrikbänden die Steine sprechen, ist das für ihn ein Zeichen mangelnder Kritik. Erstarrte Sprache, erstarrtes Leben in einem restaurativen Land, das ist auch der Eindruck, den die beiden Rahmengedichte hinterlassen. Beton spricht am Anfang vom Verlust jeder Transzendenz, der die Sprache versteinern lässt. Es beginnt mit dem fehlenden »Kindsschrei« und der gedankliche Bogen spannt sich bis zum letzten Gedicht. Der Titel des Bandes verweist noch auf einen anderen poetologischen Aspekt. Der literarische Sprachgebrauch als ein besonderer Modus der Rede war in den zeitgenössischen Debatten umstritten und musste als Gegenstand der Kunst wieder neu bestimmt werden: »bei Wiederholungen / wechseln die Worte ihren Sinn« (St, 12). Brinkmann nennt die Stuttgarter Schule um Max Bense und Helmut Heißenbüttel, die mit der informationellen Ästhetik viel Aufsehen erregte. Bense hatte auch gerade drei Bücher bei Kiepenheuer verlegt. Neben der Theorie der Texte brachten vor allem die poetischen Texte neue Herausforderungen. Bestandteile des Vorüber. Dünnschliffe Mischtexte Montagen (1961) führte den programmatischen Übergang von der Semantik zum Material der Sprache vor. Literatur erscheint als Teil einer »festgestellten Sprache« und sei bloß »stationär gewordener Zustand« wie andere auch (Bense 1998, 43, 57). Benses Kriterium für Literatur, die überraschende Anordnung von Zeichen, erfüllten maschinelle Zufallsgeneratoren angeblich besser. Menschliches Bewusstsein sei lediglich mit »Bestandteilen des Vorüber« angefüllt, welche sich in der Sprache spiegeln (Bense 1998, 64). Träfe das zu, wäre unsere Sprache schlicht ein Fossil und Brinkmann zitiert vielleicht aus diesem Grunde einen Buchtitel des Stuttgarter Paläontologen Fritz Berckhemer, der in seinem Band unter dem Titel Die Sprache der
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Steine eine Reihe von Fossilbildern vorstellte. In jedem Falle aber war Brinkmann die mikroskopische Methode Benses suspekt, der für sie die geologische Metapher »Dünnschliff« wählte. Brinkmann führt zwar in seinem Gedicht eine Abfolge von historischen Sprachzuständen auf, verweigert aber die Schlussfolgerung Benses. Die neue Sprache müsste aus der Verfremdung der vorhandenen hervorgehen, das legt der Schluss nahe. Neben der Feststellung und der Anklage einer kritikwürdigen Verstümmelung von Sprache, die Brinkmann auch in der Literatur sieht, kann der Titel also positiv gelesen den Ausdruck für das Wortlose bezeichnen und damit Lyrik als die spezifische Form meinen, in der das Wortlose überhaupt erspürt werden kann. Hätten wir eine solche Ausdrucksmöglichkeit für das Unsagbare und das Wortlose, so würden wir das eben auch eine Sprache nennen.
16.6 Poetologie als (Selbst-)Kritik der lyrischen Formschule Ganz im Gegensatz zu den in derselben Phase entstandenen Texten der Vorstellung meiner Hände, die wenig später auch abgelehnt wurden, sind hier weitgehend Experimente mit reduzierten Formen versammelt. Möglicherweise dienen die Verknappungen dem Versuch, mit dem ersten Buch, entsprechend den ästhetischen Erwartungen des Literaturbetriebs, zugleich den Wettstreit mit bereits etablierten Lyrikern besser zu bestehen. Mehrere Texte präsentieren sich als Kontrafakturen. Die Klapper des Narren (Späth 1986, 72–75; Kobold 2014, 369–381) zitiert die Wiederholungsstruktur aus Celans Todesfuge und will damit die sprachliche Gestalt von Gedenkritualen kritisieren sowie das durch den Kulturbetrieb stillgestellte Potential des Gedichts retten. Es steht dem letzten Gedicht spiegelbildlich gegenüber, bildet mit diesem also eine Einheit und legt dem Leser damit nahe, die »Sprache der Steine« auch auf Celan zu beziehen. So gelesen, weist das letzte Gedicht keinen Ausweg, sondern bleibt bei einer Klage über das Fehlen der angemessenen Sprache stehen. Das Verfahren zeigt aber auch die Grenzen der Kontrafaktur. Eben die Texte, die sich der Techniken von Peter Rühmkorf bemächtigen, sind deshalb noch keine Parodien (wie Kobold 2014, 428–450 meint), sondern Kontrafakturen, die dem Vergleich mit den Vorbildern kaum standhalten, geschweige denn diese ironisieren können. Beim Identifizieren von derarti-
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gen Verfahren ist allerdings Vorsicht geboten, denn die Epistel über meine Füße zitiert ein Genre, das in dieser Zeit in jedem Gedichtband von Peter Gan einen eigenen Zyklus bildete. In welchem Ausmaß Brinkmann Vorhandenes nachbildet, ist im Detail noch keinesfalls genau untersucht und offen, welche Folgerungen daraus gezogen werden müssen. Denn auch zu Celan besteht im Umgang mit Bedeutung, mit mehrfacher Semantik eher eine Nähe als eine unüberwindbare Distanz. Selbst wenn sich Brinkmann ganz auf der »Spur erschöpfter Dinge« (Éluard 1959, 57) bewegt oder diesen Eindruck erwecken möchte, gerade am Beispiel der Verknappungen werden die folgenden Bände ganz andere Wege beschreiten. Intensives Bemühen um Reduktion charakterisiert das metapoetische Gedicht Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts (St, 17). Schreibakt und Inspiration sind entkoppelt, der Text nähert sich mit konkreten Details der Arbeit des Autors, die, wie der verallgemeinernde Titel nahe legt, alle Texte betrifft. Die lyrische Selbstvergewisserung (Röhnert/Geduldig 2012, 45) benötigt einen Dreischritt, eine geradezu argumentative Struktur mit Positionswechsel im voranschreitenden Prozess der drei Strophen. Untersuchen der »Gegenständlichkeit« bedeutet einerseits die Schreibutensilien, Brinkmann schreibt in dieser Zeit mit dem Füller, andererseits vorhandene Schreibweisen sowie etwas ideell Greifbares, eben den spezifischen Vorwurf eines Gedichts. Die mittlere Strophe bringt die Negation, die Sichtung der vorhandenen Möglichkeiten und das Verwerfen ihrer Angebote. Hier erfolgt der Bruch mit den Konventionen, der im Anspielen auf poetisch hervorgehobenes Sprechen umso deutlicher hervortritt. Kontrastiv baut Brinkmann aus kunstvollen Chiffren eine Szenerie zusammen, die Eichs und Krolows Schreibweisen sehr nahe kommt oder ihre lyrischen Vokabeln aufgreift (Kobold 2014, 463). Krolows metapoetischer Text Verhandeln ist zwecklos situiert das Ringen um die richtigen »Bilder des Dichters« selber als einen Korrekturvorgang, bei dem »die Grammatik des Dichters« abwartet. Auch die »verborgne Gleichung, / Formeln, die die Luft bewohnen« gehören zu den Bildern Krolows (Krolow 1965, 107, 131). Zentral ist der Subjektwechsel vom Anfang »die Feder aus Stahl / schreibt die Worte« hin zu »mit der Feder / aus Stahl schreibe ich / die Worte auf das weiße / Papier« in der letzten Strophe. Die erste und dritte Strophe bilden den Rahmen. Nach dem Durchgang durch die lyrische Formschule in der zweiten Strophe hat sich das lyrische Ich belehrt, selber zu sprechen.
Zwar ist die Farbe der Tinte gleichgeblieben, aber jetzt ist im Wiederholen ein Ich aufgetaucht und beansprucht eine eigene Tonfärbung. Die letzte Strophe ist nicht nur in dem Ich von der ersten verschieden, sondern hat auch einen Vers mehr (Lampe 1983, 82). Die lyrische Selbstvergewisserung, sie ereignet sich im Durcharbeiten des Vorhandenen, findet zur Abkehr von den eigenen mühsamen Anfängen und landet ironischerweise doch wieder im Zitat. Den letzten Vers bildet das Wort »königsblau«, ein Echo auf den aktuellen Band Mit einer Kranichfeder von Heinz Piontek aus dem Jahr 1962, bei dem im zweiten Gedicht der Vers steht: »Ein Wort lang wird das Königsblau noch währen« (Piontek 1982, 103).
16.7 Zwischen Allegorie und neuer Materialität: Le Chant du Monde (1964) Das Buch ist in zwei Ausgaben derselben einmaligen Auflage erschienen: 100 Exemplare unter dem Titel LE CHANT DU MONDE. GEDICHTE 1963–1964. Olef 1964 und die Vorzugsausgabe in 60 Exemplaren als LE CHANT DU MONDE. Gedichte mit Radierungen von EMIL SCHUMACHER. Olef 1964/65 in Leinen mit Schuber. Beide sind unpaginiert. Rolf Kuhn gestaltete den Druck des von Hand gesetzten Textes auf der Olefer Hagarpresse (einer Handpresse, die dem Verlag den Namen gab) als Blockbuch mit 30 bzw. 34 Blatt in Zusammenarbeit mit der Werkstatt von Henner Kätelhön in Wamel, der die vier von Schumacher signierten Radierungen druckte (Abb. Seinsoth 1990, 41 und Geduldig 1995, 75). Wieder war ein Gedichtband nicht beim Hausverlag erschienen, obwohl Brinkmann längst einen Optionsvertrag bei Kiepenheuer hatte. Die Verschlechterung des Verhältnisses mit Wellershoff und Witsch in dieser Phase ist wohl auf eine neuerliche Ablehnung des Lektorats zurückzuführen. Wer den Kontakt zu der Handpresse in der Eifel und den Künstlern anbahnte, ist bisher nicht bekannt, möglicherweise sein Vermieter, der Maler Georg Esser. Wie Joseph Fassbender war auch Emil Schumacher über die Galerie »Der Spiegel« und die gemeinsame Ausstellung der beiden Maler 1958 in Hagen mit der Kölner Kunstszene verbunden. Schumachers Objekte waren aus dem Surrealismus heraus entwickelt. In den 1950er Jahren dominierten Tastobjekte aus unterschiedlichen Materialien, die er zu freien Gebilden zwischen Relief und Bild anordnete. In den Gemälden reduzierte Schumacher die Darstellung auf einfache
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Formen, meist schwarze Linienzüge, die in einem Bogen die Bildfläche überspannen. Schumachers Werke entstanden in der Polarität von Materialität der Farbe und Spontaneität des Duktus. Seine tachistische Malerei, die Strukturbilder nannte er »Vorgänge«, entwarf imaginative Wirklichkeiten, setzte reine Subjektivität ins Bild und bot mindestens in dieser Hinsicht eine der Arbeit Brinkmanns vergleichbare Intention. Das Motto findet er in der von ihm mehrfach verwendeten Anthologie von Klee-Palyi, die 1953 genau drei Gedichte von Jean Follain mit den Übersetzungen von Fritz Usinger brachte. Der hiermit erstmals nachgewiesene Fundort dient zugleich als Markierung für weitere Referenzen. Brinkmann, des Französischen nicht mächtig, zitiert aus dem Gedicht La Belle et les Bêtes die drei letzten Verse. In Usingers Übersetzung des Märchengedichts Die Prinzessin und die Tiere lauten sie: »und wird sprechen bekleidet ganz / zu den nacktesten Tieren / den glücklich – nahen.« (Klee-Palyi 1953, 231) Zweifellos liefern sich hier ostentative Kennerschaft und Renommiersucht einen unentschiedenen Wettstreit, denn wichtig war wohl nur das Zitat eines zeitgenössischen Franzosen im Original; es musste unter allen Umständen den Anschluss an die Moderne belegen. Bisher unentdeckte Zitate sind der Buchtitel und das Titelgedicht. Jean Lurçat (1892–1966) hatte von Februar bis Mitte April 1960 eine Ausstellung mit allegorischen Wandteppichen, die das Kunstgewerbemuseum der Stadt Köln im Wallraf-Richartz-Museum veranstaltete. In Köln erschien dazu ein unpaginiertes Katalogheft mit Abbildungen, Beilage zu den ausgestellten Werken sowie einem längeren Text des Künstlers vom August 1959. Der Zyklus von sieben Wandteppichen stand unter dem Obertitel Le Chant du monde, wobei der Künstler seinerseits dabei möglicherweise auf den gleichnamigen Romantitel von Jean Giono von 1934 zurückgriff. Die einzelnen Tapisserien hießen La Grande Menace, Le Grand Charnier, L ’Homme d’Hiroshima, La Fin de Tout, L ’Homme en Gloire dans la Paix, Le Feu et l’Eau, Le Champagne. In seinem längeren Text für den Katalog erläutert Lurçat die Intention des Zyklus. Seine Teppichfolge stelle den Kampf gegen die Zerstörung dar, die eröffnende Tapisserie ist in Anlehnung an Offb. 22,5 überschrieben: »J’annonce un Chant dont la nuit est absente«. Die gesamte allegorische Folge zeigt Skelette, Kadaver und Verwesungsszenarien im unmittelbaren Kontrast mit sehr dekorativen Objekten aus Flora und Fauna. Noch vor dem Ausbruch der Katastrophe im Jahr 1938 habe er im Angesicht der spätmittelalterli-
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chen Apokalypse von Angers einen »Schock« erlitten und daraufhin den kommenden Untergang ins Bild gesetzt. Im selben Jahr 1938 habe Picasso Guernica gemalt und dazu betont Lurçat: »Erinnert Euch: Ein Pferd steht im Mittelpunkt der Leinwand von Picasso...« Dann folgen Zitate aus der Offenbarung, die auch den gesamten Text Lurçats durchziehen, in einer Mischsprache aus Bibelzitaten mit konsequent darauf bezogenen Kriegsberichten seit 1940. Die große Weltklage endet mit dem Appell: »Hiroshima! Hiroshima! Man wird es nicht wagen dürfen, den »Gesang der Welt« erklingen zu lassen, bevor nicht die »Große Drohung«, dieses ungeheure Eitergeschwür der Bombe, aus dem Fleisch der Menschen herausgerissen sein wird, herausgerissen durch allgemeine Übereinkunft. Ich trage meinen Stein dazu bei.« (Lurçat 1960, o. S.) Brinkmann nutzt das Material für Anspielung und Reminiszenz. Sein Gedicht ist keine freie Erfindung, sondern angeregt durch die Teppichfolge, deren Bildinventionen und Beschreibungen als Basis für die lyrische Assoziation dienen. Zu dem Gedicht sind mehrere Vorstufen im Hackmann-Nachlass überliefert sowie die Fassung in V, die den direkten Bezug zu Lurçat noch erkennen lassen. Auslöser ist das Thema vom Gesang der Welt in den einzelnen Werktiteln wie La Fin de Tout, das als »das allgemeine Ende« in der Fassung für den zweiten Gedichtband wiederkehrt, wo (die Distanz zum bildenden Künstler andeutend) von der Unfähigkeit die Rede ist, dieses Ende »in ein gültiges Bild / zu setzen«, welches »dem Schrecken standhält« (V, 68 in fehlerhaftem Französisch: Le Chante du Monde). Die handschriftlichen Vorstufen vom 3. und 4.1.1963 reden sogar von der »immer wieder ansetzenden Apokalypse«, von einer »Apokalypse persönlichen Verfalls«, von dem »in stumpfer Agonie« zusammenbrechenden Pferd, von der reitenden »Melancholie« und »es klang / wie ein Märchen, das Lied / der Welt«. Das freie Assoziieren über dem Bildgrund sowie die Reminiszenzen auch an Schnurre, »Die Welt steht auf Vogelkrallen, / ihr Gesang lügt« (Schnurre 1956, 17), werden in der letzten Fassung für den Gedichtband schrittweise abstrakter und besonders im Mittelteil ausgedünnt. Brinkmann lockert den Bezug zu den unmittelbaren Prätexten mehr und mehr. Den Titel La Fin de Tout zitiert ein eigenes Bildgedicht: Am Ende (St, 58), das noch einmal auf die Teppichfolge anspielt und einige ihrer Motive (Madonnengesichter, zerbrochene Federn) nennt: »Rost zersetzt langsam / den schweren, gemalten Brokat«. Das Ringen mit den Fassungen zeigt das Herausarbeiten aus den thematisch geordneten, allegorischen Tapisserien und die
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Absicht, zu einer eigenen zeitgemäßen Sprache der Apokalypse vorzustoßen. Allerdings belegt der Text auch, dass ihm beim Ausmalen des vorgegebenen Bildrahmens dessen allegorische Struktur nicht als Hindernis erscheint. Distanz zur Allegorie fehlt im Gedicht völlig. Und die insgesamt 36 Gedichte sind in der Tat sehr heterogen. Im Band finden sich traditionelle Texte (Hölderlin-Herbst oder Antik) sowie Nachbildungen aus der neueren französischen Tradition wie Immer mehr Worte (St, 37): »Immer mehr / Worte wachsen über / Nacht der schwarzen Farbe / zu, die ihr Meer / zwischen uns / treibt«. Pate stand hierfür Louis Guillaume mit Schwarz wie das Meer, einem Gedicht von der »Liebe, schwarz wie das Meer« (Klee-Palyi 1953, 255). Wieder ein Gedicht in der französisch-deutschen Anthologie über das Schweigen, die »Ewigkeit ohne Worte«. Guillaumes Poesie des Unsagbaren beginnt mit eben den Worten, mit denen Brinkmanns endet: »Alles was ich dir nicht sagen kann« (Klee-Palyi 1953, 255) wird zu »es / gibt zuvieles / was ich nicht / sagen kann« (St, 37). Dem Gedicht deshalb eigenständige Neuerung, gar einen Wechsel vom Liebesgedicht zum Sprachgedicht (Kohtes) zu bescheinigen, ist irreführend, wenn man die Prätexte kennt. Brinkmann kontaminiert zudem Guillaume in der mittleren Strophe mit Matrose an Land von Rafael Alberti, das er in einer anderen Anthologie las, nämlich Palms Rose aus Asche von 1955, die er in den Tagebüchern (Erk, 339) erwähnt (auch in Hartung 1960, 331). Die Metapher ist ubiquitär bei den von der französischen Literatur seit Nerval herkommenden Autoren wie Bachmann, Krolow (Die letzte Nacht) und er findet sie natürlich bei Jahnn. Außerdem begegnet im Band die bereits bekannte Technik des Umschreibens großer Autoren. Anders als bislang vermutet (Röhnert/Geduldig 2012, 46–53), ist auch Einfache Gedanken über meinen Tod (St, 49) keine Erfindung Brinkmanns, sondern eine Kontrafaktur zur Elegie von Schnurre, die im dritten Heft des Jahres 1956 von Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen erschienen war. Sie beginnt mit dem mehrfach wiederholten »Wie wirst du kommen? Wirst du kommen... Wirst du kommen...« und endet in mehreren Strophen mit einer zweiten Anapher »Ach Tod, du wirst kommen... Kommen wirst du... So wirst du kommen« (Andersch 1956, 249–253). Brinkmanns Kontrafaktur zeigt aber schon die Weiterentwicklung, denn sie wird mit Beispielen aus dem eigenen Alltag (»Engelbertstrasse«) und einem konkreten Datum (»elfter Februar / Neunzehnhundertdreiund-
sechzig«) gefüllt, das zum Zeitpunkt der Publikation schon in der Vergangenheit liegt und damit nicht nur die futurische Redeweise des Gedichts Lügen straft, sondern das Warten auf den Tod in einer Pointe münden lässt: tatsächlich kam nur der Stromableser. Wenn auch das Verfahren selber nicht überzeugen kann, als Anti-Schnurre ist es mehr eine artistische Fingerübung denn wirkliche Auseinandersetzung mit dem Tod, – allzu deutlich übernimmt Brinkmann die äußere Struktur von Schnurre, ergänzt bloß die Antworten (»Er wird kommen...«) – so ist doch die Anbahnung der neuen Schreibweise bedeutsam. Neben den traditionellen Ansätzen bietet der Band nämlich eine Reihe von Texten in der neuen Gangart, die in die Zukunft weist. Denkbar weit entfernt vom allegorischen Titelgedicht sind die Gedichte mit Bezug auf die Alltagskultur. Hier enthüllt der Titel des Buches eine zweite Bedeutung. Le Chant du monde ist auch der Name einer französischen Schallplattenfirma, die seit 1938 produziert. Das Label brachte besonders Jazz und Chansons, eben auch von Jacques Prévert oder Literaturplatten mit Covern von berühmten Künstlern der Moderne. Fast alle Texte, in denen äußerste Verknappung und Aussparung dominieren, sind von der populären Musik der 1950er und 1960er Jahre angeregt. Sichtbares Beispiel dafür ist Was: oder my bonnie is over the ocean (St, 51), zu dem keine ältere Fassung vor 1963 existiert, das aber in leicht abgewandelter Form schon in V, 60 aufgenommen worden war, wo es im Kontext der anderen Gedichte wie ein Fremdkörper wirkte. Der Text trägt nicht nur den Titel eines Songs, er ist auch wie ein Song gebaut. Dem Reihungsprinzip bei »Schlagern« folgt die Gliederung des Textes in den eingeschossenen Songzeilen, welche die Erzählung von der vergangenen Liebesgeschichte rahmen. Mit Signalwörtern wie »Schlager« oder »Klavier« wird jeweils der Refrain eingeleitet, der das Prinzip der Variation des immer Gleichen reproduziert. Das Lied aus dem späten 19. Jahrhundert erlebte in den 1950er Jahren ein Comeback. Nachdem Ray Charles 1958 eine Rockversion vorgelegt hatte, nahmen die Beatles 1961 den Song auf und verhalfen ihm zum Welterfolg. Brinkmann integriert ihn gerade zu jener Zeit, als die Beatles in Deutschland zu Stars wurden, und er seine Hörgewohnheiten vom Jazz auf Rock umstellte. Selbst beim Schreiben hörte er Platten oder arbeitete intensiv mit Zitaten aus den Songs (Kobold 2000). Seine Lieblingsband sind die »Stones«. Das Gedicht am 19. März 1964 (St, 45) ist das erste Gedicht mit Nennung der »Rolling Stones«, aber strukturell, in der
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lakonischen Aufzählung scheinbar belangloser Details, ist es nicht nur an Günter Eichs Inventur angelehnt, sondern orientiert sich auch an Préverts Chansons Inventar oder Frühstück. Und »das Familienbild« am Ende der zweiten Strophe ist auch der Titel eines Gedichts von Prévert (1962, 65). Gerade Préverts Kunst, mit sparsamen Worten in knappen Strichen eine Alltagsszene zu skizzieren, in der eine namenlose Person ohne ein Wort einfach weggeht (Frühstück) und den Leser im Ausblick auf Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zurück lässt, übt auf Brinkmann größte Anziehung aus. Hier lernt er das Reden Zwischen den Zeilen (St, 60), die Technik des Ausschnitts und der Rekombination von Realitätspartikeln, das Zusammensetzen des herausgehobenen Banalen zu irritierenden Wahrnehmungseinheiten (Späth 1986, 99). Die äußere Wirklichkeit degradiert der Text zur bloßen Oberfläche, die mit den Augen des Gedichts gesehen dann aber eine ganz neue Bedeutung bekommt: »Besser als ein Gedicht / ist eine Tür, die / schließt.« (St, 44). Ein immer breiter werdendes Feld bestellen die metapoetischen Texte. Die poetologischen Gedichte pflegen wieder den ironischen Umgang mit der Metapher und geben das Beispiel von »dem Gefieder / eines erdachten Vogels / auf weißem Papier, der ein / und ausgeht in / den Metaphern« (St, 56). Die Stelle spielt auf Prévert Wie man einen Vogel malt an, der das Hin und Her in den Realitätsebenen humorvoll inszeniert. Bei Klee-Palyi las er außerdem Die Erklärung der Metaphern von Raymond Queneau (Klee-Palyi 1953, 218– 223), in dem nicht nur die Distanz zur sprachlichen Übertragung ausführlich dargestellt ist, sondern auch explizit von der Sprache als einem »Doppel zur wirklichen Welt« die Rede ist. Brinkmann brauchte also gar keine sprachkritischen Essays zu konsultieren, ihm genügte die Auseinandersetzung mit der französischen Lyrik oder dem Chanson der Moderne, um in den eigenen Texten »gewagte Metaphern« (St, 68) kritisieren zu können, ein Verfahren, das zur Metapoesie selbstverständlich dazugehörte. Drei herausragende Beispiele für die neuen poetologischen Verfahren belegen die Möglichkeiten der modernisierten Schreibweise: erstens Konstruktion, zweitens das Spiel mit den Realitätsebenen und drittens den Gebrauch der Sprache wie andere Erinnerungsdinge. Alle drei stehen für die Erprobung der neuen Materialität. Nature morte (St, 50) ist ein lakonisches Gedicht in drei kurzen Prosasätzen. Darin ähnelt es den Telegrammgedichten Cendrars, der Zeitungsmeldungen,
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»Schlagzeilen« zu einem »Gedicht ohne Metaphern« montierte (Cendrars 1962, 76, 85) und mit Strand (152) die reine geographische Feststellung in dürren Worten zum lyrischen Gebilde erhob. Cendrars bezieht sich auf die Montagetechniken der Malerei. In Fernand Légers Atelier sieht er Etiketten, Werbeplakate und andere Alltagsgegenstände, die er in seinen Gedichten nennt. Das programmatische Gedicht Konstruktion widmet er ganz dem befreundeten Maler und zählt Gegenstände oder Gattungsbegriffe auf wie »Nature morte« (Cendrars 1962, 69, 88). Brinkmann rezipiert in dieser Phase intensiv diese soeben wieder zugängliche Vorkriegsmoderne. Verfahren und Titel können hier entweder aus Cendrars Bildgedicht oder aus Williams Gedichten stammen. Denn in seinem Nachwort zu Williams hatte Enzensberger eigens die »Nature morte« als das poetologische Grundprinzip dieser Lyrik eingestuft und gesagt, alle diese Gedichte seien Stillleben. Die Interpretation leitete er aus dem Gedicht Vollkommenheit her, einem Lobgesang auf einen verfaulten Apfel, der auch in Brinkmanns Gedicht nicht fehlt (Williams 1962, 187). Ob Telegrammstil, Dinggedicht oder lakonische Lyrik, das Pathos der Kürze, die kühle Reduktion kontaminieren die Details und ihre Wahrnehmung, sie zielen dabei auf Prägnanzbildung ab, suchen den Punkt, an dem die Dinge anders zusammenfinden als in der Realität (Späth 1986, 110). Ein phänomenologisches Verfahren, bei dem die Poesie des Allernächsten genau das in Betracht zieht, was uns die alltägliche Gegenwart unter die Nase hält. Dabei präsentieren sie es in vollkommener Undurchdringlichkeit, womit das ganz Banale plötzlich als überaus Kostbares dasteht. Photographie (St, 52), ein viel beachtetes Gedicht, hat Vorläufer. Sowohl Williams Young Woman at a Window (1962, 94) als auch Éluard reflektieren die Chancen der Reduktion, die sich auch mit der Technik der Photographie ergaben (1959, 26 und 27), aber der Text Unter Anderen endet mit Versen, die wie eine Matrix für die neuen Gedichte Brinkmanns klingen: »Was haben Sie gesehen? / Eine junge Frau, groß und schön, / In schwarzem, tief ausgeschnittenem Kleid« (Éluard 1959, 41). Brinkmanns verbloser Text »Mitten / auf der Straße / die Frau / in dem / blauen / Mantel.« erzeugt eine Irritation. Wenn es sich um eine Photographie handelte, müsste sie mehr zeigen. Der Text läuft der Vorstellung des Lesers von einem Abbild zuwider. Außerdem, eine weitere Ebene, ist das Bild hier nur besprochen. So hat der Leser keine Chance, das Foto, von dem er sonst nichts erfährt, zu komplettieren oder wieder herzustellen (Grzimek 1981, 26). Auf
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diesem Wege gelingt es dem Text, die Beziehung zwischen Wiedergabe einer Realität und deren bloßem Abbild überhaupt zu verwirren (Späth 1989, 15; Urbe 1985, 80–83). Auch die Interpretation vor der langen Tradition des Bildgedichts führt zu der Erkenntnis einer Verwirrung der Ebenen. Weder gelingt dem Leser eine Entschlüsselung des Farbmotivs in der Reihe der blauen Gedichte, noch die eindeutige Zuordnung zu Wahrnehmung, Bild oder Abbild (Röhnert/Geduldig 2012, 53–63). Vielmehr bezieht der Text genau aus dieser Unentschiedenheit seinen Effekt. In der Rubrik Wiederholungen reflektierte schon Éluard eben diesen poetologischen Aspekt der Erzeugung eines Blicks im und durch das Gedicht und reduzierte das Gesagte auf spärliche Notate. Im Vexierbild, dem ständigen Hin und Her zwischen den Ebenen Realität oder abgebildete Wirklichkeit liegt das Zentrum des phänomenologischen Experiments wie der einzig zuverlässigen Aussage über den Schreibmodus: »Ich betrachte es, ich sehe es« (Éluard 1959, 27). Beide, in ihrer Lakonie vollkommene Gedichte, konvergieren im Verfahren. Ein Wort, eine Geste, eine Szene rücken in die Helle des Bewusstseins, wo sie in einer Raffung gleichsam den Aufriss der gesamten Wirklichkeit erkennen lassen. Der Leser blickt fragend auf diese Realität, die ihm völlig vertraut und fremd zugleich vorkommt. Aber das Anhalten eines Moments, die sprachliche Fixierung, die Feststellung in doppeltem Sinne bewirkt gerade das Verschwimmen der Ebenen ineinander. Als Konstruktionsprinzip finden wir die dritte Möglichkeit somit im Sprachgedicht. Schnee (St, 40), in vier dreizeiligen Strophen (Druckfehler in St) und einem abschließenden Zweizeiler vollführt ein Gedankenspiel. Das Wort Schnee solle sich »auflösen«, bis es »wieder zu Wasser wird«. Dazu denkt der Text in einem einzigen Satz nun Beispiele durch, die wie Spielsätze wirken, die über etwas informieren, indem sie Information auflösen. Die Sätze haben keine Entsprechung in der realen Welt, bestenfalls in Beobachtungen, die sich aber auf Anderes beziehen (Röhnert/Geduldig 2012, 63–68). Die Reduktion führt hier vor, wie Sprache die Dinge auf ein Inventar begrenzt. In jedem Satz wird ein Schluss gezogen, der stimmt, wenn man die Voraussetzungen angenommen hat und doch vor allem die Absurdität dieser Voraussetzung enthüllt. Die Signifikation mithilfe von Sprache suggeriert vorschnell generelle Kommunikationsfähigkeit. Tatsächlich, so das Gedicht, wäre es besser, Sprache wie andere Erinnerungsdinge zu gebrauchen. Die große Heterogenität des Bandes lässt eine strin-
gente Bewertung aller Texte nicht zu. Solche Versuche der Forschung verlieren hier ihre Überzeugungskraft. Sinnvoll bleibt aber die Kategorie Materialität. Schon Grzimek hat in seiner überzeugenden Interpretation auf die lyrische Präsenz einer bestimmten (definierten) Wirklichkeit in Opposition zur falschen Realität hingewiesen. Brinkmanns Verständnis von der Materialität der Sprache und sein Idealitätskonzept bleiben bis 1970 prägend. Sie formen ein poetologisches Konzept, bei dem die ständige Neubestimmung des Verhältnisses von Realität und Kunst im Zentrum steht (Späth 1986, 88, 103). Das erlaubt ihm, eine eigene Schreibweise zu entwickeln, die einfach wirkende Bilder wie gewichtige Aussagen setzt und sie so erscheinen lässt, als wären sie bloße Wiedergabe von Gesehenem oder Abbild einer Oberfläche. Es ist aber nie beliebig, welches Detail im Gedicht aufscheint. Auswahl und Kombination des scheinbar Einfachen oder Direkten gehören zur ästhetischen Strategie und unterliegen strenger Kontrolle bei der Suche nach einer neuen Materialität. Dem Gedicht eignet eine ganz besondere Gegenständlichkeit; sie findet sich nur dort. Selbstverständlich sind diese Techniken hoch symbolisch und können keinesfalls eine Abwendung vom Modus des Literarischen belegen, auch wenn der Autor gelegentlich diesen Eindruck erwecken möchte. Dabei trägt die Texte wie das gesamte emphatische Schreiben sogar ein hintergründiges Idealitätsbegehren, das mit dem Begriff Romantik literaturgeschichtlich keinesfalls unzutreffend eingeordnet wäre. Synchron gesehen beschäftigt sich Brinkmann intensiv mit den Techniken des Nouveau roman, die ebenfalls nicht ohne Auswirkungen auf die Lyrik bleiben, den Blick auf das Detail prägen, Hierarchien des Sehens gezielt stören und das Umfunktionieren von Wahrnehmungen befördern (Späth 1986, 102 ff., 107).
16.8 Abstraktion eigener Texte: Ohne Neger. Gedichte 1965 (1966) Nach der ersten eigenständigen Buchpublikation im Jahr 1965 bei Kiepenheuer, dem Erzählungsband Die Umarmung, mit dem der Optionsvertrag umgesetzt wurde, erschien 1966 in der kleinen collispress im Paul Eckhardt Verlag in Hommerich wieder ein Gedichtband. Wiederum in einer limitierten Auflage von 150 nummerierten Exemplaren, wiederum auf einer Handpresse als Blockbuch auf 13 Blatt ohne Seitenzahlen hergestellt. Unter dem Titel Ohne Neger. Gedichte 1965 brachte das leinenkaschierte Heft nur 18
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Gedichte, poetologisch eng verwandt mit dem vorangegangenen Gedichtband. Wiederum legte Brinkmann großen Wert auf ein ästhetisch ansprechendes Layout, das Widmungsexemplar für Jörg Schröder enthält zusätzlich eine vom Autor monogrammierte, farbige Originalcollage (Abb. Seinsoth 1990, 45). Wahrscheinlich waren einmal mehr die hohen und kompromisslos vorgetragenen Ansprüche des Autors für das Lektorat bei Kiepenheuer nicht durchsetzbar. Ähnliche Schwierigkeiten mit einer ökonomischen Planung traten bei den späteren Lyrikbüchern auf. Mehrere Gedichte dieses Bandes und des im gleichen Jahr folgenden kehren im ersten Gedichtband für Kiepenheuer 1967 wieder. Für Was fraglich ist wofür, mit dem der Durchbruch beim Publikumsverlag gelang, stellt Brinkmann seine besten Texte, teils in Überarbeitung zusammen. Der Buchtitel führt eine Auseinandersetzung mit literarischen Traditionen. Nach dem Krieg waren zahlreiche Anthologien erschienen von Stephan Hermlin, Eva Hesse oder Janheinz Jahn mit »poesia negra« im ethnischen Sinne. Sie stützten sich auf den berühmten Essay von Sartre, der unter dem Titel Or phée noir (1956 in der deutschen Ausgabe der Essays: Schwarzer Orpheus) zu Senghors Anthologie de la nouvelle poésie nègre 1948 eine existentialistische Erläuterung des »Neger-seins« beisteuerte. Die schwarze Poesie französischer Sprache feierte er als »einzige große revolutionäre Dichtung unserer Tage«, weil sie von der »Überwindung einer bestimmten Situation durch freies Bewußtsein« Zeugnis ablege. Sartre konstruiert das »Neger-sein« dialektisch als reinen Übergangszustand, als »explosive Unbeweglichkeit«, bei der im Akt der Bewusstwerdung der gesamte ambivalente Zustand des Menschen exemplarisch sichtbar werde. Zuletzt fand er zu den Thesen: »Das Neger-sein (...) ist der Dichter selbst« und »das Neger-sein ist seinem Wesen nach Dichtung«, eben »reinste Dichtung« (Sartre 1965, 191, 220 f.). Eine zweite, weniger übersteigerte Tradition bildet die Kunst des Primitivismus, die formale Anregungen aufgreift. Ein »modèle negre« ist bei drei Autoren nachweisbar, die zu Brinkmanns Gewährsmännern gehörten: Apollinaire, Cendrars, Tzara. Sie studierten afrikanische Kunst wie Cendrars oder benutzten primitivistische Mythen. Die Verse Cendrars »Die Welt ist voll Neger und Negerinnen« oder »Ich möchte der arme Neger sein« bedienen eine Spielart der Avantgarde (1962, 93, 106), die in den Künsten der Jahrhundertwende aufkam. Schon in der frühen Moderne bereitet Rimbaud die Variante des Außenseitertums vor:
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»Ja, meine Augen sind eurem Lichte verschlossen. Ich bin ein Tier, ein Neger. Aber ich kann gerettet werden. Ihr seid falsche Neger, ihr, Verrückte, Rohlinge, Geizhälse. Kaufmann, du bist Neger; Richter, du bist Neger; General, du bist Neger; Kaiser, räudiger, alter Mann, du bist Neger: du hast von einem schwarz gebrannten Saft getrunken, aus der Kelter Satans.« (Rimbaud 1960, 275) Rimbaud redet von den Zumutungen der Moderne, die sich seitdem bekanntermaßen ihre Saison en Enfer wohnlich eingerichtet hatte. Außerdem kehrt Rimbauds Wort: »Vous êtes de faux nègres« bei LeRoi Jones (1934–2014) als Motto für sein Langgedicht Hymne für Lanie Poo (Paetel 1962, 105) wieder, einem Loblied auf die schwarze Bohème, das über die Anthologien den Kontext zu Brinkmann bildet. Jones erste Gedichtsammlung Preface to a twenty volume suicide note, in der Totem Press 1961 erschienen, empfiehlt er im Brief an Sander als vorbildlich für Texte in Kleinverlagen. Mit dem Titel legt er also eine Sammlung unter bewusstem Verzicht auf den »primitivisme littéraire« vor und setzt zugleich den Dialog mit den Avantgarden fort. Auch wenn der Band keine politischen Gedichte enthält, stand der Titel damals natürlich im Kontext der Rassenunruhen in den USA. Im Februar 1965 wurde Malcolm X ermordet, eine Gallionsfigur der Freiheitsbewegung. Brinkmanns Freund Rygulla arbeitete in dieser Zeit an seiner kleinen, zweisprachigen Anthologie. Die Underground Poems bekamen einen Umschlag in Gestalt eines Comics, der diesen Mord unter Anspielung auf den rassistischen Abzählvers Ten Little Niggers darstellte. Brinkmann steht in dieser Phase unter dem verstärkten Einfluss der neuen amerikanischen Lyrik, mit der ihn Rygulla versorgt. Dessen kurzes Nachwort versammelt alle Ansichten zum Phänomen, so die Feier der »Anti-Kunst«, oder den »Untergrund« als einzigen sozialen Bereich, »in dem wirklich Rassengleichheit herrscht«. Selbstverständlich seien die »little mags« ganz ohne kommerzielle Absicht entstanden, würden aber von etablierten Kräften wie Olson und Creeley unterstützt. Allerdings müsse man sich beeilen, denn die Zeichen stünden auf deren Kommerzialisierung. Das Subkulturelle werde schon in reguläre Marktkreisläufe integriert und das beschleunige den »Verfall des Undergrounds« (Rygulla 1967, 26 f.). Die verstärkte Beschäftigung mit dieser Szene verhilft Brinkmann auch zu einer neuen Technik. Es ist der erste Band, in dem der Incipit-Titel mehrfach zum Einsatz kommt. »Solche Art Lied // ist nicht immer
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schön« (St, 73), »Ein einziger Satz // oder gleich / mehrere...« (St, 75) oder schlicht »Wir // wollen einmal so / sagen...« (St, 85) sind Satzanfänge, die als Überschriften fungieren und geradewegs in den Gedanken hineinführen. Sie erwecken den Eindruck der direkten Ansprache an den Leser, sie wirken mit ihrem beiläufigen Anfang wie ein Ausschnitt aus einem Gespräch, in das der Text an einer beliebigen Stelle hineinblendet. Und enden ebenso abrupt ohne ein wirkliches Ende anzudeuten. Der Incipit-Titel ist ein Mittel, um das Abheben des Gedichts aus der Alltagssituation in Szene zu setzen. Die Lücke nach dem Incipit, durch das Enjambement nur unzureichend benannt, markiert nachträglich den Beginn der lyrischen Rede. Häufig sind die Gedichte kurz und bestehen aus einem einzigen Satz, der eine Gedankenflucht vorführt, die mit dem Punkt am Ende nur scheinbar abgeschlossen ist (St, 125). In einigen Incipit-Texten dehnt sich ein Gedanke bogenförmig aus und läuft zum Anfang zurück (Nichts St, 90 oder Tritt St, 209). Auch wenn sie vorher zwei Mal anklang (V, 10, 29) ist daran dennoch der Einfluss der amerikanischen Lyrik erkennbar: denn erst jetzt, seit der intensiven Lektüre von Williams, Creeley, Olson und zahlreicher Anthologien benutzt Brinkmann die Titelvariante häufig und in den kommenden Jahren fast systematisch. Ein einziger Satz (St, 75, 139), später noch einmal abgedruckt, ist ohne Williams und Creeley nicht vorstellbar. Solche Art Lied zitiert Williams Titel A Sort of a Song und endet mit dem Reklamezitat der AEG: »aus Erfahrung / gut.« (St, 73). Das bringt einen Ton der Leichtigkeit in die Texte, den Brinkmanns lyrisches Weltbild seit Mitte der 1960er Jahre mehr denn je den französischen und amerikanischen Autoren verdankt. Aber auch die Abstraktion und Prätextualisierung eigener Texte. Archibald MacLeish hatte in seiner Ars Poetica gesagt: »Ein Gedicht sollte ohne Wort / Wie Vogelflug sein« (Hansen 1956, 5). Am vielfach gebrauchten Motiv, einem Zentralbild der 1950er Jahre, das auch Brinkmann durch die einzelnen Phasen seiner Arbeit begleitet, lässt sich der Wandel der Schreibweise exemplarisch zeigen. Seit der Antike ein Topos der Selbstdarstellung des Lyrikers stellte Brinkmann seine frühen Schülergedichte Vogelflüge 1958/59 unter das poetologische Bild und nutzte es immer wieder wie andere Zeitgenossen für das Selbstporträt als Dichter (St, 17). Aber an der spezifischen Art des Gebrauchs, am äußerst variablen Umgang damit lässt sich die Proliferation der Lektüren ablesen. Den größten Umbruch markiert der Einfluss Préverts. »Die Vögel aus den Gedichten Jacques Préverts« (V, 28) nennt ein frühes Ge-
dicht, sobald die Neuausgabe bei Rowohlt erschienen war, als lebensrettend. Unter Bezugnahme auf die Surrealisten Max Ernst oder Antonin Artaud taucht ein neuer Zugriff Die Vögel und die Dichtung (V, 67) in dem von Wellershoff abgelehnten Band 1963 auf. Bei Prévert war das Motiv fast inflationär vorgekommen (Lied des Vogelstellers, Wie man einen Vogel malt, Die Vögel, Stadturlaub usw.). Entscheidenden Anstoß gab sicher auch die Titelvignette zu der Anthologie von Klee-Palyi, die Max Ernsts Monument aux oiseaux von 1927 voranstellte und mit dem Hinweis »Titelbild nach einem Gemälde von Max Ernst« auf den noch zu wenig bekannten Künstler aufmerksam machte. Den bedeutendsten Schritt wagt dann aber Vogel am leeren Winterhimmel (St, 78 und 136), mit dem der Autor die neuesten Entwicklungen aufgreift. Rolf Hädrichs »Erlebnis // Ein Vogel ist / In mein Auge gekommen / Verändert den Himmel / So schnell / Fliegt er südwärts« in der Anthologie Junge Lyrik 1958 trifft auf Creeleys Der Vogel (Rygulla 1967, 22) und Williams Das Unbekannte, dessen erste zwei Strophen lauten: »Gibt es dich / mein schöner Vogel / fliegst du / über dem Schnee? // Fliegst du / wirklich / oder bilde ich mir / es ein?« (Williams 1962, 115), die alle das Motiv in eine Reflexionsfigur übertragen. Und genau diesen Blick nimmt auch der luxuriös ausgestattete, zweisprachige Band Oiseaux Vögel von Saint-John Perse ein, den Luchterhand im März 1964 veröffentlichte. Perse legte eine poetische Studie über die Malerei von Georges Braque vor, der sich seit 1955 ganz auf Vögel spezialisierte, zwei Gemälde waren beigegeben. Braques äußerste Abstraktion, die den dargestellten Gegenstand nur noch auf Umrisse reduziert, erklärt Perse: »So also, durch Entreißung oder langsames Ablösen, entzieht der Maler einem weiteren ›Territorium‹ als dem des Vogels, bis zur völligen Aneignung, dies reine, stoffgewordene, tastbar gewordene Stück Raum, das aufs äußerste abgehagert zuletzt dieser Inselfleck des Vogels auf der menschlichen Netzhaut wird.« (Perse 1964, 17) Die stark materiale Kunst gebe nicht nur einen Eindruck von der Unermesslichkeit des Raumes, sondern wolle »im Stillstand gerade die Bewegung des Fluges verewigen« (Perse 1964, 29). Braques Vögel sähen aus, als würden sie »in den unsichtbaren Schichten des Himmels« anhalten; der »Raum ist ihre Entfremdung« (Perse 1964, 57). Stellvertretend sind sie »der Raum, den ein einziger Gedanke durchmißt.« (Perse 1964, 61). Brinkmanns Vogel am leeren Winterhimmel liest sich wie ein Kommentar auf die von Perse beschriebenen Bilder Braques: »Er durchquert / was? / Da ist ein leerer Raum / oder genaugenommen / etwas
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Grundloses / ein Klischee. / Langsam / langsam treibt er weg / ohne voranzukommen.« (St, 78) Nicht nur die Erwähnung des Druckstocks, in der Fachsprache »Klischee«, deutet auf die Graphik Braques, auch die Bewegung des kleinen Textes präsentiert einen erstaunten Blick über die Bilder des Malers. Die Transformation eines lyrischen Gegenstands durch Proliferation von Lektüren führt Brinkmann weiter in die Abstraktion und Prätextualisierung des eigenen Werks. Wenig später strafft er den Text, wählt den Kurztitel Vogel, ändert den Schluss: »und kommt voran« (St, 136).
16.9 Nachbildung des Neuesten: &-Gedichte (1966) Im selben Jahr erscheint der kürzeste Gedichtband mit nur 16 Texten. Er ist mit seinem durchgehenden poetologischen Konzept der homogenste und der am stärksten von der amerikanischen Literatur geprägte Band. Ein letztes Mal muss der Autor auf eine Handpresse ausweichen. Erneut erscheinen seine Gedicht in der Blockbuchbindung, in rotem Karton auf 16 Seiten, in nur 280 Exemplaren, davon 30 vom Autor signiert. Den Kontakt zur Oberbaumpresse kann er über seinen Freund und ehemaligen Mitarbeiter in der Kölner Buchhandlung Witsch, Hartmut Sander herstellen, der mittlerweile in Berlin lebte (Erk, 132). Gleich nachdem Rygulla 1966 aus London zurückkehrte, begann die intensive Kooperation über die alten Kölner Kontakte. Ende 1966 gründeten Martin Dürschlag, der zu Brinkmanns Leidwesen 6 Graphiken beisteuerte, und Hartmut Sander in einem Abrisshaus in der Oberbaumstraße mit alten Druckpressen das Verlagsprojekt. Teilhaber waren anfangs neben Brinkmann auch Peter O. Chotjewitz, den er in Rom wieder treffen sollte, und Peter Handke (Spindler 1988, 65). Schon 1967 wurde das Ganze vom SDS übernommen und Brinkmanns Brief an Sander im hektographierten Oberbaum-Almanach 1965–1968 (Abb. Seinsoth 1990, 53) spricht voller Hohn über den Niedergang des Verlags. Die Chancen des Einmannbetriebs, in dem dort abgedruckten Brief zur Gründungsidee vom 16. April 1966 hoffnungsvoll genannt, seien endgültig vertan. Der Almanach brachte noch einmal Gedichte aus dem Band. Wie Rygullas schmale Anthologie, die Untergrundliteratur anpries, wollte auch Brinkmann dem Verlag »Anti-Lyrik« anbieten. Die erfolgreiche Vermarktung dieser Richtung hatte allerdings in der bundesrepublikanischen Verlagswelt längst begonnen und war auf
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Projekte in Kleinverlagen nicht unbedingt angewiesen. In der Tat nimmt Brinkmann mit &-Gedichte neueste Tendenzen auf und bezieht sich schon im Titel auf Cummings, den er seit der Essener Zeit kennt. Schon die Idee zum Namen stammt also nicht aus dem Untergrund, sondern aus der ersten deutschen Gedichtausgabe von Cummings. Im Anhang wurde unter den Titeln seiner Bücher & (and) 1925 aufgeführt. Der Titel entsprang einer Trotzreaktion Cummings, weil sein Verlag einen »und«-Titel nicht akzeptieren wollte und daraufhin nahm der Autor damals einfach das Zeichen für die Kopula »&«. Brinkmann kannte den Amerikaner schon aus einzelnen Übertragungen und er schrieb das im Hackmann-Nachlass erhaltene Gedicht Auf den Tod des Dichters e. e. cummings 2. September 1962. Da hier ein Zitat vorliegt, kann der Titel auch »and-Gedichte« ausgesprochen werden, zumal die Gedichte durchgehend von der amerikanischen Lyrik geprägt sind und wie ein einziges Formzitat wirken. In der Forschung wurden sie bisher vernachlässigt, das Handbuch Röhnert/Geduldig bringt keine einzige Interpretation und übergeht den Band einfach. Besonderes Augenmerk widmen die Amerikaner dem Textablauf. Sie verwenden den Satz als Atmungsvorgang, als Auslöser der poetischen Konzeptionsbewegung, um der Sprache eine neue Gangart zu geben. Sie arbeiten an der Aufladung, der Kondensierung der Wörter und der Veränderbarkeit von stofflichen Zusammenhängen, die sich gerade im kurzen Gedicht intensiv gestalten lasse. Die Energie ist dort umso größer als in ihm die Platzierung des einzelnen Wortes wichtig und folgenreich ist. Präzision und mediale Leistung des Gedichts, seine Evidenz durch Aussparen, die lakonische Sprechweise und die Art der Auswahl im Sprachregister, sind erste Kriterien, die eine Beschreibung der damals neuen und besonders attraktiven Entwicklungen erlauben. In den sechziger Jahren erlangen die Gedichte von Robert Creeley schon deshalb Gewicht. Bei ihm erscheint der Vers als Energieentladung, als »emotional unit«. Besonders die Zwei-Wort-Verse, so sagt sein Übersetzer Klaus Reichert, wollen eine »Energie verkörpern, so dass man sie spüren kann.« (Creeley 1967, 160) Die Orte der Wörter im Text bestimmen über den Formgestus. »Eins / ums andre / kommt // die form. Ein / ding folgt / einem andern. Eins // und eins, / und eins.« So baut das Gedicht sein Bild für die kommende Welt, in der Metapher Creeleys, »forms’ photograph« auf. Solche Gedichte wollen von ihren Mikro-Einheiten her verstanden werden, denn sie schaffen oft semantische Mehrdeutigkeit durch überraschende syntaktische
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Bezüge. Betont sind meist Anfang und Ende des Verses sowie die willkürlich gezogenen Grenzen der syntaktischen Einschnitte. Ihre Gedankengänge bestehen nicht mehr im eigentlichen Sinne aus Wort und Satz, sondern realisieren eine Bewegung, sie gestalten einen Bewegungsverlauf, der als solcher die Materialität wie Evidenz des Gedichts trägt. Sie sind Bewegung, erfahrene Energie, mit neuer Dynamik angereicherte Sprache (Fauser 2016). Die luzide Beschaffenheit der grammatischen Struktur kann der verborgenen Aufladung des Textes durchaus zuwider laufen. Das Gedicht besteht nicht aus logischen Bewegungen, sondern entsteht in der fließenden Ordnung der Sprache. An welcher Stelle das Beginnen einsetzt, ist nachrangig, kann es doch überall anfangen. Die »interruptions«, die den Lesefluss durch Enjambements brechen, die »sight – stanzas«, regelmäßige Stropheneinteilungen, die nicht der Satzstruktur folgen und über der grammatischen Ordnung eine graphische errichten, sowie die »dislocation«, das Transponieren von Objekten in ungewohnte Zusammenhänge, sind die drei wichtigsten Verfahren bei Williams und seinen Nachfolgern. Schon daran wird die Orientierung des Schreibens an einem nicht rein sprachlichen Spannungsfeld deutlich. Williams schreibt in seinem Essay The Poem as a Field of Action über die imaginative Realität, die transparente Stofflichkeit der Sprache und den Objektcharakter des Gedichts. Nicht um reine Poesie ist es ihm zu tun, sondern um den größtmöglichen Resonanzraum, der um das Skelett der Syntax herum gebaut werden kann (Williams 1969, 280–291). Wir haben es mit dezidierten Gestaltungen zu tun. Sie vollziehen sich nicht so sehr innerhalb einer Form, sondern in der Form und durch sie. Mit ihnen entstehen Konfigurationen aus eigenem Recht, prägnante Begegnungen von Wirklichkeitswahrnehmung und Denkreaktion. Kurz: Ereignisse der Form. Gedicht Da ist, wo ich gehe kein Weg kein Bild in welche Richtung ich gehe um fort zu kommen.
Das Gedicht mit dem generischen Titel (St, 93) ist zentriert. Die graphische Anordnung um die Mittelachse visualisiert eine Bewegung um ein Zentrum und den spiralförmigen Gang ohne Fortkommen. Die Syntax überspielt mehrfach mögliche Bezüge (Bild, welches anzeigt .../ in welche Richtung ich auch immer gehe ...) und lässt die Setzung eines Einschnitts offen. Hinter »Richtung« könnte ein Fragezeichen stehen, dem die letzten drei Verse als Antwort folgen würden. Das Voranschreiten in der grammatisch nicht korrekten Satzkonstruktion, ihrer drängenden Abfolge in einem Atemzug lässt keine Entscheidung über die richtige Variante zu. Außer dem Weg, den das Gedicht selbst geht. Aber Richtung hat es eben nur in der graphischen Flächigkeit, in der Ausdehnung im Raum. Es kreist um ein leeres Zentrum, beginnend mit einer Reflexion, die sich in einer performativen Aussage auflöst: »ich gehe.« An dieser Stelle kann die Frage auftauchen, weshalb der Sprecher denn sonst gehe, als »um fort / zu kommen.« Unweigerlich verweist der Text das Nachdenken darüber wieder zurück auf den Anfang. Im wiederholten Zwei-Wort-Vers »ich gehe« am Anfang und Ende, der an Creeleys Sprache erinnert, ordnet sich das Gedicht einer reichen Tradition zu, in der das Gehen als Metapher für die Reflexion einsteht. Das Denken als Gang auf einem Weg gehört zu den beliebtesten philosophischen Metaphern und dass dieses Bild den Prozess tatsächlich angemessen beschreibt, wird gerade in der Moderne seit Valéry mit wachsendem Zweifel an jeder methodischen Sicherheit in Frage gestellt. Brinkmann redet von einem erfolglosen Akt des Denkens bzw. der Suche nach einem Ausweg aus dem immer Gleichen. Beim Gehen läuft lediglich die Syntax davon, mit jedem Schritt, unaufhörlich und verheddert sich gar, bis die tautologische Aussage übrig bleibt. Es hat bestenfalls den Eindruck als hätten sich zwei verschiedene Gedanken während des Gehens in der Syntax zusammen geschoben, so dass dem einen Gedanken das Ende, dem andern der Anfang fehlt. In der Mitte des Gedichts, im Zentrum des syntaktischen Anakoluths, dreht sich der Gedanke und kehrt zum Ausgangsort zurück. Das Denken geht unvermittelt in Bewegung über und nach dem Bruch führt die Bewegung wieder unmittelbar in den Ausgangspunkt hinein. In seinen brieflichen Selbstaussagen hat Brinkmann auf das poetologische Thema des Gehens hingewiesen. »Gehen und Bewegung« seien »eins«, viele Gedichte seien »ein einziger Gedankenablauf«, vor allem aber verband Brinkmann damit »etwas konkretes«, »Akti-
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on« sowie »Bewegung, Leben, Vollzug, Tun usw.« (BrH, 47–57). In der spezifischen Bewegungsform der modernen Lyrik können unbekannte Effekte und Wirkungsmöglichkeiten der Sprache zur Erscheinung kommen. Die auf Unmittelbarkeit abstellenden Gedichte treiben einen Kult mit Gegenständen und Bildern, der sich ganz dieser Kunst des Herstellens von Relationen verdankt. Das Gedicht Bild (St, 95) spielt auf einen sehr bekannten Text von Williams an: Der rote Handkarren. Bei Brinkmann schiebt eine Frau »mit dem weißen Sommerhut« ihren Kinderwagen die Straße hinunter wie »einen Karren / voll / Laub //« (St, 95 und 151). Die vergleichbare Situation feiert die Wichtigkeit des Unbedeutenden, die im Akt der poetischen Schöpfung entsteht. Erst die Formgebung im Gedicht verschafft dem Leser den Eindruck einer Unmittelbarkeit, unabhängig von einer vorgängigen Erfahrung oder Wahrnehmung. Durch die einfache Syntax, die Verwendung von Sprachgegenständen aus dem alltäglichen Erfahrungsbereich soll der Eindruck des unverfälschten Sehens, einer tatsächlich unmittelbaren Begegnung mit den Dingen wie beim ersten Mal entstehen. Dass schon Williams die Szene bei Wallace Stevens entlehnt hat, ist ein weiterer Hinweis auf die Kraft der lyrischen Sprache, die in der Kontextversetzung energetische Effekte hervorruft. Das figurative Sprechen im Gedicht lädt die Wörter mit einer Erhabenheit auf, die ihnen für gewöhnlich abgeht. Bei Brinkmann kommt noch die metapoetische Reflexion hinzu über das »Ding, das ihr Bild zerstört« (St, 95, 151) und das doppeldeutige Spiel mit dem Wort Plastik (St, 151 ist das der Titel geworden), der den Kunststoff wie das Metier der Bildhauerei meinen kann. Die Einfachheit des Sagens wird bei Brinkmann ebenso durchbrochen wie seine Bewegungsform der Sprache auch das Einfrieren von Bildern entlockt. Unmittelbarkeit ist bei Brinkmann sogar häufig als übernommene Kunstform nachweisbar (Fauser 2016). Das Gedicht Ist das alles? (St, 110), welches den Band beschließt, zitiert den Schluss des Gedichts The Gift (Das Geschenk) von Creeley im Titel, in beiden Texten sprechen zwei Liebende. Den fortgesetzten Dialog mit den amerikanischen Lyrikern müsste man als zitierte Unmittelbarkeit bezeichnen, wenn der Terminus dann noch Bedeutung hätte. Creeleys Band For Love (1962) zählt zu seinen Lieblingsbüchern. Der Übernahme am nächsten kommen Einfaches Bild (St, 124) und Solche Art Lied (St, 73 und 134). Hier treten Williams Das Mädchen, Eine Art Lied sowie Creeleys Dame in Schwarz teils wörtlich direkt wieder auf.
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Damit folgt Brinkmann auch der Verstheorie von Charles Olson. Der Begründer der Black Mountain Review veröffentlichte 1950 den Essay zum Thema Projektiver Vers, der die gesamte Richtung prägte und in der deutschen Ausgabe seiner Gedichte 1965 erschien. Olson bezeichnet das Gedicht als »Energiemenge«, »Energieträger«, »Energieentlader«, die im Gegensatz zur traditionellen Versifikation aus der je besonderen »FELD – KOMPOSITION« hervorgeht (Olson 1965, 106–114). Seine Stoßkraft gewinne der projektive Vers durch den Druck des Atems: »Und die Zeile stammt (ich schwörs) vom Atem, vom Atmen dessen der schreibt, im Augenblick, wo er schreibt, und folglich ist sie;« Olson sucht die Kinetik des Gedichts aus den Möglichkeiten der gesprochenen Sprache herzuleiten, empfiehlt daher die Zerstörung der Syntax, der Grammatik, der Tempora, damit die »Redekraft der Sprache wieder« ganz zur Geltung kommen könne, geradezu »direkt anwesend« bleibe. Innerhalb des perkussiven Akts kann alles den Status eines lyrischen Objekts erlangen, weil alleine der Atmungsvorgang des Gedichts die Folge von Spannungspunkten im Text erhält. Ironischerweise sei es gerade der »Vorzug der Schreibmaschine«, also jenes Geräts, das die Trennung von Vers und Stimme mit verschuldete, dass ihre »Genauigkeit der Spatiierung, dem Dichter genau den Atem anzeigen kann, die Pausen, das In-der-Schwebe-Halten, sogar von Silben, das Gegeneinanderstellen, sogar von Teilen von Sätzen, die er im Sinn hat. Zum ersten Mal hat jetzt der Dichter Notenlinien und Taktstriche, die der Musiker früher gepachtet hatte.« (Olson 1965, 114) Wenn der Lyriker das Typoskript als Mittel der Vokalisierung nutzt, kann er neuartige Bewegungsstrukturen erschaffen. Der Drang, den der abgebrochene und immer wieder neu angesetzte Atmungsvorgang dem Rezitator abnötigt, erzeugt Geschwindigkeit in der Abfolge von Gedanken oder Gedankensplittern, permanente Bewegung. Die »aufgespaltene Sekunde« führt eine kaum vernommene Erkenntnis schon zur nächsten. Modelt man das Prinzip der Energie auf diese Weise, kommt die Form dabei heraus. Gedichte in projektiver oder perkussiver Absicht, und dazu zählen die Texte des Bandes von Brinkmann, drängen aus der Schrift hinaus und können doch nur ihre paradoxe Existenz reflektieren. Das Gedicht fordert den Autor, der physiologischen Prozessen folgt, der seinen eigenen reimlosen, freien Rhythmen beim Schreiben zuhört und die Bewegungen seines Atems in Verszeilen materialisiert.
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Markus Fauser
B Poplyrik 17 Was fraglich ist wofür (1967) Was fraglich ist wofür erschien 1967 und ist Rolf Dieter Brinkmanns fünfter Gedichtband. Es ist der erste, der bei einem großen Verlagshaus – Kiepenheuer & Witsch in Köln – publiziert wurde, die vier Vorgänger waren sämtlich – in geringen Auflagen – bei kleinen Verlagen erschienen. Allerdings hatte Brinkmann bereits mit Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966) zu dem Zeitpunkt zwei Erzählbände bei Kiepenheuer & Witsch publiziert. Der Verlag erfüllte damit den Optionsvertrag auch mit einem Lyrikband. Bei Was fraglich ist wofür handelt es sich um eine Zusammenstellung aus älteren und neuen Gedichten. In diesen ist die Hinwendung zur Pop-Lyrik und die damit zusammenhängende vollständige Abkehr von traditionelleren Lyrikformen noch nicht vollständig vollzogen, auch wenn einige der Gedichte bereits formal wie inhaltlich eine Entwicklung hin zur Pop-Literatur späterer Bände wie Godzilla und Die Piloten ankündigen. »Der Band Was fraglich ist wofür geht über die vorigen Gedichtbände hinaus, und er führt übergangslos zu den folgenden Bänden« (Lampe 1983, 99), erkennt zwar auch Gerhard Lampe, dennoch wurde er in der Brinkmann-Forschung meist in die Reihe der ›frühen Lyrik‹ eingeteilt (s. bspw.: Lampe 1983; Späth 1989). Und doch sollte Was fraglich ist wofür, auch aufgrund seiner Publikationsbedingungen – immerhin ist es der erste von Brinkmanns Lyrikbänden, der bei einem großen Verlagshaus erscheint und er stellt somit auch publikationshistorisch einen Bruch dar – zumindest als Übergangswerk angesehen werden – wie es Geduldig/Röhnert auch tun, wenn sie es als ersten Band der Pop-Periode einordnen und sich somit gegen den Kanon der vorhergegangenen BrinkmannForschung wenden. Sieht man nämlich die Hinwendung des Autors zu populären Themen und Motiven – unter ihnen vor allem Film, Popmusik und Werbung – als parallel zu einer wachsenden Popularität an, so beginnt mit dem Band die Ära Brinkmanns als (in der deutschen Literaturszene zunehmend präsenter) Pop-
Lyriker. Die Kritik, die der Pop-Literatur Ende der 1960er Jahre verstärkt entgegenschlagen würde – nämlich, dass ihr eine Instrumentalisierung der Insignien populärer (primär amerikanischer) Kultur zum Zweck der eigenen Ruhmsteigerung zugrunde liegt (vgl. Hermand, Walser) – ging tatsächlich einher mit der Verwendung universell lesbarer Codes aus der Welt des Pop, die gleichsam einem literarisch konservativeren, älteren Publikum zu jener Zeit nicht mehr zugänglich waren. Tatsächlich »stand Brinkmann [zwischen 1967 und 1969] auch auf dem Zenit seiner Popularität zu Lebzeiten« (Röhnert 2012, 96), deren Höhepunkt 1969 erreicht wurde. In erster Linie ist der Einfluss Frank O’Haras auf die Gedichte in Was fraglich ist wofür noch stärker als in den vorangegangenen Lyrikbänden. Dessen lyrisches Sezieren des Alltäglichen mit Hilfe einer nüchternen, ebenfalls dem alltäglichen Sprachgebrauch ungefiltert übernommenen Sprache bei gleichzeitiger Andeutung einer tieferen Deutungsebene, die zwischen den Zeilen zu finden ist, wird von Brinkmann auf seine individuelle, jedoch stets auch bundesdeutsch gefärbte Situation übertragen. Noch stärker rückt das Ich und sein, zu großen Teilen nach objektivem Ermessen banaler, Alltag in den Mittelpunkt – ohne allerdings, und das ist in der retrospektiven Betrachtung von Brinkmanns Werk von zentraler Bedeutung, die Insignien des Pop (bzw. der populären Kultur) mehr als in einigen wenigen Gedichten zu berühren. Ein typisches Beispiel für diese banalen, jedoch exakten, minimalistischen Alltagsbeobachtungen stellt das Gedicht Einfaches Bild dar, in dem Brinkmann ein »Mädchen / in / schwarzen / Strümpfen« beobachtet, die »ohne Laufmaschen« sind, was das lyrische Ich als »schön« empfindet. Er sieht das Mädchen, während es vorübergeht, dann ihre Strümpfe, dann fällt ihm auf, dass diese keine Laufmaschen haben, er sieht ihren »Schatten / an / der Mauer«, und erfreut sich daran. Dann ist das Gedicht schon zu Ende. Und trotzdem gelingt es Brinkmann, sein unerfülltes Be-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_17
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gehren, das beim Anblick des Mädchens entsteht, implizit und nur anhand dieser fotografisch anmutenden lyrischen Nahaufnahme zu vermitteln. Daneben tritt, wie die neuere Forschung von Rüdiger Zymner und Markus Fauser zeigt, bereits zu dieser Zeit der starke Einfluss von Charles Olson und Robert Creeley hervor. Die Verstheorie von Olson definiert das Gedicht als Energieträger. In seinen Texten setzt Brinkmann die von Olson genannten Mittel der Vokalisierung ein und bildet Atmungsvorgänge nach. Physiologische Prozesse, freie Rhythmen und die Bewegung des Atmens werden beim Schreiben in den eigenartig gebrochenen Verszeilen materialisiert. Damit »setzt Brinkmann auch neue Präsenzkonzepte um« (Fauser 2016, 67). Die oben erwähnte Ausnahme bilden die in Was fraglich ist wofür vertretenen Film-Gedichte, die im Zuge einer Aufarbeitung der Entwicklung von Brinkmanns Schreiben hin zu dem, was seine zentralen Motive jener Phase als prägender Pop-Literat der 1960er Jahre werden sollten, retrospektiv selbstredend auch die größte Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Betrachtet man jedoch die in dem Band versammelten Gedichte insgesamt, so fällt durchaus auch eine Verknappung von Sprache und Thematik auf, die der Prägung durch O’Hara geschuldet ist. Trotzdem sehen Gunter Geduldig und Jan Röhnert in ihrem Brinkmann-Handbuch den Band als Startschuss zu dessen »Pop-Periode«. Jedoch gesteht auch Röhnert zu, dass die »1967 mit Was fraglich ist wofür erscheinenden Gedichte [.] zum Teil noch die Ernte der vergangenen Jahre ein[fahren] (...) oder eben das, was Brinkmann aus der lyrischen Produktivität der früheren Jahre als zukunftsträchtige Saat für kultivierbar hält« (Röhnert 2012, 97). Entscheidend dabei ist eine in dieser Form neue Fokussierung auf das Thema des Alltags, bzw. des Alltäglichen, das bereits in den vergangenen Bänden immer stärker in seiner simplifizierten poetischen Darstellung in den Mittelpunkt gerückt war, nun jedoch gerade im Kontext jener (wie man nur wenige Monate später sagen würde) ›popliterarischen‹ Annäherung an Tiefe gewinnt. Ein scheinbares Paradox, das die Lyrik Brinkmanns nicht nur in Was fraglich ist wofür, sondern in noch viel stärkeren Maße in den späteren Bänden der 1960er Jahre ausmachen würde; man denke nur einmal an die gleichzeitig unverblümte Darstellung und implizite, erbitterte Anklage der Reklame-Welt im ein Jahr später publizierten Band Godzilla. Karl Heinz Bohrer bezeichnet Brinkmann in seiner Rezension des Bandes in der FAZ als »skeptischen Phänomenologen«.
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Zum zentralen Paradigma entwickelt sich mit dem Gedichtband jedoch der Film; fortan wird die Ästhetik des bewegten Bildes von Brinkmann mehr und mehr auf seine Texte übertragen. Immerhin schreibt er in seiner an Hartmut Schnell in Briefform gesendeten Vita: »zwischen 1960 und 1969: leidenschaftlicher Nachtkinogänger, amerikanische B-Filme« (BrH, 114). Seine Poetologie wird er 1969 im Essay Der Film in Worten darlegen. »Film ist für ihn eine Chiffre, die einen ganzen Kosmos von Bedeutungen aufschließt. Sie bietet ihm einerseits eine Analogie für die Dynamik des Gedichts mit dessen Möglichkeit syntaktischer, semantischer und typographischer Sprünge; sodann nutzt er sie als Metapher für den menschlichen Bewusstseinsstrom, das ›Kino im Kopf‹« (Röhnert 2012, 97). So können als zentrale Gedichte des Bandes auch Film, Schlesingers Film und vor allem Von Walt Disney / für Carl-Heinz gelten. Im sehr knappen Gedicht Schlesingers Film kommt das lyrische Ich aus dem Kinosaal und denkt über die Bedeutung nach, den der gerade gesehene Film – ein nicht näher benanntes Werk des amerikanischen Regisseurs John Schlesinger – für sein eigenes Dasein haben könnte: »Sie waren / im Anfang / zu glück- / lich. Etwas // weniger, wäre / schon zuviel. / Auch da. / Alles ist // eine Frage der / Beleuchtung« (St, 121). Auch in Von Walt Disney bezieht Brinkmann den Film als konstitutives Element seines Alltags mit in seine Reflexion ein: Das lyrische Ich möchte mit einer Frau ins Kino, dort aber läuft seiner Ansicht nach »nichts Außergewöhnliches«. Doch die Langeweile zwingt die beiden dazu, den Kinobesuch als Ausweg aus ihrem Trott zu wählen, auch wenn hier die gleichen endlosen Wiederholungen wie im wahren Leben geboten werden: »Den Film kannte sie aber auch / schon, das war ihr Pech, sie stand nicht // wieder auf, und ich konnte behalten, was / ich hatte und warten bis wieder etwas / im Kino lief« (St, 143). Das Kinoerlebnis wird in seiner Künstlichkeit jedoch nicht bloßgestellt, wie es eine, in Brinkmanns Werk durchaus geläufige, Kritik materialistischer Konsumkultur vorsehen würde, sondern es wird lediglich entmythifiziert, indem es zum integralen Bestandteil des Alltags der beiden Protagonisten erklärt wird. Auch die letzten Zeilen des Gedichts, »ins / Kino gehen und zusehen, was alles heutzutage / passiert, ohne daß jemand will, daß es / passiert, vielleicht mit ihm selbst. Den Film / kannte ich aber auch schon von Walt Disney« (St, 143) nehmen Bezug auf die Gleichschaltung von populärer Kultur und Leben, die den Einfluss Ersterer auf die subjektive Wahrnehmung als
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wichtigen Bestandteil des Alltags eines Individuums impliziert. Auch Anselm Weyer unterstreicht in seiner 2012 erschienenen, eingehenden Analyse des Gedichts, es gehe hier gerade nicht um jene von Brinkmann erwähnten »B-Filme« oder anderen Werken, die in den von ihm frequentierten Nachtkinos liefen, sondern »mit dem Leben verglichen wird ein Film der konservativen amerikanischen Populärkultur« (Weyer 2012, 118). Diese Analogie ist für die Entwicklung von Brinkmanns Verhältnis zur populären Kultur – und vor allem für seine Einordnung als »Pop-Literat« von einschneidender Bedeutung, differenziert er doch schon früh zwischen den, wie Adorno geschrieben hat, ›Produkten der Kulturindustrie‹, deren Zweck es primär ist, das Individuum in seinem erdrückenden Alltag zu affirmieren, und dem Medium Film als expressive Kunstform (an der sich Brinkmann in seinen Super-8-Filmen selbst versucht hat). Diese Dualität – einerseits Schlesinger, andererseits Walt Disney – findet sich erstmals in den verschiedenen Gedichten von Was fraglich ist wofür, und verleiht dem Band seine Bedeutung, die jedoch nicht mit jener der folgenden Lyrikbänden gleichzusetzen ist. Bereits in diesen frühen (im weitesten Sinne) »Pop«-Gedichten wird deutlich, dass Brinkmann die Massenkultur weder verachtet noch verehrt, sondern sie als zentrales Moment seines Alltagstrotts empfindet, den in seiner Lyrik zu ignorieren seinem Anspruch der unmittelbaren Darstellung des subjektiven Empfindens widersprechen würde. Begeht man nicht den Fehler, der zahlreichen zeitgenössischen Kritikern wie Jost Hermand und Martin Walser unterlief, nämlich Brinkmann in die Rolle eines willenlosen Anhängers der populären Kultur zu drängen, erklären sich zudem auch seine Tiraden gegen den eigenen
»Pop-Hokuspokus« (RB, 325) in seinen späteren Materialbänden. Literatur
Fauser, Markus/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016. Hecken, Thomas: Popliteratur. Eine Einführung. Stuttgart 2015. Hermand, Jost: Pop International. Eine kritische Analyse. Frankfurt a. M. 1971. Lampe, Gerhard: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983. Müller, Agnes C.: Lyrik »made in USA«. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik. Amsterdam/Atlanta 1999. Olson, Charles: Gedichte. Aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Klaus Reichert. Frankfurt a. M. 1965. Röhnert, Jan: Die Pop-Periode. Einleitung. In: Ders./Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 95–100. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Seiler, Sascha: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Die Rezeption populärer Kultur in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Urbe, Burglind: Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a. M./Bern/New York 1985. Walser, Martin: Über die neueste Stimmung im Westen. In: Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Kursbuch 20 (1970), 19–41. Weyer, Anselm: Von Walt Disney / für Carl-Heinz. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 114–119. Zymner, Rüdiger: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009.
Sascha Seiler
18 Godzilla (1968)
18 Godzilla (1968) In einem Leserbrief an konkret forderte Brinkmann mehr »Sexbilder«, »auch Unterwäschereklame« (Sex und Politik). Diese Forderung steht im Kontext der zeitgenössischen Politisierung von Sexualität, die nunmehr in Bürgern in »ihren schwarzen Anzügen die leibhaftigen Verkörperungen des Obszönen« (Kunst in Köln?) erblickt. Um 1968 bezieht Brinkmann vielfältig zu diesen Fragen Stellung. Das Thema nimmt programmatisch weiten Raum in Acid ein; die »Tabuverletzung« soll »gegenwärtige Erstarrung« aufbrechen, um »neue Perspektiven aus einem veränderten Kulturbewußtsein heraus zu schaffen« (Informationstext, 233). Bereits früh ist Brinkmann sich jedoch auch über die Kommerzialisierung des Sexus, die »permanente[] Hörighaltung mittels Sexualgeflitter à la Hollywood[]« (Über Lyrik, 70), im Klaren: Am »Beispiel der Sexualität erweist sich der geringe Effekt abendländisch-aufgeklärten Bewußtseins: die Reklame hat sich effektiver ausgewirkt« (FW, 225). Sexualität ist als Gegenstand und Thema von Kunst kein Selbstzweck, sondern Mittel. Die zeitgenössische »Sakralisierung« des Gedichts als »›reinste‹ Kunstform« (Über Lyrik, 65) habe es zur »anti-demokratische[n] Form des literarischen Ausdrucks« gemacht. Die Sprache des Gedichts »ist ein Filter, der das Grobe, Direkte, das in der alltäglichen Umwelt aufzufinden ist, abhält.« (Über Lyrik, 66). Liebe, so wie sie im Gedicht vorkommt, sei »falsche Idyllik« (Über Lyrik, 67); »Körper, Haut, der feine Feuchtfilm auf dem Rücken und dem Gummi« (Über Lyrik, 66) seien ausgeschlossen. Obszönes Sprachmaterial kann als »Profanierung« (Informationstext, 233) die Funktion ästhetischer Verfremdung übernehmen und die Kunst ›erweitern‹ (vgl. FW, 232). Godzilla entsteht im Kontext der Arbeit an Silverscreen und Acid. Das Modell für die Präsentation der Texte bildet Tom Clarks Sonett (Acid, 111; Zier 2012, 224). In der »Porno-Lyrik« von John Giorno sind die Themen »Sex und Gewalt« als »found poetry« kombiniert (FW, 260). Brinkmann greift eine »Grundtendenz« der aktuellen amerikanischen Lyrik auf, »zu kopieren, ein Vorhandenes in das Gaghaft-Flache zu verändern, das Tiefsinnig-Innerliche und ›Gedankenreiche‹ in die Tiefe der Oberfläche, d. h. in das Konkrete zu verschieben, zu vulgarisieren« (FW, 264). Godzilla erschien als Künstlerbuch mit einer Handzeichnung von Karl Heinz Krüll in limitierter Auflage als Nr. 9 der von Walter Aue herausgegebenen Reihe Tangenten im Wolfgang Hake Verlag. Brinkmann be-
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zeichnete es später als »kleines Lyrikheftpamphlet« (BrH, 81). Die Gedichte sind auf Ausschnitten von Farbfotos für einen Werbekatalog, hauptsächlich für Bademoden, gedruckt, nicht auf Titelseiten des Stern (BrH, 109; Hecken 2012, 129), wobei die gewählten Bildausschnitte in den Exemplaren der Auflage wechseln. Vermutlich ist jedes einzelne Buch ein Unikat. Brinkmann hat Godzilla als »Zyklus« (BrH, 109) bezeichnet. Die eher lockere Verbindung der Texte entsteht durch thematische Verbindungen, die Verwendung obszönen Sprachmaterials, die Anordnung der Einzelgedichte, Formelemente und die Figur Godzilla. Das Motto exponiert wichtige Aspekte: Vor der ausgewählten Strophe von Tom Clarks Nach Abälard heißt es »Ich möchte sterben im Orgasmus« (Acid, 109). Liebe und Gewalt bzw. Tod sind die beiden zentralen Themen. In der Abfolge der Texte verschiebt sich der thematische Schwerpunkt: Die ersten Gedichte sind der Liebe gewidmet – mit Godzilla und der Vogel findet sich erst spät das erste Gedicht, in dem sie nicht vorkommt. Das Thema Gewalt setzt mit Godzilla-Baby ein und prägt den Schluss des Zyklus’. In demonstrativer Wendung gegen die Konventionen der Liebeslyrik ist Sexualität einbezogen; es geht um die Gesamtheit von Liebe. Die Gedichte entfalten einen Gegensatz: Auf der einen Seite steht die Unendlichkeit der Liebe (»Wenn er alle / Gedanken auf / einmal an sie / bei Gelegen- // heit zu Ende / denken könnte«; St, 161) bzw. die Totalität des Begehrens (der Blick des Onanierenden als »Blick / in ein endloses Loch«; St, 162), die eine Formel Musils (Pornographie als »der letzte Rest der Mystik«, Musil 1978, III.769) aufgreift. Die einschlägige Formel des Mottos ist »Heiliges Land« (St, 159). Andererseits wird Liebe in je begrenzten Situationen und Augenblicken erfahren. Daraus ergibt sich eine Paradoxie, die im Gedicht Godzilla in die paradoxe Formel des »was er fühlt / wenn er etwas / fühlt, was nicht da ist« gefasst wird, die wiederum in die Tautologie »was man hat / das hat man, was / nicht, das nicht« (St, 161) übersetzt wird, ohne dass jedoch beides ineinander aufgeht. Das Bild gestaltet diesen Gegensatz als Epiphanie im Alltag und übersetzt ihn in die apophatische Opposition von ganzem Sinneseindruck und partialisierender Verschriftung. Der männliche Blick dominiert; im Regelfall erscheint er als neutrale, distanzierte Perspektive. Ein Gedicht bringt den Blickwinkel der Frau zur Geltung (Französisch). In drei Fällen spricht ein »wir« (Godzilla-Baby; Gedicht; Godzillas Ende). Ein lyrisches Ich erscheint als onanierendes (Meditation über Pornos, Celluloid 1967/68) oder sexuell agierendes (Das sexuelle Rot-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_18
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käppchen), einmal auch als gewalttätiges (Godzilla und der Vogel) Ich. Begehren und Sexualität werden von der Onanie bis zum Sexualakt, vom obszönen Anruf bis zur Homoerotik, von der sexuellen Begegnung bis zur Sexualität als Ware breit aufgefächert. Der Themenkomplex Gewalt und Tod nimmt demgegenüber einen geringeren Raum ein. In GodzillaBaby wird ein sexuell aktives Paar von stürmender Polizei gestört; diese Filmszene wird von einer Verletzung der »Hausfrau / von einem Bauchschuß // getroffen« (St, 167) gerahmt. Miteinander verbunden sind die beiden Hauptthemen im toddrohenden obszönen Anruf in Godzilla telefoniert so gerne. Die an der amerikanischen Gegenwartslyrik hervorgehobene Tendenz zum Gag findet sich in der comichaften Gewalt von Godzilla und der Vogel. Fragen des Medialen sind in den Texten nicht so dominant, wie man angesichts der Forschung annehmen sollte, auch wenn das Filmungeheuer Godzilla dem Zyklus den Namen gegeben hat. Pornographische Fotos werden der sexuellen Phantasie nutzbar gemacht (Meditation über Pornos); das erotische Versprechen Hollywoods scheint im obszönen Reigen des Bewusstseinsstroms beim Onanieren auf (Celluloid 1967/68). In beiden Fällen ist weniger das Betrachtete – Pornoheft oder Starkult – als vielmehr die Sensibilität des Ich entscheidend, was in den Verschreibungen der Filmstarnamen erkennbar wird. Die Perspektive ist uneindeutig: einerseits ist die sexuelle Phantasie überlagert von den optischen Codes der Pornographie und des Kinos, andererseits dienen diese als Material des Begehrens. In Godzilla-Baby interferieren die Ebenen von Fernsehen und Alltag. In Andy Harlot Andy ist der Blick auf den Andy Warhol-Film Harlot (Gemünden 1995) gerichtet, der einen Transvestiten zeigt, der mit Hollywood-Inszenierungen von weiblichen Stars und den impliziten erotischen Subtexten in der Weise des Camp spielt. Wer oder was ist Godzilla? Die einzelnen Gedichte bieten kaum Informationen zur Klärung dieser Frage. Der spätere Hinweis, Godzilla sei ein »Filmmonster« »aus einem japanischen Horror-Comic-Film« (BrH, 109), enthält neben dem Verweis auf das Kino die Betonung einer nicht-realistischen, comichaften Darbietung von Gewalt, bietet aber auch nicht mehr als eine eher assoziative, wenig präzise Verbindung zur Vorlage. Brinkmann scheint sie nicht einmal so deutlich vor Augen zu haben, dass ihm klar wäre, dass es sich um eine Serie handelt. Diese Lücke ist in der Forschung mit Georg Seeßlens Deutung der Filme ausgefüllt worden (Urbe 1985, 100 ff.), die aber nicht un-
bedingt die Brinkmanns sein muss. Angesichts der programmatischen Wendung Brinkmanns gegen Symbol und Metapher ist eine symbolische Ausdeutung Godzillas nicht recht plausibel. Naheliegender scheinen Parallelen zu Verfahren der Pop-Art, etwa bei Robert Rauschenberg und dessen Comic-Gemälden, bei denen eine Entsemantisierung des Vorlagematerials zu beobachten ist. Demnach wäre Godzilla hier Zitat und Pop-Ikone. Formal fungiert Godzilla als Kohärenzmittel – der Band wird mit Godzilla eröffnet und mit Godzillas Ende beschlossen –, so dass man den Gedichten mit Godzilla im Titel – bezeichnenderweise nie im Gedichttext – eine etwas herausgehobene Funktion im Zyklus zubilligen könnte. Godzilla-Baby wirft ein Schlaglicht auf eine durch die Medien veränderte Realität; Godzilla telefoniert so gern verbindet die beiden Hauptthemen miteinander; Godzilla und der Vogel realisiert programmatisch Comic-Gewalt und das Gaghafte. Godzillas Ende schließt im letzten Vers (»›das ist das Ende!‹ Es ist das Ende«, St, 182) mit überredundanter Betonung des »Endes«, die mehrere mögliche Bedeutungen eines Endes anklingen lässt. In einzelnen Fällen, aber nicht dominant, lassen sich poetologische Themen ausmachen, wie etwa beim Unsagbarkeitstopos in Das Bild. Am deutlichsten findet sich das in Andy Harlot Andy, das aufgrund seiner Perspektive auf ein Kunstwerk zugleich hermeneutische Fragen aufwirft – bedeutet die Banane oder ist sie nur Obst. Der Text des Mottos ist gegenüber der Vorlage von Clark verändert, wobei insbesondere die Umsetzung der ohnehin schon prosanahen Verse in einen Prosatext auffällt. Die Grenze zwischen Vers und Prosa ist eine letzte Grenze; die dauerhafte Überschreitung dieser Grenze macht das Konzept des Gedichts obsolet. Die lyrische Auslotung der Grenze zwischen Prosa und Vers gibt Godzilla ein poetologisches Thema vor. Die Gedichtformen sind durch das Druckbild indiziert und in Einzelfällen durch den Silbenfall auch metrisch organisiert (Godzilla); die Syntax überspielt Vers- und Strophengrenzen, so dass die Spannung zwischen optisch strenger Form und legerem formlos scheinendem Prosastil die Gedichte bestimmt. In Godzilla lassen sich drei Gedichttypen unterscheiden: zum einen nach dem Vorbild des Clark-Gedichts gleichgebaute Scheinstrophen mit abschließender, seltener einleitender Einzeilerstrophe, Couplet oder Triplet; zum zweiten Scheinstrophen mit variabler Silbenzahl, zum dritten Gedichte mit noch zurückhaltend eingesetzter spatialer Textanordnung (Celluloid 1967/68, Banana).
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Die Beziehung zwischen Text und Bild hat die Forschung intensiv beschäftigt (Urbe 1985, 99 ff.; Strauch 1998, 53 ff.; Moll 2006, 188 ff.; Röhnert 2007, 318 ff.; Steinaecker 2007, 116 ff.; Cappelmann 2010; Rümmele 2012, 175 ff.; Schmitt 2012, 187 ff.). Aufgrund der Publikationsform ist jedem Gedicht mindestens ein farbiges Foto als Druckunterlage zugeordnet. Allerdings ist die Verbindung von Einzelgedicht und Foto insofern zufällig, als die Herstellung mehrere abweichende Kombinationen erzeugt hat. Die Druckanordnung folgt nicht dem Bildaufbau, sondern ist am Blattformat ausgerichtet: die Überschriften stehen stets am oberen Seitenrand auf gleicher Höhe, die Gedichttexte sind am unteren Rand des Blattes ausgerichtet, auf dem das Gedicht endet (vgl. u. a. Celluloid 1967/68). Die Vorlagen sind auf das Buchformat zugeschnitten, so dass die abgebildeten Mannequins nur fragmentiert dargestellt sind (Fliethmann 2012, 123). Dominant sind Brust- und Schambereich im Bildzentrum; es finden sich jedoch auch Porträts. Die Fotos folgen als Werbefotos einem spezifischen Konzept; die erotischen Aspekte sind ökonomisch funktionalisiert, in der Semantik der Zeit verdinglicht. Einerseits bilden primäre Geschlechtsmerkmale das Bildzentrum, sie sind aber andererseits durch die Kleidung und die Art der Fotografie entschärft. Das Verhältnis der Gedichte zu den Fotos ist keine Verknüpfung zu individueller Gestaltung, sondern eher ein Kontrast (Pickerodt 1991). Ein Zyklus individueller Gedichte steht einer Serie von Gebrauchsfotos gegenüber. Die Kontrastwirkung wird vor allem durch den Einsatz obszönen, d. h. gesellschaftlich inakzeptablen, anstößigen Sprachmaterials erzielt. Nach dem auf die Unendlichkeit der Liebe abzielenden Eingangsgedicht setzt die folgende Meditation über Pornos den komplementären Akzent sowohl im Thema wie im obszönen Vokabular. Es rekurriert auf die Liberalisierung und intensive Diskursivierung von Sexualität. Am einen Ende der Skala findet sich die amerikanische dirty speech-Bewegung mit ihrer Überzeugung von der gesellschaftssprengenden Kraft des Obszönen, am anderen Ende die Kritik an der Warenförmigkeit als Ausdruck der Verdinglichung des Sexus (Späth 1986, 151 ff., Schäfer 1998, 205 ff.). Brinkmann verwendet das Vokabular des Obszönen, ohne es an die zeitgenössischen Diskurse anzuschließen und damit zu vereindeutigen, im Sinne einer Erweiterung der lyrischen Sprache wie einer qualitativen Veränderung der Liebessemantik. Godzilla ist als abgelegene Publikation aus einem Kleinverlag nicht wahrgenommen worden; bislang ist
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keine Rezension bekannt. Erst der Nachdruck in Standphotos – die Fixierung einer bestimmten Ausgabe in schwarz-weiß – hat den Zyklus bekanntgemacht. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Sex und Politik. In: konkret 1966, H. 6, 8. Brinkmann, Rolf Dieter: Über Lyrik und Sexualität. In: Streit-Zeit-Schrift 7 (1969), Nr. 1, 65–70. Brinkmann, Rolf Dieter: Kunst in Köln? In: Wulf Herzogenrath/Gabriele Lueg (Hg.): Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole. Köln 1986, 552. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Informationstext zu Brinkmann/Rygulla: ›ACID‹. In: Ulrich Ott/Friedrich Pfäfflin (Hg.): Protest! Literatur um 1968. Marbach 1998, 232–234. Cappelmann, Ina: Bild-Körper und Körper-Bilder im lyrischen Werk von Rolf Dieter Brinkmann. Einsatz und Wirkungsweisen eines Motivs. In: Thomas Boyken/Dies./Uwe Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. Paderborn 2010, 125–142. Ehrlicher, Hanno: Ästhetik der Entblößung. Rolf Dieter Brinkmanns literarische Nacktheitsinszenierungen zwischen Sinnkrise und Sinnlichkeitsutopie. In: Kerstin Gernig (Hg.): Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Köln/Weimar/Wien 2002, 273–299. Fliethmann, Axel: Fotographie und Literatur. Überlegungen zur Mediendifferenz am Beispiel von Foto-Texten. In: Franz-Josef Deiters/Axel Fliethmann/Christiane Weller (Hg.): Groteske Moderne – Moderne Groteske. Festschrift für Philip Thomson. St. Ingbert 2011, 389–406. Fliethmann, Axel: Godzilla [Gedichtzyklus]. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012, 120–129. Gemünden, Gerd: The depth of the Surface, or, What Rolf Dieter Brinkmann Learned from Andy Warhol. In: German Quarterly 68 (1995), 235–250. Hecken, Thomas: Celluloid 1967/68. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012, 129–135. Hiller, Marion: Kreis, Punkt, Linie. Poetische Verfahren und Medialität in R. D. Brinkmanns »Die Umarmung«, »Die Stimme« und »Godzilla«. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 125–156. Lampe, Gerhard W.: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983. Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt a. M. u. a. 2006. Musil, Robert: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978. Okun, Kirsten: Unbegrenzte Möglichkeiten. Brinkmann – Burroughs – Kerouac. Sexualität, Körper und Transgression als Subversion dualistischer Denkmuster. Bielefeld 2005. Pickerodt, Gerhard: »Der Film in Worten«. Rolf Dieter Brinkmanns Provokation der Literatur. In: Weimarer Beiträge 37 (1991), 1028–1042.
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Pieczyk, Liesa: Godzilla meets Miss Maus. Norm versus Phantasma in Rolf Dieter Brinkmanns »Godzilla«. In: Thomas Boyken/Ina Cappelmann/Uwe Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. Paderborn 2010, 143–157. Pieczyk, Liesa: Das sexuelle Rotkäppchen. In: Jan Röhnert/ Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Berlin 2012. Bd. 1, 136–142. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012.
Späth, Sibylle: »Rettungsversuche aus dem Todesterritorium«. Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986, 151 ff. Steinaecker, Thomas: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografie in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007. Stolz, Dieter: »Zuviele Wörter. / Zuwenig Leben.« oder »He, he, wo ist die Gegenwart?« Lyrik und Fotografie am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmann. In: Sprache im technischen Zeitalter (1995), H. 133, 98–117. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studien zur TextBild-Montagetechnik. Tübingen 1998. Sutherland, Marielle: Sex, Wort und Bild in Godzilla. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts. Vechta 2000, 168–171. Urbe, Burglind: Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a. M. 1985. Zier, Tobias: Literarische Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte. Evidenzverfahren in den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmanns. Diss. Bonn 2012.
Hans-Edwin Friedrich
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19 Die Piloten (1968) Nach Was fraglich ist wofür (1967) war Die Piloten (1968) Brinkmanns zweiter Gedichtband, der bei Kiepenheuer & Witsch verlegt wurde. Die Gedichte entstanden zu einer Zeit, in der sich der Autor eingehender mit der Populärkultur beschäftigte, und wurden in der Forschung als »Wendepunkt« im Werk eingestuft (Boyken 2009, 54). Hollywood-Stars und massenmediale Trivialmythen – von Liz Taylor und Humphrey Bogart über Coca Cola und Persil bis zu Tarzan und Batman – bilden neben unscheinbaren alltäglichen Details Themenkomplexe des Bandes. Die titelgebenden »Piloten« rufen sinnbildlich die explorative Erkundung neuer Wahrnehmungsräume auf. Ab 1959 erschien in Frankreich eine Comic-Serie mit dem Titel Pilote. Das DLA Marbach besitzt die noch nicht erschlossene Sammlung mit den Magazinen, die Brinkmann von Rygulla bekommen hat. Werkgeschichtlich ist der Band Brinkmanns ›PopPhase‹ zuzuordnen (vgl. etwa Schäfer 1998). Er wird meist in einen Entstehungszusammenhang mit seinen Übersetzungen amerikanischer Lyrik, seiner Arbeit an den Anthologien Acid und Silverscreen (beide 1969, s. Kap. 36 u. 37) sowie den Nachfolge-Lyrikbänden Standphotos (1969) und Gras (1970) gebracht. Mit Frank O’Hara, dem die Gedichte gewidmet sind, ist in der vorangestellten Notiz eine der wichtigsten literarischen Bezugsgrößen für Brinkmanns Piloten benannt. Der umfangreiche Band mit 63 Gedichten gliedert sich in drei Teile, denen jeweils ein verfremdeter Comic-Strip vorangestellt ist. Brinkmann setzt seine Programmatik einer Erweiterung des literarischen Stoffund Motivbereichs um, indem er Comics als Inbegriff des Trivialen zum integralen Bestandteil des Lyrikbandes macht. In den drei Comic-Strips lässt er Dick Tracy, Nancy, Fred Feuerstein und Yogi Bär den Kampf zwischen Hoch- und trivialer Populärkultur austragen, den die Figuren aus den amerikanischen »Kitschcomics« gewinnen. In der zeitgenössischen Rezeption wurde mit Blick auf Die Piloten bisweilen Kritik an Brinkmanns vermeintlich naiv-affirmativem Verhältnis zur Populärkultur geübt (vgl. etwa Bohrer 1968). Dass er sich im Gegenteil überaus differenziert und auch kritisch damit auseinandersetzte, wurde in der Forschung gezeigt (u. a. Baßler 2005; Jacob 1999; Lampe 1983; Späth 1986). Flankiert werden die Gedichte von der einleitenden Notiz und dem Nachtrag zu dem Gedicht über Graham Bonney etc. Es ist das erste Mal, dass Brinkmann sei-
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nen Gedichten programmatische Texte beifügt; er wird an diesen »peritextuelle[n] Inszenierungspraktik[en]« (Detken 2011, 271) festhalten und sie perfektionieren. Die Notiz steht in einem diskursiven Zusammenhang mit anderen programmatischen Texten dieser Schreibphase: Dazu zählen Einübung einer neuen Sensibilität, Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille«, Der Film in Worten, Zu amerikanischen Gedichten und zu der Anthologie Silverscreen sowie Die Lyrik Frank O’Haras (s. Kap. 15). Im November 1968 beteiligte sich Brinkmann zudem an der Fiedler-Debatte (s. Kap. 4.2) und formulierte sein literarisches Programm noch einmal polemisch und öffentlichkeitswirksam aus, mit dem er sich – wie schon in der Notiz – von den »lebende[n] Tote[n]« (Piloten, 6) des westdeutschen Literaturbetriebs abgrenzte. In der Notiz setzt Brinkmann produktions- wie rezeptionsästhetisch auf assoziative Spontaneität, auf Unmittelbarkeit, Präsenz und intuitive aisthēsis (als ein Erkennen mithilfe der Sinne im Gegensatz zur rational-begrifflichen Durchdringung). Seine Emphase der Oberfläche, die er gegen eine Hermeneutik der Tiefe in Stellung bringt, beschränkt sich nicht auf eine bloße Präsentation literarischer ›ready-mades‹. Das alltägliche Material, das »allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht« (Piloten, 8) ist für Brinkmann vielmehr der Ausgangspunkt, um die psychische und physische Kondition des Schriftstellers so genau wie möglich in das Gedicht zu überführen, das für ihn die geeignetste Form ist, um »spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten« (6). Brinkmann beschreibt hier eine subjektive Wahrnehmungsqualität, von der er annimmt, dass sie verallgemeinerbar sei: »Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel [...] das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht [als] scheinbar isolierte Schnittpunkte« (ebd.). Im Anschluss an Arbeiten zu Brinkmanns lyrischen Präsenzkonzepten (Fauser 2016) und seinen Praktiken der Inszenierung von Autorschaft (Detken 2011; Niefanger 2011) kann sein poetologisches Programm unter Berücksichtigung des kulturindustriellen Konzepts der Pop-Musik (Diederichsen 2014) um eine medientheoretische Dimension erweitert werden. Brinkmanns Position um 1968 ist gekennzeichnet durch die Konvergenz von Rezeption und Produktion in einem bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht dagewesenen Ausmaß: Er ist Fan (der Doors, der
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_19
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Rolling Stones, der amerikanischen Underground-Lyrik usw.) und Schriftsteller. Die in der »Notiz« aufgerufenen poetologischen Leitkategorien der Spontaneität, des Augenblicks, der Subjektivität und des Alltags als Bezugsgröße sind konstitutiv für Ästhetiken der Pop-(Musik-)Avantgarde dieser Jahre, die Brinkmann nachhaltig beeinflussten. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre werden die Grenzen zwischen den Künsten durchlässig; kreative (musikalische) Energien entladen sich in einer Reihe von Konzeptalben gleichsam ›explosionsartig‹ (vgl. Savage 2015). In der Notiz wird mit den Rolling Stones und den Fugs die Pop-Musik zwar erwähnt, in den Gedichten selbst sind es jedoch Figuren aus den Unterhaltungsmedien, auf die Brinkmann Bezug nimmt – in erster Linie auf ›überholte‹, aber weiterhin wirkmächtige Posen – Humphrey Bogart, Charlie Chaplin, Frank Sinatra –, oder auf den Schlagersänger Graham Bonney. Lediglich das Gedicht Als Eier, das Tuli Kupferberg und Ed Sanders von den Fugs gewidmet ist, bildet eine Ausnahme. Es lassen sich jedoch strukturelle Analogien zwischen medialen Spezifika der Pop-Musik und Brinkmanns ästhetischer Praxis um 1968 herausarbeiten. Zum Pop-Avantgarde-Kontinuum mit seinen neuartigen Konzepten von künstlerischer Produktion, Rezeption und Autorschaft zählte auch der literarische New Yorker Underground, der Brinkmann elektrisierte. Wie die angloamerikanische Pop-Musik wurde diese Szene mit zeitlicher Verzögerung nach Westdeutschland importiert. Brinkmann war kein Teil des amerikanischen Produzenten-Zusammenhangs, sondern in erster Linie Rezipient. Er setzt sich mit O’Hara oder Ted Berrigan auf eine Weise auseinander, wie Fans Pop-Stars wahrnehmen. Die zentrale Einheit der Pop-Musik bildet die »Pose«. Es handelt sich um ein medial vermitteltes komplexes Gefüge körperlicher Haltungen, das »zur Verfügung steht, die anderen Haltungen zu bestätigen, die sich in Texten, Covern, Musik und aufgezeichneter Körperlichkeit äußern« (Diederichsen 2014, 138). Um 1968 rezipiert Brinkmann Posen, lyrische und musikalische Sounds, Autor-Images, aber auch Kinohaltungen als Fan (vgl. seine Huldigung Frank O’Haras, die weit über literarische Belange im engeren Sinne hinausgeht) und beweist dabei ein feines Sensorium für mögliche und unmögliche Attitüden (vgl. das Gedicht Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt). Seiner Lyrik stellt Brinkmann seit Die Piloten programmatische Texte zur Seite, die – wie die Gedichte – neben Details aus seinem Alltagsleben (vgl. den Nachtrag, in dem ein Abend mit seiner Frau Maleen
im »Olshausen« geschildert wird) auch seine Rezeptionserfahrungen ausstellen und ihn als kulturellen Praktiker inszenieren. Eine eigene Pose entsteht, wobei Brinkmann auf die Verknüpfung von Image und (sprachlichem) Sound setzt. Die auffällige Gestaltung des Covers zu Die Piloten sticht als Bekenntnis zu einer neuen Ästhetik unmittelbar ins Auge. Brinkmann gestaltete es in stilistischer Anlehnung an das BeatlesCover der LP Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) selbst (Grasskamp 2004; Kemper 2017). In der bunten Collage aus Comic-Bildern, Fotos von Filmund Popstars und von Freunden und Familienmitgliedern (vgl. BrH, 131) findet sich auf der Rückseite auch eine Fotografie des Autors, versehen mit der Sprechblase »IT IS NOT ENOUGH TO LOVE ART! ONE MUST BE ART!« Autorschaft in der Pop-Musik ist gekennzeichnet durch die Verschaltung von Expressivität und Performance, von Selbst und Rolle. Brinkmann ›übersetzt‹ die »Konvergenz von Sänger und Songwriter, von Performer und Performtem« (Diederichsen 2014, 142) in das Medium Literatur. Daraus speist sich seine Emphase der subjektiven Dimension beim Schreiben, die eine Absage an konventionelle und vorstrukturierte Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen erfordert (gegen ›Stil‹ und für eine möglichst direkte Wiedergabe von Wahrnehmungen). Stattdessen setzt Brinkmann ganz auf Spontaneität im Tun, wobei die angestrebte Unmittelbarkeit eine inszenierte ist und somit durchaus Ergebnis von Reflexion und Arbeit an der Form. Mit Die Piloten intensiviert Brinkmann seine Versuche, analog zum Sound und zur Star-Körperlichkeit der Pop-Musik in seinen Gedichten das Somatische, die ›Existenzweise‹ des schreibenden Ich möglichst unmittelbar zu materialisieren – wie er es in Bezug auf O’Hara ausdrückt: »Das Gedicht ist Frank O’Hara« (FW, 210). Die expressive Dimension soll sich über eine ›erschriebene‹ bzw. sich schreibend vollziehende Performativität im Gedicht realisieren. Formale Mittel wie die Setzung der Enjambements rhythmisieren die Sprache auf eine Weise, die mit den Mitteln der Literatur auf etwas aus ist, das der unverkennbaren Einmaligkeit der Stimme und des Sounds entspricht, die in der Pop-Musik die lyrics tragen (vgl. z. B. Der nackte Fuß von Ava Gardner, Es ist hell, Bestimmte Orte). Dabei zielt Unmittelbarkeit bei Brinkmann nicht auf eine ›mediale Mimikry‹ im Sinne einer direkten Übertragung von Bildern in die Sukzession des sprachlichen Syntagmas. Die Gedichte in Die Piloten sind Gedichte, keine Fotografien, das musste auch Brinkmann bewusst gewesen sein. Die in der Notiz formulierte
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Poetik der Präsenz ist nicht als phantasmatische Verkennung der medialen Differenzqualitäten von Sprache und Index zu verstehen, sondern als Versuch einer Engführung von Schreiben und Wahrnehmen. Brinkmann erweitert in Die Piloten den literarischen Motiv-Bereich um Topoi aus der populären Massenkultur, der Band ist jedoch im Zusammenhang mit den beiden vorangegangenen Lyrikbänden &Gedichte (1966) und Was fraglich ist wofür (1967) zu betrachten (vgl. Fauser 2016), die Rede vom »Wendepunkt« ist insofern ein Stück weit zu relativieren. Brinkmann verschränkt die kinetischen Pop-Intensitäten mit bestehenden Poetiken einer lyrischen ›FormDynamik‹ US-amerikanischer Autoren, die den Begriff der Rhythmik »im Konzept einer lebensweltlichen Phänomenologie verankert« (Meyer-Sickendiek 2014, 370). Seine literarischen Vorbilder sind u. a. William Carlos Williams, Charles Olson und Robert Creeley, die in den 1960er Jahren von Walter Höllerer, Karl Krolow oder Klaus Reichert rezipiert und im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht worden waren. Brinkmann wird seine Arbeit an der Materialisierung des Somatischen im Gedicht in den folgenden Jahren weiterführen und die energetische Aufladung der Sprache bis zu einem Grad intensivieren, der Nicolas Born mit Blick auf Brinkmanns Gedichte in Westwärts 1 & 2 formulieren lässt: »Die Syntax dieser Gedichte ist sein Temperament. Niemals stößt man auf bloß rhetorische Figuren oder poetisierende Kürzel. Es ist so, als stünde hinter jedem Vers eine seiner ganz realen Körpergesten« (Born 1980, 127). Literatur
Baßler, Moritz: Zur Semiotik des Markennamens in literarischen Texten. In: Thomas Wegmann (Hg.): Markt: literarisch. Frankfurt a. M. u. a. 2005, 171–181. Bohrer, Karl Heinz: Dem Teufel folgt Beelzebub. Rolf Dieter Brinkmann, seine neuen Gedichte Die Piloten und amerikanische Romantizismen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.10.1968). Born, Nicolas: Stilleben einer Horrorwelt. In: Petrarca-Preis. Rolf Dieter Brinkmann, Sarah Kirsch, Ernst Meister, Her-
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bert Achternbusch, Alfred Kolleritsch, Zbigniew Herbert 1975–1979. Redaktion Joachim Heimannsberg. München 1980, 125–128. Boyken, Thomas: Darüber, »daß Helden einsam sind / wenn das Licht angeht«. Zu Männlichkeitsimaginationen im lyrischen Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Katja Kauer (Hg.): Pop und Männlichkeit. Zwei Phänomene in prekärer Wechselwirkung? Berlin 2009, 51–70. Detken, Anke: »Besser als ein Gedicht / ist eine Tür, die / schließt«: Inszenierungsstrategien und Traditionsverhalten Rolf Dieter Brinkmanns. In: Christoph Jürgensen (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, 269–291. Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014. Fauser, Markus: Die Energie der Form. Lyrische Präsenz bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 55–73. Grasskamp, Walter: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur. Berlin 2004. Jacob, Joachim: Erinnerungen an die Gegenwart: Zu zwei Gedichten Rolf Dieter Brinkmanns. In: Sprache und Literatur 30/2 (1999), 62–72. Kemper, Peter: Sgt. Pepper. Stuttgart 2017. Lampe, Gerhard: Subjekte ohne Subjektivität. Interpretationen zur Prosa Peter Handkes und zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Bonn 1983. Meyer-Sickendiek, Burkhard: »creating a spontaneous bop prosody«: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88/3 (2014), 369–391. Niefanger, Dirk: Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann und die Moderne. Bielefeld 2011, 65–82. Savage, Jon: 1966. The Year the Decade Exploded. London 2015. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Späth, Sibylle: »Rettungsversuche aus dem Todesterritorium«. Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986.
Anna Estermann
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20 Vanille (1969), Wortwechsel (1969/70) 20.1 Vanille (1969) Brinkmanns Langgedicht (s. Kap. 23.1) Vanille erschien 1969 in der Sammlung März-Texte 1. Der Text wird durch ein der Anthologie vorangestelltes Statement des MÄRZ VERLAGs und durch Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille« von Rolf Dieter Brinkmann selbst eingeordnet. In den Anmerkungen zum Gedicht gibt Brinkmann an, das Gedicht in sechs Tagen ab dem 12. Oktober 1968 geschrieben zu haben; mit einer längeren Pause nach dem ersten Tag bis zum 26. März 1969 (März Texte 1, 141). Am Ende des Gedichttexts werden dementsprechend »12.X.1968 und 26./27., 29./30.III. und 1.IV.69« als Daten genannt. Das Gedicht ist ausschließlich in der März-Texte-Sammlung und deren Reprints erschienen. In Brinkmanns Gedichtbänden kommt es nicht vor. Jörgen Schäfer, der in seinem Artikel zahlreiche Anspielungen decodiert, führt das darauf zurück, dass das Gedicht noch mehr als die anderen Gedichte Brinkmanns durch viele Zeitbezüge im Kontext der Entstehungsjahre 1968 und 1969 verhaftet sei (Schäfer 2012, 282). Im Statement des Verlags wird proklamiert, es handele sich um »Publikationen, deren Tendenzen die Erweiterung bestehender literarischer und politischer Bewusstseinsformen meint« (März Texte 1, 5). Gefordert wird eine Literatur, die sich als politisch und progressiv versteht und sich so aus »den abstrakten kulturellen Ansprüchen« herauslöst. Das Gedicht ist eine Collage aus Versen, Zitaten, Anzeigen, Briefen und Bildern. Zweizeilige Strophen, mehrzeilige Strophen, einzelne Verse und Prosa wechseln sich beständig ab, verknüpft und durchbrochen von einer aufwendigen Typographie mit Absätzen, Zeilenbrüchen, Kursivsetzungen, Fettdrucken, Majuskeln, Textblöcken, Trennstrichen und Asterisken. Das Gedicht bricht bereits auf formaler Ebene mit klassischen Gedichtformen. Der relativ lange Umfang von 35 Druckseiten führte zur Bezeichnung Langgedicht (Kramer 2001; Stamper 2001). Der Text nimmt an einigen Stellen kommentierend konkreten Bezug auf das Verhältnis von Form und Inhalt, etwa wenn die Bedeutung zweier montierter Zeitungsmeldungen (eine fett gedruckte über den millionenschweren Verkauf eines Gemäldes von Renoir und eine regulär gedruckte über einen Rolls-Royce) relativiert wird: »trotz des Fettdrucks ist die Kurzmeldung
vom neuen Rolls-Royce, die / nicht fettgedruckt ist, heute morgen wichtiger / während / der Fettdruck nur die Tatsache deutlich macht, daß 6,2 Millionen D-Mark für ein Bild entschieden zuviel ist für jemanden, der schon eine Weile tot ist« (Vanille, 108). Dem Text sind drei Zeitungsmeldungen, eine Wettermeldung, eine Traueranzeige, zwei Verpackungstexte, ein Autorenfoto, eine Bildanzeige, einige, teils pornographische Fotos von Frauen und mehrere Filmtitel collagenhaft eingearbeitet. Übergreifend präsentiert sich der Text als eine Art Bewusstseinsstrom, dessen Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Themen und Medien hin und her wandert. Zeit-, Datums- und Ortsangaben (»überall ist es / schon 10 Uhr 37, ein / Samstag«, »5 Köln-Lindenthal, den 23.9.1968«) verorten die Diegese in der Entstehungszeit des Gedichts. Unter anderem wird die Schreibpause, die Brinkmann bei diesem Text einlegte, konkret thematisiert: »12.10.68: das war vor langer Zeit«, »26.3.69. In der Zwischenzeit ist das »Leben« weitergegangen, vielen Dank, Gedicht!« (Vanille, 117). Daneben stellt die Einarbeitung eines Briefes von Walter Hinck vom Germanistischen Institut der Universität zu Köln an Brinkmann Bezüge zur Lebenswirklichkeit her. Brinkmann wurde zur Lesung am 5. Februar 1968 eingeladen (Vanille, 108). Im Text wird der Eindruck erzeugt, der Text bilde die Gegenwart des Autors ab. Betont wird so die Verhaftung von Lyrik im Gegenwärtigen. Brinkmanns Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille« bestätigen diese Lesart: »[I]ch bin der Ansicht, daß sich lange Arbeitszeiten für ein literarisches Produkt gewöhnlich nicht ›lohnen‹. [...] Meine Einstellung zu dieser Arbeit war, sie so offen wie möglich zu halten, darüberhinaus gab es keine weitere Vorstellung, was das Gesamte des Gedichts betrifft, d. h. das ›Thema‹ war jeweils völlig dem im Augenblick des Schreibens sich anbietenden Material auszuliefern« (Vanille, 141). Literatur erweist sich so als Darstellung des Hier und Jetzt, wahrgenommen durch das lyrische Ich. Vermittelt wird diese Gegenwärtigkeit durch Alltagsszenen, die den Text durchsetzen: »›Was ist los?‹ / ›Ich hab Schlafpillen genommen.‹ / ›Gute Nacht!‹«, »Morgen gibt es Goulasch und dazu Erbsen und Möhren und hinterher Vanillepudding von Dr. Oetker«, »Der Wasserhahn läuft.«, »›Parkzeit ist hier begrenzt auf drei Minuten. Drei Minuten, deshalb der Strafzettel an Ihrem Wagen!‹«. Gerade diese Alltagsszenen werden häufig durch direkte Rede wiedergegeben, was den Rezipienten durch die Distanzlosigkeit eines dramatischen Modus scheinbar zum unmittelbaren Zeugen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_20
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des Geschehens werden lässt. Autobiographeme und dieses mimetische Verfahren suggerieren, an der Wirklichkeit Brinkmanns teilzuhaben. Dass dabei aber eben nicht nur die außerliterarische Wirklichkeit Brinkmanns wiedergegeben wird, zeigen von der Realität abweichende Filmtitel und Filmstar-Referenzen. Einen Film mit dem vermeintlich zitierten Filmtitel »›Ich zähmte die Wölfin‹ / nach Henry / James, in Szene gesetzt von Roger Vadim mit dem toten Gérard / Philippe / in der / Hauptrolle« (Vanille, 114 f.) hat es so nie gegeben. Auch der Name »Laura Pennigton« ist nicht korrekt, sollte er auf die Figur Laura Pennington aus dem Film The enchanted cottage anspielen (vgl. Schäfer 2012, 279). Statt die Gegenwart des Autors wiederzugeben, wird vielmehr die Wahrnehmung der Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven eines lyrischen Ichs vermittelt. Diese Subjektivität der Lyrik befreit sie von historischer Korrektheit und traditionellen Gattungszwängen. Vanille nimmt durch den Zeitungsausschnitt, der von einer Rekordsumme der Versteigerung eines Renoirs berichtet, und durch die Vortragseinladung des Germanistischen Instituts Köln auch Bezug auf den Kunstbetrieb und das literarische Feld. Beide Intarsien werden unmittelbar kontrastiert, im ersten Fall durch eine Zeitungsannonce, in der ein Rolls-Royce beworben wird, parallel geführt durch typographische Gleichsetzung (eingerückter Blocksatz, ornamentale Quadrate), im zweiten Fall durch das lyrische Ich: »Und meine Träume sind leere Schuhkartons [...] so leer wie ein Germanistisches Institut, wenn alles darauf weiter besteht, hier handele es sich um Kunst« (Vanille, 109). Der Text erweist sich so als Kritik an einem sinnentleerten, geldorientierten Kunstbetrieb, in dem Höhenkammliteratur zu Wettervorhersagen verkommt und etablierte Maximen zu Firmenslogans verblassen (»›Ars gratia artis‹ / ist schon lange das Firmenzeichen Samuel B. Goldwyns und steht für den Verleih belichteten Celluloids«). Der sinnentleerten Kunst werden profanes Alltagsgeschehen und Sexualität als bessere Alternativen entgegengestellt: »[...] es gibt reiz- / volleres als Gedichte / etwa: die Frage nach / der Farbe der Scham- / haare Elizabeth Tay- / lors, oder dort fällt / eine alte ›Frau‹ hin« (Vanille, 111). Gleiches gilt für das Kunstschaffen, wenn Brinkmann in seinen Anmerkungen zu Vanille schreibt: »Man kann soviel besseres machen, als beispielsweise an einem Gedicht herumzubosseln – in der Stadt herumgehen, Zeitung lesen, ins Kino gehen, ficken, in der Nase bohren, Schallplatten hören, mit Leuten dumm herumreden ...« (Vanille, 141). Damit stellt sich Brink-
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mann gegen das Konzept des poeta doctus der Höhenkammliteratur der 1960er Jahre. Kritisiert wird ein Literaturbetrieb, dessen Inhalte belanglos wurden, und das etablierte Kunstverständnis des Establishments. Alltag und Sexualität erweisen sich als Gegenentwurf und gleichzeitig als Inhalt moderner literarischer Kunst. Kunst findet sich im Profanen. Dementsprechend werden Suppendosenaufschrift, Kosmetikaufschrift, Rentenanzeige, Frauenbilder, pornographische Fotografien und Todesanzeige im Text als objets trouvés zur Kunst erhoben (»während das / OBJET TROUVÉ / weiterlebt wie / alles, was den / ›Zauber‹ alltäglicher / Vorgänge besitzt«; Vanille, 125 f.). In Vanille werden sowohl inhaltliche als auch formale Konventionen etablierter Lyrik gebrochen. Als multimediale Collage entzieht sich der Text durch heterogene Typographie, ständigem Wechsel von Versen, Prosa, Zitaten und Bild gängigen Gattungstraditionen. Auf diese Weise wird die Gattungsgrenze neu bestimmt und führt formal die Heterogenität der Perspektiven lyrischer Weltwahrnehmung vor (Kramer). Dabei werden im Text Aufbau, Inhalt und Entstehung metatextuell kommentiert: »Wenn ich vorhin anders angefangen hätte, würde diese Klammer zum Beispiel nicht notwendig sein.«, »Das ist besser als gar nichts / womit wir uns bisher begnügen mußten / in den schönen Künsten und Philosophie: / ich bin ›massiert‹!« »Und das Gedicht geht / ›weiter‹, weil ich weiter / gehe«). So zeigt das Gedicht vor allem sich selbst als Kunstwerk, »das Thema des Gedichts ist das Gedicht selber!« (Vanille, 141). Gleichzeitig wird durch die Nennung aktueller Filme der Entstehungszeit des Gedichts und durch Bezüge zur Mainstreamkultur ein Bild der Gesellschaft der 1968er/69er aufgerufen. Wie der etablierte Kunstbetrieb wird auch die Gesellschaft als solche durch eine Kontrastierung mit ökonomischen Elementen hinterfragt (»Hallo, Paul McCartney und Linda Eastman in Kodak-Color! Hallo, John und Yoko Ono den ganzen Tag im Bett des Amsterdamer Hilton für umgerechnet 240 DM!«). Bemerkenswert ist dabei, wie Brinkmann die Namen von Stars mit denen aus seinem persönlichen Umfeld vermengt. Das Gedicht ist auf dem Titelbild Linda und Ulrike Pfeiffer sowie seiner Frau Maleen gewidmet. Auch die Protestkultur der 68er erscheint so als Teil einer von Konsum geprägten Gesellschaft (Lampe 1983, 104 und 150 ff.). Indem Protestkultur, Sexualität, Alltag, Kunstbetrieb und Establishment thematisiert werden, erweist sich Vanille auch als lyrisches Kaleidoskop der 68er-Generation.
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20.2 Wortwechsel (1969/70) Wortwechsel ist ein bisher nicht gedrucktes Gemeinschaftsgedicht von Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born, das als Radiobeitrag des »Senders Freies Berlin« erschien. Über die Entstehung gibt der Briefwechsel mit Born Auskunft. Das Sendeprotokoll einer Wiederholung auf SFB III aus dem Jahr 1986 gibt 1969 als Entstehungsjahr von Wortwechsel an (Schönborn 2016, 186). Das Datum der Erstausstrahlung ist nicht genannt, der 20. Januar 1970 ist das Datum einer Wiederholungssendung. Textvorlage sind zwei lange Gedichte der Autoren und ein aufgezeichnetes Gespräch der beiden. Unter der Regie von Hanspeter Krüger realisierten vier Sprecher die Texte. Wie in Vanille wechseln sich in Wortwechsel unregelmäßige Versform und Prosa ab. Im Text sind Zeitungsartikel, ein Gespräch und Western-O-Töne montiert. Eine Zuordnung einzelner Passagen zu einem konkreten Autor ist nicht möglich. Auch in Wortwechsel wechseln sich scheinbare Alltagsszenen mit montierten Bestandteilen ab. Handlungsort scheint weitgehend ein Badeort am Meer zu sein. So finden sich im Text mehrere Bezüge zu Strand und Meer. Anders als in Vanille finden sich in Wortwechsel keine Verweise auf das literarische Feld und den Kunstbetrieb. Stattdessen werden wie in vielen Texten Brinkmanns Analogien zu Film und Fotografie gezogen. Wahrnehmung erscheint so als Wahrnehmung in und von Bildern. Das lyrische Ich memoriert die Welt in Form von Bildern: »Im Wortwechsel treten die Autoren als Sammler, Arrangeure und Archivare bestehenden Text- und Tonmaterials hinter die ausführenden Stimmen zurück. Die Offenheit der Form lässt sich daher ebenso als eine Ästhetik der Oberfläche, der Diskontinuität und Kontingenz lesen, bei der vielfältige Verknüpfungen und Kombinationen des heterogenen, unverbunden Materials immer wieder neu hergestellt werden können.« (Schönborn 2016, 190) So übernimmt das lyrische Ich die Rolle eines Transformators, der eine in Bildern rezipierte Welt in Sprache wandelt. Leben ist daher immer nur wahrgenommene Wirklichkeit. Sie manifestiert sich im Inneren, nicht in der Außenwelt.
Unterbrochen wird der Text durch mehrere Zeitungsartikel, die Mordtaten schildern oder von zum Tode verurteilten Mördern handeln. Das Thema des Todes wird so zum strukturierenden Element des Gedichts. Anders als das Leben wird der Tod nicht über das lyrische Ich vermittelt, sondern durch Montagen faktualer Texte thematisiert. Mit dem Austausch faktualer und fiktionaler Texte wechseln sich daher auch die Darstellungen von Tod und Leben ab. (Fiktionale) Literatur wird so zum Ort, an dem Wirklichkeit erzeugt wird. Der Text schließt das Leben ein. Unterbrochen wird dieses vertextete Leben nur durch den Tod. Literatur
Born, Nicolas: Briefe 1959–1979. Hg. von Katharina Born. Göttingen 2007. Kramer, Andreas: »Der Raum macht weiter«. Überlegungen zum langen Gedicht bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 269–284. Lampe, Gerhard W.: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983. Moll, Andreas: Emblematische und intermediale Strukturen in der Lyrik und in den Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 304–310. Schäfer, Jörgen: Vanille. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 277–287. Schönborn, Sibylle: Wortwechsel. Ein lyrischer Dialog zwischen Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born im SFB aus dem Jahr 1970 und die Geschichte einer schwierigen Dichterfreundschaft. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 181–193. Späth, Sibylle (i. e. Schönborn): Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Stamper, Robert: Textstruktur und Bildlichkeit in der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 318–326.
Michael Beck
21 Standphotos (1969)
21 Standphotos (1969) Standphotos ist ein Gedichtband, der 1969 erschien und elf Gedichte enthält, wobei die Gedichte Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire und Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire die jeweilige deutsche/ englische Übersetzung darstellen. Der Band ist im Guido Hildebrandt Verlag in Duisburg erschienen, gedruckt in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren auf transparenter Kunststofffolie. Dazu kamen vier Farbätzungen von Karolus Lodenkämper. Die Texte verschwimmen mit den Radierungen Lodenkämpers ineinander. Die aufwändige Gestaltung und die kleine Auflage machen das Buch zu einer Rarität und präsentieren Lyrik als esoterische Angelegenheit. Durchgängiges Motiv des ersten Gedichts Künstliches Licht ist das Verhältnis von Bild und Bewegung. Damit referiert der Text auf ein wesentliches Element der Beat-Literatur: den Film in Worten (»Wir haben Bilder, die sich ›bewegen‹«). Schon der Titel Künstliches Licht sowie »die / Glühbirnen, die im Dunkeln / verschwinden« betonen das Künstliche, also die Gemachtheit des Films und – im übertragenen Sinne – des Gedichts. Der Film kann Szenen nur in Einzelbildern darstellen, die aneinandergereiht Bewegung suggerieren, die Wirklichkeit aber tatsächlich nicht ohne Verlust wiedergeben. Die Form des Gedichts, sieben Strophen mit je drei Versen, imitiert die Sequenzialität des Films, indem durchgängige Enjambements Bewegung erzeugen, die durch die dreiversigen Strophen sequenziert werden. Gleichzeitig referiert das Gedicht auf die Wahrnehmung. Gerhard Lampe merkt unter Bezug auf Brinkmanns Artikel Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter an, dass für Brinkmann der Mensch die technisierte Umwelt jetzt als natürliche Umwelt begreife (Lampe 1983, 106 f.). Dementsprechend geschieht Wahrnehmung über »Kinoplakate, Filmbilder, die täglichen Schlagzeilen, Apparate«, sie organisiert sich eher in Bildern, statt komplette Handlungsverläufe zu speichern, »[a]ls ob in der Erinnerung / nur dieses eine ›Bild‹ / wirklich wäre.« Auch der Autounfall, an den sich das lyrische Ich zu erinnern scheint, gehört für Brinkmann zum Inventar der neuen, technisierten Umwelt. Wie im Film erscheint die Erinnerung des lyrischen Ichs aber aus der Perspektive einer Außensicht: »Ein Junge / liegt ausgestreckt auf dem / Boden [...] Dieser Junge bin / ich.« Eine genauere Betrachtung ist dem lyrischen Ich aber nicht möglich. Der detaillierte Blick in die Vergangenheit bleibt verwehrt. Leerstellen der Erinnerung werden mit Angst gefüllt.
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Das Gedicht Bild nimmt die Perspektive eines Autors ein, der an seiner Schreibmaschine sitzt. Geschildert wird, was sich hinter der Schreibmaschine abspielt: »Und über der Schreibmaschine / die im Freien steht / liegt das, was sie ab- / gelegt hat. / Es ist wenig.« (St, 284) ›Sie‹ kann sich dabei einerseits auf eine weibliche Figur, andererseits aber auch auf die Schreibmaschine beziehen, in diesem Fall wäre wenig Text produziert worden. Von der Schreibmaschine aus, fällt der Blick auf den Hintergrund: »Dahinter bewegt / sich Grün. Und / dahinter / wenig«. Die Perspektive von der Schreibmaschine aus ist statisch, in den Hintergrund kann nicht hineingezoomt werden. Stattdessen gehen erst die Konturen verloren, so dass nur die Farbe als konstituierendes Element bestehen bleibt, dann geht auch noch die Farbe verloren, so dass nur noch wenig übrigbleibt. Liest man Schreibmaschine metonymisch für Literatur, wird klar, dass Literatur immer nur einen Moment, ein Bild wiedergibt, darüber aber nicht hinaus kann. Folgerichtig bleibt die weibliche Figur eben auch »stumm«, sie ist eine Unbekannte, der Text kennt sie nicht. In der Literatur gibt es nichts, was über die Fiktion hinaus besteht. Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire ist das erste Brinkmann-Gedicht, das sich einer linksbündigen Anordnung der Schrift weitgehend widersetzt. Robert Stamper weist darauf hin, dass diese Anordnung den Leser zwinge, seinen Fokus zu verschieben. Statt geordneten Strophen werden eher sprachliche Bilder und Szenen nebeneinander platziert. Mal fällt die Aufmerksamkeit auf eine Schokoladenpackung (»an orange and blue Box of Poulain chocolate«), mal auf einen bellenden Hund (»A dog barks«), mal auf eine Zeitung (»to read this newspaper again«; St, 285). Insgesamt ergibt sich so ein surrealistisch anmutendes Nebeneinander verschiedener Wahrnehmungen des lyrischen Ichs. Kombiniert man die einzelnen Elemente des Gedichts aber, setzt sich aus den auf den ersten Blick nicht kombinierbar scheinenden Bildern eine Gesamtszene zusammen. In dieser Szene nehmen wir irgendwo eine Poulain-Schokolade wahr, im Hintergrund bellt ein Hund, eine Zeitung wird gelesen. Wiedergegeben wird also eine Momentaufnahme aus der Sicht des erlebenden Ichs. Zeitlich ist dieser Moment relativ klar verortet in der Nacht vor dem Schlafengehen (»I think tonight I am«, »now that I have gone to sleep«). Die einzelnen Elemente schaffen also eine Umgebung, ein Setting, in der das lyrische Ich agiert, denkt, wahrnimmt und reflektiert: ausgedrückt durch die typographische Anordnung des Texts und explizit artikuliert durch Akti-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_21
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onsverben (»I think«, »I didn’t think«, »to read«, »I mean«) und durch Kommentare des lyrischen Ichs (»(my god!)«, »(to the end)«; St, 285 f.). Was das lyrische Ich in dieser Szene wahrnimmt, verrät der Titel Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire. So besteht der Text ausschließlich aus Zitaten von Gedichten Ron Padgetts aus dem gleichnamigen Gedichtband (Words to Joe Ceravolo; Poulain; Mister Horse; Ode to the Astronauts; The Sandwich Man; Tone Arm; Body English; 16 November 1964; Birches; Ode to the Futurist Painters and Poets; Padgett 2013). Der Rezipient hat so schlaglichtartig an der Wahrnehmung des lyrischen Ichs teil. Dadurch entsteht eine gedoppelte Rezeptionssituation, in der der Rezipient Padgetts Gedichte mit den Augen einer vermittelnden Instanz betrachtet. So wird Rezeption zum Thema des Gedichts, Stefan Greif betont, dass der Leser hier bewusst als kreatives Subjekt auf gleicher Augenhöhe mit dem Autor begriffen wird (Greif 2012, 263). In einer Art mis en abyme erzeugen die Zitate auf unterschiedlichen Interpretationsebenen gleichzeitig den Rahmen und den Inhalt dieser Rezeption. Das Gedicht beschreibt, was der Titel ankündigt, einen Abend mit Gedichten aus Ron Padgetts Great Balls of Fire (in deutscher Übersetzung erst 1973). Die deutsche Version, die sich ungewöhnlicherweise nicht direkt nach der englischen findet, sondern erst nach zwei weiteren Gedichten abgedruckt wurde, kann daher als Weiterentwicklung betrachtet werden. Sie übernimmt eben nicht direkt Zitate aus Padgetts Texten, sondern transformiert diese ins Deutsche – mit Ausnahme der italienischsprachigen Verse (»›O astronauti ... voi meneggiate le luciede maniglie dlla vostra Macchina‹«, »›domani un italiano passeggera sulla luna‹«; St, 290). Diese bleiben dem deutschsprachigen lyrischen Ich genauso fremd wie dem englischsprachigen. Es geht weniger um den semantischen Inhalt der Worte als vielmehr um konnotative Im- und Expression. Anders als die vorausgehenden Gedichte, beschränkt sich das Gedicht Carl auf eine reine Außensicht. Der Text beobachtet den Protagonisten Carl, dessen Gedanken und Empfindungen aber nicht erzählt werden, sondern nur über seine Handlung erschlossen werden können. Carl befindet sich in einer Art Schwebezustand zwischen Bewegung und Nicht-Bewegung. Wiederholend wird mitgeteilt, dass Carl gehen wolle (»Carl [...] will gehen.«, »Carl [...] will gehen«, »Jetzt möcht er mal wieder gehen.«; St, 287). Dem stehen Carls Handlungen entgegen: »Carl sitzt auf dem Stuhl dort in der Ecke«, »Er blättert in einem Taschenbuch«, »Er sitzt dort auf dem Stuhl und lächelt«. So oszilliert
Carl zwischen dem Wunsch nach Bewegung und dem tatsächlichen Verweilen im aktuellen Zustand. Die endliche Bewegung Carls (»Er nimmt seinen Schirm und geht«) wird in der Schlusspointe wieder gebrochen, indem er doch wieder stehen bleibt und liest. Die Diskrepanz zwischen den Willensbekundungen und dem Verhalten drückt die Nervosität der Figur Carl aus. Das steht in Zusammenhang mit einer Geburt (»Als es dann etwas später ist, fragt Carl, warum eine gewöhnliche Geburt 8 Stunden dauern muß.«). Es handelt sich um ein Gespräch mit Brinkmanns Bruder Karl-Heinz über die Geburt von Robert Brinkmann und dessen Behinderung. Dem Dualismus der Handlung entspricht die Form des Gedichts, 22 paarige Verse bilden 11 Strophen. Auch das Gedicht Er sagt beschreibt ein Standbild und überlässt die Rekonstruktion der Szene dem Leser. »[E]ine Frau saß mitten / auf der Straße und schrie / es war kein Blut zu sehen / doch das eine Bein war ab- / gewinkelt« (St, 288) – vorausgegangen war offensichtlich ein Verkehrsunfall. Die explizite Erwähnung der Absenz von Blut lässt darauf schließen, dass es sich um eine Situation handelt, in der prinzipiell doch Blut zu erwarten gewesen wäre. Die Trennung des Wortes »ab/ gewinkelt« zum Versende korrespondiert mit dem Bruch des Beines. »[E]in paar Jungen« davor bilden ein Publikum, verharren aber passiv, ohne zu helfen, mit den Händen in den Hosentaschen. Ironisch kommentiert das lyrische Ich: »Das reichte aus.« Das Ausgeliefertsein des Opfers wird ausgedrückt durch die symbolische Nacktheit der Frau (»und der Rock / hochgerutscht. Die Frau / war nackt«). Der Text kritisiert eine untätige Gesellschaft, die in Notsituationen lieber die Zuschauerrolle einnimmt, statt sich selbst zu bewegen. Aus der oppositionellen Perspektive wird dies einleitend dargestellt: »›jetzt, nachdem ich so / viel gefühlt habe, stehe / ich hier.‹ Man hat sich / bewegt, man hat irgendwo / etwas getan, um weiter- / zukommen«. Der Titel Er sagt kann daher auf die Jungen bezogen werden, die dastehen und zusehen. In einer Gesellschaft, die sich auf das Innere konzentriert, unterbleiben Handlungen. Bewegung fand in der Vergangenheit statt. So schlägt Er sagt äußerst kritische Töne an. Wenn sich die Menschen auf sich konzentrieren »um weiter- / zukommen«, überwiegt der Egozentrismus über ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Die Gesellschaft kommt zum sozialen Stillstand. In Photos machen wird der Prozess des Fotografierens und Archivierens schließlich selbst zum Thema. Dabei wird der Fotoapparat als »Maschine« (St, 291) zum existenzbestimmenden Faktor (»& wir sehen uns
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umgeben von einer Maschine, die unsere Anwesenheit bestimmt.« Der Blick des Lesers scheint in den Fotoapparat gelenkt zu sein, der die Außenwelt (also »uns«) aufnimmt, ja nahezu absorbiert. So scheint die Welt (»Inis«, »Herbert, Paul und Otto«, »[d]as Wetter«, »Zwieback«) im Dunkel der Maschine zu verschwinden. Die absorbierten Informationen können der Maschine nur sehr mühsam wieder entzogen werden: »Die Maschine / schweigt & wird erst antworten, wenn alle wieder / da sind.« Der Fotoapparat wird so zu einem existenzgefährdenden Medium, weil er einerseits durch seinen Fokus selektiert, wer und was aufgenommen wird, andererseits nur schwer Zugang auf die archivierten Informationen gibt. Wie in allen Texten in Standphotos kann auch hier das Feld ›Foto/Fotografieren‹ als metonymisch für Wahrnehmung gelesen werden. So gedeutet, betont Photos machen die Subjektivität der Weltwahrnehmung, indem eben das Subjekt (»die Maschine«) entscheidet, was wahrgenommen wird, was präsent ist und was in Erinnerung bleibt. Dieser mentale Speicherprozess erweist sich als instabil und situationsabhängig: »du bist schon gestern / verschwunden, & und ich bin heute hier.« In dieser Metamedialität der Texte Brinkmanns sieht Schäfer ein Grundelement der Popliteratur generell: »Wie die Pop Art in der bildenden Kunst, so lässt sich auch PopLiteratur als ›Kunst über Zeichen und Zeichensysteme‹ (Lawrence Alloway) verstehen« (Schäfer 2001). Hommage à Joe Brainard aus Tusla, Oklahoma führt diese existentialistischen Gedanken fort: »(Ist dieses Fragezeichen / tatsächlich ein Fragezeichen, oder / bilde ich mir das jetzt nur ein / und es ist tatsächlich ein Fragezeichen?)« (St, 292). Freilich fällt auf, dass diese scheinbar existentialistische Frage nur eine Antwort zulässt: Es ist tatsächlich ein Fragezeichen. Dadurch lässt der Text Kritik erkennen an einer philosophischen Fragestellung, die sich mit alltagsfernen Problemstellungen beschäftigt. Daneben stellt der Text weiter Fragen, denen ihre Belanglosigkeit latent eingeschrieben ist: »aber geht diese Uhr richtig? / Tickt der Wecker genauso wie Wecker / ticken müssen?«, »Amerika, ich schick dir Spucke / was schickst du mir?«. Ironisch kommentiert das lyrische Ich: »Die entscheidenden Fragen im Leben / bleiben ungelöst.« Indem der Frage nach Amerikas Antwort auf versendete Spucke dieselbe Qualität wie anderen entscheidenden Fragen im Leben zugeschrieben wird, werden alle entscheidenden Fragen – auch die im Gedicht nicht gestellten – zur Bedeutungslosigkeit abgewertet. Gegen diese und zukünftige Fragen wird Joe Brainard gestellt, der den großen Fragen der Welt in Wildwest-
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manier und legerer Pose Zigarettenrauch entgegenbläst. Als Antwort auf die Fragen des Lebens bleibt profaner Geschlechtsverkehr (»Jetzt mache ich endlich das / Bett und fange an zu ficken!«). Das Gedicht setzt den alltagsfernen, vergeistigten Fragen unter Berufung auf Brainard den Geschlechtstrieb als Grundbedürfnis des Menschen entgegen. In Kälter wird eine Szene zwischen einer männlichen (»er«) und einer weiblichen Figur (»die Frau«; St, 294) beschrieben. Ort der Szene ist vermutlich das Schlafzimmer oder zumindest ein dunkler Raum, in dem sich beide Figuren aufhalten. Die Feststellung, dass es kälter werde, geht dabei vom Mann aus, die Frau dagegen »fror vielleicht / nicht einmal«. »Kalt« und »kälter« können auf die zwischenmenschliche Beziehung des Paares übertragen werden. Indem er es ausspricht, es werde kälter, bringt der Mann hier Licht ins Dunkel (»und / [er] schaltete das / Zimmerlicht an.«) Doch der Raum bleibt dunkel: »Sie / fror vielleicht / nicht einmal« lässt sich so interpretieren, dass ihre Gefühle vielleicht eben nicht kälter wurden. Erst später, als er ihr den Zustand der Kälte mitteilt, ändert sich ihr Status. Beschrieben wird also eine Beziehung, die zu Ende geht, und »wie kalt das / alles ist«. In Cinemascope bedient sich Brinkmann des Vokabulars der Romantik, wenn er »Himmel«, »blau«, »verschwinden« und »Ferne« (St, 295) zusammenbringt. Dabei schließt Cinemascope gewissermaßen begrifflich an Kälter an, schon in Goethes Farbenlehre bilden diese Begriffe zusammen mit »Kälte« und »dunkel« ein Konglomerat zur Farbe Blau: »Minus. / Blau. / Beraubung. / Schatten. / Dunkel. / Schwäche. / Kälte. / Ferne. / Anziehen. / Verwandtschaft mit Alkalien« (Goethe 1975, 478). Romantisch gelesen symbolisiert der Himmel hier die Ferne, die Farbe Blau die Literatur, in denen sich das lyrische Ich verliert. Doch bei Brinkmann scheinen Mann und Frau getrennt: »ein Mann zieht / in der Ferne / seinen Hut, und / eine Frau winkt ihm / von ferne zu!« Die Weite des Himmels bietet keine Möglichkeit, sich zusammen zu verlieren, so verschwindet das Ich auch nur »beinahe darin«. Denn der Himmel, die Ferne, das Blau erweisen sich nur als Bilder, »nicht das, was / es wirklich ist –«. Cinemascope ist ein Verfahren zur Herstellung von Breitbandfilmen. Auch in diesem Gedicht wird daher die Gemachtheit der Poesie thematisiert. Wie die Breitbandbilder der Kinos können auch die sprachlichen Bilder die Wirklichkeit nicht wiedergeben. Brinkmann konfrontiert die romantischen Bilder mit der Abstraktheit der Worte des 20. Jahrhunderts. Folgerichtig strebt das lyrische Wir nicht mehr nach dem,
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was in der Ferne ist, sondern nach der Ferne selbst: »es ist diese Ferne, die wir / zusammen meinen«. So dominiert das Denotat, die Lyrik steht hier für sich. Dahinter ist weiße Fläche – im Kino wie in gedruckter Lyrik (Schäfer 2001, 233). Das Gedicht imitiert das filmische Verfahren, indem die beiden Strophen, die den Himmel beschreiben, wie einzelne Bilder hintereinander versetzt angeordnet sind. Robert Stamper bringt dieses Verfahren in einen größeren Zusammenhang im Gesamtwerk und zeigt, wie die Bildlichkeit in Brinkmanns Gedichten zunimmt (Stamper 2001, 322). Standphotos, speziell Cinemascope, befindet sich in einer Übergangsphase von bloßem Text zu intermedialen TextBild-Werken. Die These, dass Brinkmanns Texte Aufnahmeverfahren von Kameras in Text überführen (Späth 1989, 44 ff.), lässt sich in Standphotos nachvollziehen. Dabei erfahren auch Brinkmanns Texte eine Entwicklung. Während etwa in Bild oder Carl eher statische Aufnahmen dominieren, ahmt Cinemascope bereits die Suggestion einer Bewegung durch einzelne Bilder nach. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Christ und Welt. 15.11.1968, 14. Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. XIII. München 71975. Greif, Stefan: Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire. / Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann.
Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 254–265. Hülsmann, Paul: Brinkmann zwischen 1964 und 1970 – Beatnik ohne Generation oder Schreien, realistisch gesehen. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 183–187. Lampe, Gerhard W.: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983. Müller, Agnes C.: Blicke, westwärts: Rolf Dieter Brinkmann und die Vermittlung ›amerikanischer‹ Lyrik. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 190–206. Padgett, Ron: Collected Poems. Minneapolis 2013. Röhnert, Jan/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012. Seiler, Sascha: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Popdiskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006. Schäfer, Jörgen: Die »›Neuheit‹ punktuellen Ja-Sagens« – Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Rolf Dieter Brinkmanns Essays. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 225–238. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Stamper, Robert: Textstruktur und Bildlichkeit in der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001, 318–333.
Michael Beck
22 Gras (1970)
22 Gras (1970) Die beiden Jahre 1969 und 1970 bilden den Höhepunkt und Abschluss von Brinkmanns intensiver Rezeption, Übersetzung, Edition und Anthologisierung der nordamerikanischen Gegenwartslyrik. Gras zeigt die produktive Aufnahme der Lunch Poems von Frank O’Hara; der Essay Die Lyrik Frank O’Haras entfaltet die zentralen poetologischen Konzepte. Vor allem aber hat Brinkmann Impulse von Ted Berrigan produktiv gemacht: Der Sammelband Guillaume Apollinaire ist tot bietet eine Blaupause für Brinkmanns damaliges Selbstverständnis als Autor, sei es im Kontext der kollaborierenden Autorschaft und der damit verbundenen literarischen Praktiken, sei es in der Aufnahme der lyrischen Formen (Späth 1986, 230, 235 f.). Angesichts des paratextuellen Aufwandes für die vorausgegangenen Bücher Godzilla, Die Piloten und Standphotos erscheint Gras deutlich reduzierter, zurückgenommener; die Texte nehmen »Abschied von der Gedichtart in Die Piloten« (BrH, 110). Sie gestalten »die spezifisch zeitgenössische Sensibilität« (Angriff aufs Monopol), die die nordamerikanischen Dichter kennzeichnete. In den ausführlichen Stichworten zu Gras, die Brinkmann in einem Brief an Hartmut Schnell formulierte (BrH, 133–135), charakterisierte er die Gedichte als »so aus dem Augenblick entwickelt«, sie seien »›Schnappschüsse‹ des Augenblicks, (was über den Bildschirm des Bewußtseins geht)« (BrH, 125). Die Augenblicksmetapher verweist auf das Modell der Epiphanie im Alltag, jedoch ohne metaphysische Überwölbungen. Die Photographie-Metapher wiederum reinterpretiert aisthesis unter den Bedingungen moderner Technik. Der fixierte Moment soll dem Gedicht »unmittelbare Präsenz« verleihen: »Jedes Gedicht ist sofort ganz da« (FW, 215) – bestimmt Brinkmann lakonisch sein Ziel. Der Begriff der ›zeitgenössischen Sensibilität‹ indiziert eine qualitative Veränderung, die eine Bestandsaufnahme des unmittelbaren Lebensumfelds erforderlich macht; daher »sind die meisten Situationen und Szenen« »Zimmersituationen, Sitzsituationen, wenig Bewegungen, wenig Räume bezw. Außenräume sind da« (BrH, 138). Das Sprachmaterial ist demzufolge auf ›Alltägliches‹ in diesem Sinne ausgerichtet, so dass die Gedichte treffend als »poetische[] Alltagerkundungen« (Röhnert 2006, 351) beschrieben worden sind. Die auf den ersten Blick naheliegende Charakterisierung als Alltagslyrik (Buselmeier 1977) trifft jedoch nur einen Teilaspekt, denn neue Sensibilität und Alltag stehen in
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einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Der Fokus richtet sich eben auch auf das Bewusstsein, vollzieht den »Vorstoß in die innere Dimension von uns selbst« (Einübung, 149), so dass autobiographisches Material in hohem Maß in die Texte hineingenommen ist, wie etwa in Heute (Jung 2012), Gedicht »Nacht« – dem ein Erlebnis mit Nicolas Born zugrunde liegt (Späth 1986, 232; Metz 2012) –, explizit in Gedicht (Gras, 53; St, 345). Alltagsbeobachtungen finden sich in Gedichten wie Samstag nachmittag, Bild oder Rolläden, die sich auf die Oberfläche beschränken, ohne den Versuch zu unternehmen, sie durchstoßen oder in die Tiefe gehen zu wollen. Diese Selbstbeschränkung wird in den Gedichten sichtbar, die explizit die Perspektive des lyrischen Ich einnehmen (Kaffee trinken (1) und (2), Gravad Sill i Dill). Brinkmann hat diesen Blickwinkel programmatisch gegen die um 1970 diagnostizierte theoretische Verkarstung gewendet und sich »für mehr Alltäglichkeit, gegen große Schlagwörter« (BrH, 133) ausgesprochen. In den Gedichten geht es um »schöne«, »entmystifizierte Gegenwart«, sie seien »ohne Bedeutung, Gegenwart, nichts anderes« (BrH, 134). Dementsprechend hat auch die frühe Forschung darauf hingewiesen, dass die Gedichte keine politische Position zu erkennen geben (Theobaldy/Zürcher 1976, 138) und darüber hinaus irritiert vermerkt, dem im Gedicht Kaffee trinken (2) fixierten Vorgang fehle »Typisches, Modellhaftes«, er sei ein »zufälliger Realitätsvorgang, der nichts bedeutet« (Hartung 1985, 26). Geradezu provokant in der politisch aufgeregten Zeit um 1970 ist diese Weigerung in Meine Biographie für Mao Tse-Tung. Der Titel nennt den chinesischen Diktator, verweigert aber jegliche politische Diskursivierung, thematisiert lediglich sehr abstrakt Veränderungen (»Meine Vorhaben sind wirklich geworden, // jetzt verstehe ich sie nicht mehr.«; Gras, 40; St, 333) und formuliert ein Programm – »›Das Erkennen ist zu Ende, das Leben fängt an.‹« (Gras, 40; St, 333) –, das jedoch sehr allgemein gehalten ist und ebenso entschieden unspezifisch bleibt. Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Alltag wie die Bedeutung des Augenblicks führt in den großen Gedichten wie etwa dem Gedicht »Für Frank O’Hara« zu einer Fragmentierung, bei der die punktuelle Aufmerksamkeit auf bestimmte Phänomene, Reflexionen des Ich und wahrgenommene Realitätssplitter aneinander gereiht sind, während Verbindungen, Chronologie und Kontext nur angedeutet bleiben. Der Bewusstseinsstrom des lyrischen Ich wird in reichhaltig variierten Formelementen – Wechsel von
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_22
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Versanordnung und Prosa, Abtrennung durch Asterisken, Parenthesen mit und ohne Füllung sowie leere Flächen – gestaltet. Zwar lässt sich eine Party als Erlebnissubstrat ausmachen, eine klare Zuordnung der Einzelelemente, die ihrerseits durchaus ausdrucksstark sind, ist indes nicht möglich. Sie verweisen in ihrer Gesamtheit nur mehr auf das lyrische Ich. Die einfache, an alltäglichem Vokabular orientierte Sprache von Gras wirkt durch die Verwendung als lyrische Sprache hermeneutisch dicht und vielfältig deutungsoffen (erkennbar etwa in der kühnen Deutung von Metz 2007). Das Sprachmaterial wird einer sprachkritischen Inventur unterzogen, die auf den Gegensatz von konkretem Einzelphänomen und sprachlicher Abstrahierung zum Klischee fokussiert ist; »verschiedene Gedichte wenden sich direkt gegen Oberbegriffe, [...] gegen das Klischee, [...] gegen die Fixierung der Welt in sprachliche Bilder« (BrH, 133). Augenfälliges Zeichen dafür ist der Gebrauch der Anführungszeichen. Schauspielerin nennt zu Beginn »›Anny Ondra‹« (Gras, 9; St, 302; vgl. Theobaldy/Zürcher 1976, 137 ff.; Lampe 1983, 114 ff.; Röhnert 2007, 353 f.) als Vertreterin des Berufsstandes und weist durch die diakritischen Zeichen das Pseudonym als schlagendes Beispiel für den Unterschied von Person und persona aus. Anführungszeichen sind asemantisch, ihre Funktionen jedoch konventionalisiert. Der Gebrauch in Gras setzt sich vielfach über diese Konventionen hinweg, so dass die jeweilige Bedeutung zwischen Konvention und Uneigentlichkeit oszilliert. Im Gedicht »Für Frank O’Hara« werden sie für wörtliche Rede verwendet, aber auch als Hinweis auf Klischees (»›Angst‹«, »›Spaß‹«, »›Leben‹«; Gras, 16 ff.; St, 309 ff.); schließlich gibt es Auszeichnungen, deren Funktion nicht klar auf der Hand liegt. Das ist in Gedicht »Nacht« auffällig (»›aufhört‹«, »›dunkel‹«; Gras, 46; St, 338). Tertium comparationis ist die Tendenz zur Entkonventionalisierung und Verfremdung des Wortgebrauchs, die so weit getrieben wird, dass sie in manchen Fällen bereits als Parodie auf den Vorgang des Verfremdens selbst, der ja seinerseits Klischee werden kann, erscheint. »Es ist wie mit Tabletten: solange man nur den Begriff »Tablette« im Kopf hat, die Konvention »Tablette« erfüllt, nutzt das Schlucken von Tabletten wenig ... jeder Dreck kann einem angeboten werden, jeder Dreck hat genau die Wirkung und enthält nur die Erfahrung, die in dem Image von der »Tablette« eingeschlossen ist .. während das Schlucken von Tabletten »schön« sein kann [...]« (Einübung, 147 f.) Auf der anderen Seite ist aber auch ein introspektives Moment gegeben. Das »Gehirn speichert Bilder und
Wörter, die in eins verschränkt sind, und Wörter und Bilder sind ja auch Erinnerungen, das Gegenwartsbewußtsein ist oft durch Wörter und Bilder zugeschüttet, das schafft einen abwesenden Zustand« (BrH, 135). Es geht auch um diesen Riss, in dem Bewusstsein und Sprache nicht aufeinander abgestimmt sind. Das Wort »Alltag« klingt einfach und auf geradezu verführerische Art vertraut; allerdings geht es hier um eine spezifische, durchaus nicht triviale, theoriegesättigte Konzeption von Alltag. Sie ist auf dem von Berndt Höppner »nach einem in der illustrierten Wochenschrift Stern von 1969 veröffentlichten Photo neuer Gartenmöbel« (Gras, 6) gestalteten Schutzumschlag (Terstiege 2010) als ein »Zustand von Welt, in der die Künstlichkeit (post-)moderner Zivilisation zum Naturgefühl« (Röhnert 2007, 604) geworden ist, visualisiert. Im Alltag von Gras ist die Unterscheidung von Kunst und Natur nicht mehr sinnvoll vorzunehmen. Die neue Sensibilität kennzeichnet, dass sie »die billigen Alternativen verweigert: hier Natur – da Kunst und hier Natur –, da Gesellschaft, woraus bisher alle Problematik genommen wurde. Der jetzt erreichte Stand technisierter Umwelt wurde als ›natürliche‹ Umwelt genommen« (Angriff aufs Monopol). Die Gedichte sind folglich »aus Surrogaten hergestellt [...]: keine ›Natur‹ [...]. Alle Bilder und Landschaften sind künstliche Bilder und Landschaften, das Material ist die Dutzendware« (FW, 263). Die Auflösung der traditionellen Kultur-Natur-Dichotomie im Alltag wird anhand der Medien deutlich, unter denen der Film (Röhnert 2007, 352 f.) das augenfälligste darstellt: »immer wieder sind die alltäglichen lebendigen Szenen mit Filmkulissenszenen und künstlichem Aufbau, Schau-Aufbau, durchsetzt« (BrH, 135). Schauspieler gehören zum alltäglichen Leben, obwohl sie nicht physisch präsent sind. Sie werden zum Anlass für Reflexionen über Wirklichkeit (Schauspielerin, Cappelmann 2012a), den Gegensatz von Film und Leben (Oktober, Seiler 2012), Fälschung (die Reflexionen über Indianer in Gedicht »Für Frank O’Hara«) und Inszenierung (Optik). Die beiden Langgedichte Mae West macht mit 75 immer noch weiter (Schäfer 1998, 195 f.) und 1000 Watt entfalten die »ironische Durchbrechung der Filmklischeewelt gegen das künstlich ausgestattete Leben, gegen die miesen Schauspielerbiographien usw. alles alter vergammelter Glimmer / und junge Sexfotzen, die auf Rollen warten usw. alles verrottet durch Geld und Schau« (BrH, 134). Die Perspektiven der beiden Gedichte verhalten sich komplementär zueinander – während das eine Gedicht Reflexionen über die
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Schauspielerin Mae West entfaltet, bietet 1000 Watt den Blickwinkel einer gealterten Schauspielerin, deren Name nicht mehr interessiert. Lang- und Kurzgedichte wechseln einander ab. Brinkmann experimentiert mit dem Verhältnis von Vers und Prosa. Die Gedichte enthalten einen hohen Anteil an Prosaelementen und -merkmalen. Die Skala reicht von einer Reihe kurzer Prosagedichte (Kaffe trinken (1), Kaffee trinken (2), Gedicht (Gras, 53; St, 354), Gravad Sill i Dill, Die Aloe, Nachmittags) über Gedichte mit ametrischem Prosatext in Versanordnung (Schauspielerin, Das weiße Bettlaken vor dem Fenster, Die gelbe Fußmatte liegt vor der Badewanne, Die Prospekte liegen unten im Hausflur, Nach Guillaume Apollinaire u. a.) bis hin zu Texten, die syntaktisch intakte Prosasätze optisch zerlegen (Gedicht (Gras, 323 ff.), Wolken). In Gras entwickelt Brinkmann den Gedichttypus, der in Westwärts 1 & 2 eine große Rolle spielen wird (Gedicht »Für Frank O’Hara«, Weit entfernte Sachen, Der Rest eines Gedichtes von mir). Der Titel des Gedichtbandes wurde als Anspielung auf Walt Whitmans Leaves of Gras verstanden (Schreiber 1970; Lampe 1983, 108); direkte Bezüge zu Whitman sind jedoch nicht nachgewiesen worden, so dass man dies vorläufig als Assoziation, weniger als konkreten Verweis abbuchen muss. Der Titel kann – wie der von Acid – »in jeder Hinsicht wörtlich genommen werden« (Informationstext, 234): Das Motto expliziert die botanische Bedeutung von Gras, während die Rauschdroge implizit bleibt. Angesichts der Konzentration auf neue Sensibilität und neuen Alltag enthalten nur wenige Gedichte kunst- oder literarhistorische Verweise. Rolläden reiht unter den Alltagsbeobachtungen auch zwei Zeitungsmeldungen ein, die allerdings ebenfalls beobachtet werden; Techniken des poème trouvé werden eher zitiert als angewendet. Le fils de l’homme bezieht sich auf das gleichnamige Bild René Magrittes (der Vorabdruck des Gedichts in Der Gummibaum enthält lediglich die erste Strophe). Nach Guillaume Apollinaire ist als autobiographisches Gedicht gedeutet worden, das vergeblich dem Sinn der Befreiung nachspürt und in Apollinaire eine literarische Identifikationsfigur erblickt (Späth 1986, 239 ff.). Allerdings bleiben wichtige Momente des Gedichts schemenhaft und instabil. Die poetologische Lesart knüpft sich allein an den Titel und deutet diesen als Frage danach, wie ein Gedicht nach der Überwindung Apollinaires aussehen könnte (Röhnert 2004, 141). Die Bezüge sind jedoch vage, nicht präzise, ähnlich wie im Fall von Meine Biographie für Mao Tse-Tung. Unter Glas ist als kritische Auseinandersetzung mit
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der Aktionskunst gedeutet worden (Cappelmann 2012b), indem es Konsequenzen der für Beuys’ Arbeiten grundlegenden programmatischen Formel Kunst = Leben in gaghafter Zuspitzung erwägt. Gras ist der letzte Gedichtband vor der mehrjährigen Publikationspause bis Westwärts 1 & 2. Von daher lag es nahe, es nicht nur als Abschluss des Pop-Paradigmas, sondern auch als Werk einer beginnenden Neuorientierung zu sehen (Röhnert 2007, 351). Der Gedichtband ist, so hielt Brinkmann noch selbst fest, »ziemlich untergegangen« (BrH, 133). Das literaturkritische Echo war gespalten. Ein anonymer Rezensent der Welt am Sonntag befand knapp, der Band sei der Rede nicht wert. »Mit durchschnittlichen bis schlechten Texten hat er nicht gespart. Reste wurden verarbeitet, leere Klammern und viele Pünktchen füllen die ohnehin luftigen Seiten.« (a-.tz. 1970). Vermisst wurde vor allem handfeste politische Kritik. Brinkmann habe verabsäumt, den Alltag »zu hinterfragen« (Engel 1970, ähnlich Schreiber 1970). Am schärfsten urteilte Yaak Karsunke, der Brinkmann als epigonalen »Vorgartenzwerg der US-Pop-Szene« schmähte. »Hier bleibt nur eine tautologische Hoffnung: daß Gras über Gras wächst.« (Karsunke 1970) Das gegenteilige Urteil fällte Karl Krolow, er bescheinigte den Gedichten mehr »Konsequenz« als dem bis dato vorliegenden Werk. »Die neuen Gedichte [...] sind folgerichtig in ihrer Direktheit, ihrer – scheinbaren – Unkompliziertheit, die allerdings von einer immer wachen und geradezu auflauernden Sensitivität der Wahrnehmung kontrolliert wird« (Krolow 1970a; ebenfalls positiv: Bulkowski 1970; Vormweg 1970). Die Forschung hat mit wenigen Ausnahmen (Späth, Röhnert) Gras stiefmütterlich behandelt. Abweichende Vorabdrucke
le fils de l’homme. In: Gummibaum 1 (1969). Gedicht »Nacht«. In: Renate Matthaei (Hg.): Grenzverschiebung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur der 60er Jahre. Köln/Berlin 1970, 108. Textidentische Vorabdrucke: Limonade im Grünen. In: Hans K. Matussek (Hg.): lobbi 3. Junge deutschsprachige Literatur 1970. Nettetal-Lobberich 1970, 28.
Rezensionen
a-tz.: [Rez. zu Gras]. In: Welt am Sonntag (15.11.1970), 31. Bulkowski, Hansjürgen: Lyrik in wirklichen Wolken. In: Neue Ruhr-Zeitung, Essen (7.10.1970). Engel, Peter: Zwischen Subversion und Kitsch. Anmerkungen zu vier neuen Gedichtbänden. In: General-Anzeiger, Bonn (31.7.1970). Karsunke, Yaak: Ins Gras gebissen. Rolf Dieter Brinkmanns
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V Poesie – B Poplyrik
neuer Gedichtband. In: Frankfurter Rundschau (27.6.1970), VI. Krolow, Karl: Junge Lyrik heute. Brinkmann, Born und die Zivilisationswelt. In: Der Tagesspiegel (14.6.1970), 47. Krolow, Karl: Jähe Sentimentalität. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (26.7.1970b), 23. Schreiber, Mathias: Schweiß rinnt nach innen. Vom Kalauer zum Volksgemurmel. Neue Gedichtsammlungen. In: Kölner Stadt-Anzeiger (3./4.10.1970). Vormweg, Heinrich: Wahrnehmungstraining. In: Merkur 24 (1970), 887–890. Wallmann, Jürgen P.: Jedermann-Gedichte. In: Nürnberger Nachrichten (6./7.1.1971).
Forschungsliteratur
Boyken, Thomas: Das weiße Bettlaken ist vor dem Fenster. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin/Boston 2012, 332–340. Brinkmann, Rolf Dieter: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Christ und Welt (15.11.1968). Buselmeier, Michael: Das alltägliche Leben. Versuch über die neue Alltagslyrik. In: Michael Buselmeier u. a. (Hg.): Neue deutsche Lyrik. Beiträge zu Born, Brinkmann, Krechel, Theobaldy, Zahl u. a. Heidelberg 1977, 4–34. Cappelmann, Ina: Schauspielerin. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012a, 318–325. Cappelmann, Ina: Unter Glas. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012b, 325–331. Chiarloni, Anna: Was anfällt. Lyrische Strategien in Rolf Dieter Brinkmanns »Gedicht«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34 (2002), H. 2, 229–239. Dencker, Klaus-Peter: Sprache als ornamentaler Protest. Drei Kapitel zum Vorverständnis der Pop-Literatur unter
besonderer Berücksichtigung von Rolf Dieter Brinkmanns Gedichten. In: Hermann Glaser (Hg.): Jugend-Stil. Stil der Jugend. München 1971, 79–101. Hartung, Harald: Deutsche Lyrik seit 1965. Tendenzen – Beispiele – Porträts. München/Zürich 1985, 22 ff. Jung, Thomas: Heute. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012, 307–312. Lampe, Gerhard W.: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983, 108 ff. Metz, Christian: Gedicht »Nacht«. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012, 294–307. Röhnert, Jan: »Es grüßt uns sehr / Herr Apollinaire«. Zur Präsenz der französischen Avantgarde in der deutschen Nachkriegslyrik – der Beitrag Rolf Dieter Brinkmanns. In: LiLi 35 (2004), Nr. 134, 129–146. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Seiler, Sascha: Oktober. In: Jan Röhnert/Günter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 1. Berlin 2012, 312–317. Späth, Sibylle: »Rettungsversuche aus dem Todesterritorium«. Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt a. M./Bern/New York 1986. Terstiege, Gerrit: Brinkmanns Paradies. Leaves of Grass. In: Form 232 (2010), 108–109. Theobaldy, Jürgen/Gustav Zürcher: Veränderung der Lyrik. Über westdeutsche Gedichte seit 1965. München 1976. Zeller, Michael: Gedichte haben Zeit. Aufriß einer zeitgenössischen Poetik. Stuttgart 1982.
Hans-Edwin Friedrich
C Späte Gedichte 23 Eiswasser an der Guadelupe Str. (1974/1985) Das in eine Vielzahl von Einzeltexten gegliederte Langgedicht ist im Frühjahr 1974 während Brinkmanns Aufenthalt in Austin, Texas, entstanden und 1985 anlässlich seines zehnten Todestages von der Witwe veröffentlicht worden in einer »einmaligen limitierten Auflage von 1500 nummerierten Exemplaren«, wie im Impressum steht. Die Forschung hat hervorgehoben, dass die Reihenfolge der nicht nummerierten Seiten im als Druckvorlage benutzten Manuskript keiner Strukturierungsabsicht entspricht, sondern auf einen »Sortierungszufall« zurückzuführen ist (Poppe 2001, 77; Ders. 2012, 894). Deutlich wird dieses unfreiwillige Cut up -Verfahren am Gedicht »Ortszeiten«, das zuvor bereits veröffentlicht worden ist und dessen Form in Eiswasser eine Vertauschung der Manuskriptseiten nahelegt (vgl. Poppe 2001, 78; Poppe 2012, 893 f.). Jede Interpretation des gesamten Textes sowie längerer Textpassagen im Zusammenhang muss deshalb auch philologische Entscheidungen treffen. Poppe hat einen Vorschlag zur Anordnung der Seiten unterbreitet, der inhaltliche, formale und typographische Kriterien anlegt (vgl. Poppe 2012). Er nummeriert den Text beginnend nach dem Motto und schlägt folgende Reihenfolge vor: [3], [4], [5], [6], [7], [8], [1], [2], [9], [19], [20], [17], [18], [25], [22], [21], [31], [23], [24], / [10], [11], [12], [13], [14], [15], [29], [36], [35], [30], [27], [26], [38], [37], [39], [28] / [34], [32], [33], [41], [44], [45], [40], [47], [48], [46], [42], [43] / [49] (vgl. Poppe 2001, 76–79). Die fehlende Seite [16] müsste wohl zwischen [15] und [29] eingefügt werden. Oftmals wird Eiswasser in der Forschung lediglich erwähnt oder es werden einzelne Gedichte herausgegriffen (vgl. Schulz 1995, 179 f.). Poppe hat zwei umfassendere Interpretationen vorgelegt, die den Schwerpunkt auf die Rekonstruktion des Textzusammenhangs und der zitierten Kontexte legen (vgl. Poppe 2001; Ders. 2012). Die erste Arbeit ist bestrebt, die
philologische Problematik zu klären und die thematischen Zusammenhänge besonders mit Bezug auf die USA zu rekonstruieren. Außerdem beschreibt sie die im Gedicht entworfenen Gegenbilder zum USA-Bild (vgl. Poppe 2001). Poppes zweite Deutung basiert auf intertextuellen Verweisen und diskutiert weitere Aspekte des außerliterarischen Kontextes. Dabei setzt er sich kritisch mit der in der Forschung vorgeschlagenen Lesart des Textes als Äquivalent zum privaten Brief (vgl. Späth 1989, 73) auseinander. Zum Gesamtkonzept und zu poetologischen Fragen äußert er sich nicht, er interpretiert vielmehr einzelne Gedichte exemplarisch auf der Grundlage der biographischen und intertextuellen Daten (vgl. Poppe 2012, 901–908). Brinkmann hatte Eiswasser zur Veröffentlichung vorgesehen, er bezeichnet den Text als »längeres Gedicht«, den Titel als »vorläufig[]« (BrH, 42). Im Brief an Hartmut Schnell vom 20. Januar 1975 spricht er davon, »mit dem Pieperverlag in München ein neues Buch zu machen, das auch Eiswasser an der Guadelupe Str. enthalten wird.« (BrH, 161). Einige Gedichte sind in veränderter Form in Westwärts erschienen (vgl. Ww, 10–14). Vorstufen in Briefen sind jetzt in den Materialbänden des mit Brinkmann befreundeten Malers Henning John von Freyend entdeckt worden (Di Bella 2015). Thematisch und formal ist Eiswasser zum Spätwerk Brinkmanns zu rechnen, das u. a. mit längeren durchaus narrativen Gedichtformen arbeitet und stärker als das Frühwerk durch poetologische Reflexionen in den Gedichten sowie Selbstreferentialität gekennzeichnet ist. Formal weist Eiswasser Besonderheiten auf, die es teils mit den früheren vergleichbaren Werken (Vanille; Wortwechsel) verbinden, dazu gehört die formale sowie inhaltliche Vielstimmigkeit innerhalb eines thematischen Hauptstranges, der hier durch die Auseinandersetzung mit Austin und den USA gebildet wird. Einige Gestaltungsmittel unterscheiden Eiswasser von den veröffentlichten Sammlungen, einerseits der Handlungsbogen, der durch den Straßennamen und die Bewegung durch die Umgebung markiert wird, andererseits die ein-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_23
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V Poesie – C Späte Gedichte
gestreuten Prosatexte. Sie enthalten häufig Adressierungen in Prosaform an Maleen und Robert sowie Prosaskizzen von Erlebnissen in Austin. Die Skizzen werden zwischen die Sequenzen der in sich abgeschlossenen Einzelgedichte montiert. Unter anderen hat Poppe vorgeschlagen, Eiswasser als Langgedicht zu lesen (vgl. Poppe 2012, 901), damit würde dieser von der Forschung bisher kaum gewürdigte Handlungsstrang betont.
23.1 Langgedicht Zwar pflegt Brinkmann den antikünstlerischen Affekt, dennoch ist seine oft unwirsche Ablehnung von Formfragen nicht dasselbe wie die Ablehnung von Form überhaupt. Vielmehr scheint ihn ja eine eher problematische Form wie das Langgedicht geradezu anzuziehen, weil sie die individuelle Behandlung poetischer Strukturen offen lässt. Auch Brinkmanns Lob des Zufalls gehört in diese Kategorie des provokanten Umgangs mit Erwartungen. In Deutschland hatte Walter Höllerer mit seinen aphoristisch formulierten Thesen zum langen Gedicht in der Zeitschrift Akzente (1965) die Debatte befruchtet und amerikanische Vorbilder ins Spiel gebracht. Das moderne Gedicht, das diesen Platz eben benötige, müsse aus unterschiedlichen Perspektiven die Heterogenität der Wirklichkeit darstellen und dies formal, in Versbau und Schriftbild, reflektieren. Tatsächlich finden sich in der deutschen Literatur dann nach 1965 auch zunehmend solche Experimente. Für Brinkmann waren Lawrence Ferlinghetti und Kenneth Koch stilbildend. Lange Gedichte sind nicht durchgehend regelmäßig gebaut, sie weisen heterogene Formen auf wie Meditationen, Collagen, Cantos, Briefe, Kataloge, Songs, Träume, Tagebuchauszüge. Immer ist das Ziel, die Welt aus pluralisierten Blickwinkeln zu zeigen und Diskontinuität zu demonstrieren. Selbstverständlich schreiben diese Autoren im Bewusstsein vollkommen realisierter Modernität. In der Schreibbewegung sollen die Raumerkundungen des poetischen Subjekts als Suchbewegungen eingefangen werden (Kramer). Die komplizierte Verschränkung von Themen und Motiven oder sprachlichen Besonderheiten verortet die (typisch moderne) Unsicherheit des Subjekts in einem flächigen Raster und führt dem Leser darin eine Möglichkeit vor, wie er Raum – Zeit – Beziehungen überdenken kann. Schon deshalb weisen Brinkmanns Langgedichte bereits im Titel gerne auf den Aspekt der Räumlichkeit hin. Diese Eigendynamik des Schreib-
prozesses sowie der Angriff auf traditionelle Gattungen führen nicht zu einer poetischen Beliebigkeit, sondern ersetzen bekannte Formen durch komplexere. Schließlich weist der Aufbau des Langgedichts aus zahlreichen Einzeltexten auf die Schwierigkeit hin, moderne Erfahrung überhaupt noch in einem kurzen Gedicht einfangen zu können. Im Anschluss an das 1970 in deutscher Übersetzung erschienene Langgedicht Paterson (in fünf Bänden 1946–1958) von Williams unternimmt Brinkmann mit seinen späten Gedichten den Versuch, ein aktuelles Bild von einem Leben zu zeichnen, das vollständig durch Funktionen bestimmt und deformiert ist. Das Gedicht sollte die Totalität und Problematik eines solchen Lebens umfassend darstellen. Ähnlich wie Williams sucht er nach einer neuen Sprache und formalen Möglichkeiten, um ein so kühnes Unterfangen ins Werk zu setzen. Poppe zeigt am Gedicht One Way exemplarisch, wie eine Person durch die Straßen in einem fremden Land geht. Die Unbehaustheit des modernen Menschen wird dabei an einfachen und direkten Handlungen anschaulich. Der namenlose Fremde isst, schweigt, spricht mit sich selbst, fährt mit einem Bus. Am Ende kauft er eine Zeitung. Auf einem der Fotos in Ww sieht man ein Straßenschild mit dem Titel des Gedichts. Die Einbahnstraße wird zum Zeichen des modernen Lebenswegs. Bei aller Disparatheit der Themen soll doch das Bemühen um einen einheitlichen Zugriff auf die Krisensymptome der Gegenwart erkennbar bleiben. Als Langgedicht ist der Text prinzipiell erweiterungsfähig und im steten Bezug auf neue Problemlagen offen für weitere Szenen.
23.2 Poetische Verfahren Aus dem Grundbuch der Beat Generation, dem wichtigen Roman Gammler, Zen und Hohe Berge (The Dharma Bums 1958), der 1963 bei Rowohlt erschienen war, dem Roman, in dem Jack Kerouac die Suche nach Alternativen zu einer zerstörerischen Konsumgesellschaft beschreibt, entnimmt Brinkmann das Titelwort: »Ich träumte reine Träume, kühl wie Eiswasser, glückliche Träume, keine Alpträume.« (Kerouac 1971, 61) In den Texten finden sich immer wieder Hinweise auf die Prosa Kerouacs und dessen Beschreibung von Tagträumen (E, [5], [37]). Formal sind die Montagetechnik verschiedener Inhalte und Formen sowie zahlreiche, zumeist intertextuelle Anklänge an Popsongs auffällig – z. B. E, [10], [35] u. ö. Sie äußern sich in Titelübernahmen, Zitaten,
23 Eiswasser an der Guadelupe Str. (1974/1985)
direkten Übersetzungen oder übersetzten Versatzstücken, aber auch in rhythmischen Elementen, die oftmals mit hartem Umbruch die Verszeilen angleichen. Hinzu tritt das storytelling auf beschränktem Raum. Diese an Songtexte erinnernden Formen werden inhaltlich durch zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit den USA und ihren Bürgern und wenige assoziativ-reflexive Texte kontrastiert, die oftmals das Schreiben selbst einbeziehen (z. B. E, [8]). In den Briefen an Hartmut (s. Kap. 33) hebt Brinkmann die Popmusik als Gegenbild zum Alltag hervor (vgl. BrH, 91), diese Polarität liegt auch in Eiswasser zugrunde. Inhaltlich dominieren die Erkundung des Landes und die Kritik an den USA in Geschichte und Gegenwart. Brinkmanns sehr persönliche Wahrnehmung des Landes ist geprägt von einem sehr deutschen Blick auf die USA: »Was ist Amerika? Eine Art Reklame. / Es gibt keine einzelnen Menschen da, / es gibt nur Amerikaner« (E, [16]). Grobe, klischeehafte Wertungen dominieren das abschreckende Bild einer kulturlosen Nation. Die amerikanische Geschichte sei geprägt von Menschen, die einem unfreien Europa entflohen waren, es aber nicht hinter sich gelassen haben (»vergammelte Stammbäume« E, [16]), der mitge brachte Puritanismus (»puritanischer Rotz« E, [26]) wurde nie überwunden und führte zu einer verkümmerten Sexualität. Geld regiert alles Handeln, der Versuch, eine neue Zivilisation zu errichten ist gründlich gescheitert (E, [6]), die rüden Erziehungsmethoden sind noch schlimmer als im alten Europa (E, [26]). »Pumpen und dann Geisterstädte, / Hier haben sie Bullenpenisse gegessen«, oder »die Halluzination Amerika ist / versteinert« (E, [37]) – das Fazit zur Geschichte der USA könnte nicht einseitiger und verzerrter ausfallen. Von diesem Bezugsfeld aus ergeben sich weitere Aspekte wie Reflexionen über die Rolle der Ökonomie am Beginn der Sammlung, Drogen spielen eine Rolle genau wie die Pop-Musik und die Lebens- und Freizeitgestaltung. Die Frage nach der Bedeutung und nach der Interpretation von Literatur, die wiederum auch im Zusammenhang mit Brinkmanns Lehrtätigkeit steht, bildet einen weiteren Schwerpunkt. Auf der anderen Seite durchziehen den Text Gegenbilder. Die Flucht und Überwindung der modernen, amerikanisierten Zivilisation, die Brinkmann an ihrem Ursprungsort hassen lernt, konfrontiert er mit Sex, Drogen und Musik, die ihm »besser« vorkommen als Wörter zu machen (E, [9]). Die Assoziationen mit Marihuana sind notorisch im Gedicht gleichen Titels (E, [10]). Erinnerungen an Glücksmomente können
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dasselbe auslösen. Besonders wichtig ist die Liebeserklärung an seine Frau, am stärksten gegen Ende des Bandes (E, [47–49]). Die Sehnsüchte, die in diesem Text benannt sind, liegen also nicht im fremden Land, sondern im alten Europa und namentlich im Herkunftsort Köln, dem Brinkmann immer wieder entfliehen will. Das sprechende Ich »vermisst die zarten, hellen / nördlichen Frühlingstage« (E, [22]). Auch kitschige Momente sind nicht vermieden: »Bald steige / ich in ein Flugzeug und fliege zu Dir« (E, [22). In vielen Texten sind aber Momente eingeflochten, in denen ganz eindeutig von erfüllten Situationen die Rede ist: Vielleicht sind es überall die Lücken, die Zwischenräume, das, was man nicht tat, unterliess, gelassen hat, die den Raum zum träumen offenliessen, ohne Wörter, sich zu bewegen, aufeinander zu, (E, 43)
Ersten Aufschluss für die Interpretation von Eiswasser gibt ein Ludwig Tiecks Jahrmarkt (1846) entnommenes Motto, das einerseits durch einen Titel auf die bunte Schaustellerei nicht zuletzt der USA verweist, aber auch einen Transfer von der psychischen Verfassung – »menschlichen Gemüthsbewegung« – auf die Beschreibungssprache und Namengebung der Umwelt fordert (Tieck 1965, 637; vgl. Poppe 2012, 896 f.). Man kann dieses Motto als Hinweis auf ein poetologisches Verfahren lesen, das einerseits die Oberfläche der USA kritisch beschreibt und darin andererseits eine Befindlichkeit des lyrischen Ich ausdrückt. An diesem Punkt setzt auch der Rahmen von Eiswasser an, in den die weiteren 49 Seiten eingefügt sind. Die Sammlung ist in vier Teile geteilt, die, bis auf den ersten, jeweils mit römischen Zahlen gezählt werden (Poppe 2001, 78 rekonstruiert das Inhaltsverzeichnis). Der dritte und der vierte Teil stellen nochmals explizit die Verbindungen zur Guadalupe Str. – Brinkmann schreibt Guadelupe – her, die direkt am Hauptcampus der University of Texas liegt und auch für die weitere Infrastruktur der Universität steht (vgl. Poppe 2012, 898). Die vielen konkreten Orte, Gebäude, Wege, Straßen und Kneipen (E, [34]), das eigene Appartement, verbunden mit Eindrücken, Beobachtungen und Handlungen aus dem Alltag, gehören zu einer Methode der Verknüpfung von mentalen Aktionen mit festgelegten Orten, wie dem »Bücherturm« (E, [1], [15]) der Universität, in dem Brinkmann, eigens versehen mit dem Schlüssel zur Bibliothek auch am Wochenende arbeiten durfte. So bleiben die Orte als Auslöser für Gedankengänge erkennbar.
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V Poesie – C Späte Gedichte
Die Prosaskizzen beziehen sich auf Straßenszenen dieser Gegend und auf Eindrücke wie die Wirkung der Reklametafeln (E, [34]), die zur Jahrmarktassoziation passen. Oftmals sind sie an Maleen adressiert. Der letzte Satz des vierten an Maleen gerichteten Teils betont sowohl die Medialität des Schreibens auf Papier, wenn er einen Liebesbrief mit dem Unsagbarkeitstopos zitiert, als auch die Unmittelbarkeit des Erlebens der Straßenszenen hervorhebt: »So gehe ich hier die / Guadelupe Str. entlang« (E, [49]). Brinkmann entwirft in seinen BrH eine Poetik des Gehens, dazu nimmt er auch Bezug auf seinen Texas-Aufenthalt (BrH, 127–129; vgl. Di Bella 2015, 302–308). Sie bildet auch die Grundlage von Eiswasser. Das Gehen steht für die Dynamiken der Körperbewegung und der geistigen und literarischen Neuorientierung, damit sollen »Fixierungen« aufgelöst werden. Brinkmann bindet diese Poetik ästhetisch an die Wahrnehmung der Oberfläche, mit Korzybski ist er bestrebt, die Sprache zu dynamisieren und die »Oberbegriffe aufzulösen« (BrH, 49–50, 129). Deutlich werden an diesen Ansatzpunkten auch die verschiedenen Ebenen, die Eiswasser miteinander in Beziehung setzt: Die Eindrücke der Bewegung durch die US-amerikanische Stadt treten in Beziehung mit den Ebenen der Wahrnehmung des Körpers und der Schrift, sie haben das Ziel, das Leben und die Lebensbedingungen zu dynamisieren. Folgt man Poppes Anordnung, beginnt der Text mit einer Betrachtung zur Geschichte, folgt man der veröffentlichten Fassung, beginnt er mit atmosphärischen Beschreibungen des Viertels beim Gehen – damit würde die Poetik des Gehens am Beginn und Ende stärker betont. Er endet hoch reflektiert und öffnet ein Spiel von Deutungen. Das thematische Spektrum des Textes verbindet die emotionale Seite der Beziehung zu Familie und Stadt mit der Differenz von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit des Erlebens, sowie die konkreten Reiseeindrücke mit einer selbstreferentiellen Interpretation zwischen Straße und weißem Papier. Dabei benennt er wiederum mit Tieck konkret die Kontexte »Alles Geschichtliche, Politische, Historische« (E, [49]; Tieck, 1018; vgl. Poppe 2012, 897). Anders als die Adressierung an Maleen am Ende, die die Emotion betont, vereinigt die Sammlung der Texte alle diese Ebenen, wobei einige literarische Effekte darauf zielen, die Mittelbarkeit des Mediums Schrift zu überwinden. Der erste Teil (E, [1]–[9]) hat Expositionscharakter, er sammelt teils datierte (E, [5]) Eindrücke der Landschaft, des Lebens (vgl. Schulz 1995), der Fortbewe-
gung und der Menschen. Er speichert in Anführungszeichen gesetzte Kommunikationsbrocken und Reklametexte und fügt Reflexionen über die Relation von Wirtschaft und Moral an. Hinzu treten Prosaminiaturen (E, [2], [4], [8], [9], [18]), dabei handelt es sich um Momentaufnahmen auf verschiedenen Ebenen. Sie beschreiben durchaus ähnliche Eindrücke: von Klima, Menschen und Geschichte (E, [3]). Der blaue Himmel bildet ein verbindendes Element. Die Momentaufnahmen reflektieren aber auch das Schreiben der Gedichte in der dritten Person: »So singt er sich selber ein Lied für je / manden, der nicht da ist« (E, [8]). Damit werden ebenfalls die lyrische Sprechhaltung der Reflexion in der Einsamkeit sowie die Adressierung an die Familie deutlich. Die »Unterbrechung für Robert« (E, [5]), die unter anderem ein Bild beschreibt, betont hingegen die private Dimension. In Poppes Vorschlag beginnt der Text mit dem Stichwort »Aus der Geschichte der USA« (E, [3]), das Gedicht reiht Eindrücke aneinander, deutet bestenfalls historische Situationen an. Konfrontiert wird dieses Stück mit dem Erleben der Wüste, der Weite des blauen Himmels und der verdorrten Lebewesen, das einen »Tod der Geschichte« (E, [3]) als Resümee der Gegenwartsbetrachtung nahelegt (vgl. Poppe 2001, 84 f.). Die Gegenwart in Gesellschaft und Universität (E, [6 f.]) wird besonders in ihrer Alterität wahrgenommen, auch wenn zu den wörtlichen Zitaten in englischer Sprache oftmals deutsche Übersetzungen treten (E, [6], [9]). Hervorzuheben sind die komprimierten Beschreibungen, die die »neue Form der Gesellschaft« z. B. auf ihre Überflussproduktion an »Hoffnungen, Enttäuschungen« und »Wünsche« hin reflektieren (E, [6]). Eiswasser liefert Reflexionen über die USA, die durch analytische Schärfe und durch eine starke Abneigung gekennzeichnet sind. Hartmut Schnell hat hervorgehoben, dass das Bild der USA in den an ihn gerichteten Briefen von diesen Eindrücken abweicht (BrH, 274). Im Zusammenhang mit der Kritik am amerikanischen Staat (E, [18], [25]) sind durchaus politische Aspekte nachweisbar. Der zweite Teil (E, [10]–[28]) beginnt mit dem »Marihuana« überschriebenen Gedicht (E, [10]). Formal ist er ähnlich konzipiert wie der erste, er weist allerdings weniger Prosaeinschübe auf. Diese Gedichtgruppe enthält am Beginn Anspielungen auf die Popund Rock’n’Roll-Musik. Die Auseinandersetzungen mit den USA und ihrer Bevölkerung werden ebenso intensiv geführt wie im ersten Teil: »Geht die Alptraummaschine USA weiter?« (E, [15]), Begriffe und Kontexte aus dem universitären Lehrbetrieb – »Vieh-
23 Eiswasser an der Guadelupe Str. (1974/1985)
lologie«, »Content« (E, [29]) – kommen oftmals parodistisch angereichert zur Geltung. Mit ihnen verbunden ist eine Selbstreflexion der Gedichte. Die Verweise auf Pop-Musik werden häufig mit melancholischen Beschreibungen des Landes verknüpft (E, [26], [30], [35]). Bob Dylans Zeile »Don’t Think Twice It’s Allright« (E, [26]) dient als Überschrift für eine Kritik an einer Welt, die durch eine Werbetafel konstruiert wird. Sie wird mit ins Deutsche übersetztem Zitatmaterial aus Pop-Songs angereichert. Eine »Unterbrechung« setzt die religiösen europäischen Auswanderer mit der »dumpfen Mentalität« und dem Bildungssystem der USA in Beziehung. Auch das Thema Geschichte und deren Ende aus dem ersten Teil wird aufgenommen (E, [37]). Eine lange Reflexion – »6b« – (E, [37], [39], [28]) über die deformierte Gesellschaft und den gescheiterten Staat schließt den Teil ab. Der dritte Teil (E, [34]–[43]) trägt wie die Sammlung den Titel Eiswasser an der Guadelupe Str. Er beginnt mit einer satzzeichenlosen Aufzählung von Reklametafeln und Schildern (E, [34]), und führt das Thema der »Kulisse der Wörter« weiter – vgl. E, [16] – schließlich situiert der Text die Menschen darin. Auch diese Passagen können selbstreferentiell gelesen werden, denn sie nehmen intertextuell Bezug auf Tiecks Novelle Der Jahrmarkt. Auch die folgenden Gedichte kontrastieren das Wortmaterial mit den in der Gesellschaft wahrgenommenen Ansprüchen: »sie wollen die Menschen auf die Ebene der Sprache bringen« (E, [33]). Die Verweise auf den Ort und die Situation verbinden die Gedichte zu einem inneren Monolog mit verschiedenen Schwerpunkten, der durch »Kleiner Tanz (Eine Unterbrechung)« (E, [41]) skandiert wird. Das Wort ›Liebe‹ wird im Kontrast zum sprachlichen »Kernzerfall« diskutiert (E, [44 f.]). Diese Gesellschaftsdiagnose prägt auch die BrH (BrH, 221). Danach wird die Reihe der Songs fortgesetzt (E, [45]– [46]). Sie verknüpfen Beschreibungen von Erlebnissen und Träumen mit Reflexionen und Adressierungen an Maleen. Die letzten Gedichte sind nicht mehr gezählt, thematisch und formal weisen sie Berührungen mit der Serie der Songs auf. Die Szene des Abschickens eines Briefes und weitere Reflexionen über das Thema Liebe bilden die Überleitung zum Schluss. Der vierte Teil (E, [49]) besteht neben der Überschrift »Papier, weiss« aus drei Zeilen, die aus einem Brief an Maleen zitieren und dessen Aussage affirmie-
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ren. Im Zentrum steht die Problematik von Sprache, Text, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Die Zeilen stellen die Liebe über die Wörter und die Kontexte, die sie mit Tieck als »Abgeleitetes« beschreiben. Die beiden Schlussverse erzeugen durch ihr Ensemble einen Raum, der zunächst das Gehen auf der »Guadelupe Str.« beschreibt. Die Anspielungshorizonte schließen das Unmittelbare der Emotion sowie deren Verarbeitung durch Sprache, die Wörter, und deren Kontexte ein. Sobald die Wörter geschrieben sind, stehen sie im Zeichen der Mittelbarkeit, auch wenn sie durch Präsenztechniken die Erfahrungen und Reflexionen weitergeben können. Das Gehen auf der Straße fasst dabei nochmals abschließend das gesamte Bild, das persönliche Eindrücke, generelle Reflexionen über die USA und die Literatur mit persönlichen Empfindungen verbindet, zusammen und ruft selbstreferentiell die Poetik dieser Arbeitsperiode Brinkmanns ab. Literatur
Di Bella, Roberto: »... das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Kerouac, Jack: Gammler, Zen und Hohe Berge. Aus dem Amerikanischen übertragen von Werner Burkhardt. Reinbek bei Hamburg 1971. Kramer, Andreas: »Der Raum macht weiter« – Überlegungen zum langen Gedicht bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Vechta 2001, 269–284. Poppe, Claus Peter: Ein Deutscher in Austin – Rolf Dieter Brinkmanns Blick auf Austin, Texas und die USA in Eiswasser an der Guadelupe Str. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns Vechta 2000. Vechta 2001, 76–89. Poppe, Claus Peter: Eiswasser an der Guadelupe Str. [Gedichtzyklus]. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 893–908. Schulz, Genia: Sich selbst suchend sehen. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 167–181. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Tieck, Ludwig: Werke in vier Bänden. Hg. von Marianne Thalmann. Bd. 3: Novellen. München 1965. Williams, William Carlos: Paterson. Deutsch von Anselm und Josephine Hollo. Stuttgart 1970.
Markus Fauser
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24 Westwärts 1 & 2 (1975/2005) 24.1 Ausgaben Als Rolf Dieter Brinkmann Westwärts 1 & 2 im Jahr 1975 veröffentlichte, war der Gedichtband Ergebnis eines Kompromisses, zu dem der Dichter sich genötigt sah: Der Rowohlt Verlag berief sich auf vertragliche Vereinbarungen, die den Umfang des Werks betrafen. Da Brinkmann weit über der verabredeten Seitengrenze von ca. 180 lag, war eine Kürzung des Manuskripts unumgänglich. Kurz vor Weihnachten 1974 war Brinkmanns Lektor Jürgen Manthey gezwungen, den Autor vor die Alternative zu stellen, entweder zu streichen oder von einer Veröffentlichung bei Rowohlt abzusehen. Brinkmann fühlte sich brüskiert, wehrte sich zunächst (»Entweder wollten Sie & der Verlag Bücher von mir oder nicht«), lenkte dann aber ein, strich nahezu radikal, gewann Raum für größere Textmengen durch verkleinerte Schriftgrößen und plante einen zweiten Gedichtband mit den aussortierten Texten (so Maleen Brinkmann in der Editorischen Notiz zu Ww, 333). 23 Langgedichte, 3 kürzere und 1 Essay im Umfang von 89 Seiten mussten für die Erstpublikation weichen (Rowohlt, Verlagsankündigung online). Zufrieden verkündete Brinkmann knapp zwei Monate vor seinem Tod am 4. März in einem Brief an Hartmut Schnell das Ende der Überarbeitungen: »Ab Sonntag ist das Buch endlich fertig gewesen, mit allen Korrekturen usw. eine richtige Erleichterung!« (Ww, 334) Der Gedichtband erschien dann in pink gebunden mit gelbem Vorsatzpapier und ohne Werbung; zeitlich wie geplant kam der Band im Mai 1975 mit einem Umfang von 184 Textseiten heraus. Gerahmt wurde der Band mit jeweils 12 durchlaufenden Bildseiten am Anfang und Ende des Buchs, auf denen sechs Fotografien pro Seite im einheitlichen Format zu gleichförmigen Collagen zusammengestellt sind. Unterm Strich ist Brinkmann kurz vor dem Veröffentlichungstermin doch zufrieden über sein erstes Buch nach sechs Jahren, das »ungefähr so rauskommt, wie ich mir das gedacht habe« (Ww, 335). Wenige Tage nachdem er bei einem internationalen Treffen von Lyrikern in der Universitätsstadt Cambridge einige Gedichte aus seinem neuen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten Buch vorge tragen hatte, verunglückte er beim Überqueren der Westbourne Grove in London-Bayswater. So erlebte Brinkmann das Erscheinen des Kompromissbandes nicht. Der frühe tragische Unfalltod des Lyrikers ver-
eitelte zudem den gefassten Plan einer überarbeiteten Publikation (Ww, 335). Anlässlich seines 30. Todestags erschien dann die erweiterte Ausgabe von Westwärts 1 & 2 in dem Umfang, den Brinkmann hinterlassen hatte. In der posthumen, nun komplettierten Rowohlt-Ausgabe von 2005 finden sich insgesamt 26 weitere Gedichte, die seinerzeit zurückgehalten wurden, sowie der rhapsodische und teils verklausulierte Schlussessay Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/75), wobei der Anfang des Letzteren ein Jahr nach Brinkmanns Tod bereits erschienen war (Brinkmann 1976, 228–248; vgl. zum besseren Textverständnis die Wortund Sacherklärungen bei Jacob 2012, 789–799). Die Titel der 2005 ergänzten, mit Ausnahme von Schattenmorellen unveröffentlichten Gedichte lauten wie folgt: Aufwachen, Kälte, Die Katze, Sie trugen so viel, Chimären, Alltägliches Gedicht, La Dame Aux Camelias Potty Greta Garbo Vollmond, Dialog für den Russen Daniil Charms, Don’t bug that chick, Nachmittags im Museum, Nach einem alten Tanzlied geschrieben, Drei einfache Variationen über ein altes Thema, Ein anderes Lied, Ein Glas frisches Wasser, Fußnote, Schattenmorellen, Ein warmer, südlicher Tag, Ein Abend, Bruchstück Nr. 2, Chicago, Lektüre, 2. März 1776, Verwechslung, Donnerstagabend-Blues, Liebe, Einen Brief schreiben, Zitate. Vorfassungen von Dieses Gedicht hat keinen Titel und Oh, friedlicher Mittag notiert Brinkmann in einem der Briefe an Hartmut vom 7. Juni 1974 (BrH, 61–68). Andere Vorstufen finden sich auch in dem erst neulich bekannt gewordenen Briefwechsel mit Henning John von Freyend (jetzt in Vechta). Dabei folgt die postume Zusammenstellung der Idee einer größtmöglichen Annäherung an Brinkmanns Vorstellungen, über die ein Inhaltsverzeichnis zu Westwärts 1 & 2 aus dem Nachlass des Dichters Aufschluss gibt (Ww, 335). Allerdings arbeitete Brinkmann beständig an seinen Texten, schrieb sie um, sortierte sie um, so dass die Vorstellung einer ›zuverlässigen‹ Rekonstruktion und Abbildung seiner Pläne trügerisch wäre und dem offenen Werkverständnis Brinkmanns nicht entspricht. In Vorbereitung des Nachworts zum Gedichtband hatte Brinkmann entsprechend notiert, »jedes Gedicht, noch das perfekteste, in sich geschlossenste, vollendetste Gedicht ist ein Fragment« (Ww, 263).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_24
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24.2 Entstehung Zur Entstehung der Gedichte existieren keine exakten zeitlichen Angaben. Im Vorwort gibt Brinkmann die Jahre von 1970 bis 1974 an. In diese Zeit fallen insgesamt folgende Textproduktionen: Rom, Blicke (entstanden 1972/73, erschienen 1979), Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (entstanden in der Villa Massimo, erschienen 1973), Erkundungen für die Präzisierungen eines Gefühls für einen Aufstand (Reise Zeit Magazin) (entstanden 1971–1973, erschienen 1987), Schnitte (entstanden frühe 70er Jahre, erschienen 1988) und Fragment zu einigen populären Songs (erschienen 1975). Mit größter Wahrscheinlichkeit brachte der Autor den Großteil der Texte für Westwärts 1 & 2 daher erst nach 1973 auf Papier oder arbeitete sie weiter aus. Die Phase nach dem Erscheinen des vorhergehenden Gedichtbandes Gras charakterisiert Röhnert (2012, 384) als eine »Art lyrischer Latenzzeit«. Brinkmanns ehemaliger Verleger Jörg Schröder geht davon aus, dass Brinkmann in dieser Phase literarisch durchaus produktiv gewesen sei, er aber vermutlich unter »Textabnabelungsproblemen« gelitten habe, die Veröffentlichungen verhinderten (Schröder/Kalender 1992, 25). Die Lyriksammlung Gras hatte Brinkmann 1970 herausgebracht. In den folgenden fünf Jahren erschienen außer Hörspielen nur einzelne Gedichte und keine weitere eigenständige Lyrik-Publikation (vgl. Seiler 2006, 162). Überhaupt hatte sich Brinkmann mit der letzten größeren Veröffentlichung vom deutschen Literaturbetrieb losgesagt. Dass seine Distanzierung pathetische Züge trug, gesteht er selbst. In einem stichpunktartig gegliederten Lebenslauf listet er etwa auf: »Bruch mit der offiziellen Literaturszene der BRD seit 1970« (BrH, 111). An anderer Stelle heißt es: »Treffen mit verschiedenen Schriftstellern meiner Generation, u. a. Wondratschek, Chotjewitz, Handke, Wolf, Born, was mir alles nichts gesagt hat« und »den Kulturbetrieb hasse ich« (BrH, 114 u. 116). Zur Skepsis gegenüber der deutschen und europäischen Lyrik tritt Skepsis gegenüber der eigenen Gedichtproduktion hinzu. Kurz vor dem Jahreswechsel 1974/75 glaubt Brinkmann von seinen Gedichten über die Bundesrepublik, sie seien alle »finster und abstrakt und zerrissen«. Er ist sich sicher: »Europa ist wirklich am Ende, alle neuen interessanten Formen des Bewußtseins, auch alle Spielformen, sind ja in den letzten 20 Jahren in USA entstanden, und das wird sicherlich noch 100, 200 Jahre so sein« (BrH, 107). Die Jahre bis 1975 sind jedoch gefüllt mit wichtigen Erfahrungen; vor allem die Reisen spielen eine zentra-
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le Rolle, weshalb Westwärts 1 & 2 auch als »Reisetagebuch« verstanden wird (Lange 2010, 48). Ebenso Brinkmanns Aufenthalt als Stipendiat der Villa Massimo wie seine Gastprofessur in Austin, Texas fallen in diese Zeit. Gerade das römische Jahr führt zu einem grundlegenden Wechsel in Brinkmanns Haltung: Er wendet sich von der populären Kultur seiner Zeit ab und verliert die Überzeugung, er könne als Literat Kulturvermittler sein. Im Unkontrollierten Nachwort schreibt er, dass »die ekstatischen Erfahrungen jener Jahre zwischen 1965 und 1970 [...] inzwischen wieder eingeordnet« seien; die »Generation im Moment transportiert lediglich das erstarrte, tote Begriffsmaterial des 19. Jahrhunderts, das Ende der 60er Jahre die Lust, die Freude erschlug, und ist uninteressant« (Ww, 265). Seiler sieht seine resignierte Haltung in der Einsicht gegründet, dass das Subkulturelle bloße »Fassade« sei, hinter der sich schnöde Bürgerlichkeit verstecke (Seiler 2006, 162). Zu dieser Erkenntnis hatte Brinkmann sich in Rom durchgerungen. So fasst auch Rom, Blicke die moderne Zivilisation als düstere Geschichte des Scheiterns auf. Am Beispiel der Ewigen Stadt will Brinkmann seinen Befund paradigmatisch beschreiben. Vor allem im Westwärts-Gedicht findet dieses Vorhaben ein Textecho. »die Mythologie der vier Himmels / Richtungen bricht zusammen / [...] Hier ist eine Wüste, dachte ich im Motel, nächste Zeile. / Eine tote Palme stand neben dem Swimming Pool. / (Villa Capri / Motor Hotel, 2400 [...])« (Ww, 68). Vermeintlich glorreiche Vergangenheit und banale Gegenwart sind miteinander verquickt und besudeln sich gegenseitig. In Roma die Notte – »die Nutte« ist im italienischen »notte« für die »Nacht« mitzuhören, wenn es heißt: »Der Senat und Das Römische Volk / steht auf dem Kanalisationsdeckel« und »Mama Roma ist eine langweilige / Bar mit lungernden Typen«; in »staubige[n] Parks« stehen die »Skulpturen Verstümmelter«, wobei die Ambivalenz von antiker Kunst und heruntergekommenen, lebenden Zeitgenossen offengehalten ist (Ww, 125–129). Der zweite wegweisende Auslandsaufenthalt erstreckt sich über das erste Halbjahr 1974. Von Januar bis Mai war Brinkmann als Gastprofessor an das Deutsch-Department der texanischen Universität Austin eingeladen worden, um dort Schreib- und Literaturkurse zu geben. Auf Wunsch von Leslie Willson nach einer Empfehlung von Hans Bender. In Austin lernt Brinkmann den deutschen Studenten Hartmut Schnell kennen. Der legendäre Briefwechsel mit ihm dokumentiert nicht zuletzt, wie intensiv und anhal-
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tend Brinkmann sich nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten mit Dichtung auseinandersetzt. Die Dynamik führt nach den Jahren publizistischer Zurückhaltung dazu, dass Brinkmann die Veröffentlichung seines zweiten Gedichtbands intensiv verfolgt. Im texanischen Austin lebt Brinkmann gewissermaßen im Süden des Westens, wo er ganz offenkundig ebenso wenig wie in Italien Befreiung empfindet. Und auch die Befriedigung der frühen Jahre, in denen der Autor als Übersetzer und Herausgeber begeistert USamerikanischen Dichtern seiner Zeit zu einer deutschen Stimme verhilft (Acid 1969, Frank O’Hara 1969, Silverscreen 1969), ist verflogen. In Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin heißt es resümierend: »Baumgesichter, arbeitender Süden, zerfallene Tankstelle / Süden und totes Stinktier [...] fortzufliehen, in / den Süden, wo der Süden ist, aus der Realität in die // Fiktion Süden [...]« (Ww, 107 f.). Die Hoffnungen, die sich mit dem amerikanischen Süden verbinden, entlarvt Brinkmann auch dort als abgedroschene Klischees. Aber diese Erkenntnis versetzt das erlebende Ich in drängende Beunruhigung; von Zufriedenheit über einen Zugewinn an Wissen oder Erfahrung ist nichts präsent: »Dann waren plötzlich / imaginäre Polizisten // im Raum (in Gedanken) / und machten einen Albtraum / ein Wochenende lang« (Ww, 105).
24.3 Form Das Buch versucht, das weltweite Unterwegssein als eine Lebensform zu begreifen und dies in einer spezifischen ästhetischen Form erfahrbar zu machen. Die Flächigkeit der Gedichte, die sprunghaften Raumbewegungen, welche die Wörter und Verse auf einer Seite vollführen, die Zitate und über die Seiten verstreuten Textsegmente gehören zum Programm der Gattungsüberschreitung. Gleichwohl fällt die starke assoziative, geradezu essayartige Verknüpfung der Gedichte untereinander auf. Zahllose aufeinander verweisende Bilder, Motive und Textbausteine formieren ein Kompositionsprinzip, das, wie Röhnert (2012, 386) behauptet, dazu führt, dass der Band »als ein durchgehender Text wahrgenommen« werden könne. Demnach solle der Leser den Band wie eine große Einheit lesen und damit über die Grenze des jeweiligen Gedichts hinwegdenken oder aus den Einzeltexten einen größeren Zusammenhang konstruieren. Röhnert versucht außerdem eine Klassifikation nach bestimmten Typen von Gedichten (Röhnert 2012, 386). Er unterscheidet vier Gruppen. Demnach
gehören zu den rein poetologischen Texten Plane, Too; Ein gewöhnliches Lied, Ein Gedicht, Landschaft, Eine Komposition für M, Ein Abend sowie die Prosatexte aus der Vorbemerkung und dem Nachwort, die zusätzlich von den Fotofolgen (Di Bella) gerahmt sind. Die besonders innovativen Texte sind die »Flächengedichte« (Weinrich 1975, 25) mit ihrer willkürlichen Verteilung von Textsegmenten auf den Seiten wie die beiden Titelgedichte, Chevaux de Trait, Improvisation 1, 2 & 3, Sonntagsgedicht, In London Flat 6, Roma die Notte, Politisches Gedicht 13. Nov. 74 BRD, Variation ohne ein Thema, Nacht, Guten Morgen in Köln. Im Gegensatz dazu stehen die Momentaufnahmen im Stile der »Snap-shot«-Ästhetik. Dazu zählen die bekanntesten Texte des Buches Einen jener klassischen, Die Orangensaftmaschine, Trauer auf dem Wäschedraht im Januar, Ein Skunk, Sommer (Aus dem Amerikanischen), Ballade, Highkuh West, Über das einzelne Weggehen, Hymne auf einen italienischen Platz, Oh friedlicher Mittag, Gedicht, Na irgendwie, Nach Shakespeare, Dialog für den Russen Daniil Charms im Dezember, La Dame Aux Camelias Potty Greta Garbo Vollmond, Die Katze und Schattenmorellen. Die vierte Gruppe bilden die narrativen bzw. um einen Erzählkern kreisenden Texte, also die Langgedichte wie Rolltreppen im August, Einige sehr populäre Songs, Lied am Samstagabend in Köln, Samstagabend im Winter, Dieses Gedicht hat keinen Titel, Canneloni in Olevano, Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land, Nordwestdeutschland, Krieg und Nachkriegszeiten, Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin. Mondlicht in einem Baugerüst. Diese Texte sind wie die Flächengedichte gelegentlich in Abschnitte unterteilt. Durchweg benutzt er das Schreibverfahren der hintereinander geschalteten Bilder, die untereinander motivisch verbunden sind, keiner logischen Abfolge gehorchen, immer aber auf den poetologischen Rahmen verweisen. Auffällig ist die Schachteltechnik wiederholter Motive sowie die von der Erinnerung eingegebene Imagination und die daraus resultierende Anordnung der Bilderfluchten. Sehr oft erwähnen die Texte kleine, unscheinbare Dinge oder Gegenstände. Die Lakonie wird dabei gerne zusätzlich chiffriert durch den Gebrauch von privatmythologisch aufgeladenen Wörtern (»Tomate«, »Blau«, »Norden«; Ww, 47, 49, 153, »Wer hat gesagt, daß sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.« 61 oder: »Der Vogel singt mit seinem / Blau« 190). Dabei überlagern sich abgekürzt erwähnte biographische Schlüsselszenen mit poetologischen, manchmal zitierten Grundmotiven. Versuche, zentrale Bildfelder zu identifizieren, können aufgrund des Um-
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fangs und der Komplexität der Sammlung nur heuristische Suchfunktion haben. Späth (1988, 174) macht »vier positiv bestimmte[n] Bildreihen« aus: »Tür«, »Tier«, »Norden« und »Musik« seien für die Bildproduktion jeweils zugehöriger Assoziationsketten wesentlich (›Tier‹ werden in dieser Systematik z. B. ›Althirn‹, ›Labyrinth‹, ›Wortlosigkeit‹ und ›Wildheit‹ zugeordnet). Negativ stünden ihnen Bildreihen zu »Schatten«, »Krieg«, »Ruine« und »Sprache« (Späth 1989, 79) entgegen. Sehr häufig verwendet Brinkmann Strophen mit drei Versen. Allerdings ist das kein Rückgriff auf die klassische Terzine, sondern eine Verbeugung vor der amerikanischen Moderne bei Williams und Wallace Stevens. Allerdings benutzt Brinkmann die Form sehr flexibel, vor allem ohne Reimzwang. Der sich oft einstellende Parlando-Ton entsteht in der Verbindung dieser Form mit den alltäglichen Themen, über die in den Gedichten geredet wird. Eine zweite Quelle für das alltäglich wirkende, der Prosa nahestehende Sprechen ist die Musik. Hier besonders die amerikanische »Blues ballad«, an die Brinkmann in einigen Texten anschließt. Solche Texte wirken wie Erzählungen oder Plaudereien eines Songwriters. Ihr Ton ist hauptsächlich verantwortlich für das Missverständnis, die Texte seien wie absichtslos hingeworfen. Auch die planlos wirkende Auflösung von Traditionen des Sprechens in der Lyrik, die Mischung verschiedener Rhythmen, das weitgehende Absehen von metrischen Strukturen tragen zu diesem gewollten Eindruck bei. Sucht man nach Ansätzen für eine Formanalyse, die noch nicht umfassend geleistet ist, wird neben der amerikanischen Lyrik die moderne Musik den besten Ausgangspunkt liefern (Meyer-Sickendiek 2014).
24.4 Buchtitel Der Band verdankt seinen Titel den beiden Gedichten Westwärts und Westwärts, Teil 2. Der Bandtitel Westwärts 1 & 2 gibt die Gedichttitel folglich nicht exakt wieder, sondern ergänzt bzw. reduziert sie. Nach Röhnert (2012, 383) deutet der Titel auf die »räumliche Determiniertheit von Reisen und Unterwegssein« hin. Das Verfahren führt im Ergebnis zu einer Formulierung, die ein zentrales Anliegen Brinkmanns erfasst: die Durchdringung des Konzepts ›Westen‹, für das zunächst die amerikanische Kultur prototypisch steht, in dem aber auch Westdeutschland, exemplarisch Köln – jene verachtete Stadt (vgl. BrH, 7 f. und 21), in welcher Brinkmann wohnhaft ist – und der gesamte ›Westen‹
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inbegriffen sind. Auch Ostdeutschland zählt Brinkmann latent hinzu. So schreibt er: »Hartmut, Westdeutschland, und vermutlich auch Ostdeutschland, ist verrottet, ein stinkender fauler ›moderner‹ Haufen Staat und Polizei und die Polizei sitzt in den Leuten und in der Sprache und in den Gesten« (BrH, 22). »Was ist mit dem Westen?« lautet eine der letzten Zeilen im zweiten Westwärts-Gedicht, und ganz am Ende wird klar, dass dieser Westen seinen Zenit überschritten hat: »Jenseits / der Betonflächen mit Spuren dünnen Lichts begann der Nachmittag, / westwärts« (Ww, 86). Die Langgedichte Westwärts und Westwärts, Teil 2 folgen in beiden Ausgaben unmittelbar aufeinander (1975, 42–60; 2005, 66–86). Ihnen schließt sich jeweils das Sonntagsgedicht an. Während Brinkmann in der Ausgabe letzter Hand von 1975 das vierstrophige Kurzgedicht Ballade unmittelbar voranstellt, entscheidet sich das Herausgeberteam von 2005 – die Witwe Rolf Dieter Brinkmanns Maleen Brinkmann sowie Delf Schmidt (bis zur Jahrtausendwende beim Rowohlt Verlag verantwortlich für die Reihe Das neue Buch und Herausgeber von Rowohlts Literaturmagazin) – für Ein Skunk. Die zugrundeliegende Straßenszene mit dem titelgebenden totgefahrenen, stinkenden Säugetier, die man auch als Metapher vom »Verschwinden der Geschichte im persönlichen und gesellschaftlichen Sinn« gelesen hat (Kagel 2012, 752), fokussiert stärker auf das amerikanische Setting, welches das erste Westwärts-Gedicht dominiert. Durch eine weitere Beobachtung lässt sich die Umstellung in besonderer Weise begründen: Die Analogie zwischen dem Schicksal des Skunks und Brinkmanns selbst drängt sich auf. Wer, wenn nicht Brinkmann, gilt als Poet nach 1945, der seine Abscheu der Gesellschaft angeekelt wie Stinkbomben vor die Füße wirft? Und 30 Jahre nach Brinkmanns tödlichem Unfall betrauert man den vorzeitigen Tod des Dichters »als ob der Morgen selbst / überfahren worden ist« (Ww, 64 f.). So wird aus einer editorischen Entscheidung eine Eloge auf den einzigartigen, unbequemen Dichter.
24.5 Poetologische Aspekte Er wolle seine Gedichte »einfach genug« machen »wie Songs«, sie sollten sein wie eine geöffnete Tür »aus der Sprache und den Festlegungen raus«, spitzt Brinkmann in der Vorbemerkung zu Westwärts zu (Ww, 9). Diese beginnt mit den berühmten Feststellungen: Die »Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regie-
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rungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter [...]« (Ww, 7). Brinkmann formuliert eine wahre Litanei des »Weiter« und erinnert damit an die Heraklit zugeschriebene Vorstellung, dass alles fließt (›panta rhei‹). Derartige Litaneien sind allerdings in der modernen Literatur seit der DADA-Proklamation, Louis Aragons Le mouvement perpétuel (1924) nicht selten. Brinkmann begegnen sie bei Frank O’Hara in seiner Übersetzung schon im ersten Lunch Poem unter dem Titel Adieu für Norman: »das Einzige was zu tun bleibt ist einfach weiterzumachen (...) es macht weiter / die Seine macht weiter / der Louvre bleibt weiter geöffnet er macht weiter / (...) die Bar Américain bleibt weiter französisch / de Gaulle bleibt weiter Algerier wie Camus / Shirley Goldfarb bleibt weiter Shirley Goldfarb (...)«. Direkt auf Heraklit referiert in Westwärts, Teil 2 das Diktum: »Ist die Sonne größer als der Fuß, wo / sie erscheint?« (Ww, 86) Gelegentlich unterbricht der Verfasser die monotone Aufzählung, wenn er etwa das Schreiben auf der Schreibmaschine bedenkt, sich an seine Schulzeit erinnert oder die Einfachheit von Songs reflektiert. Die Gedanken tauchen auf wie Inseln im Strom einer unaufhaltsamen Welt; und das weiße Blatt Papier, das am Ende der Vorbemerkung vor dem Dichter liegt (Ww, 9), verdinglicht die ersehnte »Abwesenheit von Sprache« (Späth 1989, 79). Das poetische Verfahren folgt einem Prinzip der Fragmentarisierung, das aus Gedankensprüngen und -unterbrechungen, verbalen oder gedanklichen Anakoluthen besteht. Im Autorverständnis enthalte der Band im Vergleich zu früheren Publikationen durchaus »mehr Gedankenschübe, Assoziationsfluchten und Sprünge, vermischt mit konkreten Details, Wahrnehmungen, und manchmal surreale Eindrücke« (BrH, 127). Das fragmentarische Verfahren erlaubt dem Dichter dabei, Unverbundenes in Beziehung zu setzen, logische oder ritualisierte Abfolgen aufzubrechen und Neues zu schaffen. Der Fragmentarisierung der Textoberfläche in den Langgedichten durch die charakteristische Dekonstruktion des linearen Satzspiegels und partiellen Anordnung der Zeichen im Sinn fotografischer Synchronizität – Großklaus (1989, 510) beschreibt dies als »Text-Partitur[›] die Leerräume sichtbar macht« – steht ein kotextuelles Prinzip motivisch-gedanklicher Verflechtung sämtlicher Texte zur Seite. Auf diese Weise entsteht ein »großes Netz wechselseitig aufeinander verweisender Bilder, Motive, Metaphern und Textbausteine«, die jenseits fester Ordnung außerordentliche Kohäsionskraft entfalten. Registrierung des Alltäglichen, durchbuchstabierte
Dinglichkeit und Perpetuierung des Momentanen in den Gedichten korrespondieren dabei mit den Schnappschusscollagen am Buchanfang und -ende, die den Leser dezidiert als Betrachter in die spezifische intermediale Poetik des Bandes ein-, über- und ausleiten. Intermedial ist die Poetik dabei nicht nur im Hinblick auf eine sich dem Filmischen annähernden Ästhetik der Fotoserie, die sich im Wechsel vom Bild- zum Textmedium fortsetzt und den gesamten Band durchzieht, sondern auch in der akustischen Dimension der Texte, die besonders in den partiturähnlichen Langgedichten durch die flüchtigen Geräuschkulissen der zerrissenen Textblöcke getragen ist und im Gegenzug vor allem in den linear fortlaufend gesetzten Kurzgedichten der transitorischen Musikalität von Songs ähnelt. Beispielhaft für diese Form textueller Musikalität stellt Brinkmann seiner Gedichtsammlung den Song Plane too von Loudon Wainwright III als Dichtungsideal voran. Sprachlich und musikalisch minimalistisch besingt Wainwright darin im Gestus synästhetischer Registrierung Momentaufnahmen von Sinneseindrücken (Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen) einer Flugreise: There was a hipster on the plane There was a sailor too Big Business men on the plane Stewardess too I saw a movie on the plane Grand Canyon too Earphone music on the plane Time Magazine too [...] (Ww 10, Hervorh. i. Orig.).
Dazu Brinkmann: »Die Lieder sind so gut, weil sie so real sind, und nicht das olle psychodelische Gewehe und Gesummse, dieser nachgemachte Kosmos und son Quatsch. Du hast jemand da, der wach herumgeht und singt« (BrH, 35). Musik dient dabei als Medium lebendiger Augenblickserfahrung: »wichtig ist, wie diese Musikart, von Blue Suede Shoes und Roll over Beethoven bis hin zu Deep Purple oder Frank Zappa oder Elton John oder wer immer [...] ein Empfinden bewirkt hat [...], was für Momente und sei es auch nur für Momente, viele von dem gegenwärtigen Zustand fortbewegt und ihnen momentlang ein anderes Gefühl, sei das auch noch so vage, vom Leben gibt« (BrH, 92). Charakteristisch verbunden sind damit, wie modellhaft im Falle des Wainwright-Gedichts, Verfahren des Aufzählens und Zeigens. Als sprachtheoretischen Hintergrund für diese häufigen lyrischen Gesten von
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»Hindeuten und Zeigen, Deixis im weiteren Sinn« hat man Brinkmanns Auseinandersetzung mit Karl Bühlers Überlegungen zum Zeigfeld der Sprache kenntlich gemacht (Lehmann 1995, 185). Dabei ist es die musikalische Orientierung an Objekten der konkreten Welt, an Oberflächen ebenso wie die Radikalität des Hier und Jetzt, die Brinkmann auch in seinen Gedichten umzusetzen versucht. William Carlos Williams Diktum »No ideas but in things« prägte von Anfang an Brinkmanns dingpoetische Literaturauffassung (BrH, 40; vgl. auch 124). Insofern speist sich seine intermediale »Sprachutopie« aus Effekten der Unmittelbarkeitserfahrung, die durch »die Vermittlung (durch Text) weiterer Vermittlungssysteme (bildlich und musikalisch)« erzeugt werden (Schmitt 2016, 93). Gerade im Zusammenwirken von Lyrik und Fotografie tritt die Zielvorstellung einer »stummen Sprache« hervor. Jegliche sprachlich angediente Konnotation, jede noch so kleine textstrukturelle Vorprägung und vor allem literaturhistorische Anbindung im eigenen Schreiben sucht der Autor dabei mit aller Macht zu meiden. Auch die Publikumskonzeption Brinkmanns ist frei von jedem »scheißgaukelviehlologischen Verständnis« (BrH, 37). Dennoch lassen sich vielfältige literarische Impulse für Westwärts 1 & 2 identifizieren. Hierzu gehören der amerikanische Imagismus, italienische Neorealismus, französische Surrealismus, die französische Nouvelle Vague und der Nouveau Roman sowie Pop- und Rockmusik amerikanischer bzw. britischer Provenienz (Röhnert 2012, 385). Insgesamt steht die intermediale Poetik Brinkmanns dabei anders als die Mashup-Produkte im digitalen Zeitalter noch unter den Vorzeichen der »Mediendivergenz« und setzt »Schreibmaschine und Tonbandgerät, Foto- oder Filmkamera« als »getrennt operierende Einheiten« in Beziehung (Bauer 2016, 107). Schnittmuster, Schalttafel oder Bildschirm sind dabei Metaphern der Disparatheit und des Zerfalls, die Brinkmann für seine Gedichte reflektiert und damit nicht zuletzt Medienkritik ebenso am »Betrug der Massenmedien« wie implizit auch gegenüber der »eigene[n] Methode« artikuliert (ebd., 129).
24.6 Arbeitsprozesse Im Unkontrollierten Nachwort setzt Brinkmann noch einmal beim Problem der ruhelosen Flucht aus einer kaputten Realität an und erklärt minutiös, wie sich innerhalb dieses Kontextes drei Schreibszenen entfalten.
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Selbstverständlich sind diese Werkstattporträts mit Vorsicht zu genießen, gehören sie doch zu dem bei Brinkmann besonders gut ausgeprägten Aspekt einer Selbstdarstellung als missverstandener Autor, dessen Drang nach Erläuterung seiner Arbeit sich auch in den parallel entstandenen Briefen an Hartmut geradezu penetrant ausbreitet. Dennoch gibt jede Poetik der Selbstinszenierung immer auch zutreffende Auskunft über literarische Verfahrensweisen oder nicht hintergehbare Bedingungen des Schreibens. Den Prozess des Schreibens entwirft Brinkmann zuerst als Kunst des Augenblicks in Analogie zur persönlichen Erfahrung des Fliegens: »Diese springende Form, mit den Zwischenräumen, die vorhanden sind, Gedankensprünge, Abbrüche, Risse und neu ansetzen, nach dem zuletzt Geschriebenen, hat mir jedenfalls die Gelegenheit mehrerer Abflüge gegeben. Daß diese Abflüge dann jeweils wieder dort landeten, wo ich gerade war, mag zeigen, wie schwerfällig tatsächlich Sprache ist, ein Fossil. Der Abflug mündete wieder in ein paar Wörter, einen Satz [...]. Hätte ich eine Theorie anzubieten [...] wäre mir zu schreiben leichter gefallen. So aber ist nichts außer dem einen Augenblick, an dem ich schrieb, da gewesen. Und so ist immer der jeweils zuletzt geschriebene Satz ein Ende gewesen, von dem ich mit jedem Mal neu beginnen mußte, also lauter Endpunkte, aber genauso gut und zutreffend ist, Anfänge, und diese Anfänge ausweiten, gehen, fortgehen. Zusammenhänge sehe ich keine. Außer den bestehenden Zusammenhängen, den politischen und wirtschaftlichen [...]« (Ww, 263). Indem der Autor mit einer gleichsam aviatischen Poetik andauernden Starts und permanenter Landung gegen die Fixierungen autoritärer »Herrschaftssprache« anschreibt und versucht, vertraute Ordnungen jeder Art aufzulösen (Späth 1989, 184), bezieht er auch den Leser in den fordernden Prozess ein. Nur das Lösen kultureller Verkrustung und Festlegung befreit vom Denken in festen Bahnen und macht das eigentliche Leben fühl- und erfahrbar. Sind die Beschränkungen aufgebrochen, entsteht die Schwierigkeit, die so geschaffenen Freiräume mit Neuem zu füllen: »Soll ich mich nun verschließen, den Blick abwenden, lachen über das, was ich sehe, über dieses trostlose Panorama, in dem ein schrecklicher Mangel herrschte (...) und dann merkte ich, daß in mir ein Widerstand, eine Auflehnung entstand gegen die träge, apathische Gesamtatmosphäre der Umgebung (...) da, da (...) spürte ich wieder den Raum, die direkte Gegenwart, stark und ohne die zähe, klebrige Traurigkeit, die mir die Dinge, jede Einzelheit, aufzudrängen versuchte« (Ww, 305 f.).
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Aus der intensiven Erfahrung der Leere entspringt jener plötzlich erreichte Zustand einer wie magisch wirkenden Präsenz, einer »Gegenwart, die noch nie Gegenwart gewesen ist« (Ww, 276), einer »guten Gegenwart« (Ww, 318), von der Brinkmann immer häufiger in jenen Jahren spricht, einer offensichtlich nur im Gedicht erfahrbaren Realität, die einen entlastenden Charakter trägt, die kompensatorische Erfahrungen ermöglicht. In dieselbe Richtung weist auch der Satz: »Nach einem Gedicht beginnt das Niemandsland« (Ww, 280). Mit Formulierungen wie »der Augenblick, an dem ich schreibe« und »direkte Gegenwart« nähert sich Brinkmann seinem tatsächlichen Arbeitsprozess. Die Selbstbeobachtung benennt auch Konstituenten des sogenannten Augenblicksgedichts: »Gegenwart, die ich jäh, mit einem Stoß spüre, wie weiter, hier in dem Gedicht, das ich gerade schreibe, nein, keine Erklärungen abgeben, plötzliche Erleuchtungen, was immer das ist, neue Zeile, ein genaues Bild, dazwischen meine Biografie, Ablehnung der Biografie, Rock’n’Roll – Musik zieht vorüber, Erstaunen, wie klar manche Lieder sind, sie vermischen sich mit meiner Gegenwart, während ich aus dem Fenster schaue, Gespräche im Flur, Geräusche alltäglichen Lebens, während ich schreibe, Stockungen, neue Aufschwünge, zufällig gefundene Zitate, werden umgewandelt, abgeändert, gestammelt, Bruchstücke, Fragmente (...) und zurück in die Stille der Gedichte« (Ww, 313). Die Materialien aus der poetischen Anwesenheit konstituieren Brinkmanns ureigenen Erfahrungsraum beim Schreiben, der deutlich traditionelle Züge eines magischen Verständnisses von Kunst trägt. Brinkmanns Texte beschwören nicht die negative Realität, bei der viele Interpreten eigenartig fasziniert stehen bleiben, weil sie nur auf das Dargestellte achten, sondern sie benötigen den Ort des Absprungs in eine Wirklichkeit, die sich paradoxerweise gerade aus der zitierten Negation bildet. Immer wieder tauchen auch in den Gedichten verwirrende Bilderfluten auf, die einen Eindruck zu geben vermögen von der »imaginären Jukebox in meinem Gedächtnis« (Ww, 312). Die »Fetzen« der äußeren Wirklichkeit, die Wucherungen einer von Brinkmann als durch und durch falsch erkannten Realität taugen nur noch dazu, jene »gute Gegenwart« (Ww, 318) zu beschwören, in der man eigentlich leben möchte. Die »klare deutliche Anwesenheit« (Ww, 306) ist nur in einem einzelnen »starken Moment« (Ww, 288) der Plötzlichkeit zu haben. Sie herbeizuführen, ist die wichtigste Leistung der Kunst. Brinkmanns poetologische Äußerungen
über seine Arbeitsverfahren schließen damit direkt an romantische und moderne Konzepte der Epiphanie an. Auffallend ist auch der existentielle Ton, der diese späten Äußerungen mit den frühen Lektüren in Vechta verbindet. Will man die Bandbreite und tatsächlich nachweisbare Struktur der genannten Arbeitsprozesse belegen, dann ragen vor allem drei konkrete Verfahren heraus. Zum ersten die Betonung der Materialität des Schreibens. Das erst in der Neuauflage von 2005 gedruckte Flächengedicht Ein Abend oder Eine Komposition, für M. verbinden Schreibunterlage (»Kohlepapier, Durchschlag Papier« Ww, 143) sowie Schreibinstrument mit dem körperlichen Akt des Schreibens (Ww, 191). Darüber hinaus bezieht es Klänge, Stimmen und Bilder in die Szene einer Abendkulisse mit ein. Unter dem Motto »In der Form ist kein Auskommen, hörst du« (Ww, 191) bietet der zweite Abschnitt in Ein Abend eine Art Selbstgespräch mit der Schreibmaschine und ihren Möglichkeiten. Hier entsteht die Frage, wie Brinkmann die Textsegmente auf der Seite räumlich ordnet. War das von Beginn an der Fall oder tritt die Methode später hinzu und nach welchen Kriterien? Wurden Teile ausgeschnitten und neu zusammengeklebt? Oder entstehen die graphischen Strukturen gar zufällig? Jedenfalls kann das Ineinander von semantischen, typographischen und instrumentellen Ebenen auch nur behauptet oder ironisch zitiert sein, weil es prinzipiell darum geht, den Prozess des Schreibens als einen eigenen Akt zu reflektieren. Schreiben mit der Schreibmaschine und (mehrfaches) Abtippen bereits mehrfach umgeschriebener Texte sind nicht dasselbe. Der Zusammenhang mit den »Cut Ups« ist zu beachten. Zweitens kennt Brinkmann natürlich ganz traditionelle Verfahren der Bearbeitung intertextueller Art. Bei Kleiner Nordwind konnte der Prätext aus einem Roman von Louis Aragon nachgewiesen werden (Röhnert 2012, 567 ff.). Der Subtext bleibt ein ganzes Gedicht hindurch maßgeblich und lenkt die Phantasie. Der Konnex zwischen Roman und Gedicht entsteht aus dem Topos vom armen Poeten, den Brinkmann für ein poetologisches Statement nutzt: Die Armut bedeutet in seinem Text den Verzicht auf ästhetische Redundanz. Alle Verweise sind so knapp gehalten, dass der Leser Mühe hat, dem Verfahren zu folgen, wenn er es überhaupt realisiert. Derartige intertextuelle Spiele sind sicher häufig und werden in Einzelfällen notorisch, etwa bei Sommer (Aus dem Amerikanischen). Was wie eine Übersetzung klingt, ist in Wahrheit ein weitergeschriebenes Gedicht, das aus einer Abfolge von Annäherungen an The double dream
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of spring aus dem gleichnamigen Gedichtband von John Ashbery besteht. Zu Brinkmanns Poetik einer »guten Gegenwart« gehören also auch inspirierte Lektüren bewunderter Vorgänger. Und drittens gehört zu den markanten Verfahren in Westwärts 1 & 2 die planvolle Erzeugung des Eindrucks vom seriellen, unaufhörlichen Schreiben. In seiner Analyse des dritten Teils Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin hat Martin Seel gezeigt, wie sich Brinkmann in der Sprache treiben lässt. »Sie träumen alle vom Süden, Wörtersüden« (Ww, 107 f.), so beginnt die Litanei aus Komposita und Satzteilen, mit denen sich Brinkmann dann einem Schwall von Assoziationen aussetzt. Der Autor schreibt sich gleichsam halluzinatorisch an den »Süden« heran, dem kein Äquivalent außerhalb der Sprache mehr eignet. Wie bei einem Grundton in der Musik kehrt der »Süden« 72 mal in neuem Kontext wieder, aus einer wie absichtslos wirkenden Bewegung entsteht ein Schreibzusammenhang, der den Eindruck erweckt, der Autor habe seine Phantasie einfach losgelassen. Seel spricht aber zu Recht von einer »Technik der schreibenden Fixierung auf ein poetisches oder poetisiertes Grundwort« (Seel 2012, 531), welches durch gezielte Wiederholung jede Realität verliert. Worte entfachen so ihren eigenen Rock’n’Roll. Aus der akustischen Wirkung des zweisilbigen Wortes erschaffe Brinkmann den »Wort – Laut – Süden« (Seel 2012, 532).
24.7 Die beiden titelgebenden Gedichte Westwärts und Westwärts, Teil 2 bilden zunächst eigenständige lyrische Einheiten, sind jedoch in Bezug auf die USA-Reise Brinkmanns und seiner Rückkehr nach Deutschland biographisch eng verknüpft. Das erste Gedicht, das vor allem unter dem »Aspekt seiner Abwendung von der Popliteratur« gelesen wurde (Kramer 2012a, 825), greift Brinkmanns USA-Reise auf. In dreiteiliger Struktur thematisiert der Sprecher seine Reise über London und New York nach Austin, Texas, und teilt das Erleben des amerikanischen Westens schlaglichtartig mit: »[...] angekommen. Da bin / ich / in diesem enormen Raum, / ›der Westen‹ / ›oh bähbie‹ / Dreck« (Ww, 70). Das zweite Gedicht entwirft eine alternative Ansicht des Westens und des »Unterwegsseins innerhalb der westlichen Nachkriegszivilisation« (Röhnert 2012, 385). In sechs Teilen widmet sich Brinkmann Deutschland aus der Perspektive des Rückkehrers (»Zurückgekehrt«, Ww, 72). Kristallisationspunkt ist Köln, die Metropole am
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Rhein, die prototypisch für den westdeutschen Westen steht. Dabei fällt das deutsche Westporträt mit mehr als doppelter Länge weit umfangreicher als das amerikanische Westporträt aus. Eingangs öffnet sich die Szenerie in ein »Niemandsland / am Stadtrand« (Ww, 72) und schwenkt unvermittelt auf den Ankunftsflughafen Köln/Bonn mit der »weiten, leeren / Halle des neugebauten Airports« zurück (ebd.). Dabei durchzieht die Flughafen-Motivik beide Gedichte und bringt als ›Airport‹ die vermeintlich getrennten Welten und Sprachräume allegorisch zusammen. Zudem klingt das verheißungsvolle ›Go West!‹ der amerikanischen Siedler, die sich in langen Trecks auf Freiheitssuche begaben, in beiden Westwärts-Gedichten mit. Wo sich in historischer Perspektive eine alternative Kultur ansiedeln konnte, wartet für Brinkmann jedoch nur die Begegnung mit sich selbst (»Mußte man in der Gegenwart immerzu sich erinnern, / an sich selbst?«; Ww, 71). Symbolisch zum Tragen kommt die Vergeblichkeit der drängenden Westwärts-Bewegung Brinkmanns, die aufgespeichert ist mit »philosophischen, avantgardistischen, sub- und popkulturellen Bewusstseinsinhalte[n]« (Röhnert 2014, 85), schließlich im Bild des »leeren, weiten Parkplatz[es]« am Ende des ersten Gedichts (Ww, 71). Als ironische Pointe platziert der Text somit ein abgezirkeltes, betoniertes und ungenutztes Areal des Stillstands als Inbegriff des Frei-Seins. Die Ironie scheint dabei allerdings nicht gesellschaftlich nach außen gewendet, sondern treibt vielmehr nach innen das individuelle Erkenntnismoment einer gescheiterten Suche hervor. Während Brinkmann in früheren Jahren in den Werken von Frank O’Hara, Allen Ginsberg, Jack Kerouac einen radikalen Neuanfang sah, während ihm die amerikanischen Beatpoeten zuvor Garanten dafür schienen, dass man trotz der Zugehörigkeit zur geschlagenen Nachkriegsgeneration, »seine[r] miserable[n] Jugend und Kindheit« (Ww, 279), Anschluss an den Beat seiner Zeit finden könne, stellt Brinkmann nun enttäuscht fest, dass sich dieser Westen nur als Projektionsfläche unbegrenzter Möglichkeiten und trügerischer Illusion entlarvt (vgl. BrH, 41). Die Ironie des Einmündens der Westwärts-Suche in die ›Fundstelle‹ eines leeren Parkplatzes hält sich in der Gesamtsicht des Buchs allerdings in einer ambivalenten Schwebe, denkt man das ›weiße Stück Papier‹ am Ende der Vorbemerkung als Initialpunkt für den Schreibimpuls des Bandes hinzu. Entsprechend kann der Schluss auch als »Befreiung von der vorgeformten Sprache und Hinwendung zu einer neuen Qualität des unbeschriebenen Raums« verstanden werden (Urbe 1985, 172 f.).
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Das zweite Gedicht, das als »Pendant« zu Westwärts und »Kontrafaktur« zu Rimbauds Gedicht Das trunkene Schiff gelesen wird (Kramer 2012b, 839 und 855), verknüpft die Richtungsangabe ›westwärts‹ gleich zu Beginn mit dem »traurige[n], alte[n] Europa« (Ww, 72). Durch die Rückkehrbewegung vom amerikanischen Westen in den europäischen Osten verliert die Raumdeixis dabei ihren ordnenden Bezug. Das geographische Koordinatensystem, das über viele Jahrhunderte auch literaturgeschichtlich stabilisiert wird (vgl. Röhnert 2014) erscheint entkoppelt von seinem terrestrischen Bezug, um sich in Westwärts, Teil 2 beinahe vollständig aufzulösen: »Warum schließt du die Augen, westwärts? Warum brichst du zusammen, westwärts?« (Ww, 86). Doch ist der Verlust der Orientierungsgrößen nicht total; vielmehr ist die transitorische Durchkreuzung der Himmelsrichtungen bei Brinkmann poetologisch verankert. Denn obwohl der geographische Westen von Europa aus gesehen als utopische Heimat ausgeschieden ist (vgl. BrH, 41) und West-Deutschland für Brinkmann ohnehin dystopisch konnotiert bleibt, verspricht die »intermediale Sprachutopie« seiner Lyrik neuen Lebensraum (Schmitt 2016, 87). Die Suche nach einem Weg des Dichtens, der fernab begrifflicher Fixierungen und eingefahrener Denkmuster liegt, bedeutet, die Fesseln der menschlichen Existenz zumindest zu lockern. So bilden letztlich die Buchstaben in Westwärts, Teil 2 den freiheitsverheißenden Treck nach Westen: »Die Buchstaben, / gehen alle hintereinander, westwärts« (Ww, 80). Während Westwärts ironisch in die ambivalente Stillstandsmetapher des Parkplatzes einmündet, zeigen sich an der »Haltestelle« am Schluss von Westwärts, Teil 2 jenseits der »Betonflächen« immerhin »Spuren dünnen Lichts«, mit denen in der gedämpften Distanz des Präteritums der »Nachmittag, westwärts« gleichsam in einer sprachlich gedachten Weite beginnt (Ww, 86).
24.8 Themen und Motive Sprache und Sprechen bilden ein wichtiges, wenn nicht das wesentliche Thema des gesamten Buches. Brinkmanns Beschäftigung mit linguistischen Theorien verfolgt dabei keinesfalls nur ein professionelles Interesse, das ihm ohnehin unterstellt werden muss und damals viele Autoren beschäftigt hat. Der gesamte Problemkomplex taucht verstärkt seit 1969 auf, genau in dem Zeitraum, in dem auch die unheilbare Erkran-
kung des Sohnes festgestellt wurde. Nun liest Brinkmann, was er auf diesem Sektor bekommen kann. Im Hintergrund bleibt aber die literarische Sprachideologie von Burroughs und dessen Lehrer Korzybski (Ww, 90, ein langes Zitat 245) maßgeblich, an die sich Brinkmann klammert (Ww 313). Die Wörter gehören der Gesellschaft oder die Sprache gehört den anderen, nicht dem Individuum (Ww, 89, 77), er »möchte Wörter benutzen, die nicht zu benutzen sind« (Ww, 74), er schaue auf die Wörter, finde aber keinen Sinn darin und »die richtige Sprache gibt es nicht« (Ww, 102). Derartige Thesen übertreibt Brinkmann in der Formel »Die Sprache: der letzte Dreck« (Ww, 25), sobald er den Sprachgebrauch der Medien angreifen will. Wie Burroughs beruft er sich auf die »leeren grauen Räume des Gehirns« (Ww, 46), eine wahrnehmungstheoretische Formel, die ihm seit seiner Rezension des Romans Nova Express (1970) so imponiert, dass sie mehrfach zitiert werden muss (Ww, 75). Auch im Unkontrollierten Nachwort stützt sich Brinkmann auf die Theoreme Burroughs, wenn er sagt: »Jedes Gedicht enthält in sich die Verneinung der Sprache« (Ww, 271) oder wenn er die Verbindung von Körper, Gehirn, Bilder und Vorstellungen wie einen anthropologischen Fluch beschreibt: »die Gedankenschlägereien im Kopf sind leer« (Ww, 273). Hatte Burroughs im Anschluss an Korzybski eine Physik des Nervensystems entworfen, die zu einem Denken in Assoziationsblöcken aufforderte, so spricht Brinkmann im Bruchstück Nr. 1 von der »Biologie des Ausdrucks« (Ww, 148 oder »Biologie der Vorstellungen« 156), wenn er der »tagtäglichen schmierigen Fabrik der Realität« (Ww, 216) entkommen möchte. Biographisch bedingte Beengtheit (»Fehlgeburten«, »Hirnschäden« Ww, 147) und die Lektüre anthropologischer Literatur formieren die »Sehnsucht nach wortloseren Zuständen« (Ww, 147). Zu Brinkmanns imaginärer Kartographie des Bewusstseins gehören auch alle Weisen des Sprechens über Körper und Nacktheit, insbesondere Sexualität. Das Flächengedicht Chevaux de Trait dokumentiert den umfassend diagnostizierten Sprachzerfall im Simultanstil mit zwei Textkolonnen. Links die gesprochene Sprache, rechts der stille Monolog, der mit dem restringierten Sprechen über Sexualität erfolglos ringt. Dass Körperlichkeit eine bedeutende Rolle spielt, erfährt der Leser beim häufig dargestellten Thema des Gehens. Im wörtlichen wie übertragenen Sinn des Nachgehens eigener Gedanken (»Und du gehst / in dieser Bewegung durch / dein eigenes Gehirn« Ww, 76) ist das schreibende Ich ständig unterwegs. Gänge
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durch Innenstädte, durch Straßen und Landschaften, Wanderungen an Wochenenden durch leere oder belebte Gegenden werden mit minutiösen Protokollen der dabei vorgefallenen Wahrnehmungen oder kleinster Details versehen. Das Nachwort deutet eigens darauf hin: »In einigen meiner Gedichte habe ich die Situation darzustellen versucht, und innerhalb dieser Dinge die Bewegung, das Gehen« (Ww, 263). Brinkmann registriert einen inneren »zähen Kampf« (Ww, 268), zu dem ihn das »Leben in einer Stadt« gezwungen hätte, nämlich, sich »in dauernd verändertem Gang bewegt« zu haben (Ww, 267). Das Thema beschreibt also nicht nur eine unvermeidliche Problemlage, sondern mündet in der trotzigen Geste des Einzelgängers, der sich gegen typisch moderne Zumutungen wehrt. Dabei muss sich das Ich ständig versichern und reflektieren, damit es sich in der transzendentalen Perspektive der Gedichte nicht verliert: »Ich sah an mir herunter. Diese Füße, die gehen, / existieren wirklich und gehen« (Ww, 24), denn »Das Gehen ist ein Lied / in meinem Kopf« (Ww, 85). Die Selbstwahrnehmung ist ohne den körperlichen Akt der Bewegung nicht möglich: »Nach einem längeren Gehen, in der Stille, wird der Körper / ein großer Raum, hell, der ins Haus tritt« (Ww, 133). Auch hier müssen literarische Subtexte genannt werden. Einige der modernen Vorbilder Brinkmanns wie Paul Valéry, Roland Barthes oder William Carlos Williams haben die Wechselwirkung von körperlicher Bewegung und abstraktem Denken für poetische Darstellungen genutzt, Letzterer hat in seinem Langgedicht Paterson im gesamten zweiten Buch die Assoziationen mit dem einleitenden »Beim Gehen...« geordnet. Diese Übertragbarkeit vom Schritt auf die rhythmische Bewegung im Text zitiert auch Brinkmann, wenn er durchaus romantisch sagt: »Und ich gehe in den Gedichtraum, / höre die verschiedenen Stimmen, / neu zusammengestellt« (Ww, 98). Man muss gar nicht einmal an die Flaneure der frühen Moderne denken, es genügt, auf wichtige Grundschriften der Poetik zu verweisen. Ein verwandtes Gebiet ist mit dem Atem benannt. Meyer-Sickendiek hat in einer umfassenden Interpretation die ästhetischen Theoreme von Charles Olson für Westwärts 1 & 2 fruchtbar angewandt. Olsons Essay Projektiver Vers von 1950 war in der deutschen Ausgabe seiner Texte 1965 bei Suhrkamp erschienen. Olson versteht den Vers als hochwertigen Energieträger und interessiert sich deshalb vor allem für biologische Hintergründe von Rhythmen. Der Vers ist elementar mit dem Atemzug verbunden, ein
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funktionierender Vers geht nicht nur aus dem Atemzug hervor, sondern lässt sich auch mit einem einzigen aussprechen. Brinkmanns gegenüber dem Metrum autonome Rhythmen, so Meyer-Sickendiek, gehen aus diesem Konzept hervor. Der Rhythmisierung liege eine fortschreitende Wahrnehmung zugrunde. Einzelne Zeilen des Gedichts richteten sich nicht nur nach der Erkenntnisabfolge, sondern eben nach der Atemlänge (Meyer-Sickendiek 2014, 377). Insbesondere die Langzeilenpoetik sei auf Atmungsbögen zugeschnitten. Ob sich hieraus ein tragfähiges Muster der Interpretation entwickeln lässt, müsste unter Einbezug aller (rein) graphischen Besonderheiten geprüft werden. Nicht alle Zeilenbrüche scheinen sich dem umstandslos zu fügen oder sind anders begründet.
24.9 Orte und Räume Richtig bleibt jedoch, dass sich die Bewegung des Gedichts aus inhaltlich konträren Themen und Empfindungen aufbaut. Dieses Gedicht hat keinen Titel, Schlusstext in beiden Sammlungen, besteht aus zwei konträr über 47 Strophen hinweg entfalteten Themen. In einer Situation des permanenten Frusts im Alltag, hervorgerufen durch die Lage im Wohnhaus, die Situation eines vereinzelten Lebens, ruft das Gedicht unendlich viele Notfluchten herbei, soweit sie dem sensiblen Ich akzeptabel erscheinen. Die Bewegung des Textes ergibt sich alleine aus dem Hin und Her der beiden Themen. Das Ganze mündet in eine Klage über das »Alleinsein« (Ww, 254 f.), in Vergleichen durch 10 Strophen ausgebreitet. Mit dieser Pose verabschiedet das lyrische Ich den Leser, es bekräftigt noch einmal die (behauptete oder vor sich her getragene) Sinnverweigerung als Grundhaltung des Buches. Dennoch sind andere Erfahrungen möglich. Zwar gaukeln die Beschreibungskataloge und Aufzählungslitaneien äußerlich den hinter allem steckenden Hass vor, sie dienen aber einem anderen Zweck, nämlich der Kritik an Konsum, Wertezerfall und Kommerzialisierung. Manchmal sind sie in Außen-Innen-Dichotomien direkt antithetisch angeordnet, damit die Funktion sichtbar bleibt, wie in Einige sehr populäre Songs der zweite gegen den ersten Teil steht. Auf der anderen Seite zeigen die Texte aber doch sehr deutlich Erfahrungen des Ruhigen. Mitten in der Variation ohne ein Thema taucht eine Strophe mit einem Naturbild als Erinnerung an Schönheit auf:
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Löwenzahn, Faulbeere, Sonnenblumen, Nachtschatten, Gewächs, Schneckenklee, Krähenfuß, Trollblume, Aschenpflanze, Hunger Blümchen, Schein Früchte: fantastische Namen, Traumnamen und Ausrufe, an den Wegrändern. (Ww, 193 f.)
Oder im Italiengedicht Canneloni in Olevano schwebt »hoch in der Luft (...) ein leuchtendes rosa Licht, weiter und weiter« (Ww, 131). Erfahrungen der Stille sind dem lyrischen Ich nur im Ineinander von Natur, Landschaft und friedlicher menschlicher Gegenwart im einfachen Dorf möglich. Wenn wie hier Natur gepriesen wird, geschieht es stets unter Auslassung von Geschichte und zivilisatorischen Fehlentwicklungen, so dass der Verdacht einer willentlichen Ausblendung gerade bei einem derart auf Zerstörung aufmerksamen Autor nicht ganz unterschlagen werden kann. Jedenfalls ist Natur für Brinkmann nie nur »kaputt«, sondern bietet immer auch positive Erfahrungen. Licht- und Farbepiphanien finden sich auch in anderen Texten aus dieser Zeit häufig. Die Natur ist vielleicht wie bei keinem anderen Autor der Zeit jener Raum, in dem sich alle Ambivalenzen der Epoche darstellen lassen. Generell kann man sagen, dass die Texte nicht nur beim Thema Natur, sondern bei allen Beschreibungen von Zerfallszuständen nie nur eindimensional angelegt sind, sondern immer ambivalente Perspektiven anbieten. Einige sehr populäre Songs gebraucht das Wort »Zerfall« über dreißig Mal, begleitet von »zerreißen« und »zerbrechen«, aber das sind Motive, die sich im vierten Teil des sehr langen Gedichts plötzlich ins Gegenteil verkehren: Papierfetzen treiben über die engen Gärten am Bahndamm (...) der Haß der Zeitungen zerreißt, flattert als Papier in der Hand, das fröhliche Geräusch im fahrenden D-Zug. (Ww, 183–185)
Kontrapunktisch hält das lyrische Ich seine Erinnerungen an die Kindheit und frühe Zugfahrten dagegen. Aus der Zerstörung tritt plötzlich ihr Gegenteil hervor. In der Zerstörung der Zerstörung erhebt sich unerwartet das positive Bild. Ein vergleichbares Vor-
gehen finden wir im Naturgedicht Landschaft (Ww, 138), das fälschlich als früher Beleg für ein ökologisches Bewusstsein gelesen wird. Es besteht aus einer asyndetischen Reihe negativer Benennungen der Welt aus Abfällen und wertlosen Resten, die eine Landschaft ohne spezifischen Ort formen. Statt des Zahlworts gibt der Text nur jeweils die Ziffer: »1 verrußter Baum, (...) 1 Autowrack (...) 1 Paar Steine« (Ww, 138). Zugleich durchkreuzen aber Objekte den Katalog, die herausfallen: »1 Essay, ein Ausflug in die Biologie« und dann überraschend: »das gelbe / Licht 6 Uhr nachmittags« im Zentrum des Textes. Die Abfälle und zerstörten Objekte finden sich durch das Licht in einen anderen Zustand erhoben, ästhetisiert, wenn man so will. Der banalen Alltäglichkeit einer hässlichen Zivilisationshalde entlockt Brinkmann intensive Schönheitsreize und legt Zeugnis ab vom Bedürfnis nach ästhetischer Transzendenz. Nicht mehr überraschen kann nun die Tatsache, dass die Texte gerade beim Thema Stadt auf den Gegenraum zur Zivilisation Wert legen. Stadtgedichte wie Chicago (Ww, 202) leben von der Begehung des fremden Ortes wie von seiner Umwandlung in subjektive Räume. Alle beobachteten Plätze und Gebäude innerhalb der Stadt sind mit subjektiven Eindrücken konfrontiert, die sogar die touristische Sensationsgier zersetzen: »hast du die Schlachthäuser gesehen, / die prima Slums? Nichts habe ich / gesehen« (Ww, 202). Mit Beginn der Ankunft (»Zartes / dünnes Gesträuch«) bis zum Verlassen der Stadt durchziehen den Text Naturbeobachtungen (»breite gelbe Blüten«, »die Luft ist blau gesprenkelt«, Ww, 204), die eine unverbrauchte Wahrnehmung der viel beschriebenen Stadt ermöglichen sollen. In London, Flat 6 (Ww, 136 f.) schließlich, thematisiert die Austauschbarkeit moderner Großstädte: »In Rom dachte ich an London. In London dachte ich / an Rom. Als ich in Köln war, dachte ich an Amsterdam« (Ww, 136). Das Gedicht über die von Brinkmann mehrfach besuchte Stadt situiert den Ort mit den medialen Berichten eingeschriebenen Verhaltensmodellen und lässt diese mit der Selbstbewusstwerdung des Ichs zusammenstoßen, die dem angeblich einzigartigen Lebensgefühl entgegen steht: »Schwierig ist London zu fühlen, wenn einem die / Zunge raushängt« (Ww, 136). Das Beziehungsszenarium, aus dem heraus das Ich verdeckt spricht, bleibt nur zu erahnen. Einige auftretende Figuren bleiben ganz rätselhaft. Die verfremdende, fast kryptische Rede bietet kaum Möglichkeiten, das Angedeutete zu entschlüsseln. Persönliche Reminiszenzen und Anspielungen, vermischt mit abs-
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trakten Begriffen zitieren Klischees, ohne jedoch Anhaltspunkte für ihre Kritik zu liefern oder Wege aus der Gefahr der Überladung zu eröffnen. Ein Vergleich mit den Italien-Gedichten zeigt denselben Ansatz. Der nächtliche Gang durch Rom mit seinen »Straßenzügen, in denen man nicht mehr zu atmen wagt« (Ww, 128) ist auch nur ein neuerlicher Anlass für die Erkundung des westlichen Bewusstseins: »Durch wessen Bewußtsein, / wanderte ich?« (Ww, 127). In Roma die Notte treten aber schon am Beginn ganz traditionelle Motive der europäischen Italien-Literatur auf, nämlich der Flaneur und die Ruine. Das ist gleichfalls wieder durchzogen von Empfindungen: »Oder lief ich nicht weinend die lange Platanenallee / entlang, am Villengrundstück der Familie Mussolini, als die Busse / schon nicht mehr fuhren nachts vorbei, aufgeregt, du habest mich / verlassen?« (Ww, 125 f.). Der Besuch der Frau und des Sohnes stehen hinter dem Text, der aber aus einer Überlagerung von Anspielungen besteht. »Klassische Zitate« verschaffen dem Ich »Platzangst in den Ruinen« und die Stadt wirkt völlig überzeichnet: »Mama Roma ist eine langweilige / Bar mit lungernden Typen, / die sich am Sack kratzen« oder sie ist »Rom, das Schlachthaus« (Ww, 126). Das gesamte Angst- und Abscheuszenario in der einzigen großen »Pappkulisse (...) in den Trümmerfeldern« (Ww, 127) zielt in Wahrheit wohl mehr auf den Zustand des sprechenden Ichs. Denn das Wirklichkeitsfeld, so hat Großklaus (1989) gesehen, entwerfen die Texte Brinkmanns nie im Sinne einer Ortsbeschreibung, sondern grundsätzlich als ein Mosaik aus vielen Ansichten. Der Blick auf die Orte und Räume wandert dabei von Punkt zu Punkt, beliebig zwischen unzusammenhängenden Kategorien hin und her. Die Texte erzeugen eine Gleichzeitigkeit völlig divergenter Bereiche und, so kann man Großklaus ergänzen, lassen den Leser damit allein, manchmal orientierungslos vor undurchschaubaren Einordnungen zurück.
24.10 Schnappschuss-Serien Unabhängig von Westwärts 1 &2 plant Brinkmann seit 1970, einen Fotoroman zu veröffentlichen (BrH, 113). Für den Gedichtband trifft er aus seinem umfangreichen Fotofundus eine schmale Auswahl von insgesamt 144 Schwarzweiß-Aufnahmen. Brinkmann plant ursprünglich, 196 Fotografien für das Buch zu verwenden (vgl. BrH, 169). Dies deutet darauf hin,
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dass die Kürzungsauflagen des Verlags auch den Bildteil betrafen (Di Bella 2012, 848). Die Aufnahmen rahmen das Buch vorne und hinten auf jeweils 12 Seiten, auf denen sie zu Schnappschuss-Collagen zusammengestellt sind, die in der Erst- und Zweitausgabe identisch sind. Dabei sind sechs Bilder pro Seite, zwei nebeneinander in drei Reihen, im quadratischen Format von 6,7 × 6,7 cm auf einer Seite abgedruckt. Die fotografische Qualität der oft unscharfen Bilder, die Brinkmann mit seiner einfachen Instamatic-Kamera aufnimmt, ist durchweg gering. Dies untermauert ihre bewusste Beiläufigkeit als Schnappschüsse, die Brinkmann im Band gezielt unverbunden in Serie stellt. Während auf den zwölf Bildseiten am Bucheingang vor allem eine Mischung aus dem Geäst entlaubter Bäume, städtischen Gebäuden und menschlichen Körpern (real oder als Skulptur) zu sehen ist, dominieren auf den zwölf Seiten am Buchende menschliche Artefakte: Gebäude, Ruinen, Straßen, Eisenbahnanlagen und wiederum Skulpturen. Ins Auge springen zudem der Beschnitt, der Menschen vielfach unvollständig zeigt, sowie persönliche Schnappschüsse, auf denen Brinkmann selbst neben einem Obdachlosen oder seine Frau in Ausschnitten abgebildet ist. Nach Maleen Brinkmann sind die ausgewählten Fotografien in Austin, Rom, Olevano, Vechta, Köln und Longkamp entstanden; als Entstehungszeitraum gibt das Impressum die Jahre 1969–1974 an. Die einzelnen Aufnahmen zeigen u. a. Bäume um Vechta, Polizeieinsätze in Italien, Plakatwerbung in Deutschland und Straßenszenen in den USA (Ww, 333). Häufige Erwähnung finden zunächst die Bilder, die sich auf die Regelung des Straßenverkehrs beziehen: Ampeln schreiben »Walk« oder »Don’t Walk« vor; Straßenschilder markieren »Wrong Way« und »Do not enter«, worin man Visualisierungen des Brinkmannschen Grundkonzepts von Stillstand und Bewegung erblickt (Lange 2010, 53; vgl. auch Stein aecker 2007, 166). Ästhetisch nähern sich die Serien im fortlaufenden Wechsel zugleich der Bildbewegung des Films, so dass Stillstand und Bewegung auf paradoxe Weise in der Standfoto-Serie angelegt und verbunden sind. Dadurch, dass die Snapshots in Serie gestellt sind, ergeben sich nicht nur horizontale, vertikale und diagonale Bezugsmöglichkeiten zwischen den Einzelbildern; zugleich erscheint das Arrangement als Allegorie einer fraktalen Wahrnehmung von Welt. Als Gruppe hervorgehoben werden zudem jene Bilder, die Naturzerstörung durch den Menschen dokumentieren: die »zur Baustelle gewordene Natur«,
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»zersiedelte Landschaft«, »halbfertige Betonruinen«, Städte, in denen »der Mensch keinen Platz mehr« hat oder Skulpturen als »Zeugen« und »Komplizen« dieser Zerstörung durch die abendländische Kultur (Späth 1988, 167 f.). Gerade für die Gegenlichtaufnahmen der blattlosen Baumfiguren akzentuiert die neuere Forschung demgegenüber das ästhetische Potential der Motivik. Brinkmann setze das »Astgewirr« als »utopisches Denkmodell« und »(rhizomatisches) Narrationsprinzip« ein (Di Bella 2012, 854), was Brinkmanns Ideal einer stummen Ausdruckssprache (der Natur) folge (ebd., 850). Die intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Schnappschuss und Sprache begleitet Brinkmanns konzeptionelle Überlegungen zur ästhetischen Produktion und Vermittlung von Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit (vgl. Grzimek 1981). Entsprechend bezeichnet Brinkmann viele seiner Gedichte deswegen als »›Schnappschüsse‹ des Augenblicks« (BrH, 125), weil sie aus zufälligen, disparaten Wahrnehmungen entstehen, die in ebensolcher Weise zueinander gestellt sind. Ihre eigentliche Verbindung erwächst aus der Gleichzeitigkeit, die Ausdruck für die herausgehobene Bedeutung fraktaler Gegenwart ist. Dem Moment gehört alle Bedeutung. Damit schreibt sich Brinkmann ein in eine moderne Ästhetik, an deren Anfang Charles Baudelaire steht. In Einer jener klassischen fängt Brinkmann einen solchen Moment im Großstadtleben ein; analog zur Beobachtung in den Schnappschüssen erscheint darin eine »erstorbene Welt« (Spinner 1993, 214). Ästhetisch wird dabei auf die Erzeugung eines »direkten klaren Effekt[s]« durch minimale Bild- und Sprachmittel gezielt (BrH, 55). In beiden Medien sucht Brinkmann nach der schnörkellosen Form, dem ungeschönten Objekt. Als Quelle dient ihm die Erinnerung oder alternativ die Vorstellung eines »gespeicherten Gehirnvorgang[s]«, der stets mit subjektiver Emotionalität verbunden ist (BrH, 55; vgl. dazu Kyora 2010). Auf diese Weise findet der Moment zufälliger Umweltwahrnehmung im »Erinnerungsbild« aus der »Dunkelkammer« zu lyrischer Wahrheit (BrH, 55). Gerade im bewussten »Verzicht auf technische Feinheiten und Nachbesserungen« manifestiert sich in den Fotografien Brinkmanns die dezidiert »subjektive Sichtweise des Künstlers« (Rümmele 2012, 154). Im Sinn dieser fotografischen Subjektivität ordnet der Lyriker auch sein Schreiben einer – von Herbert Marcuse übernommenen (Jordan 2007, 702) – »neuen Sensibilität« zu (Brinkmann, Einübung einer neuen Sensibilität, 147; Tillmann 2013, 71).
24.11 Rezeption und literaturgeschichtliche Stellung Nach Erscheinen der Erstausgabe von Westwärts 1 & 2 war die Resonanz im Feuilleton groß. Die Rezeption stand zunächst im Zeichen von Brinkmanns Unfalltod, wie der Rezensent in Neues Rheinland 1975 schrieb: »Er war noch jung; er war eine unserer großen Begabungen; der Verlust ist nicht zu verschmerzen« (Mennemeier 1998, 165). Brinkmanns Buch wurde als Vermächtnis eines Autors aufgenommen, dessen lyrische Produktion schon »verstummt« schien (Hartung 1975, 502). Die Kritik reagierte ausnehmend positiv (vgl. z. B. den Rezensionsspiegel auf planetlyrik.de). Der neue Band zeige die große Leistung Brinkmanns, der die deutsche Lyrik wesentlich weiter entwickelt habe. Ihm sei »eine weite Öffnung des Gedichts« gelungen, weil er die »Fragen nach dem Wesen [des Gedichts], die nach seiner Meinung das Wahrgenommene gleich stilisieren, ›eintrüben‹, möglichst vermeidet« (Zenke 1975). Man erkennt in Brinkmanns Dichtung den Ausdruck einer komplexen künstlerischen Existenz, für die ›Rock‹ eine maßgebliche Bezugsgröße darstellt: »Dieser sich absolut setzende Rock-Rhythmus, nicht ohne radikale Naivität, freilich auch nicht ohne ideologisches Bewußtsein von sich selber verwirklicht, bestimmt als herausragendes Moment den vorliegenden Gedichtband. In gewisser Weise sind alle Gedichte, die Brinkmann zwischen 1970 und 1974 geschrieben und hier gesammelt hat, ein einziges Gedicht« (Mennemeier 1998, 165). Westwärts 1 & 2 gilt dabei nicht nur im Kontext von Brinkmanns Œuvre als »Hauptwerk« (Röhnert 2012, 383), das dem Autor postum zum »Durchbruch« verholfen habe (Barner 1994, 439), sondern beansprucht auch eine herausragende Stellung unter den lyrischen Publikationen der 1970er Jahre, indem der Band radikal mit der deutschsprachigen Nachkriegsdichtung bricht und visionär mit neuen Möglichkeiten des Dichtens experimentiert. Man liest ihn als literarische »Zäsur« und »Eintritt in die [...] Gegenwartslyrik« (Röhnert 2012, 383). Auch Brinkmann selbst beansprucht, dem Erleben als »Stimme seiner Generation« (Röhnert 2012, 383) neue Formen des sprachlichen Ausdrucks und thematische Felder erschlossen zu haben. Westwärts 1 & 2 enthält mit Einen jener klassischen tatsächlich das wohl am meisten abgedruckte und zitierte Gedicht der 1970er Jahre (Spinner 1993, 211). Zum Zeitpunkt des erstmaligen Erscheinens rechnet jedoch niemand
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damit, dass sich Brinkmann einst als »wichtigster deutscher Lyriker seiner Generation« Geltung verschafft (ebd.). Noch dreißig Jahre später bei Erscheinen der Neuauflage von Westwärts 1 & 2 ist die Kritik einhellig der Auffassung, das Buch sei ein »grandiose[r] Lyrikband« (Langenbacher 2005) und einer »der wenigen wirklich herausragenden deutschsprachigen Lyrikbände seit 1945« (Böttiger 2005). Das Interesse an Brinkmanns Westwärts 1 & 2 bleibt auch nach einem weiteren Jahrzehnt sehr lebendig, wenn etwa in der öffentlichen Veranstaltungsreihe ›Lyrisches Quartett‹ des Münchner Lyrikkabinetts im Juli 2017 u. a. mit Durs Grünbein ausführlich über die Bedeutung des Bands diskutiert wird. Obwohl beide nicht derselben Generation angehören und ihr biographischer Hintergrund durch Ost und West getrennt ist, erkennt Grünbein in Brinkmann den kraftstrotzenden ›furor teutonicus‹ (vgl. die Aufzeichnung der Sendung auf http://www.lyrik-kabinett.de). Dass Brinkmanns Westwärts 1 & 2 auch andere Dichter über die vergangenen Jahrzehnte begleitet und teils stark geprägt hat, belegen in der Forschung Vergleichsstudien zur deutschen Cut-up-, Beatnikund Popliteraturszene (vgl. Friedrich 2016, 132; Rümmele 2013, 297–336). Als wichtige Vermittler Brinkmanns in die jüngere und jüngste deutsche Dichtergeneration gelten dabei Nicolas Born und Kurt Drawert (Belege sammelt z. B. die Rubrik »Brinkmann ist für ...« bei Roberto Di Bella im Literaturblog Wild gefleckt). Zuletzt hat der Lyriker Uwe Kolbe in seiner Münchner Rede zur Poesie unter dem Titel Dämon und Muse. Temperamente der Poesie von 2017 die Generationen überdauernde Bedeutung von Brinkmann hervorgehoben und betont, dass seinem Buch Westwärts 1 & 2 mehrere eigene Reden gelten könnten. Versteht man Westwärts 1 & 2 auch im literaturwissenschaftlichen Horizont als Leitstern der Lyrik in den 1970er Jahren, Wendepunkt in der Lyrikgeschichte seit 1945 und Grundstein der Gegenwartslyrik insgesamt, korrespondiert die wissenschaftliche Bewertung weithin mit der Selbststilisierung Brinkmanns zum Stimmführer seiner Dichtergeneration, seiner Adressierung als Ausnahmegenie der modernen deutschen Dichtung durch zeitgenössische Autoren und Künstler sowie der Wahrnehmung durch seine Leserschaft, die gerade sein letztes Werk als ›Kultbuch‹ – eine westdeutsche Begriffsprägung der 1970er Jahre, für die Westwärts 1 & 2 ein frühes Beispiel gibt – aufgenommen hat. Radikalität und Grenzüberschreitung im Poetischen, exzentrischer Autor-Habitus, Polari-
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sierung beim Publikum, auch der unvermittelt tragische Unfalltod konstituieren ein Rezeptionsklima des Legendären, in dem sich bereits ein ›westwärts‹ gerichtetes Kunst- und Literaturverständnis artikuliert. Literatur
Detailinterpretationen zu den einzelnen Gedichten im Gesamtzusammenhang der Sammlung bietet der zweite Band von Röhnert/Geduldig 2012. Barner, Wilfried (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994. Bauer, Matthias: Schnittmuster – Schalttafel – Bildschirm. Nachfragen zu Brinkmanns intermedialer Poetik. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 107–129. Böttiger, Helmut: Brinkmann: Westwärts 1 & 2. In: Deutschlandradio Kultur (22.5.2005). http://www.deutschland funkkultur.de/brinkmann-westwaerts-1-2.950.de.html? dram:article_id=132812 (15.10.2017). Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Reinbek bei Hamburg 2005, 333–335. Brinkmann, Rolf Dieter: Ein unkontrolliertes Nachwort. In: Hermann Piwitt/Peter Rühmkorf (Hg.): Literaturmagazin 5. Reinbek bei Hamburg 1976, 228–248. Di Bella, Roberto: Die Fotofolgen aus Westwärts 1 & 2. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 847–860. Friedrich, Hans-Edwin: »Wir bewegen uns unsichtbar durch kaputte Systeme ...« Jürgen Ploogs Coca-Cola-Hinterland als Cut-up-Text. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 131–152. Großklaus, Götz: Nähe und Ferne. Wahrnehmungswandel im Übergang zum elektronischen Zeitalter. In: Ders./ Eberhard Lämmert (Hg.): Literatur in einer industriellen Kultur. Stuttgart 1989, 489–520. Grzimek, Martin: »›Bild‹ und ›Gegenwart‹ im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Ansätze zu einer Differenzierung«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Text + Kritik 71. München 1981, 24–36. Hartung, Harald: Notizen zu neuen Gedichtbänden. In: Neue Rundschau 86/3 (1975), 502–512. Jacob, Joachim: Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 787–809. Jordan, Lothar: Neue Subjektivität. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/ New York 2007, 702 f. Kagel, Martin: Ein Skunk. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 751–757. Kolbe, Uwe: Dämon und Muse. Temperamente der Poesie. München 2017. Kramer, Andreas: Westwärts. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in
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Markus Fauser / Jörg Wesche
25 Fragment zu einigen populären Songs (1975)
25 Fragment zu einigen populären Songs (1975) 25.1 Publikations- und Entstehungskontext Fragment zu einigen populären Songs entstand, während Rolf Dieter Brinkmann Westwärts 1 & 2 zur Publikation vorbereitete. Das Flächengedicht knüpft motivisch an das darin enthaltene Einige sehr populäre Songs an (Windrich 2012a, 466–472). Brinkmann versteht Fragment als Fortsetzung und »Ergänzung« zu diesem (BrH, 205, 199). Fragment wurde nicht in Westwärts 1 & 2 aufgenommen und fand sich auch nicht im Inhaltsverzeichnis zur erweiterten zweiten Auflage, weil es vermutlich den Kern des nächsten von Brinkmann geplanten Gedichtbandes bilden sollte (Röhnert 2007, 364). Das Gedicht erschien im Februar 1975 im Literaturmagazin 3, einer von Nicolas Born herausgegeben Zeitschrift. Der 18 Seiten umfassende Text steht im illustren Publikationskontext mit Beiträgen von Herbert Achternbusch, F. C. Delius, Oskar Pastior oder Dieter Wellershoff. Unter dem Titel ›Die Phantasie an die Macht‹. Literatur als Utopie präsentiert die Zeitschrift auf 290 Seiten Lyrik, Erzählprosa und Essay. Obwohl Fragment Brinkmanns Distanz zum UtopieBegriff offensiv behauptet (111, 113, 117), deutet es doch die Vision einer befriedigenden menschlichen Existenz an, die sich ganz in der erlebten »Gegenwart« (117; Röhnert 2007, 346) vollzieht.
25.2 Fragmentarisierung Augenfällig ist die formale Gestaltung von Fragment als Flächengedicht. Es ist in sechs Abschnitte gegliedert, die mit Ausnahme des ersten nummeriert sind. Der Eingang exponiert exakt Ort und Zeitpunkt des Schreibens sowie die Kernthemen: Leben in der Gegenwart, Wahrnehmung, Sprache. Der zweite Teil fokussiert auf das Ich, das beginnt, Musik zu hören und eine befreiende Ahnung vom »Unendlichen« (107) spürt. Der dritte, längste Abschnitt beschreibt die Situation »hierzulande« (107), wo die »hastigen, mürrischen / Deutschen aus dem Westen, / voller Todeswünsche, verrecken in ihrer eigenen / Sprache« (107). Teil vier formuliert zwei Grundfragen, die Brinkmanns gesamtes Schreiben in dieser Phase bestimmen: »wonach mich verlangt« (117) und »Wie aus den Zitaten rauskommen?« (115). Die Antwort deutet der mit-
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tig am Ende gesetzte Begriff »Gegenwart« (117) an. Das »Intermezzo« des fünften Teils (117) respondiert auf die zuvor gestellten Fragen. Angestimmt wird ein Hymnus auf eine unbestimmte weibliche Person, die sich den destruktiven Gesellschaftskräften widersetzt. Abschnitt sechs kehrt zum szenischen Ausgangspunkt zurück und bringt als abschließenden Kulminationspunkt einen Augenblick echter menschlicher Nähe. In Fragment mischen sich Eindrücke, Überlegungen, Kommentare und Zitate. Gleich »stroboskopische[n] Lichtblitze[n]« tauchen Inhalte auf, die nur als ›Fragmente‹ fassbar werden. Sie manifestieren sich wie im »Traumgedächtnis, das durch die Nervenzellen huscht« (112). Der psychologischen Verankerung des stilistischen Verfahrens steht eine ideengeschichtliche gegenüber. Brinkmann formuliert seine Fundamentalkritik an der westlichen Zivilisation. »Die Idee der Erneuerung ist ja ein Quatsch. Erweitern, ausdehnen, dazulernen, mehr Lust usw. [...] das ist das Richtige, [...] was für eine aufregende interessante Welt könnte es wirklich geben statt das Mickertum überall« (BrH, 201). Diese Kritik bezieht natürlich auch die Medien ein. Schon auf den ersten Seiten durchläuft der Text eine Vielzahl von medialen Äußerungsformen (Dialog, Telefongespräch, Essay, Tageszeitung, Notiz, Fußnote), die alle nicht in Frage kommen für die anstehenden Probleme. Die Einheit der Verszeilen ist aufgesprengt, die drei Kolumnen sind weder bündig noch zentriert, ihre Grenzen fließen. Das Druckbild spiegelt eine Auffassung von der Gleichzeitigkeit und Verwobenheit der Phänomene (Fragment, 113). Absichtlich lässt der Autor Leerräume, um zur lesenden Reflexion zu animieren (BrH, 191). Der Zentralbegriff »Fragment« kann dreifach bestimmt werden. Darin drückt sich erstens das Unvollendete des Gedichts aus. »Fragment« impliziert eine dem Gedicht immanente Ästhetik der Offenheit (vgl. Ww, 263). Zweitens: Der Begriff bezieht sich auf die visuelle Bruchstückhaftigkeit des Drucks. Die äußere Form bildet den poetologisch-praktischen Versuch zur Befreiung von Sprachkonventionen ab. Dem entspricht drittens eine radikal fragmentarische Gedankenbewegung. Jenseits des geschäftigen, lauten Tages habe der Autor »eine nächtliche Runde durch das Gehirn [gemacht], wo die Wörter und Vorstellungen verbunden sind, die ich zum großen Teil gern wieder lockern möchte« (BrH, 199). Indem Brinkmann grammatische, semantische und kognitive Bindungen löst, bricht er auch gedankliche Stringenz auf. Das Verdichten von Gedanken und deren Verselbständigung
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_25
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resultiert in einem nahezu pulsierenden Prinzip. Die Fragmentarisierung zeigt sich als Rhythmisierung: »Eigentlich ist dieses Gedicht von zwei Bewegungen her konstruiert: von der Bewegung des Zusammenfassens – und zugleich von der Bewegung des Wiederauflösens der Zusammenfassungen, also des Öffnens« (BrH, 192).
25.3 Brinkmanns Song Fragment behauptet, eine nächtliche Reflexion auf die »Geschichte meines Lebens« (105, 3 f.) zu sein. Das angekündigte Resümee erfasst die soziale, politische, gesellschaftliche, ökonomische Gegenwart Westdeutschlands und verschränkt es mit dem Blick in die eigene Vergangenheit. Brinkmanns Erkenntnis ist deprimierend. Das Land und die Menschen befänden sich in einem Zustand der Erstarrung (u. a. »Starre«, 113, »Steingesichter«, 114, »tote Sonntage«, 116). Das Leitmedium dieser Verhärtung sei die Sprache (»die Mauern sind / Wörter, die / Mauer ist das / Verständnis«, 122). Es mutet daher nahezu paradox an, dass Brinkmann mit seiner Lyrik gegen die Sprache anschreibt. Die exakte Temporalbestimmung von Anfangsund Endpunkt setzt dem Gedicht einen Erzählrahmen. Der Schreibprozess beginnt vorgeblich am Sonntag »1.9.74: 37 Min. nach 1 Uhr nachts« (105; BrH, 186; Windrich 2012b, 862) und endet sieben Stunden später, »morgens um halb neun« (122). In der »Engelbertstr.«, in dieser Kölner Straße wohnte Brinkmann, beginnt die narrative Situierung, während sie im »kleine[n] Park« endet (122; vermutlich Rathenauplatz). Es wird der Eindruck eines poetischen Spaziergangs durch ein abstoßendes, großstädtisches Umfeld erweckt (u. a. »Straßenbahn und UBahnstationen«, 106, »den Ring entlang gehen«, 108, »Hinterhof«, 116). Die genannten Orte können sowohl in ihrem konkreten Bezug auf Köln als auch als universale Versatzstücke einer urbanen Welt gelesen werden. Damit baut der gesamte Text auf das Grundkonzept des Kippbildes, in dem das lyrische Ich sich einerseits ganz konkret durch die Straßen der Rheinmetropole bewegt und andererseits durch einen Illusionsraum gleitet (BrH, 189). Ein negativ konnotiertes Zentralmotiv in Fragment ist der Traum. Sogar als Traum vom »Wild West [...], weg von der Ziviehlisation und Kultur« (BrH, 192 f.) hat er ausgedient, ist ›stinkig‹ (105) geworden. Kapitalismus (»die Schlampe Geld«, 106), Materialismus (»jetzt herrschen die Dinge«, 110) und Ideologien (»als noch keiner überzeugt war, ging’s Leben
besser«, 107) haben die Träume korrumpiert. Mit Friedrich Nietzsche und William S. Burroughs versteht Brinkmann den Traum als Inbegriff der Täuschung, in der die moderne Gesellschaft lebt (BrH, 192 f.). Doch in der Litanei der Träume (Fragment, 111–113) leuchtet etwas Hoffnung auf. Über die Motivik des Lichts, der Musik und der Angstfreiheit ist diese Passage mit dem Schlussbild verschränkt. Gegen den täuschenden Traum bringt Brinkmann das Körperliche (gegen eine Kultur, »die den Kopf vom Körper / abriß« (114), die »Leidenschaft« (111), das »wilde Lied« (106) und die »Zärtlichkeit« (108)) in Stellung. Aber auch dieses libidinöse Refugium ist kulturell geformt und gefährdet. Ein weiteres zentrales Motiv von Fragment zu einigen populären Songs sind die titelgebenden populären Songs. Die Bestimmung »zu« beansprucht zwei Deutungsebenen. Hinsichtlich des Settings ist ausgesagt, dass das schreibende Ich »populäre Songs« hört. Funktional spiegelt sich in der Präposition hingegen die selbstreflexive Beobachtung, dass diese Songs Impulsgeber für den thematischen Fortgang des Gedichts darstellen (auf Eric Burdons »this is my dedication to black / Africa« folgt die Imagination einer Situation im Bus mit einem schwarzen Schaffner, 106). Die Anregung kann auch reziprok laufen, wenn etwa die Formulierung »small talk unter / Intellektuellen« quasi kommentiert wird mit Leonard Cohens »& you cry for / more & more & more« (109). Das bestimmende ästhetische Verfahren des Textes lässt sich so als assoziative Dynamisierung beschreiben. Gleichwohl weist Songs im Gedichttitel über den musikalischen Bezug hinaus. Das »klare Bild des Alltags, das aus dem Alltag hervortritt« (116), gehört zum Kern von Brinkmanns Songkonzept (Windrich 2012a, 465). Unter diesem Vorzeichen schaffen die urbanen Versatzstücke, die jeder kennt, eine unauflösliche Verbindung zwischen dem Dichter und den Menschen der Stadt. Doch wo der Dichter begreift, dass diese Dinge sich nur zu einer »Kulisse« fügen (106), erliegen die Anderen einer existentiellen Täuschung. Englische und amerikanische ›Popmusik‹ (nach engl. popular music; Schneider 1977; Hoyer u. a. 2017) ist Brinkmanns Themen-, Symbol- und Metaphernquelle. Immer wieder spricht er mit der Stimme anderer Künstler. Daraus erwächst eine beeindruckende lyrische Vielstimmigkeit und Brinkmann schreibt sich in einen translingualen, internationalen Kontext ein. Zahlreiche Songtextzeilen, oft im englischen Original, gelegentlich übersetzt, durchaus auch abgewandelt, als Zitat gekennzeichnet oder auch nicht, konsti-
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tuieren den Text (Schuhmacher 2003). Zudem finden sich Dichterzitate, mit denen Brinkmann analog verfährt, etwa von Ezra Pound (105) oder Lewis Carrol (107). Zahlreiche Zitate schlüsselt Brinkmann in BrH auf (BrH, 186–207); exemplarisch seien einige erwähnt. Auf der ersten Seite von Fragment lässt Brinkmann wie schon in Westwärts 1 & 2 Loudon Wainwright für sich sprechen. »[E]xcuse me baby if I’m acting bold« (Fragment, 105) erbittet vom Leser Verständnis für die Zumutung durch Fragment, ein Gedicht, das ›bold‹, also kühn, gewagt, dreist, zweifellos auch schroff verfährt und in der deutschen Literatur eine Provokation darstellt. Die Songzitate fügen neue Aspekte ein, kommentieren, setzen Akzente. Mit »light my fire« oder »I’m a back doorman« (116) treten The Doors mit Jim Morrison auf. Die Rolling Stones steuern »[she] doesn’t give a damn« bei (117). Velvet Underground liefert die Zeile »I was raised / in better days« (108). Mit Percy Mayfields treibender Aufforderung »hit the road, Jack!« (108) klingt die Stimme von Ray Charles an, aber auch die des Beatnik-Vaters Jack Kerouac. Leonard Cohen klagt melancholisch »& you cry for / more & more & more« (109). Brinkmanns Playlist umfasst Blues, Rock und Songwritermusik, eher simple Melodien und starke Rhythmisierung, Solo- und Chorgesang, eher poetisch und sanft als markig und aggressiv. Neben den verbalen Anleihen greift Brinkmann auch strukturell nach anderem. Analog zu Walt Whitmans »Song of Myself« von 1892 kündet der Dichter insbesondere in Strophe »4. (Song)« von seinem persönlichen Leiden und seiner Hoffnung. Der Fragment unterlegte Sound eröffnet einen erweiterten Deutungshorizont oder in Brinkmans Worten »einen anderen Schallraum« (109). Der Austausch mit den anglo-amerikanischen Songwritern, der intime ›akustische‹ Rahmen mit Musik vom Plattenspieler (106), zuhause im »kleine[n] Zimmer« (121) resultiert im Zusammenspiel mit der Liedstruktur von Fragment und der Anspielung auf den Dichter als Sänger (»was ist von diesem Land noch zu singen?«, 115) in einer Selbststilisierung des Lyrikers Brinkmann zum (prophetischen) Songschreiber. Hier wird die hohe Einwirkung des unmittelbaren Umfelds auf den Schreibprozess einmal direkter greifbar (Kobold 2000). Brinkmann erläutert: »während ich schreibe, höre ich manchmal Platten« (BrH, 188) oder: »Beim Schreiben eines Gedichtes überlasse ich viel dem momentanen Zufall, sowohl hinsichtlich des Inhalts wie der Form. Ich fange mit einer Zeile, einem
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Eindruck an, die mir auffällt, mir gefällt, mir seltsam erscheint, oder einfach klar ist, und dann gehe ich davon aus. Blicke ich von den Tasten der Schreibmaschine an irgendeiner Stelle auf und sehe ich oder höre ich dann etwas Auffälliges in meiner direkten Umgebung, z. B. eine Zeile aus einem Rock’n’Roll-Lied von einer Schallplatte, die vielleicht dann gerade abläuft, so füge ich sie dem Gedicht ein« (BrH, 125). In Fragment positioniert Brinkmann sein lyrisches Ego individualistisch, libertär und libidinös. Jenseits der emphatisch geführten Klage gegen eine irregeleitete Gesellschaft, behauptet Brinkmann »das alltägliche einfache Leben« (BrH, 201) als das wirklich Wichtige: Sex, Musik und einen »Kasten roter Tomaten, frisch im Regen!« (Fragment, 106). Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Fragment zu einigen populären Songs. In: Nicolas Born (Hg.): Literaturmagazin 3: ›Die Phantasie an die Macht‹ Literatur als Utopie (das neue buch). Reinbek bei Hamburg, Februar 1975, 105–122. Gerl, Werner/Siegmund Probst: Interpretation von Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht Fragment zu einigen populären Songs [Abschnitt 6]. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 25 (1992), H. 4, 315–330. Hoyer, Timo/Carsten Kries/Dirk Stederoth (Hg.): Was ist Popmusik? Konzepte – Kategorien – Kulturen. Darmstadt 2017. Kobold, Oliver: »Während ich schreibe, höre ich manchmal Platten«. Rockmusik im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. Vechta 2000, 46–53. Mueller, Agnes C. (Hg.): German Pop Culture. How »American« Is It? AnnArbor 2004. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Schneider, Enjott: Popmusik. Eine Bestimmung anhand bundesdeutscher Presseberichte von 1960–1968. Salzburg 1978. Schumacher, Eckhard: »In Case of Misunderständig, Read On!« Pop as Translation. In: Jochen Bonz (Hg.): Popkulturtheorie. Mainz 2002, 25–44. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. Windrich, Johannes: Einige sehr populäre Songs. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 461–472. Windrich, Johannes: Fragment zu einigen populären Songs. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 861–871.
Sylvia Heudecker
VI Prosa
A Erzählungen 26 Frühe Erzählungen Brinkmanns Erzählprosa der 1960er Jahre entsteht im programmatischen und verlegerischen Umfeld des sogenannten Kölner Realismus, wie er von Dieter Wellershoff, damals Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, vertreten wurde (vgl. Voit 1981, 482 f.). In dessen repräsentativer Anthologie Ein Tag in der Stadt (Köln 1962) erscheint Brinkmanns erster erzählender Prosatext in einem Buch, In der Grube, begleitet von kurzen poetologischen Überlegungen des Zweiundzwanzigjährigen. Ohne dass der zeitgenössische Nouveau Roman (s. Kap. 2) explizit genannt wird, propagiert Brinkmann hier ein sujetloses, handlungsarmes Erzählen nach dessen Vorbild. »Der Zustand der Person ist der einer wachen Ohnmacht, hervorgerufen durch die Anonymität und Gleichgültigkeit der Stadt und die Fixierung eines Erinnerungsstroms« (Erz, 408), wobei Letzterer (auch von »Bewußtseinsstrom« ist die Rede, Erz, 409) nicht als Terminus technicus verstanden werden darf, da die Erzählung in dritter Person steht. »Alles ist durchaus gewöhnlich: die Stadt, der Augenblick, die Person [...]. Sie wird vorgeführt und gleichzeitig aufgesaugt von einem Allgemeineren, das sie zu benennen versucht« (Erz, 409). Als Mitte der Sechziger seine beiden Prosabände Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966) erscheinen, erinnern sich die Rezensenten an diese erste Publikation und lesen auch die neuen Texte vor der Folie des Nouveau Roman und Brinkmanns Poetik einer »wachen Ohnmacht«, und dies durchaus zu Recht – die Prosastücke der beiden Bände setzen Brinkmanns spezifische Aneignung des Kölner Realismus (s. Kap. 2) mit seiner »Sensibilität für die Wahrnehmung des Alltäglichen« (Schäfer 1998, 24) konsequent fort. Selg stellt dabei eine »zunehmende Dominanz der Beschreibung optischer Wahrnehmungen« gegenüber anderen Sinneseindrücken fest (Selg 2001, 169). Noch am Ende des Jahrzehnts, im Fragebogen zu Super Garde (1969), gibt Brinkmann auf die Frage »Was tun Sie am liebsten?« die lakonische Antwort: »Ins Ki-
no gehen, schreiben, ficken, kaffeetrinken, zeitrumbringen, lesen« (Tsakiridis 1969, 221), und seine Texte bewegen sich weitgehend in entsprechenden Alltagsräumen (zu den autobiographischen Aspekten vgl. Späth 1989), die allerdings fast immer mehr oder weniger explizit sexualisiert sind und bisweilen darüber hinaus mit diffuser Gewalt aufgeladen werden. Spätestens in Raupenbahn werden dabei auch Motive der jungen Popkultur aufgenommen, »Zeichenmaterial von Massenmedien und Populärkultur« wird integriert (Schäfer 1998, 25); die Textur selbst gibt sich allerdings durchgehend wenig poppig, sondern bleibt neurealistisch-sperrig. Ein Rezensent urteilt: »das, worin seine Stärke liegt, nämlich die sensibelste, beharrlichste Nachgestaltung der kontrastlosen, uns ständig umspülenden Wirklichkeit ist zuweilen so ermüdend wie diese Wirklichkeit selber« (Schmitz 1966), und Brinkmann selbst muss rückblickend eingestehen: »Die zwei Prosabände waren in einer ziemlich nervtötenden Beschreibungsart gehalten« (BrH, 40). Heinrich Vormweg hofft noch 1968, der konsequente »optisch-akustisch-taktile Realismus« der Erzählungen möge sich letztlich als ein bloßes Durchgangsstadium des Autors erweisen auf dem Weg zu Glauben und Metaphysik (Vormweg 1968, 662). Doch Ende der 1960er weisen die Zeichen von Brinkmanns Prosa eher in Richtung Pop, was dann amtlich wird durch die Aufnahme von Flickermaschine in Super Garde: Der von Vagelis Tsakiridis herausgegebene Band versammelt explizit die »Prosa der Beat- und Pop-Generation« (so der Untertitel) in Deutschland. Im anhängenden Fragebogen antwortet Brinkmann allerdings auf die Frage »Welche Autoren lesen Sie?«: »Robbe-Grillet, Céline, Burroughs, Veitch, Williams, Blackburn, keine neueren dt. Autoren, auch Benns Prosa« (Tsakiridis 1969, 221). Der Nouveau Roman mit seiner Kombination aus Objektfixiertheit (chosisme) und totaler Subjektivität und seiner Vermeidung metaphorischer Rede steht als Einfluss für Brinkmann als Prosaautor also immer noch an erster Stelle und bestimmt seine spezifische Form realistischen Erzäh-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_26
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VI Prosa – A Erzählungen
lens. »Anders als in der tradierten ›realistischen‹ Literatur, in der an die sprachlichen Zeichen vermeintlich objektivierbare Sinnzuweisungen geknüpft werden, ist der Text im Nouveau Roman wie auch in Brinkmanns Erzählungen eine äußerst fragile Konstruktion von letztlich arbiträren Vorstellungs-›Bildern‹, welche die sprachlichen Assoziationsketten überhaupt erst freisetzen« (Schäfer 1998, 66). Mit Günter Herburger, Nicolas Born und Günter Seuren, die ebenfalls in den 1960er Jahren unter dem Lektorat Wellershoffs debütierten, gehört Brinkmann mit seinen Erzählungen zu den bedeutendsten Vertretern des Neuen Realismus in Deutschland.
26.1 Was unter die Dornen fiel (1959– 1961/1985) Die sechs unter diesem Titel versammelten Texte erschienen erstmals posthum 1985 in Erzählungen. Titel und Auswahl finden sich so bereits in einem Typoskript Brinkmanns (Autorangabe: rolf diether brinkmann), das den Zusatz »prosa 1959/61« trägt. Es handelt sich also um Prosaversuche aus der Essener Zeit, die damals nicht publiziert wurden. Der Titel bezieht sich auf das biblische Gleichnis vom Sämann: »Und etliches fiel unter die Dornen; und die Dornen wuchsen empor und erstickten’s, und es brachte keine Frucht« (Mk 4,7). Die Erzählungen »erproben verschiedene Möglichkeiten formaler und sprachlicher Gestaltung, manchmal epigonal und durchaus schwankend in ihrer Qualität, doch auch vorausweisend auf die Veröffentlichungen der folgenden Jahre« (Kobold 2014, 168). Vor allem die ersten drei Erzählungen, Ihr kleines Gesicht, Wenn sie morgens singen und Guten Tag wie geht es so weisen auf die großen Prosatexte der 1960er Jahre voraus. Sie sind autodiegetisch erzählt. Wie in Benns früher Prosa ist das Ich in der Diegese platziert, beschreibt einerseits unmittelbare Eindrücke seiner denkbar alltäglichen Nahumgebung (Café, Heimweg, am Fenster) und schweift andererseits von dort ab, in die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit der Frau gegenüber (Ihr kleines Gesicht) bzw. an die Begegnung mit einer begehrenswerten Frau am Abend davor (Wenn sie morgens singen), oder richtet seine Aufmerksamkeit auf die banalen Dialoge der Passanten (Guten Tag wie geht es so). Sujethafte Handlung findet nicht statt. Lange, schwebende Satzkonstruktionen vermitteln komplexe optische, akustische und olfaktorische Eindrücke, Wiederholungen sind ein häufig eingesetztes Stilmittel.
Ihr kleines Gesicht (Erz, 355–362) bettet in die nüchterne Caféhausszene die Erinnerung an eine erste jugendliche Liebe auf dem Rummelplatz ein, die in Dialogen wieder hochgeholt wird, aber auch mithilfe einer katalogischen Aufzählung der Jahrmarktsattraktionen, der noch etwas unbeholfenen Benennung von PopMusik (»Bill Haley und seine Cometen, see you later, aligator«) und der Beschreibung vom Knutschen in der Raupenbahn. Der Text experimentiert zwischendurch mit Klein- und Zusammenschreibung (»– wielangeistesher –«), fügt eine Sentenz über das Vergessen und gewollt poetische Passagen ein (»und wir flogen über die Tierwälder«, »lösten sich im Blau der Nachmittage«). Epigonale Anklänge an Gottfried Benn (»Worte, Worte«) und Günter Eich sind überdeutlich; Kobold (2014, 226–240) erkennt Ähnlichkeiten mit Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959). Thematisch ebenso wie in ersten Ansätzen einer Überblendungstechnik (Erz, 357, vgl. Kobold 2014, 232) kann der Text als Vorarbeit zu Raupenbahn gelesen werden. In Wenn sie morgens singen (Erz, 363–368), gemeint sind die Vögel, rekapituliert der auch im Wortsinne ernüchterte Ich-Erzähler auf dem morgendlichen Heimweg einen erotischen Kontaktversuch mit einer Frau in einem Tanz-Etablissement. Die Musik wird genauer benannt, etwa ein »Jazz, wie ihn Art Blakey spielt, ein zündender, provokativerischer Jazz – hart geschlagen und unmittelbar« (Erz, 364), die Wiedergabe des Englischen erfolgt jetzt in produktiver Umschrift (»ei laf päriß in se moanin’«). Am Ende heißt es in Erinnerung an seine Erfolglosigkeit und einen eleganten Nebenbuhler, die an ihm nagt: »sicher ist es eine Nutte gewesen, sag ich mir, doch was hilft das« (Erz, 368). Ein Einschub wie »sag ich mir« und die längeren Erinnerungspassagen sprechen gegen die Klassifizierung als Innerer Monolog im strengen Sinne (so aber Kobold 2014, 198 f.). In Guten Tag wie geht es so (Erz, 369–379) lauscht das Ich, am Fenster neben dem ostinativ erwähnten Aschenbecher sitzend, dem Parlando der Passanten, das in Kleinschreibung mit Spiegelstrichen in den Text integriert wird und dessen Bedeutungslosigkeit nach Bennschem Vorbild betont wird (»Wenn jetzt ein Wort ins Gewicht fiele, so denke ich, wäre ich befreit«, Erz, 374). Kobold (2014, 259–275) liest das überzeugend mit Bezug auf Heideggers ›Man‹. Brinkmann experimentiert hier mit der Fortsetzung der Satzkonstruktionen über die Parlando-Einschübe hinaus, aber auch mit Verweisen des manifesten Erzählers auf sein Erzählen (»Ich wollte darauf zurückgekommen sein, ich halte es auch ein«, Erz, 374) und
26 Frühe Erzählungen
anderen expliziten Selbstreferenzen (»Ich bin zugegeben ein Denker. Wie man sieht.« Erz, 377). Auffällig ist vor allem eine Passage, die das Innere der Gedärme eines Mädchens, »wohl ein Kommunionkind«, imaginiert. Es handelt sich aber nicht um Inneren Monolog oder Bewusstseinsstrom (vs. Kobold, 2014, 270), sondern um präsentisches Ich-Erzählen mit Anklängen an den Nouveau Roman. Die letzten drei Erzählungen weichen von diesem Schema ab; die hier erprobten Verfahren finden im späteren Werk weniger Anschluss. Fast eine kleine Szene (Erz, 380–384) entwirft wirklich eine Art realistischer Szene im Präteritum, mit für Brinkmann untypischen kurzen Sätzen und Dialogen und in dritter Person. Rainer und Lis kommen aus dem Kino, in dem sie René Clairs Porte des lilas (1957, dt. Die Mausefalle, in Deutschland seit März 1958 im Kino) gesehen haben. Analeptisch eingeschoben ist der erotisch aufgeladene Moment, als Rainer Lis zuvor aus ihrem Mietzimmer (»anheimelnd«, es läuft Paul Anka auf dem Radiosender American Forces Network / AFN) abholt. Hinterher denkt Rainer über den Film und sein Schreiben nach (»eine bildhafte [...] Poesie, die noch nichts gemein hatte mit Sentimentalität und verlogener Einfachheit, so: und genauso wollte er doch seine Geschichten geschrieben haben«, Erz, 382), während Lis ihn lachend mit Schnee bewirft, was ihn verärgert. Die unterschiedliche Stimmung, in der beide sind, treibt sie auseinander. Erinnerung an eine Landschaft (Erz 385–392) erprobt das Ineinander von Gegenwartserleben und Kindheitserinnerung in besonders komplexer Weise (Kobold 2014, 240–250, sieht sich gar an Proust erinnert). Der Text ist (nach Vorbild von Ilse Aichingers Spiegelgeschichte, 1947, und Michel Butors La Modification, 1957) in Du-Anredeform mit gelegentlich manifestem Ich verfasst, die man am ehesten als Selbstanrede verstehen kann. Jeder zweite der zwölf Abschnitte verwendet konsequente Kleinschreibung, die die Erinnerungsebene markiert, wobei der achte Abschnitt zunächst den siebten syntaktisch fortsetzt und erst später in Kleinschreibung übergeht. Abschnitt sechs besteht aus wörtlicher (Kinder-)Rede, der folgende schließt syntaktisch an den vorhergehenden an (ähnlich wie in Guten Tag wie geht es so). Auch auf der Gegenwartsebene wird bereits Landschaft präsentisch erlebt und beschrieben, etwas verkrampft substantivierend ist zu Beginn »von der Unmittelbarkeit und auch unwiederbringlichen Augenblicklichkeit eines solchen Tags« die Rede (Erz, 385), die allerdings jederzeit in Erinnerung umschlagen kann, dann »ist es da
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– einstige Zeit, unbegreiflich und einmalig« (Erz, 385). Die Erinnerungen beziehen sich dann auf das Schießen auf Ratten, Mutproben, Mädchen und Schulkameraden. Gegen Ende heißt es: »Es ist, das geb ich zu, ganz uninteressant, aber eine Landschaft erschließt sich nicht dir, sondern du mußt dich ihr öffnen« (Erz, 391). Im letzten Erinnerungsabschnitt wird das spießige, muffige Nachkriegsleben in der BRD, in dem es um »heimat und heimat und heimat« und »verstehen und verstehen und verstehen« ging, heftig »verflucht« (Erz, 391), und so lautet auch das letzte Wort des Textes, nachdem noch einmal mit Bennscher Intensität die vergangenen Sommer heraufbeschworen wurden. Die längste Erzählung, Früher Mondaufgang (Erz, 393–404), ist in gewisser Weise zugleich auch die erzähltechnisch konventionellste, auch wenn Brinkmann hier eine schwebende Syntax mit langen, hypotaktischen Konstruktionen ausprobiert. Die heterodiegetische Erzählung im Präteritum hat nur eine Erzählebene: Eine Gruppe von Jungen dringt durch den verwilderten Garten in ein verlassenes, von allerlei Gerüchten umwittertes Haus ein (zum biographischen Hintergrund: vgl. Erk, 113), in der es »irgendeine Frau« oder zumindest »vielleicht eine verschlossene Kiste« geben soll. Nach dem Eindringen »wußte jeder von ihnen auf eine erregende Empfindung hin, daß irgendetwas geschehen würde« (Erz, 400), und obwohl es heißt, dass es sich »eben nur um ein altes Haus, altes Haus ohne Märchen« handelt (Erz, 401), das allenfalls zum Versteckspielen taugt, geschieht dann auch etwas: Einer der Jungen, Heiner, bricht durch die Bodenbretter und stürzt sich zu Tode. Hier wird also, untypisch für Brinkmanns Prosa, eine sujethafte Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende erzählt. Kobold liest sie mit Bezug auf ethnologische und psychoanalytische Studien als Initiationsgeschichte (Kobold 2014, 169– 182). Burkhard Schäfer stellt sie in seiner Studie zur Ruderalfläche in der Literatur in den Zusammenhang der magisch-realistischen deutschen Nachkriegsprosa. Anders als Kobold, der meint, »[v]ergleichbar mit dem wuchernden Unkraut pflanz[e] sich die Sprache, allein durch Kommata strukturiert, in einer für Brinkmanns Prosa typischen Weise fort« (Kobold 2014, 171), meint er jedoch, dass es hier noch nicht (wie dann in Raupenbahn) gelinge, »den Ruderal-Topos mit verwilderten Textverfahren zu kombinieren« (Schäfer 2001, 258). Jörgen Schäfers Behauptung, Brinkmann schreibe u. a. gegen die Naturlyrik an, hält er eine Kontinuität des Naturlyrischen bis in den Pop entgegen und findet hier den ersten Beleg.
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VI Prosa – A Erzählungen
26.2 In der Grube (1962) In der Grube (Erz 7–67) ist der erste vollgültige Prosatext, den Brinkmann publiziert. Er erscheint in der von Dieter Wellershoff herausgegebenen Anthologie Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema (im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, 205– 276), begleitet von einem poetologischen Kommentar Brinkmanns (333 f., Erz, 408 f.). Die Erzählung hält sich strikt an die Vorgabe des Bandes, sie erstreckt sich von der Ankunft des Protagonisten auf einem Kleinstadtbahnhof über seinen Besuch in der Vaterstadt bis zu seiner Rückkehr ans Gleis, um den »Zug nach Hamburg« zu erreichen. Der Aufbau ist streng symmetrisch (vgl. dazu Baßler 2011): Vom Bahnhof und seinem Klo geht der Weg über den Vorplatz in ein Café – erzählt in sechs Abschnitten mit strengem Wechsel von dritter und erster Person. Eine kursiv gesetzte Mittelpassage ohne Satzzeichen erzählt das Mittagessen im Stehbüffet, es folgt der Rückweg zum Bahnhofsklo (erneut im strengem Wechsel von homo- und heterodiegetischer Narration). Hinter dieser Gegenwartsebene liegen, ebenfalls symmetrisch, zwei Episoden mit seiner Jugendliebe Manon, die ausführlich in Rückblicken erzählt werden. Im Unterschied zur Gegenwartshandlung sind diese Begegnungen keineswegs banal und alltäglich – Liebe paart sich hier mit realer und/oder phantasierter Gewalt. Der erste Teil (auf einer Party) endet damit, dass der Protagonist Manon ins Gesicht schlägt, bis ihre Nase blutet, im zweiten Teil (in einem Park) springt er sie an, um sie zu erwürgen. Hinter diesen beiden erinnerten Jugendepisoden liegt dann noch jeweils eine Episode der Kindheit: Im ersten Teil werden – in Ich-Form – grausame Kinderspiele erinnert, bei denen Jungen und Mädchen gefesselt und gequält wurden, im zweiten Teil erinnert sich dann der Protagonist selbst – in Er-Form –, Opfer eines solchen Spiels geworden zu sein (»vielleicht hatte man ihn beim Spielen wirklich in eine der vielen Gruben geworfen«, Erz, 60). Brinkmann praktiziert hier bereits die für seine frühe Prosa typische »präzise Verschriftung von momentanen Wahrnehmungen, von visuellen Eindrücken und den dadurch assoziativ ausgelösten Erinnerungen und Vorstellungsbildern« (Schäfer 1998, 65). In der Forschungsliteratur wurde der Text (freilich jeweils nicht zum Vorteil Brinkmanns) mit Gottfried Benns Der Garten von Arles (Schwalfenberg 1997, 50) und William Burroughs’ Rückkehr nach St. Louis verglichen (Selg 2001, 162). Kobold greift noch höher und sieht In der Grube als »Brink-
manns Versuch einer Kombination von Ulysses und Prousts A la recherche du temps perdu« (Kobold 2014, 495); entsprechend widmet er sich in seiner ausführlichen Behandlung des Textes den Themenfeldern Großstadt, Erinnerung, Nachkriegskindheit, Liebe, Sex und Abschied. Als einen Prätext macht er zudem Hans Magnus Enzensbergers Gedicht landessprache (1960) aus.
26.3 Die Bootsfahrt (1963) Die Bootsfahrt (Erz, 71–81) erschien erstmals 1963 in der Anthologie Neunzehn deutsche Erzählungen (89– 99). In diesem Jubiläumsband der Reihe, zu der 19 deutsche Verlage je eine repräsentative Erzählung aus ihrem Programm beisteuern, ist Brinkmann (für Kiepenheuer & Witsch) der mit Abstand jüngste Autor. Von allen Prosaarbeiten Brinkmanns erfüllt dieser Text am ehesten die Kriterien der deutschen Nachkriegs-Kurzgeschichte: Die Ich-Erzählung beginnt medias in res und enthüllt das zentrale Problem, um das sie kreist (»Das fing vor ungefähr drei, vier Wochen an«, Erz, 71), erst kurz vor Schluss. Untypisch für Brinkmann sind die zahme Syntax und die wenig ausgestaltete Gegenwartssituation, von der aus erzählt wird; es finden sich aber noch Bennsche Vokabeln wie ›Ekzem‹ oder ›Flimmerhärchen‹. Es geht um die Entfremdung eines Paares im Pensionsalter. Der Mann erzählt, wie seine Frau Elsa beginnt, etwas über ihn zu verbreiten, das ihr Verhältnis und das zwischen ihm und seiner Umgebung zunehmend vergiftet. Die Erzählung führt den Punkt der Spaltung allmählich auf eine Bootsfahrt der beiden in idyllischer Umgebung zurück. Das unerhörte Ereignis selbst wird nicht erzählt und, wie gesagt, überhaupt erst am Schluss benannt und bleibt in seiner binnenfiktionalen Wirklichkeit uneindeutig. Offenkundig führt es aber zu einer Entautomatisierung der Partnerschaft (»Das Kleine, woran wir hingen, das Gewöhnliche war aufgelöst und jeder war gefangen«, Erz, 79), insbesondere zur Wahrnehmung der Hässlichkeit der alternden Körper; dies geschieht in topischer Parallelisierung mit den Jahreszeiten und unter Verwendung zahlreicher Metaphern und Symbole (z. B. verdreckte Schwäne). Gregor-Dellin nennt Die Bootsfahrt in der Zeit einen »äußerst schlüssigen Prosatext, in dem sich Beschreibung und psychologische Analyse noch die Waage hielten« (Gregor-Dellin 1966).
26 Frühe Erzählungen
26.4 Die Umarmung (1965) Die Umarmung, der erste selbständige Erzählband Brinkmanns, erschien 1965 in Köln und Berlin bei Kiepenheuer & Witsch. Er enthält sechs Erzählungen mit einer Länge von zwölf bis achtundzwanzig Seiten, die alle personal erzählt sind, also in dritter Person und mit einer festen, stets eindeutig männlichen Reflektorfigur. Bereits Reich-Ranickis großzügig-herablassende Rezension in der Zeit (1965) bemerkt, dass »Brinkmanns Buch [...] mit einem Tod beginnt, mit einer Geburt endet und seinen Höhepunkt in der Beschreibung eines Koitus erreicht«. Späth, die darin vor allem biographische Bezüge erkennt und Brinkmanns Prosa bis ins Verfahren hinein psychoanalytisch deutet, arbeitet eine Kreisform vom Tod der Mutter zur Geburt des Sohnes heraus (Späth 1989, 20–26), und Vormweg (1968, 661) konstatiert, »das Zentrum jeder Erzählung« sei hier »ein kompakter Gefühlsimpuls des Ich, der alle Wahrnehmungen und Vorstellungen auf sich konzentrierte«. Ein Ich kommt allerdings gar nicht vor, und eine biografistische Lektüre wird durch die Wahl der zentralen Figuren verhindert – die in Geringes Gefälle ist beispielsweise älter als der Autor je wurde. Treffender bemerkt Gregor-Dellin (1966), in Die Umarmung seien »Handlungen, Geschichten, Vorgänge schon asketisch auf Situationen reduziert. Die Beschreibung triumphierte. Was aber vor allem auffiel, war die Sensibilität des Autors, die Reizbarkeit seiner Sinne, das Wahrnehmungs- und Wiedergabevermögen für das unmittelbar Anschauliche.« In seiner kritischen Rezension für die Süddeutsche Zeitung fragt sich Kramberg dagegen anlässlich des Bandes, »was manche junge Prosatalente dazu bestimmt, aus ihrer Muttersprache Schnüre von Froschlaich zu spinnen«, und wirft dem Autor Stipendienprosa vor (Kramberg 1965), während Lothar Baiers kurzer Verriss bemängelt, hier werde nicht wirklich erzählt, es wimmele von Klischees, und die immerhin interessante Feststellung trifft, Brinkmanns Prosa mache sich »wie eine schwache und zudem anachronistische Neuauflage der Beatnikliteratur aus« (Baier 1965) – eine Verbindung, die zu diesem frühen Zeitpunkt sonst kein Rezensent herstellt. Bereits in der ersten Erzählung, Der Arm (Erz, 85– 101), kommt Brinkmanns idiosynkratischer Umgang mit der Syntax voll zum Tragen: Der erste Satz zieht sich über zwei Buchseiten (sein Beginn ziert den Schutzumschlag der Originalausgabe), der zweite hat nur vier Wörter. Die Reflektorfigur liegt in der Erzählgegenwart, der das Präteritum entspricht, im Bett, ist
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aufgewacht und hört im Dunklen, wie eine Gruppe von Leuten zu ihr emporsteigt. Erst allmählich erschließt sich auch dem Leser, was »der späte nächtliche Besuch« (Erz, 88) wohl zu bedeuten hat, ausgesprochen wird es nie. In den dominanten Erinnerungspassagen berichtet das Ich von der sich lange hinziehenden (Krebs-)Erkrankung seiner Mutter (weder Krebs noch Mutter werden explizit benannt); »das Grauen, das Entsetzen«, das daraufhin das Kind befällt, entfremdet es von den Dingen. Erzählt werden der kindliche Wunsch nach einer Euthanasie-Lösung, die es einst an einer Katze erlebte, einsame Momente auf der Schultoilette, Schönheit und Hässlichkeit der Kranken (bis hin zur amputierten Brust), vor allem aber die Schwierigkeiten, als Kind an ihrem Bett zu sitzen und »nichtige Ereignisse« aus der Schule oder von Mädchen zu berichten, und schließlich der Wunsch, »daß es bald, schnell, ganz schnell mit ihr zu Ende ginge, was gut wäre, damit es auch in ihm aufhören könnte« (Erz, 100). Der Text endet mit den heraufgekommenen Personen, die wie Puppen »stumm im Licht standen« und vermutlich die Todesnachricht überbringen. Die Reflektorfigur in Das Lesestück (Erz, 102–113) ist ein Lehrer, der in der fünften Donnerstagsstunde die ermüdeten Schüler einer Jungenklasse reihum vorlesen lässt und dabei Detailbeobachtungen anstellt, von der Decke über den Blick aus dem Fenster bis hin zu körperlichen Details der Jungen, ihren Gerüchen und einem draußen vorbeilaufenden Mädchen. Ein erwartetes Ereignis, dass er nämlich ein unterrichtsfremdes (wohl erotisches) Heft konfisziert, um das zwei Schüler sich streiten, findet nicht statt. Brinkmanns ausufernde Syntax und Detailbeobachtungen resultieren in einem zeitdeckenden bis -dehnenden Erzählen, das den zähen Ablauf der Stunde mimetisch wiedergibt, aus der sich der Lehrer ebenso weg sehnt wie die Schüler und die ebenso ereignisarm ist und ebenso wenig enden will wie das Lesestück bzw., poetologisch, der so betitelte Text selbst: »Er liest den Satz richtig zu Ende und den nächsten Wort für Wort, Satz für Satz, ein Satz nach dem anderen, alle Sätze aneinandergereiht, flach, eine Schnur, ein Faden, der nur abreißt, wenn dem Jungen der Atem ausgeht, selten wo ein Punkt steht« (Erz, 103). Ein Prätext ist sicher das Nestor-Kapitel im Ulysses; anders als James Joyce dort verzichtet Brinkmann jedoch vollständig auf einen Dialog, und vom titelgebenden Lesestück bekommt man nur an zwei kurzen Stellen etwas mit, wo sein Text mit dem der Erzählung interferiert, was zu kleinen, reizvollen syntaktisch-semantischen Unschärfen führt
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(vgl. Erz, 106 oben und 110 im unteren Drittel). An einer anderen Stelle werden »die Blätter der Eiben oder wie die Bäume heißen« (Erz, 113) benannt, solche Unsicherheiten und das Präsens nähern den Text gelegentlich dem Modus der erlebten Rede an. Kramberg hebt die Erzählung in seiner eher kritischen Rezension des Bandes positiv hervor, weil sie (wie Geringes Gefälle) »die Monotonie des Stils und die Monotonie des Sujets zu einer insgesamt überzeugenden Einheit« bringe, während Reich-Ranicki, der auf narrative Zusammenhänge hofft, genau diese beiden Erzählungen für weniger gelungen (»krampfhaft«) hält. Weißes Geschirr (Erz, 114–141) ist die längste der Erzählungen aus Die Umarmung und kann als typisch für Brinkmanns frühe Prosa gelten. Die namenlose Reflektorfigur, im Abiturientenalter, befindet sich in der Erzählgegenwart (Präteritum) im Elternhaus seiner früheren, immer noch verehrten Freundin Marion und bekommt dort Tee serviert. Von Detailbeobachtungen zum Interieur des Zimmers, einschließlich der Ekphrasis von Paul Klees Kleine Flußbaulandschaft, schweift die Erinnerung, getriggert z. B. über eine Fotografie, ab zu früheren Treffen mit Marion (z. B. auf einem Rummel, im selben Raum, bei einem Spaziergang zu einem Mühlencafé), aber auch zu Szenen aus der Zeit nach ihrer Trennung (z. B. in der Eisdiele, im Freibad mit der Sommerliebe Hanni, ein Trampausflug mit dieser nach Bremen, nebst Beschreibung der Bilder von Paula Modersohn-Becker; imaginiert werden Marions Ferien im Watt) bis hin zum unmittelbar der Erzählgegenwart vorausliegenden zögernden Moment an der Haustür. Thematisch geht es dominant um Erinnerung bzw. Vergänglichkeit, um jugendliche Erotik und Anmut und die Beschwörung absoluter Gegenwart (»ein vollkommener Augenblick«, »jetzt, jetzt, jetzt«). Ein besonderes Moment der Erkenntnis geht von Marions »Schülerinnengesicht« aus, »von dem er plötzlich wußte, daß es für sich allein lebte und immer für sich allein, von ihm völlig unabhängig, leben und fortbestehen würde« (Erz, 130). Das titelgebende Geschirr, in dem ihm der Tee serviert wird, wird näher als »geschmackvoll weiß, Rosenthal, Studio Linie« benannt (Erz, 125). Offen bleibt, ob es sich dabei um das eingangs bereits erwähnte familiäre »Sonntagsgeschirr« handelt, »das er sie noch nie hatte benutzen sehen« (Erz, 115) – dann könnte man eine Art Entjungferung hineinlesen, was die »winzige[n] Verrückungen« (Erz, 138) im vertrauten Interieur erklären würde. Freilich wird die Studio Line von Rosenthal erst seit 1961 produziert, was der Anmutung eines »von drüben, aus irgendeinem Ort«
mitgebrachten Erbstücks zu widersprechen scheint. Drügh widmet dem Text eine ausführliche Analyse; er zieht Verbindungen zu Hofmannsthals Chandos-Brief und dem chosisme des Nouveau Roman und führt diese mit dem Marken-Labeling des Geschirrs eng, das er als Versuch deutet, »aus der regressiven Bindung an eine verflossene Liebe hinauszufinden, und zwar als Versuch sowohl des Protagonisten als auch der Erzählung selbst« (Drügh 2011, 47). Geringes Gefälle (Erz, 142–159) ist einer der zahlreichen Texte Brinkmanns, in denen die Hauptfigur in der Erzählgegenwart (die hier im Präsens steht) in einem Café sitzt. In diesem Fall handelt es sich um einen alternden Junggesellen, aus dessen Sicht zunächst das Interieur und Leute in diesem Café beschrieben werden. Dabei sind zwei Stränge auszumachen. Die Frauenfiguren sind sämtlich negativ besetzt: eine fette Kuchenesserin, die ihn an seine Hauswirtin erinnert, eine junge Mutter, »mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint« (Erz, 155), sowie das bedienende Mädchen, dessen Hässlichkeit ihn an das Onanieren und Pickelausdrücken seiner Pubertät erinnert. Ein Enddreißiger dagegen kommt ihm »unheimlich« bekannt vor, wie auf einem erinnerten Schaufensterbummel das Gesicht einer männlichen Schaufensterpuppe, das Dejavu »beunruhigt ihn etwas« (Erz, 146). Die Textur der Erzählung zeigt paradigmatisch die Brinkmannschen Kontiguitätskaskaden aus beobachteten Details, deren Benennung präzisierend wiederholt wird, woraufhin sich räumliche oder assoziative Anschlüsse ergeben, die genauso verfahren, etwa in folgendem Ausschnitt aus dem ersten Satz: »auf dem Tisch der Aschenbecher, in dem sauberen, weißen Porzellanaschenbecher ein Streichholz, das Streichholz vorne abgebrannt, der ausgebrannte, kleine Schwefelkopf grau, porös, ein poröser, toter Kopf aus Schlacke, darunter das Holz angesengt, schwarz, schwarzbraun, sonst schwachgelb« (Erz, 142) usw. Interessant ist die Erinnerung an ein Schaufenster, das mit Bildern von Max Frisch dekoriert ist (Name bleibt ungenannt) und für dessen neuen Roman wirbt (»Das Buch hatte was mit Gantenbein zu tun. Es kostete zweiundzwanzig Mark«, Erz, 149). Die Reflektorfigur vermutet darin »wieder ein Buch über den letzten Krieg, vielleicht ein Heimkehrerroman [...] denn das schrieb man heute, Kriegsgeschichten, Ehegeschichten« (Erz, 149), mit denen er nichts anfangen kann. Die Romanwerbung erlaubt es, die Erzählgegenwart auf 1964 zu datieren (als Mein Name sei Gantenbein erschien), und da der Mann Anfang, Mitte vierzig ist, war er vielleicht (im Gegensatz zu dem anderen Gast) selbst noch im Krieg. Auf den
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letzten Seiten wird sein fluchtartiger Ausbruch aus dem Café und die Aussicht auf ein »wie immer« quälend ereignisloses Wochenende (Fernsehen mit der Wirtin) eröffnet, draußen sieht er ein junges Paar und ganz am Ende steht er »vor dem Schaufenster eines Schallplattengeschäftes« – ob das ein Versprechen und damit bereits einen Übergang von der Nachkriegsliteratur (Frisch) zum Pop andeutet, wie Brinkmann in seinem Beitrag zur Fiedler-Debatte (Angriff aufs Monopol, s. Kap. 4.2 und Kap. 15), sei dahingestellt. Die Titelerzählung Die Umarmung (Erz, 160–181) steht im Präteritum. Der Eigenname »Café Wysk« (das sich im Haus der Technik befand) lässt auf Essen schließen. Die Reflektorfigur befindet sich in der Erzählgegenwart in seiner Wohnung und verarbeitet, wie sich freilich erst im Laufe des Textes herausstellt, die Nachricht von der Schwangerschaft seiner Freundin (»Es war grau, ein graues, träges Gefühl«, Erz, 160). Die ausschweifende Syntax – der erste Satz zieht sich über acht Seiten – und die typisch kreisende, auf Details fixierte Prosa Brinkmanns erschweren die Lektüre. Erinnerungen rekapitulieren verschiedene Phasen des jungen Paares: der erste Kuss im Parkgebüsch (daneben gleich die mit den Kindern schimpfenden Mütter), das erste Mal auf seinem Zimmer, die Entjungferung, der Sex, schließlich die unmittelbar vorausliegende Verkündung der ungewollten Schwangerschaft. Ein Leitmotiv ist die Erwähnung von Ray Conniffs »Begin-the-Beguin« (Begin the Beguine ist eine bekannte Musical-Nummer von Cole Porter, von der Conniffs Tanzorchester 1956 eine Instrumentalversion herausbrachte). Die gesamte Liebesgeschichte wird jedoch denkbar unromantisch dargestellt, der weibliche Körper und vor allem der Sex werden sehr explizit, gelegentlich drastisch bis zur Ekelgrenze beschrieben. Eine intensive Sprache (»die Pumpe, der Kolben, der saugte, der saugte, der stampfte, um es loszuwerden, aus sich herauszupumpen, zu spritzen, coitus, coitus interruptus«; Erz, 170) gestaltet eine gewaltsame und vor allem für die Frau offenbar lustarme Angelegenheit. Verhütungsversuche und Abtreibungsgedanken werden ebenfalls explizit benannt, die Nachricht der Vaterschaft ist keine freudige und löst beim kommunikationsunfähigen Adressaten Assoziationen mit wässriger Erbsensuppe, Terpentin sowie das »graue Gefühl« aus, mit dem der Text einsetzt, und die Müdigkeit, mit der er endet. Reich-Ranicki lobt den Text als »das einzige Stück der Sammlung, in dem sich aus den Momentaufnahmen, aus der Fixierung des Bewusstseinsstroms eine Erzählung ergibt« (1965). Die abschließende Erzählung Der Riß (Erz, 182–
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199) könnte man als Fortsetzung der Umarmung lesen: Die Erzählgegenwart (im Präsens) situiert die Reflektorfigur wartend im Flur einer katholischen Geburtsklinik, verbunden mit den typischen Detailbeobachtungen des Interieurs, der Türen, einer Uhr, der Lichtverteilung auf den Bodenfliesen etc. Eine die Figur irritierende, »übertriebene Bedeutung« (Erz, 197) kommt der gewöhnlichen Sitzgruppe am Ende des Flurs als Endstation des Weges zu. Die Erinnerungstextur bezieht sich vor allem auf den gemeinsamen Weg in diese Klinik, die Fahrstuhlfahrt mit einer weiteren, schwer beeinträchtigten Schwangeren (die die Stimmung drückt und Aggressionen auslöst), davor die Autofahrt. Ein junger Mann auf der Straße löst Erinnerungen an ein Foto, die eigene Jugend und das Elternhaus aus, ein Betonbau Phantasien über Putzfrauen in Büros und Schulen. Wiederholungen und kühne Syntax (Sätze können mehrere Seiten oder auch nur zwei Wörter lang sein) sind Brinkmann-typisch, erschweren die Orientierung aber weniger als in Die Umarmung.
26.5 Raupenbahn (1966) Raupenbahn ist der zweite und letzte Erzählband Brinkmanns. Er erschien 1966 bei Kiepenheuer & Witsch (Köln und Berlin), zeigt eine leicht bekleidete Frau auf dem Cover und wird vom Verlag beworben mit dem Claim: »Eine Prosa genau und eindringlich wie eine Kamera«, was die inhaltliche Erwartung von Erotik und die formale von filmischem Realismus schürt; salopp in der Sprache einer zeitgenössischen Rezension ausgedrückt: »Witsch verkauft einen jungen deutschen Langweiler (Brinkmann: ›Raupenbahn‹), dessen hingebungsvolle Beschreibungen von Türklinken sonst wohl unverkäuflich wären, mit einem strammen Büstenhalter auf dem Umschlag« (Becker 1966). Der Band versammelt vier kürzere Erzählungen und die lange Titelerzählung, die allesamt im Präteritum stehen, auf die Wiedergabe wörtlicher Rede sowie auf Gliederung durch Absätze verzichten. Vormweg liest die Prosa als eine Art Gegenprobe zum Vorgänger Die Umarmung: Raupenbahn »sparte das Zentrum, das Ich aus und gab den Wahrnehmungen und Vorstellungen völlige Autonomie, ließ sie in der Objektivation sich bezuglos bewegen« (Vormweg 1968, 661). Kramberg (1967) betont das fotografischfilmische Verfahren (»Brinkmanns Textfilme laufen gewissermaßen ungeschnitten«), und Gregor-Dellin (1966) sieht hier ein perfektes Muster des Wellershoff-
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schen Realismus vorliegen und dekretiert: »Überkommene Realismus-Vorstellungen erweisen sich vor dieser Prosa als untauglich.« Günter Blöckers ausführliche Rezension in der FAZ hebt die beiden ersten Texte des Bandes positiv heraus: Sie würden die engen Robbe-Grilletschen Vorgaben in Richtung auf »thematische Fixpunkte«, Signifikanz und einen »Erlebniswert« hin überschreiten; für den Rest des Bandes gelte allerdings: »Der rote Faden – wenn es denn einen gibt – verliert sich in dem Zeremoniell einer in sich selbst vernarrten Beschreibmanie« (Blöcker 1966). Die vor allem in den beiden letzten Erzählungen expliziten Bezüge zur gegenwärtigen englischsprachigen Popkultur, mit denen Brinkmann literarisches Neuland betritt, werden von den Rezensionen noch kaum bemerkt. Das erste Stück des Bandes, In der Seitenstraße (Erz, 203–220), steht zwar wie die anderen Texte im Präteritum, evoziert aber in personaler Erzählsituation eher präsentisch eine nur wenige Minuten dauernde Situation, streng intern fokalisiert auf eine männliche Figur, die – den Beutel mit den bisherigen Einkäufen in der Hand – in der Kälte vor dem Schaufenster eines Lebensmittelladens auf die Ehefrau wartet; diese wartet drinnen darauf, bedient zu werden – Umstände, die erst nach drei bzw. elf Seiten Kontur gewinnen. Die kurze Raupenbahn-Rezension in der konkret macht sich anhand dieses Textes über das fotografische Verfahren Brinkmanns lustig: »Er verknipst z. B. einen ganzen Film in einem Obstladen. Nahaufnahmen von Preisschildern und Apfelsinen« (Haderslev 1966). Tatsächlich kombiniert In der Seitenstraße minutiöse Beschreibung – etwa der Auslagen des Schaufensters, der Stimmen auf der Straße, der Frauen im Laden – mit kurzen Erinnerungspassagen und Phantasievorstellungen der Reflektorfigur. Dabei kehrt die Erzählung immer wieder zur Ausgangssituation vor dem Schaufenster und der darin gelegentlich nach Waren tastenden Hand des Verkäufers zurück, wobei es mehrmals zu fließenden enharmonischen Übergängen in Sätzen kommt, die doppelt beziehbar sind – eine Technik des Nouveau Roman. Bei den PhantasiePassagen handelt es sich beim erstem Mal um die Vorstellung, wie ein Apfel aus der Auslage wohl schmecken würde, bei den weiteren Malen dann um erotische Phantasien, die von der Beschreibung der Kundinnen im Laden über ihre Brüste zur Vorstellung, sie zögen sich aus, führen, die sich mit einer Kindheitserinnerung an eine voyeuristische Szene am Fenster einer Nachbarin vermischen. Imaginiert wird an dieser Stelle auch die Umkehrung des voyeuristischen Blicks. Die Stuckdecke des Ladens evoziert
überdies die Erinnerung an »tote Zeiten« (Erz, 217) als Kind sonntags im Familienkreis, die mit den Momenten der erotischen Erregung kontrastieren. Der Text beginnt mit einer vorgestellten Schreibszene, die sich vom handbeschriebenen Preisschild für die Apfelsinen im Schaufenster herschreibt. Die grobe Schrift wird zunächst als Index für bedächtiges, langsames, dann aber für schnelles, flüchtiges Schreiben gelesen – eine poetologische Lesart für die eigene Prosa, die detailliert einen flüchtigen Moment festhält, liegt hier nahe. Es gibt eine Liste der Läden in der titelgebenden Seitengasse, der des gegenwärtigen Ladens wird ausdrücklich beim Namen genannt (»Josef Paschem« – man vermutet einen Kölner Einzelhändler, allerdings scheint Paschem kein deutscher Nachname zu sein), ansonsten kommen nur generische Namen vor (»Maggiflaschen«); zweimal wird eine Bärenmarke-Reklamefigur ohne Nennung des Namens beschrieben (vgl. Drügh 2011, 37). Bei der Wiedergabe eines Gesprächsfetzens (»Der Mann sagte, hätte aufpassen sollen«; Erz, 207) entsteht ein kurzer Moment am Rande des Agrammatischen. Trotz der neorealistischen Beschränkung auf eine konkrete Situation stellen sich mythologische Bezüge zum Paris-Urteil (Apfel, drei Frauen) ein. Die sexualisierte Assoziation Äpfel – Brüste wird dadurch – wie der Blick – tendenziell umgekehrt, dass die Frau (vermutlich) Bananen kauft. Ein Vorfall (Erz, 221–234) nimmt das absatzlose, präteritale und stark fokalisierte Erzählen sowie die Ortsbestimmung ›Seitenstraße‹ auf und radikalisiert es auf eine konsequent externe Fokalisierung hin. In einer Art rein- und rauszoomender Camera eye-Perspektive werden zunächst die Texturen eines Gehsteigs, von Häuserwänden, dann die Straße, Häuserfronten und Fenster mit Topfpflanzen detailrealistisch beschrieben, dann scheint die Kamera in ein Wohnzimmer zu schlüpfen, wo sie u. a. auf ein Fotoalbum, eine Gebirgslandschaft und das Foto eines (Brinkmann ähnelnden) Mannes zoomt, schließlich nach etwa fünf Seiten dann in eine »grobkörnige Aufnahme« (Erz, 226) in einer aufgeschlagenen Zeitung hineinfährt, die sie – und damit ist jede realistisch noch zuordenbare Blickinstanz verabschiedet – zu einer lebhaften, multisensorischen Straßenszene ausbaut. Der titelgebende Vorfall ist also medial über die Zeitungsmeldung vermittelt (vgl. Andy Warhols Death & Disaster-Serie, 1963). Der entsprechende zweite Teil des Textes ist durch ein »Oder« (Erz, 226) – direkt nach der Beschreibung des (Autoren-?)Fotos – gegenüber der realistischen Beschreibungstextur des Anfangs abgesetzt, die er also nicht fortsetzt, sondern auf einen Möglichkeitsraum hin er-
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weitert. Auch im Folgenden bleibt die Fokalisierung aber extern: Was genau Polizei und Feuerwehr in der aufgebrochenen Wohnung vorfinden, bleibt im Bereich der Gerüchte (eine durch Gas suizidierte Frau?), womit auch hier ein paradigmatischer Raum (»Sie redeten über ähnliche Fälle«; Erz, 229) anstelle der realistisch-metonymischen Fortschreibung tritt. Dafür werden die Interaktionen zwischen den Gaffern auf der Straße (darunter eine Schwangere), zwischen einem Kellner und einem Betrunkenen etc. erzählt. Im Moment, der die Aufklärung bringen könnte, zoomt die Erzählung zurück (Wohnzimmer, Straße, Texturen), ohne freilich noch einmal die Zeitung zu passieren. Schaltstelle ist vielmehr die »Leselampe« im Wohnzimmer (Erz, 226 und 232); man mag insgesamt an Foucaults Bestimmung von Literatur als dem Imaginären »zwischen dem Buch und der Lampe« aus demselben Jahr denken (Foucault 1988, 160: Un ›fantas tique‹ de bibliothèque von 1966). Das Hineinzoomen in das potentiell Katastrophische des Kleinbürgeralltags hinter den Gardinen und Zimmerpflanzen, das von abstrakten Texturen (»Flecken«, »Stellen«, »Streifen« etc.) ausgeht und zu ihnen zurückkehrt, kann poetologisch gelesen werden. Spät (Erz, 235–252) treibt das handlungsarme, absatzlose, personal fokalisierte Erzählen mit fließenden Übergängen zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen, mit dem Brinkmann so häufig experimentiert, auf die Spitze. Selg liest hier »die Einebnung in die sprachliche Vergangenheitsform« als »Hilfsmittel zur stellenweise kaum entschlüsselbaren Verschachtelung von ›wechselnden Bewußtseinszuständen‹« (Selg 2001, 207). Auch die Basissituation der Reflektorfigur ist stark reduziert: Sie liegt nachts neben der schlafenden Frau im Bett, hört eine Uhr gehen und Straßengeräusche, sieht schemenhaft Umrisse etwa der Deckenlampe, sonst nichts. Sie dämmert dann immer wieder weg in traumartige Zustände, die offenbar Kindheitsmomente heraufholen, vor allem die Erinnerung an einen durch ein Schlüsselloch betrachteten aufgebahrten Toten in einem kapellenartigen Raum. Die enharmonischen Verwechselungen der Übergänge – etwa zwischen dem eigenen Liegen auf dem Kopfkissen und dem des Kopfes des Toten (Erz, 248 f.) – repräsentieren hier also auch das jeweilige Einschlafen und Aufwachen, der Modus der Erzählung kann auch als Mimesis von Müdigkeit gelesen werden. Blöcker (1966) hebt den »Kampf mit dem Kopfkissen« als Erstvertextung einer allgemeinen Erfahrung positiv hervor. Die wiedergegebenen Eindrücke (z. B. von Wänden, Asphalt, Tönen, Licht, aber auch vom Toten)
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changieren zwischen Abstraktion und Überkonkretion, gelegentlich werden Synästhesien gebraucht (»Die Stille war schwarz und taub«; Erz, 240). In Wurlitzer (Erz, 253–267) wendet Brinkmann sein Erzählverfahren erstmals auf einen popkulturellen Gegenstand an, eine Wurlitzer Jukebox, die in einem belebten Kneipenraum steht. Der Text beginnt mit einem über eine Seite langen Satz mit etwas agrammatischem Anfang, der nur die akustischen Eindrücke in der Kneipe wiedergibt, das Ineinander (»Wirrwarr«) von Musik und Stimmen. In kürzeren Sätzen konkretisieren sich dann einige räumliche Koordinaten (Toilettentür, zentraler Tisch mit Kaffeetasse), bevor ausführlich die von innen bunt beleuchtete Jukebox beschrieben wird. Dann wird die gespielte Musik benannt: »Schlager, Beatleschlager, a hard day’s night, oder jazzähnliche Stücke, Jazzsamba mit Stan Getz, mit Herbie Man« (Erz 255) – sicher eine der frühesten Nennungen der Beatles in der deutschen Literatur (A Hard Day’s Night erschien im Juli 1964). Ein öfters gewähltes Stück wird dann genauer beschrieben (»Das Jazzstück setzte ein mit einem schnellen, hölzernen Trommeln, das vorwärtsdrängte, hart geschlagen« etc.), vielleicht das später genannte Blue Monk in der Aufnahme von Thelonious (Brinkmann schreibt: Thelonius) Monk und Art Blakey (Brinkmann schreibt: Blackey). Allmählich verdichtet sich alles zu einer multisensorischen Kneipenszene, streng fokalisiert, aber ohne klar erkennbare Reflektorfigur. Zunächst stimmlich, dann auch räumlich und farblich (rote Jacke) wird ein Mädchen singularisiert, dazu einige junge Männer. In diesem Text gibt es nur genau zwei fließende Übergänge zu einer anderen Diegese, die diesmal über die Musik geschaltet sind (Erz, 258, 261): Aus der Jukebox wird eine große Konzerthalle, in der Monk und Band Blue Monk und andere Stücke live aufführen und dabei auch in ihrer optischen Performance beschrieben werden können, was die Juke Box ja nicht hergibt. Anschließend widmet sich der Text wieder dem wogenden »Gewimmel« in der Kneipe. Genauer fokussiert werden u. a. ein alter Esso-Abreißkalender, ein Mädchen in einer Männergruppe, dann wieder das Mädchen in der roten Jacke. Die Perspektive folgt diesem auf die Toilette, um dann in die Kneipe zurückzukehren. Der Text endet mit einem Plattenwechsel durch die Jukebox. Im Unterschied zur abstrakten Tendenz von Spät strotzt dieser Text geradezu von sinnlichen Eindrücken, Blöcker (1966) spricht von »Neo-Impressionismus«. Die Nennung von Musiktiteln und Markennamen macht ihn zu einem frühen Zeugnis der Öffnung deutschsprachiger Literatur auf
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die Popkultur hin, die sich in intellektuelleren Jugendkreisen gerade am Übergang vom Jazz (verbunden mit dem Existentialismus) zum Beat befindet. Dadurch gelangen verstärkt auch englischsprachige Elemente in den Text, wobei Brinkmann mit deren Schreibung offenkundig noch Schwierigkeiten hat (kleingeschriebener Beatles-Titel, falsch geschriebene Namen, neben den genannten auch Herbie Mann). Die »Worte« und »Fetzen«, die man im Kneipenraum hört, bleiben, anders als in Hubert Fichtes Kneipenroman Die Palette (1968), als solche unerfasst bis auf einen (Spitz-)Namen, der ebenfalls auf der Grenze von Deutsch und Englisch angesiedelt scheint: »Einer schrie mehrmals nach Miggi. Miggi war nicht da« (Erz, 264). Die Prosa verwendet weiterhin die aus dem Nouveau Roman angeeigneten Verfahren, wobei die fließenden Übergänge zwischen Wirklichkeitsbereichen hier nun zur Darstellung eines Medienwechsels eingesetzt werden: Die Musik von der Single-Schallplatte aus dem aufwändig gestalteten Wurlitzer evoziert ein großes Livekonzert. Zwischendurch widmet sich aber auch dieser Text der Beschreibung von Texturen, wie man das aus Brinkmanns Prosa kennt, und löst zeitweise auch die Barszenen in solche Muster auf (»Die kreisenden, vorbeiwischenden Gesichter waren in dieser spröden Helligkeit weiße schwimmende Flächen, die zitterten, zittrige Ovale« etc.; Erz, 262). Aber auch Ansätze von opaken, tendenziell illegalen Handlungen zwischen Toilettenräumen und Kneipeninnenraum (Prügel, Sex, Tabletten) scheinen auf. Die extern fokalisierten Oberflächen geraten tendenziell unter Verdacht, eine Tendenz, die dann in Raupenbahn zur vollen Entfaltung kommt. Wurlitzer ist Brinkmanns Freund Helmut Pieper gewidmet. In der Titelerzählung Raupenbahn (Erz, 268–349), dem mit Abstand längsten und avanciertesten Text des Bandes, findet die Symbiose von Brinkmanns neurealistischer, vom Nouveau Roman her entwickelter Prosa mit seiner Erfassung der popkulturellen Gegenwart ihren Höhepunkt. Bereits zeitgenössisch erkennt ein Rezensent darin Brinkmanns »formal und substantiell besten« Prosatext (Kramberg 1967). Fließende Übergänge und enharmonische Verwechselungen zwischen verschiedenen Perspektiven, Zeit- und Wirklichkeitsebenen kennzeichnen auch Raupenbahn, wobei vom ersten Wort (»Wahrscheinlich«) an alle diegetischen Zeichen als Indizien gelesen werden können, ohne dass man stets genau zu sagen wüsste, wofür. Gregor-Dellin erkennt in solchen Unbestimmtheitsmarkern (»vielleicht«, »offenbar«) einen Verstoß gegen Brinkmanns Ideal einer fotogra-
fisch-akribischen Beschreibungsprosa (»Das Bild verwackelt durch einen ungenauen Gebrauch des Genauen«; Gregor-Dellin 1966). Sie bewirken jedoch, dass der Verdacht zum Grundmodus dieser Erzählung und ihrer Rezeption wird. Die Erzählinstanz wirkt über weite Strecken neutral, bisweilen wie eine Camera eye-Perspektive extern, dann aber über Deiktika und Beobachterperspektiven auch wieder potentiell personal fokalisiert, man könnte sie als einen ›Fremden‹ konstruieren, der im Café als solcher auffällt (oder dies glaubt) und dann die räumliche Bewegung vollzieht, der der Text folgt. Diese ist wie eine Kamerafahrt gestaltet, topographisch knüpft sie in ihrer HinZurück-Struktur an In der Grube und Ein Vorfall an. Grob lässt sich ein Ablauf festmachen, der in einer Stadt beginnt, dann aus ihr herausführt über Felder bis hin zu einem »Platz weit draußen« (279), auf dem ein Jahrmarkt mit dem titelgebenden Fahrgeschäft in Gange ist. Über zwanzig Seiten (also etwa ein Viertel des Gesamttextes) bildet diese eine raum-zeitliche Konstante den inhaltlichen Rahmen des Geschehens. Dann wechselt zunächst die Zeit – der Platz erscheint jetzt verlassen (309 ff.) –, bevor die Textbewegung über die Felder in die Stadt zurückführt. Was das Sujet angeht, bemerkt bereits zeitgenössisch der Rezensent der Süddeutschen Zeitung über die Erzählungen des Bandes generell: »Selbst, wenn sie Anekdotisches enthalten – die Andeutung eines Soldatentodes etwa in ›Raupenbahn‹ [...] – reichen die Motive zur Herstellung einer Fabel, einer Story nicht aus« (Kramberg 1967). Außer diesem Tod, der zu Kriegsende und also deutlich vor der Erzählgegenwart anzusiedeln ist, wird mindestens noch die Ermordung eines jungen Mädchens angedeutet. Deren Wirklichkeitsstatus in der Diegese bleibt allerdings konstitutiv unklar. Analysiert man die Erzählsituation personal, so wird man sowohl die »Voyeurperspektive« (Kramberg 1967) auf dem Jahrmarkt als auch die rekurrenten Lustmordphantasien dieser Figur des Fremden zurechnen müssen; der Leichenfund des Mädchens im Wald und der Soldatentod, der zweimal vorkommt, wären dann als digressive Assoziationen eben dieser Instanz einzuordnen. Die FAZ-Rezension bemerkt zutreffend: »Mit letzter Entschiedenheit angewandt, schlägt die objektive Methode in hemmungslose Subjektivität um. Was als Dingbeschreibung beginnt, vollendet sich in der Halluzination« (Blöcker 1966). Dafür spricht, dass der Text jeweils Auslöser für seine Assoziationsketten bereitstellt. Zu Beginn ist es die Abbildung eines Mädchens in einer Zeitschriftenwerbung für ein Kakaogetränk (273), die übergeht in die Be-
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schreibung eines eisessenden Mädchens im Café, die wiederum fließend in eine Mordphantasie hineingleitet. Die Soldatentod-Passage wird auf dem Hinweg ausgelöst durch ein Grab, das zwischen Stadtrand und Rummelplatz liegt (und das charakteristischerweise ebenfalls zunächst als Werbetafel interpretiert wird, 284), auf dem Rückweg durch eine Fotografie, die Teil eines Wohnzimmerinterieurs ist und dort neben dem Foto eines Mädchens steht, in das zuvor die Beschreibung der im Wald gefundenen Mädchenleiche übergegangen war (333 f.). Die längere Beschreibung des Waldes selbst (319–332), die rein topographisch aus der Raumstruktur herausfällt, da sie einsetzt, als die Erzählung längst wieder im städtischen Raum mit Schule und Kirche angekommen ist, stellt eine assoziative Gedankenflucht zur Vorstellung der Stadt als Urlaubsort mit den entsprechenden Erholungsmöglichkeiten dar. In der Textur sind die Beschreibungspassagen, von denen man in dieser Lesart annimmt, dass die fokalisierende Instanz die genannten Dinge ›sieht‹, von den assoziativen Digressionen allerdings nicht zu unterscheiden: Beide weisen eine überklare Detailgenauigkeit auf. Das beginnt mit der Hand der Servierkraft im Café, die über eine Seite lang auf Indizien hin betrachtet wird. Dabei stellen sich sofort, wenngleich im Negativen, sexuelle Konnotationen ein. So heißt es von den Fingerspitzen, dass sie »kaum noch Vorstellungen an Zärtlichkeiten aufkommen ließen« (268), Vorstellungen, denen der Text dann aber gleichwohl Raum gibt. Die »Verdächtigungen« gegen den Gast, der solche Phantasien hegt, wären dann eine Art Gegenprojektion. Fortan läuft die Erzählinstanz sozusagen mit einem imaginierten Fremdbild als gefährlicher Outlaw und potentieller Lustmörder durch die Gegend. Positiv gewendet ließe sich dies als Impuls gegen die sexuelle Verdrängung und Armut einer bundesrepublikanischen Kleinbürgerwirklichkeit lesen. Hier wie in Ein Vorfall wird diese sichtbar gemacht durch einen kamerafahrtartigen Blick, der über die zimmerpflanzenreichen Fensterbänke in die Interieurs der Bürgerhäuser eindringt, deren Beschreibung viel Raum einnimmt (315 f., 338–346). Detailreich wird der Inneneinrichtung das bemüht Verkrampfte, gewaltsam Ordentliche und Lebensferne des entsprechenden Lebensentwurfes abgelesen, etwa wo den Sofakissen »mit einem kurzen Schlag mit der Handkante« Falten eingedrückt wurden: »Sie sollten den strengen, ordentlichen Eindruck ein wenig auflockern, waren aber zu genau in der Mitte des Kissens angebracht, als daß sie auf natürliche Weise [...] hätten entstanden sein
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können« (343). Die Wohnzimmer vermitteln pure Statik: »Spuren eines Aufenthaltes« werden »sofort wieder beseitigt« (316). Im zweiten Teil der Erzählung wird ein solches Interieur geradezu zum Rahmen, der sowohl den Mädchenmord im Wald als auch den Tod des männlichen Soldaten umfasst, und damit mit Krieg, NS-Zeit und fehlgeleiteter Sexualität gleichzeitig in Verbindung gebracht. Die jugendliche Form dieser Verklemmung (und vielleicht ihre potentielle Überwindung) ist dann im Dispositiv der titelgebenden Raupenbahn codiert, die ihren Namen von dem Verdeck hat, das sich einen Teil der Laufzeit über den Fahrenden schließt und damit eine sexuelle Annäherung – oder deren Prätention – ermöglicht. Die als sexuell aktiv und übergriffig beschriebenen Kassierer und die begleitende »Schlagermusik, die unermüdlich gespielte Beatmusik, zusammengestellt zu einer Schlagerparade neuester Platten die von den Jugendlichen selbst gewünscht werden konnten« (291), tragen zu dieser graduellen Freizügigkeit bei. »Eine dieser Gruppen hieß die Rolling Stones. Sie wurden so häufig von dem Publikum gewünscht, daß ihre Platte nach zwei, drei Musikstücken von neuem erklang« (296 f.), vielleicht ihr größter Hit (I Can’t Get No) Satisfaction von 1965. Auch diese jugendliche Szene wird jedoch von einer Instanz von außerhalb beobachtet und erzählt, der die Pop-Spezifika (anders als dem Autor) fremd bleiben und die sich voyeuristisch auf ein Mädchen fokussiert, das dann bis in den Toilettenbereich verfolgt wird. So bleiben auch die Jahrmarkt-Szenen nicht nur durch und durch sexualisiert, sondern stehen auch unter Verdacht. Schon bei der Annäherung durch die Felder mischen sich die Geräusche der Karussells mit dem »Aufheulen von Sirenen« (283), was sowohl auf ein Verbrechen (Polizei) als auch wieder auf den Krieg hinweisen kann. Ob im Pop-Konsum der Jugendlichen, von dem der Voyeur ausgeschlossen bleibt, ein positiver Lebensentwurf zumindest angedeutet ist, bleibt Interpretationssache. Die Marktschreier verkünden zwar: »Hier geht’s rund, das macht Freude, Spaß« (299), doch fährt die Raupenbahn stets im Kreis und das Verdeck schließt sich immer nur kurz. Allerdings heißt es an derselben Stelle auch: »mehrmals war Hier gesagt worden« – die Möglichkeit einer begrenzten Präsenz im Gerade Eben Jetzt einer sinnlichen Pop-Gewissheit erscheint in der Jahrmarkts-Heterotopie zumindest näher als in den Interieurs der Elterngeneration. Erneut ist im Text auch viel von abstrakten Texturen (»Flecken«, »Stellen«, »Fetzen« etc.) die Rede, die u. a. den verlassenen Rummelplatz charakterisieren,
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aber auch zur Beschreibung von Teilen der Mädchenkörper Verwendung finden – eine Verbindung, die sich in Brinkmanns Œuvre bis in die Collagen der Schnitte (s. Kap. 31) fortsetzt. Das gilt auch für Motive des Abjekten, des Mülls und der Ruderalfläche – sie alle sind hier Spuren und Symptome zugleich. Auf den letzten Seiten führt der Weg in ein Baugebiet, die Kinderzeichnungen auf dem Asphalt strahlen sexuelle Unschuld aus, die Bautätigkeit und das Wetter könnten eine zumindest potentiell bessere Zukunft verheißen; der letzte Satz lautet: »Die Kinder waren noch in der Schule« (349).
26.6 Kleinere Erzählungen Hier handelt es sich um verstreute kürzere Prosaarbeiten Brinkmanns, die in den 1960er Jahren in Anthologien und Zeitschriften erschienen und erst 1982 in Der Film in Worten gesammelt erschienen. Im Inhaltverzeichnis des Bandes werden sie mit den Gattungsbezeichnungen »Prosa« (Nichts, Am Hang, Nichts weiter, Flickermaschine), »Beschreibung« (Strip, Piccadilly Circus) oder »Erzählung« (Der Auftrag, Das Alles) versehen. Späth deutet sie als »Standbilder oder Aufnahmen mit feststehender Kamera« (1989, 35). Die Original-Publikationsorte zeigen Brinkmann im Kontext der ersten Reihe bundesdeutscher Nachkriegsliteraten. In einem Fall (s. Strip) wird er ausdrücklich den Autoren außerhalb der Gruppe 47 zugerechnet, einer »Schriftstellergeneration [...], die ein verändertes Verhältnis zur Sprache und deren Inhalt gegenüber den Autoren der Kriegsgeneration hat«, was, so der Herausgeber Hans Dollinger, »Voraussetzung für lebende Literatur« sei (Dollinger 1967, 10). Nur der letzte dieser Prosatexte platziert den Autor eindeutig in einem Pop-Zusammenhang (Flickermaschine, in: Super-Garde, 1969). Nichts (FW, 41–46) erschien 1965 zuerst in der von Wolfgang Weyrauch herausgegebenen Anthologie Alle diese Straßen. Geschichten und Berichte (272–279). Der Text variiert die Brinkmann-typische sujetfreie, autodiegetische Caféhausszene (vgl. Was unter die Dornen fiel): Das Ich sitzt bei Sommerhitze in einem Straßencafé, die Eigennamen »Konzertcafé Zell« und »Engelbertstraße« weisen auf Köln hin. Es beobachtet die Straße, vor allem die Mädchen, registriert Details (Wortfetzen, einen Kinderschuh, Gerüche, zwei Jungs auf der anderen Straßenseite) und imaginiert sich Dinge hinzu, erotische Phantasien, aber auch den Kellner bzw. eine Kellnerin und die Gründe ihres Säu-
mens. Der Text ist von popliterarischem Interesse in zweierlei Hinsicht: Erstens werden immer wieder kleine Kataloge eingeschoben, von Torten, Zeitschriften, Getränken und Autos, wobei letztere Liste zugleich den Verkehr zu registrieren scheint, weil sie etwa »Volkswagen« mehrfach wiederholt, ähnlich wie weiter unten eine Liste von Körperteilen und Kleidungsstücken der Passanten. Genannt werden außerdem, in unmittelbarer Kontiguität, die Beatles (mit Namen außer George) und der erotische Roman Die Herren von »Angelika Schrobsdorf« [sic] von 1961. Und zweitens verbindet sich diese Zeitarchivistik mit einer Betonung des absolut Gegenwärtigen: »und nun sitze, hier sitze, gerade hier vor dem Konzertcafé Zell« (FW, 45). Eine kleine Pointe bekommt der Text am Ende dadurch, dass das Ich in dem Moment, wo der Kellner endlich erscheint, von einem vorbeigehenden Mädchen (»und die da, da, die da geht in ihren knappsitzenden, weißen, mehligweißen Shorts«; FW, 46) so abgelenkt wird, dass er nicht mehr bestellen kann. Der Auftrag (FW, 54–60) findet sich nicht, wie von Maleen Brinkmann (FW, 310) angegeben, im Merkur (1966), sondern wurde wohl erstmals posthum in Der Film in Worten 1982 publiziert. Inwieweit dabei eine »geänderte Textfassung von 1974« (310) vorliegt und worin diese Änderung besteht, ist daher derzeit nicht nachvollziehbar. Der Auftrag gehört zu den wenigen ansatzweise sujethaften Kurztexten Brinkmanns, auch wenn davon bis kurz vor Schluss wenig zu merken ist. Die heterodiegetische Erzählung präsentiert ein (Hotel-?)Schlafzimmer und konzentriert sich zunächst mit dem typischen Brinkmannschen Detailrealismus auf Lichtflecken, verstreute Kleidungsstücke, den Faltenwurf der Bettdecke, den abgewetzten Teppich, Summtöne etc. Der Blick (?) schweift auch mal auf die Straße, wo sich Männer, darunter ein »Neger«, in der Nähe eines Wagens aufhalten. Im Radio läuft Sinatras My Funny Valentine. Vom ersten Satz an (»Jetzt, da er die Augen öffnet«) findet in diesem Raum aber auch das morgendliche Aufstehen eines Mannes statt, der am Ende unter der Dusche erschossen wird (in Anspielung auf die berühmte Szene in Hitchcocks Psycho vermischt sich das Blut mit dem Badewasser). Vom Titel einmal abgesehen deutet sich diese Wendung allenfalls in der Formulierung an, dass der Mann, als er noch einmal einnickt, »bereits für tot gehalten werden könnte« (FW, 55). Zwar operiert der Text mit Bedeutungsanmutungen, verschiedene »Stellen« der Wand weisen »blasse Stellen« auf (FW, 58), auch heißt es, die »Anordnung der Kleidungsstücke in diesem Zimmer« enthielte »eine Bedeutung, die nicht überschaut wer-
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den kann und zur Vorsicht mahnt« (FW, 56). Aber wer sieht hier eigentlich, und wer wird gemahnt? Das Opfer oder der Auftragskiller, aus dessen Warte der Leser die Dinge offenbar wahrnimmt, oder der Leser selbst? Die generischen Elemente lassen auch an die Wiedergabe einer Sequenz aus einem Gangsterfilm denken. 1966 erschien Stoppelmarkt in der Festschrift für J. C. Witsch, Nichts weiter (FW, 72–76) zuerst 1966 im Merkur (Heft 219, 550–555). In der Nachbemerkung heißt es, der Text gehöre »in den Umkreis der Prosastücke, die in dem soeben bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Band ›Raupenbahn‹ gesammelt sind«. Der Titel ließe sich auch auf Nichts aus dem Jahr davor beziehen, anders als dieser Text steht Nichts weiter jedoch im Präteritum und erzählt eine häusliche Szene einer Paarbeziehung mit Kommunikationsschwierigkeiten in personaler Erzählsituation aus dem Blickwinkel des Mannes. Thematisch könnte man es gemeinsam mit Das Alles zum Keiner weiß mehr-Komplex zählen (s. Kap. 27). Zu Beginn widmet sich die typisch Brinkmannsche Beschreibungsprosa der Textur der weiblichen Kleidungsstücke auf Stuhl und Teppich. Starke Oppositionen prägen den Text: Er (angezogen, stumm) vs. sie (ausgezogen, redend); ihre Sachen (Magazine) vs. seine Sachen (Bücher, Schallplatten) in der gemeinsamen Wohnung; draußen (kalt) vs. drinnen (warm). Die »Reklameseiten« der Magazine führen zu einer Beschreibung erotischer Werbe«Mannequins«. Gegen Ende wird der Blick aus dem Fenster und auf das Haus gegenüber beschrieben. Die neben den Zeitschriftenstapeln liegende, zweimal erwähnte »Tube Uhu« mag ein früher Hinweis auf Collage-Techniken sein. Mit dem Irrealis »er hätte sie jetzt schlagen können« (FW, 75) wird gegen Ende plötzlich eine dann indikativisch dargestellte Gewaltphantasie eingeleitet, in der er sie heftig schlägt. Während am Beginn ihre Dessous beschrieben werden, endet der Text mit einem Blick auf ihre abgetragenen Schuhe. Das Alles (FW, 77–83) erschien zuerst 1966 in der Anthologie Jahresring 66/67. Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst der Gegenwart (Stuttgart: DVA, 72–80), herausgegeben vom Kulturkreis im Bundesverband der deutschen Industrie. Auch hier wird eine häusliche Szene eines Paares im Streit erzählt, das über die Beschreibung des Morgenrocks mit dem aus Nichts weiter identifizierbar ist. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten, sowohl formal (Erzählmodus) als auch inhaltlich: Sie schimpft, er bleibt stumm, er hat Hassphantasien, beide hegen Fluchtgedanken. Neu ist aber die Anwesenheit des schreienden Kindes, eines Säuglings, der als Ursache der Krise ausgemacht
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wird (vgl. Keiner weiß mehr; s. Kap. 27). Gegliedert wird der Text durch drei Blicke auf das Hausdach gegenüber, auf dem zunächst Tauben sitzen, am Ende sind sie fort. Das Verhalten der Tauben wird mit dem des Paares parallelisiert, die titelgebende Passage lässt sich auf beides beziehen: »Er fand das alles lächerlich, obwohl er nicht wußte was, was alles« (FW, 77). Schreibutensilien in der Wohnung sowie im Laden verweisen auf Brinkmanns Schriftstellertätigkeit, eine Passage lässt sich poetologisch lesen: die Suche der männlichen Figur »nach einem Buch, das es nicht gab, von dem er aber eine genaue Vorstellung hatte, wie es geschrieben sein müßte, flach, ohne Absätze und die Zeilen langgezogen, Zeile um Zeile wegziehend, selten Punkte« (FW, 79) – wodurch Brinkmanns Prosa der 1960er Jahre insgesamt gut charakterisiert ist. Weiterhin beschrieben werden die eklige Nachbarwohnung von »Frau Meinecke«, der »Verkehr draußen« (Ortsbezeichnungen wie »Eigelsteintor« verweisen auf Brinkmanns Wohnort Köln), der Ölofen und der Vorsatz, einen »Entsafter« zu kaufen. Über allem liegt »wie Gas, wie Lachgas« (FW, 82) das existentielle Gefühl der Lächerlichkeit. Am Hang (FW, 47–53) erschien zuerst in der von Walther Karsch herausgegebenen Anthologie Porträts. 28 Erzählungen über ein Thema (Berlin: Herbig 1967, Bücher der Neunzehn Bd. 146, 171–177). Deren drei Abschnitte tragen Überschriften aus dem Bereich der Fotografie, Am Hang steht als zweitletzter Text des Bandes im Abschnitt Negative zwischen Texten von Gisela Elsner und Hubert Fichte. Der Text verwendet die Nouveau Roman-artige Textur, wie man sie etwa aus Raupenbahn kennt, mit ihren schwebenden Satzstrukturen und unmerklichen raum-zeitlichen Übergängen, auf innovative Weise zu einem Porträt. Vor allem die Syntax ist dabei auffällig: Der erste und drei weitere Sätze ziehen sich jeweils über mehr als anderthalb Seiten hin und erfassen dabei den porträtierten älteren Mann im Garten hockend, seine Physiognomie (FW, 47 f.), Inneneinrichtung seines Hauses und die Umgebung (FW, 49 f.) sowie einen Arbeitsraum, die umgebende Rheinlandschaft und einen Park (FW, 51–53). Dazwischen fokussiert der Text in kürzeren bis ganz kurzen Sätzen auf seine Figur und lässt sie sogar in (unmarkierter) direkter Rede zu Wort kommen, einmal über die Berufswahl (»Er sagt, ich wollte Notar werden«; FW, 49), dann über ein Kriegserlebnis und am Ende über Weltanschauliches (»Die christliche Weltauffassung allein gewährleistet Recht«; FW, 53). Der Name des Porträtierten (Konrad Adenauer, vgl.
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Späth 1989, 36 f.) wird nicht genannt, stattdessen fällt im letzten Satz der seines Gärtners (»Otto Berns«). Aus dem Jahre 1967 stammen auch die als »Beschreibung« rubrizierten Texte Strip und Piccadilly Circus (FW, 61–64). Strip erschien im Erstdruck unter dem Titel Strip (1966), versehen mit der Widmung »Für Rygulla«, in der von Hans Dollinger herausgegebenen Anthologie Außerdem. Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? (377–382), Piccadilly Circus (FW, 65–71 erschien unter dem Titel London: Piccadilly Circus in der von Manfred Franke herausgegebenen Anthologie Straßen und Plätze (29–37). Beide Texte bestehen jeweils aus nur einem einzigen, über mehrere Seiten gezogenen Satz im Präsens und radikalisieren damit die schwebende Syntax, die Brinkmanns Prosa insgesamt prägt. Diese sperrige Textur verbindet sich mit einem Interesse an popkulturellen Gegenständen, wie es aus der zeitgenössischen Pop Art bekannt ist. Beide Prosastücke kommen ohne manifeste Erzählinstanz aus und versuchen, mit dem für Brinkmann typischen kreisenden, mit Wiederholungen arbeitenden Verfahren, mal Ausschnitte vergrößernd, mal perspektivisch zurücktretend und iterativ raffend, ihren jeweiligen Gegenstand zu erfassen. In Strip ist dies ein Striptease-Club mit der wiederholten Routine der auftretenden »Mädchen«. Benannt werden zunächst neben Raumdetails, Zuschauern und Details der Körper und Kleidungsstücke auch die begleitenden »neuesten Schlagerplatte[n]« (mit einem kleinen Katalog von Bands und Interpreten von den Beatles bis Roy Orbison). Gegen Ende fokussiert der Text immer stärker auf die eigentliche »Stelle« des Geschehens, die weibliche Scham, ihre Erscheinungsformen bis hin zu dem durch ihre Präsentation ausgelösten »Wunsch« zur Penetration. Die libidinöse Besetzung von Scham und Brüsten führt, so wird formuliert, dazu, daß es »nie ein zusammenhängendes, einheitliches Bild ist, das von dem nun nackt sich zeigenden Körper [...] entstehen kann, da der Blick dann immer auch nur hastig und unentschieden darüberhin tastet« (FW, 64); eben diesen nicht-integralen (wenngleich zweifellos männlichen) Blick will die Prosa offenbar wiedergeben. Der Text beginnt mit unklaren (Licht- ?)Flecken und endet mit der Beschreibung eines das Szenario noch einmal verfremdenden Spiegels und dessen Rahmen. Piccadilly Circus wendet das gleiche Verfahren auf den bekannten Platz in London mit seiner Wand aus Leuchtreklamen an. Der Text beginnt und endet mit dem Wort »tot«, wie die Installation der Werbetafeln offenbar bei Tag wirkt. Ihr Arrangement wird genau
beschrieben, mit Anordnung, Schriftgrößen usw. Ein wiederkehrendes Stilmittel ist dabei, dass eine genaue Beschreibung des Werbeschriftzuges der expliziten Nennung des jeweiligen Markennamens (u. a. Wrigley’s, BP, BOAC, Osram), gelegentlich mit kursiv gesetztem englischem Slogan, vorausgeht. Die Anordnung der Schrift bei der Max Factor-Werbung wird z. B. in mehreren Anläufen immer wieder leicht anders beschrieben. Etwa in der Mitte ist von den Postkarten die Rede, auf der die Werbungen »retuschiert und in den Farben greller, leuchtender gemacht worden sind« (FW, 68), woraufhin die Beschreibung des Platzes noch einmal von vorn beginnt, diesmal auch architektonische Details der werbefreien Häuser mitliefert (unter Verwendung von Fachvokabeln wie »Gurt- und Kappgesimse«) und im Verlaufe weitere Neonwerbung sowie das aktuelle Kinoplakat für den Bond-Film Thunderball von 1965 mit einbezieht (Brinkmann reiste ab 1965 mehrmals nach London). Eigennamen von Straßen, Produkten und SchauspielerInnen werden genannt. Waren es zu Beginn die Leuchtreklamen selbst, die »tot, leer« anmuteten, sind es am Ende die Londoner Stadthäuser, die gerade ohne diese Reklamen »tot, tot, tot, tot« wirken. Flickermaschine (FW, 84–93) erschien 1969 in der von Vagelis Tsakiridis herausgegebenen Anthologie Super Garde. Prosa der Beat- und Pop-Generation (31–42) und situiert sich damit eindeutig nicht mehr im Zusammenhang deutscher Nachkriegsliteratur, sondern von Pop. Im anhängenden Ausklapp-Fragebogen (vgl. Tsakiridis 1969, 221) gibt Brinkmann Auskunft u. a. über seine sexuellen Phantasien (»Mit welcher bekannten Frau möchten Sie gerne mal?« »Elizabeth Taylor«) und popmusikalischen Vorlieben (»Velvet Underground, The Doors, Hapshash and the coloured coats, The Heavy Metal Kids und The Rolling Stones«). Im Vorwort des Herausgebers heißt es: »Brinkmann schrieb extra eine SUPER Geschichte, weil der Titel SUPER GARDE ihm gefiel und weil er mich mag und weil er mit einem Maschinengewehr herumläuft« (Tsakiridis 1969, 8) – Letzteres eine Anspielung auf Brinkmanns Clash mit Reich-Ranicki im November 1968. Der Text unterscheidet sich dementsprechend zwar nicht in der Länge, aber sowohl in der optischen Gliederung als auch im Textverfahren deutlich von Brinkmanns früherer Prosa. Der Fließtext wird an neun Stellen unterbrochen und ergänzt durch einen Querstreifen aus je drei »Standphotos«, die pornographische Details, aber auch Gesichter, u. a. von Transvestiten, und Ganzaufnahmen von Stars wie Elvis, Marilyn Monroe, Brigitte Bardot und
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Alfred Hitchcock zeigen (das erinnert vage an Filmstreifen, wie sie auch den Umschlag von Super Garde zieren; der Beitrag von Ulf Miehe im selben Band arbeitet in ähnlicher Weise mit graphischen Elementen). Den Text gliedern drei durchgezogene Linien und zusätzlich vier Zwischenüberschriften. Seine Textur ist an die Cut-up-Texte der Beat Generation angelehnt, die um 1969 auch in Deutschland übersetzt und praktiziert werden, und montiert durcheinander sehr unterschiedliches Material. Die Affinität dieses Verfahrens zum Film (vgl. Röhnert 2007, 285 f.) wird dabei, angefangen mit dem Titel, immer wieder deutlich (wiederholt wird die Marke Kodak genannt), zusätzlich enthält der von poetologischen Aussagen durchsetzte Text (s. Kap. 15) aber auch Hinweise auf Textmontage und die Funktion von Sprache allgemein, Hirnstrukturen, Drogenerfahrung und R. D. Laings Schizo-Textur. Typographisch arbeitet er zudem mit längeren kursiven Passagen sowie markierten und unmarkierten Zitaten. Flickermaschine trägt das Motto »Hier ist Zeit die winzige Ausdehnung eines Punktes«. Dem entspricht ein Teil des Textmaterials, das, auch wenn es ebenfalls nur fetzenweise präsentiert wird, noch am ehesten eine konsistente Erzählebene konstituiert, datiert auf »Rudolfplatz« (Köln) zwischen »0 Uhr 48« und »0 Uhr 49«. Die Vorgänge dort, die aus der Alltagswelt des Autors zu stammen scheinen, sind aber von Filmszenen (assoziiert u. a. durch den Kinoeingang) schwer zu unterscheiden: Straßenreinigung, Müll, ein Mann verstümmelt sich, bricht tot zusammen, Polizisten tauchen auf, die Adresse des Verhörraums (»Engelbertstraße 65, vierter Stock«) entspricht Brinkmanns eigener. Um dieses »Zentrum des Wahns« kreisen assoziativ Passagen, die z. T. aus Filmen stammen könnten: ein Hirn unter Glas, Apokalyptisches, ein Anfall auf einer ekelhaften Toilette sowie ausführliches Material zum Tod Marilyn Monroes (fälschlich datiert auf »Donnerstag, 9. August 1962«, am 9. August 1969 wurde allerdings Sharon Tate ermordet, die ebenfalls im Text genannt ist, da war der Text aber wohl schon gedruckt...). Während die Bilder eher die energetische Seite der Populärkultur einfangen (vgl. die Fiedler-Debatte, s. Kap. 4) und auch Laing mit dem Gedanken zitiert wird, »daß einige Varianten der Bewußtseinsspaltung nicht mehr als zu heilende Krankheiten anzusehen sind, sondern als ›Aufbrüche in eine unbekannte Dimension‹« (FW, 85), weist der Monroe-Komplex im Text hin auf »die unaufhaltsam zunehmenden Entfernungen von sich selbst, die schließlich töten« (FW, 89). Von den verbleibenden
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(Klatsch-)Informationen ernähren sich die »Schatten«. Der Text endet mit einem Zitat aus Hedda Hoppers Skandalchronik (Hollywood ungeschminkt. Chronik einer Starkolumnistin, 1966) und dem abschließenden Kommentar: »Das war es nicht.« Literatur
Baier, Lothar: Die Umarmung. In: Die Bücherkommentare 14/2, 15.6.1965, 58. Baßler, Moritz: »›In der Grube‹. Brinkmanns Neuer Realismus«. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 17–31. Becker, Rolf: »Stellen für Leser über 18. Rolf Becker über Robert Neumanns Anthologie ›34 × erste Liebe‹«. In: Der Spiegel 25/1966, 121. Blöcker, Günter: »Realismus der wachen Ohnmacht. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Prosaband ›Raupenbahn‹«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.7.1966). Dollinger, Hans: »Einleitung«. In: Ders. (Hg.): Außerdem. Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? München 1967, 9–11. Drügh, Heinz: »›Studio-Linie.‹ Zu Brinkmanns Warenästhetik.« In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 33–52. Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. Übers. von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt a. M. 1988. Gregor-Dellin, Martin: »Landschaft mit Figuren. Rolf Dieter Brinkmanns zweiter Erzählungsband«. In: Die Zeit 28 (1966). Haderslev, Jürgen: Neue Bücher. In: konkret (Juni 1966). Kobold, Oliver: »Lange nachdenkliche Gänge«. Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik und Prosa 1959–1962. Heidelberg 2014. Kramberg, Karl Heinz: »Geringes Gefälle« [= Rezension zu Die Umarmung]. In: Süddeutsche Zeitung (14./15.8.1965). Kramberg, Karl Heinz: »Aus der Voyeurperspektive« [= Rezension zu Raupenbahn]. In: Süddeutsche Zeitung (28./29.1.1967). Merkes, Christa: Wahrnehmungsstrukturen in Werken des Neuen Realismus. Theorie und Praxis des Neuen Realismus und des nouveau roman – eine Gegenüberstellung. Frankfurt a. M. u. a. 1982. Reich-Ranicki, Marcel: »Übungsstücke eines Talents. Ein neuer Erzähler: Rolf Dieter Brinkmann, geboren 1940« [= Rezension zu Die Umarmung]. In: Die Zeit 19 (1965). Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars – Ashbery – Brinkmann. Göttingen 2007. Schäfer, Burkhard: Unberühmter Ort. Die Ruderalfläche im Magischen Realismus und in der Trümmerliteratur. Frankfurt a. M. u. a. 2001. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schmitz, Karl: Raupenbahn. In: Die Bücherkommentare 15/2, 15.6.1966, 61. Schwalfenberg, Claudia: Die andere Modernität. Strukturen des Ich-Sagens bei Rolf Dieter Brinkmann. Münster 1997.
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VI Prosa – A Erzählungen
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Moritz Baßler
B Roman 27 Keiner weiß mehr (1968) 27.1 Entstehung und Veröffentlichung Im Januar 1965, noch vor Erscheinen seines ersten Erzählungsbandes, annonciert Brinkmann Hans Paeschke, dem Herausgeber des Merkur, für das folgende Jahr die Veröffentlichung eines Romans, der »Ein langer Sonntag« heißen und auch genau davon handeln soll: von einem Tag, »an dem wenig passiert und [...] alles wie tot erscheint« (9.1.1965, DLA Marbach). Ende 1965 weiß Heinrich Vormweg ebenfalls von konkreten Romanplänen des jungen Autors zu berichten: »Brinkmann entwarf die Vorstellung von einem Mann, der unablässig gegen eine Umwelt ankämpfe, die sich unüberschaubar vor ihm auftürme, überwältigend, [...] und die ihn schließlich tatsächlich überwältige, die ihn auslösche und aufsauge« (Vormweg 1990, 10). Ob es sich bei beiden Projekten um ein und dasselbe Schreibvorhaben handelt, könnte wohl nur ein Blick in den zur Zeit nicht zugänglichen Nachlass klären. In Brinkmanns einzigem Roman Keiner weiß mehr, der schließlich im Frühjahr 1968 bei Kiepenheuer & Witsch erscheint, lassen sich jedoch noch deutliche Spuren dieser frühen Konzeptionen erkennen – die Ereignislosigkeit eines (Ehe-)Alltags ebenso wie das langsame Verlorengehen des Einzelnen mitten in einer Überfülle von Bildern, Waren und popkulturellen Versprechen ausgangs der 1960er Jahre. Als Ralf-Rainer Rygulla nach seinen Londoner Buchhandels-Abenteuern im August 1966 wieder zurück nach Deutschland kommt, steht Brinkmann mit der Arbeit an Keiner weiß mehr kurz vor dem Abschluss. Dass dennoch fast zwei weitere Jahre bis zur Veröffentlichung vergehen, liegt nicht zuletzt an dem von Rygulla mitgebrachtem Material aus dem anglo-amerikanischen Underground, in dem »mit den Four-Letter-Words richtig groß umgegangen wurde« (Rygulla 2005). Eine »Anti-Sprache des Protests« (Brinkmann/Rygulla 1969, 408), die geeignet erscheint, »Übereinkünfte des Geschmacks, des Den-
kens und der Vorstellungen« (FW, 228) zu brechen und, so Brinkmann im anonymen Spiegel-Artikel vom 17.6.1968, »diese[n] ganze[n] hohe[n] Kulturbegriff in Deutschland kaputt[zu]mach[en]« (So im Gange, 126). Brinkmann schreibt sein eigentlich schon fertiges Buch um und verhilft dem ohnehin schon zentralen Thema Sexualität zum entscheidenden Mehr an Deutlichkeit und Drastik. Er injiziert dem Roman quasi noch nachträglich ein obszönes Moment, das die »schnelle, voreilige Aufnahme des Themas und des Dargestellten« verhindern soll, indem es »im Leser selbst Widerstand hervorruft[t]« (Brinkmann im Interview mit Wolfgang Pehnt, 21.11.1967). Und das Thema des Buchs, das kurz vor Veröffentlichung noch den in vielerlei Hinsicht passenden Titel »Nackt« (Eine Vorstellung von Popkorn, 47) trägt, umreißt Brinkmann in einem weiteren Brief an Hans Paeschke präzise: »Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen, Ehe, Altern, SEX« (zit. nach Bentz 1998, 246). Im Winter 1967/68 erhält Brinkmann einen Vorgeschmack darauf, wie der Betrieb später mit den als zu delikat empfundenen »Sex-Stellen« (Bentz 1998, 246) umgehen wird. Ihre Häufigkeit macht es unmöglich, eine unverfängliche und zusammenhängende Sequenz aus dem Roman für einen Vorabdruck mit dem Titel »Teile« im Merkur auszuwählen. Auch für eine Vorablesung im Deutschlandfunk am 21. November 1967 müssen Passagen eigens neu arrangiert werden, die unter der Überschrift »Tausch das um« zwar die für Keiner weiß mehr charakteristische Kritik an Warenästhetik und Konsum den Hörern nahebringen, die vom nicht zuletzt durch die kulturindustriellen Verheißungen geprägten und oft genug deformierten Sexualverhalten der Romanprotagonisten jedoch notgedrungen schweigen müssen. Der Verlag bastelt aus diesen Erfahrungen eine Vermarktungsstrategie. »Brinkmanns Buch schockiert«, verkündet der Klappentext. Der Plan, Widerstand hervorzurufen, geht auf. Werbewirksam liegt dem Roman wie sonst allein pornographischer Literatur ein Käuferverpflichtungsschein bei, der die Weitergabe an
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_27
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Minderjährige verbietet; gegen Brinkmanns Verleger Reinhold Neven DuMont wird wegen der »Verbreitung unzüchtiger Schriften« (Bentz 1998, 250) Strafanzeige gestellt, und die Katholische Kirche setzt den Roman eine Weile auf den Index, so dass er in einigen Kölner Buchhandlungen rund um den Dom seinen Platz ausschließlich im Giftschrank findet (vgl. Selg 2001, 260). Brinkmann hat seinen Ruf erst einmal weg: »Als wenn ich einer wäre, der nur mit’m Pint schreibt« (Anonym 1968, 126).
27.2 Noch einmal ein neuer Realismus Nach den absatz- und atemlosen Bewusstseinsprotokollen in Die Umarmung und den Prosaexerzitien in Raupenbahn (s. Kap. 26.4 und 26.5), die eine fassliche Figurenidentität zugunsten unaufhörlich ineinander gleitender Wahrnehmungen suspendierten, muss Brinkmann für seinen Roman einen Schritt zurückgehen, ins Konventionellere, stärker dem Erzählen einer wie auch immer rudimentären Geschichte Verhafteten. Es bleibt jedoch bei der Konzentration auf das »gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzen Bereich« (Wellershoff 1997, 843) und seine Abgründe, »die Zimmerschlachten, die Süchte, die Tagträume, die Neurosen, Psychosen« (246). Keiner weiß mehr, Höheund Endpunkt von Brinkmanns erzählender Prosa, hält damit nicht nur ein letztes Mal poetologischen Positionen Dieter Wellershoffs die Treue (lektoriert wurde das Buch von Wellershoffs Kollegin Renate Matthaei), sondern auch seinem eigenen, mit den Erzählungen etablierten Themenkanon. Doch anders als die oft nur ein Minimum an erzählter Zeit umfassenden Prosastücke bietet der Roman Raum für einen in Brinkmanns Werk singulären erzählerischen Bogen und eine Entwicklung des Protagonisten, die sich tatsächlich erfüllt, ehe Keiner weiß mehr auf der letzten Seite in ein psychedelisches Manifest überführt wird, das den Neuen Realismus endgültig verabschiedet. Der Roman schildert den Alltag einer Ehe als Unruhe und Auseinandersetzung in Permanenz: »Sie blieben immer weiter aufeinander angewiesen durch ihren andauernden Streit und ihre Versuche, neu anzufangen, noch einmal, neu, von vorne miteinander anzufangen bis zum nächsten Streit« (Kwm, 30). Drei namenlose Protagonisten in einer kleinen Kölner Wohnung: der Mann, der sich nach dem plötzlichen Entschluss, sein Studium aufzugeben, über »seine Pläne« »klarwerden« (105) will; die Frau, die mit »Schreibarbeiten« (11) »das meiste Geld« (102) be-
schafft; das kleine Kind, das »sie weder gewollt noch verhindert« (13) haben. Eine der Stärken des Buchs besteht darin, dieses Figurenensemble bis zum Ende unangetastet zu lassen, nicht zugunsten neuer, aus klassischen Ehe-Romanen bekannten (romantischen) Konstellationen aufzulösen, sondern das »Durcheinander von Gefühlen, widersprüchlichen Empfindungen, [...] endlos anhaltenden Redereien, Angriffe[n], Entschuldigungen, Verteidigungen und Rückzüge[n]« (141) darzustellen. Gerald und Rainer, zwei Freunde und zu verschiedenen Zeiten auch Mitbewohner, dazu einige fernere Bekannte – das sind die das Ensemble komplettierenden Personen, aber es bleiben letztlich Nebenfiguren, so sehr sie die Reflexionen des Mannes auch manchmal beeinflussen. Es ist die männliche Sicht, die aufgrund einer fixierten internen Fokalisierung das Buch prägt, die Frau bleibt bis auf wenige signifikante Ausnahmen, die einen Bruch der Erzählperspektive bedeuten (80, 100, 121, 122), ein »passives Moment« (Brinkmann im Interview mit Pehnt, 21.11.1967). Nur die konsequente Beschränkung auf die Perspektive des Mannes erlaubt es, seine »Empfindungen«, »Ansichten« und vor allem Vorurteile »gegenüber bestimmten Umweltverhältnissen« unter Verzicht einer vorgeschalteten Wertung oder relativierenden Kommentierung vorzuführen. Dafür sorgt die von Brinkmann flexibel eingesetzte erlebte Rede, die unterschiedliche Grade der Annäherung an das Figurenbewusstsein erlaubt, ohne dabei die durch die Verwendung des Präteritums und der 3. Person obligatorische Distanz zwischen Erzähler und Figur je ganz einzuziehen. In der erlebten Rede fließen Gedachtes, Erhofftes, Erinnertes, Geträumtes, Angenommenes, Gegenwärtiges und Vergangenes übergangslos ineinander. Der Einteilung des Textes in vierzehn nichtnummerierte, jeweils nur durch eine Leerzeile voneinander abgesetzte Abschnitte kommt daher auch kaum eine gliedernde Funktion zu (Selg 2001, 234). Sie gleicht einem kurzen Atemholen, ehe der Text sich wieder verliert im »Geflecht aus vielen Knoten, Antworten, Gegenantworten, Rechtfertigungen und Vorstellungen, Erlebnissen, Wunschbildern und Absichten« (Kwm, 106). Gebildet wird es aus langen, die Aufgestörtheit des Mannes und seinen Wunsch nach Durchdringen der Situation abbildenden Sätzen, die sich mit ganz kurzen, zuweilen elliptischen Konstruktionen abwechseln (Chittka 1998, 135). Brinkmann selbst sprach im Interview mit Wolfgang Pehnt von einem »schwierigen« Zeitablauf in Keiner weiß mehr. Jedoch klärt sich spätestens bei wie-
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derholtem Lesen die via Figurenbewusstsein notwendig ungeordnet präsentierte Chronologie. Erkennbar wird eine erzählte Zeit von wenigen Monaten, die sich vom Ende des Sommersemesters bis kurz vor Weihnachten erstreckt. Zwei Reisen: eine der Frau ans Meer, eine des Mannes nach Hannover, stecken den zeitlichen Rahmen ab. Dazu kommen Rückblenden auf einen London-Aufenthalt des Mannes bei seinem Freund Rainer und weiter in die Vergangenheit ausgreifende Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Zeit bei der Arbeit in einer Buchhandlung. Doch die Synopsis täuscht. Nicht die Bewegung, sondern der Stillstand prägt die Handlungsebene. Was sich bewegt, das sind nur noch die Gedanken des ansonsten die Tage weitgehend mit »Nichtstun« und »Dasitzen am Tisch« (Kwm, 178) zubringenden Mannes, und diese Gedanken streben keinem Ziel zu. »Knoten, Schnüre, verwickelt im Kopf und kompliziert für ihn, sie in dem Augenblick zu entwirren, und wenn er das tat, mehr darin verheddert, mitten darin festgesetzt, untätig auf derselben Stelle« (39), heißt es in einer der vielen poetologischen Passagen, in denen das Buch seine eigenen Verfahren kommentiert, etwa den »auf der Stelle« tretenden »Rhythmus« (236), der sich aus dem beständigen Umkreisen und Überdenken derselben Motive ergibt. Die Schrift wiederholt »die Verklammerung, das Ineinandergeschobensein« (169) der Protagonisten, verhandelt immer neu das Verharren im Zwiespalt zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem Wunsch zu bleiben.
27.3 Verdinglichte Sexualität 1953 wurde, darauf hat Heinz Ludwig Arnold in einer zeitgenössischen Rezension aufmerksam gemacht, ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch ein Roman veröffentlicht, der wie ein »Vorläufer« (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 18.8.1968) von Brinkmanns Buch anmutet: Heinrich Bölls Und sagte kein einziges Wort. Hier wie dort ein Mann, der nur schwer mit seiner Familie, noch schwerer aber ohne sie leben kann; Streifzüge durch das (noch zerstörte) Köln, Kneipenbesuche, Aufenthalte in billigen Hotels und, schon damals, das großstädtische Dauerfeuer der Reklame, dem kaum einer zu entgehen vermag: »VERTRAU DICH DEINEM DROGISTEN AN« (Böll 1998, 149). Gut fünfzehn Jahre später feiern Brinkmanns Essays das »Erlösungspotential« (Groß 1993, 68) der »vom Warenschein [...] durchdrungene[n], sekundäre[n] Realität« (Groß 1993, 43) sowie den »selbstver-
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ständlich gewordene[n] Umgang mit Konsummitteln« (FW, 243) und der sie anpreisenden Werbung (s. Kap. 4). Aber fast zeitgleich und in einer Art Widerruf dazu demonstriert Keiner weiß mehr, was es wirklich heißt, sich als »Beteiligter, Betroffener, Akteur« (FW, 208) an den »Stromkreis« (FW, 217) kapitalistischer Waren- und Bilderzirkulation anzuschließen. Brinkmanns Roman versucht 1968, alles andere als pop-euphorisch, die Antwort zu geben auf eine Frage, die Wolfgang Fritz Haug drei Jahre später so formulieren wird: »Wie verhält, vor allem wie verändert sich jemand, der beständig mit einer Kollektion von Wunschbildern, die man ihm zuvor abspioniert und anschließend nach allen Regeln der Kunst aufgearbeitet hat, umdienert wird?« (Haug 2009, 82) Der Protagonist von Keiner weiß mehr heftet aus »Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten[e]« (Kwm, 23) Bilder an die Wand, »Aufnahmen von schmalhüftigen, knabenhaften Mädchen« (215), Mode- und Werbefotos, »auf denen alles so ohne Geruch war« (23), die dennoch nach und nach zu einer »Modellierung der Sinnlichkeit« (Haug 2009, 120) führen: »Fotos, [...] von den Zimmerwänden zurückgefedert in den Kopf als ein feststehender Bildraster für die Außenwelt« (Kwm, 41). Der Mann findet sie wieder bei seinen »wie unter einem Zwang« (141) unternommenen Streifzügen durch die Stadt, die nur anfangs eine Ablenkung versprechen von der häuslichen Tristesse: »Das befreiende Gefühl hatte er längst schon wieder verloren und jetzt war es wieder eine schwankende Unruhe, während er durch die Stadt ging« (104), weil sich alle Passanten »so viel freier, lebendiger auf der Straße nachmittags« (109) zu bewegen scheinen als er selbst. Die beharrlich reizenden Versprechen der Mode, der Waren und der Werbung erzeugen die peinigende Gewissheit, von ihnen gerade nicht gemeint zu sein. Der Vergleich des Lebens daheim mit den konfektionierten Buntträumen der Konsumentenkultur fällt immer zum eigenen Nachteil aus. Erzeugt wird ein »Wunsch nach Orten, Frauen und Erfahrungen, der nicht zu befriedigen ist« (Illouz 2011, 77), denn was wirklich ersehnt wird, ist »nicht einzupacken in Plastikbeutel und zuzuschnüren, zusammenzubündeln, Knie, der Abdruck von Brüsten in einem Pullover, einzelne Brüste, nicht Brüste, Titten, Schenkel, Fotzen« (Kwm, 110). »Vollgepumpt« (110) mit den »in ihn eingedrungen[en]« (80) Bildern, »gierig« und gleichzeitig »innen erschöpft« (110), kehrt der Mann nach Hause zurück, gefangen »im Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis« (Horkheimer/Adorno
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2003, 129), das sich auf die Frau daheim richtet. Aber die mit »Wunsch und Vorstellung« aufgeladenen Waren verwandeln sich, einmal erworben, in ein »schlichtes Gebrauchsding« (Haug 2009, 161). So scheinen die gekauften modischen »gelbe[n] Lackstiefel« »fester, strammer an den Unterschenkeln« (Kwm, 90) einer zufälligen Passantin zu sitzen als an denen der eigenen Frau, die, von den »anderen«, ihr »fremden Bilder[n] in die Enge gedrängt« (122), beim Versuch, den Ansprüchen des Mannes zu genügen, ein »einsames Gefühl« (43) verkörpert. Auch Keiner weiß mehr »unterläuft«, wie Nicolas Born einmal zu Brinkmanns Gedichten schrieb, »die niedliche Sexualität der Warenreklame«, indem ihr »Aggressionen des Alltags [...] unterlegt« (Born 1980, 119) werden. Sie bilden die dunkle Kehrseite der aseptischen sexuellen Verlockungen. Der Mann reagiert auf den verführerischen Glanz der Abstraktion mit voller Körperlichkeit. Daraus resultiert jene »verdinglicht[e]« Sexualität, von der Brinkmann 1967 im erwähnten Rundfunk-Interview spricht. Im Roman entlädt sie sich in Szenen brutaler männlicher Aggression und sexueller Gewalt (Kwm, 96–99, 144–146, 166 f.), in denen der Mann mit seiner Frau wie mit einem leblosen Gegenstand umgeht, »also ohne eine Spur der inneren Empfindung oder des Versuchs der Perspektivübernahme« (Honneth 2015, 15). Brinkmanns Buch »propagiert« jedoch gerade nicht »einen unbedingten Hedonismus, für den [...] die uneingeschränkte Befriedigung der männlichen Lust zur Formel für seine Selbstbefreiung wird« (Späth 1989, 39). Vielmehr kritisiert es noch in seiner Negativität die das Subjekt deformierende, schein-libertäre Praxis und ihre Glücksversprechen Ende der 1960er Jahre. Es liefert damit, Brinkmanns Wortwahl im Interview legt das nahe, einen Beitrag zur just um 1968 im Zuge einer Wiederentdeckung der Schriften von Georg Lukács neu entbrannten Diskussion um die Verdinglichung und damit zu der von Lukács aufgeworfenen Frage, »wieweit der Warenverkehr und seine struktiven Folgen das ganze äußere wie innere Leben der Gesellschaft zu beeinflussen fähig sind« (Lukács 2015, 14).
27.4 Ein dialogischer Text Wenn Brinkmann im zitierten Interview 1967 als »ein durchgehendes Thema« seines Romans die notwendige, aber noch nicht erfolgte Bildung einer »jugendliche[n] Front« »gegen die Front der Erwachsenen«
erkennt, dann lässt sich das auf Passagen beziehen, die sich bewusst polemisch gegen Restauration und Saturiertheit wenden. Sei es die auf Ordentlichkeit und Wohlanständigkeit bedachte »Vermieterin« möblierter Zimmer, in denen man »bloß still sein« und nach und nach »verblassen« kann (28); sei es das ruhige, feststehende »Bild« (128), das lang verheiratete Paare abgeben, verlorengegangen in ihren Ritualen und Anekdoten: Immer geht es um die tiefe Kluft zwischen den Generationen, um das kompromisslose Angehen auch – eines der Kernanliegen der Studentenbewegung – gegen das noch immer »gärende alte Gerümpel in den Köpfen« (185). Nur ein einziger zeitgenössischer Rezensent, der Amerikaner Guy Stern, erkannte diesen thematischen Strang: Keiner weiß mehr »bitterly take[s] issue with the Nazi past, German militarism, and conservatism« (Stern 1969, 343). Doch Brinkmanns Buch kritisiert, das macht seine Glaubwürdigkeit aus, ganz genauso auch Vertreter der noch nicht etablierten Generation, selbsternannte Parteigänger von Unangepasstheit und Rebellion. Die Freunde des Mannes: der sich unablässig über »Mädchen, Ficken, Brüste« (Kwm, 61) verbreitende Gerald und der homosexuelle Rainer »mit seinen Flacons, Cremes, Gesichtswassern und dem toupierten Haaren am Hinterkopf« (41), verkörpern einen rein genussorientierten Umgang mit Sexualität und Konsum, der dem Protagonisten zwar bis zum Ende fremd bleibt, ihn aber dennoch den eigenen Lebensentwurf in Frage stellen lässt. Denn natürlich ist ihm bewusst, dass sich sein Alltag weit weg von allen zeitgeist-informierten, Offenheit propagierenden Beziehungsmodellen abspielt. Vielleicht liegt darin ein Grund für das gleichgültige bis brutal-ablehnende Verhalten des Mannes seinem eigenen Kind gegenüber, dem im Buch konsequenterweise nicht einmal eine Geschlechtsidentität, geschweige denn eine eigenständige Persönlichkeit zugestanden wird – ein erzählerischer Kniff, den sich Brinkmann von Marguerite Duras’ Roman Die Pferdchen von Tarquinia abgeschaut hat (vgl. Selg 2001, 227). Als Familienvater, verheirateter zumal, bietet der Mann ein leichtes Ziel für seine Freunde, die ihren Wilhelm Reich gelesen haben, mit dem es sich trefflich über die »Zwangsfamilie« als »wichtigste[r] Erzeugungsstätte der ideologischen Atmosphäre des Konservatismus« (Reich 1993, 88) räsonieren lässt. »Gerede, das sofort immer schon am Ziel war«, wie der Mann weiß, wenn er Rainer darüber dozieren hört, »daß Mauern eingerissen werden müßten, die Rege-
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lung des psychoenergetischen Haushalts erfordere die Möglichkeit zu der jedem Alter entsprechenden sexuellen Befriedigung« (Kwm, 152). Was Rainer hier in den Mund gelegt wird, stammt beinahe Wort für Wort aus Wilhelm Reichs Abhandlung Die sexuelle Revolution und ist damit eines der vielen in den Roman, so nennt es Brinkmann im Interview von 1967, »hineingepopt[en]« Zitate: »Sie tauchen immer wieder auf, werden nicht direkt gekennzeichnet [...], sind aber aus dem Textzusammenhang dann eben sehr deutlich wohl zu sehen«. Derlei Intertextualitätsstrategien machen aus dem Buch zwar kein »Geflecht von Zitaten« (Barthes 2005, 61), eröffnen aber durchaus Perspektiven der »Dezentrierung und der Offenheit« (Stierle 1983, 12), worauf sich auch Brinkmann selbst in den Briefen an Hartmut bezieht, wenn er sein Buch »sehr bunt und offen« nennt, »jedenfalls im Stil« (BrH, 139). Keiner weiß mehr ist an vielen Stellen ein dialogischer Text, in dem sich mindestens »zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ›Sprachen‹, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen« (Bachtin 1979, 195). Das beginnt schon beim Titel, den Brinkmann nach einem Hinweis von Nicolas Born einem Kriminalroman von Raymond Chandler entlehnt und dabei um einen Buchstaben erweitert hat (Goldschmidt 1978, 7 f.). So wurde aus der überlegenen Kompetenz des Privatdetektivs Philipp Marlowe das resignierte Eingeständnis allumfassender Ratlosigkeit, wurde aus Einer weiß mehr – Keiner weiß mehr. Während Selbstzitate, etwa aus Brinkmanns Lyrikband &-Gedichte (Kwm, 125; s. Kap. 16.9), einen gattungsübergreifenden Werkzusammenhang betonen, benennen Anspielungen auf Jack Kerouac oder William S. Burroughs (162–164) gegenkulturelles Wissen, dem sich Brinkmanns Roman verpflichtet fühlt. In anderen Fällen stehen der »ursprüngliche und der neue Zusammenhang« in teilweise beträchtlicher »semantischer und ideologischer Spannung zueinander« (Pfister 1985, 29). Ein unmarkiertes Zitat aus Hegels Ästhetik inmitten der Masturbationsphantasien des Protagonisten (Kwm, 226) verklammert philosophischen Höhenkamm mit dirty speech, wohingegen eine ebenfalls unmarkierte Übernahme aus Alfred Adlers 1927 entstandener Studie Menschenkenntnis hilft, die Persönlichkeit des Protagonisten zu verstehen (119). Schließlich stammt sie aus dem Kapitel »Charakterzüge aggressiver Natur«, das Affekte wie Feindseligkeit oder Hass thematisiert. Und Zitate aus Wilhelm Flitners Allgemeiner Pädagogik (234), der es um die Ritterlichkeit der Jugend zu tun ist, oder aus der noch in den
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1960er Jahren recht populären, von Alfred Clemens Baumgärtner verfassten Abhandlung Die Welt der Comics, die sich sorgenvoll über die »Probleme einer primitiven Literaturform« (Untertitel) beugt (84 f.), rufen schließlich einen ganzen Kontext des Überkommenen und zu Überwindenden auf. Ex negativo liefern sie gute Argumente für den Kampf gegen »die Front der Erwachsenen« (Brinkmann im Interview, 1967).
27.5 Präsenzerfahrungen »Zitate sind grundsätzlich Form- und Strukturprinzip von Pop und damit auch der Popliteratur. Sie sollen zu Transformationen und Transgressionen der Literatur beitragen« (Hecken/Kleiner/Menke 2015, 44). Sie allein machen das Buch jedoch noch nicht zum »ersten genuin entwickelten deutschen ›Pop‹-Roman« (Bohrer 1968). Dazu gehört auch, dass Keiner weiß mehr sich »offensiv des zeitgenössischen Zeichenvorrats« (Winkels 1999, 587) von Mode, Rock ›n‹ Roll, Film und Werbung bedient und auf diese Weise die »kulturellen Archive« durch Ausflüge in den »profanen Raum« (Baßler 2002, 21) erweitert. Sie fördern unter anderem hochgradig unglamouröse Markennamen zu Tage, das Spektrum reicht von »Osram« über »dc-fix« bis hin zu »Edeka« und »Appels Sardellenpaste«. Ein »Labeling«, das den Text im Unterschied etwa zu seiner Verwendung in Brinkmanns Prosastück In der Grube (s. Kap. 26.2) nicht »aus der Tyrannei der Intimität« (Drügh 2011, 48) herausführt, sondern das Klaustrophobische des Ehe-Alltags noch unterstreicht. Auch wenn die Autoren einer neueren Einführung zum Thema dazu neigen, Keiner weiß mehr eher nicht der Popliteratur zuzuschlagen (Hecken/Kleiner/Menke 2015, 65), kann der Roman doch, und zwar gerade mithilfe der in der Einführung vorgeschlagenen »Binnendifferenzierung«, der Gattung zugerechnet werden. Eben nicht als affirmativer, sondern als »kritischer« (195) Beitrag. Brinkmanns Pop unterhält keine »positive Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der Welt, ihren Tönen und Bildern«, seine »Revolte« speist sich nicht »aus einem großen Ja (zu Leben, Welt, Moderner Welt)« (Diederichsen 1996, 39 f.), sondern aus einem mitunter hasserfüllten ›Nein‹. Besonders eindrücklich in der »kanonischen Schimpftirade« (Baßler 2015, 114), mit der der Romanprotagonist Land, Leute und leichte Muse überzieht: »Deutschland, verrecke. [...] Mit den langweiligen Büchern, den langweiligen Filmen. Mit Roy Black und Udo Jürgens. [...] Verrecke mit deinen Wein-Königinnen [...] und mit
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Thomas Liessem. [...] Mit deinen Dralonmännern. Lupolenmännern« etc. (186). Moritz Baßler nennt das einen »paradigmatischen Rundumschlag, der einen ganzen kulturellen Gegenwartsraum erstvertextet« (Baßler 2015, 115) und gleichzeitig dem »Zusammenficken« (Kwm, 187) anempfiehlt. Wer aber nun vermutet, dass etwa die internationale Pop-, Rock- und Soulmusik glimpflicher davonkommt, sieht sich eines Besseren belehrt. Wo sie nicht als totalitäre Parole wahrgenommen wird: »Otis Redding, Otis Redding, Otis Redding, immerzu« (197), gibt sie das Buch der Lächerlichkeit preis. Der Erwähnung der Rolling Stones-LP Got Live If You Want It!, deren Cover verkündet: »Sonderanfertigung der Teldec für Hör zu« (227), folgt ein paar Seiten weiter das genüssliche Imaginieren eines typischen HÖRZUHaushalts, »Sessel«, »Pantoffeln« und »Krampfadern« (231) inklusive. Auch London, Zentrale der ›Swingin‹ Sixties’, bleibt für den Protagonisten bei seinem Besuch nur eine »wahllose Anhäufung von Gebäuden und Straßen« (164). Mit einer Ausnahme: die »großen grünen Flächen« eines Parks, in dem er einen »schöne[n], ruhige[n] Morgen« verbringt, »ohne Gedanken bis auf den, daß er da hindurchging« (53). In Keiner weiß mehr finden sich noch weitere Stellen, die, schon vorausdeutend auf Brinkmanns Spätwerk, den Konnex von Sprachlosigkeit, intensivem Körperempfinden, Naturerleben und friedlichen Augenblicken beschwören. Manchmal werden sie graphisch durch Einrückung und Kleinschreibung am Satzanfang hervorgehoben: das weiß gestrichene Zimmer der Frau, ein »leere[r] helle[r] Raum« (Kwm, 57) voller Möglichkeiten. Die ohne Unterlass »sich brechenden, übereinanderschwappenden Wellen« (89) an der holländischen Küste, wo Frau und Kind Urlaub machen. Zwei ältere Männer in einer öffentlichen Toilette, die sich beim Onanieren »in einer »lauernden Erregung und gleichzeitig ruhigen Wachsamkeit« (37) beobachten. Die Utopie gelingender ehelicher Sexualität: »Daß sie gelöst vor ihm stünde. Sehr zärtlich. Frei. [...] Ihn an ihre Nacktheit heranziehend, die er verdecken würde, nackt. Zwei unbekleidete Körper, wortlos zusammengedrängt, schubhaft neu, nackt« (87). Gespeist wird diese Sehnsucht aus einem fast genau in die Mitte des Romans platzierten »Moment der wahren Empfindung« (Lieskounig 1997, 196). Eines Nachts versucht der Mann, eine bewusstlos auf der Straße zusammengesackte Prostituierte »vom Boden hochzukriegen« (Kwm, 134). »Der Pullover schob sich [...] hoch und ließ weiß ein Stück Bauchfläche sehen [...], weich, sehr fleischig, ein Fleck, atmend, den
er hochzuziehen versuchte [...], Haut [›] warm an seinen Händen« (134). Dieses Erlebnis von Präsenz hat nichts mit »kleine[r] spießige[r] Erregung« zu tun, sondern ist »einfach da« (135), »intensiv vorhanden« (137), jedem Zweck und jeder Absicht entzogen. Es wird nicht willentlich herbeigeführt und ist, aufgrund der Ohnmacht der Prostituierten, auch nicht käuflich. Der »ekstatische Augenblick« bildet »das Andere des Alltags« (Jung 1994, 10) und sorgt für eine gesteigerte Selbstwahrnehmung, aber auch für Unsicherheit aufgrund erschütterter Routinen (Kwm, 138). Und trotz des Wissens, das Erlebte »nicht wiederholen« (203) zu können, will der Mann »eines Abends [...] dahin zurückfinden [...], wieder kalt, im Winter, in einer anderen Stadt, in der er sich nicht auskannte« (136).
27.6 Entwicklungsroman und Pop-Manifest Mit der »schon seit langem« (179) geplanten, immer wieder als Ausbruch vorgestellten Reise des Mannes nach Hannover beschleunigt sich der Rhythmus des Buchs. Zeitdeckender wird nun erzählt, linearer auch. Zudem ordnen sich nach und nach die bei oberflächlicher Lektüre oft unmotiviert wirkenden Handlungen des Protagonisten, seine Ausbrüche und Anmaßungen zu einer nachvollziehbaren, allerdings buchstäblich ver-rückten Stimmigkeit. Keiner weiß mehr kann auch als Krankengeschichte gelesen werden, die verblüffende Übereinstimmungen aufweist mit der 1966 neu aufgelegten und gleich mehrere Romane dieser Jahre maßgeblich beeinflussenden Studie Die beginnende Schizophrenie des Göttinger Psychiaters Klaus Conrad (vgl. Kobold 2016). Der Leser von Brinkmanns Roman ist aufgefordert, den besonderen, den schizoiden Blick, den der Roman vorstellt, zu erkennen und ihn als zwanghaften Vollzug einer Psyche aufzufassen, die sich in Schüben zunehmenden Wahns auf die Welt hin entwirft. Während der Hannover-Episode wird der »Wandel der Erlebnisstruktur« (Conrad 1966, 20) des Protagonisten endgültig manifest. Die Dinge wirken für ihn »aus ihrer Neutralität entlassen« (50), das Äußere scheint eine geheime Beziehung zu seinem Inneren zu unterhalten. Ein Besuch bei einer Prostituierten soll Erlösung bringen, aber »das Mädchen hinter dem Fenster« (Kwm, 221) weist den Mann ab, der daraufhin im Hotelzimmer den versäumten Geschlechtsakt in der Masturbation nachholt. Mit dem einsetzenden Orgasmus brechen die Dämme des Bewusstseins. Brinkmann gestaltet das, was Conrad ein Gefühl
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nennt, »als sei das Gehirn in den Wirbelkanal gerutscht« (Conrad 1966, 111), und in Keiner weiß mehr »Terror im Gehirn« (Kwm, 223) heißt, mit »Flickerbilder[n] à la Burroughs« (FW, 236). Seitenlange Cutups des Irrsinns, der Gewalt und der Vernichtung, durchsetzt mit Werbejargon und Popsplittern (vgl. Kwm, 215–219; 226 f.; 232 f.). Der temporäre Tod des Bewusstseins ist die Voraussetzung für den Neuanfang. Der Mann tritt die kurz vorher noch kategorisch ausgeschlossene Rückkehr nach Hause an. Dort gelingt die gelassene Abkehr von den Freunden (vgl. 240 f.; 243–247), und auch der Umgang mit dem Kind, das zuvor nur eine ›Plastikbauklötze‹ (46) werfende Störung gewesen ist, macht »ihm Spaß« (242). Die letzte im Buch mitgeteilte Begegnung zwischen den Eheleuten wird von Mondlicht erhellt. Im nächtlichen Gespräch über Célines Roman Voyage au bout de la nuit vertauschen sich die Rollen. Die Frau, »weich, nachgiebig, verweint« (249), bestimmt das Geschehen, und der Mann wird zum Fragenden, Zuhörenden und sich Sorgenden: »In seiner nur ungeschickt zurückgehaltenen Verlegenheit kam plötzlich eine Zärtlichkeit auf« (250). Diese Szene liefert die späte Erfüllung des Keiner weiß mehr vorangestellten Mottos, einigen Zeilen aus dem Song »She Smiled Sweetly« der Rolling Stones. Das dreimal wiederholte »Oh, no, no, no« resümiert keine »Lebenserfahrung von Sinnlosigkeit« (Meier 2000, 321) sondern bekräftigt ein vorausgehendes »Don’t worry«, mit dem die Frau im Lied ihrem zweifelnden Gefährten Mut zuspricht. Angesichts dieser Passagen und vor allem auch angesichts der sich so deutlich ins Behutsame und Elegische wandelnden Sprache scheint die Bezeichnung »(Anti-)Entwicklungsroman« (Rauen 2010, 92) für Keiner weiß mehr zu vorsichtig gewählt, fällt es schwer, in der »Rückkehr zu Frau und Kind« nur eine »resignative Akzeptanz der gegebenen familiären und gesellschaftlichen Strukturen« (Irsigler 2013, 293) zu erkennen. Brinkmann lässt seinen Roman jedoch nicht mit der vorläufig abgeschlossenen Entwicklung der Hauptfigur enden, sondern schickt noch eine Art Epilog von wenigen Seiten hinterher. Dabei handelt es sich um die fast gewaltsame Restitution der Pop-Ideale, deren ambivalenten Charakter der Roman zuvor enthüllt hatte. Ein Bücherklau – Seitenhieb gegen die modernen, sprich: überholten Klassiker der Bibliothek Suhrkamp, für die hier stellvertretend Richard Hughes’ Buch Hurrikan im Karibischen Meer steht (Kwm, 254) –, dagegengesetzt eine Hommage an den
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Hard-boiled-Krimi Ich war’s, ich war’s! von Ed McBain (vgl. Kwm, 255) und dann, ein paar Zeilen vor Schluss, die Transformation des Romantexts in eine einmal mehr intertextuell aufbereitete, vor allem als metapoetischer Kommentar zu lesende Pop-Programmschrift. Zitiert wird aus Tuli Kupferbergs in Acid (s. Kap. 36) enthaltenem Aufruf zur psychedelischen Revolution: »Die Wolken flockige Gebilde, aus weißem Gelee, eine Luft aus Cellophan, durchsichtiges Gras überall aufgesprossen. Tausende von blühenden Penissen, blumige Fotzen kleiner Mädchen auf einer weiten Wiese im Park im Ringelreihen« (Kwm, 256). Mit einem fett gedruckten, in größeren Lettern und Majuskeln präsentierten, vom Rest des Texts abgesetzten »GUTEN TAG!!!« kommt nicht nur der Roman, sondern Brinkmanns gesamte erzählende Prosa an ihr Ende. Begrüßt wird stattdessen eine Literatur, deren Verfahren und Inhalte – neues Vermessen von Sprachgrenzen und Stilhöhen, Kopplung von Hoch- und Populärkultur, Auflehnung gegen die Hierarchien der Vergangenheit – zwar im übrigen Romantext bereits präsent, aber eben noch in die Strukturen realistischer Erzählweise eingebettet waren. Erst mit den letzten, auf die Anthologien, auf den Gedichtband Die Piloten und auch auf Brinkmanns öffentliche Auftritte vorausweisenden und sie gleichzeitig als Geste schon realisierenden Sätzen löst sich Keiner weiß mehr von den für zwei kurze Jahre als zu überwindendes Paradigma ausgemachten »kulturellen Wörter[n]« (186) einer nicht mehr zeitgemäßen, sprich: einer Pop fernstehenden Literatur.
27.7 Die Rezeption eines Bestsellers »Interessant ist die Tatsache«, schreibt Brinkmann 1969, »wie eine Gesellschaft auf literarische Produkte reagiert, die ›Lii-ii-iebe‹ wörtlich nimmt als ›ficken‹« (Lyrik und Sexualität, 70): Insbesondere die Rezensenten kleinerer Tageszeitungen und Zeitschriften reagieren auf den mit Keiner weiß mehr vorgelegten Bruch von »Übereinkünfte[n] des Geschmacks, des Denkens und der Vorstellungen« (FW, 228) mit einer ablehnenden Heftigkeit, die das gesellschaftliche Klima abseits der kulturellen Zentren deutlich macht. Von »Schleimhautliteratur« ist die Rede und davon, dass nun »endlich [...] dem Abort der ihm gebührende Platz in der Literatur eingeräumt« (Werner Hehl in den Stuttgarter Nachrichten, 3. August 1968) worden sei; von »Kölnisch Abwasser nicht für Junge und kaum für Erwachsene« (Ernst Günther Bleisch im Münche-
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ner Merkur, 15.6.1968) und von einem »Summieren in Schwulitäten« (Rudolf Otto Wiemer in: Zeitenwende, 1968, 563). Dagegen stehen die positiven Reaktionen der überregionalen Presse, allen voran Marcel Reich-Ranickis eine ganze Seite der Zeit füllende Besprechung »Außerordentlich (und) obszön«: »Ein ungewöhnlicher, wie trotzig hingeworfener Brocken Prosa, ein Buch, kühn und radikal wie nur wenige deutsche Romane dieser sechziger Jahre« (26.4.1968). Ein halbes Jahr später, im Herbst 1968, wird Reich-Ranicki die von Brinkmann genauso »trotzig hingeworfene[]« Umdeklarierung eben dieses Buchs zu einer Waffe hautnah miterleben. Auch der Vorfall in der Berliner Akademie der Künste gehört zur Wirkungsgeschichte von Keiner weiß mehr. Der Roman wird Brinkmanns größter Erfolg zu Lebzeiten. Bis unter die Top Ten der meistverkauften Bücher schafft er es und hält sich dort mehr als ein Vierteljahr. Der Spiegel, der die Bestsellerliste druckt, liefert prompt ein Porträt Brinkmanns, der »ein untersetzter Gesinnungsunrasierter mit schlaksigem Mundwerk« sei; er wird mit der Sorge zitiert, dass ihn der unerwartete Erfolg »›jetzt in diesen ganzen Kulturbetrieb integrieren‹ könnte« (Anonym 1968, 126). Noch im Erscheinungsjahr druckt Kiepenheuer & Witsch vier Auflagen. Ab 1970 erscheint der Roman als rororo-Taschenbuch, seit 2005 in einer endlich splendider gesetzten, die alte Bleiwüsten-Edition substituierenden Neuausgabe. Sogar Auslandsrechte werden verkauft. Während die dänische Übersetzung mit Ingen ved mere (1971) nah am Original verbleibt, wählt Gallimard im selben Jahr mit La lumière assombrit les feuilles einen eher kryptischen Titel. Vielleicht zitiert ihn Brinkmann in Schnitte gerade deshalb: »ging zurück eine drekkige liste von tagen jedes sagte gestern ist morgen das licht verdüstert die blätter« (Sch, 16). Bis zur Einrichtung des Romans für das Theater vergehen über vierzig Jahre. Im Juni 2011 inszeniert Stefan Nagel im Schauspiel Köln mit allerlei RetroPomp Keiner weiß mehr als Dreipersonenstück (Bühne: Jens Kilian). Gedacht als »Spiel mit der epischen Form«, konzentriert sich Nagels Adaption weniger auf den Furor der Vorlage als auf die Frage: »Wie schafft man es, gut und ehrlich mit jemandem dauerhaft zusammen zu leben?« (Nagel 2011) Indem die drei Schauspieler, zwei Männer und eine Frau, ohne feste Rollenzuschreibung agieren, doch allesamt die erlebte Rede des Originaltexts vortragen, sollen einseitige Perspektiven aufgebrochen und männliche Projektio-
nen entlarvt werden. Das Stück endet mit dem Bild des »Auf-der-Stelle-Rennens« (Nagel 2011): die Darsteller auf einem schwarzen Laufband, vergeblich versuchend, mit Brinkmanns Text Schritt zu halten. Die Kritik sprach von »müßige[r] Bebilderung und Lesehilfe« (Preusser 2011, 53), das Premierenprotokoll vermeldete starken Beifall. Nicht nur die zeitgenössische Rezeption las Keiner weiß mehr zusammen mit den beiden fast gleichzeitig erscheinenden Romanen von Peter O. Chotjewitz (Die Insel) und Hubert Fichte (Die Palette) als Beleg für eine »radikale Abkehr [...] von Literatur als ›Kunst‹ und für eine neue, fast fanatische Hingabe an den ›Stoff‹« (Karl Heinz Bohrer in der FAZ, 4.5.1968). Noch in den Briefen an Hartmut übernimmt Brinkmann diese Sicht und bescheinigt allen drei Romanen, »das westdeutsche Empfinden der Umbruchstimmungen« (BrH, 109) zum Ausdruck gebracht zu haben. Die Literaturwissenschaft ist derlei Hinweisen kaum gefolgt, sie wählte andere Schwerpunkte. Eine Bemerkung Sibylle Späths aus ihrer die BrinkmannForschung maßgeblich initiierenden Überblicksdarstellung setzte dabei den Ton: Mit Keiner weiß mehr habe Brinkmann, so Späth, »einen weiteren Schritt der Entfiktionalisierung seines Schreibens« (Späth 1989, 38) unternommen. Die mehr oder weniger umstandslose biographistische Ineinssetzung von Autor und literarischer Figur und damit die Vernachlässigung der in Keiner weiß mehr zu beobachtenden Fiktionalitätsstrategien fehlte fortan in kaum einer Untersuchung. Noch die neuesten Arbeiten betrachten den Roman als kaum verhüllte Autobiographie, etwa indem sie die in Keiner weiß mehr kunstvoll in der Schwebe gehaltenen beruflichen Verhältnisse des Protagonisten kurzerhand vereindeutigen. Obwohl im Buch alle »Besonderheiten der Schriftstellerexistenz getilgt sind, damit sich die Normalität des Großstadtlebens in ihrer ganzen Tristheit entfalten kann« (Schillo/Prikker 1981, 80), analysieren Arbeiten wie die von Toni Tholen oder Jennifer Clare explizit, »was sich der politischen und vor allem der schreibenden Subjektwerdung« einer »erfolglosen Schriftstellerfigur« »in den Weg stellt« (Clare 2016, 274). Tholen begreift Keiner weiß mehr als »Familiennarration«, die die »Aussichtslosigkeit« (Tholen 2016, 80) einer glückenden Vermittlung von »Familiendasein und geistige[r] Tätigkeit« (85) in zwar literarisch avancierter, doch inhaltlich extrem »traditionelle[r] Darstellung« eines »überkommene[n] männliche[n] Selbstverständnis[ses]« (150) verhandle. Die »Utopie [...], Familienmännlichkeit und literarisch-intellek-
27 Keiner weiß mehr (1968)
tuelle Arbeit nicht-antagonistisch zu denken und zu praktizieren« (85), sieht Tholen erst in den 1970er Jahren, in der Literatur der ›Neuen Innerlichkeit‹ verwirklicht, die freilich kaum mehr etwas erahnen lässt vom Ringen um Selbstbehauptung auf der einen – es kommt in Keiner weiß mehr unzensiert zum Ausdruck – und Vergemeinschaftung auf der anderen Seite. Jennifer Clares kulturpoetische Studie Protexte versucht anhand von Büchern von Bernward Vesper, Peter Weiss und eben Brinkmann, Erkenntnisse »über den Schnittbereich und die Friktionen zwischen politischer Opposition und literarischem Schreiben in der Entstehungskultur ›1968‹« (Clare 2016, 65) zu gewinnen. Gegen gesellschaftliche Erstarrung gerichtete Verhaltensweisen erkennt Clare unter anderem im sich Bahn brechenden Bewegungsdrang, im mit grundsätzlicher Aktivität identifizierten Akt des Schreibens sowie in der kreativen Geste des Auslöschens und Überschreibens von gesellschaftlichen Setzungen – Kriterien, die der Protagonist in Keiner weiß mehr höchstens partiell, das Buch, das von ihm erzählt, jedoch durchaus erfüllt (274). Angela Bandeili untersucht das mit dem »Erzähltopos ›Mittelzimmer‹« installierte »metaphorische Konzept des Zwischenraums« (Bandeili 2014, 90) und damit den Zusammenhang des »Raumparadigmas mit der jeweiligen Ordnung der Beziehungsstrukturen« (92). Durch das Verharren des Protagonisten im zwar ausgangnahen, doch kaum je verlassenen Vorderzimmer, komme der wechselnden Besetzung des Mittelzimmers (durch die Frau, das Kind, die Freunde) sinnbildhafte Bedeutung zu. Auf diese Weise werde »das durch den Erzähler vermittelte, unbestimmte Gefühl, es sei immer etwas zwischen dem Protagonisten und dem von ihm jeweils angestrebten Lebenskonzept [...]« (90) poetologisch eingelöst. Ebenfalls raumparadigmatischen Aspekten geht Arletta Szmorhun nach. Sie spricht von einer sich in der »Aufteilung der kleinen Wohnung« artikulierenden »geschlechtliche[n] Hierarchie«: »In der eigenen Wohnung erlebt die Ehefrau des Protagonisten eine lagerähnliche Situation« (Szmorhun 2011, 260). Der Körper der Frau werde zum »Austragungsort« (260) von Gewalt, deren Ziel es sei, eine geschwächte, gleichwohl gesellschaftlich noch immer affirmierte männliche »Beziehungsmacht«, eine Art »gender-Regime«, »aufrechtzuerhalten und zu manifestieren« (261). Den »in den Begriffen von Weiblichkeit« (Okun 2005, 197) beschriebenen Momenten sexueller Entgrenzung in Keiner weiß mehr widmet sich dagegen Kirsten Okun. In ihnen werde das – allerdings durch
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einen männlichen Bewusstseinsträger mitgeteilte – sexuelle Ideal einer »Ablösung von Sinn durch Sinneserweiterung« (272) greifbar, realisiert durch »natürliche«, »jenseits gesellschaftlicher Erwartungen« (189) situierte Körper. Nur als »von ihren sozialen Rollen als Gebärerin, Mutter und Hüterin der Familie« (190) Befreite erhalte die Frau im Roman »die Möglichkeit, zum Subjekt einer eigenen Sexualität zu werden« (194). Dann (und nur dann) gelinge das Erleben der ersehnten »intensiv-sprachlose[n]« (272) Lust, authentisch und gegenwärtig. Literatur
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Oliver Kobold
C Tagebücher, Materialhefte, Collagen 28 Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (1973) 28.1 Entstehungskontext Rolf Dieter Brinkmann fertigte das Notizbuch nach dem ab etwa 1970 erfolgten zunehmenden Rückzug aus dem Literaturbetrieb während seines Stipendienaufenthaltes in der Villa Massimo von 1972 bis 1973 an. Es wurde erstmals im April 1973 von der Deutschen Akademie Rom als Villa Massimo Druck mit einer Auflage von 500 Exemplaren, die aus je 24 unpaginierten Seiten in einem braunen Pappeinband bestanden, veröffentlicht. Die Auszüge waren – obwohl sie durchaus auch als eigenständige Publikation gelesen werden können (Lehmann 1995, 184) – Teil einer größeren Materialsammlung und sollten unter anderem als Grundlage für ein zweites Romanprojekt dienen, zu dem es aufgrund des plötzlichen Unfalltodes von Rolf Dieter Brinkmann im April 1975 aber nicht mehr kam (Kawashima 2011, 142; Schmitt 2012, 119). Der Titel des Notizbuchs geht, wie Brinkmann selbst in einem Paratext erläutert, auf den Namen einer in London befindlichen »Wirtschaft« zurück, »die Worlds End hieß«. Diese Wirtschaft entdeckte Brinkmann bei seinem ersten Besuch der englischen Hauptstadt im Jahr 1965 während eines Spaziergangs in einer »immer schäbiger werdende[n] und zerfallenere[n] Gegend«. Diese bereits einige Jahre zurückliegende Szene wurde Anfang der 1970er Jahre während seiner Zeit in Italien in seiner Erinnerung immer wieder lebendig: »Während meines Aufenthaltes in Rom, am Ende längerer Busfahrten und Gänge dachte ich manchmal an das verblichene Schild mit der Aufschrift Worlds End und jenes im Leeren stehende verfallende Gebäude. Das ist die Geschichte des Titels dieser fragmentarischen Zusammenstellung aus meinem Notizbuch. Rom, I./3./73« (vgl. FW, [310], in der EA »[a]uf der vierten Umschlagseite«). Aus dem Notizbuch 1973, 1973 Rom Worlds End erschien erneut
1982 in der vielzitierten, von Maleen Brinkmann posthum edierten Sammelausgabe Der Film in Worten unter ausschließlicher Verwendung von Schwarz/ Weiß-Abbildungen (FW, 95–118). Dies geschah in Anlehnung an die Erstausgabe des Notizbuchs in der Villa Massimo Ausgabe, das ebenfalls mit Schwarz/ Weiß-Abbildungen arbeitete, da diese Farbgebung zum einen die Antithetik von Leben und Tod symbolisiert und die Bilder so zum anderen »auch in ihrer Chromatik den Verfall in sich tragen« (von Stein aecker 2007, 159). In dem 1988 ebenfalls posthum bei Rowohlt veröffentlichten Materialband Schnitte wurde das Notizbuch in einer veränderten und gekürzten Fassung wiedergegeben, allerdings mit zum Teil farbigen Abbildungen; es bildet hier den letzten Teil des Buches (Sch, 143–156), wobei die offenbar eincollagierte, fett gedruckte Nominalphrase »Open Book« (Sch, 143) wie eine Binnenüberschrift wirkt.
28.2 Aufbau, Form und Inhalt Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End wird in der Forschung als Collagenbuch klassifiziert. Wie es für die späten Materialbände Brinkmanns generell charakteristisch ist, setzt sich auch das Notizbuch aus zahlreichen Text-Bild-Montagen zusammen. Formal ist es an die Struktur eines Tagebuchs angelehnt, das aus verschiedensten Einträgen besteht und als Selberlebensbeschreibung die Gedanken und Wahrnehmungen eines sich selbst erzählenden Subjekts widerspiegelt. Inhaltlich stehen die Dokumentation des Verfalls und eine »Abrechnung mit der Kulturstadt Rom und der Zivilisation im Allgemeinen« (Schmitt 2012, 119) aus der Perspektive des schreibenden/collagierenden Ichs im Zentrum. Die anvisierte Dekonstruktion der menschlichen Zivilisations- und abendländischen Kulturgeschichte, die Rom gleichsam programmatisch verkörpert, wird hauptsächlich durch eine Konzentration auf die Themen »Geld, Tod und Sex« sowie die beständige Variation dieser Themen-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_28
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
felder ins Bild gesetzt (von Steinaecker 2007, 154; vgl. Schmitt 2012, 210). Insbesondere die Anzahl drastischer pornographischer Darstellungen ist dabei deutlich höher als in Brinkmanns anderen Fototexten und stellt so die Anfang der 1970er Jahre vorherrschende enorme mediale Präsenz des Pornographischen kritisch aus, die Brinkmann als »eine Ursache der gesellschaftlichen Entfremdung des Subjekts wahr[nahm]« (Moll 2006, 156). Brinkmanns Notizbuch greift zudem literarische Traditionslinien auf und arbeitet sich an diesen ab, indem sie in seine Gegenwart und Lebenswirklichkeit transferiert und mit neuer Bedeutung aufgeladen werden. Dies deutet auch ein Selbstzitat Brinkmanns an, das Bestandteil der zahlreichen Motti ist und »: Lebendige Vergangenheit« lautet. So wird im Notizbuch unter anderem die Tradition des vorchristlichen ägyptischen und tibetischen Totenbuchs aufgerufen, zu denen inhaltliche wie strukturelle Bezüge festge stellt werden können (vgl. dazu von Steinaecker 2007, 155 ff.). Darüber hinaus spielt aber auch und insbesondere die Tradition der Emblematik eine große Rolle. Aufgrund dessen ist auf einigen Seiten des Notizbuchs das Arrangement von Textteilen und Bildern nur scheinbar chaotisch und lässt eine emblematische Dreiteilung erkennen, die sich in Motti (an den Kopf der Seite gestellte Überschriften mit großgedruckten Textausschnitten aus Printmedien), Picturae (Abbildungen) und Subscriptiones (Brinkmanns mit Schreibmaschine getippte Texte) gliedert (vgl. Moll 2006, 185 ff.; von Steinaecker 2007, 157 ff.). Das einmontierte Material deckt insgesamt eine große thematische Vielfalt ab und umkreist auf je unterschiedliche Weise assoziativ den Titel Worlds End, wobei es nicht mehr um Konkretheit im Sinne des Projekts eines empirischen Schreibens (vgl. Gross 1993), sondern vielmehr um Abstraktion und Allgemeingültigkeit geht. Neben der Vielzahl an pornographischen Inhalten sind deshalb u. a. auch Konsumszenen, Werbeplakate, abseitige Stadtansichten, Urzeittiere, Abbildungen von Sonnen und Sternensystemen, Bombenexplosionen und zahlreiche Todesmotive wie Leichen, Skelette und Totenschädel zu sehen. Die Darstellungen sind zum einen zeitgenössischen Illustrierten und Magazinen entnommen (vgl. Strauch 1999), zum anderen finden aber auch Alltagsschnipsel wie eine aufbewahrte 50 Lire-Fahrkarte und nicht zuletzt selbst angefertigte Schnappschüsse und Momentaufnahmen der Stadt Eingang in das Notizbuch. Das breite Spektrum der verschiedenen materiellen Bildträger, die verwendet wurden, ver-
deutlicht die Bandbreite visuell geprägter massenmedialer Produkte, denen das zeitgenössische Subjekt in seiner Umwelt tagtäglich schutzlos ausgesetzt ist. Indem die Bilder teilweise zerstückelt sind, unsauber eingearbeitet wurden und häufig von Textfragmenten überlappt werden, werden sie bewusst einem allzu gewöhnlichen Ästhetisierungsprozess und herkömmlichen Rezeptionsgewohnheiten der Bildbetrachtung entzogen. Die Art ihres Arrangements bildet stattdessen die Reizüberflutung des schreibenden/collagierenden Subjekts ab, das in einer medial überfrachteten Welt wesentlich die Möglichkeit einer Kontrolle, Steuerung sowie eigenen Ordnungsstiftung verloren hat (vgl. Schmitt 2012, 210) und in seiner Entfremdung von dieser Welt hinter deren diskursive Beschriebenheit zurücktritt. So heißt es dementsprechend in einem – signifikanterweise zitierten – Textfetzen: »From the moment of birth, this world has been de scribed for us. What we see is just a description« (FW, [98]). Zu den Dingen selbst ist in Brinkmanns Verständnis folglich kein Vordringen möglich, alles was bleibt sind Simulation und Projektion, die es zu erkennen und zu durchschauen gilt. Diese postmodern geprägte Weltsicht setzt sich auch im Umgang mit den Textsequenzen des Notizbuchs fort. So sind in die unverbunden nebeneinander stehenden Textfragmente, die einander entweder überlappen oder typographisch hart voneinander abgegrenzt sind, unzählige Eigen- und Fremdzitate aus unterschiedlichsten Genres und Sparten eingewoben, wie es für die Popliteratur charakteristisch ist. Sie reichen von Werbeslogans und Auszügen aus Zeitschriftenartikeln über Song- und Pulp-Fiction-Texte bis hin zu teils markierten, teils unmarkierten literarischen Referenzen auf verschiedenste experimentell und expressionistisch verfahrende, Grenzen auslotende oder bewusst überschreitende Autoren wie Jean Paul, Hans Henny Jahnn, Gottfried Benn, Arthur Rimbaud oder Arno Schmidt. Zwar handelt es sich bei allen Autoren um Künstler, die für Brinkmann zeit seines eigenen literarischen Schaffens bedeutsam waren und seiner Collagearbeit daher nicht zufällig eingeschrieben sind. Die bewusste Demontage und Dekontextualisierung der Prätexte, die lediglich als Versatzstücke in das Notizbuch einmontiert sind, dabei als einmontiertes Material sichtbar bleiben und durch diese Verfahrensweise große Teile ihrer Lesbarkeit einbüßen, dient aber zugleich auch als Kritik an den konventionellen und tradierten Rezeptionsweisen von Literatur in Brinkmanns Gegenwart.
28 Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (1973)
28.3 Multimediales Erzählen: Cut-upTechnik/Schnitt Die grundlegende Kritik an etablierten Lesarten von und Umgangsweisen mit Literatur bildet auch den Ausgangspunkt für Brinkmanns Versuch, die im kulturellen Diskurs der Bundesrepublik vorherrschende Orientierung an der kanonisierten literarischen Vergangenheit durch eine ostentative Orientierung an der Gegenwart und Zukunft zu überschreiben und so eine neuartige deutschsprachige Literatur zu etablieren. In diesem Sinne schlägt er eine verstärkte produktive Rezeption der jungen subversiven amerikanischen Literaturszene der 1950er und besonders der 1960er Jahre vor, da diese neue Literatur mit einer »opponierende[n] Schreibweise« (Fischer 2000, 31) gegen literarische Traditionen sowohl rebellieren als auch festgeschriebene Gattungsgrenzen einreißen will. Dieses Vorhaben soll nicht nur durch ein Aufbrechen gängiger Rezeptionsmuster, sondern vor allem durch die Erprobung neuer und innovativer Darstellungsmodi erreicht werden, die durch die intermediale Entgrenzung von Text, Bild, Musik und Film ein momenthaftes Einfangen der Wirklichkeit gewährleisten und einen erhöhten Gegenwartsbezug implizieren. Aus diesem Grund macht Brinkmann in seinem Notizbuch Verfahrensweisen der amerikanischen Beat-Literaten sowie der US-Untergrundliteratur produktiv, insbesondere die von William S. Burroughs mitentwickelte Cut-up-Technik. Ziel dabei ist es, »mittels Zerschneiden des Textes und Einfügens anderer Textelemente an wahllosen Stellen zu einer ›traum- und rauschähnl[ichen] Bewusstseinserweiterung‹ zu gelangen« (Moll 2006, 183; Schmitt 2012, 195). Durch die Nutzung dieser Technik werden im Notizbuch Synästhesien evoziert (wie z. B. die Abbildung eines Ohres zwischen Bildern und Textfragmenten auf der ersten Seite); die Text/Bild-Collagen suggerieren so ein Zusammenfließen von visuellen, akustischen und taktilen Wahrnehmungselementen. Von entscheidender Bedeutung für diese »Multimedialität des Schreibens« (Lehmann 1995, 190) ist dabei die Nutzung einer quasi-filmischen Darstellungstechnik, die sich nicht zuletzt aus Brinkmanns eigener Affinität zum Film herleitet (Lehmann 1995, 190; Röhnert 2007, 283 ff.). Indem die Textteile der Collage mit zahlreichen »Schnitt[en]« (FW, [99]f., passim) operieren, die entweder durch Virgeln typographisch markiert sind oder buchstäblich lesbar gemacht werden, indem sie abgedruckt sind, wird der fortschreitende Zerfall einer kohärenten Wirklichkeitswahrnehmung des Subjekts möglichst ungefiltert
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abgebildet. Dementsprechend stehen irritierende und zusammenhangslose Text- und Bildausschnitte nebeneinander und bringen – wie es im Notizbuch heißt – den »Plot der Träume« (FW, [100]) zur Darstellung. Zugleich offenbart die exzessive Schnitt-Technik aber auch eine Korrespondenz von Form und Inhalt der Collage, indem »nicht nur auf die Technik des Filmschnitts, sondern untergründig auch auf den die Haut öffnenden Messerschnitt des Chirurgen oder Anatomen« (Schweikert 1995, 204) referiert wird und somit auf einen Vorgang, der im Notizbuch durch die Sichtbarmachung des eigenen Innenlebens programmatisch zur Darstellung kommt. Mithilfe dieser Techniken entwickelt Brinkmann letztlich ein alternatives Erzählmodell, das jegliche Chronologie und Linearität des Erzählvorgangs suspendiert und dem narrativ-linearen Erzählen ein filmisch-bildhaftes gegenüberstellt (Schmitt 2012, 210). Im Verhältnis zu seinen anderen Collagebüchern (Schnitte; Erkundungen; Rom, Blicke) ist diese Erzählweise im Notizbuch auf die Spitze getrieben. Seine Form des experimentellen Erzählens korrespondiert auch mit Brinkmanns medientheoretischem Verständnis, das eng mit Marshall McLuhan verwoben ist, dessen Überlegungen großen Einfluss auf Brinkmann und seine Generation hatten (von Steinaecker 2007, 95 f.). Damit verbunden ist ein grundsätzliches Plädoyer für das Bild im Verhältnis zum Wort (vgl. hierzu auch das dem Notizbuch vorangestellte Motto aus Arthur Rimbauds Eine Zeit in der Hölle: »Keine Wörter mehr«). Nach McLuhans wie nach Brinkmanns Auffassung scheint ein »Zeitalter des Bildes« angebrochen zu sein. Für dessen Beginn spreche »insbesondere [...], daß das ›environment‹ ihres Alltags zu diesem Zeitpunkt von Massenmedien dominiert wird, deren größten Anteil wiederum Bildmedien ausmachen wie z. B. das Fernsehen oder eben auch die inzwischen schon etwas betagte Fotografie« (von Steinaecker 2007, 96). Für Brinkmann scheint daher die Schnitt- und Collagetechnik die prädestinierte Erzählweise zu sein, um einen »verstümmelte[n] Gehirnfilm« (FW, [110]) zur Darstellung zu bringen, wie es im Notizbuch heißt. Die Text-Bild-Montagen wollen – wie es die zahlreichen Begriffe aus dem cerebralen Wortfeld suggerieren (»Gehirnrand«, »Gehirnrinde«, »Gehirnzauber« etc.) – die »Gehirnvorgänge des Subjekts« (Schmitt 2012, 120) freilegen und den Rezipienten bzw. Betrachter mit auf eine Reise quer durch »eine gespenstische Gehirnlandschaft« (FW, [96]) des schreibenden/collagierenden Subjekts nehmen, wie es bereits das erste Satzfrag-
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
ment andeutet. So entsteht schließlich ein Collagenbuch, das nach herkömmlichem Verständnis jegliche sinnstiftenden Verweiszusammenhänge kategorisch ins Leere laufen lässt und dementsprechend nach »›traditioneller‹ Rezeptionsmanier nicht mehr lesbar erscheint« (Schmitt 2012, 120). Stattdessen ist der Rezipient konfrontiert mit einem »chaotischen Text- und Bilderstrom«, der in seiner Eindringlichkeit immer wieder und stets aufs Neue alptraumhafte Szenarien hervorruft (Schmitt 2012, 211).
28.4 Worlds End – Apokalypse oder Utopie? Nimmt man den Titel des Notizbuchs als Ausgangspunkt, bringen die Notizen zweifellos eine Art Apokalypse zur Darstellung. Darauf deuten die vorangestellten Zitate aus Rimbauds Eine Zeit in der Hölle hin, die den Verdacht nahelegen, dass es sich hierbei »um Brinkmanns persönliche Höllenfahrt« (von Stein aecker 2007, 162) handelt. In zahllosen Text-BildMontagen wird der »katastrophale[] Zustand[] der Welt« offenbart und deren »oberflächliche Glücks- als Todesversprechen« entlarvt (von Steinaecker 2007, 159 f.). Dennoch bleibt das Ende des Notizbuchs letztlich ambivalent und bietet auch Anhaltspunkte dafür, dass der Kreislauf der »dreckigen« Bilder (von Stein aecker 2007, 162) durchbrochen und eine Utopie inszeniert wird. Dafür spricht nicht nur, dass auf der letzten Seite des Notizbuchs keine Bilder mehr einmontiert sind, sondern drei reine Textspalten präsentiert werden. Hinzu kommt außerdem, dass das schreibende Ich am Ende tatsächlich durch eine »Tür die sich öffnet in die Stille« (FW, [118]) tritt. Und selbst die »Neonschriftzeichen« (FW, [118]), mit denen der Text schließt und die als paradigmatisches Symbol für die Omnipräsenz und Übermacht des Mediums Schrift sowie deren ökonomische Instrumentalisierung gelten können, sind schließlich nicht nur »verstaubt«, sondern sogar »blind« (FW, [118]). So kann das Ende des Textes auch als produktives Verstummen im Sinne eines utopischen Ausstiegs aus der Zeichenwelt gelesen werden (vgl. dazu von Steinaecker 2007, 162).
28.5 »Wer spricht?« – Das Notizbuch als Autofiktion Als autofiktionale Arbeit verbindet das Notizbuch autobiographische mit fiktionalen Elementen und ist in einem Raum zwischen faktischer und fiktiver Welt an-
gesiedelt. Es arbeitet sich am Leben des empirischen Autors während seines Aufenthalts in Rom und Olevano im Zeitraum von Dezember 1972 bis März 1973 ab. Die Rückbindung an die Lebenswirklichkeit Rolf Dieter Brinkmanns wird durch die tagebuchähnliche Struktur des Collagenbuchs aufgerufen, die aufgrund exakter Zeit- und Ortsangaben sogar eine referentielle Verankerung in der Lebensrealität des schreibenden/ collagierenden Subjekts nahelegt und somit einen besonderen Authentizitätsgrad verheißt. Auch die TextBild-Montagen verstärken aufgrund der Nutzung des »authentischen Bildmediums der Fotografie« (von Steinaecker 2007, 151) noch die Erwartungshaltung einer gesteigerten Authentizität des Erzählten und erwecken – wie es charakteristisch für den Authentizitätsdiskurs ist – den Eindruck besonderer »Verbürgtheit«, »Echtheit« oder »Unverfälschtheit« (Knaller/ Müller 2006; Weixler 2012). In diesem Sinne lassen sich auch die beiden Abbildungen eines Arbeitsplatzes mit Schreibmaschine, Stift, Papier und Büchern bzw. Zeitschriften deuten (vgl. FW, [100, 112]), die als metanarratives Element die Selbstinszenierung des schreibenden/collagierenden Subjekts als Autor dokumentieren. Gleichzeitig werden im Notizbuch typische autobiographische Erwartungshaltungen von Anbeginn an aber auch durchkreuzt. Indem bereits die erste Seite mit der entscheidenden Frage »Wer spricht?« (FW, [96]) einsetzt, wird eine potentielle Identität von Brinkmann als empirischem Autor und schreibendem Ich unterlaufen (vgl. von Steinaecker 2007, 152) und so der Authentizitätsgrad der Notizen ganz grundsätzlich infrage gestellt. Im weiteren Fortgang des Notizbuchs wird gleich in doppelter Hinsicht auf dieser Unmöglichkeit einer authentischen Erzählung beharrt, indem in einem »flashback« die Frage »wer spricht?« nochmals wiederholt wird (FW, [99]) und es dann in Form eines markierten Zitats weiter heißt: »›ich höre meine Gedanken, sie werden von anderen gesprochen‹« (FW, [99], vgl. [98]). Erstens deutet dieses Zitat auf den Verlust von eigenständiger Sprach- und Handlungsmacht eines postmodernen, diskursiv bestimmten Subjekts hin. Zweitens wird dadurch, dass das schreibende Autorsubjekt in seinem autofiktionalen Collagenbuch »fingiert und sich selbst fingiert« (Wagner-Egelhaaf 2013, 9), aber auch die Differenz zwischen Leben und Text, mithin zwischen faktischer und erdachter Welt sowie zwischen Wirklichkeitsbeschreibung und Fiktion nicht nur ins Oszillieren, sondern letztlich zum Einsturz gebracht. Denn »[a]uf nachgerade provozierende Weise ist alles an seinem [Brinkmanns, A. B.]
28 Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End (1973)
Schreiben Autobiographie – die Selberlebensbeschreibung nicht eines Ichs, sondern des Textes. [...] Schreiben soll Leben sein und Leben Schreiben werden.« (Schweikert 1995, 199 f.) Literatur
Fischer, Robert: Der graue Raum. Rolf Dieter Brinkmanns literarische Hörfunkproduktionen als Ort dialogischer Texterfahrung. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. Vechta 2000, 31–44. Gross, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. Stuttgart/Weimar 1993. Kawashima, Kentaro: Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald. Bielefeld 2011. Knaller, Susanne/Harro Müller (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006. Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 182–197.
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Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt a. M. u. a. 2006. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Schweikert, Uwe: »Sehen heißt heute erleben«. Notizen bei der Lektüre von Rolf Dieter Brinkmann. In: Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 198–207. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann: Studie zur TextBild-Montagetechnik. Tübingen 1999. Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013. Weixler, Antonius (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin/New York 2012.
Agnes Bidmon
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
29 Rom, Blicke (1979) Rom, Blicke gehört mit Erkundungen und Schnitte in die Reihe der letzten drei großen, aus dem Nachlass publizierten Prosaarbeiten. Obwohl zuerst publiziert, entsteht Rom, Blicke nach Erkundungen und parallel zu Schnitte schon während des Rom-Aufenthalts (vgl. RB, 308). Schnitte schließt zeitlich mit der Datumsangabe »March’ 5, 1973« (Sch, 5) auf der Titelseite an den letzten Brief aus Rom, Blicke vom »9. Januar 73« (RB, 445) an, nachdem Brinkmann in seinem vorletzten Brief den Abbruch dieses Schreibprojekts mit den Worten angekündet hatte, weil er »keinen Sinn mehr darin sehe, Dir [Maleen Brinkmann] länger etwas aufzuschreiben und zu berichten. [...] Dieser lange Brief ist ebenso überflüssig wie das meiste andere. Ich gebs hier auf« (445). In der Forschungsliteratur häufig als »Materialhefte« (Bickenbach) oder »Materialbände« (Groß 1993), von Brinkmann selber zutreffender noch als »Materialalben« (RB, 274) (vgl. Bickenbach 2013) bezeichnet, differieren die drei in ihrer Form ganz erheblich voneinander. Rom, Blicke unterscheidet sich insofern von den anderen beiden Bänden, als hier noch eine weitgehend geschlossene, chronologische Ordnung des Text-Bild-Materials vorliegt. Das relativ großformatige Buch (Oktav, Blatt B 5: 17,6 × 25 cm) wurde nicht wie die anderen beiden Bände als reprographischer Nachdruck der collagierten Vorlagen publiziert, sondern erschien 1979 neu gesetzt mit stillschweigenden Eingriffen in die Orthographie und einer Reihe von »Kürzungen« der in der Ausgabe ungenannten Herausgeberin aus »juristischen Gründen oder wegen einer durch das Prinzip des Montierens selbst gegebenen Unvollständigkeit der Originalseiten« (450). Die Gestalt des Textes genügt daher weder den Ansprüchen an eine kritische Edition, noch kann sie die zentrale Bedeutung der Materialität des farbigen Originals sichtbar machen. Zudem wurden nach Auskunft der Herausgeberin nur die beiden ersten der drei Klebehefte (vgl. RB, 1–362) vom Autor selbst hergestellt; Heft 3 wurde in seinem Sinn aus Vorhandenem ergänzt. Wie die Erstausgabe des letzten Lyrikbandes Westwärts 1 & 2, konnte Rom, Blicke in der von Jürgen Manthey herausgegebenen Reihe das neue buch (hier Nr. 94) erscheinen. Am Lektorat der Erstausgabe war neben Manthey ausdrücklich auch Delf Schmidt beteiligt, während die eigentliche Herausgeberin und Nachlassverwalterin Maleen Brinkmann anonym blieb. Rom, Blicke besteht aus Briefen, tagebuchähnlichen Aufzeichnungen und mit fortlaufendem Text be-
schriebenen Postkartenserien. Die ganzseitig gedruckten Texte werden durch unterschiedliches Bildmaterial wie Postkarten, Snapshots, Passfotos, Kunstund Plakatrepros, Ausschnitte aus Zeitungen, Comics, Pornoheften, literarischen Texten (Bruno, Moritz, Jahnn, Schmidt) und Zeugen materieller Lebensspuren wie Fahrscheine, Eintrittskarten, Restaurantquittungen sowie kartographische Zeichnungen und mit Zeichnungen versehene Landkarten und Stadtpläne ergänzt. Die Textgrundlage für den Druck bilden nach Auskunft der Herausgeberin Typoskripte des Autors, im Falle der Briefe aufgeklebte »maschinenschriftliche Durchschläge« der Originale (449). Daraus geht hervor, dass Brinkmann vermutlich alle adressierten und expedierten Originalbriefe an Maleen Brinkmann, die Freunde Helmut Pieper und Henning John von Freyend sowie die Korrespondenz zwischen dem Autor und seinem Schriftstellerkollegen Hermann Peter Piwitt bei der Entstehung bereits zur nachträglichen Publikation vorgesehen hatte. Es handelt sich bei Rom, Blicke daher keineswegs um nachträglich publizierte private oder gar intime an verschiedene Partner adressierte und um die Antwort gekürzte Briefe (vgl. 340) und Tagebuchaufzeichnungen, sondern von Beginn an um ein literarisches Schreibprojekt, das sich der autobiographischen Formen des Briefs und des Tagebuchs bedient und im Hinblick auf eine spätere Leserschaft konzipiert wurde. Es muss also davon ausgegangen werden, dass auch dem unter dem Titel Rom, Blicke posthum publizierten Materialalbum von Seiten des Autors Werkcharakter zugesprochen wurde. Hierin ist Rom, Blicke Goethes Italienischer Reise durchaus vergleichbar. Rom, Blicke besteht aus einem Konvolut von insgesamt acht langen, in zwei Fällen über mehrere Tage entstandenen Briefen an Maleen Brinkmann, jeweils drei an Henning John von Freyend und Helmut Pieper, mehreren Postkartenserien von insgesamt 60 Einzelkarten an alle drei Adressaten (47 an Maleen Brinkmann, 11 an von Freyend, 2 an Pieper), dem PiwittBriefwechsel und fünf datierten, nicht adressierten tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Gegenbriefe fehlen mit Ausnahme der Piwitt-Kontroverse ganz. Die Aufzeichnungen und Briefe entstehen in einem Zeitraum von nicht einmal drei Monaten zwischen dem 14. Oktober 1972 und dem 9. Januar 1973. Nach der den Band einleitenden Schilderung der Reise von Köln nach Rom folgen im Oktober zunächst einzelne Briefe an alle drei Briefpartner. Der November wird mit dem ersten Tagebuchbrief u. a. von der Reise nach Graz an Maleen Brinkmann eröffnet und von den ersten großen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_29
29 Rom, Blicke (1979)
Postkartenserien, unterbrochen von kürzeren tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, dominiert. Dem folgen im Dezember eine weitere Postkartenserie und Briefe an alle drei Briefpartner. Das Material endet mit dem langen Brieftagebuch aus Olevano, gefolgt von drei kleineren Briefen an Maleen Brinkmann. Diese chronologische Abfolge der Korrespondenz mit den drei Adressaten in Briefen und Postkartenserien wird durch den über eine lange Zeitspanne hinweg entworfenen Antwortbrief an Piwitt ungefähr in der Mitte zwischen dem 21.11.1972, dem 13.12. und einem abschließenden, zwischen dem 19. und 21.12. entstandenen Teil unterbrochen, so dass die Anordnung des Materials sich – bis auf eine Ausnahme – strikt an die Chronologie des Schreibprozesses hält. Wiederholungen und Variationen der zentralen Themen ergeben sich über die drei Adressaten der Briefe, denen Brinkmann jeweils adressatenbezogen mit unterschiedlichen Akzentuierungen seine Stadterkundungen, Lektüreerfahrungen und Reflexionen übermittelt. Im Zentrum des Rom-Albums stehen die zwei langen Briefe vom Anfang und Ende an Maleen Brinkmann und der zwischen ihnen stehende Briefwechsel mit Piwitt. Dazu kommt der Wechsel des materiellen Textträgers vom traditionellen Brief zur Postkarte in der Mitte des Bandes, mit der eine neue, literarische Form epistolarer Kommunikation, die Postkartenserie, das Postkartentagebuch oder der Postkartenroman entsteht. Das den Briefen und Aufzeichnungen einmontierte Bildmaterial illustriert überwiegend den beschriebenen Raum, die Stadt Rom, die Villa Massimo, Graz, Olevano und die Landschaft um Olevano (vgl. von Steinaecker 2007, 136 f.). Die Snapshots und Postkarten stehen in einem direkten Spannungsverhältnis zueinander: Während die Postkarten mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt den Mythos der urbs aeterna als Ursprungsort des christlichen Abendlandes visuell repräsentieren sowie das kollektive Selbstverständnis einer großen machtvollen und auch ›machistischen‹ italienischen Nation mit Motorrädern, Militärflugzeugen, Uniformierten, Pin-ups und Pornos bebildern, zeigen die Snapshots alltägliche, verlassene oder bewusst aus dem offiziellen Stadtbild getilgte Orte (Heterotopien) der Gewalt und des Verfalls, die Brinkmann auf seinen Spaziergängen durch die Stadt aufspürt und archiviert (vgl. von Steinaecker 2007, 202 f.; Schumacher 2011, 63). Das Bildmaterial hat im Gegensatz zu den beiden anderen Materialbänden einen den Text ergänzenden, additiven Charakter, abgesehen von den Fotostrecken der Zugfahrten und des Parks um die Villa Massimo, die Erzählverfahren des Films, des Co-
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mics oder des Fotoromans nachahmen (vgl. Schmitt 2012; Göllner 2014) und daher für sich stehen und getrennt rezipiert werden können. Damit folgt Rom, Blicke der Tradition des Reisebriefs, der immer schon durch Beigaben von eigenem oder fremdem Bildmaterial (vgl. Menke 1998) das Dargestellte zu illustrieren versucht wie z. B. im Falle von Goethes Tagebuch der italienischen Reise mit den vom Autor selbst angefertigten Zeichnungen und Tabellen. Gleichzeitig tendiert Rom, Blicke mit dieser Anlage zum Album, das als Kontrafaktur bzw. künstliche Überformung der Gebrauchsform des privaten Fotoalbums verstanden werden kann. Rom, Blicke setzt mit einem datierten Eintrag vom »14. Oktober, Köln Hbf 0 Uhr 12« (RB, 6) vor der Abfahrt nach Rom ein, gefolgt von dem ersten Brief an Maleen Brinkmann aus der Villa Massimo vier Tage nach der Abreise. In diesem stellt Brinkmann dann bereits die Beziehung zu seinem Intertext mit einer weiteren Anspielung auf Dantes La divina commedia her: »›Auch ich in Arkadien!‹ hat Göthe geschrieben, als er nach Italien fuhr. Inzwischen ist dieses Arkadien ganz schön runtergekommen und zu einer Art Vorhölle geworden« (16). Der Verweis auf Goethe, mit dem nicht nur ein Referenztext aufgerufen, sondern auch die bewusste Übernahme klassischer Gattungsnormen des Brieftagebuchs dokumentiert wird, belegt die Literarizität, den Kunstwerkcharakter, des Rom-Materials. So adaptiert Brinkmann die Gattungen des Tagebuchs und des Briefs für sein römisches Schreibprojekt und reichert sie mit Material in Burroughs Cut-up-Technik (vgl. Burroughs 1969, 15) wie auf der Eisenbahnfahrt nach Graz an, um sie in einen großen kulturkritischen Essay über den Zustand der gegenwärtigen Zivilisation in der Tradition des Kulturpessimismus von Nietzsche, Benn und insbesondere Arno Schmidt umzuschreiben, wobei dessen Zettels Traum, der 1970 erstmals erschienen war, zum Vorbild wird.
29.1 Tagebuch – Brief – Roman Rom, Blicke gehört zusammen mit den Erkundungen und Schnitte zu Brinkmanns späten Formexperimenten mit der Gattung oder dem Schreibmodus »Roman« (RB, 164 passim). Das Buch, das selbst keine Gattungsbezeichnung im Titel trägt, bedient sich zunächst der Form des literarischen Briefs und der tagebuchähnlichen Aufzeichnung. Briefe und Tage buchpassagen zeichnen sich durch die für beide Gattungen konstitutive zeitliche Nähe zwischen Erleben
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
und Schreiben aus. Beide Gattungen sind prinzipiell dialogisch angelegt, der Brief unmittelbar, das Tagebuch indirekt als Dialog mit sich selbst oder einem abwesenden oder imaginären Partner und beide simulieren eine sekundäre Mündlichkeit. Dass gerade die langen Briefe an Maleen Brinkmann wie z. B. der bis zum 15.11.72 entstandene vom 4.11.72 (RB, 80– 219) im Schreibprozess zum Brieftagebuch mutieren, belegt nicht nur ihre interne Gliederung durch Zeitangaben wie »viertel vor 5 nachmittags« (90), »später« (109), »Heute ist Mittwoch, der 15. November« (201), sondern auch Brinkmanns Feststellung: »Jetzt wundert es mich, daß bereits 90 Seiten herausgekommen sind« (201). So fragt er sich selbst: »Ist das noch ein Brief? Ich schreibe immerzu an Dich« (135). Ergänzt werden die genauen Zeitangaben des Schreibprozesses durch Formeln der Unmittelbarkeit und Beobachtungen und Reflexionen der Schreibszene: »Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück: es ist nichts, es ist ruhig, hier bin ich, in diesem Moment, anwesend.« (278) – »Ich tippe und tippe den Brief an Dich.« (296) In seiner ursprünglichen Funktion dient der Brief der Vergegenwärtigung des Anderen und der Selbstrepräsentanz in absento, der Erzeugung von Nähe bei Abwesenheit, der Überbrückung von Distanz und Fremdheit. Dies entspricht durchaus noch den Briefen in Rom, Blicke: So bezieht sich Brinkmann im ersten langen Brief emphatisch auf seine Ehefrau, imaginiert zunächst ihre Situation in Köln, um dann seine ersten Rom-Explorationen, seine Graz-Reise und seinen Alltag in der Villa Massimo en detail zu vergegenwärtigen: »Liebe Maleen langweilst Du Dich bei diesem Brief, den ich für Dich schreibe? [...] Oder gehst du mit mir beim Lesen durch die einzelnen Momente? Ich zeige Dir das, was ich sehe und wie ich, irgendeiner, eben ich, das sehe« (134). Brinkmann reflektiert die sprachliche Verfasstheit und kulturelle Codierung von Bildproduktionen und weist auf das Trennende bei der Bildübermittlung hin: »Und jetzt, in Rom, das ebenso imaginär ist wie jede Stadt, denn man sieht einzeln. [...] Jeder macht Cut-Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind« (RB, 134 f.; vgl. Ch. Zeller 2010, 245 f.). Deutliche Gegensätze zwischen Goethe und Brinkmanns Brieftagebuch lassen sich darüber hinaus in Bezug auf die Funktion diaristischen Schreibens als ›Selbsttechnologie‹ und ›Sorge um sich selbst‹ (vgl. Foucault 1997) ausmachen: Während Rom für Goethe zum doppelten Bildungserlebnis als Subjekt und Künstler wird, bleibt Brinkmann die schreibende Therapie der Persönlichkeitskrise und die Rückkehr zu Goethes idealistischem
Subjektbegriff verwehrt, den er gerade mit seinem Schreiben nicht nur als überkommenes Ideal infrage stellt, sondern zu einem kontingenten, multiperspektivischen neuronalen Wahrnehmungsapparat ohne Zentrum umdeutet. Goethes Motto Et in Arcadia ego einseitig auf das Vanitas-Motiv zuspitzend, liest Brinkmann ausschließlich die Allgegenwart des Todes im Stadtbild Roms (vgl. Adam 1989, 228 f.; Di Bella 2015, 366). Dennoch lassen sich in Brinkmanns Briefta gebuch deutliche gattungs- und kommunikationsge schichtliche Spuren autobiographischer Selbsterforschungen von Augustinus über Rousseau bis de Quincey oder gar der Beichte (vgl. Bauer 2002, 234) finden, die von eingeschobenen Kindheitsnarrativen früher traumatisierender Kriegserfahrungen und für die Autobiographie typischen lebensgeschichtlichen Reflexionen bis zu Selbstbekenntnissen und -geständnissen reichen. Als Selbstzeugnis stellt Rom, Blicke ein kaum kaschiertes Dokument schonungsloser Offenheit und Rücksichtlosigkeit gegenüber sich und anderen dar, das relativ ungefiltert und meist ohne Tabus die (sexuellen) Obsessionen, Phobien (etwa vor einem Unfalltod) und Abgründe (Aggressionen, Ausfälle gegenüber Freunden) mit äußerster Radikalität und wesentlich ohne Selbstschutz offenlegt – ähnlich den Confessions/Bekenntnissen Rousseaus (1765–1770) oder den Confessiones von Augustinus (397–401). So gerät das Rom-Buch als Medium der Selbsttechnologie gelesen über weite Strecken zur Chronik einer Persönlichkeitskrise bzw. Krankheitsgeschichte in Form einer lebensgeschichtlichen Abrechnung mit ihrem Höhepunkt in der vernichtenden Bilanz am letzten Tag des Jahres 1972 über das Selbstverständnis des Autors, das zwar seinen Ausgangspunkt mit Goethe gemeinsam hat, bei dem allerdings das Wiedergeburtserlebnis ausbleibt: »Was will ich hier? – Bin auch abgehauen vor einer Reihe Fragen und Problemen und das erste Problem ist die Einstellung zu meiner Schriftstellerei [...]. Bin ich ein Schriftsteller? Bin ich kein Schriftsteller? [...] Noch einmal alles wieder vernichten? Alle Materialhefte, weg damit, die ganze private Ansammlung? Die collagierten Versuche? Alles in den Ofen stecken?« (385) So changiert das Rom-Material zwischen schonungslos offenen Selbst(an)klagen nach diaristischen Regeln des Selbstbekenntnisses und deren künstlerischer Überformung zum »Roman« (RB, 164) eines Brieftagebuchs (vgl. Bickenbach 2013), mit dem er das eigene Leben fiktionalisiert bzw. als Produkt seines Schreibens ausweist (vgl. Ch. Zeller 2010, 246): »Gedanken an meinen Roman, der mehr und mehr in Einzelheiten sich ergibt [...] eine Reihe zwingender Einzel-
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heiten: daß er spukhaft sein muß, ganz wie die Generation, aus der ich und Du kommen. [...] Und noch ein Roman: diese Rückreise aus Graz, jetzt: Dunkelheit, dunkel, dunkel, und schwarz« (RB, 164). Brinkmann verabschiedet in Rom, Blicke den herkömmlich erzählenden Roman mit seiner konsistenten Erzählerfigur, psychologisch gestaltetem Figurenpersonal und einer linearen Handlung und setzt an dessen Stelle das Tagebuch (vgl. Bickenbach 2013; Erk, 193, 205, 209) im Sinne einer »fiktiven Autobiographie« (Erk, 82), dem die Unmöglichkeit einer Trennung zwischen autobiographischem und autofiktionalem Schreiben inhärent ist. Vielmehr begreift sich Brinkmann selbst als erzählende und erzählte Figur und damit autobiographisches Erzählen als literarische Autofiktion (vgl. Bauer 2002, 234 f.; Göllner 2014, 163–166; Bickenbach 2013; Ch. Zeller 2010, 246). Der letzte große Brief zum Jahreswechsel aus Olevano macht dies besonders deutlich, wenn er mehrfach zwischen Passagen schonungslos autobiographischer Bekenntnisse, z. B. über die Überforderung der jungen Familie durch die Behinderung des Sohnes, Konstruktionen eines selbstbewussten Subjekts auf der Basis autobiographischer Narrationen, kontingenten Gegenwartsbeobachtungen und -reflexionen und poetischen Transgressionen in den Wolkensprachbildern hin und her springt. So kann Rom, Blicke auch als Versuch zu einer Romanpoetik gelesen werden, mit der Brinkmann sein Schreiben selbst beobachtet, kommentiert und reflektiert.
29.2 Fortsetzungsroman: Postkarten- und Snapshotserien In Rom, Blicke experimentiert Brinkmann mit einer weiteren Form, der Postkartenserie als ›Fortsetzungsroman‹ und greift damit auf einen medialen Textträger für seine epistolaren Aufzeichnungen und Reflexionen zu, mit dem sich später Jacques Derridas in Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits (1982) auseinandersetzen sollte. Gemeinsam ist ihnen die bislang unzureichend erforschte Markierung der Postkarte als kleine Form des adressierten, autobiographisch-essayistischen Schreibens. Die erste Postkartenserie für Maleen Brinkmann entwirft eine kulturelle Topographie der Stadt Rom als Gang durch die Geschichte und Gegenwart abendländischer Kultur in Text und Bild. Neben den mit Kommentaren versehenen Stadtplänen müssen die Postkarten als Dokumente der visuellen Selbstbeschreibung von Kultur gelesen werden, die Brinkmann auf ihrer Rückseite schrei-
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bend einer radikalen, kontrafaktischen Kritik unterzieht: »(Zivilisation: hier auf der Postkarte hast Du sie – da fliegen Jagdbomber, Militärmaschinen, der Sonne entgegen!)/« (RB, 255) Die Geschichtsphilosophie, die Brinkmann aus seinen Bewegungen im Stadtbild entwirft, wiederholt sich im Rom-Buch in endlosen Variationen. »Sex, Geld und Tod« werden als zentrale Wahrnehmungscluster seiner fundamentalen Kulturkritik zum Bewegungsgesetz der europäischen Zivilisationsgeschichte, wenn er die Skulpturen am Vatikan, dem Petersdom, der Engelsburg und die ›SkelettKunst‹ in der Mondo Cane-Gruft wie den Straßenstrich neben dem Friedhof aus ihrem jeweiligen kulturellen und historischen Kontext isoliert, ohne Differenzierung gleichberechtigt nebeneinanderstellt, um sie als Belege seines Geschichtsverständnisses auszustellen. »Nachdenkliche Gänge« (RB, 255) nennt Brinkmann diese visuellen Streifzüge durch das offizielle Rom, die in einem radikal anderen Sinne als bei Goethe zu einer Schule des Sehens werden: Sie dienen der Abwehr des Bilderterrors, dem sich der Betrachter mit Burroughs und Hubbard ausgesetzt sieht. Das genaue Hinsehen und Archivieren der Bilder des Schreckens aus Vergangenheit und Gegenwart in den TextBild-Montagen soll ihre bewusstseinssteuernde und kontrollierende Wirkung bannen und schließlich auslöschen (vgl. Burroughs 1967, 18). Im Gegensatz zu Goethe geht es Brinkmann nicht mehr darum, aus der Anschauung der antiken Kunstwerke eine eigene Ästhetik zu gewinnen, sondern vielmehr aus dem bewussten und erzwungenen Hinsehen eine Befreiung aus dem System kultureller Codierungen durch Bilder, den »Parasiten« (RB, 240, 252) des Bewusstseins, zu erreichen wie Burroughs es in The Job forderte. Die zweite Postkartenserie, bestehend aus 14 Postkarten, spannt einen Erzählrahmen in Form eines Möbiusbandes rund um ein nächtliches Telefonat mit der Adressatin, das Auslöser für den Schreibprozess wird, in dem Brinkmann in einer Analepse ein genaues Protokoll über seinen Samstagnachmittag des 4.12.72 führt. Es endet zu dem Zeitpunkt, an dem er zum Telefonhörer greift, um das das Schreiben auslösende mehrstündige Telefonat zu führen. Damit konstruiert er nicht nur eine in sich geschlossene, auf das zentrale Telefonat ausgerichtete und von diesem geprägte Schreibszene, sondern ruft zugleich auch die Stimmung der Entstehungssituation (für die Adressatin wie den späteren Leser) auf, um eine epistolare Unmittelbarkeit und Authentizität des Schreibens und Erlebens zu simulieren, die sich erst am Ende der Lektüre als künstlich hergestellte erweist. Die einzelnen Postkar-
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ten erzählen chronologisch den Ablauf des Nachmittags, den der Schreiber zunächst mit der Arbeit an dem »Rom-Album« mit »Klebstoff, Bilderumschläge[.], Postkarten, Notizen« (308) alleine mit einer Katze in seinem Atelier verbringt, dann später in der Nacht in eine Pizzeria zum Essen aufbricht, um »gegen 12 Uhr« (313) in sein Apartment zurückzukehren und seine Frau in Köln anzurufen. Die Schilderung dieses Dezembernachmittags und -abends wird zum Auslöser für Reflexionen über die conditio humana am Beispiel des Verhältnisses von Mensch und Tier – hier zeigen sich exemplarisch die Ursprünge des gegenwärtigen Ecocriticism und der Human-Animal Studies in den 1970er Jahren – ergänzt durch Beobachtungen der Szenerie in der Gaststätte und Erinnerungen an eine Knöchelverletzung während eines Strandurlaubs, die durch das Wort »Kiebitz« ausgelöst werden. Das untergründige Thema der Erzählung, das durch die Lektüre eines Aufsatzes des Verhaltensforschers Wolfgang Wieser über »Die Verhaltensforschung und das biologische Erbe des Menschen« (310) motiviert wird, bilden grundlegende Überlegungen zur gemeinsamen Gattungsgeschichte von Mensch und Tier, die leitmotivisch ebenso in der Beobachtung der Katzen in der Villa Massimo wie in der Erinnerung an den sein Nest gegen den Menschen verteidigenden Kiebitz wiederholt und illustriert werden. Darüber hinaus reflektiert die Erzählung mündliche, schriftliche und nonverbale Formen der Kommunikation. So verweigert der Schreiber jeglichen mündlichen Austausch mit seiner Umwelt bis auf den nonverbalen Kontakt mit dem Tier, um seine Umwelt unbeteiligt beobachten und sich selbst exklusiv an die abwesende Partnerin in der Schrift adressieren zu können. Der Verzicht auf mündliche Kommunikation mit seiner Umwelt bildet die Voraussetzung seines Schreibprojektes. Die zweite Postkartenserie konstruiert in der geschlossenen Kreisform einen Moment des Bei-sich-Seins, der erfüllten Gegenwart, in der exklusiven epistolaren und telefonischen Kommunikation mit der Partnerin. Damit stellt die zweite Postkartenserie einen unmittelbaren Gegenpart zu der ersten dar: Während die erste sich am Tage an den Stätten des christlichen Abendlandes an einer negativen Zivilisationsgeschichte des Menschen abarbeitet, konzentriert sich die zweite auf die kleinen privaten, weitgehend menschenleeren Räume und das isoliert schreibende Subjekt nachts in der Großstadt. Dem ›Fortsetzungsroman‹ in Postkarten entsprechen auf der Ebene des Bildmaterials die während der Zugfahrten von Köln nach Rom und von Rom nach Graz aufgenommenen Snapshotserien (vgl. Schmitt
2012, 196). Sie können als Bildnarrationen, Fotoromane oder bandes dessinées ohne Handlungsträger gelesen werden, mit denen ein unsichtbarer Beobachter einen bewegten, sich ständig wandelnden kulturellen Raum entstehen lässt (vgl. de Certeau 1988, 215–240; Göllner 2014, 226). Die inszenierte Flüchtigkeit, Zufälligkeit und Bewegungsunschärfe konstituiert dabei einen vagen, offenen Raum, in dem sich die Spuren der abwesenden Akteure eingeschrieben haben. Mit seinen eigenen Fotoarbeiten zitiert Brinkmann nicht nur die von Andy Warhol in die Kunstfotografie eingeführte Polaroid-Technik, sondern auch die Arbeit mit Fotobildern in der zeitgenössischen Kunst etwa bei Gerhard Richter. So widmet Brinkmann nicht von Ungefähr dem Maler Günter Knipp, den er noch in Rom kennenlernt, einen Essay (FW, 270–274; s. Kap. 15) und fügt dessen Bild Tür seiner das RomBuch eröffnenden Bildcollage an zentraler Stelle ein (vgl. von Steinaecker 2007, 142).
29.3 Roman-Essay: Lesen und Schreiben Als Roman-Essay thematisiert Rom, Blicke den Zusammenhang von Leben, Lesen und Schreiben. Denn Rom, Blicke erscheint nicht nur als komplexe, intertextuell und intermedial angelegte Textur und als ein extensiver Lektüreroman, sondern darüber hinaus auch als ein großangelegter Essay, der an eine lange Tradition des essayistischen Romans von Schlegels Lucinde über Musils Mann ohne Eigenschaften bis zu Arno Schmidts Romanen reicht. Schumacher weist in diesem Zusammenhang auf Brinkmanns Forderung nach Überführung der Romanform in einen »zeit-adäquaten Essay« über »Verfahren des Zerlegens und Neuarrangierens« (Schumacher 2011, 371) in seinem poetologischen Essay Der Film in Worten hin. Als Essay verbindet Rom, Blicke Brinkmanns Entwurf einer kulturpessimistischen Geschichtsphilosophie und Gegenwartsanalyse mit seiner radikalen Sprach- und Erkenntniskritik sowie ausgedehnten Schilderungen seiner Lektüreerfahrungen und seiner literaturtheoretischen Verortung innerhalb des zeitgenössischen Literaturbetriebs. Die subjektive Wahrnehmung und Erfahrung des Schreibers verleiht dabei der Gegenwartsanalyse Evidenz und Gewicht. Wenn Brinkmann Gegenwart auf seinen literarischen Erkundungsgängen durch die Stadt Rom in scheinbar unendlichen Variationen als Zusammenhang aus Sex, Geld und Tod konstruiert, dann selektiert, kombiniert und arrangiert er vorgefundenes Material zu einer kulturellen
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Topographie Mitteleuropas. Mit Arno Schmidt wird für Brinkmann der Untergang des aristotelischen wie christlichen Abendlandes (RB, 131, 168) und damit der Idee Europas an einem ihrer Ursprungsorte Rom evident; Gegenwart erscheint als ein das Individuum bedrohender Zusammenhang aus alle Lebensbereiche durchdringenden Kapitalinteressen, der Verfolgung sexuellen Begehrens durch die Vermarktung der Sexualität und allgegenwärtigen Bedrohungen des Lebens. So stellt er in seiner Gegenwartsanalyse in der ersten Postkartenserie für Maleen Brinkmann die Zeugnisse antiker und christlicher Kulturgeschichte provokativ auf eine Ebene mit den überdimensionalen Plakaten der Werbeindustrie im Stadtbild, Pornoma gazinen aus den Kiosken und dem nächtlichen Geschehen auf dem Straßenstrich neben dem Friedhof in unmittelbarer Nähe der Villa Massimo (250), um sie zusammen als Dokumente einer abendländischen »Lumenpenschau« zu lesen: »Überall stehen sie rum, mit Flügeln & verbogen, schleppen Kreuze & Geißeln & Palmwedeln, hoch über mir, die steinernen, wegtriefenden Stein-Menschen in der Luft, & dann Plakate mit großen Farbfotos, dasselbe, dieselbe Geste, dieselbe Einstellung [...] rohe Fleischklumpen-Reklame [...] eben Unterwäsche, Hüfthalter mit Frau & rausgestrecktem Hintern« (245). Dem Terror der Bilder entspricht eine beschädigte Sprache, die das Bewusstsein des Einzelnen prägt und die seine Reaktionen und sein Verhalten konditioniert, so Brinkmanns Gegenwartsanalyse im Rekurs auf Verschwörungstheorien à la Burroughs (Burroughs 1969) und Colin Wilson, von dem er den Begriff der Mind Parasites (1967) übernimmt. Brinkmann versucht mit Burroughs das »Kontrollsystem« der Sprache und Bilder und dessen zerstörerischen Einfluss auf das Nervensystem (vgl. Burroughs 1969, 12) im Sammeln und genauen Archivieren alltäglicher Bilder- und Zeichenfluten zu begegnen. Unter derselben Prämisse wie Brinkmanns Kritik der Bilder steht seine Sprachkritik, die mit Mauthner und Korzybski (vgl. Strauch 1998) einen Ausweg aus sprachlichen Konditionierungen, den »semantischen Reaktionen« (RB, 393) des Nervensystems sucht: Blätterlose Astwerke als »bizarre Kohle-Zeichnungen« (RB, 312) und bewegte Wolkenformationen beschwören die Briefe verschiedentlich als von kulturellen Codierungen unbelastete Räume, die dem Terror der kulturellen Bilder therapeutisch entgegengestellt werden. Als Augentherapie richtet der Schreiber den Blick wiederholt auch schon in früheren Briefen (vgl. 308, 310 f.) in diese von festgelegten Bedeutungen freien Zeichenbewegungen der belebten (Bäume) und unbe-
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lebten Natur (Wolken) in dem vermeintlich letzten geschichtslosen und kulturfreien Raum, der ein »prähistorisches oder ein post-historisches Empfinden« (392) ermöglichen soll. In Olevano unterbrechen dichte Beschreibungen von Wolkenformationen (vgl. 390–395, 422) den Erzähl- und Reflexionsfluss, die der Beobachter zu einem dramatischen Naturschauspiel verdichtet: »Jäher rötlich flammender Himmelstrich im Südwesten, spätmittagsbraun und rot, breit hingestrichen, und darüber breites klumpiges Wolkenmischmasch, ein riesiger duffer graublauer Abfluß, die Ränder blendend hell entzündetes, weißlich grelles Gewusel, flüssige Lichtmassen [...]« (391). Die Übersetzung des Wettergeschehens in expressionistisch inspirierte Synästhesien von »röchelnde[m]« (392) oder »zischelnde[m]« Licht dokumentieren nicht nur den Kunstanspruch des Textes, sondern referieren avantgardistische Sprachexperimente, bei denen die Bewegungen der Wolkenformationen zu Allegorien einer Kunst als reine Formbewegung in der Sprache jenseits traditioneller Zeichenbedeutungen werden (RB, 391–394, 422). In der parallel zu Rom, Blicke entstandenen Collage Rom Worlds End (FW, 95–118) experimentiert Brinkmann darüber hinaus mit einer onomatopoetischen Sprache: »Zarteres herum, dünn,und saust zummt schüzzelt Bläume und Flanzen glutgerändert kraus kältig mit farbig eisichen Hakken an Scharniere und Zement entlang hummt über Sand« (FW, 118). Solche Passagen dokumentieren Brinkmanns Versuche, die diagnostizierte Sprachund Bewusstseinskrise der Gegenwart mit Sprachexperimenten in der Avantgarde-Tradition zu lösen (vgl. Ch. Zeller 2010, 235). Brinkmann rekurriert auf verschiedene sprachkritische und sprachexperimentelle Traditionen, die von außersprachlichen, bewegten farbigen Bildwahrnehmungen mystisch-postreligiöser Rauscherfahrungen inspiriert, die Überwindung der Sprache durch das Bild (vgl. Burroughs 1969) mit den Synästhesien des Expressionismus und sprachkritischen Experimenten in der europäischen Moderne vom Futurismus bis zur Wortkunst z. B. eines August Stramm betreiben, den Brinkmann als einen der wenigen kongenialen deutschsprachigen Lyriker schätzte (vgl. Fauser 2011, 119).
29.4 Lesen »Wieviel Querverbindungen, Göthe: ›Verbinden, immer verbinden!‹ – gibt es? Wieviele, die geknüpft sein wollen, müssen, möchten: die Überraschung springt
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
heraus!) (Auch, bei Verbindungen, die Erkenntnis, Einsicht, 1 Stückchen!)« (284) Aus Goethes Italienischer Reise übernimmt Brinkmann ein Verfahren, unterschiedlichste Texte kreativ miteinander zu kombinieren und neue, überraschende Beziehungen zwischen ihnen im Textraum herzustellen, um eine mental map aus Textbeziehungen zu entwerfen. Brinkmann verknüpft während seines Rom-Aufenthalts Stadterkundungen, Lesen und Schreiben eng miteinander. Erkundungsgänge werden mit Lektüreerfahrungen verflochten, die die Wahrnehmung des beobachtenden Subjekts leiten und prägen. So liest Brinkmann die Stadt mit Arno Schmidts negativer Geschichtsphilosophie im Kontext eines europäische Niedergangs als »rauchende Müllkippe [...] eines aristotelischen Abendlandes« (168), spielt mit Jahnn Natur gegen Kultur, Tier gegen Mensch, eine menschenleere Natur gegen eine verkommene Kultur, mit Tieck Land (Olevano) gegen Stadt (Rom, Köln) aus. Rom, Blicke besteht deshalb auch zu einem großen Teil aus Lektürereferaten und ist damit auch ein groß angelegter Essay über Literatur. Brinkmann verfolgt in Rom ein ausgedehntes Lektüreprogramm, das er in seinen Briefen kommentiert und reflektiert. Seine Lektüreliste lässt sich in mindestens zwei Themenschwerpunkte einteilen: Zum einen befasst er sich intensiv mit wissenschaftlicher Literatur aus dem Bereich der Verhaltensforschung, Biologie, Anthropologie, Psychologie und Neurologie (Bilz, von Uexküll, Ardrey, von Hentig, Gelpke, Freud, Jung, Reich, Grey Walter, Laing, Wieser, Burroughs), den Sprachtheoretikern Mauthner und Korzybski sowie den Philosophen Schaff, Nietzsche und Giordano Bruno. Die zentralen literarischen Referenztexte stammen von Benn, Jahnn (Fluss ohne Ufer) und Schmidt (Leviathan; Massenbach; Zettels Traum). Dazu kommt in den 1960er und 1970er Jahren populäre englischsprachige Fantasy-, ScienceFiction-und Horrorliteratur (Lovecraft, Wilson, Russel, de Quincey). Gleichzeitig nutzt Brinkmann den Rom-Aufenthalt zur nachholenden Aneignung deutscher Literaturgeschichte und entdeckt vor allem Moritz, Tieck und Jean Paul für sich: »ich lese bis tief in die Nacht, es macht mir Spaß, Jean Paul [...] H. H. Jahnn, [...] Bilz, [...] Giordano Bruno, Dialoge, sehr gut, [...] dazu zufällige Schwarten um 1800, 1790, 1810, [...] Johannes von Müller, Wieland, Herder, Nachholbedarf, bei mir. (Die deutsche Literatur ist schön!)« (346) Dass er gerade mit diesen Autoren sein Literaturstudium beginnt, ist Folge seiner Lektüre von Schmidts Radioessays, in denen er diese Autoren porträtierte. Brinkmann liest also, wie in vielen anderen
Fällen auch (z. B. Reich und Hubbard über Burroughs, Lessing über Jahnn), die deutsche Literatur der Romantik vermittelt über die Darstellung bei Arno Schmidt und übernimmt zugleich dessen Urteile. Wie Schmidt setzt er auf die Randfiguren der Literaturgeschichte, auf Dissidenten, Verfolgte und Gescheiterte, die »großen Einzelnen«, außerhalb von einer »seligmachenden Ideologie« (RB, 202), auf alle, die wie er selbst quer zur kanonischen Literatur und den angesagten Literaten ihrer Zeit stehen; mit diesen identifiziert er sich selbst als Autor am adäquatesten. In den Literaturkollagen aus Schmidts Massenbach, Moritz’ Andreas Hartknopf (RB, 168–170), Lessings frühen Gedichten (RB, 189) und Jahnns Fluß ohne Ufer (RB, 188–191), denen Bildmaterial aus dem Themenkomplex von Sex, Geld und Tod einmontiert wird, stellt Brinkmann Cut-ups in Burroughs Sinne her, die mit den neuen unkonventionellen Verbindungen zwischen den literarischen Texten neue Bedeutungsebenen erschließen sollen. Allen Texten gemeinsam ist, dass sie Explorationen unbekannter äußerer und innerer Welten erzählen oder thematisieren und traditionelle Mensch-Umwelt-Bezüge und damit das Selbstverständnis des anthropozentrischen Weltbilds infrage stellen. So verbinden sich in Brinkmanns Studien zur Verhaltensforschung, die in den 1970er Jahren von Mensch-Tier-Vergleichen geprägt sind, Jahnns Philosophie vom Verhältnis von Mensch und Tier mit Theorien zur Erhaltung der Arten (vgl. RB, 205), die von einer grundsätzlichen Gleichberechtigung zwischen Mensch und Tier ausgehen (vgl. Menke 1998, 109) und neuere Diskussionen zum Anthropozentrismus und zur Tierethik vorwegnehmen (vgl. RB, 82, 137, 198, 271 ff., 313, 315, 321, 387). Brinkmann übersetzt diese Lektüren in praktische Verhaltensexperimente, wenn er in Rom den Kontakt zu Menschen meidet und stattdessen Gemeinschaft mit den verwilderten, streunenden Katzen der Villa Mas simo sucht. So gehört Brinkmanns nüchterne Verhaltensbeobachtung des Überlebenskampfs der Katzenpopulation auf dem Villengelände zu den eindringlichsten und verstörendensten Passagen des RomBuchs: »Mittags eine Blut verkrustete Katze im Sonnenlicht, tiefe Wunden an der Seite, und ein Auge, das ausgelaufen war. [...] Mich befiel beim Vorübergehen ein Grauen beim Anblick. Auch Mitleid« (258). In diesem Kontext lässt sich auch Brinkmanns BrunoLektüre verorten, den er mit einem Auszug aus dem »Zweiten Dialog« (131–133) zitiert. Die dort geäußerte Vorstellung von der Belebt- und Beseeltheit aller Dinge konnte direkt an Naturphilosophien mysti-
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schen und holistischen Ursprungs verschiedenster Provenienzen von Bruno über Castaneda bis zu Jahnn anschließen.
29.5 Schreiben In Rom setzt Brinkmann seine Auseinandersetzung mit den Vertretern einer politischen Literatur, die er mit seiner Hinwendung zur Pop-Literatur begonnen hatte, fort und präzisiert sein Literatur- und Kunstverständnis in der Kontroverse mit Hermann Peter Piwitt. Sie steht im Zusammenhang mit Piwitts Kritik an der Aufführung des langen Gedichts Wortwechsel von Born/Brinkmann vom SFB im Jahr 1970 (vgl. Schönborn 2016; s. Kap. 20). Dieser Kontroverse, die in einem längeren Briefwechsel geführt wurde, kommt innerhalb des Rom-Buchs eine besondere Bedeutung zu. Dies wird schon daran deutlich, dass Brinkmann nicht nur seinen Antwortbrief an Piwitt, sondern auch den vorausgehenden Brief Piwitts als einzigen Brief eines Korrespondenzpartners aufnimmt. Auf den undatierten, viereinhalb Maschinenseiten starken Brief Piwitts antwortet Brinkmann am 21. November 1972 mit einem zwölfseitigen Brief, einer ersten fünfseitigen Nachschrift und einer zweiten – wesentlich späteren – vom 13. Dezember 1972, deren Fortsetzung sich in Rom, Blicke erst weiter hinten (vgl. RB, 332–340) auf weiteren neun Seiten findet. Die Auseinandersetzung ist Ausdruck der ideologischen Grabenkämpfe in der Nachgeschichte der Studentenbewegung und dokumentiert die unversöhnlichen Standpunkte ihrer Protagonisten. Während Piwitt, dem programmatischen Diktum vom Tod der Literatur im Kursbuch folgend, Literatur in den Dienst der Idee des Kommunismus und damit der politischen Praxis stellen will, propagiert Brinkmann dagegen eine antiideologische Literatur jenseits von politischen Programmen und Indienstnahmen, die die vitalen Interessen des Einzelnen vertritt (s. Kap. 4). Piwitt arbeitet in seinem Brief den Gegensatz zwischen seiner Position für eine Literatur der politischen Revolution auf der Basis einer »kommunistischen Utopie« (RB, 265) und Brinkmanns evolutionsgeschichtlichem Ansatz einer Veränderung/Befreiung des autonomen Nervensystems heraus und spricht sich für eine dokumentarische Arbeiterliteratur wie die der »Frau, die bei ›Iglu‹ oder ›Findus‹ am Band Fische verpackt« (RB, 261) aus. Brinkmann formuliert auf der Grundlage seiner Ablehnung einer Literatur der »automatischen Weltreformatoren« (RB, 262) dagegen eine Literatur, die
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auf die Erkenntnis des »grauen Raum[s]«, die »Gehirnkammer« gerichtet ist, die er als Raum »erkunden« und »kartografieren« will (RB, 260), wie er es mit seinen Erkundungsgängen als nach außen verlagerte, visualisierte mental maps im Rom-Buch vorzuführen versucht. Der Brief wiederholt noch einmal die vielen poetologischen Ansätze und metaliterarischen Reflexionen (vgl. Ch. Zeller 2010) aus dem Materialalbum und verteidigt gegen abstrakte Theorien die ursprünglichen, vitalen Rechte des Einzelnen. Eine konsistente, in sich geschlossene Poetik kann und will Brinkmann allerdings bewusst nicht (mehr) anbieten oder vertreten (s. Kap. 15), sondern markiert in seinen Reflexionen einen Zustand des Übergangs nach der Entleerung aller »Inhalte und Formen« (RB, 274), die er mit seinen Materialsammlungen zu füllen versucht und gibt gegenüber Piwitt offen zu, dass er den ideologischen Großtheorien, deren Aporien er akribisch nachspürt, keine Lösungen entgegensetzen kann. Vielmehr stellt der Brief an Piwitt – gewissermaßen als Essenz des gesamten Bandes – wie Zeller es formuliert, die »Selbstreflexion des Schreibens« dar, mit der das »Beobachten des Beobachtens« (Ch. Zeller 2010, 242) zum eigentlichen Ziel der ausgedehnten Erkundungsgänge und ausufernden Materialsammlungen und Gegenstand des Essays werde.
29.6 Forschung Rom, Blicke wird in der Forschung bisher zumeist unter zwei verschiedenen Perspektiven, der Gattungstradition und der Intermedialität, diskutiert. Diesen beiden Ansätzen folgen auch die beiden Monographien zu Rom, Blicke: Während Rainer Kramer (1999) Vergleiche mit zeitgenössischen literarischen Romreisen anstellt und das Materialalbum biographisch als Arbeit am »frühkindlich erfahrenden Kriegstrauma« (Kramer 1999, 197) liest, unterzieht Sebastian Göllner (2014) Rom, Blicke einer literatur-bildwissenschaftlich fundierten Analyse. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass man zwar von einer eigenen »Bildpoetik« bei Brinkmann sprechen könne, die die »fotografieästhetischen Begriffe wie Oberfläche, Augenblick, Sinnlichkeit, Zufall und Alltag« auf den literarischen Text zu übertragen versuche, um im »Medienwechsel die Sprachkrise« (Göllner 2014, 354) zu überwinden. Er scheitere aber daran, da auch Bilder nicht frei von präformierten, kanonisierten Bedeutungen seien: »Das aus einer Sprachskepsis erwachsene Bedürfnis nach alternativen Ausdrucksfor-
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men endet jedoch in aporetischen Erfahrungen. Der ästhetische Mediensprung vom Text zum Bild und zur Collage führt in ähnliche Problemfelder wie die Sprachkrise« (Göllner 2014, 355). Keidel liest Rom, Blicke dagegen in der Tradition der modernen Großstadtflaneure Benjamin und Kracauer, deren Erfahrung Brinkmann mit seinem »krisenhaften Subjektverständnis« und »Souveränitätsverlust des Beobachter-Blicks« radikalisiere, wenn er die »Orte entleerter Transzendenz [...] bewußt aufsuch[e]«. (Keidel 2006, 64) Groß will Rom, Blicke als »Psychogeographie« verstehen, die den »Erfahrungsverlust in der modernen Industriegesellschaft« mit einem »empirischen« Schreibverfahren beizukommen versuche und damit zugleich zu einem ästhetischen »Formexperiment« (Groß 1993, 4 f.) werde. Die bisher weitreichendste Auseinandersetzung mit Rom, Blicke liegt mit Christoph Zellers Studie vor, der das Buch als einen »Text über das Schreiben, genauer: ein[en] Metatext der Medialität«, begreift, mit dem Brinkmann einen »Stil des Authentischen« anstelle des Authentischen selbst erschaffe (Ch. Zeller 2010, 238). Zeller vertritt die These, dass Brinkmann mit Rom, Blicke die Medialität von Wahrnehmen, Schreiben und Selbsterfahrung nicht nur reflektiere, sondern zugleich die Rhetorik der Unmittelbarkeit als immer schon medial »vermittelte« d. h. konstruierte in seinen transmedialen Collagen (Ch. Zeller 2010, 242) ausstelle. Einig ist sich die Forschung in den letzten Jahren darin, dass Rom, Blicke trotz gattungsgeschichtlicher Nähe zu autobiographischen Formen grundsätzlich nicht ausschließlich als Selbstzeugnis, sondern vielmehr als literarische Autofiktion zu lesen ist (vgl. Strauch 1998; Bauer 2002; Göllner 2014; Bickenbach 2013). Kontrovers diskutiert wird dagegen vor allem der große Olevano-Brief, den Bauer als »Wiederaufnahme mystischer Erlebnisweisen« (Bauer 2002, 210) im »ekstatischen Moment« (Bauer 2002, 222) mit einer »lichtmystischen Transzendenzerfahrung« (Bauer 2002, 213) als quasi postreligiöses Erlebnis begreift. Christen verortet das Olevano-Erlebnis ebenfalls im Kontext einer »Visionsliteratur« der »christlichen Mystik« (Christen 1999, 196), deutet es allerdings als eine »sakuläre Apokalypse« (Christen 1999, 202) und damit die mentale Himmelfahrt als gescheitert. Lange sieht das Sturmszenario als Metapher für ein »tumultuarisches Seelenexerzitium«, mit dem Brinkmann einen »frenetischen Akt der Selbstreinigung« (Lange 2000, 280) vollziehe. Während Bandeili hier eine »inhaltliche und stilistische Demarkationslinie des Werks« (Bandeili 2014, 138) ausmachen will, die sie
im »epiphanische[n] Moment des Naturerlebens« (Bandeili 2014, 140) als Rückkehr zur Romantik begreift. So gelinge Brinkmann hier eine »ästhetische Befreiung von der zivilisatorischen Entwicklung« (Bandeili 2014, 143). Für Thums macht Brinkmann in den Sturmtexten mit dem »Gestus der Avantgarde [...] tabula rasa« und agiert ähnlich wie Benjamins Lumpensammler, nur trägt er den Abfall der Geschichte nicht mehr in der Hoffnung auf Rettung zusammen, sondern um ihn der endgültigen Vernichtung zu überantworten.
29.7 Brinkmanns Goethe-Rezeption Die frühe Forschung nimmt Rom, Blicke vor allem unter gattungsgeschichtlichen Aspekten der Auseinandersetzung mit Goethes Italienischer Reise in den Blick. Dem schließen sich in den 1990er Jahre mehrere Arbeiten zur intermedialen Konstruktion und zu Text-Bild-Beziehungen an (vgl. von Steinaecker 2007; Göllner 2014; Bandeili 2014; Schmitt 2012; Di Bella 2016). Als Reiseliteratur im Kontext der Tradition von Italienreisen und insbesondere der kanonischen Beschreibung Goethes lesen Adam, Amodeo, Christen, Menke, Lange, Pütter, Rohde und Schumacher Rom, Blicke. Adam hebt dabei auf Brinkmanns Umdeutung von Goethes Romerfahrung als Arkadien zur »Vorhölle« ab und Amodeo sieht in Brinkmanns »Angriff auf die Klassik« eine mit »dämliche[m] Dünkel« vorgetragene »unfreiwillige Verbeugung vor ihrem Erbe« (Amodeo 1999, 19), da er sich mit seinem Reisetagebuch nicht aus der gattungsgeschichtlichen Tradition verabschieden könne. Für Rohde »zieht [Brinkmann] unter das traditionsreiche Kapitel deutsch-italienischer Kulturgeschichte einen irreversiblen Schlußstrich« (Rohde 1998, 220) und schaffe gleichzeitig aus der Situation seiner »ästhetischen Obdachlosigkeit« heraus in der »poetischen Momentaufnahme eine Alternative« (Rohde 1998, 221). Auch Christen sieht in Brinkmanns Reisebuch eine »Kontrafaktur der Italienischen Reise«, bei der Rom »unter den Bedingungen einer voll entfalteten Modernität« (Christen 1999, 181) zur »Nekropole« und der Autor zum »Lumpensammler toter Zeichen« (Christen 1999, 193) werde. Lange sieht in Rom, Blicke Benjamins »destruktiven Charakter« am Werk, mit dem Brinkmann sich vom »Unmittelbarkeits- und Authentizitätskult« der PopLiteratur lossage und sich zur Figur des »großen Einzelnen« bekenne (Lange 2000, 280 f.). Friedrich konstatiert, dass ein »Rückbezug auf ein wie auch immer
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geartetes Goldenes Zeitalter« bei Brinkmann nicht mehr stattfinde, weil sich nach Nietzsche die Konstruktion eines auf »Vergangenheit projizierten Idealzustands« nicht mehr herstellen lasse (Friedrich 2004, 7). Schumacher argumentiert, dass »Brinkmann durchaus direkt an Goethe anschließt« (Schumacher 2011, 61), wenn er sich mit den vorgefertigten Bildern (Postkarten) für den Touristen auseinandersetze und diese mit seinen eigenen Wahrnehmungen und Snapshots »konterkarier[e]« (Schumacher 2011, 63). Diese ausgedehnte Auseinandersetzung mit dem prominentesten Intertext von Rom, Blicke hat bisher die Bedeutung der Vielzahl von anderen Inter- und Referenztexten überdeckt. Hier wäre in puncto Intertextualität bei Brinkmann noch vieles nachzuholen, angefangen bei seiner Aneignung deutscher Literaturgeschichte über die Vermittlungsinstanz Arno Schmidt über seine ausgedehnten Lektüren aus dem Bereich der Anthropologie, Psychologie, Neurologie und Verhaltensforschung bis hin zu seiner Rezeption zeitgenössischer amerikanischer Science-Fiction-Literatur und der Verknüpfungen zwischen diesen Lektüren. Ähnlich kontrovers wie die Goethe-Rezeption Brinkmanns wird die Frage diskutiert, ob die Materialalben als Vorarbeiten oder als Fragmente eines zweiten Romans (vgl. Di Bella 2015) bzw. Experimente mit der Romanform (vgl. Groß 1993) zu lesen seien, deren Entscheidung für die Auseinandersetzung mit den Bänden selbst aber von eher akzidentieller Bedeutung sind.
29.8 Intermedialität Während Strauch davon ausgeht, dass die einmontierten Bilder in Rom, Blicke »vorrangig illustrativen Zwecken dienen« (Strauch 1998, 78) oder wie Menke annimmt, einem gattungstypischen Merkmal des Briefs folgen (vgl. Menke 1998, 105), zählt Bandeili Rom, Blicke zu den »radikal intermedial gestalteten Arbeiten Brinkmanns« (Bandeili 2014, 123), die von den »Produktionskategorien [...] Subjekt, Material und Medium« (Bandeili 2014, 138) geprägt würden. Sie behauptet eine Gleichrangigkeit des Bildmaterials gegenüber dem Text und sieht in dem dominanten Einsatz von kartographischem Material, dem Mapping, den Versuch einer Ordnung von und Selbstverortung in Räumen (vgl. Bandeili 2014, 136 f.). Ganz ähnlich versteht Schmitt die Text-Bild-Montagen im Rom-Buch als »Dokumentation eines individuellen, ›authentischen‹ Erlebens«, bei dem vor allem die »Se-
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lektivität« und »Subjektivität« (Schmitt 2012, 205) der Wahrnehmung hervortritt. Göllner sieht die Funktion der Bilder zuletzt als Fortsetzung des Textes, die ihn »ergänzen, illustrieren, kommentieren und stellenweise kontrastieren« (Göllner 2014, 354). Christoph Zeller spricht dagegen von »Transmedialität« als »theoretische[m] Konzept«, da Schrift visualisiert, Bilder verschriftlicht und das Wahrgenommene allegorisiert werde (Ch. Zeller 2010, 280). Literatur
Adam, Wolfgang: Arkadien als Vorhölle. Die Dekonstruktion des traditionellen Italien-Bildes in Rom, Blicke. In: Euphorion 83 (1989), 226–245. Amodeo, Immacolata: Rolf Dieter Brinkmanns Versuch, ohne Goethe über Italien zu schreiben. In: Arcadia 34/1 (1999), 2–19. Bandeili, Angela: Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre. Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke. Bielefeld 2014, 123–144. Bauer, Thomas: Schauplatz Lektüre. Blick, Figur und Subjekt in den Texten R. D. Brinkmanns. Wiesbaden 2002, 210– 246. Bickenbach, Matthias: Die Enden der Alben. Über Ordnung und Unordnung eines Mediums am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns »Schnitte«. In: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen 2013, 107–122. Burroughs, William, S: Der Job. Gespräche mit Daniel Odier. Übers. von Hans Hermann. Köln 1969. Christen, Matthias: »To the end of the line«. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise (Montaigne, Goethe, Brinkmann). München 1999, 155–210. de Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Aus dem Frz. übersetzt von Ronald Voullié. Berlin 1988. Derrida, Jacques: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. und 2. Lieferung Übers. von Hans-Joachim Metzger. Berlin 1982 und 1987. Di Bella, Roberto: »...das wildgefleckte Panorama eines anderen Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Fauser, Markus: Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik. In: Ders. (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 103–124. Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: Ders.: Technologien des Selbst. Hg. von Luther H. Martin u. a. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1993, 24–62. Friedrich, Hans Edwin: »Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau«. Goethe und Rom in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke (16.7.2004). In: Goethezeit-portal. http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/ friedrich_brinkmann.pdf (3.1.2017). Göllner, Sebastian: Das Bild bedrängt das Wort. Rolf Dieter Brinkmanns visuelles Konzept am Beispiel der Abbildungen und Fotografien in ›Rom, Blicke‹. Marburg 2014. Groß, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben
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in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. Stuttgart/Weimar 1993. Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierenden Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg 2006, 49–64. Kramer, Rainer: Auf der Suche nach dem verlorenen Augenblick. Rolf Dieter Brinkmanns innerer Krieg in Italien. Bremen 1999. Lange, Wolfgang: Auf den Spuren Goethes, unfreiwillig: Rolf Dieter Brinkmann in Italien. In: Wolfgang Lange/Norbert Schnitzler (Hg.): Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik. München 2000, 255–281. Menke, Tim: Die Italienische Reise als Schwanengesang auf die Alte Welt. Hans Henny Jahnn und Arno Schmidt in Rolf Dieter Brinkmanns »Rom, Blicke«. In: Anil Bhatti/ Horst Turk (Hg.): Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik (= Jahrbuch für Internationale Germanistik 48). Bern 1998, 103–111. Pütter, Linda: »Roma, città aperta«. Kontrafaktische RomReisen? Goethe und Brinkmann im Vergleich. In: Günther Oesterle u. a. (Hg.): Italien in Aneignung und Widerspruch. Tübingen 1996. Rohde, Carsten: Blicke auf Rom: Goethe und Brinkmann. In: Sprache im technischen Zeitalter 146 (1998), 205–223. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012, 192–208. Schumacher, Eckhard: »die Postkarten davon sind beeindruckender« – Über Reisen, Tourismus und Rolf Dieter Brinkmanns ›Rom, Blicke‹. In: Monika Unzeitig (Hg.): Grenzen überschreiten – transitorische Identitäten. Beiträge zu Phänomenen räumlicher, kultureller und ästhetischer Grenzüberschreitung in Texten vom Mittelalter bis zur Moderne. Bremen 2011, 13–22.
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Sibylle Schönborn
30 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls [...] (Tagebuch) (1987)
30 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls [...] (Tagebuch) (1987) Erst 1987 erschienen aus dem Nachlass Brinkmanns drei Materialhefte unter dem Titel Erkundungen für die Präzisierung | des Gefühls für einen Aufstand: | Träume | Aufstände/Gewalt/Morde |Reise | Zeit | Magazin | Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch). (Erk, [3]). Sie erschienen posthum in der Reihe das neue buch (Rowohlt), herausgegeben und mit einer »Editorischen Notiz« (411) versehen von Maleen Brinkmann. Die Hefte gehen chronologisch dem Band Rom, Blicke voraus und umfassen, vordergründig als Tagebuch, die Zeit Ende 1971/72 in Köln. Der letzte Satz verweist auf die Abfahrt nach Rom (Erk, 410). Doch die Chronologie ist bei weitem komplexer, als dass hier nur ein früheres Tagebuch dem Aufenthalt in Rom vorangeht. So wurden die letzten »38 unpagnierte[n] Seiten« offenbar »in der Zeit vom 5. Mai 1973 bis 3./4. Juni 1973« verfasst, als sich Brinkmann »von Rom aus zu einem Aufenthalt in Köln befand« (413). Zusammen mit Rom, Blicke (posthum 1979) und Schnitte (posthum 1988) sowie dem kürzeren, schon zu Lebzeiten separat erschienenen Collage-Druck Rom Worlds End (Villa Massimo 1973; FW, 95–118) bildet dieses erste Collagebuch das späte Prosawerk Brinkmanns, das er verfertigte, während er sich aus der Öffentlichkeit weitestgehend zurückzog. Zwischen den Gedichtbänden Gras (1970) und Westwärts (1975) publizierte er keine Poesie mehr, sondern nur noch den genannten Villa Massimo-Text, Hörspiele sowie kleinere Rezensionen (etwa zu Burroughs’ Nova Express, 1971) und Essays (wie To a world filled with compromise, 1972 in den Grazer manuskripten); in dieser Zeit widmete er sich vorwiegend den Plänen zu einem neuen Roman. Erkundungen nimmt formal und thematisch eine komplexe Stellung zwischen den anderen Collagebüchen ein. Radikaler als in Rom, Blicke sind hier intermedial Text- und Bildmontagen montiert und eigene Texte zu Einsprengseln und Spalten aufgebrochen, ohne diese jedoch durchgehend als ganzseitige Collage anzuordnen wie in Schnitte (vgl. Gross 1993; Herrmann 1999; Petersdorff 2009). Vielmehr variiert die Seitengestaltung in Erkundungen erheblich und stellt daher hohe Anforderungen an den Leser. In späteren Passagen und im dritten Teil folgen reine Textseiten in datierter Tagebuchform als Typoskript. Ein vierter Teil fügt abschließend wiederum Bild-Text-Montagen an, die auf den 5. Mai 1973 datiert sind und damit die
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Chronik des Tagebuchs sprengen, weil von diesem Tag auf die Abreise nach Rom zurückgeblickt wird. Neben den auffälligen Montageseiten, die Zeitungsbilder, Nachrichten, Schlagzeilen und Kommentare sowie eigene Fotografien und anderes Material zu Text-BildSeiten komponieren und neben der Form des Tagebuchs, die von Beginn an eingeführt und immer wieder benannt wird, steht das »Tagebuch« jedoch schon im Titel in Klammern. Symbolisch eingeklammert konkurriert es als Schreibweise mit anderen: der Notiz und Montage, dem Kommentar und nicht zuletzt der eines Romans in neuer Form (vgl. Schulz 1987). Brinkmann entwickelt in Erkundungen eine Auseinandersetzung mit dem »Ich« zwischen Tagebuch und Romanfiktion. »Ich sind Viele und so gehe Ich durch viele Ichs und merke,wie verwüstet die Gegend ist« (Erk, 100). Wenn Brinkmann schließlich Rimbauds berühmten Satz zitiert, »Ich ist ein Anderer« (Erk, 365), wird deutlich, dass eine einfache Lesart von Erkundungen als Tagebuch Brinkmanns zu kurz greift. Die Form des Tagebuchs und der Autobiographie steht vielmehr zwischen einer auf Authentizität zielenden Erfassung der Gegenwart und der Erkundung der Möglichkeiten einen zeitgemäßen Roman zu verfassen. Ein Roman bzw. »Romanfang« erscheint explizit erst relativ spät im ersten Teil als schmale Textspalte zwischen zwei anderen, datiert auf den 10.10.1971 (Erk, 69). Diese Rahmung einer als Roman bezeichneten Schreibweise, die inmitten anderer steht und von ihnen überlagert scheint, bereitet jedoch Probleme. Ist dies wirklich eine Notiz für einen möglichen Anfang des projektierten Romans? Oder ein fiktiver Roman in einem Roman? Das Problem des Stellenwerts dieser Notiz scheint nur gelöst, wenn Erkundungen als Tagebuch und/oder Notizheft gelesen wird. Der Romananfang ist dann einfach ein Einfall des schreibenden Ichs, den man mit der Person des Autors verbindet. Doch dasselbe Tagebuch reflektiert seine Urheberschaft, stellt das Ich des Schreibers in Frage und räsoniert von Beginn an über die Fiktionalität gerade dieses einen »Ichs«. Verbunden ist das Thema eng mit der von Brinkmann schon früher geübten Kritik an der Zivilisation und Gegenwartskultur als einer Entfremdung des Ichs durch Konsum und Massenmedien sowie nicht zuletzt durch die Sprache und ihre abstrakten Begriffe. Die Aufgabe des Künstlers sei es, gegen die »Konditionierung« der Kultur anzuschreiben: »ich sehe nur eine Aufgabe für den Künstler gegenwärtig,gegen den psychosomatischen Tod,den Zwang bzw. die Konditionierung durch die Umwelt zum psychosomatischen Selbstmord zu schreiben« (Erk, 251 f.). Da das
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_30
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Ich auch des Tagebuchschreibers selbst von Entfremdung betroffen ist, stellt sich eine komplizierte Ausgangslage her. Der Autor kann nicht länger als gleichsam unbeteiligter Beobachter nur beschreibend agieren. Statt einem souveränen Blickpunkt und einem von diesem aus konzipierten geschlossenen Text, einer Erzählung des eigenen Lebens, begegnet der Leser einem von Text- und Bildpartikeln zerrissenen Zusammenhang, der als Konzept zu begreifen ist. Eine Notiz am Anfang des Buches verweist darauf: »Also: (der TRICK,und das ist doch nur DIE METHODE, VERSTEHEN SIE?mit der man das eigene konditionierte Bewußtsein überlistet,ist HIER NATÜRLICH das Zusammenstellen von gerade im Augenblick des Schreibens mir einfallenden ZUFÄLLIGEN REISEstrahlen« (Erk, 15). Die von Brinkmann so entwickelte Ästhetik impliziert weitere Fragen, etwa die »Frage [...], was überhaupt Gegenwart« ist (BrH, 203) oder die Frage, wie man die Vielfalt von Wahrnehmungseindrücken darstellt: »Was passiert denn in einem noch so scheinbar winzigsten Augenblick? Wie sind da die Vorgänge?« (BrH, 74). Erkundungen gestalten in ihrer Montagestruktur die Vielgestaltigkeit und Gleichzeitigkeit von Augenblicken, in denen sich eigene Erinnerung, Tagesnachrichten und unbewusste Wünsche überlagern. So begleiten die ersten Seiten die Erinnerung an eine Filmszene und reale wie imaginäre Dialoge aus Filmen, die in Kontrast zu Tagesnachrichten gesetzt sind, während Tagebucheintragungen hier (Erk, 7 ff.) nur Einsprengsel in diese Gemengelage bilden. So innovativ dieses Konzept gedanklich wie gestalterisch erscheinen mag, so bleibt die Frage bestehen, ob man hiermit nur eine neuartige Form des den Alltag dokumentierenden Tagebuchschreibens vor sich hat (Plowman 1998) oder ob die Erkundungen nicht insgesamt als Roman begriffen werden müssen. Der »Romananfang« (Erk, 69), dem andere folgen, »ANFANG ROMAN« (Erk, 233), wäre dann keine authentische Notiz Brinkmanns für seinen Roman, sondern ein Roman im Roman. Die Figur des Mise en abyme erscheint damit konstitutiv, für das Ich ebenso wie für die Frage des literarischen Schreibens. Weder die bereits bekannten Themen, Brinkmanns Kritik an der ›verrotteten‹ Gesellschaft, noch die Krise des Autors stehen dann im Vordergrund, sondern eine mit den Mitteln der intermedialen Montage erweiterte Fiktionalität, in der die Unterscheidungen von authentisch und fiktional in Frage gestellt werden. Die Erkundungen gehen dann über eine Autobiographie und Kritik der Gegenwart um
1971 hinaus, die in der Forschung bislang vor allem im Vordergrund standen. Als Gattung hat man vor allem das autobiographische Schreiben thematisiert (vgl. Späth 1998; Plowman 1998) und die Bezugnahme auf die empirische Gegenwart und Alltagskultur hervorgehoben (vgl. Groß 1993; Herrmann 1999; Schumacher 2003) sowie die intermedialen Strukturen betont (vgl. Petersdorff 2009). Plowman kommt am Ende seiner Untersuchung zum Subjekt in Tagebüchern der 1970er Jahre allerdings zu dem Ergebnis, dass Brinkmanns »conception of the self as a fictional construct« den Leser dazu auffordere, das Verhältnis zwischen den »Erkundungen themselves« und »the projected novel« zu reflektieren (Plowman 1998, 114). Dies setzt allerdings die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Tagebuch und Roman voraus.
30.1 Der Roman eines Tagebuchs Von Beginn an ist der Status des erzählenden und die Gegenwart erlebenden Ichs uneindeutig. Zwischen einem fiktionalen Ich und einem autobiographischen Ich, für das viele Details Brinkmanns sprechen, die konkret auf sein Leben in Köln mit der Familie verweisen (Erk, 189 ff.), muss zunächst scheinbar nicht unterschieden werden. Sie erleben beide die notierte Gegenwart gleichermaßen unmittelbar, schockhaft und emotional. Doch ein Vergleich deckt eklatante Unterschiede auf, die die Zuordnung erschweren. Die erste Textzeile überhaupt in Erkundungen führt das erlebende Ich in einem vorangestellten Motto ein. Es spricht von einer Reise mit »ruhigen Blicken« durch die Gegenwart: »also reiste ich mit ruhigen Blicken durch die Augenblicke« (Erk, 6). Der »Romananfang« wiederholt dies, konterkariert aber die Haltung des fiktiven Ichs: »Romananfang:Ramponiert und mitgenommen [...] fand ich mich wieder,und das war in der Gegenwart« (Erk, 69). Dass dort nun die Altersangabe dieses Ichs (»31 Jahre«) wieder mit dem Alter des Autors Brinkmann kongruiert, führt fiktionales und autobiographisches Ich in der Form eines Chiasmus, einer Überkreuzung, zusammen. Das fiktive Ich des Romanfangs scheint sogar dem realen Ich Brinkmanns eher zu entsprechen, der sich von der Konditionierung der Gesellschaft betroffen fühlt. Die »ruhigen Blicke« des Ichs der ersten Zeilen zeigen sich als Fiktion Brinkmanns, als eine Haltung, die der ›Held‹ seines Romans einnimmt. Das Ich der ersten Zeile entspricht dem Konzept des projektierten Romans, der als »Entwicklungsroman« (285) am Ende
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das selbstbewusste Ich präsentieren soll: »Wenn Ro man,dann [...] in Einzelszenen und Gesamtszenen, mit Reflexionen,Zusammenbrüchen,Delirien,und am Schluß:das selbstbewußte Ich« (Erk, 193). Weder das anfänglich erscheinende Ich, das die Reise zur Erkundung der Gegenwart antritt noch das Ich des Romananfangs können problemlos mit Brinkmann selbst identifiziert werden. Die komplexe Inszenierung eines Tagebuchs ist subversiv. Sie überschreitet die Gattungszuordnungen und Schreibweisen in den Figuren von Mise en abyme und Chiasmus. So wird die Erzählung eigener Lebensgeschichten und damit die Gattung der Autobiographie als Fiktion entlarvt, während das ›eigentliche‹ Tagebuch und das montierte Material, etwa aus Tageszeitungen, zusammen mit Datumsangaben eine Authentizität behauptet, die Anspruch darauf erhebt, die Gegenwart darzustellen. Die Metapher der Reise bzw. ein Titel des Werks »REISE | ZEIT | MAGAZIN« bietet sich an, um es als doppelte Erkundung zu lesen: als Reise ins Ich samt Erinnerungen, Assoziationen und Traumata sowie als Reise durch die datierte Jetzt-Zeit und ihre Augenblicke. Indem sich beide Erkundungen von Beginn an überlagern, gelingt Brinkmann eine radikale Thematisierung der Problematik des Individuums, das als Subjekt einerseits autonom sein will, andererseits aber Herkunft und Gesellschaft unterworfen ist. »Das Ich!:dieses von Familie,Staat,Beruf,Lebensku lisse verwaltete Ich« (Erk, 252). An einer anderen Stelle heißt es: »Die verdammte Vergangenheit, dieses Zufällige und das Festgesetzwerden durch diese zufällige Vergangenheit als Identität.« (Erk, 307). Die Aufgabe ist damit eine Reise zu jenem ›wahren Ich‹, das jenseits seiner Konditionierung vermutet wird: »Ich mußte wieder lernen,mein Ich zu vergessen.« (Erk, 108). Als Reisebericht einer solchen Erkundung gewinnen die Collagen die Qualität einer Präsenz der Vielfalt der Einflüsse, während die verschiedenen Schreibweisen zum verschütteten Ich bzw. auch zum Unbewussten, zum »Es« vorzudringen versuchen: »(Wer???Ist Es????)« (Erk, 64, vgl. Herrmann 1999, 128 ff.). Erkundungen gehen damit weit über ein Tagebuch hinaus. Sie stellen philosophische Fragen zu Bewusstsein, Freiheit und Selbstbestimmung angesichts sozialer Prägung, befragen noch das Innerste des Individuums, ›erkunden‹ seine Ängste und Wünsche. Dies wäre in einem traditionellen Tagebuch ebenfalls möglich. Doch die Konfrontation und Auflösung dieser reflexiven Struktur in die Collage authentischen Materials aus der Gegenwart öffnet eine neue Form der Literatur,
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die weniger Authentizität prägt als vielmehr Auswahl und Perspektivität. Was sich als Tagebuch gibt, wird zur Fiktion eines Tagebuchs, aber zu einem um die Möglichkeiten der Fiktion bereicherten Tagebuch. Die extreme Dehnung eines Augenblicks oder eines Tages zeigen dies unmittelbar im Text. Die überbordende Ko-Präsenz von inneren und äußeren Eindrücken lassen sich nur mit den Mitteln der Literatur erkunden. Ähnliches hatte Brinkmann mit Flickermaschine (s. Kap. 15 und Kap. 26) als Überlagerung von imaginären und realen Wahrnehmungseindrücken in einer einzigen Minute, von 0:48 bis 0:49, in einem erlebenden Ich nach einem Kinobesuch am Ebertplatz in Köln, bereits ohne Collagematerialien versucht. Als Reflexion der literarischen Form leistet Brinkmann nicht zuletzt in Thema, Verfahren und Gestaltung einen Beitrag zur zeitgenössischen Literatur. Die stillschweigende Annahme des souverän erzählenden Ichs als Voraussetzung sowohl für Tagebuch und Autobiographie wie für Protagonisten und Erzähler eines Romans wird als unhinterfragte Voraussetzung deutlich, die nicht mehr haltbar scheint. Brinkmann steht dabei nicht allein: Für den Großstadt- und Montageroman (etwa Döblins Berlin Alexanderplatz) ist dies als Problem des Erzählens angesichts der Simultaneität der Stadt reflektiert worden. Die Frage des Ich-Zerfalls wurde von vielen Seiten in Philosophie und Literatur der Klassischen Moderne diskutiert (etwa von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal oder in Musils Der Mann ohne Eigenschaften). Adorno hat schließlich in seinem Essay über den Standort des Erzählers (1958) das Problem des Romans, erzählen zu müssen, aber nicht mehr erzählen zu können, benannt (Adorno 1981). Erkundungen schließt mit den erweiterten Mitteln der Popliteratur im Sinne Fiedlers und Burroughs an diese Tradition der problematischen Moderne an (vgl. Schäfer 1998, 244 ff.; Groß 1993, 100 ff.; Herrmann 1999, 190 ff.). In einer Lektüre, die Autobiographie und Roman als wechselseitige Infragestellung der Möglichkeit dieser Schreibweisen reflektiert, bildet Erkundungen nicht nur ein durch die Montage von Bild und Textmaterial der Zeit innovatives Konzept autobiographischen Schreibens (vgl. Späth 1989; Plowman 1989), sondern eine die Möglichkeiten und Grenzen dieser literarischen Schreibweisen umfassendes Konzept, das die vermeintlich trennbaren Pole von authentisch und fiktional unterläuft, um eine neue Form der Literatur zu erkunden. Dies kann sicherlich auch als Zeugnis einer Krise gelesen werden, zumal einer persönlichen Krise Brinkmanns. Doch der literarische
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Wert dieser Infragestellung literarischer Formen, geht über diese Feststellung hinaus. Mit welchen Mitteln konkret eine neue Form der Literatur umgesetzt wird und welche Folgen dies für die Lektüre Brinkmanns impliziert, soll exemplarisch an der ersten Doppelseite aufgezeigt werden. Sie ist programmatisch eine Initiation in ein anderes Lesen und eine andere Textwelt, als die der standardisierten Buchseite. Danach folgt ein Überblick über die Themen, die Brinkmanns »Magazin« umfasst, bevor abschließend die Frage, welches Gefühl für welchen Aufstand hier aufgerufen ist, eine Antwort sucht.
30.2 Initiation: Die erste Seite als Exposition Die ersten Seiten unter dem Titel »1971 | Notizen« beginnen die Erkundungen mit einem sich meist in zweioder dreispaltige Kolumnen teilenden Text, der wiederum von zahlreichen Zeitungsbildern und -nachrichten unterbrochen wird. Nach einundzwanzig Seiten erscheinen erstmals geschlossen geschriebene Textseiten (vgl. Erk, 28 ff.), die nur zuweilen von integrierten Fotografien Brinkmanns unterbrochen und variiert werden, bevor wiederum mehrspaltige Textarrangements (vgl. Erk, 50 ff.) eintreten, die den ersten und zweiten Teil bis zum »Tagebuch, 3. Teil« (Erk, 187 ff.) bestimmen. In allen vier Teilen des Buches begleiten die Tagebuchaufzeichnungen Notizen, »Gedanken, Filme, Material« (Erk, 183). Zu Beginn erscheint das Verhältnis umgekehrt: Die Tagebucheinträge sind buchstäblich nur Randnotizen im Montagematerial. Erkundungen eröffnet mit einer Doppelseite: Zwei Motti links und eine Montageseite rechts, welche gerade nicht einem regelkonformen Tagebuch entspricht. Nicht oben am Anfang, sondern erst unten links auf der Seite findet sich das Datum des 27.9.1971 notiert. Die Montageseite beginnt vielmehr mit einem schwarzen Balken einer eingeklebten Zeitungsschrift und den Worten »Einbahnstraße in den Tod« (Erk, 7). Fünf Bilder werden von eigenen Typoskripten und weiteren einmontierten (fremden) Texten in unterschiedlicher Schriftgröße umringt. Die Seite scheint in zwei Spalten geteilt. Visuell sticht das oberste Bild eines Gesichts hervor, das den Leser direkt ansieht. »Wer ist da?« kommentiert eine von Brinkmann getippte und auf das Bild geklebte Zeile. Ein zweites Bild zeigt eine Filmszene, ein Mann auf einer Brücke wird von einem Auto verfolgt. Die Szene wird auf den folgenden Seiten leitmotivisch wiederkehren. Ein drittes Bild zeigt ei-
nen Mann mit einem weißen Kindersarg bei einem Begräbnis neben einem Bild vermummter, bewaffneter Männer sowie einem weiteren Sarg, in dem allerdings eine lebendige und leicht bekleidete junge Frau liegt und ihn gerade öffnet: zwei sehr verschiedene Särge und zwei Bedrohungsszenarien, die jeweils völlig andere Konnotationen und Kontexte eröffnen. Die erste Textzeile Brinkmanns kommentiert gleichsam als Untertitel die Headline »Einbahnstraße in den Tod« mit der Aufzählung: »Aufstände,Morde,Gewalt,merkwürdige Verstümmelungen« (Erk, 7). Die Reise in die Gegenwart zeigt sich als Erleben der in ihr repräsentierten Gewalt. Doch dass die benannten Verstümmelungen hier nicht nur auf Körper zu beziehen sind, deuten die rechts in einer anderen und kleineren Schrift hinzugefügten Worte an: »Es sind die Nerven, es sind meine Nerven«. Die komplexe Anordnung dieser ersten Montageseite wird unten mit einer datierten Notiz, die als Tagebucheintrag gelten kann, und einem launigen Kommentar zum Bild der Frau im Sarg in ihrem »BH aus Hollywood« abgeschlossen. Die folgenden Seiten variieren Texte und Bilder in zwei oder drei Spalten samt Kommentaren zu Zeitungsbildern und -artikeln, die einerseits Brinkmanns Schreibmaschine entstammen, andererseits auch durch ausgeschnittene Textzeilen gegeben werden. Der erste Eindruck ist eingehend zu beschreiben, weil er eine programmatische Initiation in dieses Werk bildet, die seiner Komplexität entspricht (vgl. Strauch 1998, 88 ff.). Der gewohnte Lesefluss linearer Textzeilen ist vollständig aufgebrochen. Ein Mosaik an Textstellen und Bildern zwingt zu einem insularischen Lesen, das zwischen Bildern und Texten hin und her springt und diese auf eigene Wiese in Verbindung bringt. Diese Buchseiten sind nicht ›durchzulesen‹. Ihre Ordnung ist die eines spontanen, stochastischen Zugriffs sowie einer Zirkulation zwischen den unterschiedlichsten Informationen, die mitunter einander kontrastieren und sich zuweilen kommentieren. Ab und an sind direkte Anmerkungen annotiert: »Ist der Kerl verrückt geworden?« heißt es in kleiner Schrift in der Seitenmitte (Erk, 7) neben einem Text, der die »Belfast funeral Masks« nennt und das Bild der maskierten Männer mit den Särgen in Beziehung setzt. Aber die Zahl, »23«, steht dort ebenfalls, die funktionslos und schwer zuzuordnen ist, auch wenn sie typographisch auf den montierten Text zu verweisen scheint. Der Eindruck einer überwältigenden Vielfalt und der Überforderung eines an lineare Schrift gewohnten Lesens stellt sich ein und verstärkt sich auf den folgenden Seiten. Es ist die Form der Literatur, die Form der
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Buchseite, die hier zerstört wird durch die Wahrnehmung stochastischer Nachrichten aus der datierten Gegenwart. Auf den folgenden Seiten bilden sich Spalten, die thematisch über mehrere Seiten hinweggeführt sind. Die Buchseite als Einheit kann nur noch linear durchgelesen werden, wenn die Brüche zwischen den parallelen Erzählsträngen in Kauf genommen werden, während eine Lektüre, die den Spalten in ihrer thematischen Einheit folgt, mehrere Seiten nur links, dann zurückblätternd alle Seiten wieder mittig, dann rechts lesen muss. Jedes Mal werden sich die Blicke in neue Konstellationen verlieren. Der Eindruck einer Willkür mag sich hier einstellen, doch schnell wird eine konzeptuelle motivische Auswahl von Bildern und Texten deutlich, in der Krisen, Aufstände und Gewalt thematisiert sind. Die Verfolgungsjagd führt leitmotivisch das psychische Bedrohungsszenario ein, das formal einem Drehbuch gleicht, dem »Film in Worten« nach Kerouac (FW, 223). Die Montagen folgen keineswegs den Nachrichten des Tages, sondern entwickeln eine eigene Logik. Die Form des Textes zwingt dabei zu rekursiven Lektüren, einem zirkulären Zurückspringen, in dem das Material immer wieder neu und in neuer Anordnung betrachtet werden kann. Statt des gewohnten linearen Durchlesens von Buchseiten bieten und erfordern Brinkmanns Erkundungen ein Leseverhalten, das auf Entdeckungsreise geht und dabei jeder einzelnen Seite mehr intensive Zeit der Lektüre und Betrachtung widmet, als es die Unterhaltungslektüre, aber auch die Literaturwissenschaft kennt (vgl. Schrumpf 2010). In Film in Worten beschreibt Brinkmann ein solches Textkonzept überraschenderweise als Vergnügen. Im Kontext der Reflexion über eine zeitgemäße Form des Romans, der die Erfahrung des Kurzzeitgedächtnisses und des Raumes wiedergeben soll, sei die »aristokratische« Form des Romans aufzugeben – eines souveränen Ich-Erzählers oder einer linearen Erzählfolge etwa. Stattdessen solle die »zeit-adäquate Form« in sich »heterogenstes Material zu einem Thema sammeln und miteinander verbinden« (FW, 233) und damit »collagenhaft, mit erzählerischen Einschüben, voller Erfindungen, Bild – also Oberflächenbeschreibungen, unlinear, diskontinuierlich« verfahren (FW, 233). Dies aber sei dann ein »Raum«, den man bereisen könne: »ein Raum, in dem herumspazieren einfach wieder Spaß macht« (FW, 233). Das »gedankliche Arrangement« repräsentiert zugleich die »Einfallsfülle« und die »Reflexion«, die in der Wahrnehmung des Alltags stattfinde. Das scheinbare Chaos der Textseiten in Erkundungen folgt diesem Konzept eines neuen literari-
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schen Schreibens, dass Alltägliches und Einfälle mit Assoziationen zu einer »Neuropoetik« verbindet (Schönborn 2011), in der die ungefilterte Wahrnehmung simuliert und zugleich die Stimuli und Reaktionsformen repräsentiert werden. Erkundungen ist daher ein Text, der nicht nur etwas aussagen, sondern im Leser etwas bewirken will, ein performativer Text. Das Herumspazieren in Erkundungen kann Spaß machen, die Voraussetzung dafür ist jedoch die Souveränität eines Lesers, der sich von seiner gewohnten Lektürehaltung lösen kann. Die beiden Motti, die auf der ersten Seite links der ersten Montageseite gegenüberstehen und das Buch einleiten, öffnen demgegenüber einen fiktiven Raum, der die Lektüre der überbordenden Informationsfülle der Montageseiten symbolisch orientiert. Mit einem Doppelpunkt beginnend benennt die erste Textzeile Brinkmanns das Motiv der Reise durch die »Schrecken hier in der Gegenwart« (Erk, 6). Die Begriffe der Gegenwart und des Schreckens sind jedoch doppelt konnotiert. Die Gegenwart ist nicht nur die des zeitgenössischen Geschehens, sondern zugleich die der Wahrnehmung. Der erste Satz pointiert die Doppelbedeutung »: also reiste ich mit ruhigen Blicken durch die Augenblicke« (Erk, 6). Auf zwei Ebenen werden die Schrecken der Gegenwart stets zwischen dem reflektiert, was faktisch geschieht und medial repräsentiert wird – etwa Zeitungsnachrichten über Gewalt – sowie als Gewalt dieser Wahrnehmung auf das Ich, das davon erschüttert und geprägt wird. Unter diesen ersten Zeilen eines Textes, der bereits die Frage stellt, ob hier Brinkmann oder ein fiktiver Erzähler das Wort ergreift, ist eine längere Passage aus Karl Philip Moritz’ Roman Anton Reiser gesetzt, den Brinkmann auch in Rom, Blicke zitiert. Moritz’ psychologischer Anti-Bildungsroman beobachtet seine Figur, den armen Anton, in dessen Bemühungen, Anerkennung und Erfolg im Leben zu haben. Ein Erzähler kommentiert dabei mitleidlos dessen Verdrängungen und Wunschprojektionen, die genau dies verhindern (vgl. Müller 1987). Was Brinkmann als Motto setzt, ist eine Szene aus Antons Jugend, in der dieser zum begeisterten Leser wird, allerdings in vollständig unkritischer Identifikation mit den Helden (vgl. Renner-Henke 2002). Er bastelt aus Papier die Helden, doch spielt Anton nicht die Schlachten nach, sondern vernichtet seine Helden im Spiel. Die Identifikation schlägt um in eine kompensatorisch realisierte Lust an der Gewalt. Indem Brinkmann diese Szene als Motto voranstellt, verweist er weniger auf die Wirkung von Literatur auf unmündige Leser, die um 1800 als »Lesesucht« kriti-
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siert wurde, als vielmehr auf die Durchdringung der Phantasie in einem unterdrückten »Ich«. Das öffnet einen fiktionalen Raum, der nach den Übergängen von Fiktion und Realität ebenso fragt wie nach der Wirklichkeit, die von Kultur und Massenmedien präsentiert wird. Ein zentrales Thema der Erkundung des Gefühls für einen Aufstand ist damit die Frage, ob es eine reine, eigene Wahrnehmung geben kann, ein Ich oder etwas im Ich, das sich ursprünglich und authentisch bewahren kann. Die intermediale Unordnung der »Notizen« (Erk, [5]) repräsentiert exemplarisch die Gleichzeitigkeit von Informationen aller Art in der Gegenwart, die in die Wahrnehmung dringen, während diese ihrerseits von Erinnerungen, Wünschen und Ängsten durchdrungen ist. Die Collagen konfrontieren den Leser mit einer repräsentierten Reizüberflutung, die rezeptionsoder wirkungsästhetisch seine Wahrnehmung verändert. Die Form des Textes überschreitet damit die des geistig nachvollziehenden Lesens.
30.3 Form und Themen Vereinfachend gefasst lässt sich dem römischen Tagebuch Rom, Blicke ein Kölner Tagebuch Erkundungen zur Seite stellen, das in wesentlichen Teilen zwischen dem 27.9.1971 und dem 1.11.1971 entstand. Doch sowohl in der Form wie in der Chronologie dieser wenigen Wochen verlassen die Erkundungen die Form eines zeitlichen und örtlichen Kontinuums. Der überbordende Titel, der in den Materialheften auch variiert als »1971/Notizen – Erkundungen« erscheint (Erk, 411), verweist auf eine gattungsüberschreitende literarische Form, die einerseits Notizheft, Tagebuch und Autobiographie umfasst, andererseits aber als Reise Zeit Magazin durch das montierte Fremdmaterial auch das autobiographische Schreiben überschreitet. Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der formal am ehesten einem Tagebuch entsprechende Teil wird als »3. Teil« gerahmt von »Notizen«, die als 1. und 2. Teil vorangehen, und von einem 4. Teil, der Nachschrift vom »5. Mai 1973«, die am Ende steht und die zeitlich zum Oktober 1972, zur Abreise nach Rom, zurückläuft. Dem Schwanken der Bezeichnungen »Notiz« oder »Tagebuch« entspricht eine offene Struktur, die eine innovative Form autobiographischen Schreibens einführt. Das ›eigentliche‹ Tagebuch ist als 3. Teil weitgehend ohne Montagen als geschlossener und datierter Textblock (Erk, 187–370) zwischen die Teile mit Bildmontagen platziert. Es ist gerahmt von einer Schreibsi-
tuation, die mit 1971 datiert ist und die der Chronik des Tagebuchschreibens eine Synchronie der Ereignisse hinzufügt, indem es diese in jene einbettet. Von der ersten Seite und Datierung an, ist das Ich des Tagebuchs dem überbordenden Strom massenmedialer Information ausgesetzt, der selektiv und assoziativ montiert am Tagebuch wie am Leben des »Ich« mitschreibt. Das »Tagebuch« enthält aber nicht nur die Geschichte jener Zeit, Ende 1971, sondern öffnet sich zu einer Autobiographie Brinkmanns. Zugleich öffnet es sich einer kritischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autobiographie wird zu einer Gesellschaftsgeschichte, genauer zu einer Studie über eine bestimmte Generation, »eine Generation vor die Hunde gegangen meine Generation« (Erk, 20). Insbesondere das Scheitern der Studentenbewegung nach 1968 ist dabei ein Wendepunkt dieser Geschichte, in der die Hoffnung der Resignation weicht: »Der Betrug: Jetzt gehts los,dachte ich,als die ersten wilden Aufstände anfingen [...],jetzt bricht endlich barbarisch die verschüttete Vitalität hervor«, heißt es (Erk, 135), doch diese Hoffnung zeigt sich als verfehlt: »aber die zärtlicheren wilden Gefühle,die die Gegenwart übernehmen sollten,gingen in entsetzlichem politischen Geschwätz unter [...] keine Schönheit mehr/zerredete Träume/einkasernierte Gedanken/verwaltetes Bewusstsein durch Begriffe« (Erk, 135). Alle vier Teile betonen die Momenthaftigkeit und Situation des Schreibens »jetzt,jetzt,jetzt,jetzt,jetzt,ad infinitum!« (Erk, 240, vgl. Schumacher 2002). Was jedem Tagebuch inhärent ist, das datierte Jetzt des Schreibens, wird zu einer Reflexion der Standortbestimmung in einer zerdehnten Gegenwart, in der das schreibende Ich sich seiner souveränen Position nicht mehr sicher ist. Begreift man Erkundungen als vom Modus autobiographischen Schreibens geprägte literarische Form (vgl. Späth 1989, 97 ff.), dann lassen sich die »Notizen« als Versuch einer Rekonstruktion von Herkunft und »Konditionierung« sowie der Selbstbehauptung in einem Zustand der inneren wie äußeren Krise lesen. Doch darin erschöpfen sich Erkundungen nicht. Indem sie im Zusammenhang mit den poetologischen Vorstellungen und Plänen Brinkmanns für einen zweiten Roman stehen, wird die biographische Lesart von den Strukturen des Imaginären und Fiktionalen überlagert. »Eine Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende.Man wählt [...] ganz willkürlich [...] aus,von dem man entweder [...] rückwärts oder vorwärts zu schauen gedenkt« (Erk, 171). In dieser Hinsicht einer Reflexion der Konstruktion einer
30 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls [...] (Tagebuch) (1987)
Geschichte stehen Erkundungen im engsten Zusammenhang mit der Poetologie in Film in Worten und den Notizen für einen zweiten Roman (vgl. Di Bella 2015). »Den Roman als ein heutiger Entwicklungsroman schreiben.(:zieht in die Welt hinaus,in die elektrifizierte,kontrollierte,von ständigen gleichen Impulsen als künstliches Labyrinth angelegte Tagund Nachtwelt!)« (Erk, 285). In der Forschung ist durchaus darauf verwiesen worden, dass hier nicht nur Vorstudien für diesen Roman vorliegen, sondern auch Erkundungen als Roman begriffen werden kann (vgl. Späth 1989, 93; Groß 1993, 167 ff.; Herrmann 1999, 19 f.). Dennoch hat in der Rezeption die Form des Tagebuchs und der Alltagserkundungen stets den leitenden Gesichtspunkt gebildet (vgl. Groß 1993, 7–20; Herrmann 1999, 22–34). Der Widerstreit zwischen autobiographischer und fiktionaler Schreibweise ist jedoch nur aufzulösen, wenn man das Projekt Brinkmanns als Engführung und Dekonstruktion beider Schreibweisen begreift. Jede Autobiographie und noch die Annahme eines souveränen Ichs, das sein Leben erzählen kann, wird als Fiktion deutlich, mit der das Reise Zeit Magazin als Suche nach dem, was das Ich konstituiert einen »Entwicklungsroman« (Erk, 285) eines entfremdeten Ichs entwirft. Diese »Grundlagenforschung der Gegenwart« (Erk, 129) ist nur als Fiktion der Authentizität möglich. In dieser Reise des Ichs zu sich selbst erscheint dann auch die Frage nach dem, was jenseits von Herkunft, Geschichte, Gesellschaft und Massenmedien vom Ich bleibt: das eigentliche, verschüttete, nicht mehr entfremdete Selbst, das Brinkmann auch als »Es« (Erk, 64) bezeichnet. Die Konditionierung durch Gesellschaft und Medien, die sich mit den Themen Geld, Sex und Gewalt in die Erkundungen einschreibt, wird durch dieses Neu-Schreiben des Ichs zu einer Reise, die zum Unbewussten vorzudringen versucht. »(Wer??? Ist Es???)« (64). Ziel ist, das Unbewusste zur Sprache zu bringen und das (konditionierte) Ich zu überwinden. Dafür stehen auch die spontanen und assoziativen Formen des Notierens und Montierens, die das bewusste, rationale Ich unterlaufen. Und doch wäre das Vordringen zum Unbewussten selbst gleichbedeutend mit einer Überwindung der Sprache: »das Schöne ist für mich sprachlos« (Erk, 193). Im 3. Teil ist die Erfahrung der Einsamkeit in Longkamp signifikant, in der Brinkmann, zusammen mit dem befreundeten Maler Henning John von Freyend, einen Winter in einer Hütte verbringt (Erk, 275 ff.). Dem permanenten Informationsfluss der Stadt steht hier der Entzug der Reize gegenüber, der bisweilen idyllische Na-
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turerfahrungen möglich macht, das Blau des Himmels, das Weiß des Schnees und sonst nichts. Die Stille und die (äußere wie innere) Ruhe wird dabei zum Ideal (vgl. Herrmann 1999, 173 ff.). Auch das Thema der Angst, das Erkundungen doppelt begleitet, als eigene Angst, etwa als imaginierte Krebskrankheit (vgl. Erk, 260) und als von außen durch Medien induzierte Angst (durch Gewalt- und Kriegsnachrichten), scheint in der Stille lösbar. Angst soll keine Geltung mehr haben, heißt es zu Beginn des 3. Teils (vgl. Erk, 191). Dies führt nicht zuletzt das, was Brinkmann schon früh für die Wahrnehmung der Gegenwart forderte, noch einmal ein: »Das Andere? Intensität,Lernen,Hinsehen,Gefühl dafür,was richtig ist und was versaut« (Erk, 280). Doch diese Befreiung des Ichs steht am Ende des »Entwicklungsromans«: »Wenn Roman,dann [...] in Einzelszenen [...] Reflexionen,Zusammenbrüchen,Delirien,und am Schluß:das selbstbewußte Ich« (Erk, 193).
30.4 Welcher Aufstand wofür? Aufstände spielen im montierten Material von Erkundungen durchgehend eine Rolle, ohne dass ein Plädoyer für einen Aufstand, für die Revolution der Masse, explizit formuliert würde. Nahegelegt wird zunächst eher die Wahrnehmung von Gewalt und Gegengewalt in Gegenwart und Geschichte. Die Reise zum Ich legt dann aber auch eine andere Interpretation des notwendigen Aufstands nahe. Bevor die Massen mobilisiert werden könnten, müsste der Einzelne sich bereits befreit haben, müsste wissen können, »was richtig ist und was versaut« (Erk, 280). Insofern geht der »Entwicklungsroman« (285) dem revolutionären Aufstand voraus. Der Aufstand lässt sich psychologisch auch als »Überwindung der bereits im frühkindlichen Stadium konditionierten existenziellen Todesangst« verstehen (Späth 1989, 100). Dieser autobiographischen Lesart bleibt jedoch die ästhetische Erfahrung des Lesers mit diesem Text gegenüberzustellen, der die Schrecken der Gegenwart so zeigt, dass jenseits von Worten das Gefühl von Ohnmacht oder Überforderung deutlich wird. Indem Brinkmann die Tagebuchform subversiv durch die Collagen sowie durch Fiktionalität überschreitet, sind die Erkundungen ein Text, der weniger etwas beschreibt, als vielmehr in seinen Rezipienten das Gefühl für einen notwendigen Aufstand hervorzubringen sucht. Nicht zuletzt macht der performative Widerspruch dieses Buches, in seiner Verdammung der Gegenwart genau
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
die Vitalität und Spontaneität zu finden, die inhaltlich als verschüttet beklagt wird, seine Einzigartigkeit aus. Literatur
Adorno, Theodor W.: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981, 41–47. Di Bella, Roberto: »... das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«: Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Groß, Thomas: Alltagserkundungen. Empirisches Schreiben in der Ästhetik und in den späten Materialbänden Rolf Dieter Brinkmanns. Stuttgart 1993. Herrmann, Karsten: Bewußtseinserkundungen im »Angstund Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmann Collagebücher. Bielefeld 1999. Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 182–197. Müller, Lothar: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Frankfurt a. M. 1987. Petersdorff, Dirk von: Intermedialität und neuer Realismus. Die Text-Bild-Kombinationen Rolf Dieter Brinkmanns. In: Wolf Gerhard Schmidt/Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin 2009, 361–377. Plowman, Andrew: The Radical Subject. Social Change and the Self in Recent German Autobiography. Bern/Berlin/ Frankfurt a. M. u. a. 1998.
Renner-Henke, Ursula: Vom Lesen erzählen. Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt. In: Diskrete Gebote. Hg. von Roland Borgards und Johannes Lehmann, Würzburg 2002, 131–162. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schönborn, Sibylle: Bilder einer Neuropoetik. Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch). In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 213– 228. Schrumpf, Anita-Mathilde: Wie lesbar sind Brinkmanns »Materialbände« für die Literaturwissenschaft? In: Thomas Boyken/Ina Coppelmann/Uwe Schwagmeier (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Neue Perspektiven: Orte – Helden – Körper. München 2010, 193–208. Schulz, Genia: Kein Zugeständnis. Rolf Dieter Brinkmanns »Erkundungen«. In: Merkur 41 (1987), H. 463/464, 916– 921. Schumacher, Eckhard: »... jetzt, jetzt, jetzt, ad infinitum!« Rolf Dieter Brinkmanns Poetologie. In: Ders.: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, 59–109. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur TextBild-Montagetechnik. Tübingen 1998. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989.
Matthias Bickenbach
31 Schnitte (1988)
31 Schnitte (1988) In einem ungedruckten Brief vom 7. August 1973 aus Rom an den nach München zurück gekehrten Zeichner Günther Knipp berichtet Brinkmann von seinem »Notizbuch, an dem ich seit längerer Zeit arbeite« (Arbeitsstelle Vechta). Die genauen Zeiträume und die Orte, an denen die Seiten der Schnitte entstanden sind, muss man aus den sporadischen Angaben im gedruckten Text rekonstruieren. Demnach begann die Hauptarbeit, folgt man dem Datum auf dem Titelblatt und sieht man von Vorarbeiten in bisher unzugänglichen Arbeitsmappen ab, am 5. März 1973 und dauerte bis Mitte Juni 1973. Brinkmann war in Rom und vor allem in Olevano, dem er viel Raum widmet. Den ganzen Mai über hielt er sich in Köln auf (Sch, 127 ff.), wohin er die Familie begleitete, die ihn besucht hatte. Am 15. Juni 1973 setzt die Produktion dann wieder in Rom ein (127, 141). Zum Kontext gehört also auch das Tagebuch mit seinem vierten Teil vom Mai 1973 in Köln (Erk, 371–410), der überdies durch thematische Überschneidungen und Zitate mit Schnitte verbunden ist und durchaus eine gemeinsame Publikation erlaubt hätte. Dazu kommen noch die Prosaarbeit Work in Progress vom Mai 1973 in Köln (FW, 135–141) sowie das im April 1973, den Erwartungen der Akademie entsprechend, als Villa Massimo Druck veröffentlichte Heft Rom Worlds End (FW, 95–118) mit 24 Seiten, von denen er 17 in Schnitte übernimmt (vgl. Strauch 1998, 94). Der Band ist Bestandteil von Materialsammlungen für einen zweiten Roman. Der Autor deponiert abgeschlossene Manuskripte oder Hefte seiner kontinuierlichen Montagearbeiten seit 1971, um sie später in den Roman einzuarbeiten oder ihn daraus zu formen. Möglicherweise sollte das Manuskript auch nie in der vorliegenden Form von 1988 publiziert werden. Solange jedoch Hinweise des Autors fehlen und das Original unter Verschluss bleibt, müssen wir uns an das Nachwort in der Nachlass-Edition von Maleen Brinkmann halten; sie und der Verlag haben sich für ein getreues Faksimile entschieden. Der Farbdruck ist wichtig, weil er auch eine Vorstellung von den anderen, in Schwarz – Weiß reproduzierten Manuskripten in Rom, Blicke, Rom Worlds End und Erkundungen gibt. Strauch hat zuerst die Prätexte gefunden und mit Angabe der Ausgaben nachgewiesen, welche Zeitungen und Zeitschriften neben den eigenen Texten das Material für einzelne Seiten lieferten: Kölner StadtAnzeiger, The Sunday Times, The Sunday Times Maga-
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zine, Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und Time der Jahre 1972 und 1973. Hinzu kommen noch die in Italien erworbenen Zeitungen: ABC, Il Giornale d’Italia, Il Messaggero, Paesa sera, Il Tempo, L ’Unità (vgl. Di Bella 2015, 485–565). Sie werden ohne gründliche Sprachkenntnisse ausgewertet und oft assoziativ eingesetzt. Weiteres Material stellen Pornomagazine, die häufig erworbenen und oft versendeten Postkarten und private Fotos dar, die Brinkmann während seiner Streifzüge durch Rom, Olevano und Köln schießt (Sch, 112 ff.). Bei der Auswahl des Bildmaterials fällt die Überzahl der Aktfotos auf.
31.1 Offene Kunstform Das Buch praktiziert die offene Kunstform und vereint daher ganz verschiedene Verfahren. Mehrere Traditionen aus der Geschichte der Text-Bild-Kombination fließen zusammen und die von Brinkmann geschaffenen Objekte wurden als visuelle Poesie, Collage oder Montage gelesen. Am Beginn des Arbeitsprozesses stehen Ausschnitte, später Ausrisse, maschinenschriftliche Zeilen oder gedruckte Abschnitte, einander überlappend verklebt mit neu zusammengestellten Bildteilen oder Textpassagen. Das Buch enthält Plakate, Fotoabzüge aus Filmen, Postkarten, nachkolorierte Stadtansichten, Anzeigen, Reklame, Namen, Hinweisschilder, Bilder von Unfällen und Katastrophen. Nur wenige Textseiten kommen ohne Bilder oder Werbematerial aus und nur vereinzelt begegnen dem Leser ganzseitige, unveränderte Abbildungen. Die Fotos als Basis der Seiten transportieren Affekte, Angst, Schrecken, Wünsche und Bedürfnisse, gekoppelt mit Informationen und Sachverhalten, die sie in der Collage aber verlieren. Die Reizsignale gehen im Buch vorzugsweise von der farblichen Gestaltung der jeweiligen Zusammenstellungen aus. Den Scheinwirklichkeiten der Postkartenwelt stellt Brinkmann seine eigenen Fotos in Fotostrecken gegenüber, die Schutthalden, verfallene Häuser, verwahrloste Plätze und menschenleere Straßen zeigen. Die wohl schon im Sommer 1972 entstandenen Seiten 72–77 und 81– 84 bestehen aus sehr klein geschnittenen Elementen und sind gedrängt angeordnet. Die Doppelseiten 74/75 und 76/77 bestehen aus etwa 300 Schnipseln, wobei Brinkmann die Trägerseiten zunächst mit Bildern beklebt, um sie dann nahezu vollständig mit Textmaterial zu bedecken. Sie sollen die permanente Flut von Worten darstellen, die uns umgibt (vgl. Strauch 1998, 94).
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_31
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Die Texte hingegen sind zusammengesetzt aus Tagebuchnotizen, Erinnerungsfragmenten, einzelnen Wörtern und daraus abgeleiteten Assoziationsketten oder aus Zitaten von William S. Burroughs, Joseph Conrad (Sch, 38, 55, 90, 92), Jean Paul (12, 32, 62, 143– 150), Nietzsche, Freud, Rimbaud (8, 44, 97, 152), Arno Schmidt, Konrad Bayer (100), Paul Éluard (152) und natürlich Benn (47, 153), nicht zu vergessen die Musik der Stones (12), der Beatles (16), Soft Machine (97, 127–130, 135) und Eric Satie (97). Das leitmotivische »nichts, niemand, nirgendwo, nie« (7, 31, 39, 153) zitiert den ersten Satz aus Schmidts Roman Kaff auch Mare Crisium. Auffällig ist die von Arno Schmidt angeregte Interpunktion, die den Lesefluss behindern soll oder die Schnitttechnik formal begleitet. Schrägstriche markieren Schnitte. Manche Sätze oder Formulierungen beginnen beliebig und brechen einfach ab. Kunstvoll ausformulierte Passagen stehen neben verwirrten Gedankenfetzen. Sprunghaft wechseln die Texte von Dialogen in Selbstgespräche, deklamatorische und narrative Sequenzen. Die dargestellten Orte und Menschen desavouieren die Texte durchgängig in negativen Attributen. Alles ist »dreckig«, »verseucht«, »verschimmelt« und »verschlissen«. Die Titelblattmontage nennt als Gattungsbezeichnung das »Totenbuch« (Sch, 5). Sie stammt hier aber aus Burroughs Roman The Wild Boys, der mit dem Untertitel A Book of the Dead 1971 erschienen war und Brinkmann nach Italien begleitete. Die Anspielung auf die literarische Reihe deutet Brinkmann um und ordnet sein im Buch ausgestelltes Diesseits als abzulehnendes Jenseits ein (vgl. Strauch 1998, 100 und Di Bella 2015, 193, 195 ff.). Als Grundlage der Montage diente die Titelseite der Time mit dem gemalten Porträt von Carlos Castaneda (alle Vorstufen bei Strauch und Di Bella), die mehrfach überklebt, aber im Signalrot noch gut erkennbar, nunmehr den Beginn des ganz privaten ›Nachrichtenmagazins‹ abgab. Sein Gewährsmann Burroughs erläutert im Essay Die Zukunft des Romans (1962) in dem von Brinkmann mit gestalteten ersten Band der Märztexte 1970, das »Collage-prinzip« sei »in der Malerei seit 50 Jahren gang und gäbe«. Der historische Kontext des Collagebuchs ab 1910 mit DADA und der bildkünstlerischen Montage der frühen Moderne von Apollinaire, Duchamp, Schwitters, Max Ernst bis zu Warhol (Dencker 1972) liefert eine stattliche Reihe vergleichbarer Vorbilder. Insofern ist die häufig zu hörende These vom Medienpionier Brinkmann einzuschränken. Theweleit lehnt sie ab und spricht treffend von einer Rückkehr zu traditionellen literarischen Techniken
nach der Experimentierphase mit dem Schmalfilm 1968/69, die auch keine technischen Neuerungen, sondern die Übertragung literarischer Prinzipien auf den Film brachte. Und Zier (vgl. Zier 2012, 283) sieht Brinkmann ebenfalls als rein literarischen Autor, er verweist auf traditionelle Konzepte der Evidenz, die im weitesten Sinne sogar rhetorische seien und damit noch hinter die Moderne zurückreichten. Direkte Einflüsse kommen aus der amerikanischen Cut-upÄsthetik, wenngleich Brinkmann keine Cut ups im eigentlichen Sinne herstellte (vgl. Fahrer 2009, 86). Im Unterschied zu der Methode des gezielten Einsatzes von Zufallsschnitten unter Vermeidung jeder Intention komponiert und arrangiert Brinkmann seine Texte nach einer Assoziationstechnik, die das künstlerische Gestalten lenkt. Die Schnitte, einmal vorausgesetzt, sie wären als eigenständiges Buch gedacht gewesen, gehören zur Tradition der Buch-Kunst-Objekte. Sie dehnen die Dimensionen des Buches in Linien, Flächen, Räume aus und schaffen Platz für graphische Experimente einschließlich der Typoskriptästhetik. Die Entgrenzung des Buches zum Objekt ist ohnehin ein Zeitbefund, mindestens aber waren geklebte, gebastelte oder hektographierte Produkte in den 1960er und 70er Jahren allgegenwärtig (vgl. Bandel/Gilbert/Prill 2017); man denke nur an die kurze Phase der Zusammenarbeit mit der Oberbaum-Presse. Natürlich zieht Brinkmann hier den direkten Übergang von Album und Druckwerk ins Kalkül, mit dem er im festen Glauben an eine Zukunft der Literatur in anderer Gestalt die Grenzziehungen zwischen Hoch- und Subkultur nivellieren möchte. Hier ist an die Geschichte der Scrapbooks zu erinnern. Sie sind Vorläufer der modernen Buch-Kunst-Objekte und verweisen schon im Namen auf die verwendeten Elemente: Schnipsel. Im Unterschied zu anderen Alben versammeln sie eine Vielzahl von Materialien und gelten seit dem frühen 19. Jahrhundert als Nachfolger der Commonplace Books, von denen sie sich durch ihren stark kompositorischen Ansatz abheben. Die Übergänge zwischen persönlichem Erinnerungsstück und künstlerischer Ideensammlung sind hier schon fließend. Als Künstlerbücher oder Malerbücher bezeichnet man die Skizzenbücher der bildenden Künstler, die sie als Magazin für Einfälle und Materialbasis nutzen, nicht selten in eigenständige künstlerische Formen verwandeln und veröffentlichen. Brinkmanns Freund Henning John von Freyend von der Gruppe Exit führte mit der gleichen Methode seit den späten 1960er Jahren eine Art Tagebuch, es besteht aus einer Mi-
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schung von Skizzen, Aquarellen, privaten Dokumenten, Texten, Einträgen und Ausschnitten in zehn Kladden und enthält auch eingeklebte Briefe und Postkarten Brinkmanns (vgl. die einschlägigen Bestände der UB Vechta).
31.2 Themen aus der Nova-Welt Grundsätzlich sind alle Themen, natürlich nicht nur die Texte, auf ein Ziel hin ausgewählt, nämlich mit den Mitteln der Verfremdung und des Sarkasmus an die Ränder des Bewusstseins vorzudringen und primären, nicht verstellten Gehirn-Erfahrungen näher zu kommen, in sie einzudringen (vgl. Strauch 1998, 110). Ausgangspunkt ist die herunter gekommene und zerstörte Realität. Die Diagnose fällt deprimierend aus. Brinkmann sieht überall eine Kulissenwelt (vgl. Sch, 8, 13, 15), die sich bis in die Körper hinein erstreckt (137), die Realität sieht aus wie ein Film mit verlorenem Drehbuch. Diese ganze »vergammelte Realitätsshow« verschafft ihm nur das »Gefühl einer großen Unwirklichkeit« (81). Die Filmmetapher, am Beginn des Buches auffällig oft erwähnt, erlaubt die distanzierte Perspektive, in der sich der Betrachter wie in einem dunklen Raum durch phantastische Welten bewegt, die er unberührt an sich vorüberziehen lassen kann. Er spaziert durch eine verwirrend unverständliche Zeichenwelt, die ihn belästigt und ablenkt; missmutig schleppt er sich durch »Städte wie giftige Fallen« (38, 101), auf Schritt und Tritt begegnen ihm »erbrochene Comics und aufgeweichte Fotoromanzen« (41). Städte sind Höllen, in denen ein unbekannter Regisseur den täglichen Horror-Film abspult, bis den vom Albtraum geplagten Zuschauer sein ganzer Körper schmerzt. Sex, Tod und Geld dominieren das urbane Leben: Dabei vergisst Brinkmann auch nie den Hinweis auf die eigenen Geldprobleme (vgl. 132–136), aber »Das wirkliche Leben ist abwesend« (8). Das Fehlen einer als sinnvoll erlebten Gegenwart führte den Autor immer wieder in die ländliche Abgeschiedenheit und Stille, so auch in Italien. In Olevano, dem die eindrucksvollsten Passagen gewidmet sind, wähnt er sich dem so lange gesuchten »jetzt & jetzt« (94) nähergekommen. Auf den Steinstufen am Berghang »begann sanftes rhythmisches Einschwingen in Jetzt« (67), bald aber überfällt ihn wieder die drängende Frage Rimbauds: »Rasch! gibt es weitere Leben?« (8). Sogleich fühlt er sich zurück geworfen in seine Saison en Enfer, wo die »staubigkalte Anwesenheit« (36) alles überzieht.
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Die Gegenwart »ist versaut« (41), so lautet die Fundamentaldiagnose, die sich auf jeden Bereich ausdehnen lässt, vor allem auf die Ego-Illusionen. Der gesuchte Durchbruch ins Unbewusste führt über die immer wieder berufene Stille. Brinkmann bezieht sich auf seine Lektüren zum Zen-Buddhismus, die er im Buch nur kurz erwähnt (vgl. 46, 90). Im Nichts – Tun überwindet das Bewusstsein sich selbst und findet zum Jetzt. Für den präreflexiven Zustand ist die Stille Voraussetzung. Sie soll helfen, den normalerweise an Raum und Zeit gebundenen Bewusstseinsstrom zu unterbrechen und in die Erfahrung eines unbegrenzten Jetzt vorzustoßen (vgl. Herrmann 1999, 173–178). Das Eintreten in den stillen Raum (vgl. 79, 84), ein Bild für wahre Existenz, wird jedoch mehrfach gestört. Einmal durch Kindheits- und Kriegserinnerungen an Vechta, die im »Flash« auftauchen (50, 54, 82), sodann durch die allgegenwärtigen »Panik – Orgasmen« und Selbstbefriedigungen, die Besuche bei Prostituierten (16–19, 22, 31–35, 41, 86, 145–149), die Zeugnis ablegen sollen von der Unfähigkeit zu befreiter Sexualität, an der, so die Diagnose, die mediale Überfütterung schuld sei. Sie begegnet Brinkmann in den völlig sexualisierten Umwelten, auf deren Entlarvung sich sein Buch geradezu manisch stürzt. Das verbleibende Gegenmittel ist das Schnipseln: »& langsam schnitt ich mir meine Zeit aus Stille zusammen« (155). Allerdings ist dieser gesamte Blick auf die Realität literarisiert, vollständig geprägt durch die pornographische Burroughs- Realität, die Brinkmann aus der Lektüre bezieht und spätestens seit seiner Rezension der deutschen Übersetzung von Nova Express kennt. Die kruden Beschreibungen entsprechen daher weitgehend der Erzählperspektive und den Wertungen bei Burroughs, der auf den ersten Seiten mit einem ›dirtyspeech‹-Zitat auftreten darf (vgl. 13). Schnell fällt dem Leser das am häufigsten verwendete Adjektiv »ranzig« auf. »Ranziges« wird an mehr als zwanzig Stellen verschiedenen Gegenständen zugeschrieben (14–17, 29– 37, 70–72, 82–87, 109–111, 149–151). Das Beiwort stammt aus dem Roman Nova Express (»ranziges Sperma«, »ranzige Strassen«, Burroughs 1970, 36, 98, 145, 158) und ist als wörtliches Zitat bei Brinkmann belegt (74). Stereotype Wendungen durchziehen das Buch ohnehin. Discotheken sind prinzipiell »Gaskammern voll Musik« (13, 41, 83, 146), die fragwürdige Metapher taucht bei jeder Erwähnung des Wortes auf. Zivilisationskritik und Wahrnehmung der Umwelt als Dystopie folgen dem Bild aus den Science-Fiction-Romanen J. G. Ballards, die Brinkmann in dieser Zeit intensiv liest.
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
31.3 Poetologie: Schnitte und Blicke Das ästhetische Prinzip der Schnitte sowie ihr wahrnehmungstheoretisches Pendant »Blicke« (RB, Titel) erklärt Brinkmann schon im wenige Monate zuvor entstandenen ersten Teil von Rom, Blicke: »Solche unscheinbaren, geringen und zufälligen Eindrücke enthalten für mich die ganze Einsicht in den tatsächlichen Zustand, in dem unser Leben sich befindet, der uns umgibt.« (91) Jede Seite des Buches bietet demnach derartige Eindrücke aus allen Bereichen der menschlichen Wahrnehmung. Im Mittelpunkt stehen aber eindeutig die Medien. Die Eindrücke, so die implizite Behauptung, sind dem modernen Alltag entnommen, sie durchsetzen ihn und die menschliche Aufnahmefähigkeit, die sie konditionieren oder sogar beeinträchtigen. Das geht so weit, dass wir gar nicht mehr unterscheiden können, ob wir authentische Wahrnehmungen machen oder uns nur einbilden, wir könnten die Wirklichkeit individuell erkennen. Fotos stehen dabei für primäre Erfahrung vor dem Wort. Tatsächlich dominiert die Präsentation medial aufbereiteter Sachverhalte das Buch zur Gänze. Andere Alltagshandlungen treten so stark zurück, dass nicht mehr zu entscheiden ist, ob sie bloß ausgespart oder ebenfalls völlig von einer medialen Wahrnehmung durchdrungen sind und schon deshalb keine Beachtung verdienen. Das Prinzip ist reflektiert: »Cut up! – Denn die Blicke machen ja ständig cut ups!« (RB, 93) so die bündige Formel der Synthese. Mit den Zitaten aus Konrad Bayers Roman der sechste sinn, 1966 aus dem Nachlass herausgekommen und von Brinkmann mit Bewunderung gelesen (vgl. Sch, 100; bei Bayer 1977, 370 f.), markiert er den Bezug auf die experimentelle Literatur und lässt sich von ihren Medienmetaphern für die Sprachmontage anregen. Bei Bayer konnte er lesen: »seine gedanken hatten den erinnerungsspeicher abgeklappert, verglichen das erinnerungsphoto mit dem gelieferten schnappschuss und da war ihm klar, dass er da war.« (Bayer 1977, 379) Auch die Theatermetapher »erinnerungskulisse« (Bayer 1977, 375) findet er dort, sie formiert bei Bayer wie bei Brinkmann die Präsentation des Vergangenen aus dem gleichen Blickwinkel. Das Arbeitsverfahren ist aber auch nicht eigens erfunden, sondern übernommen und in der Nachfolge von Burroughs entstanden. Nova Express liefert alle Verfahrensanweisungen, die in Schnitte wiederkehren. Die Menschen in der Nova-Welt würden unter dem unendlichen »Bandwurm deprimierender Wörter und Bilder« leiden, der sich durch den »Gehirn-
schirm« bewege; jede Situation ziehe gleichsam magnetisch Wörter und Bild-Aufzeichnungen an, die jede Wahrnehmung von vorneherein konditionierten, eine unvoreingenommene Sicht auf die Dinge verhinderten (vgl. Burroughs 1970, 91). Die allein helfende Devise ist: »Zerschneidet die Wortverbindungen« (Burroughs 1970, 77). Dieses »Gegenmanöver« vergleicht der Roman mit einem Magnetband, das man einfach zurückspulen und willkürlich mit neuen Wörtern besprechen solle. So würden »elektromagnetische Wortmuster aus dem Band gelöscht und neue Wörter an ihre Stelle treten« (Burroughs 1970, 92). Aber auch die »Fotomontage« vermittle einen Eindruck von dem einzuschlagenden Weg. Ihr mechanisches Vorgehen schaffe neue Aussagen, Eindrücke, die durch Verdünnung und Konzentration entstehen. Es komme darauf an, in Texten und Bildern nicht mehr nach einem Inhalt zu suchen, sondern sie für »Assoziation und Juxtaposition« zu nutzen. Der Roman, den Brinkmann eben deshalb so sehr schätzt, führt die genannten Lektüreanleitungen bereits in seiner Struktur selber vor: »Das Denken in Assoziations-Blöcken anstelle von Wörtern.« (Burroughs 1970, 106–109) Das erklärt zumindest die häufig verwendeten Stereotype bei Brinkmann, aber nicht, weshalb diese nicht ihrerseits zerstört werden, wenn doch falsch besetzte Verknüpfungen im Bewusstsein geändert werden sollten. In Schnitte entwirft Brinkmann seine eigene irreale und monströse Nova-Welt, in der er wie ein Partisan im Geiste Burroughs gegen die allumfassende Konspiration namens Realität antritt und mit einem futuristischen Entwurf gegen sie zum Widerstand aufruft, um die Kontrolle (Sch, vgl. 6) wieder zu erlangen. Die Eindrücke sollen ihr Pendant in der künstlerischen Technik des Schneidens, Zerlegens in Schnipsel und des momenthaften Aufschreibens finden. Die Schnitte bedeuten bei Brinkmann immer mentale Schnitte. Sie sind Ausfluss spontan notierter Wahrnehmungen und Beobachtungen, bei denen das Unzusammenhängende ihres ersten Auftretens formal gewahrt bleiben soll. Dem Schnitt im Kopf entspricht der auf dem Papier. Den schnellen Wechsel der Eindrücke versucht die Vielzahl kleinteiliger Elemente einzufangen. Und das durch Schrägstriche gestörte Schriftbild möchte Blickwendungen signalisieren (vgl. Fahrer 2009, 129 f.). Das Ziel ist dem von Burroughs: der »Breakthrough in the Grey Room« (FW, 227 ff.) vergleichbar. Der Durchbruch in jene Regionen des Gehirns, in denen sich die hemmenden Vorschriften und Tabus festgesetzt haben, dient dazu, sie dort zu bekämpfen. Brachliegendes Hirnarreal, durch
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die Zwangsmechanismen verschüttet, sollen die Schnitte freilegen, denn dort könnte der Fortschritt möglich, die depravierte Realität überwunden werden (vgl. Fahrer 2009, 191). So wie wir alle nur noch Bruchstücke der Realität aufschnappen, soll jede Seite des Buches uns vor Augen führen, woraus sich unsere Wirklichkeit tatsächlich aufbaut. Die Schnitte sind also Erweiterungen eines künstlerischen Verfahrens um phänomenologische Annahmen, die ihrerseits Burroughs vorgab. Allerdings bürdet das Zerschneiden von Material dem Künstler bestimmte Handlungen und auch Grenzen auf, die nicht notwendig der Intention einer ästhetisch angemessenen Umsetzung von Wahrnehmungen entsprechen müssen. Dem Zerschlagen von medialem Material und Herstellen von neuen Wirklichkeiten aus Schnipseln wohnt ein gewisser Zwang inne, der wahrscheinlich mehr von der Haltung des Autors verrät, als er von der in Fetzen verwandelten Realität preisgibt. Dieser Übergang von Collagetechnik und wahrnehmungstheoretischem Konzept, in dem jedes Foto immer den Zwang zum Sehen als solchem mitteilen soll, ohnehin per se dem Verdacht der Pornographie unterworfen, ist mindestens methodisch fragwürdig, ob er auch künstlerisch ergiebig war, bleibt zu diskutieren. Und die Absicht, mit jeder Seite weiter in unerforschtes Gelände des Bewusstseins vorzustoßen, wird paradoxerweise dadurch widerlegt, dass sich das Bewusstsein immer schon dort weiß. Hinter jedem noch so banalen Detail sucht Brinkmann nach der wahren Erfahrung. Sobald die Suche nur ansatzweise eine mediale Form (Sprache, Bild) annimmt, schwindet jedoch die Chance darauf augenblicklich dahin (vgl. Strauch 1998, 110–114).
31.4 Ästhetisierung durch Techniken Tatsächlich folgt die Methode einer durchgängigen Ästhetisierung. Cut ups und die Schnitt- und Klebetechnik Brinkmanns präsentieren zwar eine Welt aus Abfällen. Sie suggerieren, es gebe nur Original-Kopien, wie auch in den größeren Essays zu lesen steht. Man brauche überhaupt nichts mehr zu erfinden, es genüge, alles zu kopieren und seinen eigenen Namen darunter zu setzen. Im Vordergrund steht jedoch weniger die Entlarvung, die Entblößung einer falschen Welt und ihrer entstellenden Medienprodukte als vielmehr der Umschlag der Collage im Prozess der Ästhetisierung. Schon der mit der Technik verbundene Glaube an die Höherentwicklung der Menschheit
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durch formal-ästhetische Experimente reiht sich nahtlos in die lange Geschichte des Vertrauens auf die gesellschaftlich wie politische Wirksamkeit der künstlerischen Behandlung von Realität ein. Der kompositorische Zwang fordert eine gewisse Vollständigkeit in der räumlichen Anordnung. Seiten, die nicht mit aufgeklebten Partikeln gefüllt sind, wirken wie Fremdkörper. Seiten, in denen der weiße Untergrund durchscheint oder auffallend viel Raum einnimmt, wirken unbearbeitet oder unfertig. Eine Differenzierung der Techniken nach dem jeweiligen Grad der Füllung einer Seite wäre denkbar. Und folgen das Ineinanderlegen der Schnipsel sowie die Wahl der jeweiligen Stelle, bis zu der die Partikel sich überlappen dürfen, nicht auch ästhetischen Vorstellungen? Wonach wählt Brinkmann aus? Die Heterogenität der Ausschnitte, die Operation mit der Materialität des Ausgesuchten produziert nicht nur zufällige Konstellationen, sondern immer wieder sinnhafte, subversive, dem Concetto verwandte Gedankenfolgen (vgl. Fahrer 2009, 143). Aus drei Zeitungsschlagzeilen und einem getippten Schlusswort montiert er den Satz: »la guerriglia urbana / is for sale / per un buon caffè / raus« (Sch, 91). Die Schnitte als Waffen, mit denen die Kontrolle über ein entgleistes Sprachsystem wiederhergestellt werden soll, entpuppen sich hier als weitere Variante desselben kritisierten Mechanismus, der nur in eine andere Richtung verschoben wird. Konkret: Worin sich die angeblichen Manipulationen in der Realität von denen des Buches unterscheiden, bleibt offen. Unweigerlich taucht die Frage auf, ob Brinkmanns stark bildendes und wertendes Arbeiten nicht gerade den entscheidenden Unterschied zu der auf das Antiorganische zielenden Cut up-Ästhetik darstellt? Sicher ist der technisch-mechanische Aspekt von Belang. Auf der Schreibmaschine am Papierwagen den Tabulatorstopp so zu setzen, dass schmale, nur wenige Zentimeter breite Spalten entstehen und die getippten Textpassagen wie Zeitungskolumnen aussehen, ist Teil einer absichtlichen Anordnung. Das gesamte Layout, vor allem die Typoskripte, suggerieren Spontaneität, das Schreiben ins Unreine und einen quälerischen Entstehungsprozess. Dabei wird die ausgestellte Ästhetik der Formlosigkeit gerade durch das mühsame Arrangement der Seiten und möglicherweise auch das längerfristige Entstehen einer einzelnen Seite oder gar der Doppelseiten widerlegt. Außerdem lassen sich durchgängig Ordnungsstrukturen erkennen. Die scheinbar willkürliche Seitenfolge und das suggerierte beliebige Schweifen
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durch Assoziationen weist vielfach Wiederholungen auf (»Fortsetzung«, »noch eine Fortsetzung«, »Flashback«, »Zurück in der Gegenwart«), die man als »narrative Leitstrukturen« einordnen kann (mit den Seitenzahlen bei Di Bella 2015, 473–479). So verfährt auch die Behandlung des Themas »Die letzte Seite« (Sch, 5, 14, 29, 153), signalisiert mit einem mehrfach ausgeschnittenen Rubriktitel der Süddeutschen Zeitung, der den ganzen Band einrahmt. Der ständig bediente Endzeitdiskurs geht hier mit der narratologischen Funktion der zur Schlagzeile gewordenen Kolumne zusammen. Die letzte Seite ist vom Titelblatt an schon geschrieben und die Wiederholungen erinnern daran wie ein Running Gag. Schließlich versammelt die Zeitung unter der Kolumne nur Komisches und Unterhaltsames. Bei ihrem letzten Auftauchen betitelt der Schriftzug eine Seite voller Beispiele zum Niedergang der Zivilisation und setzt das Ganze damit in ironische Distanz. So wie die Gegenwart auch nur eine unabschließbare Fortsetzung endloser Anfänge darstellt, taucht dieses Element als Teil der Komposition auf (vgl. Plath 2004, 71). Aber im Buch ist buchstäblich jede Seite auch eine letzte.
31.5 Augenblicke oder Sprache? Schnitte zeigen Blicke, genauer Augenblicke. Sie sollen ausstellen, was an sich schon sichtbar ist. Und mit und an dem sichtbaren Material entlarven, was es verdeckt. Das Problem verdeutlicht die Koppelung der Sichtbarkeit mit dem leitenden Thema Augenblick. Die Absicht, das Dasein zu spüren, den Augenblick erfahren, leben zu können (Sch, 105) ist sicher verständlich: »Überhaupt kam ich gar nicht zurecht mit dem Vorwärts, Weiter und Halt. Mir ist viel mehr nach einer ausgedehnten Gegenwart zu Mute, und was das heißt?: die Augenblicke ausdehnen, langsam, langsam, doch die meisten scheinen alle wegzuwollen und redeten dauernd von Veränderung.« (135) Die Anamnese der Gegenwart, gezeigt an ihren Symptomen, wiederholt sich in dem Versuch, einer sich ständig entziehenden Gegenwart durch Vervielfachung ihrer als krankhaft gebrandmarkten Beschleunigungsprodukte auf die Schliche zu kommen. Und weil Brinkmann behauptet, die Sprache reiche nicht aus, um alle Bereiche des Übels abzudecken, scheinen Fotos besser geeignet als Worte. Viele Seiten oder Doppelseiten bringen zu Bildcollagen ohne Worte verarbeitete Fotofolgen (vgl. 10–11, 28, 51, 56–57, 60–61, 63–66, 112–115, 122–125, 134, 139–140, 142, 147),
keine ohne Aktfoto. Die »Springende Flickermaschine« (105) ist der penetrant in regelmäßigen Abständen vorgeführte, vollständig sexualisierte Blick. Er führt zu einer weiteren Infektion, dem durch Blicke und Bilder ausgelösten »Wortausschlag« (105). Sie belegen zum einen das Projekt zu einem Fotoroman, zum andern aber die Grenze des beabsichtigten Vordringens in authentische Erfahrung. Das Dilemma, mit den Mitteln der Sprache und einer nach semantischen Prinzipien geordneten Bildermontage zu belegen, dass Sprache untauglich sei, die gebrandmarkten Probleme darzustellen, lässt nur zwei Wege offen. Entweder muss Brinkmann eine neue Ausdrucksart erfinden oder ganz verstummen. Was er längst hinter sich glaubt, das Deuten, Erklären, das Symbolisieren und Abstrahieren, kehrt exakt an der Stelle wieder, an der es angeblich nie vorkommen kann: auf den wortlosen Seiten. Der Übergang ins anscheinend Unmittelbare führt geradewegs in die Unentschiedenheit: »Ansichtskarten! Der Gedanken und tatsächliche« (RB, 418). Insofern der Autor durchweg der Realität gegenüber eine stark abweisende Haltung einnimmt, gibt es auch keine Grenze zum Ressentiment und es bleibt offen, ob die in der Collage geschaffene schlimme Wirklichkeit allen Lesern überzeugend entgegen tritt. Auch die Mehrfachverwertung einzelner Seiten in verschiedenen Werken (Sch, 30, 86, 88 finden sich auch in Erk, 35, 104, 25) kann eine gewisse Beliebigkeit in der Komposition der Materialien nicht widerlegen. Der entschwundene Augenblick ist jedenfalls nicht in der verwirrenden Verdoppelung seiner präsentierten Unsichtbarkeit eingeholt, sondern bestenfalls in seiner Unwiederbringlichkeit bestätigt.
31.6 Forschung Nach den Rezensionen in den Feuilletons begann die systematische Erforschung mit dem Beitrag von Lehmann zum Graphismus (1995). Ganz vom optischen Eindruck der Seiten ausgehend, konstatiert Lehmann in dem Verfahren eine »Steigerung der Graphe«, die mehr sein wolle als Collage, eben »Schriftform«, eine die Grenzen der Medien grundsätzlich überschreitende »neue Art von Text«. Brinkmann habe den Versuch gemacht, der mangelnden Körperlichkeit von Schriftzeichen zu entkommen, indem er die Materialität der Graphie ausstelle. Neben diese faszinierte und distanzlose Lektüre traten zunehmend kritischere Analysen. Besonders Greif entwickelt den Gedanken von
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der Schrift als Bild weiter, indem er ihn historisch situiert. Brinkmann gehe es um »die Erweiterung literarischer Ausdrucksmöglichkeiten« (Greif 2011, 162). Die hybriden Schrift-Bilder seien nicht mit der Behauptung Lehmanns vereinbar, Literatur besitze bildliche Qualitäten. Vielmehr liege eine »Inszenierung bildgestalterischer Ausdrucksmittel im Medium der Literatur« vor (Greif 2011, 166). Das Lesen werde gezielt an seine Grenzen gedrängt. Hilfreich scheint dabei der Begriff Piktographie. Der Text einer jeden Seite gruppiert sich variabel um einzelne Sehepunkte. Der verunsicherte Leser muss sich auf die Unbestimmtheit der Schrift-Bilder einlassen. Die volle bildästhetische Wirkung der Papiersorten, Kopien, Farbwerte, Abhebungen durch dickeres Papier, geht im Druck zwar fast verloren, dennoch versteht der Leser, dass die Piktographe den Text im Dienst des Bildgefüges perforieren (vgl. Greif 2011, 172). Die meisten Forschungsarbeiten gehen dagegen wie selbstverständlich von der Intermedialität aus. Seit 1997 (vgl. etwa Rasche 1997; Hermann 1999; Moll 2006; Schmitt 2012; Rümmele 2012) waren die Schnitte mehrfach Gegenstand von Dissertationen, wobei ihrem Autor großzügig prinzipielle Multimedialität bescheinigt wurde. Am überzeugendsten war bisher die Eingliederung der Bücher in die den Autor umgebende Medienlandschaft und ihre unterschiedlichen Codes (Rockmusik, Photographie, Film) durch Schmitt (2012). Auch sie betont die Entkoppelung von Verweiszusammenhängen sowie den Verlust der Orientierung beim automatisch nach Bedeutungen suchenden Auge des Lesers. An der Zersetzung des narrativen Sinnes hätten Bilder den größeren Anteil als die Texte. Der Rezipient könne die einzelnen Eindrücke nicht mehr bündeln und verliere die Kontrolle über die Seite (Schmitt 2012, 229 ff.). Mittlerweile dominieren Forschungen zur Medialität und Unmittelbarkeit. Sie untersuchen den Doppelcharakter des Mediums als Instrument und Potential, die Verkörperungen der Präsenz. Zier (2012) versucht, am Beispiel von Evidenzverfahren die Medienkonfigurationen auf ihre performativen Strategien hin zu durchleuchten. Ihn interessieren übergeordnete Bedeutungsgefüge und der bloße Anblick der Medialität. Die Evidenzverfahren sind grundsätzlich zwischen Medialität und Verweisstruktur angesiedelt. Insofern zehren die Objekte immer zugleich von der Verweisfähigkeit und der Abkehr von derartigen Illusionen. Am Ende bleibt dem Leser das Starren auf die blanke Materialität der Zeichen (vgl. Zier 2012, 241–271; Rümmele 2012).
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Jüngst hat Di Bella (2015) das Buch im Rahmen von Brinkmanns spätem Romanprojekt situiert. Seinen Roman in einzelnen Büchern habe der Autor im Oktober 1971 begonnen und in unsystematisch aufgeteilten Projekten entfaltet. Radikale Formsuche und das Begehren, sein ganzes Leben zu einem rein an der Gegenwart entlang geschriebenen Roman zu gestalten, führte zu dem ausufernden Unternehmen, welches der Autor nicht mehr in einer kohärenten Form, sondern nur noch in lose zusammenhängenden Werkstücken realisieren konnte (vgl. Di Bella 2015, 17 f.). Die nach 1970 entstandenen Bücher ergeben in der Sicht dieser Rekonstruktion den gesuchten zweiten Roman. Unter Roman habe Brinkmann keine bestimmte literarische Form mehr verstanden, sondern ein Schreiben, mit dem er das Schreiben transzendiere. In dieser spekulativen Perspektive, die einerseits von einer offenen Kunstform ausgeht, andererseits aber den Werkcharakter unterstellt, werden die konkrete Erscheinungsform der Schnitte und die Wahl der Genres in den späten Texten zum Teil einer übergreifenden Gesamterzählung. Die Erzählerstimme im Text erinnere an den postmodernen Roman (vgl. Di Bella 2015, 207). Gerade die Studie von Di Bella belegt, wie wichtig die Verständigung über das Problem der Lesbarkeit ist. Schon die Entscheidung zwischen Tippfehler oder funktionaler Fehlschreibung ist abhängig von der Annahme des Werkcharakters. Die ungewöhnlich formatierten Fließtexte und ihre Platzierung geben keinen verbindlichen Lektüreweg vor. Abgetrennte Worte, zu Torsi zerschlagene Wörter, in Kurzzeilen zerhackte Wörter, unkenntlich gemachte Diphthonge, entstellte Silben stören die Linearität des Leseflusses. Sie stellen den Leser vor elementare Fragen der Hermeneutik. Plath (2004) untersucht, wie sich die fortgesetzte Wahrnehmung in Bildern und Worten ohne narratives Ziel organisieren lässt. Zunächst stellt bereits das extensive Zitieren und Kopieren die Frage nach dem Unterschied von eigenem und fremdem Text. Das Problem der Fortsetzung, der Fortsetzbarkeit von Lektüre überhaupt, drängt sich auf. Und natürlich integrieren die Seiten auch Lektürehinweise. In die Bildseiten ist immer schon die Vorstellung eingeschrieben, man müsse mit allem ständig neu beginnen. Das Verfahren manifestiert den Arbeitsprozess wie seine Abhängigkeit von Sichtverhältnissen generell. Brinkmann spielt also mit den Konzepten Vollständigkeit und Abschließbarkeit (vgl. Plath 2004, 71– 73). Damit stellt sich nach Plath die zentrale Frage, ob man die als Loseblattsammlung überlieferten Seiten tatsächlich als einen, zu einem einzigen Kunstwerk or-
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ganisierten Text liest oder nicht vielmehr besser als willkürliche Folge von »Leseabbruchunternehmen« hinnimmt (Plath 2004, 75). Bliebe als Konsequenz dieser These von Plath lediglich der Bruch mit Konventionen, so beschäftigt Paul (2011) ein angrenzendes Problem, nämlich die Redundanzen. Tatsächlich variieren die Schnitte die immer gleichen Themen. Aber die graphische Präsentation stört die gängige Leserichtung nicht komplett. Und in der Tat ist jede Seite in sich geschlossen, auf der sich einzelne Details zu Ensembles fügen (vgl. Paul 2011, 203). Zufall und Spontaneität sind anders als beim Cut up hier gerade keine Kriterien. Wohl aber die Serie. Die Seiten bewegen sich innerhalb eines seriell wiederkehrenden Schemas, in dem der Leser Ähnlichkeiten, Unterschiede oder reine Wiederholungen bemerken kann. Das kann aber auch den Lektüreabbruch beschleunigen. Das gesamte Problem von Ordnung und Unordnung, Materialband oder Werk greift Bickenbach (2013) auf, allerdings unter der Frage nach dem Genre Album. In strukturaler Sicht sind Alben Mischwerke. Als Tagebuch und Notizheft gaben die Scrapbooks die Tendenz vor und Brinkmann setzt diese traditionelle »Magazin«-Funktion fort, in der auch alles Unbedeutende Platz findet (Bickenbach 2013, 112). Aber Brinkmann macht die Sprache selbst zum Material, zum Objekt der Collage und damit zum Sammelgegenstand. Müssen die Seiten also rein visuell genommen werden wie Bildtafeln oder verführen sie wie Fotoalben nur noch zum Ansehen und Durchblättern? Oder ist das Album bei Brinkmann lediglich ein »Möglichkeitsraum«, ein Ort bloß potentieller Sinnstiftung? Erst die konsequent geschichtliche Kontextualisierung und daraus abgeleitete Bewertung der ästhetischen Leistung im Vergleich mit anderen Scrapbooks, Alben, Künstlerbüchern oder Malerbüchern führt zur adäquaten literaturhistorischen Einordnung des Buches. Sie ist noch zu leisten. Die konsequent kritische, intertextuelle Lektüre aber kann die Qualität der Wirklichkeitsdarstellung genauer erklären und so die vorschnelle und für manchen Leser gewiss reizvolle Identifikation mit dem präsentierten alles ergreifenden Verfallszustand ergänzen oder zu ihr die nötige Distanz schaffen. Literatur
Bayer, Konrad: Das Gesamtwerk. Hg. von Gerhard Rühm. Reinbek bei Hamburg 1977. Burroughs, William. S.: Nova Express. Deutsch von Peter Behrens. Wiesbaden 1970. Bandel, Jan-Frederik/Annette Gilbert/Tania Prill (Hg.):
Unter dem Radar. Underground- und Selbstpublikationen 1965–1975. Leipzig 2017. Bickenbach, Matthias: Die Enden der Alben. Über Ordnung und Unordnung eines Mediums am Beispiel von Rolf Dieter Brinkmanns »Schnitte«. In: Anke Kramer/Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz. Göttingen 2013, 107–122. Dencker, Klaus Peter: Text – Bilder. Visuelle Poesie international. Von der Antike bis zur Gegenwart. Köln 1972. Di Bella, Roberto: »..das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums.« Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Fahrer, Sigrid: Cut – up. Eine literarische Medienguerilla. Würzburg 2009. Gerhardt, Ulrich: Tagebuch Schnitte. Von Rolf Dieter Brinkmann. Bayerischer Rundfunk 1995. Greif, Stefan: Schreiben gegen das »ptolemäische Weltbild«. Hybride Schrift-Bilder und Piktographie im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 157–174. Hellmold, Martin (Hg.): Malerbücher – Künstlerbücher. Die Vielseitigkeit eines Mediums in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Bremen 2002. Herrmann, Karsten: Bewußtseinserkundungen im »Angstund Todesuniversum«. Rolf Dieter Brinkmanns Collagebücher. Bielefeld 1999. Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 182–197. Linck, Dirck/Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre. Hannover 2006. Moll, Andreas: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk. Frankfurt a. M. 2006. Paul, Morten: Redundante Wiederholungen, wiederholte Redundanzen. Ein Lektürevorschlag zu Rolf Dieter Brinkmanns »Schnitte«. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 193–211. Plath, Nils: Zur »Fortsetzung, Fortsetzung, Fortsetzung, Fortsetzung«. Rolf Dieter Brinkmanns »Schnitte« zitieren. In: Gisela Fehrmann (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Köln 2004, 66–85. Rasche, Hermann: Text and Images in Rolf Dieter Brinkmann’s »Schnitte«. In: Jeff Morrison/Florian Krobb (Hg.): Text into Image. Image into Text. Amsterdam 1997, 241– 247. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop – Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Schönborn, Sibylle: Bilder einer Neuropoetik. Rolf Dieter Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der »Schnitte« und »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand Reise Zeit Magazin (Tage-
31 Schnitte (1988) buch). In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 213– 228. Strauch, Michael: Rolf Dieter Brinkmann. Studie zur Text – Bild – Montagetechnik. Tübingen 1998. Theweleit, Klaus: Widersprüche gibt es nur in der Sprache.
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In: Karl-Eckhard Carius (Hg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz. München 2008, 66–81. Zier, Tobias: Literarische Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte. Evidenzverfahren in den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmanns. Bonn 2012.
Markus Fauser
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32 RANDOM NOTES / free from it Mit »RANDOM NOTES / free from it« ist ein bisher weitgehend unveröffentlichtes Projekt Brinkmanns betitelt. In der editorischen Notiz zu seinem späten Materialband Erkundungen berichtet Maleen Brinkmann: »1972 begann Rolf Dieter Brinkmann, unter gleichem thematischen Ansatz [wie die Erkundungen], drei weitere Tagebuch-Hefte, die er nicht mehr ausführen konnte: 5.3.1972 bis 20.6.1972 ›RANDOM NOTES – free from it‹ / 15.5.1972 bis 25.5.1972 Ein thematischer Fotoband, Reise von Köln nach Norddeutschland, mit Fremdtexten und eigene Entwürfen, ohne Titelangabe / 6.6.1972 bis 1.8.1972 ›Sommer 1972‹« (Erk, [412]). Damit ist die Entstehungszeit während der Arbeit an den Erkundungen (1971– 1973) und vor dem Schreiben des Materialbands Rom, Blicke (1972–1973) zu datieren. In welcher Form »RANDOM NOTES« existiert, welchen Umfang die Arbeit hat, welcher Status ihr innerhalb von Brinkmanns Gesamtwerk zukommt und wie die Collage zu analysieren ist, kann zum momentanen Zeitpunkt nicht befriedigend beurteilt werden (vgl. Steinaecker 2007, v. a. 124–215). Bisher wurden davon lediglich 1995 zwei bzw. drei Seiten im Literaturmagazin 36 veröffentlicht, herausgegeben von Maleen Brinkmann im Rowohlt-Verlag. Ihre editorische Notiz merkt dazu an: »Nach dem Erscheinen seines Gedichtbands ›Gras‹ (1970) zog sich Rolf Dieter Brinkmann aus der Veröffentlichungstätigkeit zurück und arbeitete an Tagebuch-, Presse- und Materialbänden, die er als Quelle für einen geplanten Roman und andere Texte verstand. Darin verarbeitete und collagierte er ebenso Postkarten und Briefe von Freunden wie auch eigene Texte, Lektüre und Fotos (die ihn zu einem Fotoromanprojekt anregten). Aus dem unveröffentlichten Tagebuchband ›RANDOM NOTES / free from it‹ (1972) folgt eine Textseite mit Bild-TextMontage (vgl. w. o. 75) nach W. S. Burroughs ›cutup‹-Technik, die sich Brinkmann in den Materialbänden mehr und mehr erarbeitete, die Bearbeitung von Postkarten des Malers Henning John von Freyend« (Brinkmann 1995, 217 f.). Aus dem anschließenden Abbildungsverzeichnis geht hervor, dass auch zur Umschlaggestaltung eine montierte Fotoserie aus eben diesem unveröffentlichten Materialband diente, aber ganz offensichtlich dem Erscheinungsbild des Literaturmagazins angepasst wurde, und dass es sich bei den beiden im Buch abgedruckten Einzelseiten möglicherweise um zwei aufeinanderfolgende handelt (vgl. Brinkmann 1995, 220). Die entsprechende
Angabe könnte sich aber auch auf den Abdruck im Literaturmagazin beziehen. Bei den bislang publizierten Seiten fallen zahlreiche Ähnlichkeiten zu Brinkmanns anderen, posthum publizierten Materialbänden auf: Die Mischung von Text und Bild, eigener und fremder Produkte (selbst angefertigte Fotografien, Postkarten, Kopien; persönliche Tagebucheinträge, Texte von empfangenen Postkarten; s. Kap. 11.1), die Gestaltung der Fotofolge (vgl. v. a. Rom, Blicke), die Verwendung von Farbfotografie (vgl. Schnitte), Schreibmaschinenschrift (vgl. Erkundungen) und die Technik der Montage bzw. Collage und des Cut-ups (s. Kap. 11.2). Die Titelseite des Literaturmagazins verwendet zur Gestaltung sechs gleich große, je zwei neben- und drei untereinander angeordnete, Farbfotografien auf weißem Grund, welche als Bildkomplex unter die beiden Überschriften des Heftes »Rowohlt | LiteraturMagazin 36 | Rolf Dieter | Brinkmann« gesetzt sind. Thematisch zeigen die Aufnahmen Szenen des Stoppelmarkts in Vechta. Die Gegenstände sind stark angeschnitten, wie zufällig ins Bild gesetzt und teilweise unscharf. Durch die einheitliche Thematik und Ästhetik, insbesondere die Farbharmonie und die wie eine Rahmung wirkende Grundierung entsteht ein enger Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern und der Eindruck eines Rundgangs auf dieser Kirmes. Er beginnt links oben und endet rechts unten mit der fotographischen Darstellung zweier Ausschnitte gemalter Szenen, die sich offenbar auf Schausteller-Wagen befinden. Diese comichafte Rahmung begünstigt den Eindruck einer vorgegebenen ›Erzählrichtung‹. Auch wird eine starke Verbindung dadurch geknüpft, dass jede der Fotografien Schrift abbildet. Die Motive und ihre Gestaltung, in ihrer performativen Funktion als Coverteile jenes Literaturmagazins, das dem Andenken Brinkmanns gewidmet ist (Brinkmann 1995, 216), lassen sich auch auf den Inhalt des Bandes beziehen. Unterstützt durch die visuelle Präsenz Brinkmanns, der sich auf einer der Fotografien selbst, seine Schlagkraft prüfend, ins Bild setzt und seinen Blick auf den Rezipienten richtet, scheint er persönlich einzuladen in die »ramponierte Schaubude der Gegenwart« (Ww, 314). Bei den beiden Seiten im Inneren des Bandes fällt zunächst eine enge Verbindung der beiden Komponenten Text und Bild auf. Auf dem ersten Bogen füllt im oberen Drittel eine Schwarz-Weiß-Fotografie die komplette Seitenbreite aus. Dargestellt sind zwei Bikini-Schönheiten, welche am Strand posieren. Im Hintergrund sind männliche Personen in Badeklei-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_32
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dung zu sehen. Bei dieser Abbildung handelt es sich um einen Beitrag zur, von Brinkmann im darunter befindlichen Schreibmaschinentext auch erwähnten, 2. Weltausstellung der Fotografie zum Thema ›Die Frau‹ (vgl. Pawek 1968: dargestellt sind Gäste von Gunther Sachs in St. Tropez). In Abgrenzung zu dieser Art Fotografie konkretisiert Brinkmann seinen künstlerischen Standpunkt im beistehenden Text (s. Kap. 12): »das Aussehen auf dem oberen Bild total geschäftsmäßig, jede Andeutung von Sinnlichkeit verschwunden/so ergeht es mir auch immer bei künstlerischen Fotos, die Körper dienen zur Demonstration des Fotografen,wie gut er mit der Optik umgehen kann,aber eine Annäherung an den Körper,an Sinnlichkeit fehlt« (Random Notes, 75). Die anderen drei Abbildungen, welche ebenfalls aus besagtem Katalog stammen, vermitteln spontanere, bewegtere und zufälliger erscheinende Momente. Nicht nur ästhetisch, auch thematisch unterscheiden sie sich stark. So zeigen sie nicht die Reichen und Schönen, sondern, wie der Bildband dieses Kapitel betitelt, »die Schlechten« (Pawek 1968, Inhaltsverzeichnis). Die vergleichsweise unrepräsentative und provokante Art, die Szenen ins Bild zu setzten, hat ihr Pendant in den gewählten Objekten; so zeigt zum Beispiel die unterste Fotografie offenbar, wie ein Freier mit einer Prosituierten um den Preis feilscht (vgl. Pawek 1968, Anmerkungen zu den Fotos). Diese Ästhetik, welche an Snap-Shots oder Filmstills erinnert, ebenso wie das Moment der Provokation, kann auch mit Brinkmanns eigenen Aufnahmen in Verbindung gebracht werden. Der auf kariertem Papier abgetippte, optisch in drei Blöcke unterteilte Schreibmaschinentext vermittelt durch die hochfrequentierte Abfolge einzelner Momente Spontaneität und Dynamik: »schwammig gegen 1 auf/ohne Ziel Mangel an Antrieben/Gefühl der Aussichtlosigkeit dazu Geldprobleme,sind total pleite/Gedanke,beim Kaufhof Geld zu leihen/treffe M. unter auf der Straße« (Random Notes, 75). Einzelne Gedanken und Eindrücke sind fragmentiert, Wörter durch den Zeilenumbruch teilweise auseinandergerissen (»Texaco-Tankstel | le«, »Wä | nden« [Random Notes, 75]), die gedanklichen Schnitte sind stellenweise zusätzlich typographisch durch Schrägstriche visualisiert (s. Zitat oben und vgl. Lehmann 1995). Die folgende Seite montiert verschiedene Postkarten, die Brinkmann von dem Künstler und Freund Henning John von Freyend (vgl. auch Brinkmann/von Freyend 1995 und von Freyend 1995) erhalten hatte. Zwei Drittel des Blattes nehmen die montierten Moti-
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ve verschiedener Außen- und Innenansichten von Pensionen und Gaststätten ein, die linke Längsspalte collagiert in Cut-Up Technik den Text der Rückseiten der Postkarten. Daraus resultieren zufällige Anordnungen von Wort- oder Bildkomplexen, die einen neuen Sinn (oder Nicht-Sinn) ergeben (s. Kap. 11.2). Es entsteht der Eindruck von ›Random Notes‹. Auch hier sind getätigte Schnitte teilweise graphisch wiedergegeben. Damit übernimmt der Text die innovative, kreative und dynamische Komponente, während die Postkarten (auch in ihrer spezifisch collagierten Anordnung) Brinkmanns eigene Wahrnehmung bestätigen: »[I]ch habe den Eindruck einer unmenschliche Öde daraus erhalten [...]. (Und wenn ich genauer hinsehe und mir das klar mache, steckt in der Leere oder man könnte ja auch viel besser sagen: in der verstopften Fülle ein Grauen [...])« (Brief Brinkmanns an von Freyend, 19.9.1972, Literaturmagazin 35, 77). Die Postkarte steht damit im Gegensatz zum Text und generell zu Brinkmanns angestrebter Inszenierung des Bildes; sie nimmt so Bezug zur kommentierten Fotografie der vorhergehenden Seite, da auf ihr »die gesellschaftliche Norm zu symbolischen Bildern gerinnt« (Späth 1989, 108; s. Kap. 12). Die Text-Bild-Kombinationen aus »RANDOM NOTES« weisen eine enge Verbindung ihrer intermedialen Komponenten auf: Die erste Seite nimmt im Text konkret Bezug auf eine der Abbildungen, um eine Ästhetik der Sinnlichkeit zu beschreiben, die Rückseite der Teilveröffentlichung knüpft die Bande durch die Abbildung bzw. Abschrift und Kompilation beider Seiten der Postkarten. Ob diese Feststellung generell für den Materialband gilt, lässt sich erst bei einer vollständigen Publikation des Werks sagen. Literatur
Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen. Reinbek bei Hamburg 1987, 411–413. Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Dies. (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 216–219. Brinkmann, Maleen: Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995. Brinkmann, Rolf Dieter/Henning John von Freyend: Briefwechsel mit Henning John von Freyend. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 77–82. Freyend, Henning John von: Schattenbild. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 214–215. Lehmann, Hans-Thies: SCHRIFT/BILD/SCHNITT. Graphismus und die Erkundung der Sprachgrenzen bei Rolf Dieter Brinkmann. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Litera-
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VI Prosa – C Tagebücher, Materialhefte, Collagen
turmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 182–197. Pawek, Karl: Die Frau: 2. Weltausstellung der Photographie: 522 Photos aus 85 Ländern von 236 Photographen. Hamburg 1968.
Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte: zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007.
Stephanie Schmitt
D Briefe 33 Briefe an Hartmut Unter dem Titel Briefe an Hartmut wurden 1999 von Maleen Brinkmann Briefe Brinkmanns herausgegeben (»Editorische Notiz«, 282–285), die zwischen dem 3.6.1974 (2. Pfingsttag) und dem 29./30.3.1975 (Osternacht) entstanden und an den Germanisten und Übersetzer Hartmut Schnell gerichtet waren. Dieser war damals Student, Brinkmann hatte ihn während seines Aufenthalts in Austin, Texas, im Jahr 1974 kennengelernt. Die Präsentation der gedruckten Briefe entspricht mit allen Tippfehlern und Eigenheiten der Schreibweise weitgehend dem Originaltyposkript, wobei sie das Originalmaterial allerdings nicht abbilden, sondern nur im Neusatz simuliert. Die in deutscher und englischer Sprache verfasste Sammlung enthält zehn, oftmals sehr umfangreiche Briefe Brinkmanns und einen posthum entstandenen, fiktiven Brief Schnells an Brinkmann vom 22.8.1998. Eingefügt sind zehn Schwarzweißfotografien, die Brinkmann aufgenommen hat, und ein Foto der beiden Korrespondenten vor Fort Alamo in San Antonio, Texas, das auf einem gemeinsamen Ausflug entstand (vgl. Literaturmagazin 36, 123). Vor dem Erscheinen der Briefe an Hartmut wurden bereits einzelne Briefe u. a. im Literaturmagazin 36 mit einer Einführung von Hartmut Schnell veröffentlicht (vgl. Geduldig/ Wehebrink 1997, Nr. 515, 520 und Literaturmagazin 36, 124–144). Die Briefe wurden nicht selten als Quelle für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Brinkmanns Werken rezipiert, da sie detaillierte Selbstkommentare zu seinem lyrischen Werk und darüber hinaus zahlreiche Äußerungen zur zeitgenössischen deutschen und amerikanischen Literatur und zur deutschen Literaturgeschichte (Expressionismus, Nachkriegsliteratur) enthalten. Der umfangreiche Einblick in die Autorpoetik, die Selbstdeutungen und Entstehungshintergründe vornehmlich der Lyrik hat die Forschung seit dem Erscheinen der Briefe an Hartmut 1999 stark beeinflusst (vgl. u. a. Röhnert/Geduldig 2012); viele Interpretationen der jüngeren
Brinkmann-Forschung gehen deshalb von den Selbstkommentaren Brinkmanns aus und folgen quasi seinem Credo, das »Primäre« seien »die Aussagen der Dichter« (121). Beinahe keine neuere Forschungsarbeit kommt ohne einen Verweis auf die Briefe aus (vgl. Uthoff, 2011; Schmitt 2012; Kobold 2014); sie sind gar als »die Gründungsurkunde der BrinkmannPhilologie« bezeichnet worden (N. N., FAZ 1999). Der autornahe Zeugnischarakter birgt natürlich die Gefahr eines Zirkelschlusses, einer bloßen Referenzrahmenbestätigung und zudem einer kontextlosen Kanonisierung einzelner autopoetischer Äußerungen. Da der Briefwechsel bisher nahezu ausschließlich als poetologischer und biographischer Steinbruch genutzt wurde, liegt keine eigenständige Forschung zu den Briefen vor; auch Kagel rekonstruiert primär die privaten Kontexte (vgl. Kagel 2001). Dagegen sind sie im Kontext von Brinkmanns spätem Prosawerk durchaus als Teil der literarischen Produktion zu begreifen, da Brinkmann die Briefform bereits in Rom, Blicke als Vorarbeit und Materialsammlung zu seinem nicht mehr ausgeführten letzten Romanprojekt nutzen wollte. Darauf deutet auch die Archivierung der Briefdurchschläge in einem eigens angelegten und mit dem Titel »BRIEFE AN HARTMUT« versehenen »Schnellhefter« (284) hin. In diesem Sinne könnte man das Briefkonvolut als Teil des Werks und damit als literarisches Zeugnis auch in seiner spezifischen Poetizität lesen. Dies wird durch die Form der Briefe gestützt, die – wie in Rom, Blicke – häufig als lange, sich über mehrere Tage erstreckende Erzählungen wie ein ›Fortsetzungsroman‹ entstehen. Die meisten der Briefe setzen mehrfach an, zumeist erstreckt sich das Schreiben über mehrere Tage, deshalb wechseln auch die Blickwinkel und Thematiken oft abrupt. Ein konstitutives Merkmal der Briefe bilden die Unterbrechungen, die die Schreibsituation neu perspektivieren, z. B. das Leben der Familie, die Sorge um Robert oder Störungen durch Lärm. Zudem zeigt sich Brinkmann mit seinen Werkkommentaren, Selbstauslegungen und poetologischen Aussagen als Meister der Selbstinszenierung,
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_33
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VI Prosa – D Briefe
der die Rezeption seines Werks maßgeblich steuern möchte. Darüber hinaus sind die Briefe als Beispiel für die Kommunikation zwischen dem Autor und seinem Übersetzer bedeutsam, die an den Briefwechsel zwischen Brinkmann und Padgett anschließen und damit im Kontext ähnlicher Korrespondenzen wie z. B. die zwischen Georges Perec und Eugen Helmlé als Zeugnisse für die Geschichte der literarischen Translation stehen (vgl. z. B. 259–262, s. Kap. 35–40). Inhaltlich bilden die Briefe eine kontinuierliche Reihe von Momentaufnahmen aus Brinkmanns Leben und Denken, die nicht allein als komplexe Antworten auf die Fragen des Studenten entworfen sind. Brinkmann nutzt sie vielmehr zu umfangreichen Selbstreflexionen und Klärungsprozessen.
33.1 Brief und Briefsammlung Da der Brief trotz seiner programmatischen Regellosigkeit poetischen bzw. rhetorischen Gesetzen unterworfen ist, weist er neben seiner reinen Gebrauchsund d. h. Mitteilungsfunktion stets auch eine poetische auf. Briefe sind – zumindest bei ihm – grundsätzlich immer auch literarische Artefakte mit fiktionalen Anteilen (vgl. Strobel 2006; Bohnenkamp/Wiethölter 2008; Vellusig 2018). Dazu differenziert der Brief verschiedene Formen aus, ist z. B. als subjektive Ideenwerkstatt dem Essay verwandt (vgl. Chandos-Brief) oder folgt als abgeschlossene Erzählung narrativen Mustern der Novelle oder Anekdote. Beide Formen des essayistischen und erzählenden Briefs wie z. B. von einem Nachmittag in Köln im Drogenrausch (97–103) mischt Brinkmann in seinen Briefen an Hartmut. Sie stehen zudem in der Tradition der literarisch-poetologischen, selbstreflexiven Dichterbriefe. Daher müssen Brinkmanns Briefe auch als nach gattungspoetischen Konventionen komponierte Texte mit eigenem Literarizitätsanspruch gelesen werden. Als ein Beispiel kann der lange zwischen Sonntag, dem 7.6.1974 und dem 26.6.1974 (29–82) entstandene Brief gelten, bei dem – eingebettet in die Erzählung des häuslichen Alltags, angefangen vom nachmittäglichen Sex bis zur Beschreibung des einfachen Abendmahls mit dem Sohn – im Zentrum eine detaillierte Werkbiographie mit dezidierten Kommentaren einzelner Gedichte, eine über mehrere Seiten verstreute Anekdote über eine explodierende Streichholzschachtel auf dem Rückflug von Chicago nach London (vielleicht eine Anspielung auf Ben Vautiers Total Art Match-Box, 1965) neben ausgedehnten poetologischen Überlegungen stehen. Als
Briefbeilage enthält die Sendung zwei während der Entstehungszeit des Briefs verfasste Gedichte, die Brinkmann dem Briefpartner als persönliche Gabe expediert. Weitere Briefbeigaben stellen neben Gedichten eine Reihe von privaten Fotografien dar. Schnell revanchiert sich in seinen Briefen mit Fotos, einem eingelegten Geldschein (143) oder Marihuana (97). Die meisten Briefe stellen trotz ihrer inhaltlichen und formalen Heterogenität weitgehend geschlossene Kompositionen dar, die nicht selten Versatzstücke einer Ars dictandi enthalten. Als Vorbild für die Briefe an Hartmut können Rilkes Briefe an einen jungen Dichter (und ähnliche Briefe von Christoph Martin Wieland, Hermann Hesse, Virginia Woolf oder später Mario Vargas Llosa) gelten, die Brinkmann eine Plattform für die Entfaltung des eigenen aktuellen Kunstverständnisses und Möglichkeiten der Vermittlung an einen jugendlichen Adepten unter didaktischer Perspektive bieten. Die Konstellation alter/junger Dichter wird bei Brinkmanns Briefen an Hartmut zusätzlich durch ein ehemals institutionalisiertes Lehrer/Schüler-Verhältnis überblendet. Als Briefsammlung weisen sie darüber hinaus weit über die europäische Kulturgeschichte bis in die Antike zurück, aus der das literarische Format der Briefsammlung von epistolaren Zeugnissen berühmter Männer (Horaz, Ovid, Seneca, Cicero) an historisch verbürgte oder fiktive Briefpartner überliefert ist. Ein Merkmal dieser monologischen Briefsammlungen besteht darin, dass die Adressaten der Briefe selbst nicht zu Wort kommen, während die Schreiber den Brief als work in progress zur Entwicklung ihres Denkens, ihrer philosophischen, künstlerischen und politischen Ideen und Systeme, nutzen. Brinkmanns Briefe an Hartmut ordnen sich mit ihrer projektierten – allerdings vom Autor selbst nicht mehr als Buch realisierten – Gestalt in diese Reihe kanonischer Briefsammlungen ein, indem sie den Brief als Transportmedium und Vermittlungsinstrument eigener Vorstellungen von Kunsttheorien bis zu Welterklärungsmodellen an einen stummen, imaginierten und stellvertretend für einen erweiterbaren Leserkreis gedachten Idealpartner verwenden, den sie in dieser hierarchischen Kommunikationssituation zum formbaren Aufnahmeobjekt ihrer Ideen machen. Der Adressat der Briefsammlung wird hier zum bloßen Stichwortgeber für den Verfasser, den er mit seinen nicht überlieferten Äußerungen und Fragen zu weiteren Ausführungen und der Eröffnung neuer Diskurse veranlasst. Er ist der unsichtbare Motor, der das Briefeschreiben in Gang hält und auf den hin der Schreiber
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seine Ideen und sich selbst entwirft. Insofern erinnern die durchaus kunstvoll und rhetorisch pointiert gestalteten Briefe an Hartmut auch an die einseitigen, an einen Offizier gerichteten Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–65) von Lessing, Mendelssohn und Nicolai. Nicht nur die Tatsache, dass hier nur einer der Korrespondenten zu Wort kommt, lassen die Briefsammlung zu einem poetisch überformten Monolog eines Dichters werden, sondern auch die Anrede des Briefpartners mit seinem Vornamen machen aus dem Adressaten Hartmut Schnell die Kunstfigur des gelehrigen Schülers ähnlich wie in Rilkes Briefen an den ungenannten Adressaten Franz Xaver Kappus. Dessen Zitate haben selbst in der Popularkultur ihre deutlichen Spuren hinterlassen (Whoopie Goldberg, Lady Gaga, Dennis Hopper, Dustin Hoffmann; vgl. Martus 2019). Die Figur des mit pädagogischem Eros adressierten Schülers, dem sich der Briefschreiber zuwendet, hat aber auch ein antikes Vorbild in den Dialogen Platons, wo die Kunstfigur Sokrates als Lehrer unterschiedlicher Schüler auftritt. Der Adressat ist bei Brinkmann wie bei Platon nur eingeschränkt kongenialer Diskussionspartner oder gar Kontrahent wie im Falle des Briefwechsels mit Piwitt, sondern eine Projektionsfläche für den Schreiber, auf der er dem Jüngeren die Welt, die Literatur und sich selbst erklärt. Der Autor spricht hier als Vermittler, Kommentator und erster Leser seiner eigenen Texte, und nimmt als Autorität in einem doppelten Sinne, als erster und herausragender Kenner seines Werks und älterer Freund, eine belehrende Haltung gegenüber dem jüngeren Korrespondenzpartner ein. Damit lenkt er nicht nur ganz bewusst die Rezeption des Briefpartners, sondern auch alle folgende und schreibt so Deutungshorizonte autoritativ fest, die als verbalisierte Autorintention ihre Legitimität behaupten. Der junge Hartmut Schnell stellt für Brinkmann in diesem Zusammenhang einen idealen Dialogpartner dar, den er in seinem Sinne an seinem eigenen Werk (aus)bilden, an sein Lyrikverständnis und seine Weltsicht heranführen und zum privilegierten Leser machen kann.
33.2 Poetik und Poetisches Dem komplementären und in Zügen ›autoritären‹ Lehrer/Schüler-Verhältnis scheinen Brinkmanns Vorbehalte gegenüber festgeschriebenen Schreib- und Lektürezugängen zu widersprechen: »Ich finde«, notiert er für Hartmut, »wenn ein Gedicht gut ist, dann ist es gut und braucht keine Theorie« (41, s. Kap. 15.1).
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Er selbst habe kein »feststehendes theoretisches Programm und 1 Schema für meine Gedichte« (124). »Beim Schreiben eines Gedichts überlasse« er »viel dem momentanen Zufall, sowohl hinsichtlich des Inhalts wie der Form« (125). Trotz der hier postulierten Phobie gegenüber poetologischen Festlegungen können die Briefe an Hartmut aber als eine Art assoziative, fragmentarische Poetik gelesen werden, die über die unmittelbare Adresse an seinen akademischen Schüler hinaus einen gewichtigen Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs über Lyrik liefern will. Die Briefe formulieren dementsprechend ästhetische Positionen, reflektieren über Literaturvorstellungen und präsentieren einige relevante poetologische Positionen des Autors. Brinkmann propagiert – vornehmlich in Bezug auf seine Gedichte – eine Poetik des offenen Kunstwerks, das die Leser/innen im Rezeptionsprozess zu kreativen Mit- und Neuschöpfer/innen macht. Dazu formuliert er eine bewusst gegen artifizielle Formanstrengungen gerichtete ›antiautoritäre‹ Schreibweise (vgl. 57, 71, 140, 264), die aus der Bewegung, dem »Gehen« durch Umwelt, Sprache und Bewusstsein (50, vgl. Di Bella 2015, 302–308) entsteht und mit der »sehr präzise Momentaufnahmen« (72) festgehalten werden sollen – »ohne Rücksicht auf Kunst (Literatur) Form« (50). Dadurch werde der poetische Text aber keineswegs »formlos« (ebd.), sondern orientiere sich an »Vorstellungen, Bilder[n] (fixierten Zusammenhängen)« (ebd.). Poetische Formen entstünden dabei eher en passant (vgl. 141). Seine Gedichte seien aber keine »elitären Kunstprodukte« (128); er charakterisiert sie mit Begriffen wie »Erlebnisgedicht! Erzählgedichte! Bewußtseinsgedichte, Und keine lyrischen!« (49). Der von den Amerikanern O’Hara, Padgett, Burroughs, Blackburn und Ezra Pound übernommene »Typus des offenen Gedichts (mit vielen Leerzeilen und Leerstellen [...])« (263) setzt bewusst auf Ausgestaltungsspielräume beim Rezipienten, der ermächtigt wird, die Leerstellen der Texte produktiv und kreativ zu ergänzen. Eine Nähe dieser Ideen zur zeitgenössischen Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers (Iser 1971) ist unübersehbar. Der »Fragment«-Begriff (263), den Brinkmann hier und in einigen seiner Gedichte variiert (Fragment zu einigen populären Songs, Literaturmagazin 3, 105– 122 und vgl. 186–207, Bruchstück, Ww, 146, 196, 210) schließt offenbar an romantische Konzepte an (Friedrich Schlegels Athenäums-Fragmente). Zudem verweist Brinkmann in vielen Einzelkommentaren zu seinen Gedichten auf den hohen Grad an Intertextualität und -medialität seiner Lyrik und bekennt, dass seine Gedichte zunächst von optischen Wahrnehmungen,
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Bildern, Filmen und dann von Musik, Jazz und Rock geprägt seien, die auch auf die Schreibverfahren Einfluss gehabt hätten. »Mir fehlt bloß, daß ich Gitarre spielen kann« (68), schreibt er analog zur Vorbemerkung im Westwärts-Band (vgl. Ww, 8). Der Briefwechsel wird auch zu einem Ort literarischer Publikation. So enthalten die Briefe neben zwei Gedichten, die im Umfeld des Westwärts-Bandes entstehen, zwei weitere Gedichte, die im Zusammenhang einzelner Briefe ihren Platz haben und den Dialog mit dem Briefpartner in der Lyrik fortsetzen (CountryBlues, 166–168, Erinnerungen, 215) sowie ein Hartmut Schnell gewidmetes Gedicht unter dem Titel Für Hartmut ’n Gedicht (162–164), das in der Bibliothek des Amerika-Hauses in Köln anlässlich der Lektüre der Zeitschrift ETC. A Review of General Semantics geschrieben wurde. Es besteht aus einer Reflexion über Lyrik und Kommunikation, verfasst in westdeutscher Umgangssprache, die in ein Zitat aus der Zeitschrift einmündet (vgl. 164). Country-Blues demonstriert, wie ein Gedicht aus Assoziationen und Reflexionen entsteht. Aus dem amerikanischen »Country-Blues« wird schließlich eine Erinnerung an eine Kindheit in Norddeutschland, die assoziativ Bilder von Naturzerstörung, Kriegsruinen, sozialer Verelendung und kapitalistischer Wirtschaft als deutsche Variante des »Country-Blues« (168) zusammenträgt. Das Gedicht Erinnerungen (215) schließt einen Briefteil ab und illustriert die vorher geschilderte Wahrnehmung des unmittelbaren Kölner Lebensumfelds als Zustand fortschreitender sozialer Verwahrlosung, indem es mit dem Zitat einer Erinnerung an einen alltäglichen Augenblick kurz vor Arbeitsbeginn einer Volksschullehrerin in der »Brüsseler Str. 34« (ebd.) in Köln über die Funktion von Erinnerung reflektiert.
33.3 Werkpolitik Mit seinen Briefen an Hartmut versucht Brinkmann in die Rezeption von Autor und Werk einzugreifen und diese maßgeblich zu steuern. Mit Steffen Martus kann man die Briefe daher als Form der aktiven »Werkpolitik« verstehen und den Masterinterpreten Brinkmann als »Virtuosen der Visibilisierung und Invisibilisierung« (Martus 2007, 11). So ist ihm wichtig, ob und wann er »Publizität« (121) hatte und wann nicht. Aber auch in diesem Fall behauptet er seine Werkherrschaft: Seine Publizität sei »jetzt vorbei«, weil er »nichts mehr veröffentlicht« habe (ebd.) und nicht, weil er nicht mehr gefragt sei. Seine Werkübersicht, Selbstkom-
mentare, Lektüren eigener Texte und seine Selbstinszenierung als Dichter unterscheiden sich kaum von vermeintlich überkommenen Strategien, mit denen Dichterautoritäten seit Goethes Dichtung und Wahrheit versuchen, sich im aktuellen kulturellen Feld zu positionieren und sich für die Nachwelt in ›ihrer‹ Epoche zu verorten. Relativ früh empfiehlt Brinkmann »den ›Dichter‹« – er meint sich selbst – zu charakterisieren, seine »Art des Schreibens« hervorzuheben und »den ›historischen‹ Hintergrund« zu entfalten. Ausdrücklich beharrt er etwa darauf, »die Stellung des Buches innerhalb des vorliegenden ›Werkes‹ allgemein« zu erfassen (37). Zwar räumt er ein, letztlich bleibe es Hartmut Schnell überlassen, was er für seinen Einleitungsessay verwende (vgl. ebd.), doch die Art und Weise der Selbstäußerungen lassen keinen Zweifel an der anvisierten Werkherrschaft. So verweist er – sich auf Autoritäten berufend – schon sehr früh auf einschlägige Forschungsliteratur zu seinem Werk (etwa 43), erhaltene Preise (ebd. und 111), den Eintrag in Kindlers Literaturlexikon (»da ist sogarn Foto von mir drin«, 139), Grundsätzliches zum Autorverständnis (»Und womit beschäftigen sich Dichter?«, 87) und hält sich auch mit lobenden Worten über seine eigenen Texte nicht zurück (»ein einfach schönes Gedicht«, 70). Hartmut Schnell solle »ein genaues informatives Bild von dem Autor geben« (117), zu dem er selbst das Material liefere. Er verlangt sogar mehrfach die Einarbeitung seiner eigenen poetologischen Paratexte im Wortlaut, um den »Verständnishintergrund« zu »verdeutlichen« (vgl. 139 f.), und legt schließlich eine Liste darüber an, was Schnell in seinem Einleitungsessay über Brinkmann schreiben solle (»Einstellung des Autors«, »Aussagen des Autors« usw., 146 f.). Auch auf Formulierungen aus den Briefen selbst soll Schnell zurückgreifen (vgl. 140, 144). Die assoziative Präsentation des Materials, die vielen Digressionen und eingewobenen Einfälle sowie die eingestreuten poetischen Beispiele und lokalen Beschreibungen dienen in nicht geringem Maße dazu, ein Dichtermodell zu präsentieren, dass sich vom pragmatisch orientierten und erfolgreichen Berufsautor genauso absetzt wie vom poeta doctus. Brinkmann zeigt sich als inspirativ (wie ein vates), unkonventionell, unabhängig und – wie der arme Poet Spitzwegs – wenig am ökonomischen Erfolg, sondern an der neuen Qualität des Geschriebenen und poetisch Vermittelten interessiert. Zur Selbstpositionierung im kulturellen Feld gehören bei Brinkmann stets deutliche Abgrenzungen zu anderen Literaturen; sie können grundsätzlich formuliert werden, auch wenn es sich
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um wohlmeinende Zuordnungen dritter handelt: »Das alles hat mit ›neuem Realismus‹ usw. oder mit Pop oder postmoderne eigentlich nichts zu tun« (127). Oder sie können an die eigene poetologische Sozialisation angebunden sein: So behauptet er einen »Bruch mit der offiziellen Literaturszene der BRD seit 1970« (111) und »seit 1970:« gar eine generelle »Abkehr von Literatur« (116). Sehr strikt fällt – mindestens seit Brinkmanns Beteiligung an der Fiedler-Debatte (s. Kap. 15.2) – stets die Absetzung von der etablierten und bei Kritikern erfolgreichen Literatur in der Bundesrepublik aus: »Den westdeutschen Literaturbetrieb mag ich nicht, dieses Dealen mit Sprache und Theorien usw.« (129, vgl. 125, 116). Der akademisch und ökonomisch ausgerichteten Kultur (»Geschäft«, 129) stellt er das symbolische Kapital des Neuen, Unverbrauchten, Ungeregelten gegenüber. Auf diese Weise positioniert Brinkmann sich als »Einzelgänger« (121, 125, 138) und »Außenseiter« (125), als solitäre Ausnahmeerscheinung, die sich keiner »Richtung« (124) oder »keiner Gruppe zuordnen läßt« (138) – weder dem »Berliner Klan« mit »Delius, Born, Buch, Piwitt, Karsunke« noch dem »Wiener Klan« mit »Wiener, Handke, Rühm, Bayer« noch der »älteren Generation (Heißenbüttel, Becker, Enzensberger, Walser)« oder der sogenannten Gruppe des Kölner Realismus (138). Solche Abgrenzungen verhindern nicht, dass Brinkmann an anderer Stelle der Briefe stolz vermerkt im Kontext der gescholtenen, etablierten Autoren veröffentlicht zu haben (»darin u. a. Hörspiele von H. M. Enzensberger, H. Heißenbüttel, R. Wolf«, 110). Ganz nebenbei entsteht dabei ein kleines Lexikon der zentralen Begriffe für die Literatur seiner Zeit wie »Neue Subjektivität«, »Gruppe 61«, »Nouveau Roman«, »Kölner Schule« und »Postmoderne« (148–150). Seinen Roman (s. Kap. 27) verortet er im Kontext von Chotjewitz’ Die Insel und Fichtes Die Palette als Roman, der die »Anfänge der Pop-Emotionen« (108) und die »Umbruchstimmungen« (109) der Zeit repräsentiert. Als positiv konnotierter Referenzrahmen werden stets amerikanische Autoren – etwa Williams und O’Hara als »Hauptanreger« (123) – genannt. Die Werkpolitik Brinkmanns zeigt sich nicht zuletzt auch in der Sorge um die materielle Erscheinungsform seiner Texte, die »Schutzumschläge« (143), besonderen Drucke, nummerierten Auflagen (vgl. 109), eingefügten Fotos und beigelegten »Handzeichnung[en]« (42). Analog zu seiner Selbstbeschreibung als Dichter, die vom bewussten Einzelgänger und Außenseiter bis zum Enfant terrible und poète maudit in Rimbaud-Nachfolge reicht (151), inszeniert sich Brinkmann als Person, deren heraus-
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ragende Eigenschaften er selbst mit unverhohlenem Stolz als Hass, Wut, Aggressions- und Gewaltbereitschaft gepaart mit männlichem Einschüchterungsgebaren beschreibt, das mitunter zur offenen Misogynie (vgl. 89, 119 u. ö.) tendiert. Dass er nicht nur unter seinen Künstlerkollegen als schwierig, sondern auch als »›böser Mensch‹«, »Nichtstuer«, »Lungerer«, »Wirrkopf«, »Irrelevanter mit bösen aggressiven Absichten« firmiert, bestätigt ihn in seiner radikalen Kritik und Ablehnung der Gesellschaft, »weil ich nämlich deren Rituale nicht akzeptiere« (151). Dem steht seine gesteigerte Aufmerksamkeit für Ungerechtigkeit, seine Sensibilität für die Rechte der Schwächeren gegenüber, mit der er seine Familie verteidigt. Zur Selbstinszenierung als ›armer Poet‹ gehört das schonungslose Sprechen über seine wirtschaftliche Lage und die seiner Familie, die aufgrund seiner Kompromisslosigkeit gezwungen ist – da Dichtung und Kommerz sich ausschließen – unterhalb der Armutsgrenze zu leben.
33.4 Werkexegese So ungeordnet, assoziativ und zufallsgeneriert sich die Briefe in ihren erzählenden Teilen geben, so systematisch, strukturiert und thematisch geordnet gehen sie in Bezug auf ihren zentralen Gegenstand, die Kommentierung, Kontextualisierung und Periodisierung des eigenen Werks, vor. Im Zusammenhang mit Hartmut Schnells Plan für seine Abschlussarbeit, Was fraglich ist wofür zu übersetzen und mit einem einleitenden Essay zu versehen, übermittelt Brinkmann (Brief vom 7.6.74) dem Studenten eine Werkbiographie (42 f., Fortsetzung 107–111, Vita 112–116), die er ausgehend von Was fraglich ist wofür im Folgenden mit dezidierten Kommentaren zur Entstehungsgeschichte einzelner Gedichte und zur Position der einzelnen Bände innerhalb der Werkgeschichte versieht. Er verzichtet in den Briefen auf die Konstruktion einer linearen, geschlossenen Werkgeschichte: »die Einordnungen fallen auch deswegen schwer, weil ich verschiedene Bücher machte, die sich nicht alle auf eine Linie bringen [lassen], z. B. unter einen Begriff zusammenzufassen sind« (139). Was fraglich ist wofür (s. Kap. 17) charakterisiert Brinkmann als »ersten Gedichtband mit Poptendenz« bestehend aus »snapshots«, die aus »künstlichem« Material, »Postkarten, Filme[n], Bücherzitate[n], Lektüre[n], Illustrierten« (44) montiert seien. In den sich anschließenden Kommentaren zu ausgewählten Gedichten des Bandes (45–81) weist Brinkmann dezidiert die Quellen des
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vom ihm verwendeten Materials nach, stellt die konstitutive Intertextualität seiner Gedichte als Konstruktionsprinzip aus und gibt Deutungshinweise. Neben (amerikanischen) Filmen attestiert Brinkmann der amerikanischen Lyrik von William C. Williams und Frank O’Hara den bedeutendsten Einfluss auf seinen ersten größeren Gedichtband (124). Die Piloten (s. Kap. 19), die im Brief vom 23.12.74 minutiös kommentiert werden, fasst Brinkmann unter einer neuen Orientierung auf »Bewegung, Film und Licht, die Vorgänge im Bewußtsein« (137) zusammen. In einem nächsten Brief kommentiert Brinkmann das gerade erschienene lange Gedicht Fragment zu einigen populären Songs (s. Kap. 25) intensiv und stellt dabei seine Zitattechnik aus, wenn er nicht nur alle Songs nachweist, aus denen das Gedicht zusammengesetzt ist, sondern auch alle weiteren Anspielungen, Übernahmen, Transformationen aus Literatur (Giordano Bruno, Burroughs, Han Shan, Pound, Rimbaud, Tieck u. a.) und Philosophie (Nietzsche, s. Kap. 6) ausstellt. An diesem Beispiel wird der Eklektizismus deutlich, mit dem Brinkmann in seinen Gedichten Entlegenstes zusammenschließt, indem er seinen eigenen Lektürespuren folgt und diese den Gedichten einschreibt. Als Briefwechsel zwischen einem Autor und seinem Übersetzer geben die Briefe Aufschluss über Brinkmanns Versuch, Schnell als seinen Übersetzer auf dem amerikanischen Literaturmarkt durchzusetzen (235), was ihm nicht gelingen sollte. Schnell scheint ihm wegen ihrer persönlichen Beziehung und seines Literaturverständnisses auch deshalb besonders geeignet, weil Brinkmann seine Übersetzertätigkeit zusammen mit der Muttersprachlerin Sheila nicht nur begleiten, sondern auch gezielt steuern kann. So erläutert er für Schnells Übersetzung wie gewohnt einzelne Gedichte aus dem im Druck befindlichen Band Westwärts, die er auf dem Poetry Festival in Cambridge vortragen möchte (248) und gibt direkte Anweisungen zur Übersetzung einzelner Wörter und Passagen (250). Später prüft er Schnells Übersetzungen, schlägt Änderungen vor und spricht Empfehlungen für ein kooperatives Übersetzen zwischen Schnell und Sheila aus (vgl. 259–269). Als Selbstlektüren bzw. -deutungen des Autors haben die Briefe an Hartmut einen immensen Wert vor allem für die literatursoziologische Forschung, da sie den Autor nicht nur als einen äußerst belesenen Autodidakten der europäischen Literaturgeschichte zeigen sowie Einflüsse und Traditionslinien in seinem Werk sichtbar machen, sondern auch seine Arbeitsweise des Montierens, Zitierens, Übersetzens und Plagiierens offenlegen.
33.5 Philologenschelte Den ersten Anlass für den Briefwechsel bildet Schnells Plan, eine wissenschaftliche Arbeit über Alfred Lichtenstein zu schreiben. Brinkmann übermittelt ihm in seinem ersten Brief ausführliche annotierte bibliographische Angaben und Exzerpte (vgl. 9–19); sie zeigen ihn bei ausgedehnten literaturwissenschaftlichen Arbeiten und vermitteln das Bild eines insgesamt besorgten akademischen Lehrers. Brinkmanns Erfahrung als Associate Professor am German Department der University of Texas, Austin (s. Kap. 1.10) und die Tatsache, dass der Briefpartner sein ehemaliger Student ist, haben vermutlich zu einer kritisch-polemischen Auseinandersetzung mit der Philologie als akademischer Tätigkeit und der institutionellen Literaturwissenschaft an den Universitäten in den Briefen an Hartmut geführt. Er hebt hervor, dass Lichtensteins Dichtung »kein bereits akademisch irrwitzig und wüst ausgebeutetes Werk« ist (9), warnt in der Manier Arno Schmidts (vgl. 34) vor allem vor »Viehlologen« (18 passim), die mit ihren »Secondary Systems« (61) die literarischen Texte überfrachten würden, und der »Viehlologie als ein[em] System« sui generis (121; vgl. E, Bl. [17r]). Brinkmanns Groll richtet sich nicht nur gegen das »Akademische« (75) allgemein und die Professoren im Speziellen (»die verdammten Akademikker (Mikkertypen)«, 19, »der kleine Pimpeltyp«, 16; »namenlose unproduktive kleine Würstchen, kleine Wichtelmännchen«, 61; »ein Arsch mit Ohren«, 60, vgl. 151, 235), sondern auch gegen universitäre Gebäude (»die UB ein mieser ›moderner‹ dunkler Stall«, 10, vgl. 47), akademische Veranstaltungen (»Scheißvortrag«, 16, »eine Perversion«, 129), institutionelle Vorgänge (»Scheine, Unterschriften, Stempel«, 61; vgl. 86) und wissenschaftliche Verfahrensweisen (»scheißgaukelviehlologisches Verständnis«, 37, »Terror der Oberbegriffe«, 141). Dies hindert Brinkmann aber nicht daran, an anderer Stelle der Briefe Hartmut Schnell relativ präzise in literaturwissenschaftliche Methoden einzuführen (vgl. 80, 117, 146–150, passim), auf seine Lehrtätigkeit in Austin zu verweisen und sogar damit zu liebäugeln, sein »Examen an der PH zu Ende« (180) zu führen.
33.6 Biographische Bausteine Die Briefsammlung gibt zum Teil detaillierte Einblicke in die Lebenssituation Brinkmanns und liefert damit Bausteine zu seiner Biographie. Die Schilderungen sei-
33 Briefe an Hartmut
ner Lebenssituation nach der Rückkehr aus Austin sind von Problemen der Wiedereingliederung geprägt, die im Kontrast zum offen verherrlichten Amerika (»Vorliebe für USA«, 41) stehen. Die wirtschaftliche Lage der dreiköpfigen Familie ist prekär; es drohen Pfändungen wegen der nicht bezahlten Telefonrechnungen aus der Villa Massimo. Maleen Brinkmann, die noch an der Abschlussarbeit für ihr Lehramtsstudium über Ribonukleinsäure (vgl. 32, 89) arbeitet, steht ein Prozess wegen eines Kaufhausdiebstahls von billigen Handschuhen im letzten Winter bevor (vgl. 33). Brinkmann muss erneut seine Bibliothek verkaufen (vgl. 180), lebt auf Pump. Er resümiert: »Das Hin und her mit den Verlagen und dem Geld, 4 Tausend kriegte ich dafür [Vorschuss Westwärts], mußte 3 Tausend an den Verlag K&W zurückzahlen, Pump, Kredite von Freunden, das Telefon abgekniffen« (156). Einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Hochschule lehnt er aufgrund einer – in seinen Augen – unangemessenen Vergütung ab (vgl. 60). Brinkmann bedient mit diesen Schilderungen das Selbstverständnis des antiautoritären Milieus um 1968, dem er sich entgegen anderslautenden Erklärungen hier als zugehörig erweist. Arbeitsverweigerung als Systemverweigerung und der demonstrative Akt des Ladendiebstahls als politische Positionierung gegen das ausbeuterische kapitalistische System gehörten durchaus zum selbstverständlichen Verhaltensrepertoire dieses Milieus. Brinkmanns Ablehnung des Staates als Machtapparat steht seine Selbstdarstellung als Beschützer des privaten Raums gegenüber. Obwohl er auch die Institutionen Ehe und Familie als Apparate der Macht kritisiert und das Paar eine räumliche Trennung erwägt (179), verklärt er an anderer Stelle das schwierige Leben unterhalb der Armutsgrenze mit Frau und Sohn, das er als Preis für die Bewahrung seiner Ideale rechtfertigt und zum Ausdruck für seine Kompromisslosigkeit und moralische Integrität erhebt. Brinkmann schreibt damit die idealistische bzw. romantische Vorstellung von der an Staat und Ökonomie bewusst scheiternden Dichterpersönlichkeit fort. Gleichzeitig beschwört er in einer Momentaufnahme – möglicherweise unbeabsichtigt – das Bild von der Heiligen Familie um 1970, als gelebtes Ideal des einfachen, erfüllten Lebens zwischen drei Menschen und »einem Tier«, einer kleinen Katze, kurz vor dem Abendessen aus Kartoffeln, »Zwiebelgrün drüber, etwas Butter, Salz, gut!« (31) oder träumt davon, mit der Familie in eine neue Wohnung umzuziehen. Die Briefe überliefern so ein äußerst widersprüch-
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liches Bild von der Lebenssituation Brinkmanns, da sie in poetische Erzählungen von Augenblicken geglückter Gemeinschaft, hoffnungsvolle Zukunftsprojektionen und hasserfüllte Berichte von der ausweglosen Überforderung aufgrund der wirtschaftlich desaströsen Lage der Familie zerfallen. Literatur
Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Hg. von Jan Röhnert und Gunter Geduldig. Berlin 2012. Bohnenkamp, Anne/Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift. Frankfurt/Basel 2008. N. N. Rezension zu: Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut, in: FAZ 23.3.1999, L[iteraturteil] 6. Di Bella, Roberto: »... das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums« – Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Geduldig, Gunter/Claudia Wehebrink (Hg.): Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann. Bielefeld 1997. Hermand, Jost: Pop International, eine kritische Analyse. Frankfurt a. M. 1971. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanzer Universitätsverlag. 2. Aufl. Konstanz 1971. Kagel, Martin: Der amerikanische Freund – Rolf Dieter Brinkmanns Briefe an Hartmut Schnell. In: Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns, Vechta 2000. Vechta 2001, 60–75. Kobold, Oliver: »Lange nachdenkliche Gänge« Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik und Prosa 1959–1962. Heidelberg 2014. Martus, Steffen: Mamatschi, schenk mir ein Versehen! Geht es ein bisschen konkreter, Meister? Rilkes ›Briefe an einen jungen Dichter‹ in einer neuen Edition. In: FAZ, 9.5.2019. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2007. Schmitt, Stefanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktion von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Strobel, Jochen (Hg.): Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur. Heidelberg 2006. Uthoff, Jens: Flickermaschine und Leuchtschrift. Wahrnehmung und Bewusstsein in mediatisierten Lebensräumen bei Rolf Dieter Brinkmann und im Frühwerk Handkes. Bremen 2011. Vellusig, Robert: Die Poesie des Briefes. Eine literaturanthropologische Skizze. In: Marie Isabell Matthews/ Caroline Socha (Hg.): Was ist ein Brief? Aufsätze zu epistolarer Theorie und Kultur. Würzburg 2018, 57–75.
Sibylle Schönborn / Dirk Niefanger
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34 Weitere Briefwechsel Brinkmanns Briefe sind bis heute nur in wenigen vereinzelten Ausnahmen und an verstreuten Orten dem Lesepublikum zugänglich gemacht worden. Eine Ausgabe sämtlicher Briefe des Autors oder gar seiner Briefwechsel gibt es bisher nicht. Es ist nur zu vermuten, dass sich umfangreiche Korrespondenzen in dem bisher unpublizierten Nachlass befinden, da der Autor in seinem publizierten Werk nicht nur als exzessiver Briefschreiber erkennbar wird, sondern auch authentisches Briefmaterial spätestens ab den 1970er Jahren in seine literarischen Texte integriert wie im Falle der brieflichen Kontroverse mit Hermann Peter Piwitt während seines Rom-Aufenthalts (vgl. RB, 259–267). In dieser späten Werkphase werden die Grenzen zwischen privater Korrespondenz und literarischer Produktion bewusst verwischt und aufgelöst bzw. in beide Richtungen überschritten. So zeugen insbesondere seine langen epistolaren Prosaerzählungen an Hartmut Schnell oder Henning John von Freyend, die häufig mit Bildmaterial angereichert werden, nicht nur von ihrer bewussten künstlerischen Gestaltung, sondern sind von den späten Prosatexten in Briefform nicht mehr zu unterscheiden. Generell dient der Brief bei Brinkmann – unabhängig davon, ob er als Teil des Werks oder zunächst als private Kommunikation fungierte – als Medium auktorialer und biographischer Selbstinszenierung, poetologischer Selbstreflexion und Positionsbestimmung als Autor oder der Gesellschafts- und Kulturkritik im Dialog mit den Adressaten. Zwischen Erzählung und Reflexion oszillierend stehen diese Briefe in der Tradition essayistischen Schreibens der Moderne, dessen berühmtes Vorbild der ChandosBrief Hofmannsthals darstellt. Die bisher verstreut publizierten Briefe aus dem Nachlass, die nicht von Brinkmann selbst in sein Werk integriert wurden, umfassen Korrespondenzen mit Hans Bender, Hans Henny Jahnn, Hermann Peter Piwitt, Nicolas Born, Peter Handke, Ulf Miehe, Gerd Fuchs, Henning John von Freyend, Alfred Kolleritsch, Ron Padgett und Hartmut Schnell. Als Einzelkorrespondenz liegen nur die Briefe an Hartmut im Druck vor. Ein Teil der Korrespondenz Brinkmanns und der an ihn gerichteten Briefe sind heute in verschiedenen Sammlungen zugänglich: Das Brinkmann gewidmete Literaturmagazin 36 versammelt eine disparate Auswahl von Briefen aus den Jahren 1972 und 1974 mit dem Freund und Maler Henning John von Freyend, den Schriftstellern Gerd Fuchs, Peter Handke, Hermann Peter Piwitt, Ulf Miehe, Alfred Kolleritsch und
Nicolas Born sowie den ersten der Briefe an den damaligen Studenten Hartmut Schnell, den Brinkmann 1974 in Austin kennenlernte (s. Kap. 33). Die Briefe kreisen um die Veröffentlichung von Brinkmanns Arbeiten und neue literarische Projekte; sie beziehen sich teils auf den Rom-Aufenthalt 1972/73, teils auf den Austin-Aufenthalt 1974. Wenige Briefe Brinkmanns finden sich in der Edition der Briefe Nicolas Borns, die allerdings viele Erwähnungen Brinkmanns in Briefwechseln mit anderen Adressaten enthält. Einige Briefe wurden darüber hinaus separat veröffentlicht (vgl. Geduldig/Wehebrink, Nr. 513–529). Neben dem bisher unbekannten Briefkorpus im Nachlass des Autors, sind Briefwechsel u. a. in Privatbesitz, im DLA Marbach, im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, in Literaturarchiven in Wien und Bern sowie im BrinkmannArchiv in Vechta vorhanden, darunter die Briefwechsel mit Ron Padgett und Henning John von Freyend. Eine eigene Edition der Briefe bleibt Desiderat.
34.1 Hans Bender und Hans Henny Jahnn Auszüge aus der 65 Briefe umfassenden Korrespondenz zwischen Brinkmann und Bender, die mit einem Brief des siebzehnjährigen Schülers im April 1957 einsetzt, wurden von Bender in einer Erinnerung an den Autor veröffentlicht (Literaturmagazin 36, 28–37; die Originale liegen größtenteils im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg). Vier zwischen Januar 1961 und April 1975 entstandene Schreiben sind in den Briefen an Hans Bender abgedruckt. Sie zeigen, dass dieser Briefwechsel von Brinkmanns ersten Schreibversu chen bis kurz vor seinem Tode geführt wurde. In den bisher bekannten Briefen versucht Brinkmann sich gegenüber dem arrivierten Autor und Herausgeber der Akzente als Autor bekannt zu machen und Publikationsmöglichkeiten, zunächst für seine Gedichte und später auch für seine Hörspiele und Prosatexte, zu finden. Aus der Darstellung Benders geht hervor, dass Brinkmann sich seit 1957 ohne Unterbrechung bemüht hat, über Bender seine Texte zu publizieren, aber erst 1966/67 im Jahresring erfolgreich die erste Erzählung Das alles und 1968 nach dem Weggang von Walter Höllerer die ersten Gedichte in der Zeitschrift Akzente unterbringen konnte. Im Januar 1961 schickt Brinkmann Bender aus Essen »einige meiner Gedichte«, die unter dem Titel in der windschaukel erscheinen sollen. Brinkmann äußert sich in dem Brief in einem langen Kommentar programmatisch zu seiner Lyrik, die er hier – sicher im Hinblick auf den Adressaten –
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_34
34 Weitere Briefwechsel
bruchlos zwischen Existentialismus und ModerneTradition innerhalb des deutschen Nachkriegsgedichts verortet und sich gleichzeitig bewusst von dem »modischen Beatnik-Ton« distanziert und bekennt, dass er »stattdessen [...] die alte (und eigentliche [sic] immer neue) Verzauberung innerhalb unserer Zeitlichkeit sichtbar zu machen« suche. Des Weiteren führt er aus, dass »ausgehend vom Bildhaft-Märchenhaften eines KLEE oder CHAGALL [...][sein] Bemühen um eine Metapher für die Stille (die ja durchaus nicht ›harmonisch‹ im überlieferten Sinne zu sein braucht)« im Zentrum seiner Lyrik stehe (Bender, 53). 1971 gelingt es ihm dann Auf der Schwelle in den Akzenten unterzubringen. Allerdings scheitert er in dem darauffolgenden Brief mit seinem Versuch, Bender auch den Tierplanet – allerdings für den Jahresring – anzubieten. Aus Rom meldet sich Brinkmann mit einer neuen Prosaarbeit, Work in Progress, deren ungewöhnliche Form er dem Herausgeber der Akzente nahebringt, indem er ihre Funktion erläutert: »Die beigelegten abgelichteten Seiten des Manuscripts mögen Ihnen beim Durchlesen voll Schreibfehler und beliebig verwendeter Lautsprache erscheinen, die für eine Drucklegung schwierig sind? Die Arbeit ist jedoch so gehalten, daß eben diese ›Fehler‹, diese ›Beliebigkeit‹ einen Teil des Inhalts ausmachen, der Prosa.« (Bender, 154) Die Briefe an Bender stellen seltene und daher bedeutende Dokumente der Entwicklung von Brinkmanns Literaturverständnis und Poetologie dar, da sie die Absichten seines Schreibens und die Form seiner Texte ausführlich erläutern und kommentieren. Im Literaturmagazin 35 sind zwei Briefe Brinkmanns an Hans Henny Jahnn und ein Brief Jahnns an Brinkmann aus dem Jahr 1959 abgedruckt. Brinkmann sucht nach der Lektüre von Jahnns Die Nacht aus Blei (1956) das Gespräch mit dem Autor über die Rolle der Kunst angesichts der gesellschaftlichen und urbanen Kälte und der Vereinsamung der Literaten. Jahnn bittet in seinem Antwortbrief um Brinkmanns Meinung zu dem Titel Trümmer des Gewissens für sein neues Drama und um eine Selbstcharakterisierung, die Brinkmann in seinem zweiten Brief an Jahnn vornimmt, indem er seine »Veranlagung für Literatur« und sein »Talent [...] zu schreiben« hervorhebt, das ihn in Konflikt zu der »Doktrin kleinbürgerlicher, pseudomoralischer Menschen« (Literaturmagazin 35, 76) bringe. In diesem Brief formuliert Brinkmann bereits sein antiideologisches Verständnis von Kunst, die nur dem Autor und seiner subjektiven Wahrheit verpflichtet sei. Er endet mit der Bitte um Unterstützung bei der Konzeption eines geplanten Romanprojekts (Literaturmagazin 35, 73–78).
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34.2 Ulf Miehe und Alfred Kolleritsch Der Briefwechsel mit dem Schriftsteller und Filmemacher Miehe umfasst zwei Briefe vom Sommer 1972 und von Anfang 1973. Sie sind wie die anderen geprägt von umfassender Kultur- und Gesellschaftskritik, die leitmotivisch norddeutsche Landschaften, hier besonders Husum (Literaturmagazin 36, 102 f.), als Gegenbild zur bundesdeutschen Großstadtkultur feiern, und größeren filmtheoretischen und -ästhetischen Überlegungen anlässlich von Miehes Projekt zur Verfilmung von Theodor Storms Der Doppelgänger (1887) unter dem Titel John Glückstadt (1975). In der Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahls Filmen Olympia 1: Fest der Völker und Olympia 2: Fest der Schönheit (1938) entwickelt Brinkmann eine Interpretation des Nationalsozialismus als Spiel mit den »verschütteten Bedürfnisse[n] des kleinbürgerlichen Volkes« (107). Schließlich stellt er seine Sicht auf Riefenstahls Arbeit dar und zeigt sich überrascht von ihrer sachlichen Darstellungstechnik. Miehe antwortet Brinkmann mit einer Beschreibung eines Berlin-Aufenthalts und berichtet über den Abschluss seines Kriminalromans Ich hab noch einen Toten in Berlin und sein Filmprojekt. Die sieben Briefe des Briefwechsels mit Kolleritsch stammen aus dem Sommer und Herbst 1972 und beziehen sich auf Brinkmanns Veröffentlichung von To a world filled with compromise, we make no contribution in der Zeitschrift manuskripte sowie seine Teilnahme am ›Steirischen Herbst‹ 1972 (Literaturmagazin 36, 111–115). Die Reise von Rom nach Graz, die Lesung (RB, 140) und der Aufenthalt in der Stadt sind Gegenstand eines anderen langen Briefes an Maleen Brinkmann (RB, 82–116, 140–181).
34.3 Ron Padgett Die zwölf von Brinkmann zwischen Februar 1968 und November 1969 an den amerikanischen Schriftsteller und Publizisten Ron Padgett gerichteten Briefe und Postkarten, die Brinkmann zum größeren Teil selbst verfasst oder »einem Freund« – vermutlich Ralf-Rainer Rygulla – aufgrund seiner begrenzten Englischkenntnisse zur Übersetzung gibt, beziehen sich auf die Planung und Organisation der Anthologien Acid, Silverscreen, die Übersetzung der Lunch-Poems von Frank O’Hara (alle 1969) und den Plan, einen eigenen Band mit Texten von Padgett bei Kiepenheuer und Witsch herauszugeben. Brinkmann versucht über
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VI Prosa – D Briefe
Padgett Kontakte zu amerikanischen Autoren wie Tom Veitch, Tom Clark, Larry Fagin, Jim Dine und John Perreault u. a. aufzubauen, um deren Texte in Deutschland zu publizieren. An dem Briefwechsel, in dem er Padgett immer wieder nach Neuerscheinungen und Entwicklungen in der Szene befragt, wird Brinkmanns großes Interesse an der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik deutlich, die er als Gegenpol zur in der Tradition erstarrten deutschen Lyrik begreift. Die Briefe beziehen sich daher zum einen auf konkrete Fragen zur Konzeption der beiden Anthologien wie z. B. die Auswahl der Autoren und Texte sowie die graphische Gestaltung. Zum anderen geht Brinkmann auf Übersetzungsprobleme ein, stellt den Kontakt zu den Padgett-Übersetzern Carl Weissner, Herbert Graf und Rolf Eckart John her oder stellt allgemeine Fragen zur literarischen Produktion der Amerikaner. Während er mit der Übersetzung von O’Haras Lunch-Poems beschäftigt ist, richtet Brinkmann 30 Verständnisfragen zu Begriffen und Hintergründen der Texte an Padgett (Brief vom 18.8.1968) und bittet diesen um Erläuterungen einzelner amerikanischer Wendungen und Textpassagen. Außerdem erbittet er für einen geplanten Essay über die neue New Yorker-Szene konkrete Angaben zu Padgetts Person und insbesondere zu den neuen amerikanischen Schreibverfahren der Kollaboration, Oberflächenübersetzung und des Plagiierens (Brief vom 24.2.1969). Im letzten Brief an Padgett würdigt Brinkmann dessen Band Great Balls of Fire (1969) und muss zugleich das Scheitern seiner Bemühungen eingestehen, den Band in deutscher Übersetzung bei Kiepenheuer und Witsch unterzubringen. Schließlich berichtet er von eigenen Projekten u. a. von seiner Zeitschrift Gummibaum, dem bevorstehenden Erscheinen von Silverscreen und Gras. Die Briefe zeigen Brinkmann als sensiblen und aufmerksamen Beobachter der amerikanischen Szene und als engagierten und recht erfolgreichen Vermittler ihrer Literatur an die deutsche Öffentlichkeit.
34.4 Nicolas Born Die vier Briefe des Briefwechsels mit Born aus dem Frühjahr bzw. Herbst 1974 haben das Literaturmagazin 3 zum Thema. Die Briefe Borns finden sich in dessen Briefwechsel (Born 2007, Brief 149, 141 f.). Sie dokumentieren die personale und künstlerische Kontroverse der beiden ehemaligen Weggefährten. Brinkman hält sich zu dieser Zeit in Austin Texas auf. Born
bittet ihn um einen Beitrag und schlägt einen von Brinkmann in Rom gehaltenen Vortrag vor; außerdem geht er auf ihren persönlichen Konflikt während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Rom ein (Literaturmagazin 36, 118) und entwickelt sein Literaturund Gegenwartsverständnis. Born antwortet mit seiner Interpretation des Utopiebegriffs mit Blick auf die Literatur. Brinkmann schlägt sein Gedicht Fragment zu einigen populären Songs für das Heft vor. Schließlich antwortet Born auf Brinkmanns Kritik an seiner Erzählung Die Fährte der Wiedergeburt (Born 1983), in der sich Brinkmann in der Figur des Bärmann verunglimpft fühlt (Literaturmagazin 36, 119). Das Register des Briefwechsels von Nicolas Born verzeichnet vom Sommer 1969 bis Sommer 1979 62 Erwähnungen Brinkmanns. Briefe Brinkmanns an Born sind in dem Briefwechsel nicht enthalten. Sowohl die Erwähnungen als auch die Briefe lassen sich in vier Themenkreise gliedern: 1) Das gemeinsame Hörspielprojekt Wortwechsel aus dem Sommer 1969 steht im Zentrum der Briefe (Born 2007, Briefe 64, 66, 85, 276; vgl. Schönborn 2016 u. Niefanger 2019). Darauf bezieht sich ein Briefwechsel mit Hanspeter Krüger, Redakteur beim SFB. Hervorzuheben sind die Thematiken der Vielstimmigkeit und des musikalischen Arrangements, die Brinkmann und Born für die Inszenierung erbitten. Diese Inszenierung reflektiert Born kritisch im Briefwechsel mit Piwitt (Born 2007, Brief 276). Delius kritisiert das Hörspiel brieflich wegen des mangelnden politischen Engagements (Born 2007, Brief 318). In den Briefen an Krüger findet sich auch eines der zahlreichen Urteile Borns über Brinkmann. Er sei ein »großer Anreger, nicht immer gut, aber sehr wichtig und langsam anerkannt« (Born 2007, Brief 85). 2) Von der problematischen Persönlichkeitsstruktur Brinkmanns handeln die Briefe des zweiten Themenkreises. Sie betreffen das Umfeld des gemeinsamen Aufenthalts in der Villa Massimo (Born 2007, Brief 118, 120, 133, 300, 301, 325). Teile der Briefe vom Sommer 1972 bis 1973, die an dritte wie Delius und Piwitt gerichtet sind, beziehen sich auf Brinkmanns persönliche Anpassungsprobleme an die Stipendiatengruppe. Piwitt begründet im Frühjahr 1973 Born gegenüber, warum er beabsichtigt, den Briefkontakt zu Brinkmann abzubrechen (Born 2007, Brief 300). Born spricht von Brinkmanns »Einschüchterungsmethoden« (Brief 301) in der Villa Massimo. Diese Darstellung Brinkmanns als agent provocateur, die von Born wie Piwitt verbreitet wird, führt dazu, dass man ihn 1973 nicht als Nachfolger Piwitts an die Uni-
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versity of Warwick beruft. Obwohl Piwitt Brinkmann vorschlägt, wird er nicht eingeladen. Als Grund dafür kolportiert Piwitt: »Aber sie haben Angst vor ihm« (Born 2007, Brief 300). An diesem Kommunikationsnetzwerk zwischen Born, Brinkmann, Piwitt und Delius werden Gruppenbildungen und Abgrenzungsprozesse innerhalb der Literaturszene der 1960er und 1970er Jahre nach politischen Zugehörigkeiten deutlich, die Brinkmann immer weiter aus der brieflichen Kommunikation drängen und Born zur Positionierung und Parteinahme zwischen den Fronten Delius, Piwitt und Brinkmann zu zwingen versuchen. Born reagiert darauf mit vorsichtigem Taktieren und Lavieren zwischen den Fronten und versucht erfolglos Loyalitätskonflikten zu entgehen. 3) Der dritte Themenkreis umfasst an Brinkmann gerichtete Briefe Borns im Umfeld der Arbeit am Literaturmagazin 3 zum Thema Utopie aus dem Frühjahr und Herbst 1974 (Born 2007, Briefe 149, 160, 161). Diese Briefe inklusive der Antwort Brinkmanns wurden bereits im Literaturmagazin 36 (118–122) abgedruckt. 4) Zuletzt finden Brinkmanns Tod, die posthume Verleihung des Petrarca-Preises sowie die Nachrufe von Born, in dem Born Brinkmann als herausragende Dichterpersönlichkeit würdigt (Stilleben einer Horrorwelt), und von Handke (Born 2007, Brief 173, 175, 180, 337; Handkes Notizenfragmente) in den Briefen kurze Erwähnung. Die zugänglichen Briefwechsel geben Einblicke in die Lebens- und Werkphasen Brinkmanns. Die frühen Briefwechsel bilden seine Bestrebungen ab, einen Platz im ›Literaturbetrieb‹ zu finden. Die Phase kurz vor 1970 zeigt Brinkmann in seiner Bedeutung für den Transfer der amerikanischen Gegenwartsdichtung nach Deutschland. Während die im Literaturmagazin 36 veröffentlichten Briefe entweder die Veröffentlichungsgeschichte seiner Texte rekonstruierbar machen oder die Perspektive Brinkmanns auf die Gesellschaft und auf seine Umwelt in den Vordergrund stellen. Sie erinnern an das Unkontrollierte Nachwort aus Westwärts und beziehen sich wie fast alle Briefe, Erwähnungen oder kurzen Bemerkungen in der Sammlung der Briefe Borns auf zwei Aspekte, die sie nahezu einheitlich beschreiben: Brinkmann wird als extrem schwierige Persönlichkeit beschrieben, seine Literatur hingegen wird als bedeutend und als wichtiger Orientierungspunkt auch für die Zukunft bewertet. Posthum fasst Born die Pole 1978 zusammen: »Brinkmann war auch für mich samt seiner Konzessionslosigkeit und samt seinen Exzessen in Selbst-
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behauptung eine notwendige Figur, abgesehen davon, daß viele seiner Gedichte das beste überhaupt sind.« (Born 2007, Brief 238).
34.5 Hermann Peter Piwitt Der im Literaturmagazin 36 abgedruckte Briefwechsel mit Piwitt wird eingeleitet durch je einen Brief an Piwitt (und Fuchs) aus dem Mai 1970, der einen Aufruf zur Mitarbeit an einem von Brinkmann geplanten, allerdings nicht erschienenen Prosa-Heft der Zeitschrift Gummibaum enthält (Literaturmagazin 36, 70 f.), das aus »Prosavignette[n]« in Form von genau in der Gestaltung vorgeschriebenen »Filmnacherzählungen« bestehen sollte (ebd.). Möglicherweise hatte Brinkmann damit einen ersten Kontakt mit Piwitt aufgenommen, der in einen langjährigen intensiven und kontrovers geführten Briefwechsel einmünden sollte und somit repräsentativ für die Auseinandersetzung Brinkmanns mit dem in den 1970er Jahren vorherrschenden Programm der Politisierung von Literatur steht. Den Höhepunkt dieses theoretischen Diskurses über Literatur und Gesellschaft bilden die beiden, die aus dem 18. Jahrhundert stammende Tradition der Literaturbriefe fortsetzenden Schreiben in der Mitte von Rom, Blicke (RB, 260–279, 332–340), die als eigenständige essayistische Beiträge zu einer umfassenden kunsttheoretischen und gesellschaftspolitischen Kontroverse der Zeit gelesen werden müssen. In diesen Briefdialog zwischen Brinkmann und Piwitt mischen sich weitere Protagonisten des bundesdeutschen Literaturbetriebs und Freunde beider Autoren wie Nicolas Born und Friedrich Christian Delius punktuell ein, so dass sich lose, zeitlich begrenzte diskursive Netzwerke brieflicher Kommunikation bilden, in denen das Kunstverständnis der Zeit verhandelt wird. Nach Brinkmanns nüchtern-sachlichem – fast unbeholfenen – Brief zur ersten Kontaktaufnahme folgt in der Auswahl im Literaturmagazin 36 bereits zwei Jahre später einer jener für Brinkmanns Briefstil typischen langen erzählenden an die Freunde gerichteten Prosabriefe. Die Auswahl liefert atmosphärisch dichte Gegenwartswahrnehmungen wie ein empfindsamer Briefroman des 20. Jahrhunderts unter Verzicht auf beruhigende Großtheorien von »Sozialismus und Aufklärung« (Literaturmagazin 36, 85) und eine pessimistische Gegenwartsanalyse unter Bezugnahme auf Rilke, Benn und Burroughs. Der kurze Ausschnitt aus dem Briefwechsel zwischen den beiden Autoren umfasst zwei Briefe Brink-
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manns und einen Piwitts aus dem Jahr 1972. Sie gehören ins Vorfeld von Brinkmanns Aufenthalt in der Villa Massimo 1972/73, in der sich Piwitt zu dieser Zeit befindet. Die Briefe vermitteln Brinkmanns Perspektive auf die Gesellschaft und auf den bevorstehenden Rom-Aufenthalt. Dabei setzt er sich mit seinem Wohnumfeld in Köln auseinander – »eine heruntergekommene Fiktion, die man dann Leben nennt« (Literaturmagazin 36, 84). Brinkmann bezeichnet seine Eindrücke und ihre Wirkungen als »Momentaufnahme« (Literaturmagazin 36, 85). Die Bewertung kulminiert in der Assoziation Deutschlands mit dem Tod und der Todesmelodie (aus Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod) (Literaturmagazin 36, 85 f.). Er zitiert dazu neben Benn und Burroughs den Beginn von Rilkes Malte Laurids Brigge (1910). Einen großen Teil der deutschen Literatur verwirft er anschließend als zu angepasst und zu bürgerlich (Literaturmagazin 36, 87 f.). Piwitt scheint Brinkmanns gesellschaftspolitische Analyse mit der Schilderung seiner italienischen Erlebnisse (Literaturmagazin 36, 89) zwar zu bestätigen, kann aber Brinkmanns Kritik der deutschsprachigen Literatur und seinen Literaturempfehlungen (J. G. Ballard, Literaturmagazin 36, 84, Harry Mathews Zlan, Literaturmagazin 36, 88) wenig abgewinnen und setzt seinerseits seine Böll-Lektüre dagegen. In seinem Antwortbrief reagiert Brinkmann mit einer umfassenden Abrechnung mit Böll, der rheinisch-katholischen Mentalität Kölns und der deutschen Nachkriegsliteratur: »[...] aber bereits ein Vergleich zwischen Romanen Bölls und den Romanen sagen wir Graham Greenes Stiller Amerikaner macht den ganzen Muff hier deutlich! Was laufen denn für Gestalten durch die Romanlandschaften? Hausfrauen, Kranzbinderinnen, Telefonisten, kleine Angestellte beim Kirchenamt, Krüppel, Gnome, Künstler« (Literaturmagazin 36, 100). Brinkmanns umfangreiche Antwort fasst den Zustand der Gesellschaft mit dem Begriff »Entropie« zusammen (Literaturmagazin 36, 92), führt eine Fahrt auf dem ökologisch toten Rhein, dem deutschen Touristenmagnet, u. a. als Beispiel seiner frühen Ökokritik an (Literaturmagazin 36, 93) und entwickelt verbale Gewaltphantasien aufgrund von sozialer Gleichgültigkeit und gesellschaftlicher Verrohung. Schreibend versucht er, die Hässlichkeit seiner unmittelbaren Umwelt auf Distanz zu halten und berichtet (Literaturmagazin 36, 95, 97) in diesem Kontext von einem Experiment mit dem von Burroughs empfohlenen Apomorphin zum Drogenentzug, das er zur Beruhigung gegen den von Piwitt favorisierten Alkohol empfiehlt. In diesen Briefen deutet sich bereits die erbitterte, kompromisslose
und verletzende Kontroverse aus Rom, Blicke an, die keine Vermittlung zwischen den diametral entgegengesetzten politischen und literaturtheoretischen Positionen der beiden Kontrahenten mehr zuließ und in gegenseitige Beschuldigungen, Vorwürfe und Beleidigungen mündete.
34.6 Henning John von Freyend und Helmut Pieper Mit dem befreundeten Maler Henning John von Freyend unterhielt Brinkmann einen noch unpublizierten Briefwechsel, von dem bisher ein Brief im Literaturmagazin 36 im Druck vorliegt. Dabei handelt es sich um einen jener episch breit angelegten Briefe, die ähnlich denen an Hartmut Schnell und in Rom, Blicke, die Beschreibung unmittelbar wahrnehmbarer Umwelt zur Gegenwartsanalyse verdichten und den Zustand der westdeutschen Gesellschaft kritisch reflektieren. Aus der jeweiligen Beobachtung der Situation entstehen Essays in Briefform über die Verfassung von Gegenwart, die durch aktuelle Lektüren (hier: Robert Ardrey, Friedrich Nietzsche) ergänzt und unterstützt werden. Mit Freyend führt Brinkmann einen Diskurs über die Unterschiede von bildender Kunst und Literatur, Malen und Schreiben, Bild und Text und lotet deren Möglichkeiten und Grenzen aus. Der Brief stellt eine Antwort auf den vorher abgedruckten Auszug aus Brinkmanns Materialheft RANDOM NOTES dar, in das Postkarten von Freyend von einer Deutschlandreise einmontiert sind. Zwei weitere lange Briefe an Freyend vom 29.10.1972 und vom 12.12.1972 finden sich in Rom, Blicke, ein dritter, fünfzig Seiten umfassender aus dem Besitz von Freyend in der Vechtaer Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann. Dieser Brief Brinkmanns ist nach Auskunft von Markus Fauser (Faz, 30.9.2017) Teil eines größeren Konvoluts von Briefen, Postkarten, Texten und (collagiertem) Bildmaterial Brinkmanns, das dieser wohl an Freyend geschickt haben muss und das von Freyend nach cut-up- bzw. Scrapbook-Verfahren wie in Rom, Blicke, Schnitte und Erkundungen gesammelt und zusammengestellt wurde. 10 schwarze Kladden umfasst die Sammlung in der Arbeitsstelle, deren Entstehungsgeschichte wie folgt beschrieben wird: »Der Maler hatte Brinkmanns Texte in seinen Tagebüchern gesammelt, sie eingeklebt, sie auf mehreren 100 Seiten mit eigenen Collagen aus Fotos, Zeichnungen, Zeitungsausschnitten und eigenen Tage bucheinträgen ergänzt.« (Oldenburgische Volkszeitung, 30.9.2017, 2) Aus dieser Anlage des Materials
34 Weitere Briefwechsel
wird deutlich, dass Brinkmann und seine Freunde in den 1970er Jahren zum einen keinerlei Trennung zwischen privater Korrespondenz und literarischer Produktion mehr machen, und dass diese Arbeiten zum anderen als Kollaborationen – hier zwischen Brinkmann und von Freyend – verstanden werden müssen. Denn die Materialhefte enthalten nicht nur eine Fülle von einmontiertem Fremdmaterial, sondern haben mindestens zwei Sammler und Arrangeure, die das korrespondierende Material des anderen in das jeweils eigene integrieren und damit Autorschaft auf den anderen hin entgrenzen, dessen Texte und Bilder als Zitat in das eigene Material integriert werden, so dass dialogische Kollaborationen entstehen. Der lange Origi nalbrief vom 15.9.1973 aus dem Besitz von Freyends in der Vechtaer Arbeitsstelle variiert die bekannten Themen Brinkmanns aus dieser Zeit und ist nach der Rückkehr aus Rom entstanden. Er reflektiert u. a. den Aufenthalt in Rom und zieht eine vorläufige Bilanz, entwirft dazu am Beispiel von Brinkmanns Biographie die Geschichte der Generation, der beide Korrespondenten angehören, nimmt den Dialog über bildende Kunst wieder auf, indem Brinkmann über seine Bekanntschaft mit dem Maler Günther Knipp in Rom berichtet und formuliert Brinkmanns Absage an die Literatur, mit der ein Bekenntnis zu einem antiliterarischen, d. h. antifiktionalen Schreiben verbunden ist. Dies kulminiert in dem Statement: »Was ich Dir hier schreibe, ist kein Roman, Henning!«. Noch in den Erkundungen hatte Brinkmann – dasselbe meinend – das genaue Gegenteil in einem der dort einmontierten Briefe an den Freund Helmut Pieper formuliert: »Und wenn ich jetzt z.B. an Dich schreibe,und wenn du z.B. an mich schreibst,:ist das nicht alles auch Fiktion?20.)Pieper,Du bist eine Romanperson für mich.So wie ich für Dich eine Romanperson bin.Wir machen beide jeder seine Projektion.« (Erk, 209) Roberto Di Bella hat den Briefwechsel mit von Freyend in seiner Untersuchung zur späten Prosa Brinkmanns an verschiedenen Stellen beschrieben und ausgewertet (Di Bella 2015). Bereits in die Erkundungen hatte Brinkmann lange Briefe an seinen Jugendfreund Helmut Pieper (Erk, 202 ff.) einmontiert, dem er insbesondere im Dezember 1971 während seines gemeinsamen Aufenthalts mit von Freyend in der Mühle von Longkamp an der Mosel ebenso wie aus Rom geschrieben hat. Die Briefe der Erkundungen an Pieper kreisen um Brinkmanns aktuelle Lektüre, seine Schreibkrise, neue Schreibprojekte und die Suche nach neuen Formen für seinen »Entwicklungsroman« (Erk, 250). Darüber hinaus dokumentieren sie Brinkmanns Schreibexperimente der
283
frühen 1970er Jahre nach seiner Abkehr von der Lyrik: »also habe ich mindestens 4 Alben angelegt 1.) Zeitungausschnitte mit einer Spalte Lektüre-Auszüge/2.) faktisches Tagebuch mit Zeiten/3.) Tagebuch mit Fotos und Prosa-Einschüben/4.) Notizen fürn TV-Film« (Erk, 197). Helmut Pieper, der zu dieser Zeit selbst mit einem Romanprojekt befasst ist, macht Brinkmann den Vorschlag zu einer Kollaboration – vermutlich der mit von Freyend realisierten vergleichbar –, der von Brinkmann zumindest wohlwollend aufgenommen wird (Erk, 367). Während seines Rom-Aufenthalts richtet Brinkmann den zweiten Brief in Rom, Blicke an den langjährigen Freund aus Kindertagen. Später folgen Postkarten, auf denen Brinkmann einen Konflikt mit Pieper austrägt, weil dieser ihm die Geburt seines Kindes verschwiegen hat. Dazu wirft Brinkmann ihm in einem weiteren langen Brief einen konventionellen angepassten Lebensstil vor. Schließlich wertet er in einem Brief an Maleen Brinkmann den Briefstil beider Freunde kritisch ab, während Pieper mit »seiner ziselierten öden Art wenig, meist Banales« mitteile, schreibe von Freyend »durcheinander, auf eine Konfetti-Gedanken-Art« (RB, 318). Briefe, sowohl als private Korrespondenz als auch als literarische Form, spielen innerhalb von Brinkmanns Schreiben eine zentrale Rolle, da sie als autobiografische Dokumente und Formen autofiktionalen Schreibens – stärker noch als das monologische Tagebuch – seinen Experimenten mit einem antikünstlerischen autofiktionalen Schreiben, das keine Unterscheidung zwischen literarischer Figur und Schreiber mehr vorsieht, am nächsten kam. Korrespondenzen bilden daher die Grundlage eines kollaborativen, gegen den einsamen Autor als Schöpferindividualität gerichteten dialogischen Schreibexperiments, das noch auf seine weitere Erforschung wartet. Von großem Interesse wäre für die Forschung daher die ausgedehnte und vielfältige Geschäftskorrespondenz z. B. mit Verlegern und Lektoren, die bisher weder vollständig zugänglich ist noch systematisch gesammelt wurde und die die Grenzverwischung zwischen biographischer Information, Selbstdarstellung und poetologischem Kommentar u. a. sichtbar machen könnte. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut. 1974–1975. Reinbek bei Hamburg 1999. Rolf Dieter Brinkmann [Briefwechsel mit Hans Henny Jahnn]. In: Martin Lüdke/Delf Schmidt/Rolf Dieter Brinkmann: Lieber Henning, Samstagnachmittag, 15. Sept. 73. Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann der Universität Vechta.
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VI Prosa – D Briefe
Born, Nicolas: Stilleben einer Horrorwelt. In: Ders.: Die Welt der Maschine. Aufsätze und Reden. Reinbek bei Hamburg 1980, 63–67. Born, Nicolas: Die Fährte der Wiedergeburt. In: Ders.: Täterskizzen. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1983, 201–220. Born, Nicolas: Briefe 1959–1979. Hg. von Katharina Born. Göttingen 2007. Brinkmann, Maleen (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995. Briefe an Hans Bender. Hg. von Volker Neuhaus. München 1984. Brinkmanns Briefe: Eine Collage. Lars Chowanietz: Briefe an einen Maler. Markus Fauser: Wie die Kunst des Alltags entsteht. Dirk Dasenbrock: Dieter Brinkmann: Der radikalste seiner Art. In: Sonderbeilage der Oldenburgischen Volkszeitung, 30.9.2017, 2–8. Di Bella, Roberto: »... das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Fauser, Markus: Deine Briefe waren alle wild. Unbekannte Texte, Gedichte und Collagen aus dem Nachlaß des Dich-
ters Rolf Dieter Brinkmann sind nun erstmals zugänglich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.9.2017), 12. Geduldig, Gunter/Claudia Wehebrink (Hg.): Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann. Bielefeld 1997. Handke, Peter: Notizenfragmente zur Laudatio. In: PetrarcaPreis. Rolf Dieter Brinkmann, Sarah Kirsch, Ernst Meister, Herbert Achternbusch, Alfred Kolleritsch, Zbigniew Herbert 1975–1979. Redaktion Joachim Heimannsberg. München 1980. Niefanger, Dirk: »Freunde, haha, Freunde«. Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann. In: Jan-Pieter Barbian/ Erhard Schütz (Hg.): Die »Utopie des Alltäglichen«. Nachdenken über Nicolas Born (1937–1979). Hannover 2019, 33–47. Schönborn, Sibylle: »Wortwechsel« – Ein lyrischer Dialog zwischen Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born im SFB aus dem Jahr 1970 und die Geschichte einer schwierigen Dichterfreundschaft. In: Markus Fauser/Martin Schierbaum (Hg.): Unmittelbarkeit. Brinkmann, Born und die Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2016, 181–194. Schweikert, Uwe (Hg.): Literaturmagazin 35, Sonderheft Hans Henny Jahn. Reinbek bei Hamburg 1995, 73–78.
Sibylle Schönborn
VII Weitere Werke
A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen 35 Kollektive Produktion 35.1 Netzwerke Zu Beginn der 1960er Jahre lernten sich Brinkmann und Rygulla als »Lehrlinge in einer katholischen Buchhandlung« (Rygulla in Rüger 1994, 84) kennen. Rygulla ging 1963 nach London, wo er die Produktionen des amerikanischen Underground kennenlernte. »[...] in dem Maße, in dem ich mir das Englische aneignete, begannen die Entdeckungen der kleinen broschierten Hefte von Burroughs und seinem Freundeskreis, Brian Gysin, Harold Norse, Mary Beach etc. Der hierauf, und auf Lyrik, spezialisierte Indica Bookshop, der eine Kooperation mit dem City Lights Bookstore in San Francisco unterhielt, war die erste Quelle für eine Art von Text und für eine Publikationsform, die in Deutschland gänzlich unbekannt waren« (Rygulla 2008, 119). Rygulla fungierte für Brinkmann, der ihn mehrfach in London besuchte, als Vermittler der literarischen wie musikalischen Gegenkultur (vgl. Schröder 1992, 8). Noch während der Londoner Zeit drängte Brinkmann darauf, die Sammlung der Underground-Publikationen auszuwerten. Anfang 1966 kehrte Rygulla nach Köln zurück, im Gepäck den Grundstock für die Anthologien Fuck You!, Acid und Silverscreen. »Die folgenden dreieinhalb Kölner Jahre bis Ende 1969 waren geprägt von einer rauschenden Betriebsamkeit, Bücher entstanden, Zeitschriften, Super-8-Filme, ein Freundeskreis, der durch die vielen interaktiven Ideen und Projekte zur Szene wurde« (Rygulla 2008, 120). Zu diesem Freundeskreis gehörten neben Brinkmann und Rygulla Rolf Eckart John, Linda Pfeiffer, Monika Pieper, Helmut Pieper und Maleen Brinkmann. Die Gruppe arbeitete mit anderen Künstlern, der von 1969 bis Anfang 1971 bestehenden Kölner Gruppe EXIT (Henning John von Freyend, Berndt Höppner und Thomas Hornemann) und dem Kreis um Dieter Wellershoff, Nicolas Born und anderen zusammen. Die gemeinsamen Lesungen gewannen durch ihre multimediale
Anlage Performance-Charakter (Schröder 1992, 21; Matthaei in Rüger 1994, 81). Brinkmann wurde zu dieser Zeit von Kiepenheuer & Witsch verlegt; einzelne bibliophile Publikationen erschienen in wechselnden Kleinverlagen (seit 1966 Oberbaum, Hake und Hildebrandt). Wichtig wurde für die Gruppe der Kontakt zum Verlagsleiter des Melzer-Verlags, Jörg Schröder. Schröder und Brinkmann hatten sich bereits 1964 bei der Lesung in Kronenburg bei Euskirchen kennengelernt. Als Schröder sich von Melzer trennte und den März-Verlag gründete, stellte er aufgrund einer brieflichen Empfehlung Brinkmanns im Frühjahr 1969 Ralf-Rainer Rygulla als Lektor ein (vgl. Schröder 1992, 2 f.). In den folgenden beiden Jahren wurde der März-Verlag zum Verlag der Gruppe; »Brinkmann, Rygulla und John haben immer zusammengearbeitet« (Matthaei in Rüger 1994, 82). Indikator für die Bedeutung dieser Verbindung war die als Auftakt einer Serie konzipierte Anthologie März Texte 1 (1969), die ausdrücklich »nicht Verlagsalmanache alten Stils sein« (März-Texte 1, Klappentext) sollten. Im programmatischen einleitenden Statement des Verlages ist Brinkmanns Handschrift am Vokabular zu erkennen: »Der gemeinsame Hintergrund der vom MÄRZ VERLAG vorgelegten Titel ist eine neue Sensibilität, die sich in außerliterarischen Bereichen längst artikuliert hat« (März-Texte 1, 5). Die Gruppe um Brinkmann war mit einer Reihe von Beiträgen vertreten: Der joviale Russe von Brinkmann und Rygulla, Vanille und die Übersetzung eines Gedichtes von Padgett von Brinkmann, Das Weiche im Weichen und die Übersetzung von James Graham Ballards- Liebe + Napalm = Export USA von Rolf Eckart John, Übersetzungen von Rygulla (MacSweeney, Raworth, Patten und Kandel) sowie In der Verlängerung von Helmut Pieper. Den Abschluss des Buches bildete das von Brinkmann, Rygulla und John geführte Interview mit einem Verleger und dessen Gattin. Das Interview parodiert die im journalistischen Metier übliche Form – das wird mittels des beigegebenen Fotos von Jörg Schröder mit einer Langhaarperü-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_35
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VII Weitere Werke – A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen
cke signalisiert –, indem Fragen nach dem Beruf des Verlegers abgewiesen werden: »Über Berufungen spricht man nicht« (März Texte, 283). Es beginnt mit einer paradoxen Frage, die eigentlich das Ende eines Interviews anzeigt und das nun Folgende als marginalen Nachklapp ausweist: Brinkmann: Gibt es noch irgendwelche Fragen? Schröder:
Eigentlich haben wir alles geklärt, würd ich sagen.
Brinkmann: Doch ja, es gibt keine Fragen mehr. Wozu möchtest du dich denn sonst mal äußern? (März Texte, 283)
Das scheinbar sich an Nebensächlichem entlanghangelnde Gespräch ist durchsetzt mit zentralen Schlagworten und Thesen und entwirft ein Porträt des Verlegers, das auf das Statement des Verlags rückbezogen ist. Der März-Verlag publizierte eine Reihe von Büchern aus Brinkmanns Umkreis. Das wichtigste Projekt war die Anthologie Acid, zu deren buchästhetischer Gestaltung Schröder wichtige Impulse lieferte (vgl. Schröder 1992, 8 f.). John Giornos Cunt (1969) wurde von John übersetzt und herausgegeben, der auch Mondstrip. Neue englische Prosa (1971) zusammenstellte. Brinkmann legte Ted Berrigans Guillaume Apollinaire ist tot vor und beteiligte sich mit dem Beitrag Wie ich lebe und warum an der vom literarischen Konzept Leslie Fiedlers inspirierten und von Renate Matthaei herausgegebenen Anthologie Trivialmythen (1970). Weitere Projekte waren geplant: Rygulla hatte als Lektor die Betreuung des für 1970 angekündigten Omnibus von Brinkmann übernommen. Er selbst sollte nach dem Vorbild der noch bei Melzer erschienen Lyrikanthologie Fuck You eine weitere unter dem Titel Die schnellste Pizza der Welt zusammenstellen. Weiterhin war eine Anthologie mit Kollaborationen in Arbeit (vgl. Ott/Pfäfflin 1998, 242), die es jedoch nicht einmal mehr in die Verlagsankündigungen schaffte. Die geplanten Projekte scheiterten an dem persönlichen Zerwürfnis zwischen Schröder und Brinkmann (vgl. Schröder 1992, 18) und an der Pleite des Verlags, vor allem aber am Bruch zwischen Rygulla und Brinkmann. Rygulla berichtete von einem Abend, bei dem Brinkmann mit Freyend und Pfeiffer im März-Verlag ein »Pamphlet [...] über Literatur und Verhaltensweisen« verlesen habe, das zum »endgültige[n] Bruch unserer Freundschaft« führte (Rygulla in Rüger 1994, 71). Die kollektive Produktionsweise erstreckte sich nicht nur auf die Anthologien und Übersetzungen der Jahre 1968 bis 1970, sondern auch auf die Übernahme
der aus der amerikanischen Szene bekannten Publikationsform der »small magazines« (Schäfer 1998, 92 ff.) für Erwin’s, Der fröhliche Tarzan und Der Gummibaum (vgl. Späth 1981, 40 ff.). Sie war mit einem kollektivistischen Konzept von Autorschaft verbunden, das Parallelen zur zeitgenössischen Aktionskunst aufwies. Ausgehend von der Maxime »poetry is made by all, not by One« enthielt Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung »einen Mix aus Texten unserer Lieblingsdichter und Texten von Freunden, Bekannten, die ermuntert wurden, draufloszuschreiben. Alles war möglich. ›From the garbage into the book‹ (A. Warhol, a).« (Rygulla 2008, 120). In einem auf den Oktober 1969 datierten Begleitbrief zum ersten Heft hieß es: »Der Gummibaum kommt ohne einen großen Anspruch Ihnen entgegen, so daß Sie – ohne erschrecken zu müssen – das Heft in die Hand nehmen und darin lesen können. Er will Ihnen nicht beweisen, wie klug Sie sind oder sein müssen oder wie klug die Autoren sind oder sein müssen, und so verlangt es Ihnen nicht die übliche Geste ab, die ›Große Sachen‹ wie Literatur oder ›Kunst‹ überhaupt, uns einzunehmen abverlangen« (zit. nach Rygulla 2008, 120). Die Hefte wurden hektographiert und in einer Auflage von 300 bis 500 Exemplaren innerhalb des Literaturbetriebs verschickt. Die Herausgeberschaft wechselte von Brinkmann (Heft 1) zu John (Heft 2) und Rygulla (Heft 3). Dem ersten Heft war ein programmatischer Text von Dieter Wellershoff vorangestellt: »Stattdessen schlage ich vor, davon auszugehen, daß Schreiben auch Gedichteschreiben zu den möglichen Fähigkeiten aller Menschen gehört wie Schwimmen, Nachdenken und Tanzen, und nur in einer Gesellschaft, die Spontaneität der meisten zugrunde richtet, die Fähigkeit sich auszudrücken etwas Seltenes ist« (Wellershoff 1969; vgl. Späth 1981, 40). Zu den ersten Beiträgern zählten – neben Brinkmann, John und Rygulla – Nicolas Born, Peter Handke, Ernst Jandl, Günter Seuren und Dieter Wellershoff. Die Rolle der Gruppe »Exit« ist bislang noch wenig erhellt. Berndt Höppner gestaltete den Umschlag von Gras und veranschaulichte das für den Band konstitutive »Zusammensetzen von Privatem und Öffentlichem, diese Oberfläche, diese ›Doffheit‹, dieses Banale« (Höppner in Rümmele 2012, 137). Eine Koproduktion war das »little mag« Erwin’s. Eine wichtige Rolle nahm Henning John von Freyend für Brinkmann ein, der nach dem Bruch mit Rygulla dessen neuer »Adlatus« (vgl. Schröder 1984, 446; Schröder 1992, 19; Rygulla in Rüger 1994, 70) wurde. In den Erkundungen ist ein gemeinsamer Urlaub im November und Dezember
35 Kollektive Produktion
1971 an der Mosel dokumentiert; Rom, Blicke enthält Briefe und Postkarten aus Rom an Freyend. Seine Rolle im Kontext der Zusammenarbeit ist noch nicht scharf zu bestimmen. Er gestaltete Plakate für Lesungen und malte das Hemd, welches Brinkmann »zu einer Art Brecht-Uniform« (Schröder 1992, 8) erhob und in der Kollaborationsphase zum Markenzeichen machte (vgl. Rygulla 1995, 54; M. Brinkmann 1995, 214 f.). Das in Rom, Blicke erwähnte Öl-Porträt von 1972 war Freyends erstes Porträt (RB, 321).
35.2 Kollaborationen Die Kollaboration begegnet Ende der 1960er Jahre als produktionsästhetische Kategorie, die in unterschiedlichen Arbeiten erprobt wird (vgl. Späth 1981, 41). Nach dem Bericht Rygullas war Brinkmanns Arbeitsweise jener Jahre kollektivistisch ausgerichtet und für Interventionen anderer offen; »man hat eingreifen können in den Arbeitsprozeß« (Rygulla in Geduldig/Sagurna 1994, 98). Als Vorbild diente die Arbeitsweise der amerikanischen Schriftsteller (FW, 235). »Unter den Schriftstellern der New Yorker Schule war O’Hara der erste, der eine Verbindung zwischen Malerei und Schreiben herstellte und für die Möglichkeit eines Austausches zwischen Literatur und Malerei eintrat, womit im Ansatz eine inzwischen heute weiter fortgeschrittene Tendenz vorweggenommen wurde, die das Eindimensionale schriftstellerischer Produkte aufzuheben sucht in der Ausdehnung eines Textes auf einen anderen künstlerischen Bereich« (Die Lyrik Frank O’Haras, FW, 211). Solche Ergebnisse der Entgrenzung der schriftstellerischen Arbeit wurden in den Ausgaben und Anthologien dokumentiert. Lunch Poems beginnt mit einer Zusammenarbeit von O’Hara und Joe Brainard (Red Rydler und Hund, Lunch Poems, 12 f.), das verbindende zwischen den beiden Kunstformen ist »Sensibilität« (Lunch Poems, 81); und es endet mit O’Hara Reading von Larry Rivers, der Visualisierung eines Textes. Silverscreen enthält einen eigenen Abschnitt mit »Kollaborationen« von Ron Padgett (Silverscreen, 173–183; Brötchen mit Tom Clark, Kodak mit Ted Berrigan und Tropfen mit Peter Schjeldahl); Acid stellt Padgett als Protagonisten des Verfahrens vor (Acid, 401 f.); neben Stern*Schlinge (Padgett und Tom Veitch) findet sich noch Harte Zeiten (nach Dickens), wiederum von O’Hara und Brainard. Weitere Beispiele sind sechs Kollaborationen mit Padgett in Guillaume Apollinaire ist tot.
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Eine wichtige Rolle, wohl auch als Vorbild für das geplante Buch, spielte Bean Spasms (1967) von Padgett und Berrigan. Ein längerer, in Apollinaire ist tot übernommener Abschnitt aus dem Nachwort zu diesem Buch stellt das Verfahren vor (vgl. Berrigan 1970, 242 f.) Interessanterweise rekurrierte Brinkmann nicht auf den Dadaismus, der das Prinzip der Kollaboration ebenfalls schon angewendet hatte. Angesichts der Dada-Renaissance seit den 1950er Jahren ist nicht davon auszugehen, dass ihm das nicht bekannt geworden wäre. Denkbar sind zwei Gründe: zum einen war der Dadaismus bereits von der Neoavantgarde, der Brinkmann distanziert gegenüberstand, als Tradition reklamiert worden; zum anderen hatte sich der Dadaismus in einer anderen mediengeschichtlichen Situation befunden. Während die gemeinsame Autorschaft dort mit kunstrevolutionärem Pathos propagiert und mit Mystifikationen versehen wurde, dominierte nunmehr das unspektakuläre alltagsbezogene Bekenntnis »Es war nur das, was passierte« (Berrigan 1970, 243). Kollaborationen liegen bei der Zusammenarbeit zweier oder mehrerer, womöglich zeitlich wie räumlich getrennter, Autoren eines Textes, im Einzelfall auch ohne aktive Mitarbeit vor, aber auch bei der Verbindung verschiedener Künste. Diese ist nicht nur als pures additives Zusammentreffen der Kunstformen gedacht, sondern wird auf der Ebene des Bewusstseins konzeptionell zusammengeführt. Brinkmann erwägt, »die ineinandergerinnenden Vorstellungen beispielsweise der Berrigan/Padgett-Kollaborationen« erinnerten »an die light shows während eines Rock-Musik-Konzertes (nur daß in diesem Fall die Vorstellungen auf den inneren Bildschirm projiziert werden)« (Silverscreen, FW, 256). Bildgedichte Berndt Höppners zu BrinkmannGedichten wurden in Gummibaum (Liedchen) und Der fröhliche Tarzan (Kaffetrinken) veröffentlicht und sollten in den geplanten Sammelband aufgenommen werden. Eine spätere Reminiszenz war das für den Umschlag von Standphotos verwendete Wolken. Es gibt einige wenige verstreute Stellungnahmen zum Komplex der Kollaborationen. Die Idee gehört in den Kontext einer Neubestimmung der Autorschaft. Im Nachwort zur Anthologie Silverscreen verzeichnet Brinkmann »den seit langem überfälligen, notwendigen Trend, die in ›hohen kulturellen Ansprüchen‹ festgehaltene Mystifikation ›Dichter‹ (als blinden Seher, dumpfen Rhapsoden usw.) abzuschaffen und damit die in dieser Figur vermittelte ›Autorität‹ fallenzulassen« (Silverscreen, FW, 254). Darüber hinaus, so heißt es in den Notizen zur geplanten Anthologie im März-
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VII Weitere Werke – A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen
Verlag, wertete er die amerikanischen Beispiele als »ernsthaften Versuch [...], das Schreiben aus individueller Befangenheit herauszuführen und zu erweitern« (Rygulla 1995, 55). Ralf-Rainer Rygulla hat mehrfach von den Produktionsbedingungen berichtet: »Wir saßen mit viel Freude und Spaß zusammen und machten Texte, Gedichte in dem Fall. Verschiedene Drogen sind dabei im Spiel gewesen. Aber das war nicht unbedingt wichtig. Manchmal waren auch keine Drogen dabei. Wir fuhren mit dem Zug irgendwohin und schrieben dabei ein Gedicht. Ein sehr langes ist zwischen Köln und Darmstadt entstanden, auf der Fahrt zum Melzer-Verlag. Wir assoziierten frei aus der Situation heraus, nach dem, was wir durch die Fensterscheiben sahen, nach Stichwörtern, die wir uns zuspielten. Da war nie ein Zwang, uns oder Lesern gegenüber eine bedeutende Mitteilung zu machen. Das lustvolle Erstellen eines Textes stand im Vordergrund. Der Einfluß von Drogen spielte da natürlich auch eine Rolle, aber Befindlichkeit spielte immer eine Rolle. Wenn man erhöhte Temperatur hat, benutzt man möglicherweise auch andere sprachliche Wendungen als gewohnt. Auch ein Wetterumschwung hat Auswirkungen auf das Nervensystem. Beim Schreiben unter Drogen standen die ungewöhnliche Wendung, der Sprachwitz im Vordergrund« (Geduldig/Sagurna 1994, 103; Rygulla in Rüger 1994, 80). Die Verfertigung von Kollaborationen war zunächst ein situativ bedingtes, aleatorisches, jedoch nicht willkürliches Verfahren, »zum einen die Fortsetzung der Schreibarbeit im Dialog, zum anderen ausgelassene Pausen, die zu einer Art Formulier- und Schreib-Party gerieten« (Rygulla 1995, 55), das sich mit zunehmender Häufigkeit jedoch methodischen Regeln fügte; »[...] es fing an mit Absprachen, ich in die Engelbertstraße oder bei mir am Brüsseler Platz, dann die Form, jeder eine Zeile blind, ausgesparte Stellen, in die der andere schrieb, synchron schreiben, »Haikus«, cut ups, fold ins, Oberflächenübersetzungen, bei denen wir Gedichte, deren Originalsprache wir nicht mächtig waren, assoziativ ins Deutsche brachten, Fundstücke aus Zeitungen, die wir umschrieben« (Rygulla 1995, 55). Später, nach dem Umzug Rygullas nach Frankfurt, »schickten wir uns Zeilen hin und her und vervollständigten so per Post die Texte« (Rygulla in Geduldig/Sagurna 1994, 104). Geplant waren, so Rygulla, zwei verschiedene Buchprojekte mit Kollaborationen. Das eine sollte eine Anthologie von Arbeiten der amerikanischen Lyriker sein, das andere eine Sammlung der eigenen Arbeiten, für die der Titel FRANK XEROX’ WÜSTER
TRAUM und andere Kollaborationen vorgesehen war, das im Nachlass vorhanden ist und sich im Besitz Rygullas befindet. Proben daraus – allerdings zum großen Teil bereits veröffentlichte – sind von Maleen Brinkmann im Literaturmagazin vorgelegt worden. Rygulla gab an, es gebe ein Manuskript mit »50, 60« Stücken, nur wenige von ihnen seien bisher veröffentlicht (Rygulla in Geduldig/Sagurna 1994, 103). Aus einem Konzept Brinkmanns mit Notizen zu »Frank Xerox« geht hervor, dass es ihm um eine umfassende Gestaltung des Mediums Buch ging, die eine konsequente Fortführung der bereits bei den Piloten und den Lunch Poems realisierten Pop Art-Gestaltungsweise sein sollte. Als Einband war ein »richtiger steifer & dicker Papp-Einband wie bei Kinderbüchern« vorgesehen, dessen Umschlag ein Filmkatalog-Foto zieren sollte. Die Abfolge der Texte sollte »sehr sparsam« von Abbildungen – »das trivialste vom Trivialen z. B. Hauswurfsendungen« – und Zufallstexten – »völlig dumpfe Zeitungsnachrichten« – unterbrochen werden. Brinkmann sah eine detaillierte Kommentierung und Kontextualisierung der Texte vor; dem Konzept der Kollaboration lag ein erweiterter Textbegriff zugrunde, bei dem zur Textgestalt Informationen über die Produktionsbedingungen dazugehören. Mit diesem Plan näherte sich Brinkmann am entschiedensten Verfahren der zeitgenössischen Avantgarde an, wie am Materialbegriff und dem verwendeten Montageverfahren deutlich wird. In einem Brief an Hans Bender erläuterte Brinkmann exemplarisch: »Bei dem ›Gedicht über 4 Fische‹ stand am Anfang lediglich das Thema fest: 4 Fische. Das Gedicht [...] enthält Material aus dem dtv-Lexikon. Stichwort: das Meer und die Fische, sowie Sätze aus H. H. Jahnns Theaterstücken« (Brinkmann an Hans Bender, 13.6.1969; zit. nach Bender 1995, 33 f.). Unterschiedliche Texttypen sollten enthalten sein: neben den Kollaborationen auch Oberflächenübersetzungen, »richtige einzelne Gedicht- oder Prosaübersetzungen« und »einzelne kleinere Nebenprodukte« anderer Autoren (Brinkmann, in: Literaturmagazin 1995, 56). Die Überschreitung der Grenze zwischen eigenem und fremdem Werk zeigt sich also nicht nur in den einzelnen Kollaborationen. Es ist jedoch nicht klar, ob das Konzept nicht aus einer Arbeitsstufe stammt, bei der die beiden von Rygulla genannten Projekte zu einem zusammengefasst worden waren. Der avisierte Titel war »eine Verbeugung vor der fabelhaften Welt der Fotokopie« (Rygulla 2008, 121), die bereits in Acid eine Rolle gespielt hatte. Ihre epochale Bedeutung zeigt Brinkmann mit einem McLuhan-Zi-
35 Kollektive Produktion
tat an: »›Die Xerographie – geistiger Diebstahl für alle – kündigt die Zeiten des Sofortbuches an‹« (Film in Worten, FW, 265). Damit wird eine Reihe von Verfahren verbunden, die ihren gemeinsamen Fluchtpunkt im »Bewußtsein« finden, »im Zeitalter der Ablichtungen (Xerox) zu leben, der unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeit, die den abgebildeten Gegenstand qualitativ verändert« (ebd.). Die Anwesenheit der Sensibilität des Machers im Produkt ist dabei das wesentliche Moment. »›Mach’s neu und setzte deinen Namen darunter‹, schreibt T. Berrigan. In dem Statement K. Elmslies findet sich ein ähnlicher Hinweis auf diese Arbeitsmethode. Und bei dem bereits erwähnten Kritiker N. Calas steht der Aphorismus Plagiarism avoids imitating failure. – Aus mehreren vorhandenen, ausgeschriebenen Texten (Gedichten) einen zu machen, alte Gedichte »aufzumöbeln« ... das eigene Gedicht ergibt sich überraschend aus dem Zusammenführen mehrerer fremder Texte, aus Oberflächenübersetzungen etc.: die Möglichkeit des eigenen Ausdrucks liegt im Arrangement der Fertigteile, sobald die psychische Dimension dessen, der das macht, darin enthalten ist!« (ebd.) Vierzehn Kollaborationen, darunter zwei Oberflächenübersetzungen, sind in den Jahren bis 1970 veröffentlicht worden: Bis auf drei Ausnahmen war Rygulla an allen beteiligt, je einmal Maleen Brinkmann und John, zweimal Berndt Höppner. Die Veröffentlichungspraxis deutet auf eine allmähliche Einführung in den offiziellen Literaturbetrieb hin: zunächst erscheinen sie in den »little mags«, die nicht kommerziell vertrieben wurden, dann in den Verlagsalmanachen von Kiepenheuer & Witsch und März, schließlich in den Akzenten und im Merkur. Die Buchpublikation wäre der logische Folgeschritt gewesen. Formal fügen sich die Texte der Produktion dieser Jahre zwischen Piloten, Gras und Vanille ein. Das Gedicht, welches der Sammlung den Namen geben sollte, erschien im Merkur. Frank Xerox’ »wüster Traum« Die Kopien werden alle schwarz wie die Pest, die um uns »wütet«. 100 Tausende von Passanten stoßen Schreie aus & verschwinden in der größten Kopie der Welt, die in einer Vitrine im Britischen Museum liegt. Das Raum-
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schiff »Welt« bekommt einen neuen Kommandanten. Es ist heute Franzel Kserosch. Die Parole heißt: Die Milchstraße ist die größte Kopieranstalt des Alls. Frantek Ceroß streichelt seine Gedanken. Sie werden hell und kräftig, während der Count-down beginnt. Die Prospekte seines »Unternehmens« sind alle verteilt. Jetzt kommt es nur noch darauf an, daß die Entwicklungsländer nachziehen. Doch die Bestellungen aus der dritten Welt bleiben aus. Franz Zerocks verläßt seine Zeit.
Das Gedicht entwirft eine groteske Traumwelt, die aus Motiven der Science Fiction gespeist ist. Die Verbindung zwischen Welt und Museumsartefakt stiftet das Verfahren der Kopie, das einen kontrafaktischen, traumlogischen Escher-Effekt erzeugt. Die in vierfacher Variation des Namens auftretende träumende Mittelpunktfigur fungiert als Unternehmer, der seine Kopiermaschinen bewirbt und damit eine fundamentale Veränderung von planetarischem Ausmaß ins Werk setzen will, daran aber scheitert. Der Text buchstabiert die medientheoretischen Überlegungen der Pop-Phase aus. Die Spannbreite der Kollaborationen reicht von inhaltlich verhältnismäßig geschlossenen Texten, die zwischen Alltagsbeobachtungen und vereinzelten Gags liegen (Aus unserer Küche, Einmal, Zehn Münzen aus Albanien, Zugluft, Sein Album, Elektrisches Licht) zu experimentellen Montagetexten (Gedicht über 4 Fische). Samstags ist immer gutes Lesewetter! weist den weitgehendsten Gestaltungsgrad auf. Über die gesamte Seite sind neben der von Berndt Höppner stammenden Zeichnung einer Tasse Kaffee die einzelnen untereinander weder verknüpften noch aufeinander folgenden Textteile angeordnet. Die Seite wird optisch dominiert durch die Tasse Kaffee neben der Angabe von
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VII Weitere Werke – A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen
Autoren und Titel. Die einzelnen Elemente des Textes sind in verschiedenen Schriftgrößen gesetzt und bilden vier auf der übriggebliebenen Fläche verteilte jeweils mit eigenen Überschriften versehene Textblöcke, die Verfahren des poème trouvé einsetzen. Dem Titel folgend handelt es sich um Lesefrüchte, die parodistisch verändert werden; einmal unter der Überschrift Hegel an Du Boc aus Briefen Hegels, dann eine Goethereminiszenz (»über allen Wipfeln zieht es. / im Herzen spürst du keinen Hauch.«). Die anderen Elemente haben ähnlich wie die Banalitäten aus dem Chinesischen von Kurt Schwitters die Form einer Sentenz, die sinnentleert ist (»Aus den Fenstern / und den Türen / heisst es immer wieder: / ›Für und wider.‹«). Zwei längere Kollaborationen von Brinkmann und Rygulla sind auf Zugfahrten entstanden. Aufgrund des produktionsästhetischen Verfahrens entwickeln sie ihre Themen und Motive assoziativ und nicht kausal verknüpft, fügen sie zu keiner geschlossenen, sondern einer offenen, assoziationsangereicherten Form. Gaston ans Knie, 1969 in der Zeitschrift des Verlages Kiepenheuer & Witsch erschienen, ist mit einer Anmerkung versehen, wie sie wohl für die Texte des Buches vorgesehen war: »Am 20. April stiegen wir, d. h. R. R. Rygulla und R. D. Brinkmann, in Köln Hbf in den D-Zug ›Merkur‹ ein. Die Fahrt würde circa 3 Stunden dauern. Der Rhein war über seine Ufer getreten, wenigsten schien es uns so. Zwischen Andernach und Koblenz stieg der Schaffner zu. Er hatte wieder seinen großen Tag. Zwei D-Mark vierzig sollten wir nachbezahlen. Das wollte überlegt sein. Es beschäftigte uns bis ungefähr Mainz. Der Gedanke blieb uns gleich weit entfernt und fremd. In Wiesbaden war es, wo es uns klar wurde, den Zug zu wechseln. Schon ging die Fahrt weiter, diesmal ein Personenzug über Nauheim bei Groß-Gerau. Doch schon beim Besteigen des Personenzuges erfaßte uns die Vorstellung, dem Zug vorauszueilen. Unsere Möglichkeiten waren begrenzt. Das Gedicht zeigt das. Am 20. April nachmittags 15 Uhr 47 erreichten wir unser Ziel. Das Wetter hatte sich nicht geändert.« Nach dem gleichen Verfahren ist Der längste Zug der Welt auf der Zugfahrt zwischen Köln und Frankfurt am Main (Rygulla in Geduldig/Sagurna 1994, 103) geschrieben worden. Es ist die einzige postum erschienene Kollaboration. Kohärenzstiftend wirken in beiden Fällen das lyrische Wir und die Zugfahrt, die den Gedichten eine Zeitstruktur verleiht. Hier ist eine Form erprobt, die Brinkmann später für die großen Reisegedichte Westwärts und Westwärts, Teil 2 weiterentwickeln sollte. In Der längste Zug der Welt werden
Eindrücke während der Fahrt, Introspektionen, Assoziationen und ad-hoc-Reflexionen noch als Absätze aneinandergefügt. Das Vertextungsverfahren wird poetologisch reflektiert (»(Kugelschreiber, du materialisierst diese Zeile!)«), darüber hinaus wirkt der zeitliche Ablauf nicht nur strukturierend, sondern im zweiten Abschnitt wird über die Metapher der Zugfahrt als Lebensreise auch an traditionelle Bilder angeknüpft. Die Kollaborationen sind bislang bis auf wenige Ausnahmen noch nicht analytisch gewürdigt worden – in das Handbuch mit Interpretationen zum Gedichtwerk Brinkmanns von Röhnert und Geduldig ist keine aufgenommen worden. Eine genauere Situierung in Brinkmanns Werk bleibt zu leisten. Dass Brinkmann bis zuletzt noch an dem Verfahren festgehalten hat, belegt ein Brief an Pieper aus dem Erkundungen, in dem er auf den Vorschlag des Freundes zu einer größeren Prosakollaboration eingeht: »Mir hat sehr gefallen,Dein Vorschlag,eine Kollaboration zu machen.Und ich denke an eine in sich geschlossene eigene Geschichte,die wir noch im Winter machen könnten?!Ich würde sagen,daß Du einen Zug machst, wenn Du eine Idee hast zum Thema oder zu einem Bild oder zu einer Aktion,und dann geht es los.« (Erk, 367) Ob es dazu gekommen ist, ist bisher nicht bekannt.
35.3 Oberflächenübersetzungen Unter den Kollaborationen heben sich zwei Sonderfälle durch das bei der Textproduktion angewendete Verfahren ab (Rygulla 1995, 55). Es handelt sich um Oberflächenübersetzungen, die ein spezifisches Verhältnis von Text und Prätext begründen. Brinkmann übernahm es von den New Yorker Lyrikern, wo er es als Bekenntnis zur und produktiven Auseinandersetzung mit der Tradition – Apollinaire, Max Jacob, Reverdy – beschrieb. Es »werden Oberflächenübersetzungen hergestellt, Gedichte dieser Autoren abgewandelt, Themen und Bilder aus ihren Gedichten übernommen, daneben aber auch exakte Übersetzungen gemacht etc.« (Silverscreen, FW, 262). Dokumentiert ist das in den Anthologien Silverscreen und Acid durch einzelne Stellungnahmen, aus denen hervorgeht, dass im Einzelnen unterschiedliche Verfahrensweisen angewendet wurden. Ron Padgett nahm französische Texte. »Aus den vorgegebenen französischen Originaltexten werden Thema und Figuren beibehalten, die Sinnzusammenhänge aber durch spielerische Hinzufügung eines dem Original fremden Bild- und Wortmaterials verwischt«
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(Acid, 410). Angeregt durch O’Hara, Ashbery, Padgett und andere hatte Kenneth Elmslie neue »Methoden des Gedichteschreibens« entdeckt, darunter die »Ungezwungenheit in dem ›Falsch-Übersetzten‹ – man nimmt einen fremdsprachigen Text und macht eine willkürliche Übersetzung, die ›aus-geweißt‹ wird – man nimmt ein Gedicht von irgend jemand anderem und löscht mit weißer Tinte bestimmte Wörter aus, dann verändert man den Rest zu etwas anderem« (Elmslie in Silverscreen, 41). Die Oberflächenübersetzung orientiert sich programmatisch nicht am Ideal einer korrekten Übersetzung, sondern nutzt das fremdsprachliche Ausgangsmaterial für Variationen, die ohne vorgegebene Regel das gesamte Spektrum möglicher Anknüpfungen ausnutzen. Ted Berrigan führte die Techniken seiner Gedichte explizit auf ein »Mißverständnis der Arbeiten John Cages, Marcel Duchamps, Jackson Pollocks, William Burroughs sowie dem Gedicht selber« (Berrigan, in: Silverscreen, 66) zurück, was Brinkmann aufgriff. »Mißverständnisse sind keine, sondern erweitern das Verständnis der Sache, die »falsch« verstanden worden ist – es sind gesteuerte Abweichungen, ein Durchschlagen gängiger Assoziationen (wie schön irre ist es zu lesen: ›Über allen Gipfeln zieht es!‹). Das Bewußtsein, das derartige Veränderungen und Erweiterungen erlaubt, ist nicht mehr länger durchsetzt von jenem alten kritischen Denken, das – aufgesplittert in brillante Aphoristik und enorm in sich differenzierte Einzelanalysen – jedes konkret vorliegende Detail diffamierte und damit seinen Gebrauch dem einzelnen verweigerte – jener Denkhaltung, mit der offensichtlich eine wichtige Phase abendländischen Bewußtseins endet« (Silverscreen, FW, 262 f.). Es lassen sich drei Felder ausmachen, in denen die Oberflächenübersetzung in seinem Werk eine Rolle spielt. Zwei global oberflächenübersetzte Texte sind bekannt: Der joviale Russe, in März Texte 1 veröffentlicht, zu dem Untersuchungen vorliegen (vgl. Schäfer 1998, 233 ff.; Schmitt 2012, 215 ff.). In Erwin’s findet sich Durch mich die Meil (nach Paul Éluard: Après moi le sommeil). Zum zweiten gehört die »Antwort auf Ashbery« (Kramer 2012, 760), das Gedicht Sommer (aus dem Amerikanischen) aus Westwärts 1 & 2, bei dem die Effekte einer Oberflächenübersetzung produktionsästhetisch eine wichtige Rolle spielen. In einem Brief an Harmut Schnell erläuterte Brinkmann, er »schreibe [...] absichtlich nicht, welche flache Oberflächenübersetzung« er »für den Anfang des Gedichts benutzt habe« (BrH, 249 f.). Er verwendete die ersten drei Strophen von Ashberys Gedicht, die »fast vollständig, aber auf den gesamten Text verteilt und zum
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Teil bewußt ›falsch‹ verstanden« (Sartorius 1985, 197) eingearbeitet sind. Drittens ist ein punktueller Gebrauch zu beobachten, auf den Eckhard Schumacher 2014 aufmerksam gemacht hat. Ausgangspunkt der Arbeit mit dem Verfahren sind die beiden Kollaborationen. Mit dem Text Der joviale Russe wurde das Verfahren vorgestellt: »Der vorliegende Text ist eine Zusammenarbeit zwischen Guillaume Apollinaire, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann. Er entstand im Mai 1969, Köln, Brüsseler Platz 17 und stellt den Versuch dar, ohne Kenntnis der Fremdsprache (in diesem Fall des Französischen) ein Gedicht zu übertragen nach dem im Augenblick des Lesens sich einstellenden Oberflächenverständnisses. Angeregt wurde diese Art zu dichten durch eine besonders in der New Yorker Lyrikszene beliebte Schreibmethode. – ›Je mehr neue Techniken ins Spiel kommen, desto weniger sind die Leute von der Wichtigkeit des persönlichen Ausdruckes überzeugt.‹ Marshall McLuhan. Was immer dieser Satz sagt, er sagt nicht, daß das nötige Wissen vornehmlich ein Bildungswissen zu sein hat. Zitat ›Man sieht, die Psychologie des Zaubers ist nicht einfach.‹ Lévi-Strauss. Nach Beendigung vorliegenden Textes stellte sich bei einem Vergleich mit der deutschen Übertragung des Gedichtes ›La jolie rousse‹ = Die hübsche Rothaarige, Deutsch von Gerd Henniger, Neuwied 1969, heraus, daß die scheinbaren Abweichungen tatsächlich Ergänzungen der deutschen Übertragung waren. Man muß Gedichte aus ihrem Begriff ›Gedichte‹ befreien, um zu einem Gedicht zu kommen.« (März Texte 1, 304 f.) In wenigen Sätzen wird die Oberflächenübersetzung erläutert und kontextualisiert. Konzept, Zeit und Ort der Produktion werden knapp benannt. Die New Yorker Szene bezeichnet die Tradition; das Verfahren gehört, wie der letzte programmatische Satz deutlich macht, in eine avantgardistische Ästhetik, die das traditionelle Gattungskonzept des Gedichts zu überwinden trachtet. Das Zitat von McLuhan verweist auf den Stand des historischen Prozesses, der von einer von der Medienentwicklung ausgelösten fundamentalen Veränderung geprägt ist; zu deren avanciertestem Ort sich die amerikanische Szene entwickelt hat. Der Verweis auf Claude Lévi-Strauss führt die Diagnose Leslie Fiedlers weiter, wonach die Gegenwart als neomythisches Zeitalter zu bestimmen sei. Kollaborateure sind die beiden Oberflächenübersetzer und der tote Autor Apollinaire. Die Textproduktion ist an die Vorgaben des Prätexts gebunden. Durch die Art der Verarbeitung des Sprachmaterials gehen jedoch die Kohärenz und Semantik des Aus-
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VII Weitere Werke – A Kollaborationen und Oberflächenübersetzungen
gangstextes verloren. Die beiden Konzepte von Prätext und Text stehen in Konflikt zueinander, was durch die Darbietung der Texte nach der Konvention einer üblichen Übersetzung – links die Übersetzung, rechts der Ausgangstext – deutlich gemacht wird. Der Abdruck in März Texte 1 weicht insofern vom vorgesehenen Plan des Buches mit Kollaborationen ab, da sie auf den weiteren Abdruck einer auf Werktreue zielenden Übersetzung verzichtet, immerhin aber auf eine hinweist. Brinkmann hatte vorgesehen, »zu den Oberflächen-Übersetzungen nur Originale [zu] bringen und [eine] deutsch vorliegende genaue Übersetzung« (Brinkmann 1995, 56). Das zweite Beispiel, Durch mich die Meil (nach Paul Éluard, Après moi le sommeil), wurde ohne Beigabe des Éluard-Gedichtes und ohne weitere Erläuterung vorgelegt. Text und Prätext bilden einen scharfen Gegensatz. Éluards Max Ernst gewidmetes Gedicht entfaltet in gehobenem pathetischem Ton die Topik des Surrealismus. Die Oberflächenübersetzung von Brinkmann und Rygulla bevorzugt hingegen das niedere Register, wie ein Beispiel deutlich macht: Aus »J’entrai dans cet état qui joue sa fin« wird »Gentlemen: durchs Acetat quer durchs Pervitin!« Demzufolge gewinnt der Text den Charakter einer Parodie. Beide Oberflächenübersetzungen haben ein ähnliches Verhältnis von Text und Prätext gemein. Ausgewählt wurden zwei französische Autoren der modernen Weltliteratur, die spätestens durch Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik und Hans Magnus Enzensbergers Anthologie Museum der modernen Poesie seit den 1960er Jahren als Klassiker der europäischen Moderne galten. Im Transformationsverfahren entstehen aus dem Sprachmaterial neue Texte, die ein ambivalentes Verhältnis zur Tradition implizieren. Auf der einen Seite bekennen sie sich zur klassischen Moderne, auf der anderen sorgt die angewandte Methode für eine Zerstörung der Vorlage, aus deren Sprachmaterial etwas völlig Neues gestaltet wird. Im Horizont von Leslie Fiedlers Postmodernekonzept inszenieren die Oberflächenübersetzungen gewissermaßen die Zerstörung der Moderne. Oberflächenübersetzungen finden sich auch bei Bezugnahmen auf Popsongs. Das verweist zunächst punktuell auf den Verfremdungseffekt englischsprachiger Lieder im deutschsprachigen Kulturraum und lotet unter dem Stichwort »Rückkopplungssystem der Wörter« (Film in Worten, FW, 223) die entstehenden Effekte aus (Schumacher 2002, 34 ff.). So löst die Eingangszeile von Let It Bleed von den Rolling Stones – »Well we all need someone we can lean on« – eine In-
vektive aus: »[...] und was höre ich?:da ist son Mick Jagger der in die Körper heult,daß man immer irgendwen braucht,um sich dranzulehnen,jesus,muß das’n blöder Hund sein,und jetzt laufen sie hier wie blöde in der Gegenwart rum um irgendwen zu suchen,an den’se sich anlehnen könn’«/und schließlich lehn’se sich kaputt an’ner Mülltonne der städtischen Müllabfuhr/:« (Erk, 144). An andrer Stelle wird die Jukebox zur »JuckSchachtel, so jucken sie’s aus den Körpern raus)« (Schnitte, 87); und eine Zeile aus »Why Are We Sleeping?« von Soft Machine wird verballhornt zu : people watsch & stäre waiting for something thäts allrady thäre! : (Schnitte, 130)
Die Beispiele ließen sich vermehren. Brinkmann hat solche Elemente auch in Gedichttexte eingearbeitet. Gegenüber Hartmut Schnell hat er ein Beispiel erläutert. Im Langgedicht Fragment zu einigen populären Songs findet sich im 4. Abschnitt, der eine Reihe von Anspielungen auf Stücke der Doors enthält, auch der enigmatische Zweizeiler »(Wer reitet auf / der Schnecke?)« (Brinkmann, in: Literaturmagazin 1975, 116). Es handele sich um »eine total falsch übersetzte Zeile aus einem Doors-Song, Titel The End, wo es heißt: ride this lane, aber vom oberflächlichen Gehör her könnte das auch heißen, ride this snake – und weiter oberflächlich umgesetzt in die deutsche Sprache, und zwar nur über den Klang, also vom Laut eines Wortes her, geht die Übertragung von snake zuerst zu Schnecke (Schlangen kennt man ja hier kaum noch) – – –« (BrH, 198). In den Oberflächenübersetzungen erscheint die Sprache des Ausgangstextes in ihrem Materialcharakter, so dass man diese Texte als weitesten Vorstoß in die Domäne der zeitgenössischen Neoavantgarde sehen kann. Eine Parallele dazu bietet Arno Schmidt, der im Zusammenhang der Vorarbeiten zu einer nicht zustande gekommenen Übersetzung von Joyces Finnegans Wake und der Arbeit am von Brinkmann geschätzten Roman Zettel’s Traum eine auf die Freudsche Psychoanalyse rekurrierende Theorie der unbewussten kreativen Sprachverwendung ausgearbeitet hatte, die er als Etymtheorie bezeichnete. Brinkmann ging es nicht darum, sondern um eine rein ästhetische, assoziationsgesteuerte, unsystematische Funktionalisierung. Das zeigt auch die während der Zettel’s Traum-Lektüre notierte Frage »Was soll das mit den
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Etyms?)« (ErK, 188). In einem weiteren Sinn gehört das Verfahren der Oberflächenübersetzung in den Zusammenhang der für Brinkmann wichtigen Ästhetik der Oberfläche; eine systematische Ausführung liegt jedoch nicht vor. Literatur
Bender, Hans: »Vielleicht erinnern Sie sich meiner.« Rolf Dieter Brinkmann und die »Akzente«. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 28–37. Geduldig, Gunter/Marco Sagurna: »Es genügten ihm seine Empfindungen der Welt gegenüber«. Ein Gespräch mit Ralf-Rainer Rygulla. In: Gunter Geduldig/Marco Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, 95–108. Kalender, Barbara/Jörg Schröder: Der März Verlag – Geschichte und Geschichten. In: Jan-Frederik Bandel/ Barbara Kalender/Jörg Schröder: Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art. Hamburg 2011, 7–163. Kramer, Andreas: Sommer (Aus dem Amerikanischen). In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Bd. 2. Berlin/Boston 2012, 758–766. März Texte 1. Darmstadt 1969. Ott, Ulrich/Friedrich Pfäfflin (Hg.): Protest! Literatur um 1968. Marbach 1998. Rüger, Wolfgang: Direkt aus der Mitte von Nirgendwo. Bruchstücke zu Leben und Werk von Rolf Dieter Brinkmann. In: Gunter Geduldig/Marco Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, 67–86. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012.
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Rygulla, Ralf-Rainer: Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 51–69. Rygulla, Ralf-Rainer: Zu den Briefen des jungen Dichters 1961 bis 1970. In: Karl-Eckhard Carius (Hg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz. München 2008, 114–121. Sartorius, Joachim: Die Oberfläche des Sommers oder Was Brinkmann mit Ashbery machte. In: Akzente 32 (1985), 196–198. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schröder, Jörg: Jörg Schröder erzählt: So-Ja-Bohnen. In: Ders. (Hg.): Mammut. März-Texte 1 & 2. 1969–1984. Herbstein 1984, 439–453. Schröder, Jörg: Schröder erzählt: Zum harten Kern. Über Rolf Dieter Brinkmann. Fuchstal-Leeder 1992. Schumacher, Eckhard: »In Case of Misunderstandig, read on!« Pop, Literatur, Übersetzung. In: Jochen Bonz (Hg.): Popkulturtheorie. Mainz 2002, 25–44. Schumacher, Eckhard: »...plan wie eine Sense.« Über Oberflächenübersetzungen. In: Uta Degner/Elisabetta Mengaldo (Hg.): Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik. München 2014, 151–166. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Späth, Sibylle: Die Entmythologisierung des Alltags. Zu Rolf Dieter Brinkmanns lyrischer Konzeption einer befreiten Wahrnehmung. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur 71 (Rolf Dieter Brinkmann). München 1981, 37–49. Wellershoff, Dieter: Sind das überhaupt noch Gedichte? In: Der Gummibaum 1 (1969).
Hans-Edwin Friedrich
B Editionen und Übersetzungen 36 Acid. Neue amerikanische Szene (1969) Mit Acid. Neue amerikanische Szene legen Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla eine Anthologie vor, die anknüpfen soll an die »zahlreichen Einzelpublikationen amerikanischer Literatur in deutschen Verlagen« (Acid, 417). Gleichzeitig gewährt sie Einblicke in den »voroffiziellen Bereich« einer »Literaturszene«, die sich dem »offiziellen Literaturbetrieb« sperrt und die »Aktivierung neuer Verhaltensweisen« anstrebt (ebd., 417 f.). Wie weitreichend diese »Einübung der neuen Sensibilität« gedacht ist, veranschaulichen die beiden Herausgeber mit einer Kampfansage an das gesellschaftskritische Selbstverständnis allzumal linker Bildungsbürger und amerikaskeptischer APO-Aktivisten: »Beiträge mit ausdrücklich politischem Inhalt« seien in Acid unberücksichtigt geblieben, weil auch der ästhetische Protest das bestehende Systeme tradiere: »IM GEGENWÄRTIGEN GESCHICHTLICHEN ZUSTAND KANN POLITISCHE SCHRIFTSTELLEREI NUR EIN POLIZEIUNIVERSUM BESTÄTIGEN.« (ebd., 418). Mit dieser provokanten These ist der subversive Horizont der Anthologie präzise umrissen. Die in Acid versammelten Texte und Bilder sollen den Literaturbegriff der Nachkriegsgesellschaft ebenso brüskieren wie deren Diskurskultur. Im Unterschied zur »Unverbindlichkeit revolutionären Geredes«, das »hoffnungslos verklammert ist mit dem Zustand, gegen den vorgegangen werden soll«, wollen Brinkmann und Rygulla die Rezipienten mit »neuen Denk-, Hör-, Seh- und Empfindungsweisen« vertraut machen, an denen das »Denken in Kategorien des Fortschritts« scheitert: »Total Assault on the Culture« (ebd., 386 und 388). Die Anthologie beabsichtigt nichts weniger als die Darstellung des »Gesamtklimas« (417), sie will das Grundbuch jener Generation der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Kinder von Marx und Coca Cola sein. Als Acid 1969 im Darmstädter März Verlag er-
scheint, ist die Rezeption der amerikanischen Beatund britischen Popkultur wieder in vollem Gang (vgl. Mueller 1999). Zwar hatten sich Gregory Corso in seinem Aufsatz Dichter und Gesellschaft in Amerika (1958) und Walter Höllerer im Essay Junge amerikanische Lyrik (1959) bereits zehn Jahre zuvor mit Allen Ginsberg oder William S. Burroughs beschäftigt, und auch die von Corso und Höllerer 1961 herausgegebene Anthologie Junge amerikanische Lyrik sowie Karl Otto Paetels Beat – Eine Anthologie (1962) widmen sich dem Protest jüngerer Autoren gegen den amerikanischen Traum. Doch einflussreiche Studien wie Walter Hasenclevers Zornig – aber nicht jung. Amerikas Beat Generation (1958/59) und Hans Magnus Enzensbergers Die Aporien der Avantgarde verkürzen das Rebellische der Beatkultur auf eine Form des literarischen Aufbegehrens, die sich dem kulturellen Mainstream anbiedern soll. In der Folge wird die Beschäftigung mit dem Beat und den sich aus ihm in den 1960er Jahren entwickelnden Underground-Szenen an die Peripherie des deutschen Literaturbetriebs gedrängt. Den »einigermaßen aktuellen Stand des USamerikanischen und britischen Pop und Underground« (Kramer 2003, 27) präsentieren dann erst Anthologien, die zwischen 1967 und 1971 erscheinen, darunter auch mehrere Textsammlungen aus Brinkmanns Kölner Freundeskreis: 1967 veröffentlicht Rygulla zunächst den Gedichtband Underground Poems: Untergrund Gedichte. Letzte amerikanische Lyrik, ein Jahr später dann Fuck You!, Brinkmann folgt mit Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969) und den gemeinsam mit Frank O’Hara konzipierten Band Lunch Poems und andere Gedichte, denen sich dann noch Rolf Eckart Johns deutsche Ausgabe von John Giornos Cunt (1969) und die Anthologie Mondstrip. Neue englische Prosa (1971) anschließen (vgl. Schäfer 2003, 72). Acid erscheint also inmitten konzertierter Herausgebertätigkeit, wobei Beat und Pop als ästhetisch verwandte Derivate einer vielgestaltigen Subkultur wahrgenommen werden. Was Acid aus diesem Kontext heraushebt, ist der Anspruch, die in der Mas-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_36
36 Acid. Neue amerikanische Szene (1969)
senkultur zu konstatierende Bilderflut und deren wachsenden Einfluss auf die menschliche Wahrnehmung auch drucktechnisch zu dokumentieren. Acid gelingt dies mit einer Bild-Text-Ästhetik, die den ohnehin gattungssprengenden Charakter der meisten Texte nochmals intermedial überbietet. Um dieses Plädoyer für literarische und mediale »Vermischungen« (Acid, 384) herausgeberisch umsetzen zu können, tragen Brinkmann und Rygulla mehr als vierhundert Bücher, Literaturmagazine und Comichefte zusammen, die den angloamerikanischen Untergrundszenen der 1960er Jahre entstammen und schon wegen ihrer unkonventionellen Machart und Vertriebswege einen authentischen Einblick in diese Gruppierungen erlauben (vgl. Rümmele 2012, 195). Diese Sammlung bewahrt heute das Deutsche Literaturarchiv in Marbach auf. Eine weitere Besonderheit liegt in den beiden Umschlägen der Erstausgabe vor. Ursprünglich sollte sie im Melzer Verlag erscheinen, aber nach erheblichen Meinungsverschiedenheiten wurde sie mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren im März 1969 in dem von Jörg Schröder neu gegründeten Verlag herausgebracht. Die erste Auflage erhielt einen schwarzen Umschlag. Nur dieser Ausgabe wurde ein eigens gedrucktes Doppelblatt mit dem Inhaltsverzeichnis beigelegt. Die zweite Auflage von 10.000 Exemplaren erhielt das für alle weiteren MärzBücher typische gelbe Cover, in ihr war das Inhaltsverzeichnis eingedruckt. Beide Ausgaben tragen die quadratischen Ausstanzungen auf dem Pappumschlag. Durch die neun Fenster sieht man auf eine von Brinkmann geschaffene Collage (Bandel 2011). Bei der Übernahme in den Versandverlag Zweitausendeins im Jahr 1975 wurde die Sammlung in einer sehr wohlfeilen, allerdings stark verkleinerten Taschenbuchausgabe mit enorm großem Erfolg vertrieben. Ausgewählt und für die Veröffentlichung in Acid übersetzt werden Repräsentanten der sogenannten New York School wie Ron Padgett, Ted Berrigan oder Anne Waldman, teils aber auch unbekanntere Autoren, die wie Aram Boyajian nur vorübergehend als Dichter in Erscheinung treten. Mit Michael McClure oder Rich Krech werden ferner Vertreter der San Francisco Renaissance aufgenommen, mithin jener literarischen Bewegung, die in Brinkmanns und Rygullas Lesart sowohl historisch als auch ästhetisch eine Brücke zwischen Beat und New York School schlägt. Solche Bezüge bleiben allerdings dem Kapitel »Anmerkungen Materialien Nachweise« vorbehalten, denn in Acid soll gerade nicht dem aufgeklärt-bürgerlichen Denken in Kausalzusammenhängen gehuldigt
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werden. Im Gegenteil: Bis hin zum ständigen Wechsel von Schrifttypen und Typengröße wird der Eindruck des zufällig Arrangierten betont. Auf diese Weise entziehen sich die beiden Herausgeber der traditionsreichen Aufgabe, mit ihrer ›Blütenlese‹ zugleich auch eine qualitative Vorauswahl getroffen zu haben. Folgerichtig werden Beiträge von Dichtern, die mehrfach in Acid vertreten sind, nicht gemeinsam abgedruckt, sondern gleichsam wild im Textkorpus angeordnet. Zu diesem Arrangement fügt sich, dass es sich bei den 50 Gedichten und 44 Prosatexten um Arbeiten höchst unterschiedlicher Provenienz handelt. Schallplatten, Filme, Haschisch, Kleider, Sexualität, Schlagzeilen, die Sammlung möchte den gesamten Zeitgeist präsentieren. So finden sich kurze Gedichte, die eher versifizierten Tagebucheintragungen gleichen (z. B. George Sparling: Leckt mich am Arsch), neben Langgedichten wie John Giornos Rose, einem zweispaltig gesetzten Text, dessen ›Strophen‹ zunächst in die Welt drogenabhängiger Frauen einführen und später dann unterbrochen werden von aneinandergereihten Mitteilungen, die an Heiratsinserate erinnern und zugleich auch die sexuellen Präferenzen der jeweiligen Ansprechpartnerinnen verraten. Dass einige lyrische Arbeiten wie Tom Clarks Sonett bereits im Titel traditionelle Gedichtgattungen zitieren, tatsächlich aber im Verlauf einer Strophe den weiblichen Orgasmus beschreiben, bestätigt en passant, wie ungeeignet eine ältere Formensprache für die nicht länger metaphorisch-umschreibende Darstellung »neuen Material[s]« ist (Acid, 387). Ähnlich heterogen lesen sich die Kurzgeschichten, Essays, kulturwissenschaftlichen Abhandlungen oder Interviews. Während Tom Veitch in Die Mondschaukel von einem irreal anmutenden und zugleich pornographischen Gespräch zwischen dem »ausgediente[n] Fettsack« und einem ebenfalls namenlosen »Kartenhai« (Acid, 5 f.) erzählt und dafür die ›dirty speech‹ der Beatniks bemüht, entwerfen Leslie A. Fiedler oder Michael McClure die Anthropologie und Ästhetik der neuen amerikanischen Szene. So begründet Fiedler seine Kritik an Vernunftglauben und Humanismus mit dem Argument, ähnlich wie der bürgerliche Roman hätten sich solche sozialen Fiktionen in einer Zeit überholt, in der LSD-Gebrauch zum »Radikalismus der Jungen« gehöre und die »jugendlichen Hippies« am »Irresein Gefallen finden« (ebd., 30). In der Summe münden solche Ausführungen in Fiedlers Forderung, aktuelle Kunst »als Aufbrüche in eine unbekannte psychische Dimension« zu würdigen (ebd., 30 f.). Für die Künstler resultiere daraus die Aufgabe,
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als »Kosmonauten des Innern« einer »Erweiterung der psychischen Möglichkeiten des Menschen« vorzuarbeiten (ebd., 31). Als Abkehr vom westlichen Kulturbegriff gelesen, entwirft der Essay das Modell einer zukünftigen Gesellschaft, die sich »klassischen Rollen« im Geschlechterverhältnis ebenso konsequent verweigert wie der mentalen Dressur durch »Arbeit und Zeit« (Acid, 29). Bezeichnenderweise fügt McClure in Revolte hinzu, der Geist des Menschen sei traditionellerweise jenes Organ, dem westliche Kulturen »bestimmte Existenzmuster aufzwingen« (ebd., 220). Solange dieses Verbot körpergebundener »Selbsterkenntnis« störungsfrei funktioniere, könne Politik auch keine sozialen Konflikte lösen: »Es gibt keine ausdrückliche politische Revolte. Jede Form der Revolte ist persönlich, ist gegen innere Einstellungen und Bilder oder gegen äußere gesellschaftliche Zwänge gerichtet« (ebd., 221). Auf verwandte Weise werden in den weiteren kulturkritischen Essays die psychedelischen Potentiale der elektronisch verstärkten Rockmusik (P. Stafford, T. Kupferberg, C. Anderson), des experimentellen Underground-Films (J. Mekas, G. Battcock) sowie der als ›Spiel‹ angelegten Pop Art (J. Perreault) diskutiert, wobei William S. Burroughs und Marshall McLuhan präzisierend hinzufügen, dass jene »assoziationsketten von wörtern« (ebd., 365), denen westliche Menschen unterworfen seien, einerseits gegen »tatsachen« (ebd.) immunisieren und andererseits eine »egoistische Exzentrizität« (ebd., 371) begünstigen. Das aggressive Ideal dieser »gesellschaftlichen Maschine« sei eine »engspurige, spezialisierte Maskulinität« – filmisch verkörpert von Western-Darstellern wie John Wayne (ebd.). Im Gegenzug wird der zeitgenössischen Jugend attestiert, sie habe die rationalistischen Grundlagen ihrer Kultur längst als »Anachronismus« durchschaut: »Man wird viel eher Gefühlstiefe und psychische Flexibilität schätzen. Es wird größere Intuition verlangt werden« (ebd.). Um diesen Frontalangriff auf die westlichen Leitwerte auch visuell herauszuarbeiten, greifen Brinkmann und Rygulla auf Filmbilder, Starfotos, Reklameanzeigen, Fotocollagen und Cartoons zurück. In einigen Fällen dienen sie der Illustration des Gesagten, zu nennen wären Standbilder aus Andy Warhols Filmexperimenten oder Porträtaufnahmen wie in William S. Burroughs Beitrag Die unsichtbare Generation. Andere Bilder zeigen demgegenüber Rockbands oder gewähren Einblicke in das Zusammenleben zeitgenössischer Kommunen, was sich zum Lebensgefühl der damaligen Jugend fügen dürfte. Das
Gros dieser vermeintlichen Illustrationen, insbesondere die Gewalt- und Nacktszenen, unterbricht indes die Kausallogik theorielastiger Aufsätze und forcieren damit den Widerstand gegen gesellschaftlich oktroyierte Lesegewohnheiten. Indem die Herausgeber ferner einzelne Gedichte auf Fotos abdrucken, gelingt es ihnen, zentrale Aussagen der Anthologie zu pointieren und sie als Ausdruck einer Kollaboration mit den Autoren einzustreuen. So findet sich John Giornos pornographisches »Gedicht« auf einem ovalen Bild, das den Körper einer entblößten Frau zeigt. Durch den zweispaltigen Abdruck links und rechts daneben kann die Text-Bild-Collage als Stilisierung der weiblichen Scham betrachtet werden – ein Eindruck, der von den acht Gedichtstrophen insofern bestärkt wird, als das lyrische Ich den Geschlechtsakt aus der Perspektive lüsterner Männerphantasien und brachialer Potenzverherrlichung schildert. Inwieweit Bilder und Collagen in Acid dazu verwendet werden, um intellektuelle Distanz zu einzelnen Behauptungen zu ermöglichen, sei am Beispiel des Mutationsblues überschriebenen Interviews mit Frank Zappa aufgezeigt. Berühmt für seine antiamerikanischen Songtexte äußert sich der Rockstar ausgesprochen negativ über »Pop Art« (Acid, 288), »Peaceniks« (ebd., 289) und juvenale Subkulturen: »Unter denen, die ich in diesem angeblichen Underground getroffen habe, fand ich nur sehr wenige Leute, die wirklich bereit waren, irgendetwas zu tun. [...] Alles ist so oberflächlich, Mann« (ebd., 293). Mit dieser Infragestellung all jener alternativen Lebens- und Kunstanschauungen, um die es in Acid geht, isoliert sich der Musiker auf geradezu defätistische Weise. Was die Herausgeber von solchen Ausführungen halten, lässt sich ihren vier Bildbeigaben entnehmen. So zeigt eine Abbildung einen sichtlich angewiderten Mann, der einen Kothaufen in Händen hält. Beschlossen wird dieser kleine Illustrationszyklus mit einem Cartoon, auf dem ein blutender Kopf zu sehen ist, der von einem schwarzen Stiefel niedergetreten wird. Aus dem Mund des Opfers quillt das Wort ›Music‹. Sollte es sich hier um die symbolische Darstellung einer Fankultur handeln, die von einem überheblichen Musiker unterdrückt wird, so wäre Zappas Beitrag als kontraproduktive Glosse entlarvt. Zu den zahlreichen Comiceinlagen und Zeichnungen lässt sich zusammenfassend sagen, dass Brinkmann und Rygulla mehrfach aus gewaltverherrlichenden Erwachsenencomics zitieren, um jene brutale Seite eines westlichen Logos zu enttarnen, die Triebunterdrückung und Rücksichtslosigkeit unter
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dem Deckmantel zweckrationaler Entschlossenheit begünstigt. Weitaus humorvoller nimmt sich der von Ron Padgett und Joe Brainard stammende Kurzcomic mit dem Titel Cézanne aus. Bestehend aus vier Panels, ist der berühmte Maler nirgends zu sehen. Stattdessen bleibt von ihm im ersten Kästchen eine Sprechblase, in der »I Think / I’ll Paint / Today« zu lesen ist (Acid, 249). Da die Geschichte mit einem leeren Panel endet, zerstört der Comic nicht nur das huldigende Schreiben über Kunst, sondern auch den Mythos des auserwählten Künstlers, der ja nach bürgerlicher Maßgabe eben nicht ins Grübeln über seine Profession verfällt. Dem Hauptteil der Anthologie folgt mit Brinkmanns Essay Der Film in Worten eine seiner popund ästhetiktheoretisch wichtigsten Abhandlungen (s. Kap. 15.3). Er lässt sich als eine Synthese aus den in der Sammlung enthaltenen Beiträgen lesen. Mehrere Stichworte lieferte John Perreault in seinen Bemerkungen und Anmerkungen zur zeitgenössischen Kunst, der von den Anforderungen einer modernen, »inter – medialen Welt« (282) ausgeht. Da sich der Aufsatz außerdem explizit auf Leslie Fiedlers Thesen zur postmodernen Bewusstseinserweiterung sowie William S. Burroughs sprach- und sozialkritische Ausführungen bezieht, seien die vorstehenden Ausführungen um zwei wesentliche Aspekte ergänzt: Brinkmanns Politikbegriff und seine Ästhetik des Gegenwärtigen. Von der Annahme ausgehend, dass die Abschaffung »zwanghafte[r] Assoziationsabläufe« (Acid, 395) den Menschen sowohl psychisch als auf physisch befreit, fordert Brinkmann von den zeitgenössischen Künsten gattungssprengende Kollaborationen und deutungsoffene Werke, denen kein »›übergeordneter‹ Sinn mehr anverwandelt werden kann (ebd., 391). Künstlerseitig lasse sich diese Aufgabe umsetzen, wenn beispielsweise Filmbilder oder Reklamefotos ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang entnommen und im Text mit einer »aufgelösten RaumZeit-Logik« (ebd., 383) konfrontiert werden: »Um Mögliches konkret werden lassen zu können, hat jene Freiheit eingeübt zu werden, mit Vorhandenem etwas anderes als das Intendierte zu machen« (ebd., 387). Weil solch ein »Anwachsen von Bildern« überdies zahllose Bezüge zu anderen Künsten herzustellen erlaubt, sehe sich der Rezipient von der stets auch disziplinierenden Wirkung des Lesens entbunden: »Bilder, flickernd und voller Sprünge« (ebd., 381). Zu den kunstpraktischen Techniken, mit denen sich »neue sinnliche Ausdrucksmuster« umsetzen lassen, zählen Brinkmann zufolge »cut-up«, »fold-in« sowie bewuss-
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te Plagiate und »Oberflächenbeschreibungen« (ebd., 390; s. Kap. 35.3). Diese neue Sensibilität für eine alltagsaffine Kunst erzeuge ästhetische Präsenz mit Hilfe von Material, das »zu der verwendeten Stilisierung« in Text oder Bild partout »nicht paßt« (Acid, 393). Welche politischen Implikate sich mit dieser Verabschiedung der Hochkultur verbinden, erläutert Brinkmann in drei Schritten: Solange sich Untergrundliteratur dem »militarisierten Standard« des Denkens und Urteilens entziehe, missachte sie gezielt »Übereinkünfte des Geschmacks« und ein Leben »in nationalen Räumen« (ebd., 384 f.). Orientiere sich global ausgerichtete Dichtung nicht länger an kulturgeschichtlicher »Kontinuität«, unterlaufe sie darüber hinaus die Vereinnahmung der Autoren als ethische Instanz. Was die Werke der »Bewegung« freilich erst zu einem »Politikum« jenseits aller Parteiprogramme erhebt, ist die Bereitschaft, der »Gewaltanwendung seitens der Unterdrückten, Unterprivilegierten« nicht länger mit ästhetischer »Abrichtung« zu begegnen (ebd.). Wer nun eine präzise Antwort auf die Frage erwartet, wie sich die Gesellschaft nach Überwindung der »Angst-Szene ›Kultur‹« entwickeln könnte, sieht sich enttäuscht. Bevor sich Der Film in Worten in solche wortmächtigen Spekulationen verliert, fordert Brinkmann seine Leser auf, die Gegenwart bis auf weiteres um viele »Stückchen befreite Realität« zu bereichern (ebd., 399 und 384). Schon früh regte sich Kritik am Konzept der sogenannten »Untergrundliteratur«. Bereits den ersten Lesern erschien mehr das Buch selber als eigentliches Ereignis, weniger alle darin versammelten Texte (Schober 1969). Auch das Fehlen einer »Tradition« der dort versammelten Schreibweisen wurde bemängelt. Schließlich war die »neue amerikanische Szene« nicht über Nacht entstanden. Widersprüchlich erschien der Anspruch, keine Literatur zu machen und dennoch literarische Texte zu präsentieren, auch die Fäkalsprache kam in älteren Texten vor, ihre Verwendung war in Acid nur exzessiv geworden. An die Stelle einer kritischen Auseinandersetzung mit der Welt sei das offene Demonstrieren von Frustrationen und Obsessionen getreten. Die Autoren der Anthologie hätten sich in apokalyptischen Ritualen und Bildern eingerichtet, aus denen sie sich wie in einem Warenhaus bedienten (Schober 1969). Der Rezensent nannte eine ganze Reihe von amerikanischen Anthologien, darunter mehrere von Gregory Battcock, die Brinkmanns Sammlung ergänzten. Sie finden sich in dem von Rygulla erstellten Anhang bei den Autorenporträts. Auch die dort genannten Orte der Erstpublika-
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tionen in Zeitschriften widerlegen nicht selten die These vom »underground«. Überdies geht mit der Begeisterung für den »underground« zugleich die These von seinem Verfall einher oder wie Brinkmann selber im Tagebuch formulierte: »...dieses lange,langsame Zerbrechen,und dann die Wiederholung bei den sogen.Underground,die irgendwie in den Overground wollen,nur leicht verändert,und wo dieselben Sachen laufen!« (Erk, 191) Tatsächlich sieht Brinkmann das Problem genau. Schon alleine die Publikationsgeschichte von Acid belegt seine These vom raschen Austausch zwischen einer Subkultur und dem etablierten Verlagswesen, der stets in beiden Richtungen verläuft. Literatur
Bandel, Jan Frederik/Barbara Kalender/Jörg Schröder: Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art. Hamburg 2011. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt 1969. Enzensberger, Hans Magnus: Die Aporien der Avantgarde. In: Merkur 16/171 (1962), 401–424. Grzimek, Martin: ›Bild‹ und ›Gegenwart‹ im Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Ansätze zu einer Differenzierung. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Text + Kritik 71. München 1981, 24–36. Hasenclever, Walter: Zornig – aber nicht jung. Amerikas ›Beat-Generation‹. In: Der Monat 121 (1958), 74–78. Hecken, Thomas/Marcus S. Kleiner/André Menke (Hg.): Popliteratur. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2015. Hoffmann, Detlef: Erzählungen im Pop. Über Comicstrips in Deutschland zur Zeit der Pop Art. In: Johannes G. Pan-
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Stefan Greif
37 Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969)
37 Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969) Ähnlich wie Acid. Neue amerikanische Szene erscheint die Lyrikanthologie Silverscreen im Umfeld mehrerer Veröffentlichungen, die von Rolf Dieter Brinkmann und seinem Kölner Freundeskreis herausgegeben werden (s. Kap. 36). Im Mittelpunkt stehen die Beatkultur und ihre Nachfolger, darunter die San Francisco Renaissance und die New York School, aber auch der Londoner Underground der späten 1960er Jahre, an dem die Herausgeber die ›Amerikanisierung‹ der europäischen Kultur studieren. In London sammeln sie auch subversive Literaturmagazine, billig produzierte Buchausgaben, Schallplatten und Dokumente öffentlicher Lesungen, die abseits vom »Kultur-Monopol« vertrieben werden und mit ihrer »permanenten Mobilität« nationale Befindlichkeiten, »Sprachbarriere[n]« und die abendländische »Konvention ›Moderne‹« unterwandern (Silverscreen, 19 f.). Wie allerdings schon der Untertitel und die Aufmachung des Bandes anzeigen, verfolgt Brinkmann mit Silverscreen ein eigenes ästhetisches Konzept, mit dem sich auch seine Einleitung mit dem Titel Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie auseinandersetzt. So beinhaltet die Textsammlung fast ausschließlich Lyrik, weil diese Gattung nach den Worten des Herausgebers besonders eindringlich verstehen hilft, warum die junge amerikanische Dichtergeneration um Frank O’Hara und Michael McClure auf ein um sich greifendes Denken in Bildern reagiert. Das Cover zeigt eine Filmszene. Wie die flimmernde Leinwand im Kino soll die Anthologie Bilderassoziationen erzeugen. Von einem frühen Gedicht O’Haras ist auch der Titel der Anthologie angeregt. In Junge Amerikanische Lyrik von 1961, jener Sammlung, die Brinkmann so intensiv wie keine andere studierte, fand er im Gedicht An die Filmindustrie in Krise die Verse, die er auch in seinem Nachwort zu Acid zitierte (Mueller 1999, 107): »In Zeiten der Krise müssen wir alle wieder und wieder entdecken / wen wir lieben. (...) Und Ehre geben wem Ehre gebührt: (...) dir / prächtige Silver Screen, tragisches Technicolor, verliebtes / Cinemascope« (Acid, 384). Über diese »sinnliche Erfahrung« heißt es im Weiteren, die in Silverscreen versammelten Arbeiten glichen »Blitzlichtaufnahme[n]« ohne jede »Zurückbiegung des Gedichts auf ein Sprachproblem oder auf unpersönliche Metaphern oder das bloße Allgemeine (der ›Politik‹), denn Leben ist ein komplexer Bildzusam-
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menhang« (Silverscreen, 8). Verglichen mit diesem Plädoyer für die »Abweichung vom vorgegebenen Muster ›Dichtung‹« (ebd., 9), verglichen aber auch mit der gewollt unsystematischen Anordnung unterschiedlichster Szenetexte in Acid wirkt der Gedichtband in sich geschlossener, übersichtlicher. Brinkmanns Einleitungsessay schließen sich 22 Kapitel an, die jeweils einem Autor gewidmet sind und demselben Aufbau folgen. So wird jeder Dichter mit einer kurzen biographischen Notiz vorgestellt, hierauf folgt eine Notiz zu bislang vorliegenden Büchern des in Rede stehenden Lyrikers sowie der Nachweis, welchen Originalpublikationen die nun folgenden Gedichte entnommen sind. Nicht alle, aber die meisten der ausgewählten Autoren haben darüber hinaus die Gelegenheit ergriffen, ein sogenanntes ›Statement‹ beizusteuern, eine Art Poetologie in nuce, der weiterführende (und nicht immer ganz ernstgemeinte) Hinweise auf das Selbstverständnis als Dichter oder auf zentrale Anliegen des eigenen lyrischen Schreibens zu entnehmen sind. Beschlossen wird die Anthologie mit einem Anhang, der die amerikanischen Texte im Original enthält sowie drei Abhandlungen, die sich mit dem Leben im Underground, freier Liebe und der New York School beschäftigen. Darüber hinaus durchziehen Silverscreen in loser Folge ganzseitige Photographien – Filmbilder, Porträtaufnahmen, Pressefotos –, die insofern mit dem Inhalt einzelner Gedichte korrespondieren, als in der Anthologie häufig berühmte Filmhelden und -diven zur Sprache kommen. Hinsichtlich der Autorenauswahl bleibt zu bemerken, dass Dichter wie Frank O’Hara, mit dem sich Brinkmann intensiv beschäftigt, in Silverscreen mit nur einem Gedicht vertreten sind. Bei Biotherm handelt es sich freilich um ein mehrseitiges Langgedicht, über welches die Leser erfahren, es habe »den intensivsten Einfluß auf die Generation nach 1940« ausgeübt (ebd., 18). Dass Brinkmann zeitgleich zu Silverscreen und gemeinsam mit O’Hara an einer übersetzten Auswahl der Lunch Poems arbeitet und sein Freund Rolf Eckart John sich gerade mit John Giorno befasst, dem in Silverscreen ebenfalls nur ein Gedicht vorbehalten ist, bleibt demgegenüber unerwähnt. Dieses philologische Detailwissen gehört zur Interessenssphäre jener Verfechter von »hohen kulturellen Ansprüchen«, die Literatur zu einer gedankenschweren »Angstszene« verklären und den Dichter als »Autorität« verehren (ebd., 14 und 12). Die wissenschaftlich regelkonforme Beschäftigung mit Silverscreen steht demzufolge im Verdacht, mit ihrer »herrische[n] Geste des Besserwissens« das Aufbegehren gegen »Forderungen des Bestehenden« (ebd., 9) zu do-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_37
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mestizieren. Wie energisch sich die in Silverscreen versammelten Beiträger von diesem überkommenen »Buch-Klima« distanzieren, wird in den »Notizen« mit Worten begründet, die summarisch, aber darum nicht minder radikal die bundesrepublikanischen Lyrikdebatten nach 1945 beiseite wischen: »Und das ist nach all den kosmischen Verschwommenheiten, den bekannten lyrischen Empfindungen und didaktischen Klugheiten aus dritter, vierter Hand, die sich z. B. im deutschsprachigen Gedicht der Nachkriegszeit ausgebreitet haben, die wichtigste Entdeckung des amerikanischen Typus von Lyrik: Gegenwart, die auf den, der schreibt, bezogen ist, nicht aber die Erfüllung allgemeiner Forderungen ist, die immer Forderungen des Bestehenden sind.« (Silverscreen, 9) Angesichts der immer massiveren Kritik, mit der europäische Intellektuelle Ende der 1960er Jahre auf die USA reagieren, mutet es auf den ersten Blick befremdlich an, mit welcher Begeisterung Brinkmann auf die amerikanische Underground- und Popliteratur reagiert (vgl. Schäfer 2003, 73). In einem seiner Briefe an Hartmut heißt es diesbezüglich, während die lyrische »Form« im »Abendland« dem »Zwang« zur »Stilisierung des Wahrgenommenen« unterworfen werde, habe die junge Dichtergeneration mit ihrer subjektiven Gestaltung des »Erlebten« wieder »Schwung in die alte klapprige Kiste Literatur« gebracht (BrH, 141). Dabei ist sich Brinkmann durchaus bewusste, dass auch in den USA nach wie vor akademisch geschulte Autoren an elitären Sujets und hochkulturellen Gattungskonventionen festhalten. Und wie nachhaltig diese regressiven Tendenzen den Literaturbetrieb dominieren, glaubt er selbst den Gedichten der Beatniks zu entnehmen. Noch gewohnt, »in nationaler Dichtung zu denken«, spreche aus ihren Werken das Bestreben, »zwanghaft amerikanisch« zu schreiben (Silverscreen, 10). Erst die folgende Autorengeneration habe sich von solchem Dünkel emanzipiert. Seit sich eine »globale Empfindsamkeit« durchsetze, »wie sie auch in den Studentenaufständen überall wirksam wird«, gelte jene »Isolation, die mit der Ausprägung einer an eine bestimmte Sprache und Nation gebundenen Literatur begonnen hat«, als historisch überholt (ebd., 10 f.). Um den Beweis für diese Annahme antreten zu können, wählt Brinkmann die in Silverscreen aufgenommenen Gedichte aus einem Konvolut von 400 Szenezeitschriften und Büchern aus, die er gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla zusammengetragen hatte. Diese meist hektographierten und von Kleinverlagen vertriebenen Publikationen entstammen den britisch-amerikanischen Subkulturen der 1960er Jah-
re, und wie Brinkmann in seinen »Notizen« ergänzt, schließen sie jene »Kluft zwischen ›hohen Kulturleistungen‹ für eine kleine Elite und ›niederen‹ Unterhaltungsprodukten« (ebd., 22). Indem man Gedichte auf Handzetteln verteile oder öffentliche Gruppenlesungen organisiere, wachse in einem breiteren Publikum das Interesse an »Kunstexperimente[n]« (ebd., 21– 22). Lustgewinn und antiautoritäre Impulse gehören zu den bestimmenden Kräften dieser Lyrikszene, deren Verbreitung sich Brinkmann natürlich wünscht. Merkwürdig widersprüchlich bleibt jedoch die Trennung von Kultur, Literatur und Lust, sobald nach den deutschen Verhältnissen gefragt wird. Brinkmann rügt hier die Intellektuellen, sich zu wenig auf mediale Möglichkeiten einzulassen (Jordan 1994, 175), wenn sie es aber tun, werden diese »Dichter als Fernsehleichen vorgesetzt« (Silverscreen, 22). Insgesamt kann man hier in der Phase vor seinem Aufenthalt in den USA ein noch starkes, letztlich naives Vertrauen in die amerikanische Kulturszene konstatieren. Als poetologisch ebenso wegweisend erscheint Brinkmann die Beschäftigung mit Alltagsgegenständen, vermeintlich trivialen Erfahrungen oder medialen Impulsen, die dem Dichter Gelegenheit bieten, sich als individuell erlebendes Subjekt einzubringen. In der Folge solch eines Aufbegehrens gegen »das Auslöschen des Einzelnen« in der Massenkultur werde die »einheitliche Perspektive auf die Umwelt« von Spontaneität und empathischer Vielfalt abgelöst. Darüber hinaus verliere der Autor endlich seine kulturkonstitutive Funktion als ethische Instanz. Erst im Anschluss an diese »Subjektivierung des Schreibens« sei es wieder möglich geworden, bislang kunstfernes »Material« aufzugreifen und beispielsweise Kochrezepte oder »mein liebstes Gemüse« zu thematisieren. Und genau davon verspricht er sich die Loslösung von moderner Entfremdung: »das konkrete Detail befreit« (Silverscreen, 11). Zu den literarischen Gestaltungsmitteln, mit denen sich solche Attacken auf das »Tiefsinnig-Innerliche« umsetzen lassen, gehören nach Auskunft der »Notizen« intermediale Anleihen bei Film und Photographie (ebd., 25), darunter »Zooms auf winzige, banale Gegenstände«, ferner »Überbelichtungen« und »Doppelbelichtungen«, mit denen einzelne Motive aus verschiedenen Perspektiven thematisiert und bewusst widersprüchliche Aussagen in Kauf genommen werden, sowie »Gedanken-Schwenks« und »Schnitte« (ebd., 30). Besonderes Augenmerk schenkt Brinkmann auch den Plagiaten und Xerographien, die mehrere »fremde[] Texte« zusammenführen, um diese »Fertigteile«
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mittels eigenwilliger Arrangements zu etwas Neuartigem »aufzumöbeln« (ebd., 27). Dass es bei dieser Arbeitsmethode schon deshalb zu komischen Effekten kommt, weil sich beispielsweise Gedichte renommierter Autoren solch einem vermeintlich willkürlichen »Bedeutungsgehalt« unterordnen müssen, markiert nach Brinkmann eine weitere »Eigenart der neuen amerikanischen Gedichte« (ebd., 26 f.). Mit diesen Hinweisen sind auch die wesentlichen Auswahlkriterien genannt, die Brinkmann seiner Zusammenstellung von Langgedichten, pornographischen ›Oden‹ oder komischen Reflexionen über historische Ereignisse und verquere Alltagsbegebenheiten zugrunde legt. Motivisch auffallend sind die vielen Anspielungen auf das Hollywood-Kino und Gedichte auf einzelne Filmstars. Wie spöttisch diese Berühmtheiten abgehandelt werden, mag stellvertretend Charles Bukowskis Bogart in der Welt der Toten veranschaulichen: Nachdem zunächst mit Humptey Dumptey eine Figur aus britischen Kinderreimen eingeführt wird, widmet sich das Gedicht in einem zweiten Schritt dem rauchenden Schauspieler, der seinen »Rennwagen« durch Paris steuert und von den Frauen als »ganz Harter Bursche« begehrt wird (Silverscreen, 163). Was Bogart im Folgenden erleben muss – er überfährt eine »Proust-Leserin« (ebd.), verbrennt sich die Finger an einer Zigarette und überrascht seinen Vater schließlich beim Sex mit einer Prostituierten, die eigentlich er gerade aufsuchen wollte –, wendet den Nimbus des Kinohelden ins Lächerliche (vgl. Rümmele 2012, 199). Im zweiten Teil des Gedichts, in dem nun auch mehrere Zeilen abweichend vom sonstigen Schriftbild eingerückt werden und sich syntaktische Sprünge häufen, begegnen sich Humptey und Humphrey auf einen Drink, woraufhin das lyrische Ich die Leser mit der Frage konfrontiert, warum ihnen das Gedicht im Unterschied zum Pariser und New Yorker Publikum nicht gefalle. Solchermaßen auf eine Stufe mit dem tollpatschigen Bogart gestellt, der eine längst provinzielle Männlichkeit personifiziert, bleiben den Rezipienten noch einige kryptische Schlussverse, die daran erinnern, dass das Leben des inzwischen verstorbenen Stars »lahm und abgestanden« wirkt (Silverscreen, 166). Scheinbar korrumpiert wird diese Einschätzung mit Hilfe einer Schwarzweiß-Aufnahme, die Bogart in kauernder Haltung als schussbereiten Ganoven zeigt. Was nun unter lyrischen Doppelbelichtungen und sinnlichen Blitzlichtaufnahmen genauer zu verstehen ist, lässt sich an Frank O’Haras Langgedicht Biotherm aufzeigen. Angelegt als Versuch, »ein seltsames Le-
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ben« an der Grenze zwischen Ich-Bewusstsein und psychischen »Ungereimtheiten« in Worte zu fassen, tauscht sich ein undeutlich konturiertes Subjekt mit einem geliebten Menschen über Frustrationen, erotische Begehrlichkeiten und gemeinsam Erlebtes aus (Silverscreen, 128 und 124). Aufgrund zahlreicher disparat formulierter Äußerungen, abrupter Unterbrechungen, und wenig erhellender Sprachbilder verlieren sich allerdings die meisten Mitteilungen im Irrealen. Verschiedene fremdsprachige Zitate oder die Aneinanderreihung von kulinarischen Fachbegriffen vereiteln den gedanklichen Nachvollzug ebenso wie flächenartig angeordnete Verse und breite Textlücken in einzelnen Sätzen. Eine gewisse Leserorientierung bieten allenfalls die Versuche, einzelne Äußerungen mit Hilfe von »Filmerinnerungen« und »Filmzitate[n]« (Röhnert 2007, 112) sowie Anleihen beim amerikanischen Literaturbetrieb einzuordnen: »aber Wallace Stevens gibt mir keine Liebe, nein, wirklich nicht / Ich glaube, délices ist ziemlicher Mist« (Silverscreen, 126). Gleichwohl münden auch solche Versuche, eigene Erfahrungen mit kulturkonformen Verhaltensmustern abzugleichen, in Paradoxien. Sollten sich die beiden in Rede stehenden Liebenden solch eine breit angelegte Collage aus Versatzstücken und Reminiszenzen noch ins Sinnhafte übersetzen können, so sehen sich uneingeweihte Leser kategorisch ausgeschlossen von einer Lyrik, die nicht länger Lebenshilfe oder Bewusstseinslenkung sein will: »Wir haben«, so kommentiert Brinkmann das Gemeinte, »bloß Angst, das zu sein« – nämlich frei von Interpretationspflichten –, »weil alles um uns sich mit sinnloser Bedeutung aufgeladen hat, die jeden Gegenstand unserer tatsächlichen Benutzung entzieht!« (ebd., 11) In der spärlichen Literatur zu Silverscreen wird einhellig betont, Brinkmann habe Frank O’Hara zum Popautor stilisiert und auch in die bereits erwähnten Lunch Poems nur solche Gedichte aufgenommen, die »subjektive Wahrnehmung« und den Willen zur Überwindung der »Grenze zwischen Kunst und Leben« bezeugen (Kramer 2003, 32). Ron Padgett attestiere er demgegenüber einen »prägenden Einfluß« seitens »der französischen Surrealisten« (Mueller 1999, 121). Tatsächlich heißt es in den »Notizen«, surrealistische Texte seien längst zu ›gewöhnlich‹ geworden, um junge amerikanische Autoren ernsthaft inspirieren zu können (vgl. Silverscreen, 24): »Der Blick auf die konkret erfaßbare, alltägliche Umwelt [...] verhindert ein epigonenhaftes Nachschreiben« (ebd.). Was Brinkmann hingegen lobend erwähnt, sind Ron Padgetts »Oberflächenübersetzungen«, mithin nicht eben
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werkgetreu übersetzte Gedichte anderer Autoren, die in eigene lyrische Arbeiten integriert werden, »und zwar ohne sie als bedeutsam zu zitieren« (ebd.). Solche profanen Anleihen konfrontierten die Plagiateure mit ihrer »eigenen Verrücktheit« und veralberten die Forderung nach philologischer Genauigkeit (ebd.). In Silverscreen ist Padgett mit fünf Nonsense-Gedichten vertreten, in denen es beispielsweise um Murmeltiere geht, die nachts den Salat des lyrischen Ichs verspeisen, oder um »eine Tuba, die eine Wiese voll Glockenblumen ist« (Silverscreen, 123). Ob es sich hierbei um literarische Zitate handelt, wird weder in Padgetts Kurzbiographie noch im Kontext der Originale erörtert. Ein weiteres Mal an exponierter Stelle findet sich der Dichter im Kapitel »Kollaborationen« (ebd., 173–184), das den eigentlichen Anthologieteil beschließt. An allen vier Gemeinschaftsproduktionen ist Padgett beteiligt, wobei Tom Clark, Peter Schjeldahl und zweimal Ted Berrigan zu seinen Lyrikpartnern gehören. Über die Bedeutung solcher Kollaborationen vermerken die »Notizen«, sie trügen besonders prägnant zum »Abbau der kulturellen Definition ›Autor‹« bei (ebd., 16). Ferner handle es sich um »künstlich hergestellte Bild-Reihen«, die »in einen Witz, einen Gag« münden (ebd., 17). Ohne hier das komplexe Gefüge ausdeuten zu können, das beispielsweise die mit Ted Berrigan geschriebene Kollaboration Usura mit Ezra Pounds PersonaeVerfahren und seinem Langgedicht Hugh Selwyn Mauberly verbindet, in dem erstmals Kritik am Wucherzins (usura) geübt wird, sei zusammenfassend darauf hingewiesen, dass Padgett und Berrigan den einundzwanzigsten Geburtstag einer jungen Frau schildern, die erste sexuelle Erfahrungen sammelt und in einen rituellen Traum verfällt, in welchem Männer eines afrikanischen »Zug-Stammes« eine schlüpfrige Rolle spielen (Silverscreen, 182; vgl. Mueller 1999, 122). Anstatt nun Pounds sublime Kritik an einer kriegslüsternen Moderne zu kopieren, macht sich die Kollaboration über den »Knilch« als »Symbol des Pathos« und sein preziöses Verhältnis den »Dinge[n]« gegenüber lustig (Silverscreen, 182). Das Gedicht endet mit dem Hinweis, das Leben sei bloß ein »Theater der Improvisation«, aber dennoch von einer »Komplexität« getragen, die ›spontane‹ Zuwendung verlange (ebd.). Andeutungsreich wird somit an Ezra Pound als Autor erinnert, dessen Engagement für das Weiterleben lyri-
scher Traditionen zu antisemitischen Verwicklungen geführt hatte. Was sich in Usura zunächst als eine von Männerphantasien flankierte »Abnutzung« eines noch jungfräulichen Mädchens anzudeuten scheint, endet mithin in einer anspielungsreichen Verabschiedung der »alten Zeiten« (ebd., 180 und 182). Dass den deutschen Lesern, die sich Ende der 1960er Jahre erstmals mit Silverscreen beschäftigen, die hermetischen Anspielungen auf Pound entgangen sein dürften, darauf haben Agnes C. Mueller und Andreas Kramer aufmerksam gemacht. Weil Pound seinerzeit nur sehr wenigen Kennern vertraut ist und zudem im Verdacht faschistischer Umtriebe steht, werden er oder William Carlos Williams hierzulande »als literarische Wegge fährten [...] von Ginsberg und Kerouac« wahrgenommen (Kramer 2003, 27; vgl. Mueller 1999, 122). Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter (Hg.): Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Köln 1969. Jordan, Lothar: Europäische und nordamerikanische Gegenwartslyrik im deutschen Sprachraum 1920–1970. Studien zu ihrer Vermittlung und Rezeption. Tübingen 1994. Kohtes, Michael: Rolf Dieter Brinkmann und die ›neue amerikanische Szene‹: ein Beitrag zur Lyrik der 60er Jahre. Masch. Bonn 1986. Kramer, Andreas: Von Beat bis ›Acid‹. Zur Rezeption amerikanischer und britischer Literatur in den sechziger Jahren. In: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hg.): PopLiteratur. Sonderband der Zeitschrift TEXT + KRITIK. München 2003, 26–40. Mueller, Agnes C.: Lyrik ›made in USA‹. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik. Amsterdam/Atlanta 1999. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinemathographie. Cendrars, Ashbery, Brinkmann. Göttingen 2007. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. Schäfer, Jörgen: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. Sonderband der Zeitschrift TEXT + KRITIK. München 2003, 69–80. Späth, Sibylle: Die Entmythologisierung des Alltags. Zu Rolf Dieter Brinkmanns lyrischer Konzeption einer befreiten Wahrnehmung. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Text + Kritik 71. München 1981, 37–49.
Stefan Greif
38 Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte (1969)
38 Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte (1969) Innerhalb von Brinkmanns Beschäftigung mit der ›neuen amerikanischen Szene‹ (Acid) kommt Frank O’Haras Dichtung eine besondere Bedeutung zu. Der Einfluss O’Haras auf Brinkmanns eigene Schreibpraxis ist vielfach konstatiert worden (vgl. Späth 1986, 230; Rümmele 2012, 78, 186). Auch der Titel der von Brinkmann herausgegebenen Lyrikanthologie Silverscreen kann als Reminiszenz an O’Hara gelesen werden (vgl. Mueller 1999, 107, s. Kap. 37). Neben O’Haras für Silverscreen übersetztem Langgedicht Biotherm (O’Hara 1995, 436–448) arbeitete Brinkmann an der Übertragung einer Auswahl von Gedichten und anderen Texten des »New York Poet« (Hampson/ Montgomery 2010). Die Veröffentlichung mit dem Titel Lunch Poems (1969) bietet Übersetzungen von Gedichten aus O’Haras gleichnamigem, 1964 erschienenem Band und ergänzt diese, wie der Zusatz »und andere Gedichte« andeutet, um 15 in anderen Kontexten veröffentlichte Gedichte, um einen Auszug aus O’Haras Comic-Kollaboration mit Joe Brainard sowie um die Prosatexte Meditations in an Emergency (dt. Meditationen in einer Notlage) und Statement. Letzteres nimmt eine ähnliche Funktion ein wie die in Silverscreen abgedruckten Statements der jeweiligen Autorinnen und Autoren. Schließlich enthält Lunch Poems und andere Gedichte eine Reproduktion der Lithographie O’Hara Reading von Larry Rivers (1967), in welche O’Haras zuvor unveröffentlichter Text A Young Poet (O’Hara 1995, 540) eingearbeitet ist. Sie steht stellvertretend für zahlreiche Beispiele künstlerischer Kollaboration in O’Haras Kreisen (vgl. Honrath 1994 und speziell Koriath 1990). Ebenso wie die Einbeziehung anderer Künstler in Brinkmanns Band spiegelt die Textauswahl Brinkmanns Interesse an intermedialen Produktionsprozessen (Rümmele 2012, 88): Die Mehrzahl der hier vorgestellten Gedichte von O’Hara befasst sich mit der Kunst anderer oder Figuren des Anderen schlechthin. Dabei ist das Andere, das Einzug in O’Haras Gedichte hält, stets Teil seiner interaktiven Alltagswelt, sei es Rachmaninoff, der von Kindheit an einen Platz in der Welt des ursprünglich für eine Pianistenlaufbahn ausgebildeten Dichters hatte, sei es sein Freund Larry Rivers, sei es ein Gemälde von Michael Goldberg: Die Gedichte sind, um es mit Helen Vendler auszudrücken, dicht bevölkert von O’Haras Freunden, ihre Landschaft ist Manhattan oder Fire Island, wo O’Hara
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1966 nach einem Unfall verstarb, ihre generische Sprache konstituiert sich aus der Kunst-, Film- und Medienwelt und bedient sich gleichermaßen an Trivialem wie an Sakralem. Viele seiner posthum veröffentlichten Gedichte entstammen einem Konvolut an Briefen, Notizen und Randbemerkungen (vgl. Vendler 1980, 179–182), angesichts dessen die vergleichsweise wenigen »eigenständigen Publikationen« O’Haras keineswegs als repräsentativ zu erachten sind (Lunch Poems 1969, 73–74). Den umfassendsten Überblick über die Texte – und auch dieser kann angesichts von O’Haras intermedialen Arbeiten und Kollaborationen kaum ein repräsentatives Bild abgeben – bietet bis heute die von Donald Allen herausgegebene und mehrfach überarbeitete Sammlung The Collected Poems of Frank O’Hara (O’Hara 1995). Die von Maureen Granville-Smith verwaltete Website https://www.frankohara.org bietet neben einer Auswahl an Texten, audiovisuellen Materialien und Links Informationen zu Neuerscheinungen. Brinkmann macht seiner Leserschaft das Moment der Unvollständigkeit und Kontingenz von O’Haras Werk nicht nur bewusst (Lunch Poems 1969, 74), sondern reproduziert es gewissermaßen in seinem fragmentierten Nachwort, indem er beispielsweise seinen eigenen Arbeitsprozess raumzeitlich und kulturell situiert: »Nun könnte ich Ihnen Marx zitieren, den Kopfhörer auf und die letzte LP der Rolling Stones im Ohr, vor mir die Gedichte Frank O’Haras [...] Köln, Engelbertstr. 65, vierter Stock, 12.12.68, kalt und klar.« (Lunch Poems 1969, 75) Brinkmanns Übersetzungsprozess geht somit über die textuelle Translationsarbeit hinaus, wie bereits Helmut Salzinger bemerkte, der sich an Brinkmanns Annotationen und dem Nachwort störte, das einer geschrieben habe, »der seiner Begeisterung über seinen Gegenstand erlegen ist« (Salzinger 1969). Angesichts seines Aufbegehrens gegen die Literaturwissenschaft erscheint Brinkmanns Übernahme ihrer Konventionen des Sammelns, Katalogisierens und Kategorisierens ebenso widersprüchlich wie die Aufnahme abstrahierender Beiträge in Acid (vgl. Rümmele 2012, 189, s. Kap. 33.5). Der scheinbar akribisch zusammengestellte, zugleich jedoch Informationen unterschlagende »Bio-bibliographische Hinweis« in Lunch Poems und andere Gedichte (61) scheint allerdings weniger dem Bestreben entsprungen zu sein, philologischen Konventionen gerecht zu werden. Vielmehr inszenieren die hier gelisteten Informationen solche Konventionen und führen sie – beispielsweise durch beredte Auslassungen – vor, die erst bei genauerem Studium auffallen. Als Pa-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_38
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ratext fand der »Hinweis« bislang keine Beachtung, wohl aber die ob ihres Eklektizismus von Salzinger scharf kritisierten »Anmerkungen zu den Gedichten« (Lunch Poems 1969, 76–81), die sich durchaus ebenfalls als parodierende Aneignung philologischer Arbeitsweisen verstehen lassen. Salzingers Rezension wirft indes eigene Fragen auf. Aufschlussreich und zugleich symptomatisch ist, dass die zentrale Leistung Brinkmanns, nämlich die Übertragung der Gedichte, von ihm mit keinem Wort bedacht wird. Salzingers Preis der von ihm in der Brinkmannschen Übersetzung zitierten und kommentierten Gedichte bedeutet mithin, dass die übersetzerische Leistung zumindest ein translatorisches Ziel erfüllt hat, nämlich für den deutschen, dichtungsaffinen Leser zu ›funktionieren‹, so dass der Eindruck entstehen könnte, Brinkmann sei in der Rolle des »unsichtbaren Übersetzers« (Venuti 1995) aufgegangen. Brinkmanns übersetzerisches Engagement war durchaus von dem Bestreben getragen, O’Hara einer deutschen Leserschaft bekannt zu machen. Im Übersetzungsvorgang selbst jedoch konstituieren linguistische Fragen immer nur einen Teilaspekt eines komplexen, interkulturellen Transferprozesses (Bassnett 2014, 2 f.). Zwar erfordern bereits diese eine Vielzahl an Abwägungen und »Verhandlungen« (Eco 2006, 203 f.) bezüglich unterschiedlicher Strukturen, Syntax und Lexik in Ausgangs- und Zielsprache, in diesem Falle im Amerikanischen des aus Baltimore stammenden, in den 1950er und 1960er Jahren in New York lebenden O’Hara einerseits und der deutschen Sprache des in Vechta aufgewachsenen, in Köln ansässigen Brinkmann andererseits. Nicht allein aufgrund seiner literarischen Aktivitäten, sondern auch familienbedingt kann Brinkmann zudem eine gesteigerte Sensibilität im Hinblick auf (alltags-)sprachliche Normvorstellungen zugesprochen werden. So nimmt es nicht wunder, dass Brinkmanns O’Hara-Übersetzungen von Glättungen bisweilen »unlogischer Bezüge« absahen, und den Texten auch im Deutschen die Entfaltung einer »eigenen Logik« erlaubten (Mendelson 2008). Ausgangs- und Zieltext begegnen einander somit nicht allein aus spezifisch kodierten Kulturen heraus (Lefevere 1992, 6); jede Übersetzung ist darüber hinaus notwendigerweise durch die Agenda des Übersetzers geprägt, die nicht allein kulturell, sondern auch individuell motiviert ist (ebd.). Im Falle Brinkmanns, der um die Behauptung seiner eigenen literarischen Stimme in Abgrenzung zu den Konventionen des Literaturbetriebs der BRD rang – im Nachwort der Lunch Poems schreibt er einmal mehr gegen die von ihm empfundene Ho-
mogenisierung des westdeutschen Literaturbetriebes an (Lunch Poems 1969, 72) –, ist eine stark ausgeprägte individuelle Agenda erwartbar. Dass Brinkmann keinesfalls als »unsichtbarer Übersetzer« (Venuti 1995) wahrgenommen werden kann, und in der Tat noch nicht einmal als »verhandelnder« Übersetzer (Eco), zeigt sich in erster Linie an der Politik seiner Auswahl, deren Kriterien er in seinem eigenwilligen Nachwort, im Referenz- und Anmerkungsapparat nicht transparent macht. Während der Titelzusatz »und andere Gedichte« auf zur Originalsammlung hinzugefügte Texte vorbereitet, wird nicht darauf hingewiesen, dass von den 37 Texten aus O’Haras Originalband mit 18 Gedichten nur knapp die Hälfte Eingang in Brinkmanns Sammlung findet. Weiter wird nicht erwähnt, dass es sich bei »On Rachmaninoff ’s Birthday« in O’Haras Band (O’Hara 1964, 11) um ein gänzlich anderes Gedicht handelt als um das von Brinkmann übersetzte (Lunch Poems 1969, 52). Es fällt auf, dass in den »Anmerkungen« ein Eintrag zu diesem Gedicht bzw. zur Persona Rachmaninoff oder zu O’Haras Rachmaninoff-Gedichten fehlt, was angesichts der Tatsache, dass insgesamt sieben zu unterschiedlichen Zeiten angefertigte, eigenständige Gedichte O’Haras denselben Titel tragen (vgl. O’Hara 1995, 159, 189, 190, 321, sowie 418, 419, 474), eine signifikante Auslassung darstellt. Brinkmann tat hier in postmoderner Manier, was ihm gefiel – möglicherweise mit dem Ziel, seine Leserschaft durch seine pastichehafte Zusammenstellung von fragmentarischen textuellen und paratextuellen Bezügen zu ›aktivieren‹. Sein Zugang verweist auf die Weltsicht sowie die Poetik O’Haras und ist als eigenwillige Bemühung um das »somewhat more« des kulturellen Kontexts (Lefevere 1992, 8) und der individuellen Agenda O’Haras lesbar. Brinkmanns Übersetzungen fallen in eine Zeit, in der vehement über unterschiedliche Übersetzungspraxen nachgedacht wurde (vgl. hierzu Bassnett 2014, 18 f.). Klassiker wie Schleiermachers »Methoden«, die die Frage nach der Orientierung der Übersetzung – am Autor bzw. Zielpublikum – dichotomisch festlegen oder Benjamins Bemerkungen zu den Grenzen der Übersetzung, abgedruckt u. a. in Hans Joachim Störigs Textsammlung Das Problem des Übersetzens (1963), mögen Eingang gefunden haben in Brinkmanns Praxis; insgesamt kennzeichnet die Brinkmannschen Übersetzungen jedoch ein Eindruck der Spontaneität. Dass die Vermittlung desselben gleichsam Programm ist, wird im Nachwort deutlich, wo es heißt: »[W]ir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer.
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Deshalb muss diese Oberfläche endlich angenommen werden« (Lunch Poems 1969, 69). Dies geschieht bei O’Hara durch das Festhalten des Moments, ungeachtet literaturgeschichtlicher Ordnungskriterien. In seinem Manifest Personism definiert O’Hara den Prozess des Schreibens entsprechend als pure Reaktion: »If some one’s chasing you down the street with a knife, you just run, you don’t turn around and shout, ›Give it up! I was a track star for Mineola Prep.‹ (O’Hara 1995, 498) Joe Brainard, dessen Kollaboration mit O’Hara Brinkman auszugsweise vorstellt (Lunch Poems 1969, 12–13) war einer von zahlreichen Kunstschaffenden, die O’Haras Einfluss auf ihre eigene Praxis benannt haben (Brainard 2012, 102 ff.). Dieser übertrug sich auch auf Brinkmann, der die Arbeiten des amerikanischen Dichters und seines Kreises durch seinen in London lebenden Freund Ralf-Rainer Rygulla kennengelernt hatte. Das Einfangen des Materiellen, der Wirkmacht der Dinge selbst, faszinierte Brinkmann und sollte auch für seine Übersetzungen und Neuarrangements in Lunch Poems und andere Gedichte bedeutsam werden, die ähnlich dem Porträt von Larry Rivers (Lunch Poems 1969, o. S.) collagenartig ein eigenes Porträt von O’Hara bzw. O’Haras Schaffen darstellen. Brinkmanns Übersetzungen der Lunch Poems fallen schließlich in eine Zeit, in der er sich nicht nur intensiv mit dem Medium Film auseinandersetzte, sondern auch selbst filmte (s. Kap. 44). Anlässlich Andy Warhols Film Chelsea Girls schrieb er, während er mit der Übersetzung der Gedichte befasst war, »Man muß begreifen lernen, daß ›Leben‹ Film ist und nichts Natürliches – wir alle leben in der Oberfläche von ›Bildern, die sich bewegen‹. Dasein heißt Kino. 24 Stunden lang jeden Tag.« (Chelsea Girls) Warhols Imperativ des »don’t analyse« (Geldzahler 1995, 130) und seine Kreation von Realitäten durch Masken waren kompatibel mit Brinkmanns Selbstverständnis und dem, was er in O’Haras Gedichten wiederfand. Brinkmann transformiert das bereits in seiner Welt allgegenwärtige Verlangen nach Aufmerksamkeit, indem er seine Objekte scharfstellt: Das Extraordinäre des Alltags und der ihm innewohnenden Mythen wird qua Fokussierung zur Kunst selbst – eine andere, so das Postulat, gibt es nicht. In kaum einem anderen Gedicht O’Haras tritt dies so eindringlich zutage wie in Having a Coke with you, das Brinkmann der Sammlung Love Poems (Tentative Title) – Brinkmann unterschlägt die Parenthese in seinem »Hinweis« (Lunch Poems 1969, 61) – entnommen hat. Der Genuss einer Cola, Emblem einer konsumierbaren, ›neuen‹ Weltanschauung, ist Ti-
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tel, Beginn und Aufhänger des mit assoziativen Listen arbeitenden carpe diem-Gedichts. Es wird u. a. gleichgesetzt mit dem Besuch eines Kunstmuseums. Bedeutsam werden beide Aktivitäten jedoch allein dadurch, dass sie mit dem Adressaten des Gedichts – »with you« – durchgeführt werden. Die folgenden Zeilen lesen sich wie eine Kurzfassung der Poetik O’Haras, die das Auskosten konvivialer Momente stets über dasjenige der Kunst stellt. and the portrait show seems to have no faces in it at all, just paint you suddenly wonder why in the world anyone ever did them I look at you and I would rather look at you than all the portraits in the world (O’Hara 1995, 360)
Brinkmann übersetzt die Verse wie folgt: und die Porträt-Ausstellung scheint überhaupt kein Gesicht zu enthalten, nur Farben du wunderst dich plötzlich warum um alles in der Welt jemand sie gemalt hat ich sehe dich an und ich mag dich viel lieber ansehen als all die Porträts auf der ganzen Welt (Lunch Poems 1969, 42)
Während das staunende Im-Augenblick-Leben (»überhaupt kein Gesicht«, »ich mag« sowie das im Deutschen gedehnte »ich sehe«) in der Übersetzung sehr schön zum Ausdruck kommt, verwundert, dass Brinkmann sich für die Übersetzung des Wortes »paint« (»Farbe«) mit »Farben« entschieden hat, wofür im Amerikanischen der Begriff »colors« Verwendung gefunden hätte. Der Pluralbegriff »Farben« suggeriert zuallererst das visuelle Kompositionselement, wobei er durchaus beide Bedeutungen einschließen kann. Er unterschlägt allerdings O’Haras klare Festlegung auf den materiell konnotierten Begriff »paint«. Mindestens ebenso häufig wie die Entscheidung für Mehrdeutigkeiten im Zieltext bei eindeutigen Festlegungen im Ausgangstext findet sich in der Übersetzungspraxis der umgekehrte Fall der Fixierung von Ambivalenzen im Ausgangstext auf eine Bedeutungsnuance im Zieltext (vgl. Eco 2006, 97), wie beispielsweise in Nicolas Borns Übersetzung von O’Haras Gedicht Three Airs als Drei Arten Luft: hier wird der – bei O’Hara durchaus relevante – musikalische Bedeutungshorizont zugunsten der vorgenommenen Festlegung ausgeblendet. »Drei Arten von Luft« erschien
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in der 25. Ausgabe von Luchterhands Loseblatt Lyrik im Heft Nordamerikanische Gedichte (1970). Im Impressum heißt es, »eine Gesamtausgabe« von O’Haras Gedichten in deutscher Sprache sei »in Vorbereitung«, womit die Brinkmann-Auswahl gemeint sein dürfte. Neben Brinkmanns Band existieren nur vereinzelt Übersetzungen O’Harascher Gedichte wie diejenigen Borns. Fünf von Gerhard Ahrens ins Deutsche übertragene Gedichte fanden Eingang in den Ausstellungskatalog einer Larry Rivers-Retrospektive. Bei einem der Gedichte handelt es sich um das von Brinkmann ebenfalls übersetzte, bereits genannte Gedicht »On Rachmaninoff ’s Birthday« (Haenlein 1980, 34 f.). Ahrens konnte auf der Übersetzung Brinkmanns aufbauen, trifft aber gänzlich andere Entscheidungen. Ein Vergleich der letzten Strophe mag als Beleg für die unterschiedlichen Zugänge dienen: I am what people make of me – if they can and when they will. My difficulty is readily played – like a rhapsody, or a fresh house. (O’Hara 1995, 190) Ich bin das was die Leute aus mir machen – wenn sie können und was sie wollen. Meine Schwierigkeit ist leicht zu handhaben – wie eine Rhapsodie oder ein neues Haus. (Brinkmann 1969, 52) Ich bin, was Leute aus mir machen – so sie können und wenn sie wollen. Meine Schwierigkeit ist leicht gespielt – wie eine Rhapsodie oder ein neues Stück. (Ahrens, in: Haenlein 1980, 35)
O’Hara verhandelt in diesem Gedicht, einem weiteren Beleg seines intermedialen Erkenntnisinteresses, die Sprache der Kunst und die Situiertheit und Aneignungen von Deutungsmacht, indem er die Sprechinstanz des Gedichts – ein schaffendes Subjekt – zugleich zum Objekt der Blicke und Kreationen anderer macht. Mit Ausnahme des letzten Wortes (»Haus«) ist Brinkmanns Übersetzung freier und widerständiger und setzt somit O’Haras Programm einer »eigenen Logik« (Mendelson 2008) einmal mehr fort. Ahrens’ Übersetzung hingegen ist kunstfertiger und bemüht, den Rhythmus des Englischen sowie den »Mitteilungswert« (Benjamin 1963) in einer klaren, eleganten Sprache einzufangen, die indes Haltung und Ton im Zieltext maßgeblich verändert. So ist
auch die »Musik« bei O’Hara »soft as one’s character«, bei Brinkmann rhythmisch-verspielt »so weich wie der eigene Charakter«, bei Ahrens hingegen prosaischer »sanft wie dein Charakter« (Ahrens, in: Haenlein 1980, 35). Zwei weitere Vergleiche können aufgrund einer aktuellen Übersetzung angeführt werden. Für die im Hörbuchverlag 2018 erschienene Sammlung The Poets’s Collection hat Michael Krüger zwei bereits von Brinkmann übersetzte Gedichte, »Song« und »Poem« (O’Hara 1964, 26, 70; Lunch Poems 1969, 36, 28; Collorio/Krüger 2018) neu übertragen und gelesen. Beide Gedichte zählen bis heute zu O’Haras bekanntesten, nicht zuletzt, weil von O’Hara vorgetragene Aufnahmen davon existieren, die im Netz zugänglich sind (etwa über frankohara.org). Wie bereits Ahrens konnte Krüger auf Brinkmanns Übersetzungen zurückgreifen. Brinkmanns Gedicht bleibt kompositorisch nah am Ausgangstext, der sich durch eine Serie von Enjambements und fehlende Interpunktionszeichen – lediglich unterbrochen von der durch ein Ausrufezeichen beendeten, wiederholten Vers- bzw. »Schlagzeile« »Lana Turner has collapsed!« – als Bewusstseinsstrom lesen lässt, und ist durchwirkt von repetitiven Elementen, die die vom Sprecher erkundeten Differenzen zwischen der eigenen Erfahrungswelt und derjenigen Lana Turners unterstreichen. O’Haras Spiel mit der Elegie kommt im Text, aber auch in der englischen Originalaufnahme gut zum Ausdruck. Krügers Übersetzung (und die Aufnahme) hingegen konfrontiert mit einem erstaunten Ton des Pathos und ist als sich steigernde Liste aneinandergereihter syntaktischer Einheiten aufge baut, die gleichzeitig eine gewisse Beiläufigkeit der Wahrnehmung (die »Schlagzeile«, »der Schnee«, »eine Menge Parties«) kommuniziert, die sowohl O’Haras als auch Brinkmanns tiefer Auseinandersetzung mit ›Oberflächen‹ entgegensteht. Brinkmanns Übersetzung von Song liest sich wie ein Spontantext, die Details wiederum weisen Gestaltungssorgfalt auf. Während »Is it dirty« beispielsweise von Krüger als »schmutzig« wiedergegeben wird, erhält Brinkmanns »dreckig« sowohl Klangelemente des englischen Wortes als auch die Ambivalenz, die sich durch das gesamte Gedicht zieht: Der buchstäbliche Dreck der Großstadt einerseits – die sexuellen Konnotationen des Wortes in ihrer gesamten Bandbreite andererseits. Der großstädtische Schmutz wird hier zelebriert, kulminierend im Bild desjenigen mit dem »schlechten Charakter«, der gleich dem »Dreck« eine Umwertung erfährt. Während Brinkmann »it im-
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proves« neutral als »er steigert sich« überträgt, glättet Krüger das paradox erscheinende »improves« interpretierend in »es wird nur schlimmer«. Im Vergleich der Übersetzungen beider Gedichte fällt schließlich die unterschiedliche Titelgestaltung auf. Während Brinkmann »Song« als »Lied« überträgt, übernimmt Krüger das englische Wort »Song«, was dem Deutungsprozess im Deutschen eine zusätzliche Ebene verleiht und letztlich die konfrontative Politik O’Haras unterminiert: das Verhandeln des Ephemeren, Devianten, Abgründigen im medialen Behältnis eines kleinen Liedes. Auch Poem, von Brinkmann als Gedicht betitelt, wird in Krügers Übertragung umgewertet durch die parenthetische (und auch gelesene) Ergänzung »Lana Turner zusammengebrochen«, was die bei Krüger angelegte Dramatik der Schlagzeile gleich zu Beginn unterstreicht. Die englische Version in The Poets’ Collection beschneidet O’Haras ausdrückliche Erwähnung des Titels »Poem« (vgl. frankohara.org) und beginnt direkt mit der ersten Zeile »Lana Turner has collapsed!« Die Betitelung als »Poem« findet sich häufig bei O’Hara; allein in den Lunch Poems (O’Hara 1964) tragen fünf Gedichte diesen Titel. Sie lassen sich als Ausdruck einer ›camp attitude‹ bezeichnen – einer gegenkulturellen Haltung, die sich durch Überhöhung von Stilelementen oder Oberflächen innerhalb bzw. gegen soziokulturelle(r) Normen behauptet. Während Brinkmann daran interessiert war, O’Haras Spiel mit Oberflächen in der Übersetzung zu bewahren, nimmt dieses Spiel im Hinblick auf das sexuelle Imaginäre eine von Brinkmann nicht beleuchtete bzw. umgewertete Funktion ein. Masturbation, in Lunch Poems und andere Gedichte als alleinstehender aphoristischer Einzeiler inmitten einer Flut von Oberflächenbetrachtungen abgedruckt, mag als Beleg für Brinkmanns kontinuierliche Beschäftigung mit Mythos und Erfahrung der Sexualität in der massenkulturellen Warenwelt gelten (Röhnert 2007, 324; Rümmele 2012, 178–181; Späth 1986, 163). Allerdings hat er sich auch hier eine entscheidende kompositorische Freiheit erlaubt – Masturbation ist der einzige Text, zu dem keine Angaben in Brinkmanns »bio-bibliographischem Hinweis« vorliegen (Lunch Poems 1969, 61). Er entstammt dem 1968 im Paris Review abgedruckten Arrangement Three Poems. Hier eröffnen sich im Zusammenspiel mit Dante und Telephone (O’Hara 1995, 404) Bedeutungsnuancen, die in Brinkmanns Präsentation verloren gehen. O’Haras Gedichte wurden und werden ob ihrer Frivolität entweder zelebriert oder diffamiert. Hinter der Oberfläche, den
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Ausrufezeichen und dem affektierten Ton zeigt sich jedoch eine Stimme, die seine auf kompositorischen Traditionen basierende, technisch-formale Brillanz durchscheinen lässt (Mendelson 2008). Diese konnte auch Brinkmann weitgehend ins Deutsche übertragen. Des Weiteren sind O’Haras Oberflächen durchwirkt von Mechanismen, die Reaktionen auf gesellschaftliche Antagonismen darstellen (Boone 1979, 59; Bredbeck 1993, 275), und von einem konstanten »inward turn«, den Selby auch für Joe Brainards Arbeiten feststellt (Selby 2010, 239). Innerhalb der gay community gaben O’Haras Gedichte Anlass zu Diskussionen über literarische und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht nur vom Mainstream des literaturwissenschaftlichen Betriebs weitgehend ignoriert wurden (Boone 1979, 61), sondern auch von Brinkmann. Er konstatiert zwar für das »Nebenbei der O’Haraschen Gedichte« ein »etwas zärtlich, aber höchst flexibel Beharrliches, eine beharrliche Zärtlichkeit« (Lunch Poems 1969, 72–73). Dieses »Nebenbei« und das gelegentliche »Gefühl von etwas enorm Bodenlosem« (Lunch Poems 1969, 67), also die Ohnmacht angesichts gesellschaftlicher Normen, die hinter O’Haras Leichtigkeit zu spüren ist, wird von Brinkmann auf die Rigidität literarischer Traditionen bezogen und nicht auf O’Haras vulnerable gesellschaftliche Stellung ob seiner Homosexualität. Neuübersetzungen, die sensibel für die sprachlich-for malen Ausdrucksweisen O’Haras hinsichtlich dieser durchaus zentralen und das Werk durchziehenden Spiegelungen sind, stehen bis heute aus. Brinkmanns Übersetzungen können sich noch heute selbstbewusst in die Reminiszenzen an den 1966 verstorbenen »New York Poet« (Hampson/ Montgomery 2010) einreihen. Anspruch auf eine repräsentative oder gar autoritative Abbildung des Werks können sie nicht erheben – und wollen es wohl auch nicht. Somit lässt sich Brinkmanns übersetzerische und künstlerisch-editorische Leistung im besten Sinne Benjamins verstehen als das Öffnen von Toren, durch die O’Haras Texte hindurchtreten und weiter wachsen können. Tatsächlich beschließt Brinkmann sein Nachwort zur Lyrik O’Haras mit der Aufforderung: »Lieben Sie diese Gedichte. Es ist ganz einfach...« (Lunch Poems 1969, 75). Literatur
Bassnett, Susan: Translation. London/New York 2014. Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Störig 1963, 182–195. Boone, Bruce: Gay Language as Political Praxis. In: Social Text 1 (1979), 59–92.
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VII Weitere Werke – B Editionen und Übersetzungen
Brainard, Joe: The Collected Writings of Joe Brainard. Hg. von Ron Padgett. New York 2012. Bredbeck, Gregory W.: B/O – Barthes’s Text / O’Hara’s Trick. In: PMLA 108/2 (März 1993), 2678–2282. Brinkmann, Rolf Dieter (Hg.): Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Köln 1969. Brinkmann, Rolf Dieter (Hg., Übers.): Frank O’Hara. Lunch Poems und andere Gedichte. Köln 1969. Brinkmann, Rolf Dieter: Chelsea Girls. In: Kölner StadtAnzeiger (28./29.12.1968). Collorio, Christiane/Michael Krüger: The Poets’ Collection. CD 9, Track 21–24. München 2018. Eco, Umberto: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Übers. von Burkhart Kroeber. München/Wien 2006. Geldzahler, Henry: [Auszug aus einem Interview mit Lynne Tillmann]. In: Stephen Shore/Lynne Tillmann (Hg.): The Velvet Years: Warhol’s Factory 1965–67. London 1995, 129–130. Haenlein, Carl: Larry Rivers. Retrospektive. Tübingen 1980. Hampson, Robert/Will Montgomery (Hg.): Frank O’Hara Now: New Essays on the New York Poet. Liverpool 2010. Honrath, Barbara: Die New York Poets und die bildende Kunst. Würzburg 1994. Koriath, Helen: Larry Rivers. Bildende Kunst in Beziehung zur Dichtung Frank O’Haras. Frankfurt a. M. 1990. Lefevere, André: Translating Literature: Practice and Theory in a Comparative Literature Context. New York: The Modern Language Association of America, 1992. Mendelson, Edward: What We Love, Not Are. In: The New York Review of Books 55.14 (25.9.2008). Mueller, Agnes C.: Lyrik, made in USA‹. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik. Amsterdam/Atlanta 1999.
O’Hara, Frank: The Collected Poems of Frank O’Hara. Hg. von Donald Allen. Berkeley 1995. O’Hara, Frank: Lunch Poems. San Francisco 1964. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinemathographie. Cendrars, Ashbery, Brinkmann. Göttingen 2007. Rümmele, Klaus: Zeichensprache. Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Autoren der Gegenwart. Karlsruhe 2012. Salzinger, Helmut: Schöne Lyrik, mies verpackt. In: Die Zeit 50/1969 (12.12.1969). Schäfer, Jörgen: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. Sonderband der Zeitschrift TEXT + KRITIK. München 2003, 69–80. Schleiermacher, Friedrich: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens. In: Störig 1963, 38–70. Selby, Nick: Memory Pieces: Collage, Memorial and the Poetics of Intimacy in Joe Brainard, Jasper Johns and Frank O’Hara. In: Hampson/Montgomery 2010, 229–246. Späth, Sibylle: »Rettungsversuche aus dem Todesterritorium«: Zur Aktualität der Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns. Frankfurt a. M. 1986. Störig, Hans Joachim (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt 1963. Vendler, Helen: Frank O’Hara. In: Part of Nature, Part of Us: Modern American Poets. Cambridge 1980. 179–194. Erstveröffentlichung als: The Virtues of the Alterable. In: Parnassus: Poetry in Review (Herbst/Winter 1972), 5–20. Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility: A History of Translation. London/New York 1995.
Eva Ulrike Pirker
39 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot (1970)
39 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot (1970) Guillaume Apollinaire (1880–1918), Avantgardist des frühen 20. Jahrhunderts, schreibt in seinen Méditations esthétiques einerseits, dass sich der Künstler nicht mit den toten Vorvätern belasten und dies auch nicht von seinen Nachkommen verlangen kann; andererseits, so Apollinaire, kommt der Künstler von den Vorvätern – »du sol qui contient les morts« – nie wirklich los (6). Diese Passage aus Apollinaires Schriften zur Kunst erhellt den scheinbar banalen Aussagesatz »Guillaume Apollinaire is dead« aus Ted Berrigans 37. Sonett (Brinkmann: Ted Berrigan, 24) und lädt ihn mit intertextuellem Sinn auf, den Satz, den Rolf Dieter Brinkmann in seiner deutschen Übersetzung – Guillaume Apollinaire ist tot – für das 1970 von ihm herausgegebene Buch als Obertitel gewählt hat. Es ist das im deutschsprachigen Raum bis dato einzige mit Übertragungen aus dem Werk von Ted Berrigan (1934–1983). Der vollständige Titel des Bandes, der die kontextuelle Einbettung der Gedichte betont, variiert leicht: Ted Berrigan Apollinaire ist tot. Und Anderes (Umschlag) bzw. Ted Berrigan Guillaume Apollinaire ist tot. Gedichte. Prosa. Kollaborationen. Mit Notizen von Tom Clark, Allen Kaplan und Ron Padgett (Titelblatt). In Peter Reads Einleitung zu der von Padgett übersetzten und von The New York Review of Books veröffentlichten Auswahl von Apollinaire-Gedichten lesen wir, dass Apollinaire die Dichtung vom Symbolismus in ein Zeitalter geführt habe, in dem das Alltagsleben zum Gegenstand der Kunst werde (xi). Dies geschehe, indem ein einfaches Vergnügen und ein gewöhnlicher Genuss, etwa eine fünfminütige Zigarettenpause in der Sonne, in ein dichterisches Juwel verwandelt werden, und in dem das pulsierende Leben der Großstadt und die populäre Kultur Eingang in die Dichtung fänden (xiv); wenn Read schreibt, »Apollinaire’s poetry [...] seeks [...] to communicate the everyday sense of wonder« (xix), denkt man aus amerikanischer Perspektive sofort an die epiphanieartige Wahrnehmung eines alltäglichen Gebrauchsgegenstands, von dem angeblich »so viel« abhängt – »Die rote Schubkarre« von William Carlos Williams –, und mit Blick auf die amerikanische Lyrik nach Williams schnell an Dichter wie Ron Padgett oder Ted Berrigan sowie im deutschen Kontext an einen Autor wie Rolf Dieter Brinkmann (Williams 2000, 223). Im metaphorischen Sinne ist Apollinaire der Großvater von
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Padgett, Berrigan und Brinkmann, die sich als postavantgardistische Nachkommen zwar von ihrem avantgardistischen Vorfahren emanzipiert haben mögen, aber unweigerlich auf dem von ihm mitbereiteten Boden wandeln. Was Apollinaire in seinen ›ästhetischen Betrachtungen‹ über die Vorväter und über das Fundament der Tradition sagt, kann man sowohl auf Rolf Dieter Brinkmann als auch auf Ted Ber rigan beziehen, der als stark von Frank O’Hara beeinflusster New York School-Poet der zweiten Generation in der Traditionslinie von Walt Whitman, William Carlos Williams und der beat generation, also der amerikanischen Prä-Modernisten, Modernisten und frühen Post-Modernisten steht. Eine deutliche Affinität zu dieser Traditionslinie lässt sich auch bei Rolf Dieter Brinkmann konstatieren; noch in seinem letzten Gedichtband, Westwärts, etwa in dem Gedicht über »Einen jener klassischen / schwarzen Tangos in Köln« – »ein Wunder: für einen Moment eine / Überraschung, für einen Moment // Aufatmen, für einen Moment / eine Pause in dieser Straße, // die niemand liebt und atemlos / macht, beim Hindurchgehen« – (WW, 35), findet sich der Apollinairesche Momentanismus, die Epiphanie des Alltags, das Interesse am Nicht-Touristischen der Großstadt, die Verswerdung des Prosaischen und die Erhebung des Niedrigen durch Versifikation: Eigenschaften, die Brinkmann auch bei Ted Berrigan schätzen konnte. Der von Brinkmann herausgegebene Band Apollinaire, dessen Lyrik-Sektion mit einer Reihe sogenannter Persönlicher Gedichte beginnt, ist vor allem eine Momentaufnahme von Berrigans Werk und seines Kontextes: eine Auswahl von Texten, die zwischen 1965 und 1970 veröffentlicht wurden. Von den insgesamt 67 Texten stammen die meisten von Berrigan, einige weitere von anderen zeitgenössischen amerikanischen Autoren. 38 dieser Texte wurden von Brinkmann selbst übersetzt, darunter 30 der 47 BerriganGedichte, die alle zweisprachig, also im englischen Original und in deutscher Übersetzung abgedruckt sind. Das Buch beginnt mit einer von Brinkmann übersetzten Prosaskizze, in der Tom Clark »die Berrigans« vorstellt. Was Brinkmann vielleicht nicht wusste, zumindest in seinem Buch nicht sagt: Im Erscheinungsjahr von Clarks Text trennte sich Ted Berrigan bereits von Sandy Alper Berrigan und traf die Dichterin Alice Notley, die er 1972 heiratete und die zusammen mit den gemeinsamen Söhnen Anselm und Edmund 2005 und 2011 die maßgeblichen Ausgaben der Collected und Selected Poems Berrigans bei der University of Califor-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_39
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nia Press herausgab; 16 der von Brinkmann ausgewählten 47 Gedichte befinden sich auch in Notleys Selected Poems. Nach Clarks »Über die Berrigans« und einer in Warholscher Repetitionsästhetik gehaltenen Schwarz-Weiß-Aufnahme, die dreimal (Teile von) Ber rigans Gesicht zeigt und wie ein vergrößerter Schmalfilmschnipsel aussieht, der aus einem von Brinkmanns eigenen 8 mm Filmen stammen könnte (s. Kap. 44), folgen die den umfangreichsten Teil von Apollinaire ausmachenden Gedichte Berrigans, die durch mehrere Illustrationen und Gemälde sowie vor allem durch Porträtfotos der Dichter und bildenden Künstler um Berrigan abgetrennt von Prosa-Texten Berrigans und »Kollaborationen« dieses Autors mit Ron Padgett präsentiert werden (s. Kap. 35). Auf den im engeren Sinne literarischen Hauptteil des Readers folgen im Anhang andere Textsorten: ein Brief Berrigans an Ron Padgett über die bildende Kraft essenzieller ›schlechter‹ Literatur, eine Berrigan als beeindruckenden Vielleser charakterisierende Bücherbestenliste, 12 biographisch mehr oder weniger aufschlussreiche und einige das Genre des Autoreninterviews teilweise subvertierende Fragen und Antworten Berrigans. Hinzu kommen schließlich zwei Sekundärliteraturtexte – eine kurze poetische Rezension des Dichterkollegen Padgett von Berrigans Sonetten, die Letzterer 1962 zu schreiben begann und die oft als der bedeutendste Teil seines Werks angesehen werden, und ein literaturhistorischer bzw. poetologischer Beitrag, in dem Alan Kaplan die von Berrigan ab 1963 herausgegebene LyrikZeitschrift »C« vorstellt. Von ihr erschienen insgesamt 13 reguläre und zwei Comicstrip-Ausgaben. Dass Brinkmann mit dem von ihm herausgegebenen Band den deutschen Lesern Ted Berrigan und dessen Milieu (in Wort und Bild) nahebringen wollte, zeigt gegen Ende des Buches auch der »Bio-Bibliographische Hinweis«, der die wichtigsten Stationen in Berrigans Leben bis 1970 knapp darlegt, den Fokus aber auf die literarische Tätigkeit des amerikanischen Autors richtet und sein künstlerisches Umfeld beleuchtet, wobei auffällt, dass Brinkmann in diesem biographischen Abriss zwar viele Namen nennt, den von ihm selbst ins Deutsche übersetzten und für Berrigan so wichtigen Frank O’Hara aber nicht erwähnt. Der New York School Poet der ersten Generation erlitt 1966 mit 40 Jahren einen Unfall mit tödlichem Ausgang wie später Brinkmann selbst, was angesichts der augenblicksorientierten, die Grenze zwischen Kunst und Leben einebnenden Ereignis- und Plötzlichkeitspoetik dieser Dichter ein erschreckend adäquater Tod zu sein scheint. Der von Brinkmann nicht erwähnte Einfluss
O’Haras auf Berrigan ist jedenfalls so bedeutsam, dass mancher amerikanische Literaturwissenschaftler sogar meint, vieles von Berrigans Werk lese sich wie ein Pastiche von O’Haras Texten, insbesondere seine ›Ich mache dies, ich mache das‹ – Gedichte (vgl. Reed 2015, 864). In dem Eintrag zu Berrigan auf der Internetseite der amerikanischen Poetry Foundation wird allerdings darauf hingewiesen, dass Berrigan O’Hara manchmal auch parodiert, was von der Literaturwissenschaft oft übersehen werde. Ob man nun ein Pas tiche sieht oder eine Parodie: Der von Brinkmann als Auftakt ausgewählte Berrigan-Text ist gleich ein solches ›Ich mache dies, ich mache das‹ Gedicht, wie es O’Hara in einem seiner Gedichttexte auf metapoetische Weise selbst bezeichnet hat: »I make / myself a bourbon and commence / to write one of my ›I do this I do that‹ / poems in a sketch pad« (O’Hara 1995, 341). »I wake up 11:30 back aching from soft bed [...] it’s my birthday. 27. I put on birthday / pants birthday shirt go to ADAM’s buy a Pepsi for / breakfast come home drink it take a pill / I’m high!« (Brinkmann: Ted Berrigan, 12): An Berrigans autobiographischem Personal Poem No. 2, dessen Titel die Genrebezeichnung von O’Haras »Personal Poem« übernimmt, lassen sich charakteristische Merkmale und auch Schwächen von Brinkmanns Übersetzungen exemplarisch aufzeigen. Gleich im ersten Abschnitt des deutschen Textes stößt der Leser auf ein Wort, das nicht untypisch ist für Brinkmanns fehlerhafte Übertragungen: Das ungewöhnliche Kompositum »Geburtstags / Unterhosen«, eine Fehlübersetzung, erzielt einen unnötigen Verfremdungseffekt, der auf Brinkmanns mangelnde Fremdsprachenkenntnisse zurückzuführen ist, vermutlich wohl darauf, dass Brinkmann britisches Englisch besser konnte als amerikanisches, oder dass er beim Nachschlagen in damaligen Wörterbüchern eher auf britisches Englisch stieß, was zu der aus dem britischen Englisch richtigen, aber aus dem amerikanischen Englisch in diesem Kontext falschen Übersetzung des Kompositums »birthday / pants« als ›Geburtstags / Unterhosen‹ führte; richtig im Zusammenhang mit ›Geburtstagshemd‹ wäre ›-hose‹ gewesen. Durch solche Übersetzungsfehler erscheinen Ber rigans Texte in der Zielsprache seltsamer und weniger alltagssprachlich als sie es in der Ausgangssprache eigentlich sind; Brinkmann schuf damit unnötige Diktionsirritationen und arbeitete unfreiwillig Berrigans Poetik entgegen, nach der das Alltägliche Eingang in die Dichtung finden sollte. Brinkmanns Übersetzung wirkt somit bis zu einem gewissen Grad nicht nur sinnentstellend sondern poetologisch verfäl-
39 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot (1970)
schend. Nicht wirklich falsch und damit weniger problematisch in der Wortwahl ist, was Brinkmann gegen Ende des Gedichts aus dem Substantiv des Satzes »I wonder what’s in the icebox« macht (12); Brinkmann übersetzt mit ›Kühlschrank‹, was nicht unrichtig ist, wodurch aber die Diktionsnuance verloren geht, dass icebox als Wort old-fashioned ist und im Deutschen nach einem entsprechend veralteten Pendant verlangt. Vielleicht war Brinkmann auch nicht klar, dass Berrigan hier (vermutlich absichtlich) eine intertextuelle Anspielung auf das Gedicht »Ich wollte nur sagen« von William Carlos Williams aus dem Jahr 1934 eingebaut hatte. In seiner Übertragung dieses modernen Klassikers macht es Heinrich Detering besser als Brinkmann, indem er für icebox statt ›Kühlschrank‹ das veraltende deutsche Wort ›Eisschrank‹ wählt und den Anfang von Williams’ Gedicht folgendermaßen übersetzt: »Ich habe / die pflaumen / im eisschrank / gegessen« (53). Manchmal wählt Brinkmann aus beschränkter Wortschatzkenntnis heraus das falsche Wort: z. B. nimmt er ›irgendein‹ als Übersetzung für das Adjektiv any, das in dem letzten Satz des Gedichts, »Ich frag mich ob Ron oder Pat irgendein Toilettenpapier gekauft hat / heute morgen«, eher mit ›etwas‹ oder auch gar nicht übersetzt gehört hätte (Brinkmann: Ted Berrigan, 13). Oft ist Brinkmann einfach nur ein schluderiger Übersetzer: Er vergisst Satzzeichen zu setzen, die im Original vorhanden sind, etwa den Punkt nach dem Satz ›Ich frag mich was im Kühlschrank ist‹ (13); er bringt einen Satz im Präsens ins Futur (»I wonder / if Jan or Helen or Babe ever think about me«, ›Ich frage mich / ob [...] an mich jemals denken werden‹) oder verwandelt ein Wort im Singular in den Plural, wodurch aus einem »birthday book« ›Geburtstagsbücher‹ werden (12–13); er hält die Wiederholungsfigur der Anapher nicht sauber durch, indem er ›Ich frage mich‹ mit ›Ich frag mich‹ variiert (13); manchmal hat Brinkmann sich offensichtlich nur so oberflächlich mit seiner Quelle beschäftigt, dass er nicht einmal die simple grammatische Struktur des Ausgangstextes erfasst hat, was z. B. dazu führt, dass aus dem Satz »I read birthday book / (from Joe) on Juan Gris real name« ›Ich lese Geburtstagsbücher / (von Joe) über Juan Gris wirklicher Name‹ wird, also ›wirklicher Name‹ im Nominativ statt, wie es richtig wäre, im Akkusativ steht. Formal geht Brinkmann auch zuweilen nachlässig mit dem Original um, etwa wenn er ohne triftigen Grund Zeilensprünge eigenmächtig umgestaltet, so dass z. B. aus »[...] buy a Pepsi for / breakfast« ›kaufe eine Pepsi / zum Frühstück‹ wird (13). Spätestens bei solchen Ungenauigkeiten
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fragt man sich als Leser des amerikanischen Originals und der deutschen Übersetzung allerdings, ob man nicht allzu beckmesserisch ist in der Kritik am Übersetzer. Erscheint bei dem Autor Berrigan nicht manches weniger zwingend als man es vielleicht von dem Übersetzer Brinkmann erwartet? Ja, streng genommen ist der Zeilensprung hier nicht originalkonform, aber bei Berrigan selbst hat das Versende auch oft etwas Zufälliges. Dies wird gerade in dem genannten Gedicht deutlich, das der amerikanische Autor in abgewandelter Version als Sonnet LXXVI auch in The Sonnets aufnahm. Dort ist das Zeilenende nochmal um ein Wort weiter nach hinten im Satz verschoben worden als bei Brinkmann: »[...] buy a / pepsi for breakfast« (Berrigan 2007, 69). Sieht man sich die Vers enden und Versanfänge in den drei Versionen dieses Textes an, kommt man zu dem Schluss, dass es hier weniger um eine bestimmte Versgrenze als um ein hartes, ein das Syntagma aufspaltendes Enjambement geht, und das hat Brinkmann in seiner Version zweifellos übertragen. Zu Brinkmanns Übersetzungen aus der amerikanischen Lyrik gibt es bislang kaum Forschungsliteratur. Auf den wenigen Seiten, die Agnes C. Mueller in ihrem Buch Lyrik »made in USA« den Berrigan-Übertragungen widmet, geht die Autorin merkwürdigerweise nicht auf Brinkmanns Übersetzungsleistung ein, die – legt man strenge Maßstäbe von Richtigkeit und Genauigkeit an – nicht immer gut ist. Brinkmanns BerriganÜbersetzungen, die keine freien Nachdichtungen sind und trotz aller Fehler nah am Original bleiben, sind oft wenig reflektierte, keinesfalls penibel und sorgfältig angefertigte, handwerklich solide Übertragungen, was allerdings auch zur momentorientierten Ästhetik und improvisatorischen Poetik Berrigans durchaus passt: Es ging dem amerikanischen Autor ja nicht darum, zeitlose, ewiggültige Werkmonumente zu schaffen. Deshalb fallen Brinkmanns zahlreiche Nachlässigkeiten, wie kontingente Zeilensprünge, nicht übernommene Satzzeichen oder nicht konsequent übertragene rhetorische Figuren der Wiederholung, insgesamt betrachtet auch nicht so ins Gewicht; gleichwohl sind die vielen einfachen Fehler und Unsicherheiten aber auffällig und nicht immer unproblematisch. Sie schmälern aber nicht die Bedeutung von Brinkmanns Übersetzungen als kulturvermittelnde und kulturstiftende Pionierleistungen. Brinkmanns Übersetzungen lassen schon erkennen, dass es auch um seinen schriftlichen und mündlichen Ausdruck im Englischen nicht bestens bestellt war. In Bezug auf Briefe Brinkmanns an Ron Padgett
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VII Weitere Werke – B Editionen und Übersetzungen
fällt der Übersetzer Jan Volker Röhnert über die Englischkenntnisse des Kölner Dichters ein recht hartes Urteil, das die Leser seiner Berrigan-Übersetzungen nicht überraschen dürfte: »Brinkmanns Englisch ist ein erstaunlich unsicheres, von Fehlern und Interferenzen mit dem Deutschen durchsetztes Kauderwelsch, das in seiner unkontrollierten Willkür die Exzentrik des Autors widerspiegelt [...]« (267). Röhnert mag alles in allem recht haben, was Brinkmanns Englisch betrifft: Perfektes Schulenglisch hätte nicht wirklich zu dem ausdrücklich nicht-akademischen, betont ›revoluzzerhaften‹ und bewusst (nach-)lässigen Auftritt Brinkmanns gepasst. Aber geht es hier nur um »Exzentrik«? Ist es nicht vielmehr so, dass die nicht beherrschte Fremdsprache Brinkmann auf positive Weise erdet und auf sympathische Art allzumenschlich erscheinen lässt sowie seine schriftliche und mündliche Performance glaubwürdig macht durch ihre unüberwindbare Sprachraumzentriertheit? 1975, beim Cambridge Poetry Festival, schätzte sich der deutsche Autor in seiner Vorstellung »My Name is Rolf Dieter Brinkmann« richtig ein, kokettierte aber auch gleich mit seinem schlechten Englisch: »It might be funny for you to hear this or that word or sentence totally false spelled. [...] I can’t ... I, I, I, I do not speak really good English« (The last one, 1; s. Kap. 46). Brinkmann sprach auch noch nach seinem längeren USA-Aufenthalt an der University of Texas in Austin (1974) ein nicht-idiomatisches, phonetisch und grammatikalisch fehlerhaftes Englisch, das mit seinem dialektal-deutschen Akzent aber auch authentisch, unverfälscht, spontan und natürlich, also eben nicht gezwungen oder mühsam angelernt klang. Damit passte es gut zu dem freiheitsliebenden, subkulturell geprägten deutschen Dichter, der sich, wie auch der Amerikaner Ted Berrigan (»I hate books«), gerne nonkonformistisch gab und auf keinen Fall wie ein poeta doctus wirken wollte (vgl. Brinkmann: Ted Berrigan, 12). Gedichte, so hört man den leidenschaftlichen Bühnenkünstler Brinkmann in seinem schön falschen Englisch ohne korrekte Ausspra-
che des th-Lauts auf dem Tonträger The Last One sagen, seien ja letztendlich gar nicht so wichtig: »I think that poems are not much necessary today as one believes, cause there are so much easier and lovelier things to do everyday; for example, I’ve never been fucked with a poem. And when the poem ends, what’s happening then?« (The last one, 1). Literatur
Apollinaire, Guillaume: Œuvres en prose complètes. Bd. II. Paris 1991. Berrigan, Ted: Sonnet LXXVI. In: Alice Notley mit Anselm Berrigan/Edmund Berrigan (Hg.): The Collected Poems of Ted Berrigan. Berkeley 2007, 69. Brinkmann, Rolf Dieter (Hg.): Guillaume Apollinaire ist tot. Frankfurt a. M. 1970. Brinkmann, Rolf Dieter: My Name Is Rolf Dieter Brinkmann. In: The Last One. Autorenlesungen. Cambridge Poetry Festival 1975. Hg. von Herbert Kapfer. München 2005 (CD). Brinkmann, Rolf Dieter: Westwärts 1&2. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 2005. Mueller, Agnes C.: Lyrik »made in USA«. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik. Amsterdam 1999. O’Hara, Frank: Getting Up Ahead of Someone (Sun). In: Donald Allen (Hg.): The Collected Poems of Frank O’Hara. Berkeley 1995, 341. Poetry Foundation: Ted Berrigan. In: https://www. poetryfoundation.org/poets/ted-berrigan (7.4.2019). Read, Peter: Introduction. In: Guillaume Apollinaire: Zone. Selected Poems. New York 2015, ix–xxv. Reed, Brian M.: The New York School. In: Alfred Bendixen/ Stephen Burt (Hg.): The Cambridge History of American Poetry. New York 2015, 844–868. Röhnert, Jan Volker: Nachwort. In: Ron Padgett: Die schönsten Streichhölzer der Welt. Gedichte Englisch – Deutsch. Mainz 2017, 263–282. Williams, William Carlos: Die rote Schubkarre. In: Eva Hesse/Heinz Ickstadt (Hg.): Amerikanische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 2000, 222–223. Williams, William Carlos: Ich wollte nur sagen. In: Hubert Spiegel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Neununddreißigster Band. Frankfurt a. M. 2016, 53.
Harald Zapf
40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen
40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen Zu den bis heute weniger beachteten Aktivitäten der Kölner Zeit gehören die Zeitschriften im Selbstverlag. Die Publikationsform mag überraschen, wenn man bedenkt, dass die Stadt mit dem WDR, dem Deutschlandfunk und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch über große Medienhäuser verfügte. Brinkmann hatte seine Zeitschriftenpläne dem Verlag auch vorgetragen, war aber bei Reinhold Neven DuMont aus ökonomischen Erwägungen damit nicht durchgekommen. Insofern traf diese Projekte das gleiche Schicksal wie einige seiner Lyrikbände. Neben den professionellen Institutionen bot die freie Kölner Kulturszene vielfältige Versuche einer gegenseitigen Durchdringung von Musik, Literatur, Kunst, Happening, Theater und Film. In diesem produktiven Milieu bildeten sich kleinere Gruppen in der Absicht, in einem Kollektiv neue Formen der Arbeit zu erproben. Ihr sehr begrenztes lokales Wirkungsfeld steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zu der Absicht, gerade nicht provinziell zu handeln oder so wahrgenommen zu werden (Schäfer 2008, 109). Die Offenheit für das Experiment korrespondiert dem bewussten Verzicht auf ein breites Publikum. Die Arbeit in der kleinen, nicht etablierten Gruppe eignete sich (bei dem notorischen Geldmangel) für die Distribution von Arbeitsmaterial mit größtmöglicher Aktualität. Nicht das fertige Buch, sondern die »Zwischenform« (Heubach 1969, 178) war reizvoll geworden. Diese Arbeiten waren »weniger Buch, weniger Objekt und mehr Mitteilung, mehr Material« (ebd.). Und allen vergleichbaren Aktivitäten war gemeinsam, dass ihre Urheber »die Kunst wirklich und die Wirklichkeit ästhetisch betrachten« wollten (ebd., 180). Und nicht zu vergessen: Die Kunst, darauf verweist Freyend mit Nachdruck, brauchte die Gesellschaft für den Prozess einer dringend nötigen Demokratisierung und deshalb sollte zuallererst der Künstler Freiheit in Anspruch nehmen (Geduldig 2003, 9). Mit nahezu messianischem Impetus trug man die Forderung nach einer Abkehr von den etablierten Kanälen vor und verwarf jede Professionalität als bloße Nivellierung oder als Unterwerfung unter die Kommerzmaschinerie. Zugleich erging in der Selfmade – Kultur die Aufforderung an die Leser, nicht bei der Lektüre stehen zu bleiben, sondern selber produktiv zu werden, mitzuarbeiten und in Handarbeit eigene Zeitschriften zu entwerfen. Alle technischen Verrich-
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tungen bis hin zur Distribution sollten in ein und derselben Hand bleiben (Bandel u. a. 2017, 67). So entstanden nach amerikanischem Vorbild rasch produzierte und hektographierte »little mags«. Nicht selten führten sie zum Versuch, gleich einen Underground – Verlag zu gründen. Brinkmanns Freund Rolf Eckart John mit seiner »Palmenpresse« (seit 1970) ist ein Beispiel aus dem unmittelbaren Umfeld. Aus der Herstellung durch den preisgünstigen Umdruck leitet sich der Begriff »underground« ab, denn die mit der Schreibmaschine geschriebenen Texte in getackerten Heften landen nicht in den etablierten Institutionen, sondern sie werden mit einfacher Technik vervielfältigt und ohne Verteilersystem unter die Leute gebracht; sie dienen der schnellen und direkten Kommunikation (Bandel u. a. 2017, 9 und 89). Zur selben Zeit existierten in Köln viele solcher alternativen, oft kurzlebigen Zeitschriften. Fred Viebahn produzierte eiapopeia, Achim Schnurrer die Untergrunzzeitung, Wolf Vostell Décollage: Bulletin der Fluxus und Happening Avantgarde. Das waren die stärker an der Kunst orientierten Blätter (Di Bella 2018) in einem weitgehend politisierten Kontext. Die Forschung müsste Brinkmanns Projekte einmal in ihrem lokalen Umfeld untersuchen und von dort aus eine Bewertung vornehmen (Bandel u. a. 2017, 92 – 97 druckt Musterseiten nebeneinander ab). Die verblüffende Heterogenität, die Erzeugnisse eines (im durchaus positiven Sinne) radikalen Dilettantismus (Bandel u. a. 2017, 2) muss man als Teil einer praktischen Medienkritik begreifen. Die Projekte stehen in bewusstem Gegensatz zur »Manipulation« durch Massenmedien, sie leben aber vom umfunktionierten Benutzen ihrer Techniken. Ihr Ziele waren: Bewusstmachen, Verunsichern, Gegenlesen, Überwinden des Warencharakters von Schriften. Dabei bieten sie kein festes Themenspektrum, dafür aber umfassend Raum für eine milieubedingte Spaßkultur, für journalistischen Narzissmus, für Albernheiten, allerhand Pubertäres wie Unausgereiftes und Misslungenes (ebd., 23). In diesem Kontext sind auch viele der Übersetzungen Brinkmanns entstanden. Brinkmann pflegte in den Jahren 1967 bis 1970 engere Kontakte nur zu zwei Kreisen in Köln (Husslein 2008; Schäfer 2008). Aussagen zu den Projekten und den Gruppen sind ausschließlich über autobiographische Berichte von Zeitzeugen erhältlich. Die gruppendynamischen Probleme sind nicht leicht zu bewerten. Renate Matthaei, seine Lektorin bei Kiepenheuer, erinnert sich so: »Die ganze amerikanische Underground – Literatur hat
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_40
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VII Weitere Werke – B Editionen und Übersetzungen
Brinkmann ständig um- und umgewühlt. Daraus hat er seine Hauptanregungen bezogen. Er brachte wieder neue Autoren an, und deren Texte mußten dann übersetzt werden. Er hat auch selbst übersetzt, dann hat Rygulla übersetzt und Rolf Eckart John. Die drei haben ständig zusammengesessen, das lief alles über Brinkmann. Er konnte seine Ideen alleine überhaupt nicht verwirklichen, er brauchte immer eine Gruppe.« (Geduldig 1994, 81 f.). Da ist zunächst die Gruppe EXIT um Henning John von Freyend, Thomas Hornemann und Berndt Höppner. Alle drei hatten gerade ihre Studien an der Gewerbeschule in Basel beendet und mussten sich auf dem Kunstmarkt orientieren. In Köln mit seinen etwa 30 Galerien gründeten sie in der Steinfeldergasse 24 eine Werkstatt für Siebdruckverfahren mit einem eigenen Ladenlokal. Dort produzierte man Mappen mit bis zu sieben Arbeiten und verkaufte sie an Sammler, Galeriekunden und Privatpersonen. Auch Plakataufträge führte man aus, gestaltete Werbebroschüren und Buchumschläge. Brinkmann stieß auf Einladung von Freyend im Sommer 1969 dazu. Er genoss wegen seiner Kontakte zu renommierten Verlagen und wegen seiner ersten großen Bucherfolge den Status einer Autorität. In der Folge ist eine enge Zusammenarbeit entstanden, mit Begegnungen in Brinkmanns Wohnung in der Engelbertstraße 65 und in der EXIT – Wohnung am Hohenzollernring 36. Für die Eröffnung der Wohnung am 13.12.1969 um 22.30 Uhr mit einer Lesung aus Brinkmanns Gedichtband Gras (1970) entwarf Freyend das Plakat mit dem grünblauen Hemd (M. Brinkmann 1995, 214). Die Gruppe trat als Kollektiv auf und verschrieb sich bei ihren Produkten dem Prinzip der Anonymisierung. Thomas Hornemann erklärt es so: »Sämtliche Arbeiten – Zeichnungen, Bilder, Graphiken und Mappenwerke – wurden unter dem Label EXIT herausgegeben; persönliche Signaturen waren nicht vorgesehen. Das Impressum diverser Publikationen trägt lapidar den Vermerk »Zeichnungen (oder Bilder) von EXIT, Köln.« (Geduldig 2004, 12) Hornemann erzählt auch, dass Brinkmann eine gewisse Überlegenheit auszeichnete. Die Gruppe als Treffpunkt und Diskussionsort lebte von der direkten, oft provokativ geäußerten künstlerischen Auseinandersetzung. Brinkmanns Sicht auf die Gruppe sieht kritischer aus, ohnehin scheint er Probleme mit der Gruppenkultur gehabt zu haben und in Debatten bestand er darauf, die Gruppe müsse ihr Verhältnis zur Kunst theoretisch reflektieren: »Exit-Leute/wilde Kiff-Gelage/Nächte,Nächte,Nächte,herumhängen,bei Exit mor-
gens baden,reden,reden,reden,und ich rede und träume und sie gucken wieder doof« (Erk, 193). Auf einem Plakat warb die Gruppe 1969 mit ihrem Bekenntnis: »alles ist kunst«. Man solle alles, was wirklich ist als Kunst betrachten, man möge Museen missachten und der rabiate Aufruf gipfelte in der witzigen Beschreibung der eigenen Tätigkeit, welche die »wegwerfkunst« aufwertet: »Exit macht: Hunde-filme, Briefbeschwerer, Gute-nacht-pornos, Badezimmerfilme (...) Exit führt Spezialwünsche aus (...) Bringen Sie ihre Kinder mit! (...) wenn Sie keine haben, wir machen Ihnen welche!« (Exit 2006, 2).
40.1 Erwin’s (1969) Für EXIT war die populäre Alltagskultur zentral. Comics und banale Objekte wie Bonbons, Hundekuchen und Eisbecher prägten als Motive die Bilder. Die Gegenständlichkeit in den Graphiken und das Understatement der Darstellung sagten Brinkmann zu. Eines der wichtigeren Projekte war die Zeitung Erwin’s. Sie diente als Selbstdarstellung der Gruppe und wurde in enger Kooperation mit Brinkmann konzipiert. Die Auflage war minimal. Nur 30 bis 40 handkolorierte Exemplare mit eingeklebten Fundstücken wurden hergestellt. Die Zeitung enthielt Zeichnungen und Photos sowie Texte von Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Eckart John. Hauptsächlich Hornemann und Höppner gestalteten die Typographie für die Zeitung im Großformat, die sie auf zwei DIN A 2 – Bögen beidseitig druckten. Die Bögen wurden anschließend auseinandergeschnitten, gefaltet und als lose Blätter ineinander gelegt, so dass sich das Format auf DIN A 3 reduzierte. Der Umschlag wurde mit Sprayfarben und Schablonen farbig veredelt. Wie der Name zustande kam, ist den Zeitzeugen nicht mehr erinnerlich. Das Ganze sollte ein Kunstobjekt sein, das auch Wirklichkeitssplitter enthielt. Auf der Innenseite des Umschlags findet sich eine gezeichnete Hand, in die ein Hühneraugenpflaster eingeklebt werden sollte so wie auf Seite 13 eine in Plastikfolie eingeschweißte Vogelfeder an der mit gestrichelter Linie gekennzeichneten Stelle. Als Vorlagen dienten Zeitschriften, Prospekte, Warenhaus – Kataloge und Reklamezettel. Unter dem Einfluss des amerikanischen Zeichners Joe Brainard entwickelten die Künstler ihren neuen Stil, nämlich die Reduktion auf Umrisslinien und das bewusst unprätentiös gehaltene Darstellen einfacher Dinge: Ein Paar in Unterwäsche, Kinder auf einer
40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen
Postkarte, eine Jacke über der Lehne eines Stuhls, ein Sägeblatt, Erdbeeren, ein Büstenhalterverschluss, eine Kaffeetasse auf einem Tisch, eine staubsaugende Frau. EXIT machte die Schönheit einfacher Dinge sichtbar – und realisierte darin auch ein Anliegen Brinkmanns aus dieser Zeit. Die Texte stehen in der Zeitung konsequent im Kontext von Bildern und nehmen oft wesentlich weniger Raum ein als die Graphiken. Die Schrift wird selber zum bildnerischen Mittel und Bilder sind mit Texten durchsetzt, sie nutzen Sprechblasen aus den Comics. Die Textbeiträge sind zum größten Teil Zitate oder Kontrafakturen. Von Brinkmann stammt Eine Geschichte aus dem Weltraum (nach Perry Rhodan), er verfasst in Kollaboration mit Rygulla die Gedichte Zugluft und Elektrisches Licht sowie Sein Album und die Oberflächenübersetzung Durch mich die Meil (nach Paul Éluard, Après moi le sommeil). Über der Entstehung von Erwin’s soll sich die Gruppe zerstritten haben und dies unter maßgeblicher Beteiligung Brinkmanns. Das hatte wohl auch damit zu tun, dass er Höppner und Freyend für graphische Projekte seiner Bücher gewann.
40.2 Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969–1970) Auch der Gummibaum entstand mit Hilfe der EXIT – Künstler. Insgesamt sind vier Nummern erschienen (drei und ein Sonderheft in zwei Ausgaben), von denen jede ein anderer verantwortete, nur die erste hat Brinkmann herausgegeben (Seinsoth 1990, Nr. 29– 32). Er hat das Layout gemacht und die Abbildungen von Berndt Höppner ausgesucht. Die 41 Heft – Blätter in einer Auflage von 400 Stück hektographierten die Künstler im Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch, zu dem Brinkmann Zugang hatte, nachdem er die Texte selber auf Wachsmatrizen getippt hatte (Hornemann in: Geduldig 2004, 15). Das Heft wirkt gestalterisch schlicht. Schon der Titel ist nicht exakt zentriert und in Schreibschrift gehalten, so als hätte ein Schulkind flüchtig eine Arbeitsmappe beschriftet. Die absichtliche Nachlässigkeit als ästhetische Entscheidung soll an Informationspost aus Schulen, Behörden oder Betrieben erinnern. Bei den folgenden Heften legten die Herausgeber andere Maßstäbe an. Über die Entstehung der Hefte und die fruchtbare einvernehmliche Übersetzungstätigkeit unter dem Motto: »zusammen, immer alles zusammen« (Geduldig 1994, 100) erinnert sich Rygulla im Rückblick:
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»Dann gab es die Idee, daß eigentlich jeder Gedichte machen sollte. Wer sich enthemmt, kann das Gedicht als eine normale Lebensäußerung betrachten, wie eine Unterhaltung, einen Rausch. So ergab es sich dann, daß unser ganzer Bekanntenkreis Gedichte schrieb. Vier Gummibäume entstanden dadurch, daß wir allen, die wir kannten, den Auftrag gaben, ein Gedicht zu schreiben. Das stand in der Nachfolge des Materials, das wir aus England und Amerika hatten.« (Ebd., 104) Tatsächlich spielte Rygulla die entscheidende Rolle bei der Beschaffung des Materials. Er brachte von seinen Aufenthalten in London Hunderte von Magazinen mit nach Köln, die heute im Deutschen Literaturarchiv Marbach lagern und der Bearbeitung harren. Der ungewöhnliche Titel ist einerseits eine Anspielung auf ein damals sehr beliebtes Dekorationsstück des deutschen Wohnzimmers. Er soll also die Gewohnheiten des deutschen Durchschnittsbürgers ironisieren. Auf der anderen Seite kann man den Titel stellvertretend für die Kunstwerke als Teil der Warenwelt verstehen. Sie sind nicht nur überall auffindbar, von jedermann und für jeden herstellbar, sondern genauso beliebig reproduzierbar wie Accessoires in der Wohnstube. Ungewöhnlich im Vergleich zu den anderen Kölner Privatdrucken war der hohe Anteil von Übersetzungen bzw. freien Nachdichtungen neuer amerikanischer Autoren, worauf der Untertitel aufmerksam macht. Schließlich möchte die Zeitung auch die Publikationspraxis der amerikanischen Szene importieren (Bandel u. a. 2017, 169). Das Heft bietet die Texte von Tom Raworth das einsame leben des leuchtturmwächters aus dessen aktueller Sammlung The Big Green Day von 1968 und Anne Waldman Aufwärmen (für Kenneth Koch). Sie stehen vor Rolf und Maleen Brinkmanns kurzem Prosatext Aus unserer Küche. Brinkmanns Le fils de l’homme (später in Gras 1970) und das Erzählgedicht Unterhosen sind enthalten. Mit Dieter Wellershoff und Nicolas Born tragen weitere bekannte Autoren Texte bei. Das Heft beschließt der nicht autorisierte poetologische Text Ein paar Hinweise, den Brinkmann wesentlich geprägt hat. Die Gedichte Eimer (Bucketts), Poulain und die Prosa Vermont Sketch stammen von Ron Padgett aus Great Balls of Fire und aus der Zeitschrift Angel Hair 6, 1969. Hunger stammt von Dick Gallup und wurde ebenfalls ohne Nennung des Übersetzers aus der Zeitschrift Columbia Review 48, 1969, Nr. 2 übernommen. Als Raubdruck wird man die Geschichte Die Ziege und der Scheinwerferstrahl von Max Jacob ansehen. Sie ist übernommen aus Der Würfelbecher in der Übersetzung von Friedhelm Kemp, die gerade bei Suhrkamp
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VII Weitere Werke – B Editionen und Übersetzungen
(1968) erschienen war. Solche Praktiken gehören zum Stil der Beiläufigkeit (Bandel u. a. 2017, 169), der die Zeitungen auszeichnet. Man präsentiert Fundstücke und teilt sie Freunden mit. Außerdem greift hier das Selbstverständnis der alternativen Szene gerade im Verständnis einer abweichenden Ökonomie. Es galt als zulässig, das Urheberrecht und das Finanzgebaren des Verlagswesens fröhlich zu unterwandern, wenn nicht solche Ansprüche prinzipiell abzulehnen. Aber gerade das Beispiel von Max Jacob verbietet es, hier von »underground« zu reden, es zeigt vielmehr, dass die Grenzen ohnehin durchlässig sind. Die Gleichgültigkeit in Bezug auf die literarische Leistung oder die Unbekümmertheit in Fragen der künstlerischen Durchdringung machen die weniger gelungenen Texte aus dem Freundeskreis deutlich (Ralf-Rainer Rygulla, Ulrike Pfeiffer, Rolf Eckart John, Linda Pfeiffer, Monika und Helmut Pieper, Peter Behrens). Der Anteil der amerikanischen und französischen Texte nimmt in den beiden folgenden Heften von Rolf Eckart John (Nr. 2, 1969) und Ralf-Rainer Rygulla (Nr. 3, 1970 in Frankfurt) noch zu. Weitere fremdsprachige Autoren in Übersetzung sind Paul Blackburn, Paul Buck, Richard Brautigan, Larry Fagin, Andrew Crozier, John James, John Giorno, Marcel Jouhandeau, Michael McClure, Spike Hawkins, Lee Harwood. In Heft drei kommen noch hinzu Gerard Malanga, Blaise Cendrars, John Esam, Aram Saroyan, Kenward Elmslie, Leonard Cohen, Mickey Spillane, Douglas Blazek, Frank O’Hara. Am Ende von Heft 3 steht eine Seite mit acht Haikus, versammelt zu einem Gespräch über die Zeiten und Länder hinweg.
40.3 Der Fröhliche Tarzan. Eine neue Zeitschrift für Dichtung aus Köln (1970) In Anspielung auf den Filmhelden erschien im September 1970 das hektographierte, in einer Auflage von 600 Exemplaren von Rolf Eckart John verantwortete Lyrik-Heft mit einer Umschlagzeichnung von Ulrike Pfeiffer. John gab insgesamt acht Hefte der Nachfolgezeitschrift zu Gummibaum zwischen 1970 und 1975 heraus (Seinsoth 1990, Nr. 51). Nur das erste Heft mit dem lokalen Untertitel Eine neue Zeitschrift für Dichtung aus Köln bietet auf 62 ungezählten Blättern Texte von Brinkmann (die sieben Gedichte Die zerbrochene Tasse, Eine Geschichte, Krach, Selbstbildnis mit Chirico, Erlebnis, 8. April 1970, Weißes Licht), außerdem von Paul Blackburn, Charles Bukowski, Tom Clark, Larry Fagin, Max Jacob, Marcel Jouhandeau, Vincente Hui-
dobro, Barry MacSweeney, Peter Riley, John Giorno, Ron Padgett und Anne Waldman. Darin ist auch Guillaume Apollinaire sehr präsent. Er wird sogar im Beiträgerverzeichnis als Autor genannt. Es soll der Eindruck entstehen, er gehöre zu den lebenden Autoren. Der Beitrag von Apollinaire wird eröffnet mit einer Reproduktion der Aufnahme des am Kopf verwundeten Autors. Dann folgt das Gedicht Es regnet, wobei der Text typographisch gestaltet ist in Form herunter fallender Regentropfen wie beim französischen Original, dem Kalligramm »Il pleut« (in Klammern steht darunter: »aus Apollinaire, Poetische Werke, 1969«; sie stammen von Gerd Henniger). Hier wird einmal mehr die vergegenwärtigende Berufung auf die Moderne deutlich. Dass hier »Dichtung aus Köln« versammelt sei, kann man nicht so pauschal behaupten, es sei denn, man wollte demonstrieren, in welchem bedeutenden internationalen Feld die eigenen Versuche zu lesen seien. Auffällig bleibt, dass alle Hefte auf übertriebene Pop Art – Gestaltung verzichten, dass sie Grafiken sparsam einsetzen und die Blätter nie überfrachtet sind wie bei anderen Privatdrucken (Bandel u. a. 2017, 103). Man vertraut auf Texte und unterscheidet sich in dieser Hinsicht gar nicht von literarischen Blättern aus den Verlagshäusern. John eröffnet den Reigen mit seiner Übertragung von Das Hemd des britischen Alltagspoeten Jim Burns. Der Text stammt aus Little Mag Poets, 1969, womit er einem der wichtigsten Vorbilder der Projekte die Ehre erweist. Er ist eine Vorarbeit zu den deutschen Buchausgaben der Gedichte von Burns, Leben in Preston (Köln 1973 Palmenpresse) und Fred Engels bei Woolworth (Berlin 1977 Rotbuch). Die Selbstpublikationen dieses Kölner Kreises um Brinkmann hatten entschieden die Aufgabe, die Übersetzungspläne voranzubringen und erste Ergebnisse im kollegialen Austausch zu diskutieren. Literatur
Bandel, Jan-Frederik/Annette Gilbert/Tania Prill (Hg.): Unter dem Radar. Underground – und Selbstpublikationen 1965–1975. Leipzig 2017. Brinkmann, Maleen (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995. Di Bella, Roberto: Break on Through (to the other side). Rolf Dieter Brinkmanns Kölner Erkundungen zwischen Pop, Provokation und neuer Sensibilität. In: Michaela Keim/ Stefan Lewejohann (Hg.): Köln 68! Protest. Pop. Provokation. Mainz 2018, 330–341. Erwin’s. Von: Exit, Bildermacher. Thomas Hornemann, Bern[dt] Höppner, Henning John von Freyend. Exit & Rolf Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla. Köln 1969 Photo-
40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen mechanischer Nachdruck des um die Hälfte verkleinerten Originals von 1969. Berlin 2006. Exit. Künstlergruppe zwischen Pop und Punk. Anläßlich der Ausstellung »Außerordentlich und obszön, Rolf Dieter Brinkmann und die Pop-Literatur«. (Neuausgabe) Berlin 2006. Fountain, Nigel: Underground. The London Alternative Press 1966–1974. London/New York 1988. Geduldig, Gunter/Marco Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Vechta 1994. Geduldig, Gunter: »Er klapperte den ganzen Tag auf seiner Schreibmaschine«. Ein Gespräch mit Henning John von Freyend. In: Orte und Räume. Mitteilungsblatt der RolfDieter-Brinkmann-Gesellschaft 2003, Nr. 1/2, 5–23. Geduldig, Gunter: »Manchmal ging es richtig zur Sache«. Ein Gespräch mit Thomas Hornemann. In: Orte und Räume. Mitteilungsblatt der Rolf-Dieter-BrinkmannGesellschaft 2004/05, Nr. 1/2, 8–18.
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Heubach, Friedrich Wolfram: Literarische und verlegerische Aktivitäten »Out oft the Scene«. In: Köln. Vierteljahrschrift für die freunde der stadt 3 (1969), 177–180. Husslein, Uwe: Popliteratur als visuelle Kunst. Rolf Dieter Brinkmann und die Kölner Künstlergruppe EXIT. In: Ders. (Hg.): Pop am Rhein. Köln 2008, 129–139. Neven DuMont, Reinhold: Gebrauchsanweisung für Köln. München/Zürich 2004. Schäfer, Jörgen: The Making of Pop Literature. Rolf Dieter Brinkmann und sein Kölner Freundeskreis. In: Dirk Matejovski/Markus S. Kleiner/Enno Stahl (Hg.): Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region. Essen 2008, 103–124. Seinsoth, Udo (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann zum 50. Geburtstag. Bremen 1990.
Markus Fauser
C Hörspiele, Hörbücher 41 Hörspiele Rolf Dieter Brinkmann – ein Hörspielautor? Bekannt ist Brinkmann für seine Lyrik, für seine Foto-TextMontagebände und vielleicht noch für seinen Roman Keiner weiß mehr. Aber, um hier sprachlich anzuknüpfen, kaum einer weiß mehr, dass Brinkmann in einer wenn auch eher kurzen Phase Anfang der 1970er Jahre drei Textvorlagen für Hörspiele des Westdeutschen Rundfunks (WDR) verfasst hat: • Auf der Schwelle (Textentstehung 1970, Erstsendung am 14.7.1971, Laufzeit 34'24'', Regie: Raoul Wolfgang Schnell), • Der Tierplanet (Textentstehung 1971, Erstsendung am 23.4.1972, Laufzeit 49'00'', Regie: Raoul Wolfgang Schnell) und • Besuch in einer sterbenden Stadt (Textentstehung 1972/73, Erstsendung am 28.6.1973, Laufzeit 45'11'', Regie: Ulrich Gerhardt) (Hörspieltexte s. FW, 5–22 und 155–200). Die Zusammenarbeit mit dem WDR bedeutete erstens eine willkommene Geldquelle: Klaus Schöning, damals Redakteur und bedeutsamer Wegbereiter des »Neuen Hörspiels« im WDR 3-HörSpielStudio, konnte Brinkmann beispielsweise für Auf der Schwelle 5000 DM anbieten (vgl. Schöning an Brinkmann, 24.11.1970). Zweitens waren die Hörspiele in dieser relativ publikationsarmen Zeit Anfang der 1970er Jahre eindeutige Signale von Brinkmanns fortlaufender schriftstellerischer Tätigkeit.
41.1 Akustischer Kontext Über die drei Hörspiele hinaus war Brinkmann an weiteren Hörfunksendungen beteiligt; sie werden noch seltener als die o. g. Hörspiele – oder gar nicht mehr – im Radio ausgestrahlt. Diese werden hier aber nicht nur wegen der bibliographischen Vollständigkeit des akustischen Werkes erwähnt, sondern auch, um mit ihnen die abwechslungsreichen und experi-
mentellen Möglichkeiten des Rundfunks anzudeuten, die ganz im Sinne Brinkmanns waren. Zwei Arbeiten stehen dabei noch im Kontext des ersten Hörspiels: • Einführung in das Hörspiel ›Auf der Schwelle‹ (Erstsendung am 17.7.1971, Laufzeit 10'17'', Sprecher: Rolf Dieter Brinkmann; das Sendedatum lag drei Tage nach der Erstausstrahlung von Auf der Schwelle). • Nachwort für das Hörspiel ›Auf der Schwelle‹ / Essay (Erstsendung am 2. oder 12.8.1971, Laufzeit 23'24'', Sprecher: Rolf Dieter Brinkmann; Abdruck in veränderter Form unter dem Titel Fortsetzung in FW, 25–40 und teilweise auch im Vorwort FW, 5–6). Nicht bekannt ist, ob diese Beiträge schon vor Ausstrahlung des Hörspiels geplant oder, ob sie die Reaktion auf eine Diskussion über Auf der Schwelle waren. Die folgenden Hörfunkbeiträge sind darüber hinaus bekannt (vgl. Fischer 2000, 43): • Straßen und Plätze. Deutschlandfunk 17.2.1966, Laufzeit 17'00. • Die Sache mit Rainer: aus einem unveröffentlichten Roman. Hessischer Rundfunk, HR 2 17.11.1967, Laufzeit 13'20. • Keiner weiß mehr (Lesung aus dem Romanmanuskript, 21.11.1967, Laufzeit ca. 19'15'', Deutschlandfunk; danach ein Gespräch mit Literaturredakteur Wolfgang Pehnt, ca. 8'15'') • Der graue Raum: eine Collage zum Werk des Schriftstellers William S. Burroughs. Hessischer Rundfunk. (Studio für Literatur) 15.3.1968, Laufzeit 19'20. • Einübung einer neuen Sensibilität. Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst: Wandlungen des kulturellen Bewußtseins in Deutschland (Essay). Hessischer Rundfunk 22.6.1969, Laufzeit 28'49. • Autoren als Discjockey. Der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann liest eigene Texte zur selbst ausgewählten Musik (Erstsendung am 11.1.1970, Laufzeit ca. 58', WDR, Redaktion: Peter Faecke)
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_41
41 Hörspiele
• Wortwechsel – Ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann und Nicolas Born (Erstsendung am 20.1.1970, Laufzeit ca. 29', Sender Freies Berlin, Redaktion: Hanspeter Krüger) • Programmschluß. Lesung von Texten und Gedichten von R. D. Brinkmann (Erstsendung am 31.12.1971, Laufzeit ca. 21', WDR, Redaktion: Peter Faecke) • Ich fühle eine Menge Hast: Rolf Dieter Brinkmann liest eigene Texte. Sender Freies Berlin 26.10.1973, Laufzeit 24'15. • You broke my heart: neue Gedichte. Südwestfunk 18.4.1974, Laufzeit 34'20. • Die Wörter sind böse (aus der WDR-Reihe »Autorenalltag«; Erstsendung 1974, Laufzeit ca. 49', WDR, Regie: Hein Brühl). Die eigene Stimme im Rundfunk zu erheben, selbst ausgewählte Musik im Radio abzuspielen, die Kollaboration mit einem anderen Autor zu demonstrieren – das entsprach Brinkmanns multimedialem Engagement und seiner Forderung nach einer selbstbestimmten, lebendigen Literatur. Mit dem letzten Hörfunkbeitrag wird wiederum die Brücke geschlagen zu Brinkmanns drittem Hörspiel Besuch in einer sterbenden Stadt, da die Aufnahmen zu Die Wörter sind böse an dessen Entstehungszeit anschließen und wie die Spurensuche nach Leben in einer zumindest emotional (ab)sterbenden Stadt – hier: Köln – wirken. In diesen Kontext gehören weitere Tonbandarbeiten: • Wörter Sex Schnitt, die umfangreiche und relativ erfolgreiche Nachlassveröffentlichung auf CDs aus dem Jahr 2005 (Entstehungszeitraum: Oktober bis Dezember 1973, Laufzeit ca. 360'40'', Hg.: Herbert Kapfer, Katarina Agathos, unter Mitarbeit von Maleen Brinkmann). Diese Audio-Aufzeichnungen machen erfahrbar, wie umfassend und eigenwillig Brinkmann mit auditiven Medien experimentierte, wenn er völlig unabhängig außerhalb eines Studios als eigener Regisseur und Aufnahmeleiter mit einem mobilen Aufnahmegerät als akustischem Notizbuch arbeitete (s. Kap. 42; vgl. auch Selg 2007).
41.2 Hörspielhistorischer Hintergrund Zur Entstehungszeit der Hörspiele Brinkmanns gab es keinen einheitlichen Hörspielbegriff mehr. Schon in den 1960er Jahren etablierte sich neben dem traditionellen ›Theater für die Ohren‹, einem klar strukturier-
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ten und bei den Hörern sehr beliebten Figurenspiel mit geschlossener Handlung (z. B. Paul-Temple-Kriminalhörspiele als sog. ›Straßenfeger‹ in den 1950er Jahren), das ›Neue Hörspiel‹. Das inhaltlich nicht sehr aufschlussreiche Adjektiv ›neu‹ diente dazu, allgemein den Wunsch nach Veränderungen und Weiterentwicklungen zu signalisieren. Damit ist die Entwicklung im Hörspiel auch im Kontext anderer Aufbruchsstimmungen in der Literatur (z. B. Nouveau Roman, vgl. Spies, in: Schöning 1970; s. Kap. 2, 3.2, 4, 26) und Gesellschaft (z. B. 68er-Protestbewegung, s. Kap. 2.3) zu sehen. Einer der Urväter bzw. Geburtshelfer der Bezeichnung des Neuen Hörspiels und der zugehörigen Tendenzen war Brinkmanns Ansprechpartner beim WDR, Klaus Schöning. Nach Reinhard Döhl hat erstmals Schöning am 3.10.1968 in einer Hörfunksendung des WDR nach den ›Tendenzen im neuen Hörspiel‹ gefragt und wurde damit zum Namensgeber (vgl. Döhl 1988, 10, 143). ›Neu‹ bedeutete auch, dass dem Hörspiel prinzipiell keine Grenzen mehr gesetzt waren: »Die Auflösung des Spielcharakters im engeren Sinne, des Rollenspiels und der Spielhandlung, die Auflösung der exemplarischen Funktion der Konfliktsituation, die entsprechende Destruktion des Handlungsgefüges usw. [...]« (Heißenbüttel, in: Schöning 1970a, 29), nach Heißenbüttel Kennzeichen sowohl des ›Neuen Hörspiels‹ wie der Literatur allgemein, ist zwar bei Brinkmann nicht überall gänzlich vollzogen, eine linear-bruchlose Geschichte mit eindeutigem Spannungsbogen wird aber nicht ›erzählt‹ oder ›gespielt‹. Damit wurde der Weg für weitreichende Innovationen freigemacht, denen eine umfassende Offenheit für neue Formen und Inhalte zugrunde lag. Dies führte zu Irritationen bei den Hörern (vgl. Tilmann 2013, 105 f.). Die Destruktion eines Handlungsgefüges und die zunehmende Beziehungslosigkeit der Hörspiel-Figuren untereinander ließen eine fragmentarische Form, die Hör-Collage, entstehen (vgl. Vowinckel 1995). Das ›Neue Hörspiel‹ bestand aus der (heterogenen) collagehaften Verbindung von Stimmen, Geräuschen und Musik, die durch neuere technische Entwicklungen (u. a. Stereoton für Dialoge) unterstützt bzw. noch vielfältiger gestaltet werden konnte: »das neue hörspiel präsentiert sich nicht mehr in erster linie als literaturgattung, in der eine tragende handlung akustisch illustriert wird, sondern, im allgemeinsten sinn, als ein hörereignis, in dem alle schallphänomene, ob laute, wörter, geräusche oder klänge, prinzipiell gleichwertig sind: verfügbares material« (Rühm, in: Schöning 1970a, 46).
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VII Weitere Werke – C Hörspiele, Hörbücher
Diese Merkmale können genauso zur Beschreibung von Brinkmanns Hör- wie auch vieler (späterer) Prosatexte dienen. Insgesamt bot das ›Neue Hörspiel‹ Brinkmann eine Erweiterung der Möglichkeiten für den Umgang mit Sprache. Die Sprache wird nun vom bloßen Kommunikationsmedium der Akteure zum »handelnden Subjekt« selbst (Lermen 1975, 145): »›es handeln die sprachelemente. subjekte sind die wörter, die wortagglomerationen, die gestanzten redensarten, fragepartikel [...].‹ Diese Subjekte – und keine anderen – treten in Aktion. Wörter werden dazu gebraucht, sich zu zeigen, – wie sie sind, mit ihrem Inhalt, doch nicht im Dienst einer auch unabhängig von ihnen vorstellbaren Bedeutung« (Heinrich Vormweg, der einen Gedanken von Franz Mon fortführt; in: Schöning 1970a, 159). Damit stehen Brinkmanns Hörspiele seiner letzten Werkphase näher als seiner Poplyrik der 1960er Jahre, wie auch Rinke trotz seines Versuchs, die Hörspiele aufgrund der Zitattechnik, der Sprache des Vulgären und der Konzentration auf die Darstellung von Oberfläche der Popliteratur zuzuschlagen, abschließend feststellen muss, da Brinkmann in den Hörspielen eine »Endzeit-Vision« als »Gegenbild zur verführerischen Konsum- und Vergnügungswelt des Popzeitalters« entwerfe (Rinke 2017, 90). Für das Hörspiel hatte er die Lösung für eine neue Form gefunden, nach der er für den Roman in Rom und Köln parallel suchte (Erk, 205, 209, 261, 363). Robert Fischer verortet die Hörspiele, die er als vorübergehende Lösung von Brinkmanns Schreibkrise in den 1970er Jahren begreift, in denen er ein essayistisches Schreiben mit allen weiteren Gattungen mischt, im Kontext von Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit«, indem sie »als aggressive, akustische Reizung des Nervensystems seines Zuhörers funktionier[en]« (Fischer 2000, 32).
41.3 Auf der Schwelle – ein ›Neues Kriminalhörspiel‹? Schon mit der ersten Regieanweisung (und damit bei entsprechender Sendungsgestaltung mit den ersten Geräuschen), schon mit dem ersten kurzen Dialog will Brinkmann eine Atmosphäre der Bedrohung schaffen: Zuerst ist nur ein stumpfes Klatschen zu hören, das nicht genau erkennen läßt, was es bedeutet. Nachdem ein schwaches, unterdrücktes Wimmern aufkommt, begreift man, daß es Schläge sind. Dem Wimmern läßt sich jedoch nicht entnehmen, ob es das Wimmern
eines Mannes oder einer Frau ist. Älterer Mann, ruhig: Wir haben schon für eine Menge weniger wen umgebracht. Jüngerer Mann, kalt und ebenso ruhig: Charlie, du bist immer eine Nummer besser. (FW, 7)
Diese permanente Atmosphäre »auf der Schwelle« zur Gewalt bleibt während des gesamten Hörspiels erhalten und ist auch für die beiden weiteren Hörspiele charakteristisch. Mehrfach wird die Schwelle aber auch durch Gewalttaten überschritten (»Älterer Mann: Wirf sie raus. [/] Das Aufklatschen des Körpers auf dem Asphalt.« FW, 7; »Der kurze präzise Knall eines Schusses, der in nächster Nähe abgegeben wird.« FW, 7). Einerseits evoziert Auf der Schwelle insgesamt ein Verbrecher- bzw. Gangstermilieu und hat damit noch eine gewisse Verbindung zum traditionellen Kriminalhörspiel. Brinkmann selbst benennt in seinem Vorwort einige Gemeinsamkeiten: »Alle Momente eines Kriminalfalls treten auf, der Mord, Reisen, körperliche Motorik, schnelle Wagen, Schüsse, Vernehmungen, Schläge, die Verurteilung durch den Tod in der Gaskammer, das Grinsen und Blumenbouquets« – um dann den Unterschied zu markieren: »doch sind sie nicht mehr nach der vorgegebenen Logik der gewohnten Sprach- und Verständnisordnung zusammengestellt« (Vorwort zu Auf der Schwelle, FW, 6). Aber es steht nicht mehr eine nachvollziehbare ›Whodunit‹-Ermittlung mit Überführung eines Täters wie im traditionellen Hörspiel im Vordergrund. Statt einer Entwicklung über die Beantwortung der klassischen W-Fragen (wer – was – wo – wann – warum?) bleibt die Handlung tendenziell offen. Vielmehr wiederholen sich die Gewaltakte – gleichbleibend oder modifiziert – mehrmals, bevor sie gegen Ende zu einer an ein filmisches »Showdown« erinnernden akustischen Szenerie der Gewalt verdichtet werden. Parallelen zum Film, die Brinkmanns Schreiben immanent sind, werden erkennbar (vgl. z. B. Essay Der Film in Worten, s. Kap. 13; vgl. auch Fortsetzung FW, 26). Brinkmann, der leidenschaftliche Kino-Besucher von (amerikanischen) Gangsterfilmen, entnimmt ihnen ebenso wie auch realen, nacherzählten Geschehnissen Anregungen für Figuren, Sprache und Handlungen. Der hier oben zitierte Kurzdialog lässt sich beispielsweise direkt auf den Film »Der Tod eines Killers« zurückführen (»The Killers«, USA 1964, Regie: Don Siegel; vgl. entsprechendes Zitat in Erk, 164). Darüber hinaus simuliert die Kürze vieler Gesprächsteile (Satzfragmente) stellenweise die ›Coolness‹ des
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Gangstermilieus mit Zitaten aus dem Gangster-Jargon (z. B. »Schlauer Junge«, »Hattest was ausgekocht«, FW, 8, 11, 19). Ein Referenztext war neben einer unbenannten »Reihe von Quellen« (FW, 6) ein Buch, über das Brinkmann eine Rezension verfasst hat: die Memoiren einer Gangsterbraut von Virginia Hill (Brinkmann 1970, s. Kap. 15.4). Wie Virginia Hill entstammen jedenfalls auch weitere Hörspiel-Figurennamen der amerikanischen Gangsterhistorie (Benjamin Siegel, [Louis] Cohen, Dutch Schultz). Bedeutend als Quelle dürfte noch William S. Burroughs Drehbuch The Last Words of Dutch Schultz aus dem Jahr 1970 gewesen sein, in dem sich der Autor seines cut-up und fold-inVerfahrens als Montagetechnik bedient, die auch für Brinkmanns Hörspiele kennzeichnend werden. Neben diesen namentlich gekennzeichneten StimmFiguren als Hauptträgern bzw. -vermittlern des Geschehens, die den Rollen des traditionellen Hörspiels noch recht ähnlich sind, treten einige Hörspielfiguren nur noch als Abstraktionen auf (»Älterer Mann«, »Jüngerer Mann«, bis hin zu nur noch durchnummerierten »Geschlechtslose[n] Stimmen«, FW, 7 f.). Der Terminus ›Figuren‹ ist bei Brinkmann also zunehmend im Sinne von ›typisiert‹ und ›anonymisiert‹ und nicht von ›individualisiert‹ zu verstehen. Dementsprechend steht – selbst bei Namensnennung – kein profiliertes Einzelschicksal im Mittelpunkt der unaufgelösten, in kleinen Szenerien um sich selbst rotierenden Handlung. Vielmehr befinden sich fragmentarische Täterund Opferfiguren in einem permanenten Wechselspiel, zumal nicht versucht wird, sie in einen verständlichen (z. B. historischen) Kontext zu stellen. Brinkmann selbst schreibt in seiner Buchkritik zu Hills Memoiren über die Gangster und ihr Metier: »Die Klischees sind ausgezehrt. Die Figuren haben sich tief darin zurückgezogen [...]« (Brinkmann 1970, 108). Die von Burroughs inspirierte Montagetechnik führt zu Fragmentierungen und Wiederholungen der Handlungen und Stimmen wie zu Sinnbrüchen, die sich in allen drei Hörspielen zeigen und hier kurz exemplarisch erläutert werden. »Viele Autoren des neuen Hörspiels fügen [...] in additiven Verfahrensweisen Partikel aus der Wirklichkeit selbst aneinander, um den Hörer zu bestimmten Gedanken und Vorstellungen anzuregen« (Lermen 149). Brinkmann verwendet Sprache in der Regel als zerlegbares Material im Sinne seiner poetologischen Überlegungen (s. Kap. 15). Das Collageprinzip bringt es mit sich, dass sich die Hörspiele häufig gängiger Verständlichkeit und Anschaulichkeit entziehen: Nicht nur zwi-
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schen längeren Texteinheiten (monologischen Absätzen) ist Kohärenz festzustellen. Oft werden Passagen auch bestimmt von Ein-Wortoder Kurzsätzen, die der Tempobeschleunigung, dem stakkatohaften Stimmenwechsel dienen. Sie stehen in einem direkten, inhaltlichen Zusammenhang, trotz der Aufteilung auf bis zu 33 im Manuskript vorgesehene Sprecher (FW, 8 f.). Die kommunikativen Beziehungen der Figuren untereinander lösen sich jedoch oftmals auf in ein gleichzeitiges Sprechen ohne Bezug auf den Dialogpartner. Je kürzer die Sprecheinheiten einer Stimme sind, desto häufiger werden Sinnzusammenhänge als hörspielspezifisches Stilmittel zerstört. Die Segmentierung der Stimmen wird durch die kürzeren Spracheinheiten verstärkt, so dass sich kaum noch die Frage nach einem (herkömmlichen) ›Sinn‹ stellt: Der von den Rezipienten eigentlich erwartete inhaltliche Zusammenhang löst sich in eine Vielzahl von Stimmen auf, wie beispielsweise in folgender Passage: Virginia Hill: Ich war die gottverflucht beste Unterlage im Land. Fischetti: Ja, Ja, vielleicht drei Tote. Eine Frau: Krank wie ein Spielautomat in leuchtenden Farben zersprungen im Morgenlicht. Virginia Hill: Nein. Stimme: Wirklich. Virginia Hill: Ich zog mich aus. Mann: Sahnebonbon. Virginia Hill: Gestern. Mädchen: Sein Ding sah aus wie ein alter Gummischlauch. Virginia Hill: Mir war zum Kotzen. Fischetti: Grüße an Ben. (FW, 10)
Isolierte Sprachbruchstücke bleiben unverständlich, Vertauschungen bzw. Umstellungen (Permutationen) sind ein weiteres Indiz für die Auflösung des Sinnzusammenhangs, für die Austauschbarkeit von Erfahrungen und damit für das nicht mehr Zweckgebundene und Zielgerichtete der Sprache bzw. des Sprechens. Dies betrifft auch akustische Elemente, etwa den für das Verbrechermilieu bzw. Kriminalhörspiel kennzeichnenden »Schuss« (FW, 7 f.). Dieser soll zu Beginn wiederholt zu hören sein, aber nicht um einen kriminalistisch untersuchbaren Tathergang zu inszenieren. Vielmehr wird er von einer einmaligen Handlung und dem damit transportierten Inhalt (›ein Mord ist geschehen‹) zur nahezu beliebig wiederholbaren Sen-
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tenz, zum formal-akustischen Gestaltungsmittel. Der »Schuss« als akustisches Signal eines Gewaltakts zieht auch keine zielorientierte kriminologische Handlungsfolge mehr nach sich (Auffinden eines möglichen Opfers, Erscheinen der Polizei, Zeugenbefragung, Tätersuche o. Ä.), sondern ›lediglich‹ eine Verschachtelung verschiedenster (weiterer) Taten oder »Handlungsfetzen« (FW, 5). Diese sind zwar vermischt mit klischeehaften Kurzszenen aus dem KrimiGenre (z. B. einzelne floskelhafte Verhörszenen), welche aber wie zufällig in das Hörspiel eingestreut, darüber hinaus in sich fragmentarisch und im Sinne einer Täterermittlung surreal-sinnlos wirken. Brinkmann selbst erklärt, »daß die Redeweise der schmierigen kleinen und großen Verbrecher amerikanischen Verbrechertums erstaunlich surreal ist. Wenn dieser surreale Ton, mit einer surrealen Gestik gekoppelt, hier und da aus dem Hörspiel herauszuhören sein würde, würde mich das freuen« (FW, 6). Die sich im ›Neuen Hörspiel‹ in zunehmender Auflösung befindende linear-logische Sprache übernimmt die Regie über die Inhalte; die Aneinanderreihung der Taten bzw. Ereignisse erscheint beliebig fortsetzbar. Durch die Aufteilung in 1. eher aktionsbetontes, gegenwärtiges Geschehen (bzw. Geräusch), 2. in der Gegenwartsform gehaltene Redeanteile und 3. nacherzählende Passagen entsteht im Hörspiel eine merkwürdig oszillierende Atmosphäre zwischen der Spannung des ›direkten Dabeiseins‹ beim Geschehen und der diese Spannung abschwächenden Zeitform der Vergangenheit, die sich vor allem in den längeren nacherzählenden Passagen findet. Damit entgleitet der gesamte Ablauf einer eindeutigen Fixierung; Orts- oder Zeitwechsel werden nicht kenntlich gemacht und sind für die Rezipienten nicht (sofort) oder schwer erkennbar. Die Hörer werden erst nach und nach gewahr, dass eine (linear-zielstrebige) Entwicklung in der Handlung und in den Dialogen hin zu einem erwarteten gattungstypischen Ende der Handlung des Kriminalhörspiels (z. B. die Lösung eines Kriminalfalls) nicht stattfindet.
41.4 Der Tierplanet: Auseinandersetzung mit Sprache Auch in Der Tierplanet dominieren Gewaltszenen das Geschehen, allerdings sind sie hier – im Vergleich zu Auf der Schwelle – vom Verbrechermilieu in den Alltag
der Menschen verlegt. Brinkmann äußert hierzu: »Das vorliegende Hörspiel ist die Erweiterung eines gewöhnlichen, alltäglichen Albtraums, der damit beginnt, daß man eine Zeitung aufschlägt und zu lesen anfängt. Geisterhafte Schnellzüge fahren aufeinander zu und explodieren lautlos [...], während Sie die Straße entlanggehen, hier die Knie eines Mädchens, hier gewelltes Haar leicht auf der Schulter eines anderen Mädchens [...]. Jetzt nehmen Sie von der Titelseite einer Illustrierten das buschige Schamhaar mit. Dann fügen Sie das trockene, mühsame Husten eines Passanten hinzu [...] (Vorwort zu: Der Tierplanet, FW, 150). Sex und Gewalt (oder »Liebe und Tod«, FW, 151), Boulevardthemen aus den Medien, werden zu Bestandteilen des »alltäglichen Albtraums« – mit diesem Verfahren beschreibt Brinkmann auch seine Arbeitsweise der collagehaft-additiven Zusammen stellung der Hörereignisse. Und er spricht die Leser seines Hörspieltextes direkt mit »Sie« an, um sie unmittelbar in dieses Alltagsgeschehen hineinzuziehen. Den vielen wiederum typisierten Stimmfiguren, die dem Geschehen ausgesetzt sind (Mann, Frau, Mädchen, Junge und Kind), stehen Funktionsträger (Verhaltensforscher oder Politiker) und historisch verbriefte Personen (Korzybski und Dr. Reich, s. Kap. 5 und Kap. 8) gegenüber. Ein weiterer Mann dient als Erzählerfigur, zusammen mit Korzybski und Dr. Reich erörtert er oft in langen Monologen das Hörspielgeschehen bzw. den Alltags-Albtraum. Die Erzählungen von alltäglichen Gewalttaten werden so zugleich kommentiert und bewertet. In diesen Monologen wird explizit angesprochen, was die Geschehnisse der Sprech- und Geräuschpassagen mit der Tierwelt (= Der Tierplanet) verbindet. Es handelt sich keinesfalls, wie vom Hörspieltitel ausgehend vielleicht zu erwarten wäre, um ein konventionelles Märchen- oder Science-Fiction-Hörspiel in Anlehnung an Filme wie Planet der Affen / Planet of the Apes (USA 1968, Regie: Franklin J. Schaffner), Rückkehr zum Planet der Affen / Beneath the Planet of the Apes (USA 1970, Regie: Ted Post), sondern der Titel des ›Neuen Hörspiels‹ bezeichnet die sich in Gewalttätigkeiten äußernde »animalische Seite« der Menschheit, den »tierhafte[n] Lärm« (so Dr. Reich, FW, 162) in der alltäglichen Gegenwart. Die Menschen reagieren auf diese Gegenwartssituation laut Korzybski mit »tierhafter Reaktion, Angst« (FW, 167). So formuliert der Verhaltensforscher u. a. die These: »Das Geschlechtsleben steht in der Welt der Tiere an zweiter Stelle, der vorherrschende Aspekt ist Angst« (FW, 171), und begründet so den Zusammenhang von Sex und Gewalt im Hörspiel. Das
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Hörspiel liefert gleichsam eine akustische Illustration für die kulturpessimistische Vorstellung vom ›Tier im Menschen‹ – »[...] als würde sich in dem Mann ein mageres struppiges Tier plötzlich hungrig sträuben [...]« (FW, 155) – und evoziert damit zugleich, dass ›der Mensch des Menschen Wolf‹ sei. Die Dramaturgie des Hörspiels folgt einem Wechsel von blockhaften Passagen aus Monologen, Musik und Geräuschen (Letztere sind besonders ausgeprägt), alternierend mit fragmentarischen, mehrstimmigen Dialogszenen. Während Letztere eher das Aktionsmoment betonen und damit eine stilistische Verwandtschaft zu Auf der Schwelle zeigen, nehmen die nacherzählenden langen Monologpassagen das Tempo des Hörspiels zurück. Zentral an Der Tierplanet ist auch, dass die tierhafte, alptraumhafte Welt vor dem Hintergrund tiefgehender Zweifel, die Brinkmann beim Umgang mit Sprache inzwischen entwickelt hatte, thematisiert wird, sowohl in Kurzdialogen als auch in monologischen Passagen: Mann flüstert: Wir fressen uns gegenseitig auf. Frau flüstert: Hier in der Gegenwart. Mann flüstert: Ein riesiger Ofen. Frau flüstert: Die Wörter. Mann flüstert: Zuviele Wörter. Frau flüstert: Zuwenig Leben. Mann flüstert: Weiß nicht mehr was das ist. Frau flüstert: Habs noch nie gewußt. Mann flüstert: Noch nie wirklich gewesen. Frau flüstert: Nichts ist wirklich. Mann flüstert: Alles nur geträumt. (FW, 159)
Die Dialoge thematisieren Zweifel und Verzweiflung am Leben, an der Wirklichkeit, an der Sprache, die sich im Hörspielverlauf noch drastisch steigern: »Ein anderer Mann: Milliarden abgelegter Wörter, halbe Sätze, Laute in den Körpern ausgebrütet wie faule Eier« (FW, 184 f.). Erwartungen der Rezipienten auf Erklärungen durch die Wissenschaft laufen ins Leere: Auch Dr. Reich artikuliert sich nur durch ein »[...] flimmerndes Schluchzen aus einem Mülleimer unterhalb der Wortverständigungsebene, wenn Sie genau hinzuhören vermögen« (FW, 194), bevor er diagnostiziert: »Die Wortsprache verdeckt die Ausdruckssprache des biologischen Kerns [...]«. Allerdings kann er in seinem eruptiven Monolog ebenso wenig einen Ausweg aus der »abgetakelte[n] Schaubude Wirklichkeit« (FW, 195) aufzeigen wie der Sprachphilosoph »Kor-
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zybski«, der z. B. feststellt: »So haben Sie also diesen Verzerrer eingebaut im Gehirn, die Wörter, und da sind wieder andere Wörter, bevor Sie überhaupt etwas sehen, und schon reagiert ihr Nervensystem, und der Stoffwechsel dreht durch in idiotischer Schnelligkeit. In der Entwicklung der menschlichen Rasse und Sprache war eine natürliche Bewertungsordnung enthalten« (FW, 195 f.). Pseudowissenschaftliche, floskelhafte Sprachelemente und Brinkmanns eigene Sprachbilder (»snapshots«) ergeben eine teils surreale, teils science-fictionhafte Mischung, die an cut up-Texte von William S. Burroughs erinnern (das Zerschneiden und Neugruppieren von Texten; s. Kap. 10.3 und Kap. 11.2; Selg 2001, 46 f.). Gerade die surrealen Sprachbilder bzw. »syntaktische[n] Irritation[en]« (Keckeis 1973, 55) als »Gradabstufungen zwischen rational-kommunikativem Sprachgebrauch und dessen Zerstörung« (53) zeigen die fließende Grenze zwischen collagenhafter Fragmentierung von Hörspielpassagen und dem möglicherweise aus ihnen hervorgehenden neuen ›Sinn‹. Reich und Korzybski werden zu Gewährsmännern für Brinkmanns apokalyptische Weltsicht: Die Sprache, die Wörter drängen sich in jedes Erlebnis und überlagern es, so dass kein unbefangenes Erleben mehr möglich ist. Die Wirkmacht der Monologe besteht weniger in ihrer mehr oder weniger nachvollziehbaren Stimmigkeit der Argumentation als in der Kraft ihrer teilweise intensiven Sprachbilder. Die sprachkritischen Passagen können ebenfalls als »Selbstinterpretation und Reflexion« (Lermen 1975, 141) des ›Neuen Hörspiels‹ angesehen werden, mit der die traditionelle Form des illusionistischen Hörspiels verabschiedet wird. Die pessimistische Botschaft, die beim Leser/Hörer am Ende haften bleibt, kann auf einen einfachen Nenner gebracht werden, der schon zu Beginn von einer Figur kurz und bündig geäußert wird: »Der Planet ist verreckt« (FW, 156).
41.5 Besuch in einer sterbenden Stadt: Intertextuelle Wechselwirkungen Gewalt und Verbrechen in Auf der Schwelle im Gangstermilieu und ein alptraumhaft »verreckter« Alltag in Der Tierplanet – eine Steigerung erfährt diese Erlebniswelt noch in Besuch in einer sterbenden Stadt: »Ich würde Ihnen gern das Grauen zeigen, aber Sie brauchen ja nur aus dem Fenster zu sehen« (FW, 158), richtet sich Sprecher Nr. 5 an die Rezipienten (Leser/Hö-
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rer) und Sprecher 2 fährt fort: »Das ist Krieg, ich hatte den Zustand nie so deutlich erfahren wie jetzt, faules altes Gewebe aus Wörtern und Begriffen, das sich durch die Körper rankte, abgestandene Vergangenheit, die morgen ist, Sie brauchen nur noch die Unterschrift zu leisten, wer ist man, toter Junge, der am Fenster steht [...]« (FW, 158 f.). Der Krieg, den Brinkmann noch als Kind selbst erfahren hatte, wird in diesem Hörspiel zur zentralen Metapher einer Beschreibung des »Zustand[s]« der Gegenwart. Der alltägliche Kriegszustand (in der Stadt, in der Sprache) wird von den Stimmen leitmotivisch in vielen Variationen erzählerisch wiederholt. Das Personal des Hörspiels ist gegenüber den beiden anderen Hörspielen drastisch reduziert. Nur fünf männliche Sprecher, die als entindividualisierte Stimmen nur durch Zahlen von 1 bis 5 unterschieden werden, sind ein Indiz »[...] für den Übergang vom Rollenspiel zum Sprachspiel [...]« (Heißenbüttel, in: Schöning 1970, 28) im ›Neuen Hörspiel‹. Auf den Hörer/ Leser wirken sie wie ein in viele Einzelstimmen aufgespaltenes Sprachrohr des Autors. Diese Nähe der Stimmen zu ihrem Autor ist beabsichtigt: Hörspielinhalte wie die eigenen Kriegserlebnisse in der Kindheit und eine ganze Reihe von Selbstzitaten aus den in dieser Zeit entstehenden Texten Erkundungen, Rom, Blicke und Schnitte lassen Brinkmann als Autor-Figur präsent werden. Dies entspricht der für das ›Neue Hörspiel‹ typischen »[...] Neigung zur Verwendung vorgefertigten Materials [...]« (Lermen 1975, 154). So weist Brinkmann in seiner Vorbemerkung zu Besuch in einer sterbenden Stadt selbst auf die Verwendung von Zitaten hin: »Eine Reihe von Zitaten sind benutzt worden, sie sind gelegentlich gekennzeichnet, des Öfteren nicht« (FW, 154). Dass es sich dabei auch um Selbstzitate handelt, wird jedoch nicht erwähnt. Eine Übernahme aus Erkundungen (37) ist folgende Hörspielpassage, die bis auf wenige stilistische Änderungen wörtlich übernommen wird: »2: Ich trat hinaus auf die Straße, und da lag wieder das Gefühl eines gräßlichen Unfalls in der Luft. Eine Frau schob einen Kinderwagen über den Steinplatz, und beide, Frau und Kinderwagen, verströmten den leibhaftigen Unfallgeruch« (FW, 166). Aus Erkundungen gehen insbesondere Jugenderinnerungen, aber auch Passagen über die Stadt Köln in das Hörspiel ein. Stellenweise hat Brinkmann die zugrundeliegenden Texte auch deutlich umgestaltet (s. auch oben zum Filmzitat in Auf der Schwelle; vgl. ausführlich hierzu Selg 2001, 301–305). Im Hörspiel werden die vielen
ausführlichen Eindrücke und Beschreibungen aus Erkundungen und Rom, Blicke zu kurzen, prägnanten und verständlichen Hörbildern zugespitzt. Die teilweise entschärfte Wort- und Motivwahl im Hörspiel, insbesondere die im Vergleich zu den Prosabänden weniger ausgeprägte Rolle der Sexualität, könnte ihre Ursache in den Grenzen des Sagbaren in einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt als Abnehmer des Hörspiels haben. Die »Toten-Stadt« Rom (RB, 69) und deren Realität (RB, 139) bildet neben Köln (vgl. RB, 331; Erk, 50 ff.) als »Klumpen Geräusch« ein konkretes Beispiel einer »sterbenden Stadt« (RB, 139) und liefert die Geräuschkulisse für das negative Stadtbild im Hörspiel: »Füße schlurren über den Asphalt der Busstation, Autos starten, die Musik dröhnt, und doch ist alles still (ein Hörspiel)« (RB, 415). Die unterlassene Nennung eines Städtenamens oder eindeutig identifizierbarer Städtedetails im Hörspiel suggerieren die Universalität (bzw. Verallgemeinerungstendenz) der Schilderungen und sollen dem Rezipienten die Möglichkeit eröffnen, sich in jeder Stadt mit dem Gelesenen/Gehörten zu identifizieren, wenn er, dem Vorschlag am Anfang des Hörspiels folgt, »aus dem Fenster zu schauen«. Brinkmann verarbeitet in diesem Hörspiel neben länger zurückliegenden Kindheitserinnerungen auch Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit bzw. Gegenwart. Insgesamt verläuft der Besuch in einer sterbenden Stadt also keineswegs so, wie man sich einen Besuch nach genretypischen Regel der langen Tradition von Stadterkundungen in der Moderne mit der Ankunft, dem eigentlichen Aufenthalt in der Stadt und der abschließenden Abreise vorstellt, wie ihn Brinkmann z. B. in seiner Erzählung In der Grube dargestellt hat. Vielmehr wählt Brinkmann bewusst einen anderen Weg, wie er selbst erklärt: »Das Hörspiel ›Besuch in einer sterbenden Stadt‹ stellt keine Szenen dramatisch nach; ich bin kein Dramatiker. Es beruht auf einer Reihe von Eindrücken, die gelegentlich halluzinativen Charakter annehmen [...]« (FW, 154). Die Besonderheit dieses ›Neuen Hörspiels‹ besteht also darin, dass hier nicht mehr, wie noch in den beiden ersten Hörspielen, einzelne Spielszenen anhand wechselnder Sprecherfiguren hörbar werden, sondern das gesamte Geschehen nur noch über die Wahrnehmungs- und Beschreibungsebene transportiert wird. Damit wird auf eine Hörspielhandlung völlig verzichtet und der Spielcharakter aufgehoben. Lediglich die in den Regieanweisungen mehrfach vorgegebenen »Schnitt[e]« (FW, 155 u. ö.) akzentuierten andeutungsweise einen Szenenwechsel. Anstelle des
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dramaturgischen Begriffs der Szene greift also in diesem Hörspiel insgesamt eher der erzähltechnische Begriff der wechselnden Episoden, die von den fünf Sprecher- bzw. Erzählerfiguren wiedergegeben werden; insgesamt ist Besuch in einer sterbenden Stadt daher eher als Sprechstück angelegt. Emotionen wie Angst, Ekel oder Hass verdeutlichen, dass die Darstellung der Gewalt, auch ohne plakative zeit- bzw. gesellschaftskritische Aussage, keineswegs als affirmativ anzusehen ist. Und da Brinkmann eine eindeutige Zuordnung zu historischen Ereignissen oder Phasen vermeidet, sind die Hörspiele zeitlos und damit auch auf die jeweilige Gegenwart zu beziehen – wenn sie gelesen oder gesendet werden. Inhaltlich kann man die drei Hörspiele als eine zeitlich und örtlich nicht spezifizierte ›Trilogie der Gewalt‹ in einer »verfallenden Welt« (Vormweg 1973, 2) zusammenfassen. Alle drei fügen sich im Sinne eines vermeintlich »objektiven Krankheitsbefundes« (ebd., 6) zusammen, der stark an William S. Burroughs’ teils fetzenhafte Gewaltpanoramen in Naked Lunch; Nova Express und The Last Words of Dutch Schultz erinnert (vgl. hierzu auch Wellershoff 1976). Zu den inhaltlichen Parallelen kommen aber die wesentlich bedeutenderen formalen: Während das traditionelle Hörspiel seine Wirkung auf den Rezipienten primär durch einen kohärenten Handlungsverlauf sucht, wird diese in den ›Neuen Hörspielen‹ Brinkmanns durch Themen wie Gewalt und Zerstörung und mit Montagebzw. Collage-Techniken (wie in den zeitgleich entstandenen Bänden Erkundungen, Rom, Blicke und Schnitte) erreicht, die durch das Aufbrechen von inhaltlichen und sprachstrukturellen Zusammenhängen gekennzeichnet sind: »Die Handlung besteht aus nebeneinandergestellten sowie ineinander gleitenden und wieder zerschnittenen Stimmen, aus den Bewegungen der Stimmen, Mobiles, die sich in dem aufgeweichten Augenblick jetzt, hier drehen«, schreibt Brinkmann 1970 in der Besprechung von William S. Burroughs’ Roman Nova Express (Spiritual Addiction, FW, 205). Dieser Satz kann auf Brinkmanns Hörspiele bezogen werden und verdeutlicht sowohl die formale Verwandtschaft mit Burroughs (vgl. Acid, 166–174) als auch die Transformation der Montage- bzw. Collagetechnik in die verschiedenen literarischen Formen; hierzu passt auch der Abdruck der zwei letzten Hörspiele in Spaltenform nach Burroughs, der den Akzent von der Geltung eines einzelnen Sprechers in Richtung der Überlagerung von Stimmen verschiebt, so dass ein ›cut up‹-Effekt beim Lesen der beiden Hörspiele entsteht.
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41.6 Anmerkungen zu den Hörspiel sendungen Ihrem Wesen als ›Hörform‹ werden die Hörspiele aber eigentlich erst in einer akustischen Fassung gerecht (ausführlich zur Realisierung der Hörspiele vgl. Selg 2001, 321–343), die allerdings wie bei einer Theaterinszenierung eine von unendlich vielen möglichen Interpretationen des Hörspieltextes dem Rezipienten anbietet. Die Textvorgaben und Regieanweisungen des Autors können immer auch optional verstanden werden und unterliegen letztendlich auch der Frage der Machbarkeit. Die Vorgehensweise der Regisseure hinsichtlich der Einhaltung der Vorgaben Brinkmanns ist recht unterschiedlich: Während Besuch in einer sterbenden Stadt in enger Übereinstimmung mit den Vorgaben realisiert wurde, trifft dies für Auf der Schwelle weniger und für Der Tierplanet in noch geringerem Maße zu. Es sind keine Äußerungen von Brinkmann zu den Sendungen überliefert, auch ist nicht bekannt, ob er selbst an den Inszenierungen beteiligt war. So schimpft er in seinen Aufnahmen für Die Wörter sind böse auf die »Wichtelmännchen« in den Aufnahmestudios (Wörter Sex Schnitt, CD 5/Track 1: Schreiben ist etwas völlig Anderes). Brinkmann schien die Studioarbeit selbst zu kennen, in seinem Manuskript zum Essay bzw. Nachwort für das Hörspiel Auf der Schwelle umschreibt er eine Produktionssituation: »Also befindet man sich jetzt in dem Kontrollraum. Da sind die Aufnahmemaschinen. Techniker lungern da herum, bestimmen und kontrollieren, was gehört und gesehen wird. Was ist aber ihre Meßeinheit? Apparate gestöpselt. Nicken mit dem Kopf hinter der Panzerglasscheibe. Aufnahme läuft. [...] peinlich und dumm, all diese Herren, die auf den schmalen, geraden, mit blassem Filz ausgelegten Fluren entlang den Studios auf und ab deklamierend hin und her gehen, Angestellte einer großen Maschine, mühsam hochgehaltene, versackte Mittelstandsmentalität [...]« (Funkessay-Manuskript 6 – diese Passage fehlt später in der Druckversion des Nachworts in FW). Hier ist kein Zugehörigkeitsgefühl abzulesen, sondern im Gegenteil eine große Distanz zu Personen und Tätigkeiten im Rundfunk. Vergleicht man Brinkmanns abgedruckte Hörspieltexte (einschließlich der Regieanweisungen) mit den realisierten Sendungen, fällt eine Reihe von Veränderungen auf, die wiederum vermuten lässt, dass der Autor mit den Entscheidungen der beiden Regisseure wohl nicht immer einverstanden gewesen wäre.
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In Auf der Schwelle finden sich neben einigen deutlicheren Eingriffen oftmals insbesondere kleinere Umgestaltungen (z. B. häufige Wiederholung des ›Schusses‹), deren Haupteffekt in ihrer Gesamtwirkung liegt: Es wurde versucht, das Hörspiel sprachlich flüssiger zu gestalten, Pausen (›Stille‹) zu vermeiden, einzelne Sprech- und Geräuschpassagen zusätzlich (leitmotivisch) hervorzuheben sowie weitere Musik als verbindendes Element in den Hintergrund zu legen. Diese Eingriffe verändern das Hörspiel inhaltlich jedoch kaum. Ignoriert wurde z. B. Brinkmanns Vorgabe von bis zu 33 »Geschlechtslose [n] Stimmen« (FW, 9), vielleicht aus ganz praktischen Gründen der Besetzung, vielleicht um die Hörer nicht zu überfordern. Brinkmanns Absicht, »das hin- und hertreibende Gewirr von Stimmen des Hörspiels [...]« (FW, 6, dort auch: »[...] wenn die Stimmen zu einem Wust gerieten, wäre mir das gerade recht«), wurde so abgeschwächt. Den Regisseur mag also das Empfinden geleitet haben, dass Brinkmann das Mittel der Fragmentierung überbeansprucht habe. Trotz der glättenden Eingriffe verfehlt die Hörspielsendung von Auf der Schwelle jedoch ihre irritierende und verstörende Wirkung nicht. Die Eingriffe in die Vorgaben von Der Tierplanet sind wesentlich stärker: Ganze Textpassagen und Vorgaben von Geräuschen und Musik wurden gekürzt bzw. nicht berücksichtigt. Gerade viele der sprachkritisch-kommentierenden und der auf das ›tierhafte‹ Verhalten der Menschen zu beziehenden Inhalte fehlen und dies schwächt die angestrebte Parallelisierung von Menschen- und »Tierplanet« ab. So werden den Rezipienten erstens auf inhaltlicher Ebene einige nur schwer verständliche Abschnitte erspart bzw. vorenthalten. Zweitens wird durch die Kürzungen auf der dramaturgischen Ebene aber der reflexive mit der Hörspielillusion brechende Monolog-Charakter abgeschwächt und ein szenisch-dialogischer Ablauf verstärkt. Der nahezu vollständige Austausch der Geräuschkulisse durch eine musikalische Inszenierung mit dem Wolfgang-Dauner-Trio ist eine akustisch reizvolle Lösung, die ihren künstlerischen Eigenwert hat. Diese Variante mag ihre Ursache in den (zu) komplexen Geräuschvorgaben Brinkmanns haben. Sie entspricht aber in ihrer klanglich-verbindenden Wirkung kaum seiner Absicht: Da diese musikalische Umgestaltung nicht die Funktion übernehmen kann, ganz bestimmte Alltagsatmosphären akustisch miterlebbar zu machen, kommt die von Brinkmann angestrebte Wirkung – eine schmerzhafte, kaum erträgliche Ge-
räuschkulisse der unmittelbaren Umwelt – so nicht zum Tragen, was als weitgehender Eingriff in die Hörspielsubstanz zu werten ist. Die Hörfassung wirkt jedoch trotzdem in sich schlüssig. Das Hörspiel Besuch in einer sterbenden Stadt ist nahezu vorlagengetreu und unter Berücksichtigung der Angaben zu Geräuschen und Musik umgesetzt worden, wobei dieses Hörspiel hier auch die geringsten Anforderungen von allen stellt. Die Geräusche sind nach Maßgabe der Vorlage spartanisch ausgefallen, zentrales Element ist der wiederholte »Schnitt: kurzes, knackendes, unauffälliges Geräusch« (FW, 155 ff.; vgl. auch Brinkmann hierzu im Vorwort des Hörspiels: FW, 154). Indem der »Schnitt«, der eigentlich kein Eigengeräusch ist, ertönt, wird – ganz im Sinne des ›Neuen Hörspiels‹ – die Hörspieltechnik hervorgehoben und damit eine illusionsbrechende Wirkung hinsichtlich der Hörspielfiktion erreicht; die »Schnitt«-Technik wird tendenziell zum autonomen Handlungsmoment, dem Einfügen des Wortes »Schnitt« bzw. den Schrägstrichen »/« oder »//« in anderen Prosatexten Brinkmanns vergleichbar. Die von Brinkmann ausgewählte Musik, die »[...] Toccata del primo tono, Satz B, Adagio, ohne Presta« (FW, 154) von Allessandro Scarlatti, wird im Hörspiel verwendet und unterstützt die sonore Stimmführung: Der Regisseur hat es nicht darauf angelegt, den Stimmen ausdrucksstarke Wechsel abzuverlangen oder weitere Hintergrundmusik und zusätzliche Geräusche einzumischen. Damit entspricht die Sendung der von Brinkmann wohl beabsichtigten Dominanz der über die Sprecher transportierten teilweise dramatischen Inhalte, die so in einem ganz eigenen Spannungsverhältnis zur undramatischen Inszenierungsweise stehen. Durch das vorlagengetreue, nahezu völlige Fehlen einer szenischen ›Spiel‹-Atmosphäre tendiert Besuch in einer sterbenden Stadt in Richtung »Stimmenspiel«: »Das Stimmenspiel kennt keine eigentlichen Handlungsträger, sondern, hierin dem Feature verwandt, [beschreibt es] eine existentielle oder seelische Grundsituation« (Fischer 1964, 115). Darüber hinaus erinnert es an eine ›szenische‹ Lesung mit verteilten Rollen: Auf die »[...] akustische[n] Spannung zwischen Stimm-, Sprach- und Temperamentsebenen [...]« (Fischer 1964, 206) ist entsprechend der Vorgabe Brinkmanns (die Stimmen »[...] müssen [...] so einfach wie möglich, gewöhnlich« klingen, FW, 154) in dieser Realisierung nahezu völlig verzichtet worden. So entsteht eine Atmosphäre, in der das Hörspiel zwischen Ansprache an die Rezipienten und Selbst-
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gespräch des Autors in einer zunehmend autonomen Sprache oszilliert. Insgesamt sind die Hörspieltexte Brinkmanns wie auch die daraus resultierenden Sendungen als Absage an eine traditionelle ›Sprachdressur‹ gestaltet. Sie sind geprägt vom Aufzeigen und Aufbrechen sprachlicher Konventionen und somit nicht mehr ›Wortkunstwerke‹ im traditionellen (Hörspiel-)Sinn. Sie versuchen Sprachprozesse und -konditionierungen aufzudecken (vgl. Lermen 1975, 155); dadurch sind sie sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene irritierend. So wirken sie jedes für sich, aber auch insgesamt, wie eine »holprige Revue« wie ein »stockende(s) Ballett«, wie ein »kranke[r] Bilderbogen aus Stimmen und Handlungsfetzen« (FW, 6). Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Phantastik des Banalen – Rolf Dieter Brinkmann über Virginia Hill: »Memoiren einer Gangsterbraut«. In: Der Spiegel, 17.8.1970, 108–110, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44905059.html. Döhl, Reinhard: Das neue Hörspiel. Darmstadt 1988. Fischer, E. Kurt: Das Hörspiel. Form und Funktion. Stuttgart 1964. Fischer, Robert: Rolf Dieter Brinkmanns Der graue Raum. Literarische Hörfunkproduktionen als Ort dialogischer Texterfahrung. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. Vechta 2000, 31–43. Keckeis, Hermann: Das deutsche Hörspiel 1923–1973. Frankfurt a. M. 1973. Lermen, Birgit: Das traditionelle und neue Hörspiel im Deutschunterricht. Paderborn 1975.
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Rinke, Günter: Rolf Dieter Brinkmann. In: Ders.: Das Pophörspiel. Definition – Funktion – Typologie (Edition Medienwissenschaft, Bd. 49). Bielefeld 2017, 86–96. Rühm, Gerhard: zu meinen auditiven texten. In: Schöning 1970, 46–57. Schöning, Klaus (Hg.): Neues Hörspiel – Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt a. M. 1970a. Schöning, Klaus: Briefe an Rolf Dieter Brinkmann vom 24.11.1970 und vom 16.6.1971. Selg, Olaf: Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel – Prosaformen bei Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 2001. Selg, Olaf: »Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert.« Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen »Wörter Sex Schnitt«. In: Weimarer Beiträge 1 (2007), 47–66. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Spies, Werner: Der nouveau roman und das Hörspiel. In: Schöning 1970, 71–87. Tillmann, Markus: Populäre Musik und Pop-Literatur. Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2013. Vormweg, Heinrich: Dokumente und Collagen. Voraussetzungen des Neuen Hörspiels. In: Schöning, 1970, 153– 167. Vormweg, Heinrich: Der Hörspielautor Rolf Dieter Brinkmann. Essay. Manuskript zur WDR-Sendung vom 28.6.1973. Vowinckel, Antje: Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg 1995. Wellershoff, Dieter: Destruktion als Befreiungsversuch. Über Rolf Dieter Brinkmann. In: Akzente 3 (1976), 277– 286.
Olaf Selg / Sibylle Schönborn
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42 Wörter, Sex, Schnitt. Brinkmanns Tonbandarbeiten Der folgende Beitrag bezieht sich auf zwei Tonbandarbeiten Rolf Dieter Brinkmanns. Adressiert wird zum einen eine vom WDR erstmals im Januar 1974 veröffentlichte Sendung; sie trägt den Titel Die Wörter sind böse und wurde als Folge der Feature-Reihe Autorenalltag gesendet. Brinkmann konzipierte und autorisierte diese Hörfolge, der kein schriftliches Manuskript zugrunde lag und agierte als Sprecher der eigenen Texte. Als zweite Tonbandarbeit wird das im Jahr 2005 veröffentlichte, fünf CDs umfassende Hörbuch Wörter Sex Schnitt fokussiert. Es besteht insgesamt aus einem Schuber mit 5 CDs und einem 60seitigen booklet, ohne Seitenzählung. Die CDs tragen keine eigenen Titel, sind jedoch durch verschiedene Farben – grün, orange, blau, pink und gelb – gekennzeichnet. Sie präsentieren das Audiomaterial, das Brinkmann mittels tragbarer Tonbandgeräte aufnahm, bearbeitete und als Materialquelle nutzte für die spätere Sendung Die Wörter sind böse. Im Anschluss daran wird diskutiert, ob sich aus einem Vergleich der beiden Tonbandarbeiten auf Ansätze zu einer audioliteralen Poetik Brinkmanns schließen lässt.
42.1 Wörter Sex Schnitt / Die Wörter sind böse Die Tonbandarbeiten liegen ausschließlich als akustische Texte vor und auch die Rekonstruktion ihrer Genese beruht auf einem akustischen Text – auf einem digital aufgezeichneten Interview mit Hein Brühl, dem offiziellen Regisseur der Sendung Die Wörter sind böse. Die Initiative, eine Folge von Autorenalltag gestalten zu wollen, ging, berichtete Hein Brühl, von Brinkmann selbst aus: »Er ist zum Redakteur gegangen. Er wusste, dass es so eine Reihe gibt. Er hat das vorgeschlagen und dann auch gemacht. So etwas entsteht ja manchmal in Zusammenarbeit mit einem Redakteur. Aber in diesem Fall nicht. Das hätte er nie gemacht der Brinkmann. Nein, das war sein eigenes Ding« (Brühl 2010, unpaginiert). Brinkmann schlug vor, der WDR solle ihm ein Tonband leihen, dem wurde entsprochen: für drei Monate – von Oktober bis Dezember 1973 – erhielt er als Leihgabe neueste portable Uher- und Nagra-Tonbandgeräte. Der WDR machte keine Vorgaben, Brinkmann durfte reden, worüber er wollte, nur nicht länger als sechzig Minu-
ten. Brinkmann entschied sich für ein an seinem Alltag als Autor orientiertes »Selbstportrait« (BrH, 113). Als medienkritischer, gleichwohl für die Medien arbeitender Autor hegte er ein »ausgesprochenes Misstrauen gegenüber dem benutzen Medium«, eine »Befangenheit gegenüber dem Apparat« (Schumacher 2006, 85). Er erfuhr die Massenmedien als ›Kontrollmaschinen‹, erkannte aber auch ihr Potential und war entschlossen, dieses zu nutzen: »Er kam sehr, sehr gut vorbereitet rein und war dem Sender gegenüber sehr kritisch. Das ging so weit, dass er im Studio saß und die einzelnen Tracks, die er ja mitgebracht hatte, noch einmal anhörte und noch einmal prüfte« (Brühl 2010, unpaginiert). Brinkmann gab sein Material nicht aus der Hand: »Er war, wie gesagt, ziemlich misstrauisch« (ebd.). Am Abend bestand er darauf, die fertigen Sequenzen mit nach Hause zu nehmen, er sprach vom Verfassungsschutz, der sich im Sender aufhalte; den Medien misstraute er grundsätzlich (vgl. Binczek 2012), der Dramaturgie, der Technik und wohl auch der Regie gegenüber war und blieb er zurückhaltend bis ablehnend. Hein Brühl holte ihn morgens mit dem Taxi zuhause ab und brachte ihn am Abend wieder dorthin zurück, zwischendrin, sagt der offizielle Regisseur und Brinkmann-Bewunderer, »durfte ich rein ins Studio« (Brühl 2010, unpaginiert). Bei seinen vorangegangenen Rundfunkarbeiten hatte Brinkmann seine Texte als sendefertige Manuskripte beim WDR abgeliefert. Bei der Produktion von Die Wörter sind böse behielt er alles in eigenen Händen. »Er hat ein richtiges Einspielband gehabt. [...] Er hat selbst Mixe – wenn ich mich recht erinnere – schon zu Hause gemacht. Also mit Musik. Das war im Grunde kein O-Ton, sondern ein inszenierter O-Ton. Das hört man auch, wenn er durch die Stadt geht. Das ist alles nachträglich mit der Musik als Folie verstärkt worden« (ebd.). Wo diese Aufnahmen entstanden – ob Brinkmann allein und ausschließlich in seiner Wohnung technisch experimentierte oder wie es zu diesen mitgebrachten Mixen kam, das weiß Hein Brühl nicht: »Ich weiß nur, dass er sie mitbrachte« (ebd.). Im Studio des WDR sprach Brinkmann dann zusätzlich Texte ein; Texte die er zuhause geschrieben und mehrfach schriftlich um- und überarbeitet hatte. Diese kombinierte er mit dem bereits aufgenommenen und bearbeiteten Material. Der Unterschied zwischen cleaner Studio-Akustik und home-production ist in Die Wörter sind böse deutlich hörbar (vgl. Epping-Jäger 2012). Im Studio stellte Brinkmann die Sendung endgültig zusammen und dort ließ er auf gar keinen Fall über das, was er tat oder die technische
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_42
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Qualität seines Materials mit sich reden: »Da war wie gesagt ein ziemliches Misstrauen im Spiel, dem ganzen Team gegenüber« (Brühl 2010, unpaginiert). Erst anschließend, wenn er alles gemacht hatte, sagt Hein Brühl, »hörte er sich meine Meinung an. [...] So ist das Band an wenigen Abenden, ich glaube drei Produktionsabenden, in einem ziemlich einfachen Studio des WDR entstanden« (ebd.). Am 26.1.1974 wurde das Ergebnis seiner Arbeit unter dem Titel Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973. Eine subjektive Dokumentation von Rolf Dieter Brinkmann vom WDR gesendet. Brinkmann, sagt Hein Brühl, »war mit der Fassung zufrieden«, er habe ja auch machen können, was er wollte: »Da hat niemand gesagt, ›das nicht‹« (ebd.). Bis heute wurde die als ›Hörspiel‹ archivierte Sendung mehrfach wiederholt. Sie ist nicht über Buchhandel oder Verlage zugänglich und weiterhin Eigentum des WDR. Das ›Audiomaterial‹, das dieser Sendung zugrunde liegt, wurde auf fünf CDs gespeichert, mit einem ausführlichen Booklet versehen und unter dem Titel Wörter Sex Schnitt von Intermedium Records produziert und vertrieben. Seine Herausgeber, die Rundfunkredakteure Herbert Kapfer und Katharina Agathos, übernahmen das ursprünglich auf Tonbändern aufgenommene und gespeicherte Material von Maleen Brinkmann, die die Bänder neu ordnete und 2005 verkaufte. Zu hören sind darauf Brinkmanns Spaziergänge durch Köln: Das Tonband trägt er am Schulterriemen, das Mikro in der Hand; schimpfend, maulend, seinen Ärger über die Zustände der Welt und des Lebens scheinbar ungefiltert und laut ins Mikrophon schreiend; zornige Spaziergänge längs der Ausfallstraßen, durch das abgelebte Neonlicht der ›Vergnügungsviertel‹; zudem: Lesungen von Postkarten und Kontoauszügen, Stottern, Schmatzen, Schrittge räusche, Brinkmann bespricht, was er sieht, man hört Schnitte, immer wieder Schnitte, Partygeräusche, Musik, er interviewt sich selbst, seine Frau, provoziert, ist zärtlich, fängt Gesprächsfetzen mit dem Sohn ebenso ein, wie lautpoetische Improvisationen; er singt und lallt, kratzt am Mikrophon, denkt nach, über Sprache, das Schreiben, das Nicht-mehr-Schreiben-Können und Wollen, über Stimmen und Sprecher, Massenmedien als ›Kontrollmaschinen‹ und anderes. Das und viel mehr ist auf Wörter Sex Schnitt und Die Wörter sind böse zu hören. Die Sendung verwendet das Material nur in Auszügen, dafür gestrafft und komponiert. Das Hörbuch wiederum liefert über die Audioaufnahmen hinaus auch eine Reihe von Paraund Epitexten: Wie bei einer Werkausgabe wird ein
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Teil der mit den Tonbändern aufgefundenen, mit Kommentaren, Bemerkungen und Ordnungshinweisen beschriebenen Zettel im Booklet abgedruckt. Die auf CD übertragenen Tonbänder präsentieren in toto 656 Minuten und 52 Sekunden Audiomaterial. Insgesamt waren das 29 Tonbänder, die sich 2005 noch in dem Zustand befanden, »wie Brinkmann sie archiviert hatte: in den originalen Schubern verpackt, mit nummerierten Aufklebern versehen, mit bekritzelten Zetteln und handschriftlichen, stichwortartigen Notizen – tatsächlich, der Audionachlass Rolf Dieter Brinkmanns« (Booklet WSS 2005, unpaginiert). Diese Aussage ist aber nur zum Teil berechtigt und es wäre angebrachter, statt von einem Audionachlass von einer in zumindest zweifacher Hinsicht begrenzten Auswahl zu sprechen: Erstens in Bezug auf das Audiomaterial, denn von den vorhandenen 656 Minuten und 52 Sekunden wurden auf dem Hörbuch Wörter Sex Schnitt nur 360 Minuten und 40 Sekunden veröffentlicht. Nicht veröffentlicht wurde damit knapp die Hälfte des Materials: 300 Minuten. Das erklären die Editoren mit befürchteten juristischen Verboten, aber auch mit inhaltlichen Gründen: »stark ähnliche Sequenzen mit immer wiederkehrenden Formulierungen« habe man nicht veröffentlichen wollen (ebd.). Dass Brinkmann literale und fotografische Themen stets variierte, ja, dass diese Variationen geradezu ein für seine Texte charakteristisches Stilmerkmal darstellen, findet bei der Veröffentlichung des Tonmaterials also keine Beachtung. Das ist eine ausgesprochen prekäre Entscheidung angesichts dessen, dass Brinkmann mit Die Wörter sind böse an einer akustischen Poetik arbeitete, für die musikalisch variierende und improvisierende Momente geradezu konstitutiv waren. Die zweite Begrenzung, die auf Wörter Sex Schnitt vorgenommen wurde, bezieht sich auf das dort in Auszügen veröffentlichte schriftliche Material: Brinkmann hatte die Tonaufnahmen »in Bezug auf eine mögliche Verwendung mit kurzen Bemerkungen wie sehr gut!!! Oder gut« (ebd.) bewertet und seine Kommentare und Notizen bieten »Anhaltspunkte für Formen (Monolog. Ganz heftiges Sprechen. Stille. Reflexion. Erinnerung. Schaben und Pusten ins Mikro. Einzelne Sätze als Abblendungen), Themen und Motive (Mythos der Traurigkeit, Statistik, Sprache, immer wieder Sprache)« (ebd.). Es ist unverständlich, dass dieses Material nicht vollständig ediert wurde, dies vor allem auch deshalb, weil bereits die wenigen im Booklet abgedruckten Notizbruchstücke darauf verweisen, wie akribisch und präzise Brinkmann nicht nur an seinen schriftlichen, sondern auch an den akustischen Texten arbeitete,
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welch konkrete Phantasie er in das Nachdenken über mögliche Tonmontagen und Sendeabfolgen investierte, die hier ja sehr berechtigt als akustische »Formen«, »Themen« und »Motive« (ebd.) charakterisiert werden und wie genau er die Aufnahmen kommentierte, archivierte und verwaltete. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Veröffentlichung des akustischen Materials auf Wörter Sex Schnitt die audio-philologische Analyse in einer prekären Geste zugleich eröffnet und erschwert: Nur weil das Audiomaterial veröffentlicht wurde, wird ein Vergleich zwischen Wörter Sex Schnitt und Die Wörter sind böse überhaupt möglich, gleichzeitig aber wird dessen Aussagekraft eingeschränkt, da das Material nicht vollständig publiziert wurde. Um die akustische Poetik Brinkmanns umfassend analysieren zu können, wäre daher eine vollständige, ›audio-philologischen‹ Kriterien folgende Transkription erforderlich (vgl. Epping-Jäger 2012). Diese hätte beide Tonbandarbeiten zu verschriftlichen, dabei mit einem genauen Zeitindex zu arbeiten (vgl. Redder 2002) und darüber hinaus auch alle vorgenommenen Schnitte zu markieren. Darüber hinaus müsste wiedergegeben werden, was Brinkmann »die Atmosphäre eines lebendigen Körpers« (Booklet WSS 2005, unpaginiert) nennt: nahezu 12 Stunden Tonmaterial mit allen Melodiebögen und Intensitäten, Seufzern, ›Verschnitzern‹, ›Rülpsern‹, ›Atemgeräuschen‹ (vgl. ebd.) mit prosodischen Betonungen und Pausenlängen und eben auch allen gesprochenen Wiederholungen und Variationen (vgl. Spies 2007, 144 ff.). Soweit ist damit ein audiophilologischer Standpunkt konstatiert, der sich von der öffentlichen Wahrnehmung – etwa der des Feuilletons – deutlich unterscheidet. Denn für das Feuilleton fungiert letztlich das Authentizitätsargument (vgl. Zier 2010) als Auswahlverfahren für Aufmerksamkeit: Der »große Schreihals« Brinkmann, liest man in einer Besprechung von Wörter Sex Schnitt, in der FAZ vom 21.5.2005 »lädt das abstrakte Leichensystem der Literatur mit mehr Leben, mehr Authentizität auf« (Lentz 2005, 30).
42.2 Das Tonband als audioliterales Schreibgerät Aber spricht auf Wörter Sex Schnitt tatsächlich der authentische Brinkmann – sozusagen radikal und direkt und in Front gegen Pop und Postmoderne? Und wie verhält sich die Rundfunksendung dazu, die das Audiomaterial ja ebenfalls verwendet, es zugleich aber
auch bearbeitet, zerschneidet und neu kombiniert (vgl. Binczek 2012; Epping-Jäger 2012; Morgenroth 2009; Niefanger 2011; Selg 2007; Schmitt 2012; Schumacher 2006; Spies 2007; Zier 2012). Kurzum: Zur Diskussion steht, ob die medialen Inszenierungen der Tonbandarbeiten um die eigene Medialität wissen. Beantwortet man diese Frage positiv, dann lässt sich daraus auf Ansätze zu einer audioliteralen Poetik Brinkmanns schließen. Wobei ein Verfahren als ›audioliteral‹ verstanden wird, innerhalb dessen akustische Texte – weitgehend ohne skripturale -Vorlagen – allererst im Zuge ihrer Verlautbarung, der technischen Aufzeichnung des Verlautbarten und der Re-Audition und Wiederverarbeitung des Aufgezeichneten durch den Produzenten der Verlautbarung entstehen. Der Prozess der technischen Aufzeichnung wird hier also produktionsästhetisch fruchtbar gemacht und dazu genutzt, akustisch aufgezeichnetes Material, zu dem auch die eigene Stimme gehört, poetisch/poetologisch zu bearbeiten (Epping-Jäger 2014; Jäger 2014). In den frühen 1970er Jahren wendet sich Brinkmann nicht nur angeekelt vom Literaturbetrieb ab und entwickelt eine Sprachskepsis, die dem Medium Sprache grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht (vgl. Schumacher, 2006; Spies 2007; Zeller 2010). Wörter Sex Schnitt demonstriert das gleich in der Eingangssequenz: »Ich bin kein Dichter. Ende 1969 habe ich aufgehört, mich mit Literatur zu beschäftigen«, sagt Brinkmann dort, um kurz darauf fortzufahren: »Totale Lächerlichkeit von Wörtern und Sätzen [...] Wortaberglaube« (WSS, CD pink, 5.20–5.23 und Wörter sind böse, 0.30–0.47). Die Forschung sieht in solchen Aussagen sowohl den Ausdruck einer »Schreibund Lebenskrise« als auch einer »Sprachverzweiflung« (Morgenroth 2009, 28; Selg 2007, 60). Tatsächlich aber variiert und paraphrasiert Brinkmann hier sprachkritische Überlegungen des Philosophen Fritz Mauthner. »Ich bin mit Fritz Mauthner der Ansicht, dass Sprache, Wörter, Sätze zur Welterkenntnis völlig untauglich sind. Es sind immer nur Wörter und Sätze, Formulierungen. Aber was ist denn da, tatsächlich, und das kann Sprache, Dichtung nicht sagen« (WSS, CD orange: »jetzt fällt draußen«, 1.04–1.22). Mauthner hatte in der Tat von der Untauglichkeit der Wörter zur Welterkenntnis gesprochen. Es sei ein »Aberglaube«, schrieb er, Worte so zu behandeln »als ob das Dasein eines Worts ein Beweis für die Wirklichkeit dessen wäre, was es bezeichnet«. Nur »weil das Wort da sei«, müsse dem Wort doch »nichts Wirkliches entsprechen« (Mauthner 1901, 148 ff.). Dass es keine verlässliche Repräsentation der Welt in der Spra-
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che gibt, diese Argumentation macht sich Brinkmann zu eigen (vgl. Epping-Jäger 2014): Dem ›Wortaberglauben‹ zu verfallen heißt für ihn, insbesondere der Sprache und den Wörtern Leistungen zu unterstellen, für die sie nicht bürgen können. Daraus, dass es für ihn keine verlässliche Repräsentation der Welt in der Sprache gibt, zieht Brinkmann eine radikale Konsequenz: »Die sogenannte Wirklichkeit ist ja oft nur ein Gerede, und das macht die Wirklichkeit, so wie sie besteht und uns umgibt, lächerlich. Ist Wirklichkeit, die Ansicht der Wirklichkeit, eine Verordnung durch Sprache? [...] Wirklichkeit ist ja eine Übereinkunft, die Welt, Umwelt, auf eine Art, in einer Ordnung zu sehen, was Quatsch ist« (BrH, 73). Die radikalste Form, die erkenntnistheoretischen Fallen des ›Sprachaberglaubens‹ zu vermeiden, besteht für Brinkmann darin, der Unerreichbarkeit der Welt durch Sprache dadurch Rechnung zu tragen, dass er ihr das Vertrauen als Beschreibungsmedium entzieht: »Ist ja lächerlich. Was ich vermitteln will, was ich spüre, dieses Brodeln, dieses ungeheure Leben, das kann ich überhaupt nicht in Wörtern sagen« (WSS, CD grün: »Jetzt ist Winter in Köln«, 6.04–6.12). Wenn die Sprache – insbesondere die Sprache der abstrakten Begriffe – nicht in der Lage ist, die Welt deskriptiv angemessen zu beschreiben, müssen andere Medien, die Medien des Selbstausdrucks ins Spiel kommen. Die weltkonstitutive Sprache eines mächtigen Autor-Ichs steht Brinkmann nicht mehr zur Verfügung und daher wird die Idee der literarischen Produktion eines Autor-Ichs aufgegeben, das – um Wittgenstein zu variieren – sich in der Lage glaubt, die Grenzen seiner Welt über die Mächtigkeit seiner Sprache zu entwerfen. Für Brinkmann hat diese nahezu transzendentale Top-Down-Geste ihre Macht verloren. Er ersetzt sie durch ein Bottom-Up-Verfahren, in dem das Autor-Ich eine inkohärent gewordene Welt auffordert, sich in seine sensible Oberfläche einzuschreiben und diese Einschreibungen seinerseits und gleichsam protokollarisch – d. h. zunächst scheinbar ohne ästhetische Intervention – in das Aufzeichnungsmedium Tonband zu übertragen. In diesem Verfahren verschwindet der wirkungsmächtige Autor auch insofern, als dass neben die Stimme Brinkmanns die ›Stimme der Dinge‹ tritt und dies gilt von jetzt ab nicht nur für den Prozess des akustischen Produzierens, sondern auch für den der literalen Produktion: »Blicke ich von den Tasten der Schreibmaschine an irgendeiner Stelle auf und sehe ich und höre ich dann etwas Auffälliges in meiner direkten Umgebung, z. B. eine Zeile aus einem Rock’n’Roll-Lied von einer Schall-
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platte, die vielleicht dann gerade abläuft, so füge ich sie in das Gedicht ein, oder ein Eindruck beim Rausschauen aus dem Fenster, eine Farbe, ein Geräusch, oder ein Bruchstück aus der Erinnerung, aus einem ganz anderen Zusammenhang als aus dem Zusammenhang des Gedichts. [...] Also Momentaufnahmen, das was gerade da ist, was für ein Raum, was ich gelesen habe [...] für ein unritualisiertes Sprechen« (BrH, 44). »No ideas but in things« (BrH, 40). Die AutorStimme, die nun gehört wird, ist kein index mentis, sondern ein index mundi: Ähnlich wie sich in der anlogen Fotografie nach der Ansicht von Roland Barthes der Gegenstand selber chemisch enthüllt (Barthes 1989, 18), versteht sich Brinkmann gleichsam als Magnetband mit sensibler Oberfläche, in das sich die Welt einzeichnet und zugleich enthüllt; oder – und in der Terminologie Karl Bühlers formuliert: Brinkmann folgt in seinen Tonbandarbeiten einem indexikali schen Sprachmodell, welches annimmt, dass der tonbandgestützte Produktionsprozess von der Sprache der Ich-Jetzt-Hier-Origo ausgeht und sie auch in den späteren ästhetischen Interventionen als solche inszeniert (vgl. Bühler 1934). Die sich in das Tonband einsprechende ›Sprache der Dinge‹ stellt dabei also keine écriture automatique dar, sondern eine Einschreibung, die ihre Unmittelbarkeit und Interventionslosigkeit ästhetisch inszeniert – und als ästhetische Intervention zugleich zum Verschwinden bringt. Erzeugt wird derart eine Form der Unmittelbarkeit, die – wenn sie sich auch selten als inszenierte zeigt – hochartifiziell choreographiert ist. Die indexikalische Sprache der augenblicklichen Präsenz ist immer schon verschoben durch den dokumentarischen Akt des Tonbandes, der das Aktualgeschehen zwar speichert, es damit zugleich aber in seiner Präsenz verliert. Brinkmanns Aufzeichnungen und Diktate sind sich dieser Präsenzparadoxie ebenso bewusst wie sie von dem Wissen geprägt sind, dass das Aufzeichnungsmedium sowohl Bearbeitbarkeit als auch öffentliche Lesbarkeit impliziert. Das Tonband ist deshalb einerseits ein Medium der registrierenden Einschreibung akustischer Objekte und Ereignisse, andererseits und zugleich aber auch eines der ästhetischen Verwandlung der wiederholbar gewordenen und insofern bearbeitbaren akustischen ›Dinge‹ in audioliterale Artefakte (vgl. Jäger 2014). Brinkmann therapierte also mit dem Tonband, als einem Medium aufzeichnend-protokollierender Einschreibung, seine ›Schreibkrise‹, entdeckte in diesem neuen Medium aber zugleich auch eine erstaunliche Kapazität ästhetischer Manipulation, die sich vor al-
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lem darin zeigt, dass Authentizität und Evidenz gerade als das schlechthin Nicht-Inszenierte inszeniert werden müssen. Das akustische Material, das sich scheinbar interventionslos in die Tonspur einschreibt, wird dort nicht nur intensiv bearbeitet, sondern es wird auch immer wieder als bearbeitetes sichtbar gemacht. Die ›Transparenz des Mediums‹, das, indem es sich scheinbar selbst zum Verschwinden bringt, die Authentizität und Evidenz der aufgezeichneten Wirklichkeit umso schärfer hervortreten lässt, wird immer wieder durch ›Störungen‹ unterbrochen, in denen nicht nur das Medium, sondern auch der es gebrauchende und bearbeitende Autor sichtbar werden (vgl. Jäger 2004). Schon das Faktum, dass sich in Die Wörter sind böse ca. zweiundachtzig Schnitte nachvollziehen lassen (vgl. Spies 2007) – und das, obwohl weite Passagen ungeschnitten aus dem später als Wörter Sex Schnitt publizierten Tonbandmaterial übernommen wurden –, spricht für die ästhetisch produktiven Interventionen Brinkmanns. In der Tat ist die Schnitttechnik, mit der sich Brinkmann – wie schon beim Einsatz des Tonbandgeräts (vgl. Epping-Jäger 2014) – an Burroughs und dessen Methode des Cut-Up anlehnt, ein produktionsästhetisches Verfahren, dem er zentrale operative Bedeutung beimisst. Er nimmt nicht nur explizit auf sie Bezug: »Schnitte. Immer wieder Schnitte. Immer wieder Schnitte. Schnitte. Schnitte. Schnitte. Schnitte. Noch ein Schnitt. Und noch ein Schnitt« (Wörter sind böse, 30.25), sondern er lässt Schnitte, die ja Lücken und Auslassungen generieren, die also als solche gerade nicht wahrnehmbar sind, häufig akustisch hervortreten (vgl. Morgenroth 2011, 131). An vielen Stellen in Wörter Sex Schnitt zeigt er sie durch Zungenschnalzen oder durch Scherenschnitt-Geräusche an und verwandelt so ein üblicherweise gerade unsichtbar bleibendes strategisches Mittel der Evidenzerzeugung in eine hörbare Störung, durch die der Autor sich und seine ästhetische Arbeit am akustischen Material sichtbar macht (vgl. auch Schumacher 2006). Hält man sich also den intensiven ästhetischen Prozess der Materialbearbeitung vor Augen, so wird deutlich, dass es gerade die Parallelführung von registrierend-aufzeichnendem und audioliteralem Schreiben ist, aus der die Tonband-Ästhetik Brinkmanns ihre wesentlichen Impulse erhält. Das auktoriale Spiel mit dem technischen Medium lässt dieses bei Bedarf verschwinden, transparent werden, wenn der mediale Inhalt im Vordergrund von Wahrnehmung und Rezeption stehen soll und es lässt die Technik wieder zum Vorschein kommen, wenn sich der Autor selbst als ästheti-
scher Manipulator sichtbar machen will. Er kehrt die technische Apparatur diesseits der mediatisierten Inhalte nach außen: durch die Geräuschmarkierung von Schnitten oder durch die akustische Hervorhebung des Mikrofons als Aufnahmegerät: »Und jetzt meine lieben Hörerinnen und Hörer mache ich ihnen ein Mikrofongeräusch, indem ich mit dem Fingernagel über die gerasterte Fläche des Mikrofons fahre« (WSS, CD pink: »Ende 69 habe ich aufgehört mit Literatur«, 1.44– 1.47). Auch hier variiert Brinkmann einen Vorschlag Burroughs’, der als Mittel produktiver Störung von Tonbandaufnahmen empfohlen hatte: »versuchen sie bänder zu stören man erzielt diesen effekt indem man eine einwandfreie aufnahme [...] nimmt und das band über tonkopf hin- und herreibt« (Burroughs 1969, 167). Dem selben Ziel folgt Brinkmann auch durch die Erläuterung von Geräuschen, die offenbar doch nicht immer semantisch selbstexplikativ sind: »Das Rauschen im Hintergrund ist das Geräusch eines Gasbackofens« (WSS, CD pink: »Ende 69 habe ich aufgehört mit Literatur«, 5.20–5.21); oder dadurch, dass er in der Eröffnungsphase von Die Wörter sind böse nach 3.45 Minuten das Einsprechen seines eigenen Lebenslaufes durch eine eingeschnittene Technikerstimme aus dem Off unterbricht, die seine eigene verfremdete Stimme ist und die die Manipulation für die, die zu hören gelernt haben, hörbar macht: »Ja, Band einspielen« (ebd.). Es sind Störungen dieser Art, in denen sich der Autor Brinkmann von einem aufzeichnenden Medium akustischer Einschreibungen in einen auktorialen Poeten verwandelt, der das Tonband produktionsästhetisch am zumindest zweitweise leer bleibenden Ort der Schreibmaschine als eine Art Schreibgerät verwendet. Nicht dass beide Rollen des Dichters, die registrierende und die auktoriale, sich abwechselten oder gar substituierten – nein, sie sind vielmehr Facetten eines spezifischen poetischen Produktionsverfahrens, Momente einer von Brinkmann in der Tradition amerikanischer Pop-Autoren entwickelten audioliteralen Tonband-Ästhetik. Literatur
Brinkmann, Rolf Dieter: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Hg. von Katarina Agathos und Herbert Kapfer. Intermedium records. München 2005 [Zitierweise: WSS, Farbangabe der CD, Titel des Tracks, Zeitangabe]. Brinkmann, Rolf Dieter: Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973. Eine subjektive Dokumentation von Rolf Dieter Brinkmann, WDR. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M. 1989.
42 Wörter, Sex, Schnitt. Brinkmanns Tonbandarbeiten Binczek, Natalie: »Das Material ordnen«. Rolf Dieter Brinkmanns akustische Nachlassedition »Wörter Sex Schnitt«. In: Thomas Wegmann/Norbert Christian Wolf (Hg.): »High« und »low«. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin/Boston 2012, 57–81. Brühl, Hein: Interview. Das Interview führten Cornelia Epping-Jäger und Natalie Binczek, auf Vermittlung der WDR-Redakteurin Leslie Rosin am 3.11.2010. Das Interview liegt nur in digitaler Aufzeichnung vor. Ein bis in die Wortwahl nahezu gleichlautendes Interview ist schriftlich abgedruckt in: Spies 2007, 244–253. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart 1982. Burroughs, William S.: Die unsichtbare Generation. In: Rolf-Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid – Neue amerikanische Szene. Reinbek bei Hamburg 1983, 166–174. Epping-Jäger, Cornelia: Rolf Dieter Brinkmann. »Die Wörter sind böse«/»Wörter Sex Schnitt«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): TEXT + KRITIK. Zeitschrift für Literatur 196 (Literatur und Hörbuch). München 2012, 48–59. Epping-Jäger, Cornelia: »Die verfluchte Gegenwart – und dann das Erstaunen, dass ich das sage«. Rolf Dieter Brinkmann und das Tonband als produktionsästhetische Maschine. In: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch: Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. München 2014, 137–156. Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Sibylle Krämer (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004, 35–74. Jäger, Ludwig: Audioliteralität. Skizzen zur Transkriptivität des Hörbuchs. In: Natalie Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch: Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. München 2014, 231–254. Lentz, Michael: Der große Schreihals. Rolf Dieter Brink-
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manns akustischer Nachlaß. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.5.2005), 30. Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1. Band: Sprache und Psychologie, 2. Band: Zur Sprachwissenschaft, 3. Band: Zur Grammatik und Logik. Stuttgart 1901 f. Morgenroth, Claas: Sprechen ist Schreiben auf Band. Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen. In: Martin Stingelin/Matthias Thiele (Hg.): Portable Media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. München 2009, 123–147. Niefanger, Dirk: Rolf Dieter Brinkmanns Poetik der Selbstinszenierung. In: Markus Fauser (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 65–82. Redder, Angelika: Professionelles Transkribieren. In: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/ Lektüre. München 2002, 115–131. Schmitt, Stephanie: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik. Bielefeld 2012. Schumacher, Eckhard: »Schreiben ist etwas völlig anderes als sprechen«. Rolf Dieter Brinkmanns Originaltonaufnahmen. In: Dirck Linck/Gerd Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der Deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre. Hannover-Laatzen 2006, 75–90. Selg, Olaf: »Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert« – Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen »Wörter Sex Schnitt«. In: Weimarer Beiträge 53/1 (2007), 47–65. Spies, Miriam: Poetik und Sprachkritik in Rolf Dieter Brinkmanns »Autorenalltag«. Mainz 2007. Zeller, Christoph: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970. Berlin/New York 2010. Zier, Tobias: Literarische Präsenz- und Unmittelbarkeitseffekte. Evidenzverfahren in den Arbeiten Rolf Dieter Brinkmanns. Bonn 2012.
Cornelia Epping-Jäger
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43 The Last One Vom 17. bis 21. April 1975 fand zum ersten Mal das Cambridge Poetry Festival statt, das der Lyriker und Übersetzer Richard Berengarten (alias Richard Burns) in der britischen Universitätsstadt organisiert hatte (vgl. Berengarten 2009; Gowar 2010). Zu dieser Premiere war neben vielen anderen Lyrikern aus aller Welt auch Rolf Dieter Brinkmann eingeladen worden, der zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren keinen Gedichtband mehr veröffentlicht hatte. Im Rahmen des umfangreichen Festivalprogramms trat Brinkmann gleich bei zwei Veranstaltungen auf: Zunächst las er am Samstag, dem 19. April, im Rahmen der Abendveranstaltung in der Debating Chamber der Cambridge Union Society gemeinsam mit dem amerikanischen Lyriker John Ashbery sowie Lee Harwood und John James, zwei Vertretern des British Poetry Revival. Einen Tag später gehörte Brinkmann neben den nach Großbritannien emigrierten Michael Hamburger und Erich Fried, dem DDR-Lyriker Reiner Kunze sowie Jürgen Theobaldy zu den Autoren, die dazu beitrugen, dass in Cambridge ein breites Spektrum der Contemporary German Poetry repräsentiert wurde. Die Lesungen des Festivals wurden aufgezeichnet, später sind die Tonaufnahmen dem National Sound Archive der British Library übergeben worden. Über mehr als zwei Jahrzehnte waren diese Aufnahmen im deutschen Literaturbetrieb unbeachtet geblieben. Am 31. Januar 1997 strahlte der Bayerische Rundfunk erstmals die Aufnahme von Brinkmanns Lesungen aus. Die Hörspieldramaturgen Herbert Kapfer und Katarina Agathos hatten von der Witwe Maleen Brinkmann eine Kopie zur Verfügung gestellt bekommen. 2005 veröffentlichten sie schließlich – zeitgleich mit Wörter Sex Schnitt (s. Kap. 42) – eine separate Hörbuch-CD bei intermedium records. Im Begleitheft dieser CD wird zwar darauf hingewiesen, dass es sich um Gruppenlesungen handelte; allerdings lässt sich dieser Umstand beim Hören kaum nachvollziehen, da ausschließlich Brinkmanns Auftritte reproduziert worden sind. Bei der Textauswahl griff Brinkmann überwiegend auf noch unveröffentlichte Gedichte zurück, die unmittelbar nach dem Festival im Mai 1975 posthum im letzten noch zu Lebzeiten konzipierten Buch Westwärts 1 & 2 erschienen. Daneben wählte er auch einige Übersetzungen von Gedichten aus dem älteren Band Was fraglich ist wofür (1967) aus (Schlesingers Film, Hier nicht, Von Walt Disney, s. Kap. 17), verzichtete aber gänzlich auf Texte aus den wesentlich bekannteren
Bänden Die Piloten (1968) und Gras (1970). Zwar trug Brinkmann auch einige deutsche Originalfassungen vor (Fotos 1,2, Wo sind sie, Nach Shakespeare, Brief aus London, Rolltreppen im August) sowie das ohnehin ausschließlich auf Englisch veröffentlichte Hearing the News today, überwiegend jedoch las er Übersetzungen seiner Gedichte ins Englische (Photos 1,2, Where are they, A Skunk, Schlesingers Movie, Not here, Well, somehow, From Walt Disney, Pavlov’s Hamburgers, Once More the Country Scene, After Shakespeare, Night, After Chuck Berry, A Day on the Border, A Poem; s. Kap. 46). Diese Übersetzungen waren von seinem Freund Hartmut Schnell für dessen Magisterarbeit Translated Poems of Rolf Dieter Brinkmann (1975) sowie dem britischen Lyriker Christopher Middleton und dem amerikanischen Germanisten A. Leslie Willson angefertigt worden, die er allesamt im Jahr zuvor während seines längeren Aufenthalts an der University of Texas at Austin kennengelernt hatte. Bei der einzigen überlieferten Aufnahme einer Brinkmann-Lesung handelt es sich also um die Dokumentation eines Auftritts bei einem Festival im Ausland. In einem Brief an Schnell vom 2. August 1974 hatte Brinkmann angemerkt, es sei »eine hübsche Vorstellung für mich, meine Gedichte woanders vorzulesen als hier in diesem mürrischen Land voll muffiger Leute« (BrH, 88). Mit der Reise nach Cambridge kehrte er erstmals nach mehreren Jahren wieder nach Großbritannien zurück, wo er zwischen 1966 und 1969 seinen Freund Ralf-Rainer Rygulla besucht und bei dieser Gelegenheit im Swinging London die neuesten Entwicklungen der angloamerikanischen Beatund Undergroundkultur kennen gelernt hatte, die sein Werk der späten 1960er Jahre prägten (vgl. Kramer 2000). Seinen Auftritt empfand Brinkmann als großen Erfolg; auf einer Postkarte berichtete er seinem Freund Henning John von Freyend: »Die Lesung war großartig gestern Abend, und eine richtige Sache, las englisch und deutsch, wie ’n Rock’n Roll Konzert, schaukelnd rhythmisch – Flutlicht und BBC – Colour TV / viele junge Dichter, viele kleine Pressen und Publikationen – lebe hier im J. James Haus. Morgen also nach London« (Schröder/Kalender 2015). Hatte sich Brinkmann zuvor stets programmatisch dafür ausgesprochen, für die Präsentation von Gedichten neue Formen wie multimediale Performances zu entwickeln, so überrascht es, dass es sich – der emphatischen Postkarten-Schilderung zum Trotz – bei den Cambridge-Lesungen um ganz konventionelle ›Wasserglaslesungen‹ handelte. Bei solchen Lesungen beschränkt sich der Autor i. d. R. darauf, seine skrip-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_43
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turalen Texte durch den mündlichen Vortrag in den Modus der Hörbarkeit zu versetzen. Allerdings besteht die ›Sprechszene Lyriklesung‹ keineswegs nur aus dem Vorlesen von Gedichten, sondern sie wird wesentlich auch durch performative Epitexte konstituiert, in denen der vortragende Autor »eine auktoriale Höranweisung an die Zuhörenden« formuliert, welche den folgenden Gedichtvortrag umrahmt und dadurch die Zumutung, ein unbekanntes Gedicht nur einmal zu hören, ohne mitlesen zu können, »so entscheidend abzuschwächen oder zu transformieren, dass die Zuhörenden diese Praxisform [...] allererst ermöglichen« (Döring/Paßmann 2017, 332 f.). So beginnt auch Brinkmann seine Lesung mit einer auktorialen Selbstvorstellung, in der er in zwar gebrochenem, aber durchweg verständlichem Englisch aus einem Hinweis auf seine Herkunft ein poetologisches Statement entwickelt: my name is rolf dieter brinkmann / i’m coming from cologne / and cologne is a dark industrial city / with very little poetry in it / every day / that perhaps makes my poetry very simple (The Last One, 1). Nach dieser eher distanzie-
renden Markierung seiner spezifischen Lebensumgebung in Köln präsentiert er zunächst eine Demutsgeste gegenüber den Veranstaltern (i’m glad to have the opportunity to read some of my poems here in cambridge, ebd.) und damit sein positi-
ves Englandbild, setzt sich aber sogleich mit Blick auf das ehrwürdige Ambiente des Veranstaltungssaals vom Hochkultur-Referenzrahmen ab (although
the environment / if i’m looking around / with a throne behind me / is just not my style / this cultural surrounding is just a strange place for me, ebd.) und
kommt auf den auch an anderen Stellen (vgl. Ww, 8 f., 271) formulierten Anspruch zurück, seine Gedichte lieber an der Einfachheit von Rock’n’Roll-Songs zu orientieren: i think american rock’n’roll singers are real poetry (ebd.). Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Brinkmann zunächst die lyrics von Loudon Wainwrights III Song »Plane, Too« (1971) vorliest, die er auch der Buchveröffentlichung von Westwärts 1 & 2 vorangestellt hat (vgl. Ww, 10). Grundsätzlich steht jedes live rezitierte Gedicht, mehr noch seine nachträgliche technische Reproduktion in einem komplexen Verhältnis zum schriftlichen Text: Im mündlichen Vortrag wird jedes vorab geschriebene und in der Regel bereits in Schriftform veröffentlichte Werk »palimpsestartig überschrieben (übertönt)« (Jäger 2014, 237), es wird dabei an den
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Körper des Vortragenden gebunden und dadurch »aus seiner ersten Zirkulation, dem Umlauf der Schriften und Ideen, wieder in die inszenierte Präsenz des Augenblicks der Entstehung zurückgenommen« (Maye 2013, 341). Durch die akustische Aufzeichnung, Speicherung und Wiedergabe jedoch tritt die Physiognomie der Stimme in den Vordergrund, zugleich geht der Text in eine audioliterale mediale Verfassung über, welche wiederum die wiederholte Rezeption des gesprochenen Gedichts ermöglicht. Dies eröffnet produktionsästhetische Möglichkeiten, etwa wenn Brinkmanns Intonation von der im Gesprächston vorgetragenen Vorrede zum markant artikulierten Gedichtvortrag wechselt. Überdies sticht bei der Rezitation der Kontrast zwischen dem englischen Text und dem deutlichen deutschen Akzent des Vortragenden hervor. Brinkmann nutzt die vom Veranstaltungsrahmen gesetzte Bedingung, dass er die meisten Gedichte in einer Fremdsprache vorträgt, zu einem ästhetischen Verfremdungseffekt, den er dem Publikum eingangs ausdrücklich ankündigt: it might be funny for you to hear this or that word or sentence totally false spelled / so everybody can go his own way of imagination and word association (The Last One, 1).
Womöglich auch um diese Wirkung nicht zu beeinträchtigen, verzichtet Brinkmann im weiteren Verlauf weitgehend auf die für Lyriklesungen charakteristischen Selbstmitteilungen vor oder nach dem Vortrag der einzelnen Gedichte, die, so ein einschlägiger Befund, üblicherweise mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Gedichte (vgl. Döring 2018, 74 ff.). Wenn er überhaupt noch einmal etwas anmerkt, dann beschränkt er sich zumeist auf knappe Hinweise wie »the next one« (The Last One, passim). Eine Ausnahme stellt sein Vortrag von »Summer (from the American)« (The Last One, 18) dar, für das Brinkmann das Verfahren der assoziativen ›Oberflächenübersetzung‹ (s. Kap. 35) auf das Gedicht »Summer« des anwesenden John Ashbery angewendet hatte. Einführend erläutert er in freier Rede das Verfahren: »and now i want to read you a little experiment / [...] / just let me explain / sometimes i read poetry in another language / and i often don’t know the words / the exactly meaning of the words / and so i just buy some book of poetry / and then i begin to translate / just only on the surface / and john ashbery has sent me some years ago / [...] / and years after i read / ah / i read a poem from
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mister john ashbery / which is which is called summer / [...] / and now it was i was just gliding over this lines / and suddenly in my head there begin my own memories about this / about what i feel about summer / and the first lines are a surface translation of your poem / i don’t know if you / hehehehe / okay / okay / summer / from the american (The
Last One, 18). Brinkmann hat also zunächst eine ›oberflächliche‹ Übersetzung von Ashberys Gedicht vorgenommen, die er dann unter dem Titel »Sommer (Aus dem Amerikanischen)« als eigenes Werk veröffentlicht (Ww 30). Dieses Gedicht jedoch ist eher als eine ›Ab-Setzung‹ von dem Prätext zu verstehen, als ein »genau kalkulierte[s] und gezielte[s] misreading« (Beil 2012, 209 f.). Das Ergebnis dieser Transkription wiederum legte er Hartmut Schnell vor, der nicht um den Ashbery-Text wusste – ah ja / i must i must i must explain that that these translation are not my my translation / and the translator doesn’t know from which it comes / i just give you this explain (The Last One, 18; vgl. BrH, 249 f.: »Ich
schreibe Dir hier absichtlich nicht, welche flache Oberflächenübersetzung ich für den Anfang dieses Gedichts benutzt habe«) –, um es schließlich in der englischsprachigen ›Rückübersetzung‹ in Cambridge einem überwiegend britischen Publikum, in dem sich auch Ashbery befindet, vorzulesen. Auf der CD und im Begleitheft finden sich keine expliziten Hinweise, welche Aufnahmen bei welcher der beiden Lesungen gemacht worden sind. Allerdings lässt sich heraushören, dass die abschließenden Lesungen der Gedichte »Brief aus London« bzw. »Letter from London« sowie »Rolltreppen im August« von einer neuerlichen Anmoderation durch Michael Hamburger, der als deutsch-britischer Dichter durch die Veranstaltung zur deutschen Gegenwartslyrik führte, eingeleitet werden (vgl. The Last One, 22 und 23). Offenbar schien geplant zu sein, dass Hamburger zunächst aus Brinkmanns Texten vorliest (i start up by reading two poems, ebd., 22), allerdings mischt sich Brinkmann ein und bittet, selbst vorlesen zu dürfen, weil er die Gelegenheit nutzen wolle, in der fremden Sprache vorzutragen. An diese zweite Lesung schließt sich das bei Lyriklesungen in der Regel obligatorische Publikumsgespräch an, in dem Brinkmann auf Fragen aus dem Auditorium noch einmal seine grundsätzliche Priorisierung des performativen Live-
Vortrags im Vergleich zur stillen Lektüre hervorhebt (»I think that if poetry is a really lovely thing a really lively thing then one has to create an environment for that«, The Last One, 22). Außerdem relativiert er den spezifischen Einfluss amerikanischer Lyriker und betont stattdessen die globalen kulturellen Auswirkungen neuer Technologien, die er in zahlreichen Publikationen thematisiert hatte: i think that in industrial nations are the problems very similar (The Last One, 22). Literatur
Beil, Ulrich Johannes: »Niemand kann das übersetzen«. Rolf Dieter Brinkmann, John Ashbery und die Beat Generation. In: Georg Gerber/Robert Leucht/Karl Wagner (Hg.): Transatlantische Verwerfungen – Transatlantische Verdichtungen. Kulturtransfer in Literatur und Wissenschaft 1945– 1989. Göttingen 2012, 191–215. Berengarten, Richard: The Cambridge Poetry Festival: 35 years after. In: Cambridge Literary Review 1/1 (2009), 148– 160. Brinkmann, Maleen/Kapfer Herbert: [booklet zu:] Rolf Dieter Brinkmann: The Last One. Autorenlesung. Cambridge Poetry Festival 1975. München 2005. Brinkmann, Rolf Dieter: The Last One. Autorenlesung. Cambridge Poetry Festival 1975. München 2005. Döring, Jörg: Marcel Beyer liest. Gedicht und performativer Epitext. In: Christian Klein (Hg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk. Stuttgart 2018, 73–93. Döring, Jörg/Johannes Paßmann: Lyrik auf YouTube. Clemens J. Setz liest »Die Nordsee« (2014). In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 28/2 (2017), 329–347. Gowar, Mick: Richard Berengarten and the Cambridge Poetry Festival: A Vision of Community. In: Norman Jope/ Paul S. Derrick/Catherine E. Byfield (Hg.): The Companion to Richard Berengarten. Cambridge 2010, 389–397. Jäger, Ludwig: Audioliteralität. Eine Skizze zur Transkriptivität des Hörbuchs. In: Natalie Binczek/Cornelia EppingJäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. München 2014, 231–253. Kramer, Andreas: Rolf Dieter Brinkmann in England. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. (Eiswasser. Zeitschrift für Literatur Jg. 7, I/II). Vechta 2000, 111–116. Maye, Harun: Vortrag/Lesung: Neuzeit und Moderne. In: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin/Boston 2013, 341– 351. Schröder, Jörg/Barbara Kalender: Brinkmanns Briefe an einen Maler (2015), http://blogs.taz.de/schroederkalen der/2015/10/27/brinkmanns-briefe-an-einen-maler/ (2.6.2018). Theobaldy, Jürgen: Bevor die Musik vorbei ist. Zu Rolf Dieter Brinkmann. In: Literaturmagazin 15/1985, 10–21.
Jörgen Schäfer
D Filme, Fotoarbeiten 44 Filme »Und 1968«, berichtet Rolf Dieter Brinkmann in seinen Briefen an Hartmut, »bin ich dann auch angefangen und habe 8 mm Filme gedreht, endlos, lang und teuer, wobei wirklich schöne Sachen (Filme) rausgekommen sind. 1969, im Winter, verschob ich dann das Filmen auf das Fotografieren« (BrH, 81 f.; s. Kap. 12). Einem anderen Brief fügt er einen Lebenslauf bei, in dem er präzisiert, er habe »1967/1968: Schmalfilme, in schwarz-weiß & Color, 8 mm (angeregt durch die Filmexperimente der New Yorker Underground und Nicht-kommerzieller Filmer« gedreht, die auch »auf der Buchmesse Frankfurt in einer Gallerie« vorgeführt worden seien: »5 Filme: zwischen 1/2 Stunde und 1 1/2 Stunden« (BrH, 113). Bei der BuchmessenVeranstaltung, die offenbar unter dem Titel »Flickermaschine« stattfand, handelte es sich um »eine Art Lese-Performance mit Musik und Dias« (Schröder 1992, 21), bei der neben Brinkmanns Texten und Musik von den Doors und Henry Mancini auch Filme von Brinkmann und Linda Pfeiffer gezeigt worden sind (Heubach 1969, 177). Der Verleger Jörg Schröder, der die Veranstaltung organisiert hatte, urteilt rückblickend: »Was die Kölner Gruppe damals an Filmen produzierte, würde man heute als Teil einer Performance sehen« (Schröder 1992, 21). Für seine Filme verwendete Brinkmann das seinerzeit noch neue Super-8-Schmalfilmformat, das im Mai 1965 vom amerikanischen Fotokonzern Kodak auf den Markt gebracht worden war und in den späten 1960er und den 1970er Jahren vor allem für Filmaufnahmen im Privatbereich genutzt worden ist. Anders als reguläre 8-mm-Filme, die vom Filmer erst in die Kamera eingefädelt werden mussten, wurden Super8-Filme in Kassetten angeboten, die sich leicht in die Handkameras einlegen ließen. Allerdings konnte man nur kurze Filme mit Laufzeiten von 3:20 Minuten drehen. Die belichteten Filme wurden in Laboren entwickelt und anschließend vorführbereit auf Spulen an den Kunden geliefert; zudem gab es im Handel spe-
zielle Betrachtungsgeräte sowie Klebepressen, mit denen auch Amateure eigene Schnittfassungen herstellen konnten (vgl. Schley 2014). Bis heute sind Brinkmanns Super-8-Filme weitgehend unbekannt. Seit 2007 kann man sich jedoch immerhin einen Eindruck verschaffen: Im ›Director’s Cut‹ des vierteiligen Filmprojekts Brinkmanns Zorn hat der Regisseur Harald Bergmann ungefähr ein Viertel des Materials unter dem Titel Die Super 8 Filme Rolf Dieter Brinkmanns in einem 88-minütigen Montagefilm verarbeitet, in dem er die Super-8-Stummfilme mit einem selbstkomponierten Soundtrack unterlegt hat (vgl. Bergmann 2007a). Laut Bergmann besteht der gesamte mediale Nachlass aus »sechs Stunden Film und zwölf Stunden Ton« (Blaser 2009, 188), wobei Brinkmann selbst bereits Schnittfassungen für 13 Filme erstellt hatte. Es lässt sich allerdings nicht rekonstruieren, welche Schnitte von Brinkmann angefertigt wurden und welche auf Bergmanns Bearbeitung zurückzuführen sind. In den meisten der überwiegend sehr positiven Rezensionen zu Bergmanns Film Brinkmanns Zorn werden die Super-8-Filme bestenfalls beiläufig erwähnt; die Kritiken konzentrieren sich vielmehr auf die Kinofassung, die in der DVD-Edition unter dem Titel Die Tonbänder firmiert (vgl. Bergmann 2007c; vgl. Paech 2008). Eine Ausnahme stellt die Besprechung durch Georg Klein dar, der zwar einerseits das Ungeschick von Brinkmanns amateurhafter Kameraführung konstatiert, andererseits aber dessen Schnitttechnik rühmt: »[D]as auf halber Strecke gescheiterte Synthese-Unterfangen Brinkmanns, die Kombination von hochgespannter Wahrnehmung, direkter Ablichtung und rigoroser Wahrnehmungskritik« sei von Bergmann kongenial zu Ende geführt worden (Klein 2007). Oliver Kobold und Jochen Wobser hingegen bemerken in einem Rundfunkfeature ein wenig abfällig, Brinkmann habe »Super-8-Filme [gemacht], die sich nicht zwischen Dragshow, Privatporno und Heimatfilm entscheiden wollen« (Kobold/Wobser 2015). In der Forschungsliteratur sind die Super-8-Filme ver-
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_44
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ständlicherweise bislang kaum thematisiert worden, da sie selbst nicht zugänglich sind. Roberto Di Bella moniert in diesem Zusammenhang, dass Bergmanns Edition weder Informationen zu den Einzelfilmen liefere noch Hinweise zu den Auswahlkriterien für seine Montage gebe. Stattdessen seien die Filme für »eine sehr persönliche und künstlerische Ausdeutung des dokumentarischen Materials« benutzt worden (Di Bella 2015, 40).
44.1 Schrift und technische Graphien (Foto-, Phono-, Kinematographie) In den 1960er Jahren war die technische Speicherung und Übermittlung von körperlicher Präsenz durch Kino und Fernsehen sowie Radio und Schallplatten zum Normalfall der Massenkommunikation geworden (s. Kap. 13). Literatur hingegen schien für viele – insbesondere jüngere – Zeitgenossen nicht mehr in der Lage zu sein, »Wirkungsereignisse« (Diederichsen 2017, 14) hervorzubringen, die mit der »technischen Übertragung von Lebendigkeit« (ebd., 35) konkurrieren können. So vehement wie kein anderer deutscher Schriftsteller konstatierte Brinkmann seinerzeit diesen Zusammenhang: »Es gibt einen Bruch in der westdeutschen Literatur, und der ist etwa Mitte der 60er Jahre da, beeinflußt u. a. durch neue Filme, nouvelle vague in Frankreich, new cinema in England, Undergroundfilme aus NewYork, durch amerikan. Popart durch die Autoren der amerikan. Beatgeneration, durch die Erhebung der Studenten gegen die Rituale des Akademismus, durch die Erfahrungen mit bis dahin tabuisierten Rauschmitteln, durch die Heftige Stärke der Rock-n-Rollmusik, – – – alles das waren neue Erfahrungen, die den Autoren der 50er Jahre fehlten, und diese neu hinzugekommenen Elemente alltäglichen Lebens, diese Hinweise auf Lebendigkeit, fehlte den Autoren der 50er Jahre. Auch völlig neu war, daß Literatur nur eine Vermittlungsart war (& da hat M. McLuhan mit seinen Theorien und der Propagierung des Visuellen und der Umstellung der anderen Sinne außer dem visuellen Sinn, Einfluß gehabt): insgesamt kommt der Umschwung Mitte der 60er Jahre, und die Autoren haben das sehr wohl lustvoll mitgemacht, auf ihre Weise, ohne mich von ideologischen Doktrinen einfangen zu lassen.« (BrH, 145) Brinkmann beließ es in dieser Situation nicht bei der metaphorischen Übernahme von Begriffen wie ›Momentaufnahme‹, ›Standphoto‹ oder ›Film in Worten‹ zur Charakterisierung seiner literarischen Texte,
die in der Lage sein sollten, »völlig selbstverständlich Erfahrungen aus dem Umgang mit technischen Geräten« (FW, 224) zu integrieren und im Medium der Schrift Präsenzerfahrungen darzustellen (vgl. Göllner 2014; Röhnert 2007; Weingart 2005; Schäfer 1998). Vielmehr experimentierte er selbst mit diesen autographischen Medientechniken und nutzte dazu Kleinbild- und Instamatic-Fotokameras, portable Kassettenrecorder sowie Schmalfilmkameras, die ab Mitte der 1960er Jahre zu niedrigen Preisen auch für den Amateurbereich erhältlich waren. Mit diesen Aufzeichnungsgeräten versuchte er alltägliche Spuren des Realen einzufangen: »Was ich seit 1968 gemacht habe? Könnte man als Feldstudien bezeichnen« (Erk, 264). Dabei orientierte er sich vorwiegend an Underground- und Experimentalfilmen. In Köln machte XSCREEN, das ›Kölner Studio für unabhängigen Film‹ – eine Gruppe um Birgit und Wilhelm Hein, Hans-Peter Kochenrath, Christian Michelis und Rolf Wiest, zu der Brinkmann in losem Kontakt stand (vgl. Schäfer 2008, 118 f.) – zwischen 1968 und 1971 in diversen Kinosälen vor allem die Filme des New American Cinema (Battcock 1967; Tyler 1969) bekannt, z. B. von Andy Warhol, Jonas Mekas, Stan Brakhage oder Jack Smith. Aber es wurden auch Filme der Wiener Aktionisten (Otto Muehl, Kurt Kren) sowie von Peter Weibel und Valie Export, die Filme deutscher Autorenfilmer wie Werner Nekes oder Werke der historischen Avantgarde, z. B. von Luis Buñuel oder Jean Cocteau, gezeigt (vgl. Hein 1971; Herzogenrath/Lueg 1986; Michalka 2004; Stahl 2007). Warhols Chelsea Girls (1966) hatte Brinkmann wohl bereits 1967 während eines London-Aufenthalts im National Film Theatre gesehen (vgl. Erk, 257), und auch in Köln war der Film im April 1968 bei einer der ersten XSCREEN-Veranstaltungen im Theater am Rudolfplatz zu sehen. Die große Bedeutung, die Brinkmann diesen Filmen beimaß, belegen einige Veröffentlichungen: Über Chelsea Girls schrieb er für den Kölner Stadt-Anzeiger einen Artikel, in dem er den Film als »die bisher radikalste Realisierung« seiner These betrachtete, »daß ›Leben‹ Film ist und nichts Natürliches – wir alle leben in der Oberfläche von ›Bildern, die sich bewegen‹, Dasein heißt Kino, 24 Stunden lang jeden Tag ... Zeit setzt sich als biologischer Film innen und außen fort (Burroughs) von Punkt Null zu Punkt Null« (Brinkmann 1968; s. Kap. 13 und Kap. 15). In die gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla herausgegebene Anthologie Acid. Neue amerikanische Szene (s. Kap. 36) nahm Brinkmann längere Texte von Gregory Battcock über Filme von Andy Warhol (vgl.
44 Filme
Acid, 294–307) sowie von Jonas Mekas über einige Beispiele des amerikanischen Underground-Kinos (159–166) auf, und auch in seinen Gedichten hatte er sich bereits mit Warhol-Filmen auseinandergesetzt (vgl. Gemünden 1995, 240 ff.). Das New American Cinema stand für eine Abwendung von den narrativen Schemata des kommerziellen Hollywood-Films und setzte stattdessen auf die »neue unkonventionelle Handhabung der technischen Mittel und die Aufhebung der etablierten Regeln von Form und Inhalt« (Hein 1971, 8). Dazu nutzten die Filmemacher auch die technischen Defizite der Schmalfilmformate als ästhetisches Mittel. Das Super-8-Format war für Kunstlichtaufnahmen entwickelt worden; bei Tageslicht, insbesondere bei grellem Sonnenschein, waren Überbelichtungen daher unvermeidlich. Überdies wird der Film in Super-8-Kameras nicht – wie bei professionellen Filmkameras – von einer eingebauten metallischen Andruckplatte, sondern lediglich in der Filmkassette fixiert. Diese lockere Filmführung führte daher unweigerlich zu Unschärfen. Brinkmann nutzte dies für gezielte Überbelichtungen und machte sich die leichte Handhabbarkeit der Kameras für schnelle Schwenks und Zooms zunutze. Er realisierte damit, was er programmatisch in seinen Essays gefordert hatte: »Die eigene Optik wird durchgesetzt, Zooms auf winzige, banale Gegenstände ohne Rücksicht darauf, ob es ein ›kulturell‹ angemessenes Verfahren ist, Überbelichtungen, Doppelbelichtungen [...], unvorhersehbare Schwenks (Gedanken-Schwenks), Schnitte, ein image-track« (FW, 267).
44.2 Die Filme Als Zeitzeuge berichtet Dieter Wellershoff, zeitweise Brinkmanns Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, von dessen Filmen: »Die Filme, die er mit seiner Super-8Amateurkamera drehte und im kleinen Kreis Freunden und Bekannten vorführte, waren meistens der starren Kamera Andy Warhols abgeschaut. Er hat beispielsweise die Kamera auf ein Stativ montiert und nacheinander verschiedene Leute aufgefordert, sich drei Minuten möglichst reglos und ohne Mimik vor die laufende Kamera zu setzen. Das war ein stummes Verhör, und das Ergebnis war nicht uninteressant. Es war eine Imitation amerikanischer Underground-Filme gehandelt.« (Rüger 1994, 85) Mit seinem Verweis auf die starre Kamera bezieht sich Wellershoff allerdings lediglich auf einen begrenzten und keineswegs repräsentativen Teil des filmischen Nachlasses. Soweit
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sich dies anhand von Bergmanns Bearbeitung verifizieren lässt, ist der überwiegende Teil des Materials in Brinkmanns Wohnumfeld in der Kölner Engelbertstraße sowie bei Streifzügen durch die Innenstadt entstanden. So berichtete die Boulevard-Zeitung Express am 29. Juli 1968, Brinkmann sei beim Drehen mit einer »Gummilinsenkamera« in der Kölner Fußgängerzone gesehen worden. Dort habe er vor allem die »Rückansichten und verführerisch betonten Oberweiten junger Spaziergängerinnen« sowie die »langen Beine einiger blonden Schwedinnen« gefilmt und schließlich ausdrücklich erklärt, er »filme anders als der berühmte amerikanische Undergroundfilmer Andy Warhol«; seine Aufnahmen seien »durchscheinender, lebendiger« (Kirchmann 1969, 166). Auch Brinkmann selbst hat einmal bestätigt: »den Sommer 1968 verbrachte ich mit Super-8-Filmen in der Stadt« (Erk, 257). Von diesen Stadterkundungen zeugen auch einige bekannte Schnappschüsse des Fotografen Jens Hagen (Hagen 2000, 67–69). Einen Eindruck von diesen Filmen vermitteln in Bergmanns Montagefilm einige Szenen, die einen Stadtbummel mit Freunden am Kölner Neumarkt und in einem Kaufhaus zeigen, bei dem sich die Freunde mit homosexuellen Gesten über Passanten mokieren. Diese Szenen belegen, dass Brinkmann zumindest zeitweise der produktive Kern eines Freundeskreises war, zu dem vor allem Ralf-Rainer Rygulla, Rolf Eckart John, die Schwestern Ulrike und Linda Pfeiffer, die auch selbst Super-8-Filme drehte (vgl. Erk, 355), der Maler Henning John von Freyend sowie seine Frau Maleen gehörten. Dies wird durch Aussagen von Zeitzeugen erhärtet. So erinnert sich der Verleger Jörg Schröder: »Diese Gruppe in Köln war ein bißchen Velvet Underground, es wurde mit Filmen experimentiert. Das hatte aber auch etwas Komisches. Es wurde nämlich fast alles aus dem US-Velvet-UndergroundSecondhandshop bezogen« (Schröder 1992, 20). In der Tat sind einige Szenen von Reminiszenzen an die Filmarbeiten in Warhols Factory gekennzeichnet. So erinnern die – allerdings nicht mit einer starr positionierten Kamera, sondern mit einer Handkamera gemachten – Aufnahmen einer privaten Drag-Party, in der einige der Freunde in Frauenkleidung posieren, an Warhols Transvestitenfilme. Auch eine kurze Sequenz, in der ein Junkie – womöglich der in Brinkmanns Texten gelegentlich erwähnte chaotische »Fixer« (Erk, 249) Uli Karp –, sich Drogen in den Arm injiziert, legt Anklänge an Warhol-Filme nahe. Der überwiegende Teil des von Bergmann verwendeten Filmmaterials wurde jedoch in Brinkmanns un-
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VII Weitere Werke – D Filme, Fotoarbeiten
mittelbarer Wohnumgebung gedreht. Es handelt sich dabei überwiegend um unspektakuläre Amateuraufnahmen des Familienlebens, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren millionenfach von Filmamateuren aufgenommen worden sind: So hat Brinkmann wiederholt Schwenks aus dem Fenster der Wohnung in der Engelbertstraße aufgenommen, die entlang der Rückseite des Steigenberger Hotels einen Durchblick bis auf die Kreuzung Aachener Straße sowie einen Überblick über die Dachlandschaften der benachbarten Häuserblöcke gewähren. Auch seine Wohnung hat Brinkmann penibel dokumentiert, etwa sein Arbeitszimmer mit Schreibmaschine, Plattenspieler und Büchern und einem Warhol-Poster an der Wand oder die Wohnküche. Ganz im Sinne des ›normalen‹ Einsatzes der Super-8-Kameras filmte Brinkmann überwiegend Alltagssituationen aus seinem Privat- und Familienleben, z. B. die Kleinfamilie beim Abendessen oder unterm Weihnachtsbaum. Häufig nahm er auch seine Frau Maleen auf, die offensichtlich auch gelegentlich die Kamera geführt hat, nämlich dann, wenn Rolf Dieter Brinkmann im Bild zu sehen ist, etwa rauchend im Arbeitszimmer oder auf dem kleinen Balkon. Zudem filmte Brinkmann ausgiebig anlässlich einer Reise in seiner Geburtsstadt Vechta (»Vechta:genau noch einmal nachzusehen,was mich festhalten möchte,woher ich komme«, Erk, 245). Bereits während der Bahnfahrt, offenbar in einem Schienenbus zwischen Osnabrück und Vechta, nahm er Blicke aus dem Zugfenster sowie einige Mitreisende auf. Der überwiegende Teil des Filmmaterials wurde in der Innenstadt von Vechta gedreht und unterscheidet sich nicht von dokumentarischen Privatfilmen: Straßenverkehr und Fußgänger auf der Großen Straße, Aufnahmen von einer größeren, mit Bauschutt übersäten Baustelle oder des Vechtaer Moorbachs werden kombiniert mit Außenaufnahmen einiger Gebäude wie der Propsteikirche St. Georg und der Klosterkirche, des St.-Marien-Hospitals, den Justizvollzugsanstalten und des Gymnasiums Antonianum, das Brinkmann als Schüler besucht hatte. Außerdem drehte Brinkmann während eines Ausflugs an einem regnerischen Tag, offenbar einer Radtour, die menschenleere norddeutsche Landschaft in der Umgebung Vechtas: Dabei filmte er Weiden, Wiesen und Wälder, aufgegebene Bauernhöfe, stillgelegte Bahngleise und einige Erdölförderanlagen, matschige Feld- und Waldwege ebenso wie den wolkenverhangenen Himmel, an dem ein Tiefflieger vorbeifliegt, und er machte Großaufnahmen von Ackerfurchen Pfützen und Baumkronen. Die Vechta-Aufnahmen zeichnen sich durch vergleichsweise lange
Einstellungen aus, in denen die schnellen Schnittrhythmen der Kölner Aufnahmen fehlen. Neben diesen Stadt-, Landschafts- und Familienfilmen enthält der Nachlass auch Privatpornoszenen, vor allem eine längere Sequenz des onanierenden Brinkmann sowie einige Nacktaufnahmen seiner Frau. Wellershoff erinnert sich, Brinkmann habe »Schmalfilme vorgeführt, wo er wirklich onaniert hat. Er hat Leute zu sich eingeladen, und dann konnte man ihm zugucken. Der ganze Film handelte nur davon, wie er onanierte« (Wellershoff u. a. 1994, 123). Auch damit knüpft Brinkmann zum einen an Filmexperimente des amerikanischen Underground an, zum anderen aber handelt es sich auch um einen der vielen pornographischen Amateurfilme, die mit der seinerzeit neuen Technologie für das Heimkino produziert worden sind. »Alles, was er gesammelt hat, führt in ein Filmprojekt eigentlich hin, das war immer so«, merkt Maleen Brinkmann in einem Gespräch an (Bergmann 2007b, 1:01:50 h). Ein eigenes, für die Veröffentlichung vorgesehenes Filmwerk hat Brinkmann allerdings nicht realisiert, und auch seine Drehbuchprojekte, etwa für einen Film über einen Popsänger, an dem er 1968 für den Westdeutschen Rundfunk unter dem Arbeitstitel Der Abstieg arbeitete (Erk, 257), sind nie zu Ende gebracht worden. In den frühen 1970er Jahren begann er noch einmal mit der Arbeit an einem Drehbuch und stand kurz vor seinem Tod offenbar in Kontakt mit dem Schriftsteller und Regisseur Ulf Miehe, für den er, so Maleen Brinkmann, in München als Regieassistent hatte arbeiten wollen (Bergmann 2007b, 1:01:34 h). Literatur
Battcock, Gregory (Hg.): The New American Cinema. A Critical Anthology. New York 1967. Bergmann, Harald: Brinkmanns Zorn (3 DVD). DVD 1: 1967–70 – Die Super-8 Filme. Deutschland: Neue Visionen 2007a. Bergmann, Harald: Brinkmanns Zorn (3 DVD). DVD 2: 1971–73 – Arbeitsbücher und Collagen. Deutschland: Neue Visionen 2007b. Bergmann, Harald: Brinkmanns Zorn (3 DVD). DVD 3: 1973–75 – Die Tonbänder. Deutschland: Neue Visionen 2007c. Blaser, Patric/Harald Bergmann: Film nach Worten. Harald Bergmanns Film Brinkmanns Zorn (D 2006). Patric Blaser im Gespräch mit dem Regisseur. In: Manfred Mittermayer/Patric Blaser/Andrea B. Braidt/Deborah Holmes (Hg.): Ikonen Helden Außenseiter. Film und Biographie. Wien 2009, 187–194. Brinkmann, Rolf Dieter: Chelsea Girls. In: Kölner StadtAnzeiger, 28.12.1968. Di Bella, Roberto: »...das wild gefleckte Panorama eines ande-
44 Filme ren Traums«. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg 2015. Diederichsen, Diedrich: Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste. Berlin 2017. Gemünden, Gerd: The Depth oft he Surface, or, What Rolf Dieter Brinkmann Learned from Andy Warhol. In: The German Quarterly 88/3 (1995), 235–250. Göllner, Sebastian: Das Bild bedrängt das Wort: Rolf Dieter Brinkmanns visuelles Konzept am Beispiel der Abbildungen und Fotografien in »Rom, Blicke«. Marburg 2014. Hagen, Jens: mach mal bitte platz, wir müssen hier stürmen. Als der Beat nach Deutschland kam. Fotografien von Jens Hagen. Köln 2000. Hein, Birgit: Film im Underground. Von seinen Anfängen bis zum Unabhängigen Kino. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1971. Hein, W & B/Christian Michelis/Rolf Wiest (Hg.): XSCREEN. Materialien über den Underground-Film. Köln 1971. Herzogenrath, Wulf/Gabriele Lueg (Hg.): Die 60er Jahre. Kölns Weg zur Kunstmetropole: Vom Happening zum Kunstmarkt. Köln 1986. Heubach, Friedrich Wilhelm: »Out of the Scene«. Literarische und verlegerische Aktivitäten. In: Köln 3 (1969), 177– 180. Kirchmann, Hans: Besuche bei Kölner Autoren. In: Köln 3 (1969), 161–166. Klein, Georg: Ein Dichter auf Bilderjagd in der verletzenden Welt. In: Süddeutsche Zeitung (20./21.10.2007). Kobold, Oliver/Jochen Wobser: Wie aus den Zitaten rauskommen? Die anderen Äußerungen des Rolf Dieter Brinkmann. Radioessay, SWR 2015. Michalka, Matthias (Hg.): X-SCREEN: Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre. Köln 2004. Paech, Joachim: Die Töne und die Bilder: Brinkmanns Zorn (Harald Bergmann 2005). In: Eugenio Spedicato/Sven
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Hanuschek (Hg.): Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen. Würzburg 2008, 183–195. Röhnert, Jan: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie: Cendrars, Ashbery, Brinkmann. Göttingen 2007. Rüger, Wolfgang: Direkt aus der Mitte von Nirgendwo. Bruchstücke zu Leben und Werk von Rolf Dieter Brinkmann. In: Gunter Geduldig/Marco Sagurna (Hg.): Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, 67–86. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schäfer, Jörgen: The Making of Pop Literature. Rolf Dieter Brinkmann und sein Kölner Freundeskreis. In: Dirk Matejovski/Marcus S. Kleiner/Enno Stahl (Hg.): Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region. Essen 2008, 103–124. Schley, Fridolin: Die Achte Welt. Fünfzig Jahre Super 8. Berlin 2014. Schröder, Jörg: Zum harten Kern. Über Rolf Dieter Brinkmann. Fuchstal 1992. Stahl, Enno: »Kulturkampf« in Köln. Die XSCREEN-Affäre 1968. In: Geschichte im Westen 22 (2007), 177–200. Tyler, Parker: Underground Film. A Critical History. London 1969. Weingart, Brigitte: In/Out. Text-Bild-Strategien in Pop-Texten der sechziger Jahre. In: Wilhelm Voßkamp/Brigitte Weingart (Hg.): Sichtbares und Sagbares. Köln 2005, 216– 253. Wellershoff, Dieter/Gunter Geduldig/Marco Sagurna: »...ein großes Problem in der Welt zu sein«. Ein Gespräch mit Dieter Wellershoff. In: Gunter Geduldig/Marco Sagurna (Hg.): Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, 109–128.
Jörgen Schäfer
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45 Wie ich lebe und warum Die Fotofolge »Wie ich lebe und warum« wurde in zwei verschiedenen Versionen publiziert: 1970 im Sammelband Trivialmythen, herausgegeben von Renate Matthaei im März-Verlag (hier: [67]–[73]), und in einer »Neufassung 1974« (FW, 310) mit leichten Veränderungen (vgl. FW, 143–[149]) in der von Maleen Brinkmann posthum vorgenommenen Zusammenstellung Der Film in Worten (1982). Beide Bilderfolgen umfassen sechs Seiten, welche aus je zwei neben- und drei untereinander montierten SchwarzWeiß-Fotografien bestehen; eine Struktur, die sich in den Fotosequenzen des Gedichtbands Westwärts 1&2 wiederholt (vgl. Ww, vor 1 und nach 335). In »Wie ich lebe und warum« ist jeweils Brinkmanns Lebensraum in Köln zu sehen, seine Wohnung und deren unmittelbare Umgebung. In der überarbeiteten Version sind einzelne Bilder auf einer anderen Position und mehr Außenaufnahmen eingefügt; es fehlen die Darstellungen von Brinkmanns Frau und Sohn in der Wohnung; zu sehen sind jetzt (vermutlich Brinkmanns) Beine und Schuhe. Die Bilder stehen durch Auswahl und Inszenierung der Objekte (s. Kap. 12) und durch die Wiederholung einzelner Motive (wie beispielsweise ein Dachfenster) in enger Verbindung. Auch ist in beiden Versionen das erste Bild die leicht geöffnete Wohnungstür, während das letzte die geschlossene Haustür zeigt. In beiden steckt der Schlüsselbund, so dass der Eindruck entsteht, man werde von Brinkmann in seinen Mikrokosmos mit hineingenommen und am Ende wieder hinausbegleitet. Dazwischen finden sich Aufnahmen eher ungewöhnlicher Ausschnitte seiner Wohnung und Nachbarschaft: Müll und Schrott, sanitäre Anlagen, kaputte Rollläden, Berge von Altpapier, der Blick auf dunkle Hinterhöfe oder Straßenfluchten. Die symmetrische Setzung der Bilder in Verbindung mit der Rahmung durch die Aufnahmen der Türen, legt eine Leserichtung nahe und provoziert so eine textverwandte Rezeption, welche Steinaecker folgendermaßen beschreibt: »Das einzige – in beiden Fassungen – insgesamt fünfmal und damit fast auf jeder Seite wiederkehrende Motiv, die Ansicht von Treppenstufen, fungiert dabei semantisch als Scharnierstück zwischen den wechselnden Schauplätzen und semiotisch als Satzzeichen. Erfolgt doch die Anordnung der Fotos hier, anders als in den Collagebüchern, syntagmatisch: Die ›Serie‹ wird zum Text, der eben nicht nur das ›Wie‹ der Lebensweise zu zeigen versucht, sondern auch [...] das ›Warum‹« (Steinaecker 2007, 165 f.).
Das titelgebende »Wie ich lebe« bezieht sich dabei ebenso auf die Tatsache der Dokumentation des Lebensraums, als auch auf die Art der Darstellung und Präsentation dessen, während das »Warum« über das vermeintlich Faktische, Sichtbare hinaus, Bezug nimmt zu anderen Kategorien der (existentiellen) Bedeutungszuschreibung. Damit ist auch Brinkmanns Selbstverständnis als Künstler und Autor visualisiert. Die Bildfolge ist durch ihre Benennung und Gestaltung intermedial ausgerichtet und nimmt Bezug zu sprachlichen Sinngebungsverfahren, während die Abbildungen ihre Stärke bewahren. Ihre Erscheinung als reine Oberfläche schafft einen Freiraum der Deutung. Ähnlich äußert sich die Erstherausgeberin über Brinkmanns Beitrag in ihrem Vorwort: »Brinkmann zeigt des Private als triviale Fiktion unmittelbar: in einer Serie von Fotos aus seinem ›Millieu‹. Literatur reflektiert er hier in einem anderen Medium als das, was sie tatsächlich für ihn ist: als ›Bild‹, das die Kamera seiner Sensibilität der Umwelt entnimmt, verändert und reproduziert [...]. Insgesamt ist das, was vorliegt, ein Konzentrat der Oberfläche, die, gerade weil sie sich als Oberfläche versteht, auch mehr ist: Poesie und Polemik« (Matthaei 1970, 8–10). Brinkmanns Fotoserie ist auch eine visuelle Spur seiner Poetologie (s. Kap. 15): Sie ist eine Dokumentation des radikal subjektiven Blicks in der möglichst konkreten, künstlerischen Darstellung, welche in der Lage ist, »eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus« (Ww, 9). Durch die dabei entstehende Bewegung in der Abfolge von Bildern, rückt diese Arbeit zudem in die Nähe intermedialer Auseinandersetzungen Brinkmanns mit dem Filmischen (s. Kap. 13, 44). Somit kann die Fotosequenz auch als eine Visualisierung seines Diktums verstanden werden: »denn das Leben ist ein komplexer Bildzusammenhang. Es kommt darauf an, in welchen Bildern wir leben und mit welchen Bildern wir unsere eigenen Bilder koppeln« (Silverscreen, 8). Literatur
Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Dies.: (Hg.) Der Film in Worten. Reinbek bei Hamburg 1982. Matthaei, Renate (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970. Matthaei, Renate: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970, 7–10. von Steinaecker, Thomas: Literarische Foto-Texte: zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007.
Stephanie Schmitt
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_45
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46 Chicago Die Fotofolge Chicago, welche erstmals und posthum in der Zusammenstellung Der Film in Worten publiziert wurde (1982; FW, 297–306), entstand während eines kurzen Ausflugs in die Metropole, als Brinkmann sich im Frühjahr 1974 bei entfernten Verwandten in der Nähe aufhielt. In einem Brief an Sheila, die Kommilitonin von Brinkmanns Freund Hartmut Schnell, schreibt er dazu: »having seen one day Chicago, going to bookstores, bying O’Haras great volume of poetry being not impressed by skyscrapers, seeing that rotten and vast surroundings of suburban« (BrH, 23). Schon hier klingt die für Brinkmann typische, ambivalente Einstellung gegenüber Amerika an, welche im Spannungsfeld zwischen seiner Begeisterung für die Sprache, die neue Poesie, Musik und Kunst und der Ablehnung zahlreicher Aspekte der Lebens- und Denkweise oszilliert (s. Kap. 3.2 und Kap. 4.1). Während des Kurztrips entstehen Schwarz-WeißFotografien, welche teilweise in die Bilderfolgen des Bandes Westwärts 1&2 eingehen und zur hier diskutierten acht Bögen umfassenden Sequenz Chicago arrangiert werden (sieben Seiten mit drei mal zwei Bildern nebeneinander und einer abschließenden Seite mit zweien untereinander). Ein gewisser Bezug zu Westwärts 1&2 ist zu erkennen, vor allem eine Ähnlichkeit der Bilderfolge zu den dort abgedruckten Fotoserien (vgl. von Steinaecker 2007 bzw. Di Bella 2011); zudem ist in der Neuauflage des Lyrikbandes ein gleichnamiges Gedicht Chicago eingefügt worden (vgl. Ww, 202–204; vgl. 335 und s. Kap. 24). Aus beiden künstlerischen Verarbeitungen der Eindrücke der Stippvisite geht hervor, dass es ein nasser, nebliger und windiger Tag gewesen sein muss. Auf den Bildern erschwert, neben der Unschärfe mancher Objekte, ein starker Dunst die Wahrnehmung von Einzelheiten. Zu sehen sind hauptsächlich Straßen und Häuser, berühmte Bauwerke der Stadt, welche teilweise auch im Gedicht benannt werden, zum Beispiel das Wrigley und das Marshall Fields Building oder die Marina Towers, ebenso wie ein »Striplokal, wo das Bild großer / amerikanischer Titten am Morgen // aufleuchtet« oder ein »[e]in toter Bagger / [...] am Straßenrand« (Ww, 203). Brinkmann scheint zu Fuß im Bezirk River North bzw. im Loop unterwegs gewesen zu sein, einer Gegend, die als Technologiezentrum und Geschäftsbezirk hauptsächlich aus Hochhäusern und repräsentativen Gebäuden besteht. Sehenswürdigkeiten, beispielsweise das Wrigley Building oder der Chase Tower, sind auf Brinkmanns Fotografien ebenso zu-
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fällig, ausschnitthaft und andeutungsweise zu erkennen, wie architektonische Besonderheiten bspw. das typische Chicago Window. Dass man bestimmte Wahrzeichen erkennt, ist elementar für den künstlerischen Betrachterstandpunkt. Durch die Beiläufigkeit der fotografischen Abbildung distanziert er sich vom Blick des durchschnittlichen Touristen und des professionellen Fotografen. Sichtbar wird der radikal subjektive Blick Brinkmanns, eine Bestandsaufnahme banaler und bekannter Objekte, die ihm wie zufällige Funde in den Weg geraten (s. Kap. 12). Der Rezipient wird mit auf die Tour durch Chicago genommen; im Laufe der Betrachtung entwickelt sich der Eindruck eines Rundgangs, da einige Objekte, wie die Brücke über den Chicago River, die auffällige Rundung der Marina Towers oder eine Tafel mit der Aufschrift ›Richard Himmel‹ aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen sind und so der Eindruck von Bewegung entsteht (s. Kap. 13). Auch kann die Tatsache, dass Brinkmann seine Eindrücke zur Fotoserie und zum Gedicht inspirierten, die getrennt publiziert wurden, verdeutlichen, wie Text und Bild ihre Möglichkeiten nutzen, bestimmte Wirkungen zu erzielen. Andreas Kramer bezeichnet das Gedicht als »komplexes Stadt- wie Reisegedicht, als lyrische[n] ›parcours‹ zwischen Orten und Zeiten« (Kramer 2012, 424) und kommt so auf die entstehende Dynamik zu sprechen. Sinngebungsverfahren mit medienspezifischen Mitteln kann man auch in der Fotoserie beobachten, etwa im Andeuten von Sinn: Während das Gedicht kritische Anspielungen auf Religion enthält, ist auf der Fotofolge direkt unterhalb des auffälligen Gebäudes Seventeenth Church of Christ, Scientist (Bl. 3v, Abb. Mitte links, vgl. Bl. 2r, unten links) das Schild eines Stripclubs mit einer nackten, aufreizend posierenden Frau abgebildet. So können Brinkmanns Fotofolgen auch als sichtbares Dokument seiner poetischen Verfahren und Einstellungen gelesen werden. Literatur
Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Dies. (Hg.): Der Film in Worten. Reinbek bei Hamburg 1982. Brinkmann, Maleen: Editorische Notiz. In: Dies. (Hg.): Westwärts 1&2. Reinbek bei Hamburg 2005. Di Bella, Roberto: Die Fotofolgen aus Westwärts 1&2. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Berlin/Boston 2012, 847–860. Kramer, Andreas: Chicago. In: Jan Röhnert/Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Berlin/Boston 2012, 420–430. von Steinaecker, Thomas: Literarische Foto-Texte: zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld 2007.
Stephanie Schmitt
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_46
VIII Wirkung und Editionsgeschichte
47 Zeitgenössische Rezeption 47.1 Wahrnehmung in der Presse: Person und Wirkung allgemein Rolf Dieter Brinkmanns literarische Tätigkeit wurde bereits in ihren Anfängen von der Presse beobachtet. Früh stand dabei mehr als bei anderen zeitgleich wirkenden Autoren Brinkmanns Person im Fokus der Rezensenten. Rolf Dieter Brinkmann war – und das hält bis heute an – ein Autor, an dem sich die Geister scheiden: ein Mythos, Objekt oft unreflektierter Verehrung für die Einen, für die Anderen Hassfigur mit Unverständnis für seine Art und seine Literatur bedacht. Das heißt aber nicht, dass zentrale Aspekte in Brinkmanns Werk – die Subjektivität, die Genauigkeit der Wahrnehmung, die Beeinflussung durch die amerikanische Underground- und Alltagslyrik genauso wie der Bruch damit – von den Zeitgenossen nicht bereits deutlich registriert worden wären. Auf den ersten Blick meint man, zwei große Zäsuren in der Rezeption identifizieren zu können, zunächst ist es der ›Maschinengewehr‹-Eklat in der Akademie der Künste, dann sein früher Tod. Die Bewertung der ersten Zäsur ist jedoch diskussionswürdig, denn – anders als häufig dargestellt – ist es nicht ausgemacht, dass Brinkmann nach seiner Attacke auf Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki tatsächlich die ›persona non grata‹ des deutschen Literaturbetriebs wurde, er deshalb in der Versenkung verschwand, also bewusst totgeschwiegen wurde. Vielmehr weist einiges darauf hin, dass er selbst seine Position zu diesem Zeitpunkt radikal wandelte, womit eine literarische Krise einherging. Für mehr als fünf Jahre verstummte er fast völlig. Und worüber hätten die Rezensenten denn schreiben sollen, wenn von ihm nichts mehr erschien? Dazu später mehr. Die ersten Zeitungsreaktionen auf Brinkmann waren keineswegs unfreundlich, bereits die Erzählung Grube (1963) im von Dieter Wellershoff herausgegebenen Sammelband Ein Tag in der Stadt fand explizite Erwähnung (Mennemeier 1963). An die kurze Erzählung Bootsfahrt (aus der Anthologie Neunzehn deutsche Erzählungen. Bücher der Neunzehn) wurde noch im Rückblick bei Rezensionen späterer Publikationen erinnert (Blöcker 1965; Gregor-Dellin 1966), was be-
legt, dass selbst diese unselbstständigen Beiträge auffielen. Seine erste eigenständige Prosaveröffentlichung wurde in mehreren großen Tageszeitungen besprochen, Heinrich Vormweg bezeichnete ihn als »handfestes Talent« (Vormweg 1965) und selbst Marcel Reich-Ranicki sah hier »große Möglichkeiten« sich ankündigen (Reich-Ranicki 1965). Erwähnt wurde auch seine Zugehörigkeit zu Wellershoffs sogenannter »Kölner Schule« (ebd., ebenso bei Blöcker 1965). Mit der Veröffentlichung des Romans Keiner weiß mehr, einhergehend mit seinem Pop-Engagement, wandelte sich sein öffentliches Bild – weg vom Talent hin zum Rebellen: »Brinkmann, ein untersetzter Gesinnungsunrasierter mit schlaksigem Mundwerk« schrieb der Spiegel (N. N. 1968, 126). Karl Heinz Bohrer galt er als »genialisch ungebärdig, von Beginn an gefährlich intensiv« (Bohrer 1968). Sein provokantes Auftreten als Mit-Herausgeber und Programmatiker von Acid, dazu seine Rolle als Apologet Leslie A. Fiedlers in der diesem gewidmeten Feuilleton-Debatte (Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter) ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Vom Betrieb war er, wenn nicht gehätschelt, so doch behutsam behandelt worden, nun vergalt er es ihm mit brüsker Gebärde. Von der Linken wurde dieses BürgerschreckImage allerdings mit Hohn und Spott bedacht: »Der Autor [...] prustet eher wie ein Walroß, das in einem Tintenfaß auftaucht« (konkret 1968, 43) und Yaak Karsunke bezeichnete ihn als »Vorgartenzwerg der US-Pop-Szene« (Karsunke 1970). Die bereits erwähnte Skandal-Veranstaltung in der Akademie der Künste fand am 24. November 1968 statt – sie stand in einer Reihe von Diskussions-Abenden unter dem Titel »Autoren diskutieren mit ihren Kritikern«. Zwei Sonntagabende waren relativ ereignis- und ergebnislos verlaufen, das Konzept, das Peter Härtling initiiert hatte, stieß auf deutliche Kritik, als »Fehlinszenierung einer Falschmeldung«, wie die Kritikerin Sibylle Grack es nannte, und dazu geeignet, »Literaten in Grabsteine zu verwandeln« (Grack 1968b). Dann kam die bewusste Veranstaltung, an der neben Brinkmann Thomas Bernhard sowie die Kritiker Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki teilnahmen. Schon Bernhard ließ es nicht an Provokationen fehlen, weigerte er sich doch, neben Reich- Ranicki Platz zu nehmen, bezichtigte Hartung, nur
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_47
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Schwachsinn zu produzieren, und verließ dann überhaupt den Saal (vgl. Michaelis 1968; Grack 1968b). Nun kam Brinkmanns Auftritt. Sibylle Grack, die über diesen Abend gleich zwei nicht deckungsgleiche Artikel absetzte, in der Zeit und in der Stuttgarter Zeitung, äußerte den Verdacht, dass er »seinem Kollegen [Bernhard, Anm. E. S.] den Löwenanteil am Fiasko des Abends und der Abende nicht gönnte und auch seinen Skandal haben wollte« (Grack 1968a). Er habe dann gesagt: »Ich müßte ein Maschinengewehr haben und Sie über den Haufen schießen.« Nach Ansicht der meisten Pressevertreter war damit Rudolf Hartung gemeint, (ebd., Grack 1968b; Aichinger 1968), und gar nicht etwa Marcel Reich-Ranicki, der sich in der Folge stark als alleiniges Opfer dieser Attacke stilisierte. Nur Rolf Michaelis, der übrigens auch etwas anders zitierte (»... Sie alle über den Haufen schießen« [Hervorhebung E. S.]), bezog Brinkmanns Äußerung auf das gesamte Publikum. Nach Aussage Aichingers hätten aber die Besucher das ebenfalls auf sich gemünzt und nach diesem Ausruf Brinkmanns in Scharen den Saal verlassen (Aichinger 1968). Insgesamt ist zu sagen, dass sich die Empörung der Rezensenten über Brinkmann speziell in Grenzen hielt – vielmehr galt die Hauptkritik der verfehlten Veranstaltungskonzeption; der Ärger über Thomas Bernhard war kaum geringer als der über Brinkmann, schon da sei – so Grack – das Maß voll gewesen, Brinkmann nur »brachte es zum Überlaufen« (Grack 1968b). Aichinger verwies sogar darauf, wie wenig Aufruhr Brinkmanns Wortmeldung, auch auf Seiten der Presse, bewirkt hätte, wenn es sich um eine studentische Veranstaltung gehandelt hätte. In diesen politisch extrem aufgeladenen Zeiten ist dies tatsächlich nachvollziehbar. Ihm schien der Eklat eher auf eine unüberbrückbare Kluft zwischen Autoren und ihren Kritikern hinzudeuten, welche die anderen Rezensenten ebenfalls indizierten. Obwohl Grack menetekelte: »Man wird Brinkmann diese totale Bankrotterklärung nicht vergessen« (Grack 1968a), kann man annehmen, dass seine Entgleisung allein kaum der Grund gewesen sein dürfte, dass Brinkmann so rückhaltlos aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand, wie es tatsächlich geschah. Es wurde ab 1970 sehr still um ihn, jedoch, wie bereits vermerkt, bis auf einige Radioarbeiten, die immer etwas am eigentlichen Literaturbetrieb vorbeilaufen, veröffentlichte er eben auch fast nichts, war in Rom, war in Austin und vollzog vor allen Dingen einen fulminanten Bruch mit der Pop-Kultur. Das heißt auch: mit den Bewegungen des Aufbruchs, sei es die hedonistische Hippie-Variante, die neu aufkommende Öko-
und Selbsterfahrungsbewegung oder die politischstrikte Linie der K-Gruppen, wie sie sich nach dem verpatzten Aufstand in den 1970er Jahren neu konstituierten: »Brinkmann wurde nicht mundtot gemacht, wie die Legende es will, eher sanken seine hochgespannten Erwartungen in ihr eigenes Fundament zurück.« (Gross 1995) Intimere Details verriet seine Witwe Maleen Brinkmann: In einem Interview 1987 erzählte sie, dass er nach der Herausgabe von Acid quasi zur Pop-Ikone avanciert war, massenhaft Leute seien zu ihnen in die kleine Kölner Wohnung gekommen und hätten eine Autorität aus ihm machen wollen, was er gehasst habe (Praschl 1987, 73). Brinkmanns Reaktion darauf fiel wie so oft sehr harsch aus: »er wollte nichts mehr veröffentlichen, als Autor unbekannt werden, um forschen zu können. Die Freunde waren abgeschafft worden, M. die einzige Gesprächspartnerin.« (Ebd., 74) Zu diesem Zeitpunkt zeichnen sich also zwei Zäsuren in Brinkmanns Werk und Wirken ab: (1) die Ablösung von der Wellershoff-Schule und damit verbunden die Hinwendung zur Pop-Kultur; (2) der Bruch mit der Pop-Kultur. Diese Zäsuren sind zeitlich nicht parallel mit der veränderten Wahrnehmung Brinkmanns anzusetzen, aber sie beide gemeinsam bewirkten anscheinend den Rezeptionswechsel. Das über Pop und Underground annoncierte Rebellentum Brinkmanns kündigte eine Attacke auf die Literatur und den sie verwaltenden Betrieb an, die sich durch die Abkehr vom Pop zu einer forcierten tiefgreifenderen Revolte selbst gegen die Feinde des Betriebs, seine ehemaligen Mitstreiter, und nicht zuletzt wohl auch gegen das Leben selbst entwickelte. Der Autor erschien nun als verbittert-verzweifelter Einzelkämpfer mit bisweilen Don-Quijotehaften Zügen. Schon rein äußerlich versuchte er sich nun an einer diametral entgegengesetzten Selbststilisierung: Hatte er sich kurz vorher noch nach der neuesten Pop-Mode gekleidet, verwandelte er sich jetzt zum Spießer, ein Imagewechsel, der gerade von Seiten der Zeitungen nicht recht verstanden wurde und noch nach seinem Tod Anlass zu Spott und Häme gab, etwa bei Thomas Gross, der 1995 darüber staunte: »wie sich hier ein über 30jähriger, biologisch erwachsener Mann zum eiskalten Rächer stilisiert, eine oft unfreiwillig komische Figur in Staubmantel und einer Art Konfirmandenanzug, aus dessen Ärmel unversöhnlich die gestärkten Manschetten herausragen.« (Gross 1995) Natürlich waren das Anzeichen einer tiefen Krise, nicht nur des literarischen Schaffens, sondern des Lebensentwurfes insgesamt – bekanntlich lebte die Fa-
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milie Brinkmann nahezu jenseits des Existenzminimums: Ob und wie dieser innere und äußere Konflikt sich hätten auflösen lassen können, darüber lässt sich nur spekulieren. Brinkmann selbst beraubte der frühe Tod, kurz vor dem bereits angekündigten Erscheinen von Westwärts 1&2, einer möglichen Synthese. Sein tödlicher Unfall wurde zunächst nur über kurze Agenturmeldungen verbreitet. Wenig später, nämlich mit dem posthumen Erscheinen des Buches, stellten die Artikelschreiber umso mehr Gedanken über diesen komplizierten Autor an. Hans Christoph Buch wies interessanterweise darauf hin, dass man – im Falle Brinkmanns – die Politik nicht auf die Bewertung der Dichtung übertragen dürfe, gerade im Hinblick auf die ›Maschinengewehr-Attacke‹ und die daran anschließenden kulturpolitischen Kontroversen. Allerdings erinnerten gar nicht viele der posthumen Pressereaktionen an die Veranstaltung in der Akademie der Künste. Der von Brinkmann geschmähte ReichRanicki selbst machte natürlich aus seinem Herzen keine Mördergrube, versuchte aber zur gleichen Zeit, Brinkmann (auf seine Art) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: »Er war ein unzurechnungsfähiger Poet. Aber er war ein Poet. Von Anfang an ging er aufs Ganze: trotzig, radikal und rücksichtslos.« (Reich-Ranicki 1975) Ein »ambivalentes Verhältnis [...] zu den Phänomenen« attestierte er ihm: »So konsequent er seinen Abscheu artikulierte, sowenig wollte er verheimlichen, dass er zugleich fasziniert war«, den Roman Keiner weiß mehr bezeichnete Reich-Ranicki als »einen trotzig hingeworfenen Brocken Prosa, kühn und vehement, schonungslos und intensiv wie nur wenige deutsche Romane der sechziger Jahre.« (Ebd.) Franz Norbert Mennemeier sah in ihm einen auf radikale Weise Unfertigen, doch mache dieses »Unfertigsein im Fall des Rolf Dieter Brinkmann die Signatur seines Vollendetseins aus«, gerade deshalb sei er »Repräsentant seiner Generation, einer Epoche, die selber unfertig war und ist« (Mennemeier 1975). Für A. Schmitz ist er ein »Adept, ein Schüler, ein technischer Gründlichkeitsfanatiker, aber kein Innovator im traditionellen Sinne.« Demnach sei er zu früh gestorben, bevor er tatsächlich zu etwas Bleibendem gelangt sei: »Auf dem Weg zum meisterhaften Gedicht hat ihn in London ein Auto ermordet.« (Schmitz 1975) Damit wird paradigmatisch eine durchlaufende Schiene der Rezeption formuliert: nämlich der Zweifel daran, ob Brinkmanns Lyrik und Prosa tatsächlich schon Gültigkeit besäßen oder noch quasi Fragment, Probezustand seien und daran anschließend die Frage, ob er als Autor wirklich kanonisiert werden könne.
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In Kreisen, die weniger literaturgeschichtlich motiviert waren, scheint sich diese Frage allerdings schnell entschieden zu haben, Leser, Autoren, Zeitgenossen inthronisierten Brinkmann zum Zeugen für ihr eigenes Unbehagen in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, so konstatierte Jürgen P. Wallmann, dass Brinkmann gerade mal fünf Jahre nach seinem Tod »zu einem Klassiker der jüngeren deutschen Literatur erhoben worden« sei: »zu einer Art Kultfigur, auf die sich die Adepten einer alltäglichen und radikal subjektiven Poesie berufen« (Wallmann 1981). Dieser Entwicklung mute durchaus etwas Makabres, ja Zynisches an, stellte etwa der Vorwärts fest, man grabe Schülerpoesie aus seiner Feder aus und feiere die posthumen autobiographischen Veröffentlichungen wie eine Offenbarung: »Für Brinkmann, geschnitten und halb vergessen vom Literaturbetrieb, wurde ›Westwärts 1 & 2‹ ein Wiedereinstieg, weil es sein Abgang war. Der Unfalltod als Public Relation: Das bedeutete im Nachhinein eine Bestätigung für Brinkmanns verzweifelte Wut.« (Riewoldt 1980) Dennoch war dieser Kultstatus alles Anderes als unumstritten, zumal eine objektive »Bestimmung des literaturgeschichtlichen Stellenwerts Brinkmanns im supranationalen Literaturvergleich«, wie Franz Norbert Mennemeier festhielt, noch ausstehe. Die Einen – so Mennemeier – überhöhten ihn, für sie befinde er sich »außerhalb jeder Diskussion«, die Anderen verteufelten ihn »als eine dubiose Gestalt, unfertig, maßlos, nervös-infantil« (Mennemeier 1983). Gleichzeitig gab es aber auch stets Versuche, Brinkmann als Autor und als Mensch zu begreifen, ihn grob auf eine Formel zu bringen oder auch subtiler den Widersprüchen in Werk und Wesen nachzuspüren: Im Grunde sei er »Pathetiker, ein sentimalischer Autor, zugleich aber auch ein Mann des Mißtrauens gegen Verbrüderungsangebote« (Greiner 1981), »ein Wilder und Fremder war er; kein ›zwingender‹ Denker«, »ein radikaler und anarchischer Einzelkämpfer gegen intellektuelle Entfremdung und Wirklichkeitsverlust« (Kreimeier 1982). Man suchte die Gründe für seinen Zorn, seine Unerbittlichkeit, sein Verstummen in der Kindheit: »Es war das ›damned myself‹ der Engländer, das er nicht loswurde, wohl bis zuletzt nicht, wie Kindheit, mieses Milieu und anderes, das ihn zunehmend quälte.« (Krolow 1987) Oder man entdeckte sie in einer Aporie seines Schreibansatzes: »Die Ich-Befindlichkeit wurde mehr und mehr zum einzigen Thema. Mit extremer Selbstentäußerung wurde Brinkmann zum Objekt, das sich fortan ›formulierend wehrte‹ [...] Es war nichts als logische Konsequenz, dass der Hy-
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persensible an jenem Punkt angelangt war, wo es nichts linear Komponiertes mehr zu erzählen gab. Der solchermaßen in die Isolation gedrängte Brinkmann zog sich deshalb nach 1970 aus der Öffentlichkeit des Literaturbetriebs zurück.« (Vogler 1987) Auffällig ist, dass gerade nach Brinkmanns Tod die Rezeption nicht etwa allmählich abebbte, sondern sich erheblich intensivierte, mehr als zu Lebzeiten wurde über ihn geschrieben, wissenschaftliche Untersuchungen, die nun gehäuft auf den Plan traten, aber auch Zeitungsreaktionen. Letzteres hatte auch mit der Veröffentlichungspolitik Maleen Brinkmanns zu tun – man kann Einiges dagegen sagen, aber die häppchenweise erfolgenden Publikationen von Nachlassmaterial, angefangen von Rom, Blicke über die übrigen Tagebuchbände, die Gedichtsampler und -neuauflagen, die Briefe an Hartmut – diese »Neuerscheinungen« alle paar Jahre boten immer wieder Aufhänger für eine Beschäftigung mit Brinkmann. Auch Zeitzeugen meldeten sich zu Wort, etwa der Schriftsteller Hermann Peter Piwitt, den Brinkmann in Rom, Blicke ziemlich schlecht hatte aussehen lassen – er, der Brinkmann ausgerechnet bei der Akademie-Veranstaltung kennen gelernt und sich in der Folge mit ihm lose befreundet hatte – mokierte sich über die modische Brinkmann-Begeisterung: »als Kultfigur scheint er auf eine Nachwelt von Nekrophilen gekommen zu sein: denn kaum war der unzumutbar gewordene Löwe tot, sang alles, was ihm vorher lieber nicht begegnete, das Lob seiner Größe und Wildheit.« Er dagegen habe ihn ganz anders in Erinnerung: »ein kleiner dicklicher Mann, der sich wie eine große Kartoffel durch die Straße bewegte und später wie verzaubert auf einen stillen verkrauteten Hinterhof heruntersah.« (Piwitt 1994) Ist das ein Nachkarten für die despektierliche Behandlung in Rom, Blicke? Vielleicht, zumal er betonte, wie sehr er persönlich Brinkmann geholfen habe, das Rom-Stipendium hätte Brinkmann ihm zu verdanken (»gegen eine Jury, die ihn nicht wollte«) und auch bei Rowohlt habe er Westwärts 1&2 gegen Widerstände durchgesetzt. Doch er formulierte auch recht eindrücklich, was die Literatur Brinkmann verdankt: »Er hat uns sehen gelehrt. Er hat das Alltäglichste, das Allergewöhnlichste notiert mit dem staunenden Blick des Externen, als sähe er es zum ersten Mal; so daß wir es wiedererkennen.« (Ebd.) Dieses Motiv des genauen Hinschauens, es wird uns noch prägnanter begegnen in der Behandlung der Einzelwerke, diese Qualität von Brinkmanns Schreiben wurde von Beginn an geschätzt. Der Lyriker Jürgen Theobaldy, ein unmittelbarer
Zeuge von Brinkmanns Tod in London, schilderte auf bewegende Weise dessen letzte Stunden. Ihm gegenüber habe Brinkmann schon darüber gesprochen, dass nach der Podiumsdiskussion mit Reich-Ranicki »nicht mehr viel gegangen« sei (Theobaldy 2000, erstveröffentlicht 1985). Zahlreiche Pläne habe er entworfen, unter anderem die Beendigung seines Studiums geplant. Von Westwärts 1&2 habe er nicht viel erwartet wegen seiner problematischen öffentlichen Position, aber auch weil er mit den Gedichten unsicher gewesen sei. Dieser Umstand, immerhin den Gedichtband betreffend, der heute gemeinhin als seine reifste lyrische Leistung gilt, zeigt, wie groß die Krise des Autors gewesen sein muss. Die wissenschaftliche Rezeption begann in den 1980er Jahren die gesamte Bandbreite des Brinkmannschen Œuvres abzustecken, insbesondere mit einigen Dissertationen (Lampe 1983; Urbe 1985; Späth 1986; Gross 1993). Diese Beschäftigung ist seitdem nicht mehr abgerissen. In den späten 1990er Jahren erlebte die Wahrnehmung Brinkmanns im Zuge der aufkommenden Popliteratur noch einmal einen großen Aufschwung, ein Zusammenhang, den auch der Kritiker Lothar Müller bemerkte: »Jetzt, wo die jüngere Literatur wieder einmal ihr Heil in der Musik sucht [...], jetzt ist plötzlich auch Rolf Dieter Brinkmann wieder da.« (Müller 1999) Auffällig ist in der Tat, dass man zur Behandlung der damals heiß umstrittenen ›Oberflächentexte‹ der Krachts, Stuckrad-Barres u. a. nun generell auf Rolf Dieter Brinkmann rekurrierte. Mit Jörgen Schäfers Untersuchung zur Rolle Brinkmanns für das Popverständnis in Deutschland und zu seinem Einfluss auf spätere literarische Strömungen wurde dieser Perspektive ein solides wissenschaftliches Fundament gelegt (Schäfer 1998). Auch in anderen Monographien zur Popliteratur (Ullmaier 2000; Schumacher 2003; Baßler 2002) bildet Brinkmann stets den Ausgangspunkt zur Definition des Begriffs und seiner Geschichte. Mehr noch: egal wie das Urteil über die neuen Pop-Literaten ausfiel, gut oder schlecht, immer stellte Brinkmann den Bewertungsmaßstab dar (vgl. Stahl 2007, 22; Stahl 2008, 70). Das heißt aber auch, dass er in dieser Zeit ziemlich monothematisch auf die dafür einschlägigen Texte reduziert wurde, also auf die Essays (Frank O’Hara, Film in Worten usw.); sein lyrisches Werk mag dabei in jenen Teilen, die Pop-Referenzen aufweisen, noch ein wenig in den Blick gefallen sein, seine sonstige Prosa dagegen fand kaum noch Beachtung. Brinkmann war inzwischen, genauer: seit etwa
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Mitte 1990er Jahre, eine bekannte, ja kanonisierte Gestalt der 1960er-, 1970er-Literatur geworden, an die man sich offensichtlich so sehr gewöhnt hatte, dass man ihn schon in relativ lässiger Weise behandeln konnte. Vielleicht stand dieser mitunter flapsige Umgang aber auch repräsentativ für einen prinzipiellen Wandel im Kulturjournalismus, hin zu einer Feuilletonauffassung, wie sie auch in unseren Tagen noch vorherrscht. Brinkmann diente manchen Autoren anscheinend nur mehr als Vorschub für eigene Profilierungsabsichten, etwa um ihre Schreibkunst zu entfalten, zum Beispiel für Thomas Gross, der Brinkmann nachsagte, »die lustigste Innovation seiner Karriere« sei »die Einführung des produktiven Rumhängens in die deutsche Literatur« gewesen (Gross 1995). Genüsslich strich er die Provinzialität von Brinkmanns Kölner Lebensumständen heraus: Warhols Factory sei »das leuchtende transatlantische Vorbild für dichterische Rotweinparties im Hause Brinkmann in einer Kölner Seitenstraße des belgischen Viertels« gewesen »von heute aus gesehen auch ein rührender Versuch, unter den provinziellen deutschen Bedingungen bohemistische Internationale zu spielen, aber doch nicht ohne Modellcharakter und Folgen.« (Ebd.) Man fragt sich, woher der Rezensent so genau wusste, was Brinkmann und sein Kreis im Sinne hatten. Gerade Brinkmann ist ja nun ein Autor gewesen, der wie kein zweiter die Mickrigkeit seines bundesrepublikanischen Alltagslebens voller hasserfüllter Bitternis ausstellte und geißelte. Sollte man ausgerechnet ihm diese Provinzialität vorwerfen? Ursula März, freie Journalistin und einst Bachmannpreis-Jurorin, schlug in dieselbe Kerbe, indem sie folgendes Bild des Autors vermittelte: »Zum Fürchten streng, eine Festung der Konvention, zur Abwehr liberaler Lässigkeiten und dekadenter Zumutungen bereit, so stellte sich Brinkmann seine Wirkung vor. Vermutlich wirkte er einfach lächerlich, wie er mit verbissenem Gesicht und Tanzstundengarderobe bei einem Vortrag von Jürgen Habermas im römischen Goethe-Institut herumstand und, ein untersetzter, zur Beleibtheit neigender Mann von 33 Jahren, seine seltsame Außenseiterschau abzog.« (März 1999) Bei seinem Rom-Aufenthalt habe er sich »nicht wesentlich von der Karikatur der deutschen Touristen« unterschieden, überhaupt sei »Brinkmanns geistige Verwandtschaft mit Alfred Tetzlaff [...] mindestens ebenso eng wie die mit Hanns Henny Jahnn.« (Ebd.) Daran mag Wahres sein, der pejorative Tonfall entspricht aber nicht unbedingt journalistischer Neutralität, ebenso wenig wie der Lothar Müllers, der Brinkmann
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als »ein unfrohes Rumpelstilzchen« titulierte, das den Mythos des großen Einzelgängers kultiviert habe, dabei aber nur das las und an Musik hörte, was alle anderen zur gleichen Zeit goutierten, somit also gar nichts Besonderes war (Müller 1999). Oder wenn Ursula März über das Schisma zwischen Brinkmanns Herkunft und wahrem Kulturbürgertum dozierte: »Sich Gedanken und Gedichte anzueignen ist eins. Sich habituell zu verpflanzen ein anderes. Man kann sich zur Sartre- und Foucault-Lektüre im Original erziehen, aber von polyglotter Gewandtheit noch ein, zwei Lebensjahrzehnte schmerzlich getrennt sein.« (März 1999) Hier wird restlos klar, wie sehr sie und andere Kulturjournalisten dieser Zeit sich ihrem Sujet Rolf Dieter Brinkmann überlegen wähnten. Eine Ausnahme machte hier ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki, 2003 antwortete er in der Rubrik »Fragen Sie Marcel Reich-Ranicki« auf eine Leserfrage, ob sich eine Gesamtausgabe Brinkmanns lohnen würde: »Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, daß mich diese Bücher in den sechziger und siebziger Jahren beeindruckten, und ich bedauere es keineswegs, mich für diesen Autor eingesetzt zu haben.« Dieses Votum schränkte er insofern ein, als dass er darauf abhob, dass Leute sich generell oft wehmütig mit 50, 60 an Bücher erinnerten, die sie früher lasen: »Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur muß man sich damit abfinden, daß manche Bücher, die in ihrer Zeit eine wichtige Rolle gespielt haben, sich im Laufe der Jahrzehnte überlebt haben. Womit ich nicht gesagt haben will, daß dies für Brinkmanns Werke gilt. Das sollten jüngere Kritiker entscheiden.« (Reich-Ranicki 2003) Dass er selbst seine Meinung über Brinkmann nicht groß geändert hatte, erweist sich schon darin, dass er sich in weiten Passagen dieses Textes selbst zitierte, indem er sie aus seinem Nachruf von 1975 fast wortgleich übernahm. Seine ehrliche Auskunft ist indes nachvollziehbar: Ob Brinkmann als Autor kanonisiert wird, ist tatsächlich zu jeder Zeit eine Frage gewesen, die nicht abschließend zu beantworten war, bis heute nicht. Denn sein literarischer Stellenwert ist noch immer nicht gültig ermittelt, die kultische Überhöhung, die Brinkmann von Zeitgenossen entgegengebracht wird, denen er geradezu prophetengleich ihr eigenes Unwohlsein in der bleiernen Zeit der Rest-BRD ausformulierte, kann für ein Weiterleben kein Garant sein, denn die Zeitgenossen sterben aus. Bei jüngeren Lesergruppen, Studierenden etwa, ist sein Name kaum bekannt und sein aufrührerisches Potential trifft auf wenig Verständnis bei einer Generation, der solche rebellischen Tendenzen mit selbstdestruktivem Beigeschmack eher fremd
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zu sein scheinen. Seit die Popliteratur in Vergessenheit geriet, ist auch dieser Wirkungsaspekt Brinkmanns wieder in den Hintergrund gerückt, was womöglich eine Chance sein kann. Das Eigentliche, was Brinkmanns Werk ausmacht, das endlich von seiner Person abgezogen werden muss, kann dann erst neu bewertet werden (vgl. Fauser 2015). Dazu aber wäre die Kenntnis von Brinkmanns Nachlass vonnöten. Da die Publikationen daraus allmählich versiegen, mehren sich Stimmen, die für eine gründliche wissenschaftliche Auswertung des Archivmaterials plädieren. In der Philologie ist das schon lange ein Thema, man fragt sich, ob es überhaupt noch unbekannte Texte und Unterlagen gibt, die das Bild Brinkmanns begradigen, relativieren oder aber untermauern könnten. Zuletzt wurde diese Frage auch in der Presse aufgeworfen (Cechin 2015), die Autorin berichtete über verschiedene vergebliche Versuche, an Auskünfte über Brinkmanns Nachlass zu gelangen. Im Gegensatz zu vielen anderen allerdings, die sich in dieser Sache engagierten, kam sie sogar in telefonischen Kontakt mit der Witwe, jedoch erbrachte ihre Unterhaltung das nüchterne Resultat: »Die Literaturwissenschaft allerdings, sie wird seit 40 Jahren vom Brinkmann-Nachlass ferngehalten – und das sehr bewusst. Brinkmann müsse nicht erforscht werden, findet Maleen Brinkmann. Wissenschaftler, Archive, sie alle hätten nur vor, Brinkmann zu vereinnahmen, aus dessen Werk für sich selbst Ruhm zu ziehen. Brinkmann habe die Literaturwissenschaft abgelehnt, also tue sie das auch, sie habe seine Haltung in dieser Beziehung verinnerlicht.« (Ebd.) Diese gewiss falsch verstandene Loyalität der Witwe zum Werk ihres Mannes behindert mittlerweile die Brinkmann-Rezeption gewaltig und gefährdet ihren Fortgang überhaupt. Es ist nicht ausgemacht, dass künftige Leser- und Forschergenerationen das Interesse an diesem Autor behalten, hier müssten durch fortgesetzte Analysen auf Basis des Gesamtbestandes Anreize geschaffen werden, thematische Anknüpfungsmöglichkeiten jenseits der Mär vom ewigen Rebellen zu suchen.
47.2 Die Wirkung der Werke im Einzelnen Brinkmanns erste drei Publikationen wurden zunächst nur im regionalen Bereich wahrgenommen. Ihr nennt es Sprache, Brinkmanns erster Lyrikband, in kleiner Auflage von seinem Freund Klaus Willbrand gedruckt, war überhaupt nicht in den Handel gelangt, da Brinkmann den Vertrieb untersagt hatte. So nimmt es nicht
Wunder, dass niemand auf dieses Bändchen reagierte. Erst Ende der 1970er Jahre, als die gesamte Restauflage wieder auftauchte, schrieb der Kölner Kritiker Georg Jappe darüber in der Zeit. Er meinte in Brinkmanns frühesten Gedichten Einflüsse von Benn, Céline, Artaud und Gracq zu erkennen und kam zu dem positivem Gesamtergebnis, dass es sich nicht um »ein liegengelassenes Frühwerk« handele, sondern alle Ansätze führten »von surrealistischen Symbolen entschlackt, direkt zu den aus dem Alltag erkannten Konstellationen in ›Le Chant du Monde. Gedichte 1963–1964‹« (Jappe 1979). Die Grube fand bei Franz Norbert Mennemeier ein gespaltenes Echo, er erkannte die erzählerischen Innovationen an, doch monierte er: »Freilich kontrastiert mit dem Pathos der Sprachgebärde das pubertär anmutende Erlebnissubstrat. Die radikale Diktion des Weltzerfalls ist geistig noch keineswegs gedeckt.« (Mennemeier 1963) Mehr konnte er offensichtlich Brinkmanns Lyrik abgewinnen, zu Chant du Monde notierte er: »Eine neue Einfachheit und Sachlichkeit des Ausdrucks ist angestrebt. Doch spielt ein hintergründiger, melancholischer ›Witz‹ über die scheinbar nüchternen Verse und gibt ihnen die unentbehrliche Tiefendimension. Manche dieser Gedichte gleichen Momentaufnahmen, die das Transitorische mit dem Reiz der Dauer suggestiv verbinden.« (Mennemeier 1966) Er attestierte Brinkmanns Gedichten einen »Sinn für Ökonomie« und betonte, dass es sich um »schlanke, graziöse Verse« handele, »die oft mit einer Pointe schließen« (ebd.). Brinkmanns erster eigener Erzählband Umarmungen vermochte nun schon wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Marcel Reich-Ranicki bezeichnete seinen Autor als »eine intensive und außergewöhnlich zielstrebige Begabung« (Reich-Ranicki 1965). Das Werk selbst sei »gewiß noch kein bedeutendes Buch. Und doch eine wichtige Publikation. Weil sie große Möglichkeiten ankündigt.« (Ebd.) Hier wurden bereits zentrale Charakteristika von Brinkmanns Schreibweise erkannt, und gleichzeitig dazu verwendet, um die jeweiligen Rezensenten für oder gegen den Autor zu positionieren: »Brinkmann teilt offenbar nur unmittelbar selbst Erfahrenes mit. [...] Von Technik kann also kaum die Rede sein.« (Vormweg 1965) Auch Reich-Ranicki bemängelte fehlendes handwerkliches Geschick, dafür aber lobte er Brinkmanns Talent, »bestimmte Reize der Umwelt zu empfinden und in sich aufzunehmen«, auch sein »aggressives und im tiefsten Sinne zwiespältiges Verhältnis zur Realität« entging ihm nicht (ebd.). Andere hatten weniger Gnade: »nur dumpfe, ungefilterte Subjektivi-
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tät«, eine »Überschärfung der Einzelwahrnehmung«, bloße »Detailwut« kritisierte Günter Blöcker in der FAZ (Blöcker 1965) und die Süddeutsche Zeitung befand, Brinkmann spinne »Schnüre von Froschlaich« aus seiner Muttersprache, »statt einmal einen Satz wie ein Bollwerk zu fügen oder ihn, einer stählernen Brücke vergleichbar, nach Art der Ingenieure, kühn von Anfang bis Ende zu spannen.« (Kramberg 1965) Brinkmanns Wahrnehmungsgenauigkeit wurde also von den Rezensenten übereinstimmend erkannt, nur bewertete man sie ganz unterschiedlich. Auch Martin Gregor-Dellin stellte die »Sensibilität des Autors«, »die Reizbarkeit seiner Sinne, das Wahrnehmungs- und Wiedergabevermögen für das unmittelbar Anschauliche« in seiner Rezension des zweiten Erzählbandes Raupenbahn heraus (Gregor-Dellin 1966). Er beanstandete daran allerdings, dass Brinkmanns Prosa zu sehr der Programmatik seines Mentors Wellershoff verpflichtet sei: »er hat nicht den Mut auszubrechen. Es wäre schade, wenn er sein Talent allzusehr in ein Korsett schnürte, das ihm offensichtlich nicht gut bekommt« (ebd.). Durchaus hellsichtig erkannte Gregor-Dellin hier bereits die »Sollbruchstellen«, die Brinkmann wenig später zu eigenen Schreibkonzeptionen führten. Die linke konkret dagegen verschloss sich diesen neuen Entwürfen komplett: Geschichten aus Raupenbahn gut zu finden, hieß es in einer nicht namentlich gekennzeichneten Rezension, sei »ein wahrhaft schöpferischer Akt. Es ist, als bezeichnete man die mittleren zwei Ziegel einer Reihe von 60 als die freundlichsten.« (konkret 1966, 45) Während der schmale Gedichtband Ohne Neger, in einem Kleinstverlag erschienen, kaum Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde der Roman Keiner weiß mehr breit rezipiert und kann als Brinkmanns Durchbruch in der literarischen Öffentlichkeit gelten. Dementsprechend hat Marcel Reich-Ranicki mit seiner Behauptung sicher Unrecht, die Skandal-Veranstaltung in der Akademie der Künste habe Brinkmann ein stärkeres Echo als seine Bücher eingebracht: Die Brinkmann-Bibliographie weist nur sieben Artikel zum AdK-Event, aber knapp 50 (!) Reaktionen in Zeitungen und Zeitschriften zu Keiner weiß mehr nach (vgl. Geduldig/Wehebrink 1992, 133/134 und 194–199). Karl Heinz Bohrer entdeckte in dem Roman eine Ablösung von Wellershoffs Modell des Kölner Realismus, insofern nun »die Subjektivität einer Rolle, einer Person, eines Bekenners« darin deutlicher werde (Bohrer 1968), die ›Neue Subjektivität‹ kündigte sich also in der Wahrnehmung dieses Rezensenten bereits an, bevor sie ›offiziell‹ auf dem Begriff gebracht wurde. Rolf Dieter
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Brinkmanns Roman sah er kritisch als besonderen Repräsentanten für eine »sich abzeichnende radikale Hinwendung einzelner Schriftsteller von Literatur als ›Kunst‹ und für eine neue, fast fanatische Hingabe an den ›Stoff‹« (ebd.) Das Einlassen auf Trivialität zeige aber sofort die Grenzen dieses Stoffs. Auch Günther Blöcker, der den Wahrnehmungsexerzitien Brinkmanns früherer Prosabände schon wenig Verständnis entgegengebracht hatte, erkannte nicht unbedingt den Sinn dieses Verfahrens: »Dieser Autor treibt die Wahrnehmung bis zu dem Punkt, wo sie sich selber aufhebt. Die auf die Spitze getriebene Sensibilität, die Nichtsals-Sensibilität, führt zur Entwirklichung. Wer zu viel wahrnimmt, sieht am Ende gar nichts mehr.« (Blöcker 1968) Zwischen den Zeilen klingt hier jener konservative Vorbehalt gegenüber neuen Ausdrucksformen an, wie er in Umbruchszeiten immer wieder laut wird, zugespitzt zu der Frage, ob es sich dabei überhaupt noch um Literatur handele: »Die vielzitierte Re-Privatisierung der Literatur hat bei Brinkmann ein Stadium erreicht, wo die Frage nach dem literarischen Prozeß als einer Übersetzung von subjektiver Erfahrung in objektive Form kaum noch gestellt werden kann. Vielleicht wäre das zu verschmerzen. Aber in diesem Augenblick stellt sich unabweisbar eine andere Frage: die nach der Ergiebigkeit dieser privaten Zone.« (Ebd.) Noch drastischer formulierte das auch dieses Mal wieder die konkret: »ist’s noch Prosa oder ist’s schon Prostata?« (konkret 1968, 43), und auf eine Art »vorsprachliche« Form der Literarisierung schien auch Gerd Fuchs im Spiegel abzuheben: »So dicht tritt dieser Autor an seine Beobachtungsobjekte heran, daß Denkund Gefühlsabläufe noch vor ihrer verfälschenden Verfestigung zu Bezeichnung und Begriff aufgefangen und in ihrem Ablauf gezeigt werden.« (Fuchs 1968, 127) Am ehesten ließ sich Mennemeier auf Brinkmanns neues Schreibverfahren ein, denn durch Brinkmanns strikte Versuche, einen Gegenstand genau zu beschreiben, bekräftige er die These von der Nichtbeschreibbarkeit aller Gegenstände. Geradezu mimetisch bilde er den Schmerz der misslingenden Ehe ab: »Eine Spannung wird erzeugt, die sich nie löst. Das macht das Qualvolle an diesem Werk aus. Brinkmann will diese Wirkung. Er arbeitet jenseits aller Kategorien schöner Poesie.« (Mennemeier 1968) Rolf Dieter Brinkmanns Pop-Wende wurde von den Rezensenten ebenfalls unmittelbar registriert, wie üblich kontrovers: Karl Heinz Bohrer etwa bemerkte zum Band Piloten, Brinkmann sei vom Weg abgekommen, die Gedichte zeigten den bei ihm »früh schon entwickelten Pop-Mythos nunmehr isoliert«, dabei
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aber hätten sie »die alte existentielle Fracht verloren« und enthielten so »nur noch die reine Kunstfigur und artistische Blinkzeichen« (Bohrer 1969). Diese »erste westdeutsche Probe auf das amerikanische Exempel«, trendentsprechend und marktgerecht zugeschnitten, ginge daher nicht auf, sondern werde zu »nachstotterndem Pop-writing« (ebd.). Christel Buschmann dagegen sah gerade darin »eine notwendige Voraussetzung für eine Existenzmöglichkeit der Literatur in der künftigen Massenkultur« (Buschmann 1969). Brinkmann reproduziere, ohne die Tradition vollends aufzugeben, »aktuelles Bewußtsein einer Pop und Beat Generation.« Seine Gedichte seien »einfach schön einfach. Keine sensationellen Produkte, aber der vielzitierte Schritt nach vorn« (ebd.). Auch Brinkmanns treuester Rezensent, Franz Norbert Mennemeier, der nahezu jede Veröffentlichung Brinkmanns kommentierte, urteilte hier: »Fortschritt und Konsequenz der Entwicklung sind deutlich, die Strenge in der Handhabung der unkonventionellen Form ist aufs neue zu rühmen.« (Mennemeier 1969) Insgesamt wurde Piloten noch rege rezensiert, wohlbemerkt ein gutes halbes Jahr nach dem Eklat in der Akademie der Künste! Das galt nicht mehr für die kommenden Lyrikbände Brinkmanns, Standphotos und Gras, zu denen kaum noch Rezensionen erschienen, und wenn, nicht in den großen Feuilletons, sondern eher in regionalen Tageszeitungen. Karsunke, ein Autor des linken Spektrums, kritisierte Gras auf harsche Weise, das Buch liefere nur »langweilige Schnipsel aus einer langweiligen Biographie«, die darin geäußerte Pop-Begeisterung sei »lauter Faszination aus zweiter Hand«, und er zieh Brinkmann gar »sprachliche(r) Unsensibilität«. Interessant ist sein produktionskritischer Hinweis auf den Widerspruch zwischen Brinkmanns teuer aufgemachten Büchern, in Garamond Antiqua Corpus mit Copyright-Vermerk gesetzt, gegenüber den hektographierten Heften aus den USA. Er formulierte damit einen faktischen Widerspruch in Brinkmanns Pop-Engagement, das eben nicht so weit ging, dass er auch seine eigenen Bücher bei Untergrundverlagen herausbrachte, um seinen kulturpolitischen Aussagen entsprechende Konsequenzen folgen zu lassen. Auch Brinkmanns wirkungsmächtige Pop-Editionen des Jahres 1969, »eine Art literarischer Vitaminstoß« (Mennemeier 1970), also Silverscreen, Frank O’Hara, ja selbst Acid, wurden von der Presse nicht mehr so stark rezipiert, dafür umso mehr von der »Szene«, in welcher der Autor, gegen seinen Willen (vgl. Praschl 1987, 73 f.) und besonders durch diese Underground-Veröffentlichungen zu einer Art Star
wurde. Die Pressereserve muss man allerdings nicht auf den Akademie-Eklat beziehen, denn man darf nicht übersehen, dass Brinkmann in diesem Jahr eine eigene Lyrikpublikation, zwei Anthologien als Herausgeber und den O’Hara-Band vorlegte, im Jahr zuvor bereits das breit rezipierte Keiner weiß mehr und den Lyrikband Godzilla, das sind insgesamt sechs Bücher innerhalb von knapp zwei Jahren. Es kann nicht verwundern, dass dabei nicht jede Publikation ungeteilte Aufmerksamkeit fand. Acid beispielsweise wurde immerhin im Spiegel von Dieter Wellershoff angezeigt – seine Rezension liest sich, als wolle er sich selbst die neuen Pop- und Underground-Phänomene buchstabieren (vgl. Wellershoff 1969, 108), dazu besprachen insgesamt ein Dutzend weiterer Blätter den Band – gar nicht immer negativ. Jost Nolte, der in der Welt Brinkmanns Reader als »eine gute Sammlung schlechter Literatur« tituliert (Nolte 1970), strengte eine rein sachlich-kritische Auseinandersetzung mit dem Material an, das Acid präsentiert. Dass Brinkmann als Person aufgrund seiner AdK-Aktion in Misskredit stünde, davon ist hier nicht ein Hauch zu spüren. Vielmehr wird er fast stets als (quasi alleiniger) Herausgeber erwähnt, während Rygulla unerwähnt bleibt. Dennoch kam es nun zu der angesprochenen Zäsur. Es erschien nur noch wenig. Nach der selbstverordneten Publikationspause zog erst Brinkmanns Tod, wie so oft in solchen Fällen, wieder ein sprunghaftes Interesse am posthumen Band Westwärts 1&2 auf sich, der in der Presse ähnlich breite Aufmerksamkeit fand wie Keiner weiß mehr. Oft wurde das Buch in Verbindung mit einem umfassenden Resümee zu Brinkmanns Person und Wirken besprochen. Marcel ReichRanicki bekundete vorsichtige Zustimmung, ihm schien das Buch »von der Überwindung der Krise zu zeugen, in der er [Brinkmann, Hinzufügung E. S.] längst steckte« (Reich-Ranicki 1975). Interessant ist sein Urteil über Brinkmanns Lyrik insgesamt: »Man hat sie sehr unterschiedlich beurteilt: Von den einen als bare Nachahmung der neueren amerikanischen Dichtung kritisiert, wird sie von anderen für einen zwar oft unkontrollierten und gänzlich einseitigen, doch selbständigen poetischen Beitrag gehalten. Diese Diskrepanz mag damit zusammenhängen, daß seine lyrische Begabung eher in einzelnen Versen erkennbar wurde als in ganzen Gedichten.« (Ebd.) Abgesehen davon, dass Reich-Ranicki sich hier recht gekonnt um eine eigene Festlegung herumdrückte, formulierte er hier doch eine Dichotomie, die sich durch die Brinkmann-Rezeption der nächsten Jahre zog, und selbst
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heute noch findet man Stimmen, die sich in das eine oder andere Lager schlagen. Auch in Westwärts 1&2 sahen damals manche Rezensenten Brinkmann als »Adept« (Schmitz 1975), andere betonten das grundsätzlich Bruchstückhafte (Mennemeier 1975), nur sein Autorenkollege Hans Christoph Buch konstatierte apodiktisch, Westwärts 1&2 sei neben Nicolas Borns und Jürgen Theobaldys Büchern »die wichtigste Lyrikpublikation der letzten Jahre« (Buch 1975). Brinkmanns – bis heute andauernde – Verklärung als »Kultautor«, für die der frühe Tod sicher eine gewisse Mitverantwortung trägt, lässt sich erstmalig in den Zeitungsreaktionen auf Rom, Blicke bemerken, man war fasziniert, begeistert, aber auch abgestoßen – solche zwiespältigen Gefühle diesem »(un)Buch« gegenüber formulierte etwa Rolf Michaelis, der Leser sei »hin- und hergerissen [...] zwischen Widerspruch und Zustimmung, Wut und Bewunderung« (Michaelis 1979). Sehr ungewöhnlich für einen Zeitungsartikel finden sich hier ausgesprochen lange Originalzitate, offensichtlich gelang es dem Rezensenten nicht anders, seine Gefühle und Meinungen zu übermitteln, als Brinkmann selber sprechen zu lassen. Der Lyriker Hugo Dittberner sah in Rom, Blicke »eine bewundernswerte Rhapsodie zerbrochener, kaputter Visionen« (Dittberner 1979). Hermann Peter Piwitt, Autorenkollege und Briefpartner Brinkmanns, dagegen bekundete in einem Spiegel-Text: »Ich habe dieses Buch mit wachsendem Entsetzen gelesen.« (Piwitt 1979, 252) Darüber machte sich wiederum Ulrich Greiner lustig: »Das ist kein Buch für Gesinnungsprüfer und ideologische Platzanweiser.« (Greiner 1979) Greiner zeigte sich ganz hingerissen von Brinkmanns Prosa und er stellte klar: »Der blanke, bleckende Haß, der einem hier auf fast jeder Seite entgegenschlägt, er richtet sich ja keineswegs nur gegen die linken Freunde von einst, nicht nur gegen die Schriftstellerkollegen von heute, sondern fast ausdauernder noch gegen die tägliche Verhunzung unserer Umwelt durch die Kulturindustrie, durch den Konsumfetischismus, durch eine uns immer mehr entgleitende Technik.« Der Rezensent des SPD-Blatts Vorwärts dagegen mokierte sich über die verlogene posthume Aufwertung Brinkmanns, die sich in den enthusiastischen Reaktionen auf Rom, Blicke zeige – dabei sei das Buch »kein Vermächtnis, sondern Dokument einer Krise« (Riewoldt 1980). Diese eigentümliche Bewertungsumkehr von weitgehender Ablehnung (zu Lebzeiten) zu nahezu einmütiger Verehrung erzürnte ein Jahr später auch Adolf Fink: »Es gibt sie also wirklich, die traurigen Umstände eines Schriftstellerendes – geeignet, den Verkauf der
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Literatur zu fördern wie deren Einschätzung positiv zu beeinflussen.« (Fink 1981) Jedoch, ganz so einhellig war die Begeisterung über den Band Standphotos nicht, der alle veröffentlichten Brinkmann-Gedichte vereinte. Zwar knüpfte Ulrich Greiner nahtlos an seine Lobrede des Tagebuchbandes vom Jahr zuvor an, indem er die Standphotos durch ein eigenartiges Plädoyer für das »Schlechtgeschriebene« gegen Kritik von außen zu immunisieren suchte: »Was den Normen genügt, ist meist schon normiert.« (Greiner 1981) Die Gedichte seien aufs Äußerste reduziert, »Zeitzerhacker«. Gegen den Vorwurf, Brinkmann habe lediglich eine schlechte Imitation amerikanischer Pop-Lyrik vorgelegt, nahm er den Autor vehement in Schutz, zieh solche Rezensenten, die das trotzdem taten, wie Gert Ueding, der späten Rache gegen einen, der sich dem Betrieb verweigert habe. Ueding hatte zwei Monate vorher Brinkmanns Gedichte in der FAZ als »popartistisch verstaubt« beschrieben. Die »Entdeckung der Alltagswelt« sei hier »nur deren Wiederholung, die Bestätigung ihrer Trostlosigkeit, ihrer Verheerungen geworden.« (Ueding 1980) Brinkmanns »Protestgebaren, dieser Aufwand an Gewöhnlichkeit« habe »aus dem Abstand der Jahre jegliche Schärfe verloren« und wirke nun »unfreiwillig komisch«. Auch Jürgen P. Wallmann entdeckte im Stoffmaterial dieser Gedichte nur »Zitat und Klischee [...] Hier wird mit Requisiten hantiert, mit Kunststoff-Mythen« (Wallmann 1981). Diese Zwiespältigkeit oder Unsicherheit in der Bewertung Brinkmanns, zieht sich auch durch die Reaktionen auf die folgenden Nachlassveröffentlichungen, zu Film in Worten hieß es etwa bei Klaus Kreimeier, der vorliegende Band erlaube »keinen Überblick, kein Resümee, erst recht kein abschließendes Urteil über einen, der dem Literaturbetrieb bis heute nicht ganz geheuer ist, geschweige daß er eine Antwort auf seine Provokationen hätte« (Kreimeier 1983). Der nächste Tagebuchband Erkundungen vertiefte das »Rätsel Brinkmann« eher noch, der Lyriker Karl Krolow beschrieb seinen Eindruck so: »Es ist ein Durch-Jagen des miesen, komplizierten, intelligiblen wüsten und sensiblen Lebens, das hier realisiert wird, als Versuch, als Fragment oder Skizze.« (Krolow 1987) Krolow war übrigens der Einzige, der explizit ansprach, dass es sich bei den Erkundungen nicht um ein druckfertiges Buch handelte (ebenso wenig wie bei Rom, Blicke), sondern um das Ergebnis einer spezifischen Formatierung seitens der Witwe: »Die Auswahl ist gut, die Maleen Brinkmann hier getroffen hat.« (Ebd.) Dem NZZ- Kritiker Toni Vogler ist zugute zu halten, dass er als einer der wenigen versuchte, Brink-
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manns Schaffen von der Person abzulösen und auch diesen Tagebuch-Text objektiv als literarisches Werk zu lesen und zu beschreiben (denn als solches liegt es ja nun mal vor), er identifizierte »drei Hauptsegmente«: »Prosa- und Dialogsequenzen«, »mit harten Schnitten und wilden Zeitsprüngen durchsetzt, untergeordnet freilich dem einzigen Ziel der radikalen Selbsterforschung, welche sich Brinkmann durch seinen gesellschaftlichen Rückzug auferlegte.« (Vogler 1987) Sein Resümee brachte die beunruhigende Tatsache, Brinkmann nicht (und vielleicht nie) wirklich einordnen zu können, in einem schönen Paradox auf den Punkt: »Wer sich der beträchtlichen Mühe unterzieht, dieses vulkanische Gebirge aus Erkundungsmaterial zu besteigen, der wird am Ende einen Roman gelesen haben, der explizit nie geschrieben worden ist.« (Ebd.) Einen veritablen Sprung in der Pressewahrnehmung Brinkmanns, was Intensität, Umfang und Inhalte anging, bewirkte die Veröffentlichung der Briefe an Hartmut (1999). Die hohe Zahl der Reaktionen dürfte, wie oben bereits erwähnt, auf das Auftauchen der PopLiteratur in den 1990er Jahren zurückzuführen sein. Rolf Dieter Brinkmann wurde hier gemeinhin eine Initiatorenfunktion zugeschrieben. Darüber hinaus wurden sie zum Motor für die Forschung, die sich diesem schwierigen Autor und Werk nun von einer sicheren Basis aus nähern zu können glaubte, weil diese Briefe an den Freund in Amerika ganz neue Einblicke in Brinkmanns Poetik erlaubten. Sie seien ein wahrer »Glücksfall«, zeigten sie doch »den eigenen letzten Blick des Autors auf sein Gesamtwerk« (Schwenger 1999). Martin Grzimek assistierte, man erkenne darin, wie besessen Brinkmann »an einer Fortentwicklung neuer Schreibweisen« gearbeitet habe (Grzimek 1999), und Uwe Schweikert wies darauf hin, dass man etwa durch den unmittelbaren Vergleich mit den dort behandelten Gedichten »einen Einblick in den Prozeß des Schreibens und Lesens« gewönne, wie er wohl in der gesamten Gegenwartsliteratur einzigartig ist« (Schweikert 1999). Selbst Ursula März, die sich ansonsten eher despektierlich über den Autor äußerte, bezeichnete diese Korrespondenz als »Geschenk für die BrinkmannPhilologie« (März 1999), ihr Kollege Lothar Müller dagegen betrachtete genau das als fad und unnötig: »hier arbeitet ein Autor in vollem Ernst an seiner autoritativen Selbstauslegung und entwirft nichtgehaltene Poetik-Vorlesungen.« Süffisant konterte er den Apologeten, es sei vielmehr »von nicht unbeträchtlicher Komik«, wie Brinkmann hier »lange bibliografische Listen verfaßt, verborgene Quellen aufdeckt, anonyme
Zitate markiert« (Müller 1999). Damit war Müller der einzige aus Kritikerzunft und Literaturwissenschaft, der nicht auf Brinkmanns autoritative Form der Rezeptionssteuerung hereinfiel und die Selbstexegese des Autors kritisch kommentierte. Ursula März bezog sich dagegen in ihrer vernichtenden Kritik auf den Inhalt der Briefe und hier insbesondere auf die Selbstinszenierung des Autors, wenn sie konstatierte, sie glichen »der Korrespondenz eines Gefängnisinsassen« und zeichneten »das Porträt eines destruktiven Plärrers«, man habe es »beim Lesen ziemlich schnell satt, diesen analen (Männer-)Quatsch eines hochbegabten Autors anzuhören« (März 1999). Thomas Gross, oben bereits in ähnlicher Weise aufgefallen, stand Müller und März in nichts nach: Man sehe an der neuen Publikation deutlicher als in allen bisherigen Nachlassveröffentlichungen, dass Brinkmann »nicht nur Held, sondern auch HB-Männchen« sei (was auf eine alte Zigarettenwerbung abzielte: »wer wird denn gleich in Luft gehen, greife lieber zur HB!«), der Autor als cholerische Zeichentrick-Figur. Das Buch entfalte »eine Endlos-Suada gegen die Verhältnisse, die keine Handlung kennt, keine Geschichte« (Gross 1999). Diesen Duktus behielt derselbe Rezensent bei, als er sechs Jahre später die CD-Veröffentlichungen Wörter Sex Schnitt und The Last one kommentierte: »Sofort ist er wieder da: der vertraute Sound: intensiv, oft penetrant, ein wenig bellend.« (Gross 2005) Und er weist hin auf das »Phänomen, das jede weitere Lieferung aus dem Nachlass Rolf Dieter Brinkmanns nicht wie ein Stück Literatur, sondern wie einen Comebackversuch aus der Gruft der Archive wirken läßt« (ebd.). Zugleich aber bescheinigte er Brinkmann, bereits alles gemacht und vorweg genommen zu haben, was es später unter den Signets spoken word poetry oder Popliteratur zu saisonalem Ruhm geschafft habe. Wenn er dann wiederum auf der einen Seite den kompletten Mangel an Heiterkeit bei Brinkmann beklagt, auf der anderen aber – richtig – feststellt, dass kein zweiter deutscher Schriftsteller »seine Arbeit so konsequent darauf eingestellt« habe, »dass längst nicht mehr alle Macht in der Kultur vom geschriebenen Wort ausgeht« (ebd.), sieht man just bei diesem Rezensenten, Thomas Gross, die ganze Ambiguität der Presserezeption Brinkmanns in einer einzigen Person verkörpert – eine eigentümliche Mischung aus Anziehung und Abstoßung, aus Faszination und Ablehnung. Es ist die zutiefst zerrissene und widersprüchliche Person Brinkmanns, die diese zuwiderlaufenden Reaktionen bei denjenigen bis heute provoziert, die keine Unterscheidung zwischen Autor und Werk bzw. Selbstinszenie-
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rung des Autors und Werk vornehmen. Eine andere Sicht auf das Werk ist daher erst dann möglich, wenn es gelingt, von der Person des Autors zu abstrahieren, sie außen vor zu lassen. Die Frage ist allerdings, ob das im Falle Brinkmanns überhaupt geht. Bei der Lyrik mag das gelingen, bei seiner Prosa nur schwer. Als radikaler Vorreiter der Neuen Subjektivität, als jemand, dessen ausgesprochenes Programm es war, sein Publikum wie seine Umwelt unausgesetzt zu provozieren und keine Kompromisse zu machen, zwingt Brinkmann seine Leser zur Selbstpositionierung und zur Beschäftigung mit ihm selbst und seiner intellektuellen Physiognomie, die in ihrem Beißzwang, ihrer hasserfüllten Aggressivität bisweilen die Grenzen der political correctness überschritten und ihn gar unter Faschismus-Verdacht stellten.
47.3 Rezeption durch andere Autoren Dass Rolf Dieter Brinkmann unter seinen Autorenkollegen eine Sonderrolle zukam, liegt auf der Hand. Diese öffentliche Figur, zu der er nur kurze Zeit nach Beginn seiner Veröffentlichungsaktivität geworden war, regte selbstverständlich zur Auseinandersetzung an. Zumeist fielen diese Reaktionen nicht so humorig aus wie bei Dieter Saupe, der in unmittelbarer Erwiderung auf die Herausgabe der Anthologie Acid ein »Pseudo-Undergroundgedicht« namens »Cack you« in seiner Parodiensammlung »Autorenbeschimpfung« publizierte (Saupe 1969), darin heißt es: »I say cack you, Rygulla, weil du das übersetzt hast und übrigens ziemlich saumäßig schlecht / PFUIIII!!!!! / I say cack you, R. D. Brinkmann, weil du das geprüft hast / KRÄÄÄÄÄNG!!!!!!!!!!!!« (Ebd., 150) Eine der prominentesten Angriffe war der (angebliche) Faschismus-Vorwurf Martin Walsers – im Anschluss an die Fiedler-Debatte. Walser hatte sich in einem wirkungsmächtigen Kursbuch-Beitrag gegen die »Die Neueste Stimmung im Westen« gewandt, diese artikuliere sich etwa, »wenn Rolf D. Brinkmann einem Kritiker gegenüber nach einem Maschinengewehr ruft« (Walser 1970, 24). Walser sah darin eine bloße Geste, eine persönliche »Botschaft«, die – anders als Meinungen, also auch politische Positionen – nicht diskutierbar seien. Diese Irrationalität war ihm verdächtig, daraus zog er den (zumeist verkürzt) zitierten Schluss: »Ich vermute, Brinkmann legitimiere den Wahn nicht aus faschistischer Tradition und in faschistischer Absicht. Ich bin ziemlich sicher, daß Fiedler den Faschismus verabscheut. Aber ich halte es für
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möglich, daß in diesen Neuesten Stimmungen die Bewußtseinspräparate für die neueste Form des Faschismus hergestellt werden.« (Ebd., 36) Das ist – aus der Diskussion der damaligen Zeit heraus – politisch nachvollziehbar, kann allerdings auch ein Versuch gewesen sein, die missliebige jüngere Konkurrenz in Misskredit zu bringen, hier namentlich Brinkmann und Handke. Ähnliche Vermutungen drängen sich bei den späteren Invektiven Hans Magnus Enzensbergers auf, der eine sehr wohlmeinende Besprechung seines Altersgenossen Peter Rühmkorf für einen Rundumschlag gegen die »Kleinmeister der allerneuesten deutschen Lyrik« nutzte, »die ihre bösgemeinten Idyllen zwischen Kneipe und Fußballplatz, Supermarkt und Badestrand« ansiedelten – hier war Brinkmann bereits gestorben, aber seine Literatur, als ein zu bekämpfendes ästhetisches Übel, war gewiss ebenso mit gemeint wie Jürgen Theobaldys oder Nicolas Borns Gedichte (Enzensberger 1976). Strikt ideologie- und kommerzkritisch attackierte der österreichische Experimentaldichter Reinhard Priessnitz Brinkmanns Pop-Engagement: »ACID, eine sammlung, an der sich vermutlich eben dutzende schreiber deutscher zunge zu orientieren befleißigen, kommt einer richtung, die sich ›on the road‹ begab um von kulturlastern mitgenommen zu werden, als transkribierte fibel sicher gelegen« (Priessnitz 1970, 257). Den Befreiungsakt, den die Herausgeber für sich reklamierten, erkannte Priessnitz nicht an, im Gegenteil warf er ihnen sogar vor, sich bei weitem nicht genug Freiheiten herausgenommen zu haben: »fortwährend wird so getan, als müßte, wer in europa schreibt, bestätigungen einholen und um erlaubnis ansuchen; und möglicherweise trifft das auch auf eine große anzahl zu, aber ich wüßte mindestens einige dutzend beispiele anzuführen, die sich einen dreck darum scheren, was oder wie alles erlaubt sei.« (Ebd., 258) Man sieht daran, die österreichische Radikal-Poesie, wenn man Priessnitz dafür stellvertretend anführen darf, konnte nicht viel mit Brinkmanns alltagslyrischen Konzeptionen anfangen. Eine Beschäftigung literarischer Art begann bei Brinkmanns Zeitgenossen vornehmlich nach seinem Tod. Hermann Peter Piwitts und Jürgen Theobaldy Erinnerungsbeiträge wurden oben bereits zitiert. Letzterer widmete dem verstorbenen Kollegen in dem Band Zweiter Klasse auch ein Gedicht, dort heißt es: »was er / hinterließ, war / dieses Arsenal von Wörtern, Wortfelder, / Trümmerplätze von Wörtern, zersprengte / Waffenlager, Wortalpträume / gegen den alltäglichen Alptraum« (Theobaldy 1976, 72 f.).
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Auch Dieter Wellershoff machte sich Gedanken über seinen einstmaligen Schüler, den »Fall Brinkmann« mit dessen »destruktiven Zwängen« (Wellershoff 1976, 285). Offensichtlich sah Wellershoff in dessen Werdegang tatsächlich etwas Pathologisches, wie sein gesamter Beitrag mit der Verve des Normalbürgers immer schon gewusst haben wollte, dass die Sache böse enden werde. Das erregte postwendend Widerspruch: Der Maler Günther Knipp, dem Brinkmann erst zwei Jahre vorher einen Text für seine Ausstellungseröffnung in München geschrieben hatte (Brinkmann 1974) konterte wutentbrannt, dass Wellershoff zu Lebzeiten Brinkmanns nicht gewagt hätte, einen solchen Text zu schreiben und ihn »in die Irrenecke abzuschieben. Aber nun ist Brinkmann tot, und es geht« (Knipp 1976, 475). Knipp mutmaßte, bei Wellershoffs Text handele es sich um so etwas wie Notwehr: »Es war unmöglich, sich ihm [Brinkmann, Anm. E. S.] zu entziehen, ganz gleich wie man zu seinen Ansichten stand. Vielleicht erging es Wellershoff ähnlich? Also Destruktion als Versuch von Wellershoff, sich von Brinkmann zu befreien?« (Ebd., 475) Man sieht, selbst nach seinem Tod gab Brinkmann Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen. Einer von Brinkmanns engeren Weggefährten, wenn es denn so etwas gab, war sicher Nicolas Born, der ebenfalls zwei Erinnerungstexte verfasste: »ein unversöhnlicher Freund« sei er gewesen (Born 1980, 63), so unversöhnlich, dass es Freundschaft fast ausgeschlossen habe. Der Essener Lyriker und Romanautor zeichnete hier ein sehr intimes Bild, das – trotz gewisser Vorbehalte – von gemeinsamen persönlichen Erfahrungen gekennzeichnet war. Auch mit Brinkmanns Schaffen befasste Born sich intensiv, strich stark den provokativen Anspruch von dessen Literatur heraus: Zwar habe dieser nicht als Erster den Schritt gemacht, die Kunsthaftigkeit der Literatur vergessen zu machen, »aber so kompromißlos und radikal hatte ihn noch keiner wirklich getan« (ebd., 117). Denn: »Nahezu alle Erwartungen, die gemeinhin an Gedichte gerichtet werden, hat er hier mit Bedacht brüskiert. Vorsätzlich sind die Grenzen der Poesie von ihm einfach weggewischt worden.« (Ebd., 120) Trotz der Übernahmen aus der amerikanischen Underground-Literatur, die Born skeptischer sah, gehörten die Gedichte Brinkmanns für ihn »zu den wichtigsten der letzten zwanzig Jahre« (ebd., 122). Besonders groß war Brinkmanns Nachhall selbstverständlich im Milieu der Alternativliteratur, den Untergrund- und Gegenliteraten, die sich auf die Beat Generation, den US-Underground, die Popliteratur
und eben auch auf Rolf Dieter Brinkmann bezogen, etwa bei den Autoren und Kleinverlegern, die sich im Umfeld der Mainzer Minipressen-Messe bewegten und bewegen, jenem alternativen Verlagstreffen, das 1970 als Gegenmodell zur großen Frankfurter Buchmesse gegründet worden war. Deutsche Beat-Autoren wie Hadayatullah Hübsch, Jörg Fauser und Jürgen Ploog waren von ihm angetan, die letzten beiden publizierten in der Nummer 1 des von ihnen zusammen mit Carl Weissner herausgegebenen UndergroundMagazins Gasolin 23 einen Text, der ihnen gleich einen bösen Brief von Brinkmann einbrachte, den sie in der darauffolgenden Nummer zitierten (Ploog zu Brinkmann). Auch bei den Autoren der subkulturellen Szenen der 1980er/1990er Jahre war Brinkmann stets im Hintergrund präsent, anders als Born oder Theobaldy; Trash-Autoren wie Ulrich Bogislav, Philipp Schiemann, Stan Lafleur (auch der Verfasser dieses Beitrags) mussten in ihm ebenso einen Bezugspunkt entdecken wie die Social-Beat-Aktivisten der frühen 1990er Jahre (Jörg-André Dahlmeyer, Kersten Flenter, Robsie Richter, HEL). Das drückte sich neben gelegentlichen Würdigungen und Widmungen auch in zahlreichen qualitativ unterschiedlichen Remakes von Alltagslyrik aus. Für manche Autoren wurde Brinkmann der wichtigste Bezugspunkt überhaupt: So hat etwa der Post-Beatnik Theo Breuer eigens eine mehrseitige Bibliographie seiner speziell auf Brinkmann bezogenen Texte erstellt. Eine kleine Umfrage unter Autorinnen und Autoren per Email und Facebook Ende 2015 ergab trotz ganz unterschiedlicher Reaktionen, dass Brinkmann zumindest immer noch Gegenstand der Wahrnehmung und Auseinandersetzung ist. Die meisten äußerten sich ausgesprochen positiv, Autoren wie der Romancier Norbert Niemann, der Poetry-Slammer Lasse Samström, die Lyrikerin Simone Kornappel, ihre männlichen Kollegen Norbert Hummelt, Tom Schulz, Stan Lafleur und Crauss, der Lyriker und Romancier Mirko Bonné ebenso wie der Künstler und Prosaautor Arne Rautenberg lassen keinen Zweifel daran, dass sie Brinkmann für einen wichtigen Autor der deutschen Nachkriegsliteratur halten. Bachmannpreissieger Peter Wawerzinek beschreibt seinen Einfluss auf ihn so: »Von ihm lernte ich früh genug mit Schere umzugehen und Papier zu fetzen und Gedanken einzufangen, wie man Fliegen klatscht und die übrig gebliebenen Flecken als Sekundenereignis eines Stinknormaltages festschreibt.« (Email an den Verfasser, 20.11.2015). Während Norbert Niemann immer wieder auf Brinkmann rekurriert, nicht so sehr in seiner eigenen
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Literatur, als vielmehr in Hommage-Veranstaltungen, einem Weblog oder Anspielungen in verschiedenen Zusammenhängen, hat Norbert Hummelt zwei atmosphärische Radio-Features über Brinkmann inszeniert sowie Gedichte im Stile Brinkmanns verfasst. In einem Interview mit Roberto Di Bella bekennt er sich ausführlich zu der Vorbildfunktion, die Brinkmann für sein Schreiben innehatte (vgl. http://www.brinkmannwildgefleckt.de/werkstattgespraech-hummelt/). Bei den Werken, die eine besondere Anziehungskraft ausübten, wurde in der Umfrage zum Beispiel Acid genannt bei Rautenberg, bei Brinkmanns Zeitgenossen Jürgen Ploog, dem österreichischen Experimentalautor Fritz Widhalm ebenso wie beim Düsseldorfer Poeten Ferdinand Scholz und beim Bochumer Autor und Aktionskünstler Matthias Schamp, der Brinkmann darüber hinaus aber nicht allzu viel Wichtigkeit beimisst. Neben Rom, Blicke macht offensichtlich bis heute noch Westwärts 1&2 den größten Eindruck, besonders natürlich die Lyriker Stan Lafleur, Armin Steigenberger, Fritz Widhalm und Tom Schulz erwähnen diesen Band explizit. Letzterer zählt ihn »zu den bleibenden Gedichtbänden der 1970er Jahre« und präzisiert, dass ihm die deutsche Lyrik »die lange Zeile und den cinematographischen Blick, eine Empfindsamkeit für den (alltäglichen) Zusammenhang der Dinge« verdanke (Interview mit dem Verfasser, 26.12.2015). Ron Winkler, wie Tom Schulz Lyriker aus Berlin, brachte Brinkmann immerhin auf der Wortebene ein (»westwärtser«), doch existieren auch von ihm (Winkler o. J. [1999], 33 f.), wie von Volker Sielaff (Sielaff 2003) und vom Augsburger Lyriker Gerald Fiebig Widmungsgedichte bzw. Remakes (Fiebig 2004 und 2005). Stan Lafleur hat ein ganzes Kapitel solcher Remakes von Brinkmann-Texten erstellt (Lafleur 2004). Mirko Bonné, der ebenfalls verschiedentlich Hommagegedichte an Brinkmann und Brinkmann-Variationen verfasste, konstatiert explizit: »Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte und sein poetisch-grafisches Werk in ›Godzilla‹, ›Gras‹, ›Die Piloten‹ und ›Westwärts 1 & 2‹ waren und sind für mein eigenes Schreiben wichtige Marksteine« (Email an den Verfasser, 21.11.2015) und Tom Schulz mutmaßt, dass nicht nur für ihn, sondern auch für Lyriker wie Ron Winkler, Björn Kuhligk, Daniel Falb und Jan Volker Röhnert Brinkmann ein maßgeblicher Ideengeber gewesen sei. Von der Literaturkritik ist diesen Autoren daher gelegentlich auch der Vorwurf der Epigonalität gemacht worden. Crauss erwähnt Brinkmann in verschiedenen seiner Gedichte explizit. Mirko Bonné dagegen weist –
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nicht ohne Ironie – auf eine originäre Schwierigkeit hin, wenn er festhält, dass Brinkmann »ein Sackgassendichter ist: Seinen Weg konnte nur er gehen, jeder, der ihm folgt, steht bald vor einer Wand«, womit er auf die »Wand« in Brinkmanns Gedicht »Selbstbildnis im Supermarkt« anspielt. (Emails an den Verfasser, 21.11.2015 und 19.1.2019) Es ist von daher kaum verwunderlich, dass nur wenige Autoren ausdrücklich bekennen, von Brinkmann in ihrem Schreiben unmittelbar beeinflusst worden zu sein. Vermutlich liegt das an Originalität und Ambivalenz von Werk und Person, zu groß ist die Gefahr als Epigone zu gelten. Hier liegt eine eklatante Ähnlichkeit mit Thomas Kling vor, der einen ebensolchen Schlagschatten wirft, dass Autoren nicht gern zugeben, von ihm beeinflusst zu sein. Auch sonst scheinen Parallelen zwischen diesen beiden zu existieren. Die Kritikerin Beate Tröger hat das in die Formel gefasst: »Brinkmann ist der Kling für alle.« (Email an den Verfasser, 4.1.2016) – womit sie auf die größere Allgemeinverständlichkeit des Brinkmannschen Werks gegenüber den eher elitären Sprachexerzitien Thomas Klings abhebt. Beide aber teilen das Schicksal eines radikalen Einzelgängertums, das eine Voraussetzung für die Entstehung ihres lyrischen Werks gewesen ist. In den späten 1970er Jahren setzte eine intensive Rezeption in den Ländern des Warschauer Pakts, vor allem in Rumänien, ein. Hier war es insbesondere die systemkritische Künstlergruppe ›Aktionsgruppe Banat‹ um Richard Wagner, Rolf Bossert und William Totok, der Brinkmann für eine Studentenzeitung ins Rumänische übersetzte. Ernest Wichner versorgte die Gruppe aus der BRD mit Brinkmann-Texten. Brinkmann wurde für diese jungen Künstler nicht nur zum Vermittler der oppositionellen westlichen Sub- und Jugendkultur, sondern auch zum Vorbild für andere subversive Formen der Produktion und Verbreitung von systemkritischer Literatur, etwa in kleinen Eigenverlagen oder öffentlichen Aufführungen, Lesungen etc. Von Wagner stammt das Gedicht fußgängerzone, darin montierte er Zitate aus Brinkmanns Lyrik und Prosa in einer für diesen typischen Form des Langgedichts nach amerikanischem Vorbild. Wagner würdigte Brinkmann als »Cybulski des Westens« (Carius 2008, 152) und skizzierte ausführlich, welch große, ja befreiende Wirkung der Dichter auf ihn und seine Generation während der Diktatur in Rumänien ausübte: »An Brinkmanns Texten faszinierten mich die Radikalität und die Leichtigkeit gleichermaßen. Zwischen Ich und Text gab es keine Differenz. Die Gedichte redeten von allem, und sie redeten in einer
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vollkommen neuen Sprache. Gegenstände und Gedanken erschienen in gleicher Weise gesprengt, in Frage gestellt. In der Verlegenheit rundherum war Brinkmann ein unmißverständliches Zeichen der Authentizität. Er war wie Jimi Hendrix und Janis Joplin. Wie Herbert Marcuse und Pier Paolo Pasolini.« (Geduldig 1994, 184) Weniger explizit ist der Einfluss Brinkmanns auf die Autoren des Prenzlauer Bergs. Allerdings scheinen die lyrischen Anfänge Durs Grünbeins im Zeichen Brinkmanns zu stehen. Ähnlich liegt der Fall bei Rainald Goetz, der mit seinen tagebuchartigen Alltags- und Medienbeobachtungen in unmittelbarer Tradition Brinkmanns steht. Sein »Roman eines Jahres«, so der Untertitel von Abfall für alle, folgt einem ähnlichen Konzept autofiktionalen Schreibens wie Brinkmann in seinen letzten Prosaarbeiten (vgl. Goetz 1999, 620). Namentlich bezieht sich Goetz auf Brinkmann auf den ersten Seiten seines für Vanity Fair 2007/08 als Tagebuchessay geführten Blogs Klage unter dem Eintrag »drunten, draußen. 2.2 / Freitag. Februar 2007, Berlin«: »Auch das sieht man an Brinkmanns Zorn. Asozialität heißt Tod. Und der Weg dahin geht durch die Finsternis der Schlucht von Nichtkunst, Bosheit, Größenwahn. [...] Aber nur weil dieses Programm sich selbst widerlegt hat mit der Zeit, muss man sich doch nicht dem elenden Gegenentwurf beugen und Ja sagen zur Macht des Faktischen« (Goetz 2008, 11 f.). 1994 gaben Gunter Geduldig und Marco Sagurno eine Anthologie too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann heraus, in der sie neben Stimmen von Zeitzeugen und Erinnerungen von Weggefährten auch Brinkmann gewidmete Gedichte von Wolf Wondratschek, Michael Zeller, Dirk Dasenbrock, Joachim Sartorius als verspätete Nekrologe abdruckten (Geduldig/Sagurno 1994). In einem weiteren Band Wörter & Moor: literarisches Leben hier zu Lande versammelten Geduldig und Ursula Schüssler 2007 Autorinnen und Autoren, die Texte zur literarischen Provinz und Vechta im Speziellen beisteuerten. Einige darunter, etwa Ulrike Draesner, Dorothea Dieckmann u. a., äußerten sich in ihren Beiträgen unmittelbar zu Brinkmann (Geduldig/Schüssler 2007). Zum 60. Geburtstag Brinkmanns erschien unter dem Titel Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse eine Sondernummer der Literaturzeitschrift Eiswasser, sie enthielt, erneut von Geduldig herausgegeben, Texte unter anderem von Oliver Kobold, Dorothea Dieckmann und Anthony Waine (Geduldig 2000).
47.4 Sonstige Wirkung: Bildende Kunst, Ausstellung, Film, Bühne, Medien Rolf Dieter Brinkmann, der sich stark mit Medien befasste, Super-8-Filme drehte, mit dem Tonband durch die Stadt zog, um O-Töne aufzunehmen, bietet natürlich Anknüpfungspunkte für vielfältige mediale Rezeptionsformen. Sein gesamter Schreibansatz war bereits von Multimedialität geprägt, angefangen von der Bildlichkeit der Sprache, dem pop-prosodischen Rhythmus seiner Gedichte bis zum Materialeinsatz, der seine Nachlassbände zu Gesamtkunstwerken machte (ob ihre Veröffentlichung in dieser Form nun von ihm geplant war oder nicht). Kunstaffin war er sowieso, weil er sich in seinem Kölner Kreis im Umfeld mehrerer Maler bewegte. Enge Beziehungen unterhielt er zur Künstlergruppe EXIT – BILDERMACHER, deren Mitglieder Henning John von Freyend, Thomas Hornemann und Berndt Höppner eine Galerie gründeten, Siebdrucke, Bilder, Zeichnungen und Mappenwerke produzierten, die sie – statt sie persönlich zu signieren – nur mit dem Gruppennamen stempelten. Damit agierten sie ganz im Sinne des von Brinkmann und seinen amerikanischen Vorbildern propagierten kollektiven Künstlerverständnisses, das das Einzelwerk eines Autors in Kollaborationen verschiedener Autoren und Maler überführen wollte. Insbesondere John von Freyend, der Brinkmann verschiedentlich porträtierte, und Berndt Höppner steuerten Illustrationen zum Gummibaum bei, während Brinkmann und Rygulla Texte für Erwin’s, eine MiniEdition der Gruppe EXIT lieferten. In der Folge gestalteten EXIT-Künstler, ohne namentlich genannt zu werden, u. a. die Cover von Gras und Silverscreen sowie verschiedener Titel des März-Verlags (vgl. dazu: Husslein 2006, [8]) In filmischen Dingen hielt er Kontakt zur XscreenGruppe um W. und B. Hein, war Teilnehmer am legendären Xscreen-Festival in der U-Bahnbaustelle am Kölner Neumarkt, das nach kurzer Zeit von der Polizei mit einem Riesenaufgebot gesprengt wurde (vgl. Stahl 2007a). Brinkmann nahm auch an den darauffolgenden Demonstrationen teil, bei denen es um die Herausgabe polizeilich beschlagnahmter Filme ging. Sein lyrisches Werk zog schon früh Interesse von Künstlern und Buchgestaltern auf sich, so dass es einige – heute sehr teuer – gehandelte Vorzugsausgaben gibt, etwa vom ersten Lyrikband Le chant du monde aus der Olefer Hagarpresse, der mit vier Radierungen von Emil Schumacher ausgestattet ist. Im November 1969 erschien im Guido Hildebrandt Verlag, Duis-
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burg, als »Hundertdruck VI« (einmalige Auflage von 100 Exemplaren) eine Ausgabe der Standphotos mit vier zweiteiligen Farbätzungen von Karolus Lodenkämper, die Gedichte Brinkmanns auf durchsichtiges Pergamentpapier druckt, so dass sich interessante Überlappungen ergeben. Ein weiterer sehr aufwändig gestalteter Beitrag ist der Band Rolltreppen im August, mit Fotos von Thomas Günther und Grafiken von Klaus Zylla in 80er-Auflage im DIN A1-Format erschienen als Ko-Produktion der Berliner Edition Dschamp und der Kölner Galerie auf Zeit 2000. Autor und Werk sind auch beliebte Ausstellungssujets – den Anfang machte hier wohl die von Gunter Geduldig kuratierte Schau »Vechta! Eine Fiktion«, die zunächst 1996 in der Universitätsbibliothek Vechta gezeigt wurde, dann weiter wanderte in die Landesbibliothek Oldenburg, die Universitätsbibliothek Osnabrück, das Literaturhaus Rostock, die Universitätsbibliothek der TU Berlin, die Fachhochschulbibliothek Neubrandenburg, um 1999 endlich wieder in Brinkmanns Geburtsort Vechta zurückzukehren, wo sie im dortigen Kreishaus ein weiteres Mal zu sehen war. Zu Brinkmanns sechzigstem Geburtstag im Jahr 2000 veranstaltete Elletra de Salvo, zusammen mit Oliver Augst (Musik), Theo Roos (Videoinstallationen) und in Kooperation mit Blixa Bargeld, eine Performance unter dem Titel si fece carne. Hommage à Rolf Dieter Brinkmann, die im Centro Petralata, Rom, uraufgeführt wurde. Die deutsche Erstaufführung fand im folgenden Jahr unter dem Titel Fleisch wucherte rum in der Volksbühne, Berlin, statt, es folgten Aufführungen in Frankfurt am Main und Köln. Von 15. Dezember 2005 bis zum 8. Januar 2006 präsentierte die Gesellschaft für Aktuelle Kunst in Bremen unter dem Titel »Wörter Sex Schnitt« Ausschnitte aus dem Hörkosmos Brinkmanns (parallel zur gleichnamigen CD-Publikation der Tonbänder), ergänzt durch Erstausgaben seiner Werke aus dem Archiv Seinsoeth. Im Herbst 2006 (28. September bis 19. November) folgte im Kölner Rhenania das großangelegte Projekt »Außerordentlich (und) obszön«. Die Stadtbibliothek Köln zeigte zum 70. Geburtstag die Kabinettausstellung »Rolf Dieter Brinkmann. Ich gehe in ein anderes Blau« (28. September bis 30. Oktober 2010). Zuletzt wurde Brinkmann 2014 mit einer Schau »Unheimlich gegenwärtig« in der Landesvertretung Niedersachsen beim Bund in Berlin geehrt, was ihm selbst vermutlich eher suspekt gewesen wäre: Grußworte eines Staatssekretärs und eines Landrats aus dem Kreis Vechta, dazu Bazon Brock als Eröffnungsredner belegen ebenso wie die Aufnahme aus-
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gewählter Werke in den Schulunterricht bzw. in Schulbücher, dass Brinkmann trotz allem endgültig im Kulturbetrieb angekommen und kanonisiert ist. Organisiert hatte die Schau der Künstler und Designpädagoge an der Universität Vechta Karl-Eckard Carius, der bereits 2008 eine Ausstellung »Der unheimliche Brinkmann« in Vechta (26.9.–28. Oktober 2008) organisiert hatte. Auch das Theater entdeckte Brinkmann für sich: Im September 1996 inszenierte das Schauspielhaus Düsseldorf den »Film in Worten« und die Volksbühne Berlin feierte den Dichter im Februar 2001 mit einer »Rolf-Dieter-Brinkmann-Nacht«. Das Schauspiel Köln präsentierte im Jahr 2007 (UA 25. März) die »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand«, inszeniert von Martin Wuttke, mit einem Bühnenbild von Jonathan Meese, nach Motiven Brinkmanns. Im Theater im Pumpenhaus Münster und im Theater Alte Liebe wurde 2009 André Sebastians Inszenierung »Blicke Strich Westwärts« aufgeführt, und die Schlosserei in Köln wartete im Oktober 2011 mit einer »Bewusstseinsüberwältigungsmaschine« nach Keiner weiß mehr auf. Dieser Roman stand auch im Zentrum einer Lesung mit Konzert, die der Schauspieler Felix Knopp im Hamburger Thalia Theater darbot. Diese Adaptionen für die Bühne belegen die Attraktivität der Texte Brinkmanns für performative multimediale Rezeptionsformen. Eine breit wahrgenommene Brinkmann-Adaption war Harald Bergmanns Film »Brinkmanns Zorn« (2007), der allein schon durch seine Machart stark von herkömmlichen Produktionen abstach. Denn der Film bediente sich der akustischen Originalaufnahmen Brinkmanns und bebilderte sie, das heißt, die Szenen der Tonbandmitschnitte wurden nachgestellt, der Schauspieler Eckhard Rhode mimte Brinkmann, der dem Schauspieler seine Stimme lieh. Dem Film verleiht dies ein ungeheures Potential an Authentizität. Vermehrt um Brinkmanns eigene Kameraexperimente ist »Brinkmanns Zorn« inzwischen auch auf DVD verfügbar. 1992 wurde in Vechta eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft gegründet, die sich um das Werk des Dichters mit zahlreichen Publikationen und Veranstaltungen verdient gemacht hat, der langjährige Vorsitzende Gunter Geduldig hat, wie oben bereits vermerkt, die erste Ausstellung zu Brinkmann gestaltet und zuletzt zusammen mit dem Lyriker und Germanisten Jan Volker Röhnert einen zweibändigen Sammelband mit Einzelinterpretationen zu Brinkmann-Gedichten herausgebracht. 2012 löste sich die
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Brinkmann-Gesellschaft auf. Die Stadt Köln, in der Brinkmann so lange lebte, ehrt den Dichter durch ein »Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium« – diese städtische Literatenförderung wurde seit 1990 so betitelt. Verschiedene Brinkmann-Fans betreiben eigene Web portale, neben der Brinkmann-Gesellschaft sind das etwa die Literaturwissenschaftler Olaf Selg (http:// www.brinkmann-literatur.de/) und Roberto Di Bella, der im Zuge der Veröffentlichung seiner Dissertation eine Seite kreiert hat, die auch Stellungsnahmen verschiedener aktueller Dichter zu Brinkmann und vieles mehr präsentiert (http://www.brinkmann-wildge fleckt.de). Der Mitherausgeber dieses Bandes, Markus Fauser, betreut an der Universität Vechta eine Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann, die auch den Vechtaer Teilnachlass verwaltet und eine Website (https://www. uni-vechta.de/germanistik/lehrende/fauser-markus/ arbeitsstelle-rolf-dieter-brinkmann/) mit einer vollständigen Bibliographie zum Werk und seiner Rezeption sowie weitere Materialien enthält.
47.5 Übersetzungen Während Brinkmanns Gedichte in viele Sprachen übertragen wurden, existieren nahezu keine Übersetzungen seiner Erzählungen und Romane, mit Ausnahme einer französischen Fassung von Rom, Blicke (Rome, regards, traduit par Martine Rémon 2008). Bereits zu Lebzeiten Brinkmanns übersetzte Leslie Willson, Chairman des German Departments an der Universität von Austin, Texas, einige Gedichte ins amerikanische Englisch und publizierte sie 1969 in seinem German literary magazin Dimension. Willson war es auch, der Brinkmann als »visiting writer« nach Austin einlud. Unmittelbar nach dessen Texas-Aufenthalt und in enger Korrespondenz mit ihm entstanden die Übersetzungen von Hartmut Schnell (vgl. BrH). Die Briefe an Schnell, veröffentlicht unter dem Titel Briefe an Hartmut (1999), stellen eines der wenigen Zeugnisse für die Beziehung zwischen Autor und Übersetzer dar, ja sie dokumentieren den Versuch Brinkmanns, den Übersetzungsprozess und die damit verbundenen Rezeptionsweisen unmittelbar zu steuern. Brinkmann entwarf in den Briefen dezidierte Vorstellungen zur Übersetzung von Was fraglich ist wofür (BrH, 37). Darüber hinaus übermittelte er Schnell ausführliche Hinweise zu Lesarten und zur Materialbasis seiner Gedichte. Allerdings kam es nicht zur Realisierung dieses Projekts, jedenfalls nicht in der von Brinkmann gewünschten Form.
1975 schloss Schnell seine Masterarbeit unter dem Titel Translated Poems of Rolf Dieter Brinkmann ab. Nach einer allgemeinen Einführung in die Lyrik Brinkmanns beschrieb er Einflüsse amerikanischer Autoren von Ginsberg über Burroughs bis zu O’Hara auf Brinkmann und arbeitete drei zentrale Themen (der Einzelne in seinem Umfeld, zwischenmenschliche Beziehungen, insbesondere Paarbeziehungen zwischen Mann und Frau, Sexualität, Aggression und Gewalt) heraus. Auch gab er Einzelkommentare zu den übersetzten Gedichten ab. Allerdings ließ Schnell bei seinen Kommentaren Brinkmanns weitläufige Erläuterungen zur Entstehung und zum verwendeten Material nahezu völlig unberücksichtigt. Der zweite, übersetzungspraktische Teil der Arbeit bot 30 Übersetzungen von ausgewählten Gedichten aus Was fraglich ist wofür und Gras, unter denen sich auch das lange Gedicht Für Frank O’Hara befindet. In den 1990er Jahren erschienen weitere amerikanische Übersetzungen von Christopher Middleton, später veröffentlichte Mark Terrill die Sammelbände Like a pilot. Selected Poems 1963–1970 (2001), Some very popular songs (2009) sowie An unchanging blue. Selected Poems 1962–1975 (2011). Dagegen sind Übersetzungen ins britische Englisch äußerst rar – abgesehen von einigen wenigen Gedichten in der Übertragung Michael Hamburgers, den Brinkmann in einem Brief an Schnell eher despektierlich als »Michael Hamburger (Mikl Hämbürger) (N’Engländer!) (&ein guter Bekannter von Middleton, oder gar Freund?)« (BrH, 11) bezeichnet, und Peter Rileys, Lyriker der Cambridge-School, in den 1970er Jahren (vgl. Kramer 2000, 112–116). Georges-Arthur Goldschmidt übersetzte einige Gedichte ins Französische. Dazu kamen z. T. sehr umfassende Gedichtsammlungen ins Italienische, übersetzt von Doina Pasca, Otto Willik und Franca Cavagnoli, ins Spanische von Franck Meyer, ins Portugiesische von Judite Berkemeier, ins Ungarische von Mária Antal, ins Slowakische von Marián Hatala, ins Slowenische von Urška P. Černe, ins Polnische von Andrzej Kopacki, ins Schwedische von Mikael Ejdemyr sowie ins Chinesische. Literatur
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VIII Wirkung und Editionsgeschichte
Brinkmann. In: Frankfurter Rundschau (14.8.1982), Beilage Zeit und Bild. Krolow, Karl: Ein rabiater Individualist. Aus dem Nachlaß Rolf Dieter Brinkmanns: Ein Band mit Tagebuchnotizen, Entwürfen und Skizzen des Rebellen. In: Nürnberger Nachrichten (15./16.8.1987), auch in: Tagesspiegel (19.7.1987). Lampe, Gerhard W.: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983. März, Ursula: Köln, Rom, Austin. Die »Briefe an Hartmut« zeigen Rolf Dieter Brinkmann in den Niederungen seines Hasses und auf der Höhe seines Könnens. In: Die Zeit Nr. 7 (11.2.1999). Mennemeier, Franz Norbert: Erzählungen spiegeln die Welt. In: Neues Rheinland, H. 33 (September 1963), 49. Mennemeier, Franz Norbert: Lyrik de Luxe aus Runenmund und Bierschaum. In: Neues Rheinland, H. 49 (April/Mai 1966), 41. Mennemeier, Franz Norbert: Zwischen alter und neuer Poetik. Bemerkungen zu lyrischen Neuerscheinungen rheinischer Autoren. In: Neues Rheinland, H. 62 (Juni/Juli 1968), 34. Mennemeier, Franz Norbert: Drei poetische Transzendentalisten. Zu Neuerscheinungen von Peter Handke, Jürgen Becker und Rolf Dieter Brinkmann. In: Neues Rheinland, H. 63 (August/September 1968), 37. Mennemeier, Franz Norbert: Pilotenverse und lyrisches Panoptikum. Zur Neuerscheinung von Joachim Rochow, Karlhans Frank, Hans Peter Keller und Rolf Dieter Brinkmann. In: Neues Rheinland, H. 66 (Februar/März 1969), 29. Mennemeier, Franz Norbert: Gedichte in Pop. Zu Editionen von R. D. Brinkmann. In: Neues Rheinland, H. 63, Jg. 13 (März 1970), 30. Mennemeier, Franz Norbert: Ein Poet der Rock-Generation. Zu Rolf Dieter Brinkmanns letztem Gedichtband. In: Neues Rheinland, H. 8 (18.8.1975), 35. Mennemeier, Franz Norbert: Ein Versuch der Selbstbefreiung. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Prosa-Sammlung ›Der Film in Worten‹. In: Neues Rheinland, Jg. 26, Nr. 1 (Januar 1983), 33. Mennemeier, Franz Norbert: Zwei Kölner Avantgardisten. Zu Jürgen Beckers »Die Gedichte« und Rolf Dieter Brinkmanns »Künstliches Licht«. In: Neues Rheinland (November 1996), 36. Michaelis, Rolf: Schriftsteller gehen zu weit. Nachruf auf eine Berliner Diskussionsreihe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.11.1968). Michaelis, Rolf: Todgehetzt von Rauschbegierden. Briefe und Gedichte des Siebzehnjährigen an eine Internatsschülerin in Vechta aus dem Jahr 1957. In: Die Zeit Nr. 18 (27.4.1979). Michaelis, Rolf: Schwarze Wörter. Rolf Dieter Brinkmanns »Rom, Blicke«. Briefe und Notizen aus dem Winter 1972/73 in Italien. In: Die Zeit (21.9.1979). Müller, Lothar: Auf der Flucht vor den Scheintoten. Ein West-Mathologe kommt zurück: Rolf Dieter Brinkmanns »Briefe an Hartmut«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.3.1999), L 6. N. N.: So im Gange. In: Der Spiegel, H. 25 (17.6.1968), 126.
Nolte, Jost: Aufstand gegen die Grammatik? Rolf Dieter Brinkmann sammelte Texte und Manifeste der »Neuen amerikanischen Szene«. In: Die Welt (8.1.1970). Oehlen, Martin: »Und so rasen sie alle weiter«. Aus dem Nachlaß des Schriftstellers: Briefe aus Köln erstmals veröffentlicht. In: Kölner Stadt-Anzeiger (6./7.3.1999). Piwitt, Hermann Peter: Der Externe. Heimat-Galaxie Vechta/Oldenburg. In: Frankfurter Rundschau (21.5.1994), Beilage Zeit und Bild. Piwitt, Hermann Peter: Rauschhafte Augenblicke. In: Der Spiegel (17.9.1979), 252–257, http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-39868548.html (16.1.2019). Ploog zu Brinkmann = Jürgen Ploog. Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann, http://www.brinkmann-wildgefleckt. de/juergen-ploog/ (16.1.2019) – dort ist das Digitalisat einer Seite von Gasolin 23 hinterlegt. Praschl, Peter: Wer ist jene M., die in Rolf Dieter Brinkmanns Aufzeichnungen immer wieder bis an die Grenzen der Intimität preisgegeben wird? Im WIENER spricht Maleen Brinkmann erstmals über ihr Leben mit dem radikalsten Schriftsteller Nachkriegsdeutschlands. In: Wiener (November 1987), 73–77. Priessnitz, Reinhard: Meinetwegen, fuck you! In: Neues Forum XVII (März 1970), H. 195 I, 257–258. Reich-Ranicki, Marcel: ... aber ein Poet war er doch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.4.1975). Reich-Ranicki, Marcel: Fragen Sie Marcel Reich-Ranicki. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 39 (27.7.2003). Riewoldt, Otto F.: »Ich bin für den einzelnen« Rolf Dieter Brinkmanns Rom-Buch, Dokument einer großen Krise. In: Vorwärts, Nr. 4 (17.1.1980). Saupe, Dieter: Autorenbeschimpfung und andere Parodien. Bern/München 1969. Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998. Schmitz, A.: Wege ins Leere: Rolf Dieter Brinkmanns letzte Gedichte. In: Die Welt (15.5.1975), Wochenendbeilage Weltreport. Schnell, Hartmut Paul, B. A.: Translated Poems of Rolf Dieter Brinkmann. Thesis. Presented to the Faculty of the Graduate School of The University of Texas at Austin in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of Master of Arts. The University of Texas at Austin. August 1975. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. Schwenger, Hannes: Als Adornos Diskurse langsam verblaßten. Briefe von Rolf Dieter Brinkmann – mehr als nur eine Momentaufnahme aus seinem letzten Lebensjahr 1975 in Köln. In: Die Welt (16.1.1999): http://www.welt.de/printwelt/article564605/Als-Adornos-Diskurse-langsamverblassten.html (16.12.2015). Sielaff, Volker: Postkarte für Nofretete. Springe 2003. Späth, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart 1989. Schweikert, Uwe: »Dichter zu sein, ist schwierig«. Rolf Dieter Brinkmanns Poetik in den »Briefen an Hartmut«. In: Frankfurter Rundschau (10.4.1999), Beilage Zeit und Bild. Stahl, Enno: Popliteraturgeschichte(n). Düsseldorf 2007.
47 Zeitgenössische Rezeption Stahl, Enno: »Kulturkampf« in Köln: die XSCREEN-Affäre 1968. In: Geschichte im Westen (2007a), 177–200. Stahl, Enno: Popliteratur – eine fragwürdige Kategorie. Ein Beitrag zur Begriffsproblematik inklusive ein Exkurs zu Thomas Meineckes Produktionsästhetik. In: literatur für leser, H. 2 (2008), 65–79. Theobaldy, Jürgen: Zweiter Klasse. Gedichte. Berlin 1976. Theobaldy, Jürgen: Er fragte, ob das Brinkmann sei. Tod eines Dichters. Ein Augenzeugenbericht. In: Die Zeit Nr. 17 (19.4.2000). Ueding, Gert: Abziehbilder aus der Vorstadt. Rolf Dieter Brinkmanns Gedichte aus den Jahren 1962 bis 1970. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.11.1980), Bilder und Zeiten. Ullmaier, Johannes: Von Acid nach Adlon. Mainz 2000. Urbe, Burglind: Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a. M. [u. a.] 1985. Vogler, Heini: Wahnsinn der Worte. Ein Kompendium von Notaten Rolf Dieter Brinkmanns. In: Neue Zürcher Zeitung (25.8.1987). Vormweg, Heinrich: Ekel, Angst und Brutalität sachlich
367
beschrieben. In: Die Welt [Die Welt der Literatur], (27.3.1965). Wallmann, Jürgen P.: Kunststoffmythen. In: Rheinische Post (5.2.1981). Walser, Martin: Über die Neueste Stimmung im Westen. In: Kursbuch 20 (März 1970), 19–41. Weinrich, Harald: Gedichte, wie eine Tür aufzumachen. »Die Schrecken des normalen Lebens«: Rolf Dieter Brinkmanns letzter Lyrikband »Westwärts 1&2«. In: Die Zeit (9.5.1975). Wellershoff, Dieter: Die öffentliche Neurose. Dieter Wellershoff über »Acid. Neue amerikanische Szene«. In: Der Spiegel (28.7.1969), 108. Wellershoff, Dieter: Destruktion als Befreiungsversuch. Über Rolf Dieter Brinkmann. In: Akzente, 23. Jg. (Juni 1976), H. 3, 277–286. Winkler, Ron: halbwelt. Nach und für Rolf Dieter Brinkmann. In: SUBH – subhVersiv – subhKulturell – subhPer, Nr. 30, o. J. [1999, Braunschweig], 33–34.
Enno Stahl
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VIII Wirkung und Editionsgeschichte
48 Ausgaben und Nachlässe 48.1 Ausgaben, Bibliographie Brinkmanns Werk ist weder vollständig bekannt noch auch nur annähernd zuverlässig gesammelt. Eine kritische Ausgabe existiert nicht. Auch ein editorisch zufrieden stellender Überblick über die Handschriften ist derzeit noch nicht möglich. In der von Gunter Geduldig und Claudia Wehebrink erarbeiteten und 1997 publizierten Personalbibliographie, die nur gedruckte Veröffentlichungen berücksichtigen konnte, ist im Vorwort die Rede von einem vermuteten handschriftlichen Nachlass. Diese Lage hat sich nicht wesentlich gebessert, immer wieder tauchen überraschend Sammlungen und Funde auf. Soweit keine rechtlichen Probleme entgegenstehen, werden sie im online verfügbaren Katalog der Universitätsbibliothek Vechta erfasst. Die »Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann« hat die gedruckte Personalbibliographie in den Katalog integriert und damit die Bibliographie zu einem fortlaufend ergänzten digitalen Rechercheinstrument komplettiert. Ihre differenzierte Systematik erlaubt die spezielle Suche nach Primär- und Sekundärliteratur, auch nach Fotos, einschließlich der gesamten Rezeptionsgeschichte. Die vom Autor selbst ausgegangenen und verantworteten Drucke sind darin bibliographisch erfasst. Seine Texte erscheinen seit 1975 bei Rowohlt. Alle seit der Erstausgabe von Westwärts 1&2 im Jahr 1975 erschienenen Editionen sind nicht autorisiert, sondern von der Witwe verantwortet. Meist sind sie mit kurzen Nachworten ohne ausreichende Beschreibung der verwendeten Textgrundlage versehen. Solange die Manuskripte und Typoskripte nicht öffentlich vorliegen, sind editorischer Wert und Zuverlässigkeit der nach 1975 erschienenen Drucke nicht abschließend einschätzbar. Meist ist auch nicht erkennbar, ob Brinkmann ihre Veröffentlichung überhaupt in der dann vorliegenden Form vorsah. Ein »Editionsplan« aus der Hand von Maleen Brinkmann am Ende des Bandes Erzählungen von 1985 sah »Werke in Einzelausgaben« (Erz, 411 f.) vor, die in den folgenden 25 Jahren bis auf den Band »Gedichte aus dem Nachlass« erschienen sind. Der 2010 herausgebrachte schmale Band Vorstellung meiner Hände bietet nur einen sehr kleinen Teil aus dem Fundus der frühen Gedichte und kann von daher keinen Anspruch darauf erheben, jene genannten »Gedichte aus dem Nachlass« zu versammeln. Solange nicht alle Briefe be-
kannt sind, in denen Brinkmann ebenso gerne Gedichte unterbrachte wie in den Widmungsexemplaren seiner Bücher, kann eine vollständige Gedichtausgabe nicht erscheinen. Auch die Zahl der Kollaborationen ist noch nicht bestimmt. Filme und Rundfunkarbeiten waren innerhalb der »Werke in Einzelausgaben« nicht vorgesehen. Meist sind die Texte aus den Nachlässen an verstreuten Orten publiziert (in Magazinen, Zeitschriften, Zeitungen), und sie tauchen als Zitate in Aufsätzen oder in Anmerkungen auf. Notwendig wäre eine textkritische Printausgabe mit Hypertextzugang für die Filme, Tonbänder, Hörsendungen, Fernsehbeiträge, Fotoarbeiten und Postkarten, die erst ein neues Verständnis des offenen Literaturbegriffs zuließen. Für den Apparat einer solchen noch zu schaffenden Ausgabe müssten auch alle Orte von Erstpublikationen Berücksichtigung finden. Zuletzt wurden im Falle des Frühwerks von Kobold Funde nachgewiesen. Selbstverständlich müsste die kritische Ausgabe Stellenkommentare bieten, denn sehr viele Anspielungen oder Zitate sind schwierig zu entschlüsseln. Nach wie vor besteht kein Zugriff auf biographische Dokumente im Nachlass. Private Fotosammlungen stehen ebenfalls noch nicht zur Verfügung. Die restriktive Handhabung persönlicher Dokumente und Daten wurde anlässlich der ersten Ausstellung zu Brinkmann in Vechta, Oldenburg und Osnabrück 1994/95 offenkundig, die von juristischen Auseinandersetzungen begleitet war. Dennoch gab der Ausstellungskatalog viele Dokumente und Fotos aus der Vechtaer Zeit wieder. Die Rechte erlöschen 70 Jahre nach dem Tod eines Autors, im vorliegenden Falle im Jahr 2045.
48.2 Die wichtigsten Nachlässe und Sammlungen Zu den Aufgaben der »Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann« an der Universität Vechta gehören die Vollständigkeit anstrebende Sammlung der Primärliteratur einschließlich der Übersetzungen, die Sammlung aller erreichbaren Originalquellen (Autographen, Bild-, Tonmaterial, zeitgeschichtliche Dokumente, Rezeptionsdokumente) zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns und die Sammlung und Archivierung der umfangreichen Sekundärliteratur. Die Dokumentation ist eingebettet in den Bibliothekskatalog. Dokumente, für die sich im Bibliothekskatalog kein Besitznachweis der Universitätsbibliothek Vechta findet, sind in der Regel – als Original oder als Kopie – in der Arbeitsstelle Rolf
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2020 M. Fauser/D. Niefanger/S. Schönborn (Hg.), Brinkmann-Handbuch, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05408-1_48
48 Ausgaben und Nachlässe
Dieter Brinkmann vorhanden und können dort eingesehen werden. Zur Erschließung der Dokumente wird eine eigene Systematik verwendet, die auch als Suchmöglichkeit im Bibliothekskatalog dient. Die Arbeitsstelle besitzt zahlreiche Einzelmanuskripte und Briefe sowie die Zeitschriften, an denen Brinkmann beteiligt war. Außerdem verwahrt die Arbeitsstelle seit 2005 im Nachlass von Peter Hackmann (1940–2010) über 500 Blatt Lyrik und Prosa aus der Essener und Kölner Zeit, die mittlerweile restauriert wurden (Fauser 2011). Die Arbeitsstelle erwarb 2015 Brinkmanns erstes Gedichtbuch, das in Vechta geschriebene Poesiealbum für Gisela Reinholz von 1957 mit zwei Briefen (Fauser 2016 und 2018, 60–76). Im Jahr 2017 kam der Vorlass des Malers Henning John von Freyend hinzu mit über 300 Seiten Briefen und Postkarten von Brinkmann (Fauser 2017). Alle Texte Brinkmanns hat Freyend in seine Malerbücher fortlaufend eingeklebt und mit seinen eigenen Reflexionen oder Skizzen begleitet. In den zehn Kladden mit insgesamt etwa 2000 Seiten ist damit eine Künstlerfreundschaft dokumentiert, die noch um Brinkmanns eigene bildkünstlerische Arbeiten ergänzt werden müsste. Im Jahr 2019 gelang der Erwerb der bisher größten Sammlung aus dem Besitz von Elisabeth Zöller mit über 1200 Seiten. Sie war mit Brinkmann von 1957 bis 1975 befreundet und erhielt zahllose Manuskripte, Briefe, Postkarten und Widmungsexemplare. Darunter die Vorträge aus der Schulzeit für die »Rhetorika Vechtensis«, vier Poesiealben für Elisabeth und weitere Gedichtsammlungen in Schnellheftern im Gesamtumfang von etwa 500 Seiten. Mit der Sammlung von Elisabeth und Klaus Zöller ist der komplette Nachlass aus der Vechtaer Zeit an den Ort der Entstehung zurückgekehrt (Fauser 2018 mit Abb.; Fauser 2020). Die »Arbeitsstelle« ist bemüht, alle Materialien auch digital zu erfassen. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Seit 2004 besitzt das Archiv die »Sammlung Brinkmann – Rygulla« mit insgesamt 417 Bänden zur angloamerikanischen Underground-Literatur, aus der die beiden Anthologien Acid und Silverscreen hervorgegangen sind (Verfasserschriften, Textsammlungen, Zeitungen, Zeitschriften, Antiquariatskataloge, Programmhefte). Außerdem Briefe von Brinkmann an Gottfried Benn, Ernst Kreuder, Michael Krüger, Hans Erich Nossack, Klaus Rainer Röhl, Wolfgang Rothe, Peter Rühmkorf. Und Von-Briefe in anderen Sammlungen (wie z. B. das Rowohlt Archiv oder das Suhrkamp Archiv in Marbach). Recherche im online-Katalog »Kallias«.
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Besonders wichtig ist das Archiv des März-Verlags aus den Jahren 1969 bis 1987 (mit Materialien von Olympia Press und dem Melzer Verlag). Es befindet sich seit 2019 in der UB Leipzig. Neben Briefen und Manuskripten bietet diese Sammlung auch Verlagsunterlagen (Verträge, Abrechnungen, Herstellungsakten, Gutachten, Plakate etc.). Die biographischen Bemerkungen des Verlegers Jörg Schröder in Mammut. März Texte 1 & 2. 1969–1984 lassen das Konfliktpotential erahnen. Das Rheinische Literaturarchiv am Heinrich-HeineInstitut Düsseldorf kann seit 2010 die bedeutende private Sammlung von Jürgen Völkert-Marten vorweisen und bietet mit insgesamt 456 Objekten neben Vechta die wohl vollständigste Sammlung von Drucken und Medieneinheiten aus den Jahren 1962–2006. Außerdem finden sich in Düsseldorf Bilder des mit Brinkmann befreundeten Malers Freyend (Porträts) sowie Briefe und Postkarten von Brinkmann an diverse Adressaten. Die Verlagsarchive von Kiepenheuer und Witsch in Köln (teilweise in: Historisches Archiv der Stadt Köln) sowie das Rowohlt-Archiv in Hamburg und Marbach sind noch nicht ausgewertet. Soweit die Schreiben aus der Kölner Zeit bei Kiepenheuer noch vorhanden sind, geben sie Auskunft über die Auseinandersetzungen mit dem Lektorat. Der Rowohlt Verlag, seit 1974 / 1975 Brinkmanns Verlag, archiviert weitere Manuskripte des Autors. Das Bundesarchiv in Koblenz verwahrt das Dossier aus der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom zur Auswahl des Stipendiums und die Briefe an das Kultusministerium des Landes NRW (Signatur B 314/486). Das österreichische Literaturarchiv in der Nationalbibliothek besitzt zwei Briefe an Alfred Kolleritsch, das Schweizerische Literaturarchiv in Bern den Vorlass von Jürgen Theobaldy mit einem »Dossier zu Rolf Dieter Brinkmann« einschließlich seiner schriftlichen Augenzeugenaussage zum Unfalltod 1975 (Wirtz Eybl 2010). Im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg finden sich 24 Briefe in der Korrespondenz mit der Redaktion der Zeitschrift Akzente sowie das Typoskript Sonntagmorgen (ca. 1965, 20 Blatt) im Nachlass von Walter Höllerer. Weitere Briefe im Johnson Archiv Rostock und in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Rundfunk und Fernsehen: WDR, DLF Köln, HR, SFB (Rechtsnachfolger rbb). Die Archive der Redaktionen
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VIII Wirkung und Editionsgeschichte
sind nicht systematisch ausgewertet (Fischer 2000). Hier müssten Sendemanuskripte zu finden sein, wie sie von Di Bella und Schönborn gefunden wurden. Rechtlich geschütztes Material in Privatbesitz: Maleen Brinkmann (Köln) verwaltet den größten Teil des Nachlasses einschließlich der Bilder, Tonbänder und Filme. Außerdem: Ralf-Rainer Rygulla (auch Gemälde und graphische Arbeiten von Brinkmann), Helmut und Monika Pieper, Hartmut Schnell, Hartmut Sander, Rolf Eckart John, Ron Padgett, Erbengemeinschaft Nicolas Born (»etwa ein Dutzend langer Gegenbriefe« Brinkmanns; Born 2007, 445), Hans Bender, Dieter Wellershoff, Peter Handke, Hermann Peter Piwitt, Ulf Miehe, Gerd Fuchs, Alfred Kolleritsch (zum Steirischen Herbst 1972), Ingeborg Middendorf (nur einzelne Briefe), Georg Neumann (Vechta). Fotos: Günther Knipp (Aachen), Ulrike Pfeiffer (Hamburg), Jens Hagen (Rechte bei Dorothee Joachim), Henry Maitek und Brigitte Friedrich (Köln); Nachweise in der Brinkmann-Bibliographie UB Vechta. Porträts: Henning John von Freyend.
48.3 Texte und Probleme Verstreute und unvollständige Publikationen Beispiele für unvollständige Nachlasseditionen sind zahlreich. In der Briefausgabe zu Nicolas Born von 2007 fehlen die Briefe Brinkmanns, von dem ein Dutzend langer Gegenbriefe erhalten sind. Die beiden Autoren lernten einander 1964 kennen. In der Ausgabe der gesammelten Erzählungen Brinkmanns von 1985 wird Ralf-Rainer Rygulla gedankt für die Bereitstellung der frühen Prosa. Allerdings soll eine weitere unbekannte Erzählung nach der Veröffentlichung des Bandes an die Witwe gegangen sein und im Nachlass von Peter Hackmann in Vechta finden sich ebenfalls weitere nicht veröffentlichte Texte und Vorstufen. Ein endgültiges Urteil über den Umfang der Prosa, gerade in der frühen Zeit, ist noch nicht möglich (Orte 2004/05). Vorstellung meiner Hände von 2010 wertet den Hackmann-Nachlass in der UB Vechta selektiv und subjektiv aus für eine ausdrücklich im Nachwort so genannte »Leseausgabe«, ganz ohne weiter gehenden editorischen Anspruch. Nur für den darin erhaltenen Gedichtband Vorstellung meiner Hände ist schon wegen des Ablehnungsschreibens von Wellershoff belegt,
dass die Sammlung in der Form zum Druck bestimmt war. Da bei einzelnen Gedichten der anderen Sammlungen bis zu 18 Fassungen vorliegen, wäre eine kritische Edition unumgänglich. Die zum Handschriftenkonvolut in Vechta überlieferten Inhaltsverzeichnisse stammen, anders als angegeben, nicht vom Autor selber, sondern von Peter Hackmann. In seiner Dissertation zur frühen Lyrik konnte Kobold 2014 zusätzliche Drucke einzelner Gedichte erstmals anführen. Unterschiedliche Kriterien bei der Herausgabe Die Ausgabe der Gedichte in Eiswasser im Jahr 1985 wurde ohne Seitenzahlen gedruckt und dabei viele Seiten vertauscht, so dass Gedichtteile oft über das ganze Buch verstreut sind oder Textfolgen entstehen, die nicht zusammenhängen können. Durch das Fehlen der Paginierung wurde das Kollationieren erschwert und der Setzfehler programmiert. Diese Ausgabe müsste neu ediert werden. Als Begründung für den Verzicht auf die Seitenzahlen wurde im Kolophon der Unikatcharakter des vom Autor so gestalteten Manuskripts angegeben. Dieses Kriterium fand bei andern Editionen allerdings keine Anwendung. Die Wiedergabe der in den Text eingeklebten Fotos geschah in Rom, Blicke sowie in Erkundungen nur schwarz-weiß, in Schnitte aber farbig. Zwei identische Seiten (Sch, 86 und Erk, 104 sowie Sch, 88 und Erk, 25 und Sch, 30) tauchen zudem in unterschiedlichen Kontexten auf. Hier ist nicht ganz klar, ob Brinkmann die Seiten zweimal verwenden wollte oder ob sie für die Drucke der beiden Bücher aus dem Nachlass neu zusammen gefügt, somit einfach mehrmals eingesetzt wurden. Zwar erklärt das Nachwort (Sch, 159) diese Praxis, unentschieden bleibt aber, ob Brinkmann sie auch in anderen Texten anwendet. Wie umfangreich er Selbstzitate eingesetzt hat, müsste untersucht werden. Die Einbindung des vierten Teils vom »5. Mai 73, Köln« in die Tagebücher (Erk, 371–410) ist editorisch nicht nachvollziehbar. Denn diese vierzig Seiten stammen aus der Zeit während des Italienaufenthalts, den Brinkmann für einen Monat in Köln unterbrochen hatte. In dieser Zeit arbeitete er nicht nur, aber vor allem an den Texten, die in Schnitte erschienen sind. Die »Editorische Notiz« zu Erkundungen gibt auch an, dass zu Erkundungen nur die ersten drei Teile gehörten, der vierte sei ein »abgeschlossener Text« aus eben dieser Phase. Dieser letzte Teil von Erkundungen gehört daher wohl zu dem Band Schnitte, genau wie die Prosa aus Work in Progress, die in
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Film in Worten untergebracht wurde. Eine Begründung, weshalb die inhaltlich und zeitlich eng zusammen gehörenden Texte in unterschiedlichen Nachlassausgaben und divergenten Kontexten erscheinen mussten, fehlt. Status von Texten Rom, Blicke, Erkundungen und Schnitte stammen aus der Phase, in der Brinkmann kaum noch publizierte. Er war nach eigener Auskunft nur mehr am Akt des Schreibens interessiert (RB, 185), wollte nichts als »Einzelheiten« notieren (RB, 343) angesichts fundamentaler Zweifel an seiner Arbeit als Schriftsteller (RB, 354, 385). Die Hefte zu Rom, Blicke tragen nur den Titel »Rom« sowie die fortlaufende Zählung. Wahrscheinlich handelte es sich um Vorarbeiten für den zweiten Roman. Auf dem Unterschied zwischen dem autorisierten Text und einer aus dem Nachlass heraus gegebenen Materialsammlung muss man nicht prinzipiell beharren. Schließlich haben diese Editionen mittlerweile das Bild des Autors bis hin zu dem ihm zugeschriebenen Literaturbegriff geprägt und damit nur schwer veränderbare Fakten geschaffen. Dennoch gibt es bedenkenswerte Argumente, die gegen eine Publikation in der vorliegenden Form sprechen. Wären die Bücher Rom, Blicke, Erkundungen und Schnitte zur Publikation vorgesehen gewesen oder gar wie Eiswasser in der vorliegenden Fassung als druckreif angesehen worden, wie die editorischen Nachworte suggerieren, dann hätte sie Brinkmann, den doch gerade nach 1970 erhebliche finanzielle Sorgen plagten, sicher bei einem Verlag untergebracht oder wenigstens einen derartigen Versuch unternommen. Die größeren Erfolge hatten sich doch seit 1967 eingestellt, die literarische Welt erwartete weitere Texte von ihm. Außerdem komponierte Brinkmann seine Bücher einschließlich der Fotostrecken bis hin zur Farbgebung bei Vorsatzblättern (Westwärts 1&2) äußerst penibel und riskierte jederzeit Auseinandersetzungen mit Lektoraten bei der künstlerischen Gestaltung selbst von Details. Sein erstes Gedichtbuch 1962 zog er wegen vier kleiner Druckfehler zurück. Das sehr vorläufig wirkende Erscheinungsbild der genannten Bücher, besonders der faksimilierten Typoskripte mit ihren handschriftlichen Streichungen, passt in gar keiner Hinsicht zur bekannten Arbeitsweise des Autors. Daraus ergibt sich, entgegen der Auskunft in den Nachworten, dass diese Bücher sicher nicht in der vorliegenden Form für die Publikation bestimmt waren. Auch Zeitzeugen wie Rygulla und Wellershoff haben
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diese Bände mit solchen Argumenten kritisiert (Geduldig 1994, 98, 101, 124). Autorisationsprobleme In Erkundungen finden sich zensierte Stellen, die durch Auslassungen gekennzeichnet sind. Aber auch bei anderen Publikationen wurden Veränderungen vorgenommen, die im Einzelfall nur anhand der Manuskripte korrigiert werden können. Das Beispiel der Fotostrecke Wie ich lebe zeigt ein verwandtes Vorgehen. Die 1970 in Renate Matthaeis Buch Trivialmythen erschienene Erstpublikation enthält private Fotos mit Maleen Brinkmann und dem Sohn, die von der Editorin in der »Neufassung 1974« (FW, 310) getilgt wurden. Die Notiz im Anhang zu Film in Worten von 1982 suggeriert, diese stamme noch von Brinkmann selber. Im editorischen Anhang steht nicht ausdrücklich, wer diese Fassung, angeblich von 1974, hergestellt hat. Die Lektorin Renate Matthaei hat später in einem Interview dieses Vorgehen grundsätzlich kritisiert (Geduldig 1994, 78), weil es Brinkmanns Verständnis von Privatem als Material widerspreche. In dem (einzigen) getilgten Nacktfoto könnte ja die in der Bilderstrecke nicht enthaltene Antwort auf die Frage »warum ich lebe« stecken, denn die Fotos der späteren Fassung zeigen nur »wo«. Literatur
Born, Nicolas: Briefe 1959–1979. Hg. von Katharina Born. Göttingen 2007. Fauser, Markus: Nachholende Moderne. Rolf Dieter Brinkmanns frühe Lyrik. In: Ders. (Hg.): Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne. Bielefeld 2011, 103–124. Fauser, Markus: Kassiber für Gisela. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.4.2016), 18. Fauser, Markus: Deine Briefe waren alle wild. Sagen, was ist: unbekannte Texte, Gedichte und Collagen aus dem Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann sind nun erstmals zugänglich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.9.2017), 12. Fauser, Markus: Rolf Dieter Brinkmanns Fifties. Unterwegs in der literarischen Provinz. Bielefeld 2018. Fauser, Markus: Engel mit Heimweh. Das unbekannte Frühwerk von Rolf Dieter Brinkmann kehrt nach Vechta zurück. In: FAZ, 1.2.2020, 16. Fischer, Robert: Der graue Raum. Rolf Dieter Brinkmanns literarische Hörfunkproduktionen als Ort dialogischer Texterfahrung. In: Gunter Geduldig (Hg.): Amerikanischer Speck, englischer Honig, italienische Nüsse. Rolf Dieter Brinkmann zum 60. Vechta 2000, 31–44. Geduldig, Gunter: Rolf Dieter Brinkmann – auch eine Rezeptionsgeschichte. In: Joachim Kuropka (Hg.): Oldenburger Profile. Cloppenburg 1989, 209–234.
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VIII Wirkung und Editionsgeschichte
Geduldig, Gunter/Marco Sagurna (Hg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Vechta 1994. Geduldig, Gunter/Claudia Wehebrink (Hg.): Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann. Bielefeld 1997 (auch online im Katalog der UB Vechta). Kobold, Oliver: »Lange nachdenkliche Gänge«. Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik und Prosa 1959–1962. Heidelberg 2014.
Orte – Räume. Mitteilungsblatt der Rolf-Dieter-BrinkmannGesellschaft 2004/2005, 39–60. Wirtz Eybl, Irmgard: Archiv Jürgen Theobaldy. In: Passim. Bulletin des Archives littéraires suisses 7 (2010), 17. http://www.kalliope-verbund.info.
Markus Fauser
Anhang
Abkürzungen Kurztitel von Werken Brinkmanns Chant du Monde Piloten Eiswasser Westwärts Grube Bootsfahrt Umarmung Worlds End Erkun dungen Random Notes Wie ich lebe Apollinaire Besuch Angriff No contri bution Einübung Film in Worten Nachwort Silverscreen Stille-Virus
Le Chant du Monde Die Piloten Eiswasser an der Guadelupe Str. Westwärts 1&2 In der Grube Die Bootsfahrt Die Umarmung Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End, Text & Bilder Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume Aufstände/Gewalt/ Morde REISE ZEIT MAGAZIN: Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch) Random Notes / free from it Wie ich lebe und warum Guillaume Apollinaire ist tot Besuch in einer sterbenden Stadt Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter To a world filled with compromise, we make no contribution Einübung in eine neue Sensibilität Der Film in Worten Zu amerikanischen Gedichten und zu der Anthologie ›Silverscreen‹ Laßt das Stille-Virus frei! Zu W. S. Burroughs Buch ›Nova Express‹
Spiritual Addiction Notizen Unkon trolliertes Nachwort
Spiritual Addiction. Zu William Seward Burroughs ›Nova Express‹ Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten
Siglen RB Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979. St Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980. Erz Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1985. FW Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965–1974. Reinbek bei Hamburg 1982. E Eiswasser an der Guadelupe Str. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1985. Erk Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume Aufstände/Gewalt/Morde REISE ZEIT MAGAZIN: Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch). Reinbek bei Hamburg 1987. Sch Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. BrH Briefe an Hartmut 1974–1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Reinbek bei Hamburg 1999. Ww Westwärts 1&2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 2005. V Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Hg. von Maleen Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 2010.
Werke 1 Buchpublikationen Ihr nennt es Sprache. Achtzehn Gedichte. Leverkusen 1962. Le Chant du Monde. Gedichte 1963–1964. Mit Radierungen von Emil Schumacher. Olef/Eifel 1964. Die Umarmung. Erzählungen. Köln/Berlin 1965. &-Gedichte. Berlin 1966. Ohne Neger. Gedichte 1965. Hommerich 1966. Raupenbahn. Köln 1966. Was fraglich ist wofür. Gedichte. Köln/Berlin 1967. Die Piloten. Neue Gedichte. Köln 1968. Godzilla. Mit einer Handzeichnung von Karl Heinz Krüll. Köln 1968. Keiner weiß mehr. Roman. Köln 1968, Reinbek bei Hamburg 1970 ff. Standphotos. 4 zweiteilige Farbätzungen von Karolus Lodenkämper. Duisburg 1969. Gras. Gedichte. Köln 1970. Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End. Text & Bilder. Rom 1973. Westwärts 1 & 2. Gedichte. Mit Fotos des Autors. Reinbek bei Hamburg 1975. Gedichte. Mit einem Nachwort von Nicolas Born. Köln 1979. Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg 1979, 1986. Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1980. Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965–1974. Reinbek bei Hamburg 1982. Eiswasser an der Guadelupe Str. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1985. Erzählungen. In der Grube, Die Bootsfahrt, Die Umarmung, Raupenbahn, Was unter die Dornen fiel. Reinbek bei Hamburg 1985. Rolltreppen im August. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Chris Hirte. Berlin (Ost) 1986. Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Träume, Aufstände, Gewalt, Morde, REISE ZEIT MAGAZIN. Die Story ist schnell erzählt (Tagebuch). Reinbek bei Hamburg 1987. Schnitte. Reinbek bei Hamburg 1988. Künstliches Licht. Lyrik und Prosa. Hg. von Genia Schulz. Stuttgart 1994. Guten Tag wie geht es so. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1996. Stoppelmarkt. Nachdruck o. O. 1996. Briefe an Hartmut. 1974–1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Reinbek bei Hamburg 1999. Westwärts 1 & 2. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg 2005.
Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Hg. von Maleen Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 2010. 2 Hörspiele/Tonbandarbeiten/Filme Straßen und Plätze. Deutschlandfunk 17.3.1966. 17 Min. Schriftsteller unserer Zeit. Michel Butor. Deutschlandfunk 15.12.1966. 30 Min. Die Sache mit Rainer: aus einem unveröffentlichten Roman. Hessischer Rundfunk, Hr 2 17.11.1967. 13'20 Min. Der graue Raum: eine Collage zum Werk des Schriftstellers William S Burroughs. Hessischer Rundfunk. HR (Studio Literatur) 15.3.1968. 19'20 Min. In Briefen. Bild von einem Hotel. Hier nicht (Zur Nacht: Rolf Dieter Brinkmann liest aus unveröffentlichten Gedichten). Westdeutscher Rundfunk. West 3 6.10.1968. 2'13 Min. Einübung einer neuen Sensibilität. Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst: Wandlungen des kulturellen Bewußtseins in Deutschland (Essay). Hessischer Rundfunk 22.6.1969. 28'49 Min. Autoren als Disc-Jockey: Rolf Dieter Brinkmann liest eigene Texte zur selbst ausgewählten Musik. Westdeutscher Rundfunk. WDR 3 11.1.1970. 57'45 Min. Rolf Dieter Brinkmann/Nicolas Born: Wortwechsel. Sender Freies Berlin 20.1.1970. 32 Min. Auf der Schwelle. Hörspiel mit einem Einleitungsessay des Autors. Westdeutscher Rundfunk, WDR 1 14.7.1971. 60 Min. 1971. Der Tierplanet. Westdeutscher Rundfunk, WDR 3 3.5.1972. 49 Min. Besuch in einer sterbenden Stadt. Westdeutscher Rundfunk, WDR 3 28.6.1973. 45'22 Min. Ich fühle eine Menge Hast: Rolf Dieter Brinkmann liest eigene Texte. Sender Freies Berlin 26.10.1973. 24'15 Min. Die Wörter sind böse. Ursendung: 26.1.1974 WDR 3 in der Sendereihe Autorenalltag. Band 3009 975/1 und 2. You broke my heart: neue Gedichte. Südwestfunk 18.4.1974. 34'20 Min. Kapfer, Herbert/Agathos Katarina [Red.]: The last one. Autorenlesungen Cambridge Poetry Festival 1975, 1 CD, 60 Min. Erding 2005. Kapfer, Herbert/Katarina Agathos (Hg.): Wörter, Sex, Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. 5 CDs, 361 Min. München 2005. Bergmann, Harald [Reg.]: Brinkmanns Zorn. Mit Originalmaterial aus dem medialen Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann, 3 DVDs, 341 Min. Berlin 2007. Fotos 1, 2. In: Christiane Collorio (Hg.): Lyrikstimmen. Die
Werke Bibliothek der Poeten. 122 Autorinnen & Autoren, 420 Gedichte. 100 Jahre Lyrik im Originalton, CD 8, Track 36–37. München 2009. 3 Herausgeberschaft und Übersetzungen Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung. Nr. 1, Köln 1969. Acid. Neue amerikanische Szene. Hg. von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla. Berlin, Schlechtenwegen 1969, Reinbek bei Hamburg 1983. Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik. Hg. von Rolf Dieter Brinkmann. Köln 1969, Frankfurt a. M. 1971. Erwin’s. Von: Exit, Bildermacher. Thomas Hornemann, Bern[dt] Höppner, Henning John von Freyend. Exit & Rolf Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla, R. E. [Rolf Eckhart] John. Köln 1969. Erwin’s. Von: Exit, Bildermacher. Thomas Hornemann, Bern[dt] Höppner, Henning John von Freyend. Exit & Rolf Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla, R. E. [Rolf Eckhart] John. Köln 1969. Photomechanischer Nachdruck des um die Hälfte verkleinerten Originals von 1969. Berlin 2006. Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte. Aus dem Amerikanischen übers. und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann. Einleitung von Ted Berrigan. Köln 1969. Ted Berrigan: Guillaume Apollonaire ist tot. Gedichte. Prosa. Kollaborationen mit Notizen von Tom Clark, Allen Kaplan und Ron Padgett. Hg. von Rolf Dieter Brinkmann. Frankfurt a. M. 1970. 4 Einzelveröffentlichungen Wenn ich komme. Eingedenk der Märchenzeit. In: Blätter + Bilder. Eine Zeitschrift für Dichtung, Musik und Malerei 10 (1960), 76–77. Eingedenk der Märchenzeit. In: Neues Rheinland 3 (1960), 32. Straßenszene. In: Essener Jugend 8 (1960), 6. Poesie. Didi. Die Vögel. In: Alphabet. Prosa-Jahrbuch (1961), 26–28. In der Grube. In: Dieter Wellershoff (Hg.): Ein Tag in der Stadt. Sechs Autoren variieren ein Thema. Eingel. von Dieter Wellershoff. Köln 1962, 205–276. Die Bootsfahrt. In: Neunzehn deutsche Erzählungen. Bücher der Neunzehn. Bd. 100. München 1963, 89–99. Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand. Im Anfang war das Wort. In: Flugschrift für Lyrik 12 (1963/64), 4. Schlaf, Magritte. Westwärts. In: Rowohlt-Almanach 2 (1963/83), 254–261. Kleines Lied für Unbegrabene. In: Flugschrift für Lyrik, Prosa und Malerei 13 (1964), 14. »Manchmal frage ich mich, wo denn eigentlich Köln liegt ...«. In: Neues Rheinland 7 (1964), 10. Die Klapper des Narren. In: Flugschrift für Lyrik, Prosa, Malerei 15 (1965), 32. Porträts. Hier, genau an dieser Stelle. Freundlicher Morgen. Pieper. In: Blickpunkt. Die junge Zeitschrift 144 (1965), 37. Nichts. In: Wolfgang Weyrauch (Hg.): Alle diese Straßen. Geschichten und Berichte. München 1965, 272–279. Das alles. In: Jahresring 66/67. Jahrbuch für moderne Kunst. Stuttgart 1966, 72–80. Er lobt die Suppe. In: Jahrbuch. Hake (1966).
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Heute. In: Neues Rheinland 49 (1966), 32. Ohne Hitler. Da schnallst du ab. Mein fucking Herz. Immer auf dieselbe Stelle. In: Lyrische Hefte 8/25. 1966, 22–23. Nichts weiter. In: Merkur 20/219 (1966), 550–555. Sex und Politik. In: Konkret. Politik und Kultur 6 (1966), 8. Stoppelmarkt. In: Gratulatio für Joseph Caspar Witsch zum 60. Geburtstag am 17. Juli 1966. Köln 1966, 49–52. Vier Gedichte. In: Lyrische Hefte 8/25 (1966), 22–23. Am Hang. In: Walther Karsch (Hg.): Porträts. 28 Erzählungen über ein Thema. Berlin [u. a.] 1967, [171–177]. Der eine Mann. In: Wolfgang Weyrauch [u. a.] (Hg.): Lyrik aus dieser Zeit 4/4 (1967/68), 86. Film, von rückwärts gesehen. In: Merkur 21/234 (1967), 848–849. London, Piccadilly Circus. In: Die Welt 22 (1.4.1967), 2. London, Piccadilly Circus. In: Manfred Franke (Hg.): Straßen und Plätze. Gütersloh 1967, 29–37. Strip (1966). Für Rygulla. In: Hans Dollinger (Hg.): Außerdem. Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel? Mit einem Grußwort von Werner Richter. München [u. a.] 1967, 377–382. Bild von Gary Cooper. Nach Samuel Goldwin. Einverstandensein, berühren. 5 Leute = 5 Teller. In: Pro. Blätter für neue Literatur 11/12 (1968), 2, 22, 37. Angriff aufs Monopol. Rolf Dieter Brinkmann. Ich hasse alte Dichter. In: Christ und Welt 21 (15.11.1968), 14. Bilder 28.6.–29.6. (aus einem in Arbeit befindlichen Roman). In: Lit. Das Literaturmagazin im Verlag Kiepenheuer und Witsch 1 (1968), 11–15. Chelsea Girls. In: Kölner Stadt-Anzeiger (28./29.12.1968), 37. Eine Vorstellung von Popkorn und anderes. In: Konkret. Politik und Kultur 9 (1968), 46–47. Keiner weiß mehr. [Auszug]. In: Die Neunzehn. Texte und Informationen 16 (1968), 90–92. Von der neueren amerikanischen Literatur ... . »Leicht mag man geneigt sein ...«. In: Texte & Marginalien. Frühjahr ’68. Darmstadt 1968, 20–22, 153–154. Persil am letzten Tag des Jahres. In: Echo der Zeit 17 (1968), 38. Sieben Gedichte. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 15/1 (1968), 59–67. Standbilder. In: Merkur 22/243 (1968), 628–631. Weißer Riese in der Luft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.2.1968), 18. 2 Gedichte. In: Lit. Das Literaturmagazin im Verlag Kiepenheuer und Witsch 2 (1969), 17. Die Lyrik Frank O’Haras. In: Frank O’Hara: Lunch poems und andere Gedichte. Aus dem Amerikan. übers. und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann. Einl. von Ted Berrigan. Köln 1969, 62–75. Flickermaschine. Fragebogen. In: Vagelis Tsakiridis (Hg.): Supergarde. Prosa der Beat- und Pop-Generation. Düsseldorf 1969, 31–42, 220. Ohne Rente. In: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 2 (1969), 99. Rolf Dieter Brinkmann. In: Oberbaum-Linkeck-Almanach. 1965–1968. Artikel von Dutschke u. a. Berlin 1969, 8–11. Über Lyrik und Sexualität. In: Horst Bingel (Hg.): Pornografie. Dokumente, Analysen, Fotos, Comics. Frankfurt a. M. 1969, 65–70.
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Anhang
Über Lyrik und Sexualität. In: Streitzeitschrift VII/1 (1969), 65–70. Vanille. Gedicht. Enthält außerdem Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille«. In: Jörg Schröder (Hg.): MärzTexte. Bd. 1. Darmstadt 1969, 106–144. »Was ist los?« ... . In: Lobbi. Junge deutschsprachige Literatur. Bd. 2. Nettetal-Lobberich 1969, 27. Die zerbrochene Tasse. Eine Geschichte. 8. April 1970. Erlebnis. Krach. Selbstbildnis mit Chirico. Weißes Licht. In: Der fröhliche Tarzan. Eine neue Kölner Zeitschrift für Dichtung 1 (1970), Bl. [5–6]. Das Leben ist ganz anders. Leseerfahrungen mit Daniil Charms. In: Christ und Welt (5.6.1970), 13. Auch in: Gummibaum. Zeitschrift für neue Dichtung 3. 1970. Gedicht über 4 Fische. Gedicht auf meinen Schallplattenspieler und anderes. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 17/2 (1970), 103–108. Limonade im Grünen. In: Lobbi. Junge deutschsprachige Literatur. Bd. 3. Nettetal-Lobberich 1970, 26. Mein fucking Herz. Liedchen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Dein Leib ist mein Gedicht. Deutsche erotische Lyrik aus 5 Jahrhunderten. Bern [u. a.] 1970, 293–294. Phantastik des Banalen. Rolf Dieter Brinkmann über Virginia Hill »Memoiren einer Gangsterbraut«. In: Der Spiegel 24/34 (1970), 108–110. Wie ich lebe und warum. In: Renate Matthaei (Hg.): Trivialmythen. Frankfurt a. M. 1970, 67–73. Acht Gedichte. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 18/1 (1971), [1–10]. Aus Godzilla, 1969. In: Walter Aue (Hg.): P. C. A. Projecte, Concepte & Actionen. Köln 1971, [238–239]. Auszüge aus: Vorwort zu Die Piloten. Vorwort zu Silverscreen. Statement. Ein Vorfall. Einfaches Bild. Der nackte Fuß von Ava Gardner. Gedicht »Nacht«. Kritik. In: Renate Matthaei (Hg.): Grenzverschiebung. Neue Tendenzen in der deutschen Literatur. Mit einem Vorw. von Renate Matthaei. 1970. 2. Aufl. 1972, 104–110. Kunst in Köln? In: Wilhelm Hein/Birgit Hein [u. a.] (Hg.): X-Screen. Materialien über den Underground-Film. Köln 1971, 115. Lasst das Stille-Virus frei! Zu W. S. Burroughs’ Buch »Nova Express«. In: Stuttgarter Zeitung 27 (24.7.1971), 52. Kälte. Meine blauen Wildlederschuhe. »Wer will schon die Zeitung von gestern?« Die afrikanische Fantasie. Hey, Joe. Gedicht über ein altes Thema. Ohne Titel. Comic-strip. In: Akzente 18/1 (1971), 1–10. Tortenboden. In: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 4 (1971), 86. Auf der Schwelle. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 19/2 (1972), 160–180. Billig. In: Spektrum des Geistes. Literaturkalender. Ein Querschnitt durch das Literaturschaffen der Gegenwart 21 (1972), 122. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Wie ein Pilot. Noch mehr Schatten. In: Heinz Piontek (Hg.): Deutsche Gedichte seit 1960. Eine Anthologie. Stuttgart 1972, 261–263. Die Ferne, blau und weiß. Revolution. Wirf. Vage Luft. In: Hans Peter Keller (Hg.): Satzbau. Literatur aus NordrheinWestfalen. Düsseldorf 1972, 241–245.
Programmschluss. In: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 5 (1972), 105–106. Strip. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Verteidigung der Zukunft. Deutsche Geschichten seit 1960. München 1972, 278–283. To a world filled with compromise, we make no contribution. In: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur 12/36 (1972), 38–45. Das ist. Schatten, No Return. In: ZET. Zeichenbuch für Literatur und Graphik 1 (1973), 42–43. Liedchen. Der leere Stuhl. Gedicht. In: Berndt Höppner (Hg.): Grüne Nächte und alle Bäume flüstern Luise. Skizzen, Gedichtbilder, Illustrationen, Wortbilder, Zeichnungen. Köln 1974, 10, 28. Einen jener klassischen. Noch einmal. Gedicht. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 1 (1974/75), 47–48. Henri, für einen Augenblick. In: Peter Schumann (Hg.): Kreatives Literaturlexikon. Ein erster Ansatz. Starnberg 1974, 18. Meister der Graphik. Die Zeichnungen von Günther Knipp. In: Die Kunst und das schöne Heim. Monatsschrift für Malerei, Plastik, Graphik, Architektur und Wohnkultur 86/8 (1974), [481–488]. Chevaux de trait. [Teil 1]. Einen jener klassischen. In: Neues Rheinland 18/6 (1975), 29. Die Orangensaftmaschine. Nach Shakespeare. Oh, friedlicher Mittag. In: Das da. Monatsmagazin für Kultur und Politik (1975), 49. Einen jener klassischen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.1975), 21. Fragment zu einigen populären Songs. In: Nicolas Born (Hg.): »Die Phantasie an die Macht.« Literatur als Utopie. Literaturmagazin 3. Reinbek bei Hamburg 1975, 105–122. Gedicht. In: Stuttgarter Zeitung 31 (26.4.1975). Hymne auf einen italienischen Platz. In: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 8 (1975), 12. Na, irgendwie. In: Die Zeit 30 (2.5.1975), 23. Na, irgendwie. In: Wolfgang Weyrauch (Hg.): Neue Expeditionen. Deutsche Lyrik von 1960–1975. München 1975, 156. Nach Shakespeare. In: Frankfurter Rundschau 31 (26.4.1975), 7. Über das einzelne Weggehen. In: Lobbi. Junge deutschsprachige Literatur. Bd. 8. Nettetal-Lobberich 1975, 13. Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten. In: Hermann Peter Piwitt/Peter Rühmkorf (Hg.): Das Vergehen von Hören und Sehen. Aspekte der Kulturvernichtung. Literaturmagazin 5. Reinbek bei Hamburg 1976, 228–248. Nachmittags. In: Ulrich Fülleborn (Hg.): Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts. Eine Textsammlung. In Zusammenarbeit mit Klaus Peter Dencker. München 1976, 201. Schlaf, Magritte. Westwärts. In Briefen. Gedicht. Nach Shakespeare. Einen jener klassischen. Einfach Sonne. Die Orangensaftmaschine. Gedicht. Sommer (aus dem Amerikanischen). Brief aus London. In: Jürgen Theobaldy (Hg.): Und ich bewege mich doch. Gedichte vor und nach 1968. München 1977, 13–15, 27–34, 112, 114–115, 138– 139, 142, 144–145, 149, 156, 172–173, 198–200. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Einen jener klassischen. Landschaft. Nach Shakespeare. In: Karl
Werke Otto Conrady (Hg.): Das große deutsche Gedichtbuch. Kronberg/Ts. 1977, 1087–1089. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Klaus Wagenbach (Hg.): Jetzt schlägt’s 13. Deutsche Literatur aus dreizehn Jahren. Berlin 1977, 161–162. Notiz zu dem Gedichtband »Die Piloten«. Vorbemerkung zu dem Band Westwärts 1 & 2. In: Hans Bender/Michael Krüger (Hg.): Was alles hat Platz in einem Gedicht? Aufsätze zur deutschen Lyrik seit 1965. München 1977, 96–98, 187–190. Roma Di Notte. In: Michael Buselmeier (Hg.): Neue deutsche Lyrik. Beiträge zu Born, Brinkmann, Krechel, Theobaldy, Zahl u. a. Heidelberg 1977, 95–97. Über das einzelne Weggehen. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 4, 15/16 (1977/78), 22. Bruchstück Nr. 1. Nach Shakespeare. Wo sind sie. In: Hans Bender (Hg.): In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart. Eine Anthologie in zehn Kapiteln. München 1978, 111–114, 142–143, 202–204. Cannelloni in Olevano. In: Deutsche Akademie Villa Massimo Rom. Hg. vom Direktor der Deutschen Akademie Villa Massimo Rom im Auftr. des Bundesministers des Innern. Rom 1978, 12. Einen jener klassischen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.9.1978). Gedicht »Für Frank O’Hara«. In: Inzwischen 1, 3/4 (1978), 5–11. Hölderlin-Herbst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1.7.1978), Bilder und Zeiten. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. In: Rainer Kussler (Hg.): Textbuch Lyrik. Eine rückläufige Anthologie deutscher Gedichte von der Gegenwart bis zur Renaissance. München 1978, 18. Oh, friedlicher Mittag. In: Fritz Pratz (Hg.): Deutsche Gedichte von 1900 bis zur Gegenwart. Erw. Neuausg. Frankfurt a. M. 1979, 210. Hölderlin-Herbst. Einen jener klassischen. In: Hubert Spiegel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Begründet von Marcel Reich-Ranicki 4 (1979), 253, 257. Einen jener klassischen. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. In: Martin Behrendt/Karl Foldenhauer: Werkbuch Lyrik. Dieses Buch bietet Anregungen und Hilfen zum Verstehen von Gedichten im Unterricht der Sekundarstufe I. Braunschweig 1979, 224–225. Brief. Gegangen. In: Die Zeit 34 (27.4.1979), 56. Rom, Blicke (Auszug). In: Vorbilder. Red. Nicolas Born. Reinbek bei Hamburg 1979, 173–182. Nach Shakespeare. Einen jener klassischen. Verschiedene Titel. Fragment zu einigen populären Songs. Aus einem Brief vom 11.2.1975 an H. S., Austin, Texas. *** (Gedicht). In: Joachim Heimannberg (Hg.): Petrarca-Preis 1975– 1979. Rolf Dieter Brinkmann, Sarah Kirsch, Ernst Meister, Herbert Achternbusch, Alfred Kolleritsch, Zbigniew Herbert. 1940–1975. München 1980, 111–112, 115–122, 250– 251, 268. »Aus einem römischen Winter«. Gesendet vom Westdeutschen Rundfunk am 15.12.1966. In: Gerd Haffmans (Hg.): Über Alfred Andersch. Unter Mitarb. von Rémy Charbon. 2. wesentl. erw. Neuausg. Zürich 1980, 114–116.
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Der unbescheidene Einzelne und das solide Mittelmaß. In: Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur 19 (1980), 20–21. Lied am Samstagabend in Köln. In: Manfred Franke (Hg.): 47 und Elf Gedichte über Köln. Köln 1980, 91–93. Ohne Titel. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 7/35 (1980/81), 47. To a world filled with compromise, we make no contribution. In: Alfred Kolleritsch/Sissi Tax (Hg.): Manuskripte, 1960–1980. Eine Auswahl. Basel [u. a.] 1980, 286–293. Anpassung. In: Regine Friedrich [Red.]: Ariane Mnouchkine. Mephisto. Nach Klaus Mann »Mephisto – Roman einer Karriere«. Stuttgart 1981, 36–37. Ein Gedicht. Die Orangensaftmaschine. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Einen jener klassischen. In: Volker Hage (Hg.): Lyrik für Leser. Deutsche Gedichte der siebziger Jahre. Stuttgart 1981, 60–66. Ortszeiten. Vier Gedichte. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Text + Kritik 71. München 1981, 1–6. Über das einzelne Weggehen. In: Ursula Krechel (Hg.): Lesarten. Gedichte, Lieder, Balladen. Ausgew. und komm. von Ursula Krechel. Darmstadt [u. a.] 1982, 203. Westwärts. In: Christlieb Hirte/Heidrun Loeper (Hg.): BRD heute, Westberlin heute. Ein Lesebuch. Berlin 1982, 202– 208. Westwärts. Na, irgendwie. In: Wolfgang Weyrauch (Hg.): Mein Gedicht ist die Welt. Deutsche Gedichte aus zwei Jahrhunderten. Frankfurt a. M. [u. a.] 1982, 333–338. Bruchstück Nr. 1. In: Heiner Müller [Schauspielhaus Bochum (Hg.)]: Verkommenes Ufer, Medeamaterial, Landschaft mit Argonauten. [Spielzeit 1982/83]. Bochum 1983, 212–214. Das alles. In: Angela Praesent (Hg.): Das Rowohlt-Lesebuch der Liebe. Reinbek bei Hamburg 1983, 301–310. Keiner weiß mehr [Auszug]. In: Karl Riha (Hg.): Stadtleben. Ein Lesebuch. Unter Mitarb. von Waltraud Wende-Hohenberger. Darmstadt [u. a.] 1983, 94–99. Oh, friedlicher Mittag. In: Fritz Pratz (Hg.): Lyrikbuch. Gedichte und Balladen für die Sekundarstufe I. Frankfurt a. M. [u. a.] 1983, 32–33. Über das einzelne Weggehen. Limonade im Grünen. Nach Shakespeare. In: Deutsche Gedichte. Ausgew. und eingel. von Karl Krolow. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1983, 857–858. Wer ist Marina Vlady? Reflexionen zu Jean-Luc Godards »Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß«. In: HansChristoph Blumenberg (Hg.): Warten bis es dunkel wird. 7 Jahre »Film im Bild« aus dem Kölner Stadt-Anzeiger von 1968–1974. Ebersberg 1983, 185. Brief an Maleen. In: Geschichten für uns. Ausgew. von Peter Härtling. Darmstadt [u. a.] 1984, 191–198. Gedichte, so einfach wie Songs. Einen jener klassischen. Die Orangensaftmaschine. Wo sind sie. In: Klaus Pankow (Hg.): Das Erscheinen eines jeden in der Menge. Lyrik aus der BDR, Lyrik aus Westberlin seit 1970. Frankfurt a. M. 1984, 118–121. Heute. Eingedenk der Märchenzeit. In: Matthias Buth (Hg.): Rheinblick. Gedichte aus »Neues Rheinland« 1958 bis 1984. Köln/Bonn 1984, 95, 108. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Ludwig Moos (Hg.):
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In Italien. Eindrücke vom Stiefel. Reinbek bei Hamburg 1984, 82–83. Vanille. Gedicht. Interview mit einem Verleger. In: Jörg Schröder (Hg.): Mammut. März-Texte 1 & 2, 1969–1984. Darmstadt 1984, 106–144, 83–296. Nach Shakespeare. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 10/49 (1984/85), 18. Ra-ta-ta-ta für Bonnie & Clyde etc. Der nackte Fuß von Ava Gardner. Mae West macht mit 75 immer noch weiter. Film 1924. Ohne Chaplin. In: Hans Stempel/Martin Ripkens (Hg.): Das Kino im Kopf. Eine Anthologie. Zürich 1984, 58, 92–93, 95–96, 137–138, 203–204. Am Hang. In: An alle. Zeitschrift für Kultur, Politik, Theorie, Literatur, Kritik, Regionales und Überregionales 6, 9/10 (1985), 58–64. Ein Gedicht (Auszüge, Anfang, Schluss). In: Walter Hinck (Hg.): Schläft ein Lied in allen Dingen. Das Gedicht als Spiegel des Dichters. Poetische Manifeste von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart. Unter Mitarb. von Friedrich Krause. Frankfurt a. M. 1985, 213–215. Eine Geschichte. In: Bodo Morshäuser (Hg.): Thank you good night. Frankfurt a. M. 1985, 44. Einfach Sonne. In: Hans Bender (Hg.): Das Sommerbuch. Gedichte und Prosa. Frankfurt a. M. 1985, 70–71. Einen jener klassischen. Wo sind sie. Canneloni in Olevano. Lied am Samstagabend in Köln. In: Fritz Kölling (Hg.): Deutsche Gedichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart/München 1985, 494–504. Noch einmal auf dem Land. Träume, Diese Blutergüsse der Seele. In: Antje Ellermann (Hg.): Franz Xaver Kroetz, Bauern sterben. Materialien zum Stück. Reinbek bei Hamburg 1985, 16, 132–133. Sommer (aus dem Amerikanischen). In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 32/3 (1985), 193. Wie zufällig. Einfache Gedanken über meinen Tod. Wenn ich meine Schuhe umgekippt auf dem Fußboden. Variation ohne ein Thema. Bruchstück Nr. 3. Guten Morgen in Köln. In: Hubert Witt (Hg.): Die nicht erloschenen Wörter. Westdeutsche Lyrik seit 1945. Lyrik aus der BRD. Lyrik aus Westberlin. Berlin 1985, 108–121. Zuletzt ein wilder geisterhafter Hass. In: Westermanns Monatshefte 11 (1985), 66–70. Die Dunkelheit als ein Dunst für meine Frau. Die Konservendose. Samstagmittag. Einen jener klassischen. [Aus Westwärts 2]. Oh, friedlicher Mittag. Nicht hinauslehnen, 2 ländliche Bilder. Landschaft. Gedichte schreiben. Schreiben, realistisch gesehen. Zwischen den Zeilen. Notiz. In: Hans-Heino Ewers (Hg.): Alltagslyrik und neue Subjektivität. Mit Materialien. Stuttgart 1986, 32, 39–40, 59–61, 66–67, 70–72, 94. Heruntergekommenes Arkadien. Schutthaufen. S. Maria della Concezione. In: Franz Peter Waiblinger (Hg.): ReiseTextbuch Rom. Ein literarischer Begleiter auf den Wegen durch die Stadt. Mit Fotos von Gertrud Leutenegger. München 1986, 24–25, 108, 170–171. Hölderlin-Herbst. Geschlossenes Bild. Die Konservendose. Der Mond, der Präsident und die amerikanische Prärie. Er sagt. Gedicht. Einen jener klassischen. In: Der Bücherkarren. Internationale Literatur im Verlag Volk und Welt Berlin 6 (1986), o. S.
Liedchen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Allerleilust. Hundert erotische Gedichte. Mit Bildern von Karin Székessy und Paul Wunderlich. München 1986, 119. Canneloni in Olevano. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Peter Hamm (Hg.): Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn. Frankfurt a. M. 1987, 99–103, 118–119. Einen jener klassischen. Meinetwegen Rosen. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Gedicht. Oh, friedlicher Mittag. In: Karl Otto Conrady (Hg.): Das Buch der Gedichte. Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine Sammlung für die Schule. [Berlin] 1987, 553–554. Oh! Comic No. 2. Nichts. In: Aldona Gustas (Hg.): Erotische Gedichte von Männern. München 1987, 50–53. Schnitte [Auszug]. Die Literatursensation im Wiener. Eine Erstveröffentlichung aus dem Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann. Seiten aus einem Buch, das bislang unterdrückt wurde, so unangreifbar radikal ist es. In: Wiener. Zeitschrift für Zeitgeist 11 (1987), 74–77. Aus den Aufzeichnungen »Rom, Blicke«. In: Petra Hardt/ Manfred Hardt (Hg.): Ciao, Bellezza. Deutsche Dichter über Italien. Ein Lesebuch. München [u. a.] 1988, 357–376. Wolken. Gedicht. In: Angelika Lochmann (Hg.): Das blaue Buch. Lesarten einer Farbe. Nördlingen 1988, 321–323. Gedicht. In: Franz Hebel (Hg.): Lesen, Darstellen, Begreifen. Lese- und Arbeitsbuch für den Literatur- und Sprachunterricht. Frankfurt a. M. 1988, 38. Heute. In: Jochen Arlt (Hg.): Links vom Dom, rechts vom Dom. 2. Kölner Lesebuch. Mit Fotos von Hans G. Meisenberg. Pulheim 1988, 117–118. Hymne auf einen italienischen Platz. Roma die Notte. In: Gunter E. Grimm (Hg.): Italien-Dichtung. Gedichte von der Klassik bis zur Gegenwart. Bd. 2. Stuttgart 1988, 434–440. Mondlicht in einem Baugerüst. In: Hans Ulrich Hirschfelder/Gert Nieke (Hg.): Nachtstücke. Ein Lesebuch. Mit einem Nachw. vers. von Hans Ulrich Hirschfelder und Gert Nieke. Frankfurt a. M. 1988, 171–175. 24. Dezember 1972, Olevano-Romano. In: Jochen Arlt/ Richard Griesbach (Hg.): Kölner Weihnachtsbuch. Mit Zeichnungen von Walter Haehn. Pulheim 1989, 111–114. Die Aloe. In: Jochen Arlt (Hg.): Stadt im Bauch. 3. Kölner Lesebuch. Mit Fotos von Hans G. Meisenberg. Pulheim 1989, 60. Ich sage zu dir »Liebchen«. Short Story. Westwärts. Sommer (aus dem Amerikanischen). Ein Skunk. Für Betsy Schnell. Aus der Geschichte der USA. Angedröhnt. Montag im Februar. Mae West macht mit 75 immer noch weiter. Der nackte Fuß von Ava Gardner. One Way. In: Gerhard C. Krischker (Hg.): Overseas call. Eine US-Anthologie. 200 Amerikagedichte von zeitgenössischen deutschen Autoren. Eggingen 1989, 45, 53, 57–60, 62, 96–97, 99, 102, 148, 169–170, 172–173, 202. Die gelbe Fußmatte liegt vor der Badewanne. Mae West macht mit 75 immer noch weiter. Tortenboden. In: KiWiLesebuch. Die 70er Jahre. Mit Texten von Gabriel García Márquez. Köln 1989, 28–31. Immer mehr Worte. In: Stuttgarter Zeitung (21.10.1989), 50. Man ging nicht weg und kam woanders an. Noch mehr Schatten. In: KiWi-Lesebuch. Die 60er Jahre. Köln 1989, 295–302.
Werke Oh, friedlicher Mittag. In: Norbert Schachtsiek-Freitag (Hg.): Tageszeiten-Gedichte. Frankfurt a. M. 1989, 71–72. Vorläufiger Text, telefonisch durchgegeben [zur Ankündigung des im Mai 1975 im Rowohlt-Verlag erschienenen Gedichtsbandes Westwärts 1 & 2]. Die Geschichten. Nacht (Improvisation). Schattenmorellen. Alka-Seltzer. Lebenslauf einer Frau. Gedicht. In: Udo Seinsoth (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. 16. April 1940–23. April 1975 zum 50. Geburtstag. Bremen 1990, 15–20, 37, 51. Alte Frauen. Großer Wagen. In: Die Zeit 45 (13.4.1990), 63. Einen jener klassischen. In: Hanspeter Brode (Hg.): Deutsche Lyrik. Eine Anthologie. Frankfurt a. M. 1990, 374. Ihr kleines Gesicht. In: Cornelia Staudacher (Hg.): Die unbestimmte Entfernung. Deutsche Liebesgeschichten von 1945 bis heute. Mit einem Nachwort von Cornelia Staudacher. München [u. a.] 1990, 316–321. Kunst in Köln? In: Bruno Fischli (Hg.): Vom Sehen im Dunkeln. Kinogeschichten einer Stadt. Köln 1990, 129. Lebenslauf einer Frau. Gedicht. In: Juni. Magazin für Literatur und Kultur 4 (1990), 22. Reisen in die nördlichen Gärten. Einen jener klassischen. Gedicht. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Axel Kutsch (Hg.): Wortnetze. Neue Gedichte deutschsprachiger Autor(inn)en. Bergheim 1990, 15–18. [Schutthaufen]. In: Manfred F. Fischer (Hg.): Wie lange dauern die Werke? Ein Lesebuch für Denkmalpfleger, ihre Freunde und Kritiker. München 1990, 42. Wie ein Pilot. Populäres Gedicht Nr. 13. In: Otto Knörrich (Hg.): Gedichte seit 1945. Für die Sekundarstufe. Stuttgart 1990, 63–64. Der fliegende Robert zu Köln am Rhein. 1. November 1964. In: Günter Rüber (Hg.): Kleine Geschichten aus Köln. Stuttgart 1991, 100–101. Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. Die Orangensaftmaschine. In: Harald Hartung (Hg.): Luftfracht. Internationale Poesie. 1940 bis 1990. Repr. der limit. Bleisatzausg. Frankfurt a. M. 1991, 228, 319. Einen jener klassischen. In: Peter K. Kirchhof (Hg.): Literarische Porträts. 163 Autoren aus Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1991, 95. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Dirk C. Fleck (Hg.): Rom. Hamburg 1991, 12. Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin. In: Günter Schütz (Hg.): Liebeslyrik vom Barock bis zur Gegenwart. Mit Materialien. Ausgew. und eingel. von Günter Schütz. Stuttgart 1991, 64. Landschaft. In: Thorsten Ahrend (Hg.): ...denn die Natur ist nicht der Menschen Schemel. Leipzig 1991, 42. Die Orangensaftmaschine. Einen jener klassischen. In: Hans-Joachim Willberg (Hg.): Deutsche Gegenwartslyrik. Eine poetologische Einführung. Für die Sekundarstufe. Stuttgart 1992, 120–122. Einen jener klassischen. In: Peter Geist (Hg.): Im Spiegel lauert ein anderer. Lyrik der Moderne aus dem europäischen/ amerikanischen Raum. Texte, mehrsprachig, für die Sekundarstufe I und II. Berlin 1992, 112. Gedicht. In: Rudolf Helmut Reschke (Hg.): Deutsche Lyrik unseres Jahrhunderts. Eine Anthologie. Mit einem Nachw. von Rudolf Helmut Reschke. Gütersloh 1992, 532.
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Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i. O. für H. P. Vechta i. O. Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land, Nordwestdeutschland, Krieg und Nachkriegszeiten. In: Dirk Grathoff (Hg.): Oldenburg literarisch. Oldenburg 1992, 372–375, 377–378. Schlaf, Magritte. In: Heike Kraft (Hg.): Alle meine Engel. Unheilige und heilige Geschichten über die himmlischen Heerscharen. Hamburg 1992, 68–70. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (4.4.1992), Bilder und Zeiten. Über das einzelne Weggehen. In: Ingrid Gründer (Hg.): »Ich liege in den Nächten auf deinem Angesicht«. Liebesgedichte. Hamburg [u. a.] 1992, 177. Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts. Photographie. Einfach Sonne. Einen jener klassischen. Westwärts. In: Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Erweiterte Ausgabe des Lesebuchs A11 (Lyrik). Bearb. Ursula Heise. Stuttgart 1992, 318–322. [Die Bootsfahrt]. In: Ulrike Bauer (Hg.): Unaufhaltsame Entzweiung. Ein Lesebuch. Mit einem Vorw. vers. von Ulrike Bauer. Frankfurt a. M. 1993, 101–111. Einem Mädchen ins Album geschrieben. Immer mehr Worte. In: Hiltrud Gnüg (Hg.): Nichts ist versprochen. Liebesgedichte der Gegenwart. [Nachdr.]. Stuttgart 1993, 113, 165. Einen jener klassischen. In: Johann Bauer (Hg.): Schwarz auf weiß. Lese-Ideen für das 9./10. Schuljahr. Hannover 1993, 269. Einen jener klassischen. Gedicht. In: Volker Bohn (Hg.): Deutsche Literatur seit 1945. Texte und Bilder. Frankfurt a. M. 1993, 331–333. Einen jener klassischen. Landschaft. Notizen zu einer Landschaft bei Vechta i. O. für H. P. Samstagmittag. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen. Das 20. Jh. durchges. und bearb. von Elisabeth Katharina Paefgen. 18. Aufl. Düsseldorf 1993, 737–741. Erinnerung an eine Landschaft. In: Carmen Schäfer/Wolfgang Storch (Hg.): Die Sprache der Landschaft. Texte von Friedrich Nietzsche bis Rolf Dieter Brinkmann. Stuttgart [u. a.] 1993, 301–306. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Hubert Spiegel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Begründet von Marcel Reich-Ranicki 16 (1993), 217. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Einen jener klassischen. In: Klaus Gerth (Hg.): In der Frühe sind die Tannen kupfern. Gedichte für ein Jahr. Seelze 1993, 11, 43. Über das einzelne Weggehen. In: Heinz Ludwig Arnold: Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur. Eine Erinnerung. Göttingen 1993, 84. Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, 65–77. Das weiße Bettlaken ist vor dem Fenster. In: Gerhard C. Krischker (Hg.): »Der Augenblick des Fensters«. 55 FensterGedichte. Ges. von Karl Hotz. Mit einem Rückblick von Wulf Segebrecht. Bamberg 1994, 55. Der nackte Fuß von Ava Gardner. In: Klaus Wagenbach (Hg.): Deutsche Literatur der sechziger Jahre. Ein Lesebuch. Überarb. Neuausg. Berlin 1994, 224–225.
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Anhang
Einen jener klassischen. In: Dietrich Bode (Hg.): Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Rev. Ausg. Stuttgart 1994, 347. Einen jener klassischen. In: Hannes Krauss (Hg.): Vom Nullpunkt zur Wende. Deutschsprachige Literatur 1945–1990. Ein Lesebuch für die Sekundarstufe. Essen 1994, 139. Einen jener klassischen. Hölderlin-Herbst. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): 1000 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Sarah Kirsch bis heute. Bd. 10. Frankfurt a. M. [u. a.] 1994, 297, 301, 305. Früher Mondaufgang. In: Bastei-Lübbe-Taschenbuch. Köln 1994, 301–312. Landschaft. In: Heinrich Biermann (Hg.): Texte, Themen und Strukturen. Deutsch für die Oberstufe. Düsseldorf 1994, 147. Nacht. In: Joachim Schultz (Hg.): Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet. Farben in der deutschen Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart. Mit einem Nachw. von Joachim Schultz. München 1994, 113–114. Oh, friedlicher Mittag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.9.1994), Bilder und Zeiten. Bild. Die Piloten (1968). Auszug aus dem Vorwort. Einfaches Bild. Geschlossenes Bild. Photographie. In: Joachim Fritzsche (Hg.): Überschrift Deutsch. Arbeitsbuch Literatur und Kommunikation Sekundarstufe II. Hannover 1995, 57. Der nackte Fuß von Ava Gardner. In: Reclams LiteraturKalender (1995), 126–127. »... deutschen Maler, was haben sie gemalt? ... In: Harald V Uccello: Heile Welt. Movimentos #5–#9, Greve in Chianti, Oktober 1992 – Juni 1993. Original-Beitr. von Harald V Uccello, Elda Torres ... München 1995, 18. Ein gewöhnliches Lied. In: Hans Christoph Buch (Hg.): Black and blue. Literatur aus dem Jazz-Zeitalter. Eine Anthologie. Frankfurt a. M. 1995, 228–229. Eine Gegend, leer wie ein leeres Bankkonto. In: Oldenburgische Volkszeitung 161 (22.4.1995), 7. Einen jener klassischen. In: Hermann Korte (Hg.): Literatur. [Schülerbd.]. Ein Lese- und Arbeitsbuch. 1.Aufl. Berlin 1995, 46. Einen jener klassischen. Kleiner Nordwind. In: Jörg Drews (Hg.): Das bleibt. Deutsche Gedichte 1945–1995. Mit einem Nachw. von Jörg Drews. Leipzig 1995, 58–60. Einen jener klassischen. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 20/100 (1995/96), 11. Einige sehr populäre Songs. In: Volker C. Dörr/Norbert O. Eke u. a. (Hg.): »Wir träumen ins Herz der Zukunft«. Literatur in Nordrhein-Westfalen 1971–1994. Frankfurt a. M. [u. a.] 1995, 142–162. Gedicht, das er sich selber zu seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag schrieb am 16. April 1962. Kaffeetrinken. Die kleinen Kindheitstage (2.4.62). To Lofty with Love. Für Ralf-Rainer/Rolf Dieter Brinkmann. Notizen zu »Frank Xerox«. Der längste Zug der Welt. Vom 28. bis 29. Nov. 1969 über Köln – Darmstadt – Stuttgart – Frankfurt – zurück nach Köln. Zugluft. Sein Album. Liedchen. 18. September 1972. Schwammig gegen 1 auf ... Einübung einer neuen Sensibilität. Oh. Welch schreckliche Nacht. Vita. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg
1995, [10–11], [50–51], 53, 56–65, 66–69, 72, 75–76, 147– 155, 208–213. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Christoph Buchwald (Hg.): Deutsche Literatur der siebziger Jahre. Ein Lesebuch. Veränd. Neuausg. Berlin 1995, 161–162. Landschaft. In: Gunter E. Grimm (Hg.): Deutsche Naturlyrik. Vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1995, 418–419. Landschaft. Notiz. In: Isabella Bleissem/Hanns-Peter Reisner: Perspektiven auf literarische Texte. Grundstrukturen des Fachs und Methoden der Interpretation. Stuttgart [u. a.] 1995, 82 und 203–204. Limonade im Grünen. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (8.7.1995). »Machte gegen Viertel nach 9 meinen ersten größeren Spaziergang ... (Spanische Treppe)«. In: Rom [Reiseführer]. Dt. Textfassung Inka Schneider unter Mitarb. von Petra Jung und Isabell Seidenstücker. Übers. Birgit LamerzBeckschäfer. Köln 1995, 119–120. Mondlicht in einem Baugerüst. In: Axel Kutsch (Hg.): Der Mond ist aufgegangen. Deutschsprachige Gedichte mit Mond vom Barock bis zur Gegenwart. Weilerswist 1995, 126–128. Notiz zu dem Gedichtband »Die Piloten«. In: Klaus Schuhmann: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995, 338–340. Oh, friedlicher Mittag. In: Helmut Spiegel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen 18/1995, 215– 216. Rom, Blicke. In: Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt. Dargeboten von Hans Magnus Enzensberger. Dt. von Matthias Fienbork [u. a.]. Frankfurt a. M. 1995, 30–36. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Esslinger Zeitung 125 (17.3.1995). Über das einzelne Weggehen. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Die westdeutsche Literatur 1945 bis 1990. Ein kritischer Überblick. Überarb. Ausg. München 1995, 94. Vechta i. O. Noch einmal auf dem Land. Meine blauen Wildlederschuhe. In: Thomas Schaefer (Hg.): Niedersachsen im Gedicht. Landeslyrik von Brockes bis Vesper. Husum 1995, 23, 48–49, 115. Einen jener klassischen. In: Marc Degens (Hg.): Der Sprung. [Ins nächste Jahrtausend]. Berlin 1996, 35. ... Essen. 25,- DM/bleicher Mittag ... In: Enno Stahl (Hg.): German trash. Trashstories; Literatur aus Abfall, aus Fundstücken, Junk-Lit., welche die Welt als gegebene hinnimmt und sie nicht in Kunsthaftigkeit zu simulieren versucht. Berlin 1996, 9–27. Früher Mondaufgang. In: Reinhard Rohn (Hg.): Mondzauber. Die schönsten Geschichten vom Mond. Düsseldorf 1996, 47–59. Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin. Nacht. In: Gerhard Kaiser (Hg.): Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriss in Interpretationen. Bd. 3. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996, 433–435. Lebenslauf einer Frau. Auf einem falschen Ast. .. .Und das Alleinsein ... Lied von den kalten Bauern auf dem kalten Land, Nordwestdeutschland, Krieg und Nachkriegszeiten. In: Ilma Rakusa (Hg.): Einsamkeiten. Ein Lesebuch. Frankfurt a. M. [u. a.] 1996, 113, 117, 140–141, 185–189.
Werke Rom, Blicke. [Auszug]. In: Johannes Mahr (Hg.): Rom – die gelobte Stadt. Texte aus fünf Jahrhunderten. Stuttgart 1996, 341–343. Bruchstücke von Farben. Der 100. Beitrag. Rolf Dieter Brinkmann über den Aachener Weiher 1974. In: Kölner Stadt-Anzeiger 85 (12./13.4.1997), 39. Der Mond, der Präsident und die amerikanische Prärie. Populäres Gedicht Nr. 11. Rote Tomaten. Und. Lebenslauf einer Frau. Keiner weiß mehr. [Auszug]. Cinemascope. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Die deutsche Literatur seit 1945. Deutschstunden. 1967–1971. München 1997, 26–27, 92, 94, 155, 182–187, 206. Rom, Blicke (1979), Kolosseum. In: Detlev Wannagat (Hg.): Der Blick des Dichters. Antike Kunst in der Weltliteratur. Kommentiert von Detlev Wannagat. Darmstadt 1997, 206– 209. Da war es. In: Wolfgang Schneider (Hg.): Männerbilder. Ein Lesebuch. Frankfurt a. M. 1998, 126–137. Die Orangensaftmaschine. Einen jener klassischen. In: Oldenburgische Volkszeitung 164 (4.12.1998), 10, 28. Einen jener klassischen. Köln Hbf 0 Uhr 12. In: Jochen Schimmang (Hg.): Köln, Blicke. Ein Lesebuch. Köln 1998, 295, 329–331. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Die Orangensaftmaschine. Nach Shakespeare. In: Harald Hartung (Hg.): Jahrhundertgedächtnis. Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert. Leipzig 1998, 284–286. Wechselt die Jahreszeit. Nichts. Film. Alka-Seltzer. Der nackte Fuß von Ava Gardner. Das große Verschwinden. Wieder für Carl-Heinz. Rote Tomaten. Die gelbe Fußmatte liegt vor der Badewanne. In: Christoph Hollender (Hg.): »Ich denke mir eine Welt«. Literatur in NordrheinWestfalen 1946–1970. Frankfurt a. M. [u. a.] 1998, 646, 691–698, 824–825, 844–847, 947–948. Wolken. In: Walter Wittkämper (Hg.): Kleine Kölsche Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Bergisch Gladbach 1998, 74–75. Ausfahrt nach Rom. In: Bruno Preisendörfer (Hg.): Fluchten vor dem Vaterland. Deutsche Geschichten. Berlin 1999, 145–147. Einen jener klassischen. In: Fliegende Wörter. 52 Qualitätsgedichte zum Verschreiben und Verbleiben. Postkartenkalender. 9.–15. August. Münster 1999. In Briefen. In: Regina Nörtemann (Hg.): Ein Flügel Sonne, ein Flügel Mond. Der Brief im Gedicht. Göttingen 1999, 53. Meine blauen Wildlederschuhe. In: Konrad Heidkamp (Hg.): It’s all over now. Musik einer Generation – 40 Jahre Rock und Jazz. Berlin 1999, 27. Nach Shakespeare. In: Oldenburgische Volkszeitung 165 (28.8.1999), 9. Oh, friedlicher Mittag. Westwärts. In: Waltraud Wende (Hg.): Großstadtlyrik. Stuttgart 1999, 253–261. Oh, friedlicher Mittag. In: Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): Morgenstund und Mitternacht. Gedichte für alle Tageszeiten. Stuttgart 1999, 73–74. Rolf Dieter Brinkmann. [Rom, Blicke Auszug]. In: Kurt Rothmann (Hg.): Die deutsche Literatur. Ausgewählte Texte. Stuttgart 1999, 446–447. Wenn sie morgens singen. In: Natalie Bach (Hg.): Frühlings-
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gefühle. Die schönsten Geschichten. München 1999, 335– 342. Forum bei Nacht. Sportpalast aus dem Jahr 72 v. Chr. In: Michael Worbs (Hg.): Rom. Literarische Spaziergänge. Frankfurt a. M. [u. a.] 2000, 128, 141. Gedicht. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Oldenburgische Volkszeitung 166 (15.4.2000), 1, 8. Heruntergekommenes Arkadien. Schutthaufen. S. Maria della Concezione – Todeslager. In: Franz Peter Waiblinger (Hg.): Rom. Ein literarischer Reiseführer. Mit Fotos von Gertrud Leutenegger. Veränderte Neuausgabe. Darmstatdt 2000, 13–14, 96, 155–156. Selbstbildnis im Supermarkt. Noch mehr Schatten. In: Hans-Joachim Simm (Hg.): Deutsche Gedichte. Frankfurt a. M. 2000, 994–995. Picadilly Circus. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 45/200 (2000), 149–154. Rolf Dieter Brinkmann, Rom, Blicke (Auszug). In: Gerhard R. Kaiser (Hg.): Gegenwart II. Stuttgart 2000, 265–281. Einen jener klassischen. In Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): Sommergedichte. Ausgewählt von Christine Schmidjell. Stuttgart 2001, 42. Gedicht auf einen Lieferwagen u. a. In: Peter Salomon (Hg.): PS Hero(c). 50 Auto-Bilder von Johannes Vennekamp. 327 km/h oder Ach, wer doch ewig Auto fahren könnte. 50 exemplarische Gedichte. Nachw. von Anton Hunger. München 2001, 46. Meinetwegen Rosen. Schnee. Einen jener klassischen. Nach Shakespeare. Selbstbildnis im Supermarkt. In: Karl Otto Conrady (Hg.): Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu. hg. und aktualisiert von Karl Otto Conrady. Düsseldorf [u. a.] 2001, 1016–1017. Na, irgendwie. In: Thomas Kling (Hg.): Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert. Eingelagert und moderiert von Thomas Kling. Köln 2001, 304. Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes. Meine blauen Wildlederschuhe. In: Gabriele Sander (Hg.): Blaue Gedichte. Stuttgart 2001, 25–26, 75–76. Die Orangensaftmaschine. Über das einzelne Weggehen. In: Anton Gerhard Leitner (Hg.): Heiß auf dich. 100 Lockund Liebesgedichte. München 2002, 14–15, 119. Hölderlin-Herbst. In: Münsterländische Tageszeitung (14.9.2002). Mondlicht in einem Baugerüst. In: Dietrich Bode (Hg.): Siehst du den Mond? Gedichte aus der deutschen Literatur. Stuttgart 2002, 132–136. Ohne Titel. In: Klaus Peter Dencker (Hg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002, 289. Picadilly Circus. In: Jochen Schimmang (Hg.): Zentrale Randlage. Lesebuch für Städtebewohner. Köln 2002, 160–168. Schlafwagen nach Rom. In: Christian Kosler (Hg.): Warum in die Ferne? Das Lesebuch für Daheimgebliebene. Frankfurt a. M. [u. a.] 2002, 67–72. Dann. Ideologie. »Le Fils de L ’ homme«. Gedicht. In: Hugo Dittberner (Hg.): Kurze Weile. Gedichte in wenigen Zeilen. Mit e. Nachw. von Hugo Dittberner. Darmstadt 2003, 128– 129.
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Einen jener klassischen. In: Rheinischer Merkur 58/33 (14.8.2003), 8. Einen jener klassischen. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (30.8.2003). Hymne auf einen italienischen Platz. Canneloni in Olevano. In: Hansjürgen Blinn (Hg.): Kennst du das Land. Die hundert schönsten Italien-Gedichte. Berlin 2003, 96–97, 106– 107. Notiz zu dem Band »Die Piloten«. In: Norbert Miller/Harald Hartung (Hg.): Theorie der modernen Lyrik. München [u. a.] 2003, 918–920. Oh, friedlicher Mittag. Über das einzelne Weggehen. In: Peter Härtling (Hg.): Lebensalter. Gedichte. München 2003, 125–126, 139. Schreiben, realistisch gesehen. In: Ulla Hahn (Hg.): Stimmen im Kanon. Deutsche Gedichte. Ausw. und Nachw. von Ulla Hahn. Stuttgart 2003, 328–329. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Marcel ReichRanicki (Hg.): Meine Gedichte von Walther von der Vogelweide bis heute. Frankfurt a. M. [u. a.] 2003, 360. Weitermachen auf den Schädelstätten. Rolf Dieter Brinkmann Rom, Blicke. In: Norbert Niemann/Eberhard Rathgeb (Hg.): Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003. Bonn 2003, 225–227. Wenn sie morgens singen. In: Susanne Gretter/Hans-Ulrich Müller-Schwefel (Hg.): Rot oder weiß? Geschichten vom Wein. Frankfurt a. M. [u. a.] 2003, 81–86. Hymne auf einen italienischen Platz. In: Dietrich Bode (Hg.): Italien. Eine Reise in Gedichten. Stuttgart 2004, 67–68. Improvisation 1, 2 & 3 (u. a. nach Han Shan). In: Dieter M. Gräf (Hg.): Das leuchtende Buch. Die Welt als Wunder im Gedicht. Mit e. Nachw. vers. von Dieter M. Gräf. Frankfurt a. M. 2004, 190–192. Nach Shakespeare. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 49/213 (2004), 153. Oh, friedlicher Mittag. Einen jener klassischen. Ein einziger Satz. Gedichte schreiben. Zwischen den Zeilen. In: Siegfried Hein (Hg.): Bildlich gesprochen. Eine Lyrik-Anthologie. [Ab 9./10. Schuljahr]. Leipzig [u. a.] 2004, 79, 84, 100, 102. Über das einzelne Weggehen. In: Jörg Drews (Hg.): Nach soviel Unsinn und Irrfahrt. Liebesgedichte nach 1945. Leipzig 2004, 114. 10 Uhr 20. In: Rheinischer Merkur 60 (17.3.2005), Sonderbeilage »Morgengedichte«, 8. Chicago. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (17.4.2005), 29. Einen jener klassischen. Ein Skunk. Oh, friedlicher Mittag. In: Wulf Segebrecht (Hg.): Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Unter Mitarb. von Christian Rößner. [Frankfurt a. M.] 2005, 548–551. An Gryphius. Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes. Musik aus Salzburg. In: Karl Pörnbacher (Hg.): Gedichtbuch. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten für die Schule. Berlin 2006, 424–425. Das Alles. In: Albert Meier (Hg.): Deutschland erzählt. Unter Mitarb. von Maike Schmidt. Frankfurt a. M. 2006, 147–156. Gedicht. In: Oldenburgische Volkszeitung (1.11.2006), 32. Keiner weiß mehr. Auszug. In: Vito von Eichborn (Hg.): Mit
Charme und Schotbruch. Von der Heide in die Marsch. Die beliebtesten Autoren Norddeutschlands. Hamburg 2006, 291–298. Liedchen. Einfaches Bild. In: Steffen Jacobs (Hg.): Die liebenden Deutschen. 645 entflammte Gedichte aus 400 Jahren. Mit einem Nachw. von Steffen Jacobs. Frankfurt a. M. 2006, 208, 363. Oh, friedlicher Mittag. In: Ludwig Reiners (Hg.): Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung. Aktual. und erw. von Albert von Schirnding. Mit Titelvignetten von Andreas Brylka. 2. Aufl. München 2006, 671–672. Rote Tomaten. In: Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): Rote Gedichte. Stuttgart 2006, 42–43. Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. Flickermaschine.In: Kerstin Gleba/Eckhard Schumacher (Hg.): Pop seit 1964. Köln 2007, 38–60. Einen jener klassischen. In: Anton Gerhard Leitner (Hg.): Die Arche der Poesie. Lieblingsgedichte deutscher Dichter. München 2007, 88–89. Einfaches Bild. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.3.2007), 4. Gedicht. In: Rheinischer Merkur 62/30 (26.7.2007). Landschaft. Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Gedicht. Die Orangensaftmaschine. In: Heinrich Detering (Hg.): Reclams großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2007, 721–724. Noch einmal auf dem Land. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Wolfgang Menzel (Hg.): 99 Gedichte durch das Jahr. Ausgew., befragt, kommentiert und zum Lesen empfohlen von Wolfgang Menzel, Jürgen Fröchling u. Regina Nußbaum. Braunschweig 2007, 86–87, 119. Samstagmittag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.5.2007). Schnee. In: Helmut Zwanger (Hg.): Gott im Gedicht. Eine Anthologie zur deutschsprachigen Lyrik von 1945 bis heute. Tübingen 2007, 274. Gedicht. In: Deutschlandfunk-Lyrikkalender. Für jeden Tag ein Gedicht (2.9.2008). Keiner weiß mehr (Auszug). In: Andreas Pflitsch/Manuel Gogos (Hg.): 1968. Kurzer Sommer – lange Wirkung. Ein literarisches Lesebuch. München 2008, 23–26. Über das einzelne Weggehen. In: Jörg Drews (Hg.): Das Labyrinth ist eröffnet. Liebesgedichte der Gegenwart. Mit einem Nachw. vers. von Jörn Drews. Stuttgart 2008, 122. Über das einzelne Weggehen. In: Deutschlandfunk-Lyrikkalender. Für jeden Tag ein Gedicht (6.11.2008). Immer mehr Worte. In: Konstantin Wecker (Hg.): Stürmische Zeiten, mein Schatz. Die schönsten deutschen Liebesgedichte. München [u. a.] 2009, 119. Rote Tomaten. In: Neue Ruhr-Zeitung (23.11.2009). Rote Tomaten. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (23.11.2009). Schlesingers Film. Von Walt Disney. Für Carl-Heinz. Der nackte Fuß von Ava Gardner 87–88. Ra-ta-ta-ta für Bonnie & Clyde etc. Cinemascope. Fotos 1, 2. Samstagabend im Winter. Programmschluss. In: Andreas Kramer/Jan Volker Röhnert (Hg.): Die endlose Ausdehnung von Zelluloid. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht. Dresden 2009, 84–95.
Werke Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Noch mehr Schatten. Nach Shakespeare. In: Hans-Joachim Simm (Hg.): Deutsche Gedichte. Frankfurt a. M. 2009, 1226–1228. Über das einzelne Weggehen. Immer mehr Worte. In: Alexa Hennig von Lange (Hg.): I love you, I don’t love you. Lyrik und Lyrics. Weinheim [u. a.] 2009, 28, 56. Gedicht. In: Oldenburgische Volkszeitung (16.4.2010), 16. Mondlicht in einem Baugerüst. In: Dietrich Bode (Hg.): Siehst du den Mond? Gedichte aus der deutschen Literatur. Stuttgart 2010, 168–174. Schnee. In: Fliegende Wörter. 52 Qualitätsgedichte zum Verschreiben und Verbleiben. Postkartenkalender. München 2010, 18.–24. Januar. Don’t bug that chick. In: Anton Gerhard Leitner (Hg.): Gedichte für Zeitgenossen. Lyrik aus 50 Jahren. Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner. München 2011, 49–51. Heruntergekommenes Arkadien. In: Simon Lörsch/Constanze Neumann (Hg.): Rom. Ein literarischer Streifzug. Frankfurt a. M. 2011, 32–33. Nacht. Schnee. Schneewittchen. In: Ron Winkler (Hg.): Schneegedichte. Frankfurt a. M. 2011, 102–103, 124, 186. Ein Vorfall. In: Carolyn Christov-Bakargiev (Hg.): Rosemarie Trockel. With a text by / Mit einem Text von Rolf Dieter Brinkmann. Ostfildern 2012, 3–11. In Briefen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.7.2012), 24. Ein kleiner Vormittag. Kein Erinnern im Frühling. Für H. Bender, 13.3.61.Chagall. In: Christine Knödler (Hg.): Mal deine Wünsche in den Himmel. Kunst und Gedichte für Kinder und Erwachsene. 3. Aufl. München [u. a.] 2013, 12, 58, 107. Vechta i. O. In: Klaus Seehafer (Hg.): Deutsche Städte. Eine lyrische Landkarte. Stuttgart 2013, 46. Einen jener klassischen. In: Reinhard Matz/Wolfgang Vollmer (Hg.): Köln nach dem Krieg. Leben – Kultur – Stadt, 1950–1990. [Hg. von der Historischen Gesellschaft Köln e. V.]. Köln 2014, 235. Limonade im Grünen. In: Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 173 (24.11.2014). Neue Ruhr-Zeitung 69 (24.11.2014), 25. In: Westfalenpost (24.11.2014). In: Westfälische Rundschau (24.11.2014). Einen jener klassischen. In: Augsburger Allgemeine Zeitung (12.5.2015), 12. Eiswasser an der Guadelupe Str. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.4.2015), 18. Landschaft. In: Nina Möllers (Hg.): Willkommen in Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde. München 2015, 120 [Eine Sonderausstellung des Deutschen Museums und des Rachel Carson Center for Environment and Society]. Literarisches Rätsel. In dieser Woche suchen wir ein legendär schlecht gelauntes Buch eines deutschen Rom-Reisenden. In: Die Welt (31.10.2015), 2. Zerstörte Landschaft mit Konservendosen. Gedicht. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung 12 (1.3.2016), 28. 5 Kollaborationen Rygulla, Ralf-Rainer (Hg.): Fuck you (!) Underground poems = Untergrund-Gedichte. Ausgew., aus d. Amerikan. übertr., mit e. Nachw. von Ralf-Rainer Rygulla. [Der Hg.
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dankt Rolf Dieter Brinkmann für seine Hilfe bei der Durchsicht der deutschen Texte.] Darmstadt 1968. Brinkmann, Rolf Dieter/Berndt Höppner: Liedchen. Gedichtbilder von B. Höppner. In: Gummibaum. Zeitschrift für Literatur, Grafik, Kritik 3 (1969), Bl. [30]. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Der joviale Russe (nach Apollinaire. La jolie rousse). In: Jörg Schröder (Hg.): März-Texte. Bd. 1. Darmstadt 1969, 70–73. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Gaston ans Knie. In: Lit. Das Literaturmagazin im Verlag Kiepenheuer und Witsch 3 (1969), 8. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Hegel an Du Boc [u. a.]. Zugluft. Durch mich die Meil. Elektrisches Licht. Sein Album. (Nach Paul Eluard, Après moi le sommeil.) In: Erwin’s. [Von Exit, Bildermacher und Rolf Dieter Brinkmann. Ralf-Rainer Rygulla. R. E. John]. Köln 1969, 5–6, 13, 15. Brinkmann, Rolf-Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Zehn Münzen aus Albanien. In: Gummibaum. Zeitschrift für Literatur, Grafik, Kritik 2 (1969), Bl. [5]. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Frank Xerox’ »wüster Traum«. In: Merkur 24/268 (1970), 747. Rolf Dieter Brinkmann/Nicolas Born: Wortwechsel. Sender Freies Berlin 20.1.1970. 32 Min. Brinkmann, Rolf Dieter: Der leere Stuhl. Kaffeetrinken. In: Der fröhliche Tarzan 4 (1971), Bl. [21], [26]. Rygulla, Ralf-Rainer/Rolf Dieter Brinkmann: Der joviale Russe (nach Apollinaire: La jolie rousse). In: Jörg Schröder (Hg.): Mammut. März-Texte 1& 2, 1969–1984. Darmstadt 1984, 70–73. Eichhorn, Maria: Arbeiten 1986/87. Berlin 1987 [Katalog zu einer Ausstellung der Galerie Paranorum Berlin, Texte Rolf Dieter Brinkmann/Marius Babias, 5.–19.3.1987]. Hartmann, Thomas: Über die Städte. Mit neun Ansichtskarten von Rolf Dieter Brinkmann, geschrieben in Rom 1972. Unter Mitarb. von Rolf Dieter Brinkmann. Berlin 1987. Brinkmann, Rolf Dieter/Ralf-Rainer Rygulla: Zugluft. Sein Album. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, [65–69]. Franz, Claudia/Axel Dielmann: Rom, Blicke. In: Claudia Franz/Axel Dielmann (Hg.): Beute(l)züge durch die Literatur. [Keineswegs Abfälliges von Menschen und Müllbeuteln.] Frankfurt a. M. 2005, 16–17. Thuswaldner, Anton/Rolf Dieter Brinkmann: Gedicht. Fußnote. In: Salzburger Nachrichten 61/146 (27.6.2005), 11. Rygulla, Ralf-Rainer/Rolf Dieter Brinkmann: Der joviale Russe (nach Apollinaire: La jolie rousse). In: Kerstin Gleba (Hg.): Pop seit 1964. Köln 2007, 61–63. 6 Briefe von und an Brinkmann [Brief an Rolf Dieter Brinkmann, vom 30.1.1964, geschrieben in Köln]. In: Kristian Witsch (Hg.): Briefe, 1948–1967. Köln 1977, 227–230. Brief an Gisela Reinholz vom 18.2.1957]. In: Die Zeit 34 (27.4.1979), 56. Aus einem Brief vom 11.2.1975 an H. S., Austin, Texas. In: Ders.: Petrarca-Preis 1975–1979. Rolf Dieter Brinkmann, Sarah Kirsch, Ernst Meister, Herbert Achternbusch, Alfred Kolleritsch, Zbigniew Herbert [Red. Joachim Heimannsberg]. München 1980, 119–122. Brief an Hans
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Bender]. Essen, den 27.1.61. Brief an Hans Bender]. Köln, 8.8.71. Brief an Hans Bender]. [Brief an Hans Bender]. Köln, 20.8.71. Brief an Hans Bender]. Rom...27.6.73. In: Volker Neuhaus (Hg.): Briefe an Hans Bender. Unter redakt. Mitarb. von Ute Heimbüchel. München 1984, 53–54, 124–125, 154. Aus einem Brief vom 23. März 1974, geschrieben in Austin/ Texas. In: Rolf Dieter Brinkmann [Verlagsinformation]. Reinbek bei Hamburg 1985, [3–4]. An Gerd Fuchs. [Brief vom 19.9.1972] Henning John von Freyend. [Briefwechsel 2.5.1970–22.7.1972] Rolf Dieter Brinkmann/Hermann Peter Piwitt. [Briefwechsel 4.6.1972–5.2.1973] Rolf Dieter Brinkmann/Ulf Miehe. [Briefwechsel 27.7.1972–23.9.1972] Rolf Dieter Brinkmann/Alfred Kolleritsch. [Briefwechsel 25.3.1974– 21.10.1974] Rolf Dieter Brinkmann/Nicolas Born. [Brief vom 3.6.1974 an Hartmut Schnell]. In: Maleen Brinkmann (Hg.): Literaturmagazin 36. Sonderheft Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek bei Hamburg 1995, 71, 77–82, 84–115, 118–121, 124–144. Briefwechsel 2.7.1959– 15.9.1959]. In: Martin Lüdke u. a. (Hg.): Hans Henny Jahnn. Reinbek bei Hamburg 1995, 73–78. 7 Der Autor als Übersetzer O’Hara, Frank: Ave Maria. Hotel Particulier. Aus dem Amerikan. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Lit. Das Literaturmagazin im Verlag Kiepenheuer & Witsch 1 (1968), 5. Sonnenblume / Charles Bukowski. Filme, von rechts nach links / Robert Sward. Warum dir die Kehle durchschneiden? / Harold Norse. Aus dem Amerikan. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Merkur 23/258 (1969), 918–920. Giorno, John: Pornografisches Gedicht. Leicht zu pflegen. Von Rolf Dieter Brinkmann übersetzt. In: Cunt. Gedichte. Ausgew. und mit einer Notiz von Rolf Eckart John. Darmstadt 1969, 39–44. Norse, Harold: Warum dir die Kehle durchschneiden? Aus dem Amerikan. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Merkur 23/258 (1969), 920. O’Hara, Frank: Lunch poems und andere Gedichte. Aus dem Amerikan. übers. von Rolf Dieter Brinkmann und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann. Einleitung von Ted Berrigan. Köln 1969, 1973. O’Hara, Frank: Statement. Aus dem Amerikan. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Lit. Das Literaturmagazin im Verlag Kiepenheuer & Witsch 2 (1969), 5. Padgett, Ron: Ein Gedicht. A man saw a ball of gold = Ein Mann sah einen Ball aus Gold. Aus dem Amerikan. übers. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Jörg Schröder (Hg.): März-Texte. Bd. 1. Darmstadt 1969, 50. Sward, Robert: Filme. Von links nach rechts. Aus dem Amerikan. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Merkur 23/258 (1969), 919. O’Hara, Frank: Stufen. Gedicht. Die Übersetzung besorgte Rolf Dieter Brinkmann. In: Orte. Eine Schweizer Literaturzeitschrift 1/5 (1974/75), 16–19. O’Hara; Frank: Eine Cola mit dir zu trinken. Für Grace, nach einer Party. In: Liebe. Zürich 1977, 11–13. O’Hara, Frank: Variationen über Pasternaks »Mein Liebchen, was willst du noch mehr?« In: Lettre international 1 (1988), 86.
O’Hara, Frank: A step away from them = Ein Schritt abseits von ihnen. Aus dem Amerikan. übers. von Rolf Dieter Brinkmann. In: Katharina Schmidt (Hg.): To the people of New York City. Palermo/Basel 1995 [Katalog zu einer Ausstellung des Museums für Gegenwartskunst, 4.1.– 1.7.2016]. 8 Übersetzungen in andere Sprachen Zwei Gedichte = Two poems. Übers v. A. Leslie Willson. In: Dimension 2/3 (1969), [730–745]. Poem for Frank O’Hara. »La Paloma«. Poem about four fish. The rest of this poem I wrote. Poem. Übers. von Peter Riley. In: Peter Riley (Hg.): Collection 7 (1970), 59–64, 71–74, 76. Rough. For Rolf Dieter Brinkmann. Coffee drinking (1). Coffee drinking (2). Hommage an G. Apollinaire. Under glass. Cold. Übers. von John James. In: Peter Riley (Hg.): Collection 7 (1970), 58, 65–70, 75. Ingen ved mere. Aus d. Dt. übers. von Birte Svensson. Viborg 1971. La lumière assombrit les feuilles. Roman. Aus d. Dt. übers. von Jean-Louis Pontaubert. Paris 1971. L. P. Übers. von A. Leslie Willson. In: Shantih 3/1 (1974), 9. After Chuck Berry = Nach Chuck Berry 392–395. Blues am Samstagabend, Köln = Saturday night blues, Cologne 396–403. Übers. von Christopher Middleton. In: Dimension 8/3 (1975), 392–403. Die Orangensaftmaschine = The orange juice machine. Ein Skunk = A Skunk. Übers. von Hartmut Schnell. In: Dimension 8/3 (1975), 420–425. Einige bekannte neue Gedichte (Some familiar new poems). Ins Engl. übers. von Christopher Middleton/Hartmut Schnell/Leslie A. Willson. In: Dimension 8 (1975), 391– 429. Picture = Bild. Present = Anwesend. In letters = In Briefen. Movie = Film. Once = Einmal. Now go! = Jetzt geh!. Schlesingers movie = Schlesingers Film. Not here = Hier nicht. Simple picture = Einfaches Bild. As an act = Als Akt. Hold it! = Halt es!. From Walt Disney for Carl-Heinz = Von Walt Disney für Carl-Heinz. That gets you = Da schnallst du ab. Once again = Noch einmal. Selfportrait in the Supermarket: for Dieter Wellershoff = Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Car = Auto. Comic No. 1 = Comic No. 1. Ditty = Liedchen. A blow-up of LizTaylor = Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. The moon, the President an the American prairie. Popular poem No. 11 = Der Mond, der Präsident und die amerikanische Prärie. Populäres Gedicht Nr. 11. Tarzan = Tarzan. Zwei Gedichte = Two poems. Red tomatoes = Rote Tomaten. Political poem after a sleepless night = Politisches Gedicht nach einer schlaflosen Nacht. Comic No. 2 = Comic No. 2. Poem = Gedicht. Le fils de l’homme = Le fils de l’homme. Picture = Bild. Rolläden = Iron grills. Pie crust = Tortenboden. Under glass = Unter Glas. Poem »For Frank O’Hara« = Gedicht »Für Frank O’Hara«. Übers. von Hartmut Schnell. In: Hartmut Paul Schnell: Translated poems of Rolf Dieter Brinkmann. Austin/Texas 1975, 39–54, 61–63, 65–89. Take that first [dt. und engl.]. Gedicht = Poem. La Dame aux Camélias potty Greta Garbo full moon = La Dame aux
Werke Camélias potty Greta Garbo Vollmond. Who knows? = Wer weiß?. Dialogue for D. Charms in December = Dialog für D. Charms im Dezember. Where are they = Wo sind sie. Nacht = Night. Lovely morning = Schöner Morgen. Übers. von A. Leslie Willson. In: Dimension 8/3 (1975), 404–419, 426–427. In London, Flat 6 Oktober = In London, Flat 6. Übers. von Michael Hamburger. In: Dremples 3 (1976), 4–7. The orange juice machine = Die Orangensaftmaschine. To hear one of those = Einen jener klassischen. In: TriQuarterly 35/2 (1976), 24–25. Die Orangensaftmaschine = The orange juice machine. Einen jener klassischen = To hear one of those. Übers. von Michael Hamburger. In: Michael Hamburger (Hg.): German Poetry, 1910–1975. An Anthology. Manchester 1977, 468–471. Five poems. Übers. von Hartmut Schnell. In: New letters 43/3 (1977), 19–23. In London, Flat 6. From Westwärts 1 & 2, 1975. In: Poetry review 66, 3/4 (1977), 158–159. La machine à jus d’orange = Die Orangensaftmaschine. Sur ceux qui partent seuls = Über das einzelne Weggehen. Voyages dans les jardins du nord = Reisen in die nördlichen Gärten. Übers. von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Esprit 45 (1977), 48–49. Masina de stors portocale = Die Orangensaftmaschine. Na, oarecum = Na, irgendwie. Übers. von Doina Pasca/Otto Willik. In: Forum studentesc 5/30 (1977), 9. Well, somehow = Na, irgendwie. Red tomatoes = Rote Tomaten. Tarzan = Tarzan. To hear one of those = Einen jener klassischen. Poem = Gedicht. Übers. von Hartmut Schnell. In: New letters 43/3 (1977), 19–23. The African = Das Afrikanische. Two poems. Journey to the northern gardens = Reisen in die nördlichen Gärten. Übers. von Hartmut Schnell. In: New letters 45/1 (1978), 37–39. Einfaches Bild = Estampa elemental. Noch einmal = Una vez mas. Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt = Carta a Humphrey Bogart, ya muy lejos. Die Orangsensaftmaschine = La maquina de zumo de naranja. Einen jener klassischen = Oir uno de esos clasicos. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar = Luto en enero. In: Ders.: Veintiun poetas alemanes. In: Felipe Boso: Veintiun poetas alemanes. 1945 à 1975. Madrid 1980, 154–167. The boatride = Die Bootsfahrt. A story, four poems & a tribute. Oh, peaceful noon = Oh, friedlicher Nachmittag. Mourning on the clothesline in January = Trauer auf dem Wäschedraht in Januar. About separate departures = Über das einzelne Weggehen. Poem = Gedicht. Übers. von Hartmut Schnell. In: New letters 46/4 (1980), 27–39. Theobaldy, Jürgen: Words you can’t erase. In: New letters 46/4 (1980), 38–39. Two poems = Zwei Gedichte. Übers. von Hartmut Schnell. In: Dimension 14 (1981), 106–109. Red tomatoes = Rote Tomaten. Übers. von Hartmut Schnell. In: New letters 49/3 (1983), 140. Az olvasmány = Das Lesestück. Übers. von Mária Antal. In: Dies.: Távcsövek a pincében: új nyugatnémet elbeszélo«k. Budapest 1985, 163–172. Rolf Dieter Brinkmann. Poèmes. Traduits de l’allemand par Hans Hartje. In: Po&sie 331985), 30–35.
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Le Chant du Monde. Vechta = Vechta i. O. Kallare = Kälter. Vit jätte i luften = Weißer Riese in der Luft. En gång = Einmal. Ur ett okontrollerat efterord till mina dikter. = Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten. Übers. von Mikael Ejdemyr. In: Ders.: Doktor Karneval. Lund 1988, 22, 30, 38, 68, 77. Na, irgendwie. In: Winfried Wösler (Hg.): Schwarze Sonnen. Gegenwartslyrik der deutschsprachigen Länder. Peking 1990, 68–71. Oh, friedlicher Mittag = Oh, quieto meriggio. Übers. von Liborio Mario Rubino. In: Anna Chiarloni: Poesia tedesca del Novecento. Torino 1990, 347–348. Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff = Autoportrait au supermarché. Pour Dieter Wellershoff. Einen jener klassischen = Entendre l’un de ces classiques. Na, irgendwie = Oui, bon d’une manière ou d’une autre. Nach Shakespeare = D’après Shakespeare. In: Jean-Pierre Lefebvre (Hg.): Anthologie bilingue de la poésie allemande. Paris 1993, 1334–1341. Trauer auf dem Wäschedraht im Januar = Lutto su una corda da bucato in gennaio. Einen jener klassischen = Ascoltare uno di quei classici. Landschaft = Paesaggio. Übers. von Franca Cavagnoli. In: Anna Chiarloni: Nuovi poeti tedeschi. Torino 1994, 150–155. Where are they = Wo sind sie. Übers. von Christopher Middleton. In: Agenda 32/2 (1994), 97–98. Gozilla = Godzilla. Rimance I = Romanze. De C & A = Von C & A. Das Bild = A imagem. Celulóide 1967/68 = Celluloid 1967/68. Rimance II = Romanze II. Francês = Französisch Cartoon: 29.8 com x, y, z = Cartoon. 29.8. mit x, y, z. Auto-retrato no supermercado. Para Dieter Wellershoff = Selbstbildnis im Supermarkt. Für Dieter Wellershoff. Barato = Billig. Uma fotografia gigante de Liz Taylor = Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. A lua, o presidente e a pradaria americana. Poema popular no. 11 = Der Mond, der Präsident und die amerikanische Prärie. Sem reforma = Ohne Rente. O pé descalço de Ava Gardner = Der nackte Fuß von Ava Gardner. O cinema em 1924 = Film 1924. Carta a Humphrey Bogart, já de muito longe = Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt. Para a perfeição da Paramount = Für Paramounts Vollendung. Tarzan = Tarzan. Poema sintético 7.2.68 = Synthetisches Gedicht 7.2.68. Poema sobre um camião entre outras coisas = Gedicht auf einen Lieferwagen u. a. Ra-tátá-tá para Bonnie & Clyde etc. = Ra-ta-ta-ta für Bonnie & Clyde etc. BD no. 2 = Comic No. 2. Todos os poemas são poemas-piloto = Alle Gedichte sind Pilotengedichte. Übers. von Judite Berkemeier. In: O cinema em palavras. Poemas-piloto. Selecção, trad. e posfácio de Judite Berkemeier e João Barrento. Lisboa 1995, 12–31, 35–38, 40–55, 57–60. Medzičasy = Zwischenzeiten. Pamätajúc na zlé piatky = Eingedenk schlechter Freitage. Na Začiatku bolo slovo = Im Anfang was das Wort. Mlčanie = Das Schweigen. Vpísané jednému dievčaťu do albumu = Einem Mädchen ins Album geschrieben. Bláznov rapkáč = Die Klapper des Narren. Zámena = Verwechslung. Sneh = Schnee. Na nesprávnom konári = Auf einem falschen Ast. Písať básne = Gedichte schreiben. Antika = Antik. Jednoduché myšlienky o mojej smrti = Einfache Gedanken über mei-
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nen Tod. 10 Hod. 20 = 10 Uhr 20. Táto izba = Dieses Zimmer. Mení sa ročné obdobie = Wechselt die Jahreszeit. Taký spôsob spevu = Solche Art Lied. Ideológia = Ideologie. Jedna jediná veta = Ein einziger Satz. Leukoplast = Leukoplast. Vták na prázdnej zimnej oblohe = Vogel am leeren Winterhimmel. Oheň, prosím = Feuer, bitte. Pochváli polievku = Er lobt die Suppe. Obraz = Bild. Báseň = Gedicht. Jeden jediný list = Ein einziges Blatt. Ktosi = Jemand. Smutný pohl’ad č. 2 = Trauriges Bild 2. Mesto = Die Stadt. To je všetko? = Ist das alles?. Schlesingerov film = Schlesingers Film. Tu nie = Hier nicht. Jednoduchý obraz = Einfach Bild. Kroky = Schnitte. Za takého = An einem solchen. Marihuana = Marihuana. Ona o tom nevie = Sie weiß es nicht. Haló, haló = Hallo. Prívesok = Anhänger. Vidím ťa = Ich kann dich sehen. Od firmy C & A = Von C & A. Godzilla-Baby = Godzilla-Baby. Dôležité = Wichtig. Po francúzsky = Französisch. Určitý obraz niečoho = Ein bestimmtes Bild von Irgendwas 52. Červená farba = Die rote Farbe. Autoportrét v supermarkete = Selbstbildnis im Supermarkt. Ešte raz = Noch einmal. Životopis jednej ženy = Lebenslauf einer Frau. Jednoducho sinko = Einfach Sonne. Ešte viac tieňa = Noch mehr Schatten. Chladnejšie = Kälter. Prázdna stolička = Der leere Stuhl. Rolety = Rolläden. Dnes = Heute. Báseň 19. júna 1969 = Gedicht 19. Juni 1969. Tortový korpus = Tortenboden. Keď vidím svoje topánky prevrátené ležať = Wenn ich meine Schuhe umgekippt auf dem Fußboden. Tichá izba = Das stille Zimmer. Báseň = Ein Gedicht. Stroj na pomarančovú šťavu = Die Orangensaftmaschine. Smútok na drôte na bielizeň v januári = Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Oblaky = Wolken. Übers. von Marián Hatala und Milan Richter. In: Určitý obraz niečoho. Vybrali a prel. Marián Hatala a Milan Richter. Senica 1996, 2–14, 16–29, 32–41, 43–65, 67–76, 79–85. Neve = Schnee. Outono tipo Hölderlin = Hölderlin-Herbst. Cambia a estación = Wechselt die Jahreszeit. Poema antes do comezo do inverno = Gedicht vor Anfang des Winters. Poema = Gedicht. Xa é todo? = Ist das alles? Aquí non = Hier nicht. Imaxe sinxela = Einfaches Bild. Un serán = An einem solchen. Tal tipo de canción = Solche Art Lied. Manda carallo = Da schnallst du ab. Qué calma = Es war still. Auto = Auto. A lata de conserva = Die Konservendose. A imaxe = Das Bild. A Godzila gústalle chamar por teléfono = Godzilla telefoniert so gern. Importante = Wichtig. A fin de Godzila = Godzillas Ende. Determinada imaxe de algo = Ein bestimmtes Bild von irgendwas. Chiquita-Banana-High = Chiquita-Banana-High. Cartoon. 29 de ag. con x, y, z = Cartoon. 29.8. mit x, y, z. Barato = Billig. Outra vez = Noch einmal. Calor = Hitze. Unha fotografía sobredimensionada de Liz Taylor = Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. O pé espido de Ava Gardner = Der nackte Fuß von Ava Gardner. ¡Oh! = Oh! Carta a Humphrey Bogart, xa moi lonxe = Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt. Pola saúde de Maleen = Für die Gesundheit von Maleen. Tomates vermellos = Rote Tomaten. Currículum dunha muller = Lebenslauf einer Frau. Simplemente sol = Einfach Sonne. Máis sombras aínda = Noch mehr Schatten. E = Und. Luz artificial = Künstliches Licht. Imaxe = Bild. El di = Er sagt. Homenaxe a Joe Brainard de Tulsa, Oclahoma = Hom-
mage à Joe Brainard aus Tulsa, Oklahoma. Máis frío = Kälter. Cinemascope = Cinemascope. A saba branca está diante da xanela = Das weiße Bettlaken ist vor dem Fenster. Tarde de sábado = Samstagmittag. Persianas = Rolläden. »Óptica« = Optik. Poema = Gedicht. Hoxe = Heute. Base de tarta = Tortenboden. Limoada no verde = Limonade im Grünen. Cando vexo os meus zapatos envorcados = Wenn ich meine Schuhe umgekippt auf dem Fußboden. Música cotiá = Alltägliche Musik. A man = Die Hand. Pola tarde = Nachmittags. Pitillos = Kippen. Nubes = Wolken. Da historia dos EE.UU. = Aus der Geschichte der USA. 28–2-74 = 28.2.74. O sitio = Der Ort. A súa historia é a historia = Ihre Geschichte ist die Geschichte. Outra vez da historia = Noch einmal aus der Geschichte. Un poema = Ein Gedicht. A máquina de facer zume de laranxa = Die Orangensaftmaschine. Un destes clásicos = Einen jener klassischen. Loito na corda para tender a roupa en xaneiro = Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Durme, Magritte = Schaf, Magritte. Outra vez máis no campo = Noch einmal auf dem Land. Poema = Gedicht.¡Oh, pacífico mediodía! Noite = Nacht. Este poema non ten título = Dieses Gedicht hat keinen Titel. Übers. von Franck Meyer. In: A máquina de facer zume de laranxa. Unha antoloxia. Seleccioń. e. traducción de Franck Meyer Santiago de Compostela 1998, 11–121. Sommer (aus dem Amerikanischen) = Summer (from the American English). Transl. by Margitt Lehbert. In: Poetry 173/1 (1998), 12–15. Wiersze. List do Humphreya Bogarta, już w sporym oddaleniu = Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt. Hommage à Joe Brainard z Tulsy w Oklahomie = Hommage à Joe Brainard aus Tulsa. Maszyna do soku pomarańczowego = Die Orangensaftmaschine. Smutek na sznurze do bielizny w styczniu = Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. Jedno z owych klasnycznych = Einen jener klassischen 162–163. Urywek nr 1 = Bruchstück Nr. 1. Brinkmann, Grünbein, śnieg. Übers. von Andrzej Kopacki. In: Literatura na świcie (1998) H. 3, 156–176. Einen jener klassischen = To hear one of those classic. Die Orangensaftmaschine = The orange juice machine. Gedicht = Poem. Nach Shakespeare = After Shakespeare. Übers. von Charlotte Melin. In: Charlotte Melin (Hg.): German poetry in transition. 1945–1990. Introd. with translations by Charlotte Melin. Hanover, NH 1999, 200– 205, 254–255. Rolf Dieter Brinkmann. Literatura cachonda. Outono tipo Hölderlin = Hölderlin-Herbst. Importante = Wichtig. Imaxe sinxela = Einfaches Bild. Cando vexo os meus zapatos volcados = Wenn ich meine Schuhe umgekippt auf dem Fußboden. Outra vez de historia = Noch einmal aus der Geschichte. Unha fotografía sobredimensionada de Liz Taylor = eine übergroße Photographie von Liz Taylor. Un deses clásicos = Einen jener klassischen. Übers. von Franck Meyer. In: Animal. Revista cultural para todas as especies 7 (1999), 20–23. Artificial light = Künstliches Licht. Transl. from the German by Mark Terrill. In: Partisan review 67/2 (2000), 322–323. Roma die Notte =Roma la Notte. In: Francesco Stella: Antropologia del sonetto. Altri collaboratori di questo numero. Giuseppe Bertoni. Firenze 2000, 38–45.
Werke Heute = Today. Verwechslung = Confusion. Immer mehr Worte = Always more words. Gedicht schreiben = Writing poems. Gedicht am 19. März 1964 = Poem on March 19 th, 1964. Einfache Gedanken über meinen Tod = Simple thoughts about my death. 10 Uhr 20 = 20 past 10. Er lobt die Suppe = He praises the soup. Schlesingers Film = Schlesinger’s film. Einmal = One time. Hier nicht = Not here. Bild von einem Hotel = Picture of a hotel. Alka-Seltzer = Alka-Seltzer. Es war still = It was quiet. Die Koservendose = The tin can. Godzilla-Baby = Godzilla-Baby. Das Bild = The picture. Godzilla telefoniert so gern = Godzilla telephones so gladly. Wichtig = Important. Godzillas Ende = Godzilla’s end. Chiquita-Banana-High = Chiquita-Banana-High. Die rote Farbe = The red paint. Noch einmal = Once again. Liedchen = Song. Taube, von einem Piloten beobachtet = Pigeon, observed by a pilot. Eine übergroße Photograhie vin Liz Taylor = A blow-up of Liz Taylor. Der Mond, der Präsident und die amerikanische Prärie. Populäres Gedicht Nr. 11 = The moon, the president and the American prairie. Popular poem no. 11. Der nackte Fuß von Ava Gardner = The naked foot of Ava Gardner. Wie ein Pilot. Populäres Gedicht Nr. 13 = Like a pilot. Popular poem no. 13. Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt = Letter to Humphrey Bogart, already far away. Ra-ta-ta-ta für Bonnie & Clyde etc. = Rat-a-tattat for Bonnie and Clyde etc. Lebenslauf einer Frau = Biography of a woman. Comic No. 2 = Comic no. 2. Der Dreh = The turn. Und = And. Künstliches Licht = Artificial light. Kälter = Colder. Alltägliche Musik = Everyday music. Transl. by Mark Terrill. In: Ders.: Like a pilot. Selected Poems 1963–1970. Transl. and with an introd. By Mark Terrill. Austin/Texas 2001, 2–43, 48–59, 60–93. Vzavedanju hudih petkov. Z welfelčkom = Eingedenk schlechter Freitage. Epistola o mojih stoaplih = Epistel über meine Füße. Potem = Dann. Pisati pesmi = Gedichte schreiben. Se spremeni letni čas = Wechselt die Jahreszeit. En sam list = Ein einziges Blatt. Avto = Auto. Meditacija o pornu = Mediation über Pornos. Celuloid 1967/68. = Celluloid 1967/68. Hommage Joeju Brainardu iz Tulse v Oklahomi = Hommage à Joe Brainard aus Tulsa, Oklahoma. Pesem »Za Franka O’Haro« = Gedicht für »Frank O’Hara«. Prazen stol = Der leere Stuhl. Mešalnik oranžade = Die Orangensaftmaschine. Skunk = Ein Skunk. Pesem = ein Gedicht. Mesečina na zidarskem odru = Mondlicht in einem Baugerüst. Drobec št. 2 = Bruchstück Nr. 2. Proti zahodu = Westwärts. Proti zahodu, 2. del. = Westwärts, Teil 2. Dobro jutro v Kölnu = Guten Morgen in Köln. Übers. von Urška P. Černe. In: Mrtev skunk. Izbrane pesmi. Izbr. in prevedla Urška P. Černe. Ljubljana 2006, 15–39, 44–92. Rome, regards. Traduction de l’allemand et notes par Martine Rémon. Préf. de Thibaut de Ruyter. [Meudon] 2008. Some very popular songs. Transl. by Mark Terrill. Claremont, Calif. [2009]. Hymn to an Italian square. (1972–1973). = Hymne auf einen italienischen Platz. Transl. graciously provided by John MacKay. In: Paideuma 37 (2010), 343–344. An unchanging blue. Selected poems 1962–1975. Transl. by Mark Terrill. Anderson, SC 2011. An incident = Ein Vorfall. Transl. by Christopher Jenkin-
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Jones. In: Rosemarie Trockel: 100 notes – 100 thoughts. Ostfildern 2012, 27–33. Rolf Dieter Brinkmann. Six poèmes, 1961–1975. Traduits de l’allemand et présentés par Benoît Gréan, et Roberto Di Bella. In: Po&sie 2/164 (2018), 11–16. 9 Einzelzitate Hahn, Friedemann: Fick in Gotham-City. Berlin 1970. Freyend, Henning: Köln 1970–1975, Borken 1975–1977, Rio 1978. Frankfurt a. M. 1980 [Eine Ausstellung der Deutschen Bundesbank Frankfurt a. M., 16. Juni bis 31. Juli 1980]. Brinkmann, Rolf Dieter: Der Schlag, der trifft, ist nicht der erwartete Schlag, aber der Schlag trifft mich ... In: Reinhard von Normann: Der treffende Vers. Dichterzitate aus 3 Jahrtausenden, nach Stichwörtern von A-Z geordnet. Thun 1981, 380. Greiner, Ulrich: Der Krieg in uns. Über einige Naivitäten in der Friedensdiskussion. In: Die Zeit 25 (17.6.1983). Schödel, Helmut: Ampermoching grüßt Italien. Kino »Man spricht deutsch« von Müller und Polt. In: Die Zeit 8 (19.2.1988). Brinkmann, Rolf Dieter: Jürgen Becker. William Burroughs. Arno Schmidt. Oswald Wiener. In: Dichter beschimpfen Dichter. Zusammengesucht von Jörg Drews & Co. Zürich 1992, 10, 19, 103, 126. Greiner, Ulrich: Plädoyer für Schluss der Stasi-Debatte. In: Die Zeit 6 (5.2.1993). Brinkmann, Rolf Dieter: »Vielleicht ist der Großteil der heutigen deutschen Schriftsteller schon selber am Verwesen«. In: Robert Gernhardt: Wege zum Ruhm. 13 Hilfestellungen für junge Künstler und 1 Warnung. Zürich 1995, 106. Brinkmann, Rolf Dieter: Wisst ihr, dass Wörter nur Brandblasen der Seele sind? In: Selim Özdogan: Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist. Roman. Berlin 1995, 5. Brinkmann, Wolf Dieter: »Das Bewusstseins-Gebiet ist der neue Westen ...« In: Jochen Arlt (Hg.): Junger Westen. 11. Lesebuch. Fotos von Stephan Geiger. Zeichnungen von Michael Federau. Pulheim 1996, 3. Henschel, Gerhard: Auf zum Stadtfest. In: Der Freitag (6.9.1996). Seel, Martin: Vier Versionen. In: Christine Hauskeller/ Michael Hauskeller (Hg.): »... was die Welt im Innersten zusammenhält«. 34 Wege zur Philosophie. Hamburg 1996, 212–214. Völkert-Marten, Jürgen: Alleinsein ist wie Gas, das ausströmt. In: Axel Kutsch (Hg.): Jahrhundertwende. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Weilerswist 1996, 120. Brinkmann, Rolf Dieter/Völkert-Marten, Jürgen: Alleinsein ist wie Gas, das ausströmt. In: Jürgen Völkert-Marten: Der Kopf kein Hund. Weilheim 1997, 10. Link, Heiner (Hg.): Trash-Piloten. Texte für die 90er. Leipzig 1997. Pikulik, Lothar: Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten; an Beispielen aus der Geistesgeschichte, Literatur und Kunst. Göttingen 1997. Reddersen, Gerd/Rudolf Neumeier (Hg.): 100 Jahre Achterbahn. Historisch-konstruktive Studie; anläßlich der Ausstellung »700 Jahre Stoppelmarkt – 100 Jahre Achterbahn«. Von Frank Lanfer. Reichertshausen 1998.
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ergänzte und erw. Neuausg., Frankfurt a. M. 2006, 17, 208, 247. Röhnert, Jan Volker: Metropolen. Gedichte. München 2007. Gräf, Dieter M.: Buch vier. Gedichte. Frankfurt a. M. 2008. Brinkmann, Rolf Dieter: »Das erste, was ich wahrnehme, ist ein Betongebäude ... = The first thing I notice is a concrete building of quite recent date ... In: Tobias Zepter: Modersohn & Freiesleben. Das Leben der Dinge – the life of things. Ostfildern 2009, 153. Brinkmann, Rolf Dieter: Donnerstag sind alle Läden nachmittags zu ... Stundenlanges Warten an öffentlichen Stellen ... In: Rom, ewige Stadt, Sehnsucht im Klischee? Gastgeber Martin Mosebach, Pier Paolo Pasolini. Hamburg 2010, 131, 151. Brinkmann, Rolf Dieter: »Ich kippte im Speisesaal um«. Warum sollen Dichter schönere Ferien haben als normale Menschen? Fundstücke von Rom bis Peru. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (6.8.2011). Greiner, Ulrich: Lieblinge der Götter. Weshalb der japanische Schriftsteller Haruki Murakami erfolgreich ist und sein Roman »Naokos Lächeln« schön wie ein Lied. In: Die Zeit 13 (1.7.2011). Küpper, Stefan: In all diesen Nächten. Italien, Rom im August; ein heißer Ferienmonat; wer kann, verlässt die Hauptstadt; wer nicht, flüchtet in den Abend hinein; auf der Piazza di Santa Cecilia kann man sitzen, bis der Morgen kommt; den genzen Sommer über und länger; Serie, Teil 5. In: Augsburger Allgemeine 67 (27.8.2011). Peltzer, Ulrich: Die Dinge, der Alltag. In: Angefangen wird mittendrin. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2011, 5–36. Kleiner, Marcus S./Holger Schulze: Widerstand und Geschlecht. In: Marcus S. Kleiner/Holger Schulze (Hg.): Sabotage! Pop als dysfunktionale Internationale. Bielefeld 2013, 229–247. Kriest, Ulrich: Kino der Denkfaulheit. Die neue Vielfalt deutscher Literatur führt kaum zu gelungenen Literaturverfilmungen; lieber setzt man auf Bestseller als auf künstlerisch Ambitioniertes und gesellschaftliche Sollbruchstellen. In: Film-Dienst. Das Magazin für Kino und Filmkultur 21 (10.10.2013), 16–18. Schulze, Holger: Dreck, Lärm & Gestammel. In: Marcus S. Kleiner/Holger Schulze (Hg.): Sabotage! Pop als dysfunktionale Internationale. Bielefeld 2013, 117–137. Steigels, Christian: Abend der Kölner Literatur. In: Stadtrevue. Kultur, Politik Stadtleben 4 (28.3.2013), 75. Brandt, Jan: Tod in Turin. Eine italienische Reise ohne Wiederkehr. Mit Zeichnungen von Tom Smith. Köln 2015. Bude, Heinz: Soziologie der Party. Wo steht das Bier kalt? Wer ist die Frau auf der Tanzfläche? Und was haben Kohl und Luhmann gemeinsam? Ein Essay. In: Welt am Sonntag (22.11.2015), 47. Jonas, Jürgen: Wolf und die Dorfsupp’. In: Schwäbisches Tagblatt (31.10.2015). Klute, Hilmar: Gut gebucht. Es ist wieder Literaturherbst. Die Autoren ziehen durchs Land, um ihre Werke den mehr oder weniger geneigten Lesern ans Herz zu legen. Eine Selbstbeobachtung. In: Süddeutsche Zeitung 71 (10.10.2015), 49. Siemons, Mark: Lyrik wäscht sich nicht. Die Ost-Berliner
Werke Zeitschrift »Abwärts!« protestiert gegen die aseptische Gegenwart. In: Frankfurter Allgemeine (6.9.2015), 47. Peter Salomon erhält den Literaturpreis. In: Südkurier 72 (7.7.2016), 30. Weber, Mirko: Da legst di nieder! Geheimtipp Musik in der Waagrechten. Ein großer Abend im Stuttgarter Staatstheater. In: Stuttgarter Zeitung 72 (2.7.2016), 43.
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Krekeler, Elmar: Der Fernseher soll ein offenes Fenster sein. Dafür würde man sogar Gebühren zahlen wollen: »Über Barbarossaplatz« zeigt das wahre Leben im echten Köln, wenn in der ARD schon alles schläft. In: Die Welt 72 (28.3.2017), 22.
Fabiana Piacentini
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(Hg.): Dichter, Denker, Eigenbrötler. 30 niedersächsische Klassiker. Leer 2003, 304–312. Geduldig, Gunter/Ursula Schüssler (Hg.): »Vechta! Eine Fiktion!« Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann. Ausstellung und Katalog. Osnabrück 1995 [Eine Ausstellung der Universitätsbibliothek Osnabrück, Bibliothek am Standort Vechta, 23.11.1993–31.1.1994]. Geduldig, Gunter/Marco Sagurna (Hg.): Too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994. Hees, Anke: Rolf Dieter Brinkmann. In: Konrad Feilchenfeldt (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Bd. 4. Zürich 2003, 248–254. Pfeiffer, Ulrike: Rolf Dieter Brinkmann. Engelbertstraße 65, vierter Stock Köln 1969. München 2020. Riewoldt, Otto F./Michael Töteberg: Rolf Dieter Brinkmann. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 2010, 1–17. Röhnert, Jan: Rolf Dieter Brinkmann. In: Ursula Heukenkamp/Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2007, 594–612. Schäfer, Hans Dieter: Rolf Dieter Brinkmann. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Die deutsche Lyrik 1945–1975. Düsseldorf 1981, 391–403. Schönborn, Sibylle: Rolf Dieter Brinkmann. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994, 844–856. Schröder, Jörg: Schroder erzählt. In: Karl-Eckhard Carius (Hg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz. München 2008, 124–131. Schulz, Genia: Rolf Dieter Brinkmann. In: Gunter E. Grimm/Frank Rainer Max (Hg.): Deutsche Dichter. Bd. 8: Gegenwart. Stuttgart 1990, 519–525. Seinsoth, Udo (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann zum 50. Geburtstag. 16. April 1940–23. April 1975. Bremen 1990. Orte – Räume: Zeitschrift für die Erforschung des Werkes von Rolf Dieter Brinkmann. Zugleich Mitteilungsblatt der Rolf-Dieter Brinkmann-Gesellschaft e. V., erschienen: 1997–2005; damit Erscheinen eingestellt. 4 Handbücher, Einführungen und allgemeine Hilfsmittel Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. München 1981. Arnold, Heinz Ludwig/Theo Buck (Hg.): Positionen im deutschen Roman der sechziger Jahre. München 1974. Arnold, Heinz Ludwig/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur.
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Franziska Vitzthum
Die Autorinnen und Autoren Moritz Baßler, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Uni-
versität Münster (VI. A.26 Frühe Erzählungen). Matthias Bauer, Prof. Dr., Europa-Universität Flensburg (II.5 Wissensgeschichte I: Sprachkritik; III.13 Intermedialität II: Film). Michael Beck, Dr., Aserbaidschanische Universität Baku (V. B.20 Vanille (1969), Wortwechsel (1969/ 70); V. B.21 Standphotos (1969). Matthias Bickenbach, Prof. (apl.) Dr., Universität zu Köln (III.11 Materialität; VI. B.30 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls [...] (Tagebuch) (1987)). Agnes Bidmon, Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (VI. C.28 Aus dem Notizbuch 1972/73 Rom Worlds End (1973)). Marcus Botschan, Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Anhang – Werkregister, zus. mit C. Zauner-Schneider). Volker C. Dörr, Prof. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (II.2 Nachkriegsliteratur). Heinz Drügh, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt a. M. (II.4 Pop-Kultur). Cornelia Epping-Jäger, Dr., Ruhr-Universität Bochum (VII. C.42 Wörter, Sex, Schnitt. Brinkmanns Tonarbeiten). Anna Estermann, Paris-Lodron-Universität Salzburg (V. A.19 Die Piloten (1968)). Markus Fauser, Prof. Dr., Universität Vechta (I.1 Wo aber ist das Leben?; II.3.1 Wiedergewinnen der Moderne; V. A.16 Das erste lyrische Jahrzehnt; V. C.23 Eiswasser an der Guadelupe Str. (1974/1985); V. C.24 Westwärts 1 & 2 (1975/2005), zus. mit J. Wesche; VI. A. C. 31 Schnitte (1988); VII. B.40 Einzelübersetzungen in Selbstpublikationen; VIII.48 Ausgaben und Nachlässe). Hans-Edwin Friedrich, Prof. Dr., Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel (II.7 Wissensgeschichte III: Medientheorie; V. B.18 Godzilla (1968); V. B.22 Gras (1970); VII. A.35 Kollektive Produktion). Charis Goer, Dr., Universiteit Utrecht (II.12 Intermedialität I: Foto, Kunst, Comic).
Stefan Greif, Prof. Dr., Universität Kassel (VII. B.36
Acid. Neue amerikanische Szene (1969); VII. B.37 Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik (1969)). Sylvia Heudecker, Dr., Schwabenakademie Irsee (V. C.25 Fragment zu einigen populären Songs (1975)). Oliver Kobold, Dr., Autor und Lektor, Stuttgart (VI. B.27 Keiner weiß mehr (1968)). Albert Meier, Prof. Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (II.3 Moderne, zus. mit O. Petras). Dirk Niefanger, Prof. Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (II.6 Wissensgeschichte II: Nietzsche; IV.15 Literatur-, kunst- und kulturtheoretische Texte; VI. D.33 Briefe an Hartmut, zus. mit S. Schönborn). Ole Petras, Dr., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (II.3 Moderne, zus. mit A. Meier). Fabiana Piacentini, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Anhang – Werke). Eva Ulrike Pirker, Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (VII. B.38 Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte (1969)). Jörgen Schäfer, Dr., Universität Siegen (VII. C.43 The Last One; VII. D.44 Filme). Stephanie Schmitt, Dr. phil., Hamburg (III.14 Intermedialität III: Musik; VI. C.32 RANDOM NOTES / free from it; VII. D.45 Wie ich lebe und warum; VII. D.46 Chicago). Sibylle Schönborn, Prof. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (II.8 Wissensgeschichte IV: Anthropologie; III.10 Intertextualität; VI. B.29 Rom, Blicke (1979); VI. D.34 Weitere Briefwechsel; VI. D.33 Briefe an Hartmut, zus. mit D. Niefanger; VII. C.41 Hörspiele, zus. mit O. Selg). Eckhard Schumacher, Prof. Dr., Universität Greifswald (III.9 Ästhetik der Präsenz). Sascha Seiler, Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz (V. B.17 Was fraglich ist wofür (1967)). Olaf Selg, Dr., Berlin (VII. C.41 Hörspiele, zus. mit S. Schönborn). Enno Stahl, Dr., Heinrich-Heine-Institut der Landes-
Die Autorinnen und Autoren
hauptstadt Düsseldorf (VIII.47 Zeitgenössische Rezeption). Franziska Vitzthum, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Anhang – Literaturverzeichnis). Jörg Wesche, Prof. Dr., Georg-August-Universität Göttingen (V. C.24 Westwärts 1 & 2 (1975/2005), zus. mit M. Fauser).
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Harald Zapf, PD Dr., Friedrich-Alexander-Univer-
sität Erlangen-Nürnberg (VII. B.39 Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot (1970)). Christiane Zauner-Schneider, Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Anhang – Werkregister, zus. mit M. Botschan)
Werkregister A Acid. Neue amerikanische Szene 31, 36, 46 f., 53, 59, 61, 71 ff., 82, 85, 89, 95, 99, 101, 122 ff., 165, 169, 181, 190, 231, 279, 287 ff., 292 f., 296–301, 305, 327, 340 f., 349 f., 356, 359, 361, 369 Am Hang 79, 220 f. Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter 33, 36 f., 47, 59 f., 70 f., 113 ff., 117 f., 120, 122, 125, 175, 179 f., 215, 349 Anmerkungen zu meinem Gedicht »Vanille« siehe Vanille Arm siehe Der Arm Auf der Schwelle siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Auftrag siehe Der Auftrag Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End 34, 61, 189, 235–238, 245, 251, 259 Ave Maria / Hotel Particulier siehe Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte B Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire 83, 175 f. Bestimmte Orte 74, 170 Besuch in einer sterbenden Stadt siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Bild 74, 94, 98 f., 159, 165, 175, 178 f. Bilder. 28.6.–29.6. (aus einem in Arbeit befindlichen Roman) 116 Bootsfahrt siehe Die Bootsfahrt Brief an Maleen siehe Briefe, Briefwechsel Briefe an Hans Bender siehe Briefe, Briefwechsel Briefe an Hartmut. 1974–1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell 4–7, 9–15, 32 f., 36–39, 50 f., 54–57, 61, 63, 66, 69 f., 73 ff., 77, 79–83, 94, 97–100, 102, 110, 117, 132, 139, 159, 163, 165 f., 170, 179 ff., 183, 185–189, 191 ff., 195 f., 199 f., 203 ff., 209, 229, 232, 252, 271–278, 293 f., 302, 330, 333, 336, 338 ff., 345, 352, 358, 364 Briefe, Briefwechsel 4, 147, 187, 241, 278 f., 283, 290, siehe auch Briefe an Hartmut Brinkmanns Zorn IX, 339–342, 363 C Canneloni in Olevano 100, 190, 192 Carl 176, 178 Celluloid 1967/68 165 ff. Chant du Monde siehe Le Chant du Monde Chelsea Girls siehe Essays Cinemascope 100, 177 f. Chicago 72, 94 f., 188, 198, 345
D Das Alles 220 f. Das Bild 94, 165 f. Das Leben ist ganz anders. Leseerfahrungen mit Daniil Charms siehe Essays Das Lesestück 213 f. Das Sein 147 f. Das Schweigen 148 Der Arm 213 Der Auftrag 79, 220 f. Der Film in Worten (Essay) 43–46, 48, 59 ff., 71 ff., 76, 82, 89 f., 93 f., 99–102, 122 ff., 163, 165, 169, 225, 227, 231, 244, 255, 262, 299, 322, 340 Der Film in Worten. 35, 43–48, 51, 54 ff.,59 ff., 63, 70–73, 75 f., 82 f., 89 f., 93 f., 97–102, 109, 111, 116 f., 119 f., 122– 130, 163, 165, 169 f., 175, 179 f., 220–223, 225, 227, 231, 235–238, 244 f., 255 f., 259, 262, 291, 294, 299, 322–326, 328 f., 340 f., 344 f., 352, 357, 363, 370 f. Der graue Raum: eine Collage zum Werk des Schriftstellers William S. Burroughs siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung 11, 80, 83, 125, 181, 280 f., 288 f., 317 f., 362 Der joviale Russe (nach Apollinaire. La jolie rousse) siehe Kollaborationen Der Maler Günther Knipp siehe Essays Der Riß 215 Der Tierplanet siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Dialog für den Russen Daniil Charms im Dezember / Und für Robert Brinkmann am 12. Dez. 1973 81, 188, 190 Die Bombe in meinem Kopf 142, 144 Die Bootsfahrt 212, 349 Die Lyrik Frank O’Haras siehe Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte Die Piloten 9, 32, 39, 60, 70, 73, 90, 94 f., 97, 99, 104, 115 ff., 162, 169 ff., 179, 231, 276, 290 f., 336, 355 f., 361 Die Sache mit Rainer: aus einem unveröffentlichten Roman siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Die Story ist schnell erzählt siehe Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls Die Super 8 Filme Rolf Dieter Brinkmanns siehe Brinkmanns Zorn Die Tonbänder siehe Brinkmanns Zorn Die Umarmung 8, 43, 154, 162, 209, 213 ff., 226, 354 Die Wahrheit 142 f., 148 Die wiederholte Schöpfung 141 f. Die Wörter sind böse siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Dieses Gedicht hat keinen Titel 130, 188, 190, 197
Werkregister Don Quichotte auf dem Lande 141 f. Durch mich die Meil siehe Erwin’s E Ein Abend 102, 188, 190, 194 Ein Skunk 190 f. Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten 33, 37, 51, 63 f., 95, 130, 188 Ein Vorfall 216–219 Eine kleine Szene 211 Eine Komposition für M. 190, 194 Eine Vorstellung von Popkorn und anderes siehe Essays Einen jener klassischen 74 f., 190, 200, 311 Einfaches Bild 33, 78, 94, 100, 159, 162 Einige populäre Songs 37, 190, 198 Einübung einer neuen Sensibilität. Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst: Wandlungen des kulturellen Bewußtseins in Deutschland siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Eiswasser an der Guadelupe Str. Gedichte X, 36, 73, 183– 187, 362, 370 f. Elektrisches Licht siehe Erwin’s Er sagt 176 Erinnerung an eine Landschaft 211 Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Träume, Aufstände, Gewalt, Morde, REISE ZEIT MAGAZIN. Die Story ist schnell erzählt (Tagebuch) 3–9, 11–15, 34, 55, 59, 65 f., 69, 76 f., 82, 88, 95, 97, 110, 128, 139, 144, 148, 152, 157, 189, 237, 240 f., 243, 251–259, 268, 282 f., 288, 292, 294 f., 300, 316, 322, 326 f., 340 ff., 357, 363, 370 f. Erwin’s 11, 288, 291 f., 293 f., 316 f., 362 f. Erzählungen (1985) 6, 8, 35, 44, 80, 102, 209–221, 368, 370 Essays 10, 22, 36, 43, 59 f., 63, 72, 76, 79, 82, 95, 99, 109–127, 131 f., 148, 163, 165, 169, 179, 188, 196, 225 ff., 241, 244, 246 f., 251, 261, 263, 280, 282, 296–299, 301, 317, 320, 322 f., 327, 340 f., 352 F Film in Worten siehe Der Film in Worten Flickermaschine 95, 99, 119, 121 f., 127, 209, 220, 222 f., 253, 264 Fotos 1, 2. In: Lyrikstimmen siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Fragebogen 209, 222 Fragment zu einigen populären Songs 38, 55 f., 83, 189, 203 ff., 273, 276, 280, 294 Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte 44, 46, 71, 73, 76, 82, 95, 116 f., 121, 169, 179, 190, 192, 279, 289, 296, 305–309, 352, 356 Frank Xerox’ »wüster Traum« siehe Kollaborationen Früher Mondaufgang 211 Fuck you! Underground poems! Untergrund-Gedichte siehe Kollaborationen G Gaston ans Knie siehe Kollaborationen Gedicht (Gras, 53) 39, 179, 181 Gedicht (&-Gedichte, 93) 158 Gedichte 57/58 für Elisabeth Piefke 139 f. Gedicht »Für Frank O’Hara« 39, 83, 116, 179 ff., 364
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Gedicht »Nacht« 179 f. Gedichte eines Jahres 1959 139 Geringes Gefälle 213 ff. Godzilla 37, 60, 73, 88 f., 94 f., 162 f., 165 ff., 179, 356, 361 Godzilla und der Vogel 165 f. Gras 8, 11, 34 f., 39, 60, 81, 94, 99, 169, 179 ff., 189, 251, 268, 280, 288, 291, 316 f., 336, 356, 361 f., 364 Gummibaum siehe Der Gummibaum Guten Tag wie geht es so 210 f. H Hegel an Du Boc siehe Erwin’s Hommage à Joe Brainard aus Tulsa, Oklahoma 39, 83, 177 Hörspiele / Rundfunkbeiträge 36, 59 f., 71, 75 f., 80, 88, 94, 111, 120 ff., 131, 169, 179 f., 200, 228, 278 ff., 296, 320–334, 336, 368 f. I Ich fühle eine Menge Hast: Rolf Dieter Brinkmann liest eigene Texte siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Ihr nennt es Sprache 6, 32, 141, 145–148, 354 Im Innern des Baumes 144 f. Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin 103, 190, 195 In der Grube 8, 24, 102, 209, 212, 218, 229, 326, 349, 354 In der Seitenstraße 43, 216 Interview mit einem Verleger 60, 122, 287 Irgendwo...lonely Street / corner:desire 139 K Kälter 177 Keiner weiß mehr IX, 30, 35, 45, 48, 102, 111, 116, 221, 225– 233, 320, 349, 351, 355 f., 363 Kleines Gesicht 210 Kollaborationen 10 f., 35, 84, 104, 125, 287–294, 296, 304, 311 f., 317, 368 Kunst in Köln? siehe Essays Künstliches Licht 175 L La Fin de Tout 151 Landschaft 190, 198 Lasst das Stille-Virus frei! Zu W. S. Burroughs‹ Buch »Nova Express« siehe Essays Le Chant du Monde 32, 78, 88, 94, 102, 144, 150–154, 354, 362 Le fils de l’homme 35, 79, 181, 317 Lesestück siehe Das Lesestück Liedchen. Gedichtbilder von B. Höppner siehe Kollaborationen London, Flat 6 198 Lunch poems und andere Gedichte sieheFrank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte M Meister der Graphik. Die Zeichnungen von Günther Knipp siehe Essays Mein endgültiges Ende siehe Die Wahrheit
406
Anhang
N Nach Guillaume Apollinaire 34 f., 39, 84, 181 Nature morte 94, 153 Nichts 220 f. Nichts weiter 220 f. Notizbuch 1972, 1973 siehe Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End Notizen 1969 zu amerikanischer Lyrik und zu dieser Anthologie siehe Essays
Standphotos (1969) 39, 60, 94 f., 97, 100, 169, 175–179, 356 f., 363 Standphotos. Gedichte 1962–1970 (1980) 33, 39, 70, 74, 78, 84, 89, 94, 98, 115 f., 146–154, 156–159, 163, 165 ff., 175 ff., 289 Stoppelmarkt siehe Erzählungen Straßen und Plätze siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Strip 79, 220, 222 Super 8 Filme siehe Brinkmanns Zorn
O O’Hara, Frank: Statement siehe Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte Ohne Neger 38, 154, 355
T Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot. 33 ff., 125, 179, 288 f., 311–314 The last one. Autorenlesungen Cambridge Poetry Festival 1975 314, 337 ff., 358 To a world filled with compromise, we make no contribution 127, 251, 279
P Phantastik des Banalen siehe Essays Photographie 33, 94, 153 Photos machen 94, 176 f. Piccadilly Circus 79, 220, 222 Piloten siehe Die Piloten R RANDOM NOTES / free from it 268 f., 282 Raupenbahn 8, 43, 102, 162, 209 ff., 215–221, 226, 355 Reading Ron Padgett’s Great Balls of Fire siehe Beim Lesen von Ron Padgetts Great Balls of Fire Reise Zeit Magazin siehe Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand Riß siehe Der Riß Rolltreppen im August 35, 56, 104, 190, 336, 338, 363 Rom Worlds End siehe Aus dem Notizbuch 1972, 1973 Rom Worlds End Rom, Blicke IX, 3, 6, 11–15, 32, 34, 54 f., 63–66, 82, 88, 95, 98 ff., 164, 189 f., 198, 237, 240–249, 251, 255 f., 259, 262, 264, 268, 271, 279, 281 ff., 289, 326 f., 352, 357, 361 f., 364, 370 ff. Roma die Notte 54, 189 f., 199 S Schattenmorellen 56, 188 Schlesingers Film 163, 336 Schnitte 15, 32, 34, 66, 82, 84 f., 88 f., 95, 99, 148, 189, 220, 232, 235, 237, 240 f., 251, 259–266, 268, 282, 294, 302, 326 f., 371 f. Schriftsteller unserer Zeit. Michel Butor siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Schweigen siehe Das Schweigen Sein Album siehe Erwin’s Sex und Politik siehe Essays Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik 11, 31, 36, 39, 70 ff., 82, 95, 109, 114, 124 f., 127, 165, 169, 190, 279 f., 287, 289, 292 f., 296, 301–305, 344, 356, 362, 369 Solche Art Lied 156, 159 Sommer (Aus dem Amerikanischen) 190, 194, 338 Spät 217 Spiritual Addiction siehe Essays
U Über Lyrik und Sexualität siehe Essays Umarmung siehe Die Umarmung &-Gedichte 94, 98, 139, 157 ff., 229 V Vanille 10, 35, 95, 98, 121, 169, 172 ff., 183, 287, 291 Virginia Hill: ›Memoiren einer Gangsterbraut‹ siehe Essays Vogel am leeren Winterhimmel 156 f. Vogelflüge, neunzehn Gedichte 1958/59 139, 156 Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts 150 Von Walt Disney 36, 163, 336 Vorläufiger Text, telefonisch durchgegeben siehe Westwärts Vorstellung meiner Hände 6, 8, 32, 35, 78, 94, 141–149, 151, 156, 368, 370 Vorwort Silverscreen siehe Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik W Wahrheit siehe Die Wahrheit Was fraglich ist wofür 94, 100, 155, 162 ff., 169, 171, 275, 336, 364 Was: oder my bonnie is over the ocean 152 Was unter die Dornen fiel 6, 210 f., 220 Weißes Geschirr 214 Wenn sie morgens singen 102, 210 Westwärts 1 & 2 IX, 32, 34 f., 37 ff., 50 f., 53–56, 61, 69–72, 74 f., 81, 94 f., 98, 100 f., 103 f., 109, 130 ff., 140, 171, 181, 183–201, 203, 205, 240, 251, 268, 274, 276 f., 281, 292 f., 311, 336 f., 338, 344 f., 351 f., 356 f., 361, 368, 371 Wie ich lebe und warum 72, 94 f., 288, 344, 371 Wörter Sex Schnitt siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge Wortwechsel 174, 183, 247, 280, 321 Wurlitzer 217 f. Y You broke my heart: neue Gedichte siehe Hörspiele / Rundfunkbeiträge
Marcus Botschan / Christiane Zauner-Schneider
Personenregister A Achternbusch, Herbert 203 Adenauer, Konrad 79, 221 Adler, Alfred 229 Adorno, Theodor W. 25, 28, 115, 118, 123, 132, 147, 164, 253 Agathos, Katarina 321, 331, 336 Agel, Jerome 58 Ahrens, Gerhard 308 Aichinger, Gerhard 350 Aichinger, Ilse 211 Alain-Fournier 4, 139 Alberti, Rafael 152 Allen, Donald 305 Alsheimer, Georg 120 Andersch, Alfred 141, 147, 152 Anderson, Chester 47, 298 Anka, Paul 211 Antal, Mária 364 Antonin Artaud 322 Apollinaire, Guillaume 32, 34–35, 39, 84, 94, 103, 155, 181, 260, 292–293, 311, 318 Appel, Karel 146 Aragon, Louis 192, 194 Ardrey, Robert 64, 66, 246, 282 Arnold, Heinz Ludwig 227 Arp, Hans 141, 146 Artaud, Antonin 156, 354 Artmann, H.C. 113 Ashbery, Herbert 293 Ashbery, John 15, 195, 336–338 Aue, Walter 165 Augst, Oliver 363 Augustinus 242 B Bachmann, Ingeborg 32, 139, 141, 152 Bahr, Hermann 253 Baier, Lothar 213 Ballard, James Graham 13, 261, 282, 287 Bardot, Birgit 222 Bargeld, Blixa 363 Barthes, Roland 144, 197, 333 Battcock, Gregory 298–299, 340 Baudelaire, Charles 33–35, 79, 200 Baumgart, Reinhard 59, 113
Baumgärtner, Alfred Clemens 229 Bayer, Konrad 260, 262, 275 Beach, Mary 61, 287 Beatty, Warren 70, 81 Becker, Jürgen 59, 113, 117, 126, 275 Behrens, Peter 318 Bender, Hans 4, 6, 15, 24, 32, 140, 142, 146–148, 189, 278–279, 290, 370 Benjamin, Walter 75, 248, 306, 309 Benn, Gottfried 3–4, 13, 21–24, 32–33, 36–37, 39, 41–42, 55, 71, 78–79, 90, 113, 115, 118, 123–124, 129, 132, 139–140, 143, 147–148, 209–212, 236, 241, 246, 260, 281–282, 354, 369 Bense, Max 147, 149 Berckhemer, Fritz 149 Berengarten, Richard 336 Bergengruen, Werner 32, 139 Bergmann, Harald IX, 339–341, 363 Berkemeier, Judite 364 Bernhard, Thomas 30, 349–350 Berns, Otto 222 Berrigan, Anselm 311 Berrigan, Edmund 311 Berrigan, Sandy Alper 311 Berrigan, Ted 33–35, 39, 71, 80, 82, 84, 124–125, 170, 179, 288–289, 291, 293, 297, 304, 311–312 Bessing, Joachim 122 Beuys, Joseph 181 Bieberstein, Michael Freiherr 14 Bienek, Horst 122 Bilz, Rudolf 63, 65, 246 Bingel, Horst 118 Black, Roy 229 Blackburn, Paul 209, 273, 318 Blake, William 39 Blakey, Art 210, 217 Blazek, Douglas 318 Bleisch, Ernst Günther 231 Bleuler, Eugen 63 Bloch, Ernst 117 Blöcker, Günter 216–217, 355 Blöcker, Martin 217 Blumfeld 104 Boehlich, Walter 120 Bogart, Humphrey 81, 169–170 Bogislav, Ulrich 360
Bohrer, Karl Heinz 72, 75, 163, 169, 232, 349, 355 Böll, Heinrich 6, 24, 26, 111, 126, 147, 227, 282 Bonné, Mirko 360–361 Bonney, Graham 169–170 Borchert, Wolfgang 4, 147 Born, Nicolas 13–14, 25–28, 30, 110, 118, 171, 174, 179, 189, 203, 210, 228–229, 247, 275, 278, 280–281, 287–288, 307, 317, 357, 359–360, 370 Bosquet, Alain 144 Bossert, Rolf 361 Botnick, Bruce 47 Boyajian, Aram 297 Brainard, Joe 94, 117, 177, 289, 299, 305, 307, 309, 316 Brakhage, Stan 340 Braque, Georges 35, 156 Brauner, Hilde 81 Brautigan, Richard 318 Brecht, Bertolt 4, 23, 132, 140 Breton, André 10, 35, 147 Breuer, Josef 5 Breuer, Theo 360 Brinkmann, Josef 3, 5 Brinkmann, Karl-Heinz 3, 9, 176 Brinkmann, Maleen 7, 11, 14, 63, 73, 109, 111, 120, 124–125, 128, 130, 141, 173, 184, 186–188, 191, 199, 220, 235, 240–243, 245, 251, 259, 268, 277, 279, 283, 287, 290–291, 317, 321, 331, 336, 341–342, 350, 352, 354, 368, 370–371 Brinkmann, Maria 3 Brinkmann, Robert 7, 12, 14, 47, 114, 176, 184, 344 Brock, Bazon 363 Brubeck, Dave 5 Brüggemann, Theodor 7 Brühl, Hein 321, 330–331 Bruno, Giordano 240, 246–247, 276 Buch, Hans Christoph 26–28, 275, 351, 357 Buck, Paul 318 Bühler, Karl 193, 333 Bukowski, Charles 124, 303, 318 Buñuel, Luis 340
408
Anhang
Burdon, Eric 204 Burns, Jim 318 Burroughs, William S. 13, 36–37, 42, 51, 56, 59, 61, 63–64, 66, 71–72, 80, 83–85, 91, 95, 97–98, 113, 122, 126– 128, 131–132, 148, 196, 204, 209, 212, 229, 231, 237, 241, 243, 245– 246, 251, 253, 260–263, 268, 276, 281–282, 287, 293, 296, 298–299, 323, 325, 327, 334, 340, 364 Burton, Richard 48, 114 Buschmann, Christel 356 Buselmeier, Michael 28 Butor, Michel 32, 36, 78, 80, 111–113, 116, 211 Byron, George Gordon 39 C Cage, John 293 Calas, Nicolas 291 Canetti, Elias 111 Carius, Karl-Eckard 363 Carrol, Lewis 205 Cassirer, Ernst 53 Castaneda, Carlos 247, 260 Catull, Gaius Valerius 123 Cavagnoli, Franca 364 Celan, Paul 115, 118, 132, 148–150 Céline, Louis-Ferdinand 5, 32, 35–36, 142, 144, 209, 231, 354 Cendrars, Blaise 39, 153, 155, 318 Černe, Urška P. 364 Chagall, Marc 94, 279 Chandler, Raymond 229 Chaplin, Charlie 170 Char, René 5, 144, 147 Charles, Ray 152, 205 Charms, Daniil 81, 125, 132 Chotjewitz, Peter O. 10, 14, 59, 113, 117–119, 157, 189, 232, 275 Christians, Mady 81 Cicero 272 Cioran, Emile 148 Clair, René 211 Clark, Tom 124–125, 165–166, 280, 289, 297, 304, 311, 318 Clarke, Arthur C. 59 Cocteau, Jean 340 Cody, William Frederick 94 Cohen, Leonard 102, 115, 132, 204– 205, 318 Conniff, Ray 215 Conrad, Joseph 128, 260 Conrad, Klaus 230 Corso, Gregory 41, 144, 147, 296 Crauss 360–361 Creeley, Robert 80, 119, 124, 155–159, 163, 171 Crozier, Andrew 15, 318 Crutchfield, Richard 63
Cummings, Edward Estlin 5, 141, 157 Cybulski, Zybigniew 100 D Dahlmeyer, Jörg-André 360 Dalí, Salvador 115 Dante Alighieri 241, 309 Dasenbrock, Dirk 362 de Quincey, Thomas 242, 246 de Salvo, Elletra 363 Dedecius, Karl 147 Deep Purple 192 Delius, Friedrich Christian 25–26, 203, 275, 280–281 Derrida, Jacques 243 Detering, Heinrich 313 Di Bella, Roberto 201, 361, 364, 370 Dieckmann, August 4 Diederichsen, Diedrich 169–170 Dine, Jim 280 Disney, Walt 163 Dittberner, Hugo 357 Döblin, Alfred 253 Döhl, Reinhard 321 Dollinger, Hans 220, 222 Doutiné, Heike 14 Draesner, Ulrike 362 Duchamp, Marcel 36, 121, 260, 293 Duras, Marguerite 228 Dürrson, Werner 33 Dürschlag, Martin 10, 95, 157 Dylan, Bob 41, 102, 115, 123, 187 E Eckhardt, Paul 154 Eco, Umberto 306 Eich, Günter 22, 78, 115, 139, 150, 153, 210 Ejdemyr, Mikael 364 Eliot, Thomas Stearns 32, 36–39, 44 Elmslie, Kenward 291, 293, 318 Elsner, Gisela 221 Éluard, Paul 145–148, 150, 153–154, 260, 294, 317 Enzensberger, Hans Magnus 23, 25, 30–32, 38, 42, 113, 120, 122, 124, 147, 153, 212, 275, 294, 296, 359 Erhard, Ludwig 25 Ernst, Max 146, 156, 260, 294 Esam, John 318 Esser, Georg 6–7, 150 Export, Valie 340 F Faecke, Peter 320–321 Fagin, Larry 280, 318 Falb, Daniel 361 Falco (Johannes Hölzel) 115 Fassbender, Joseph 146–147, 150 Fauser, Jörg 113, 360
Fauser, Markus 69, 78, 85, 91, 163, 169, 171, 282 Fehrmann, Giesela 84 Ferleyko, Heinrich 12 Ferlinghetti, Lawrence 184 Festag, Bruno 5 Feuerbach, Ludwig 124 Fichte, Hubert 112–113, 218, 221, 232, 275 Fiebig, Gerald 361 Fiedler, Leslie 31, 33, 44, 59, 69–71, 73, 81, 93, 113, 115, 117–119, 121–122, 124–126, 169, 215, 223, 253, 275, 288, 293–294, 297, 299, 349 Fink, Adolf 357 Fiore, Quentin 58, 95 Fischer, Ludwig 22 Flaubert, Gustave 36 Fleming, Joy 132 Flenter, Kersten 360 Flitner, Wilhelm 229 Focillon, Henri 143 Follain, Jean 32, 151 Fombeure, Maurice 144 Förster-Nietzsche, Elisabeth 55, 129 Foucault, Michel 83, 217 Franke, Manfred 222 Freud, Sigmund 129, 246, 260, 294 Freyend, Henning John von 9, 11–14, 183, 188, 240, 257, 260, 269, 278, 282–283, 287–289, 315–317, 336, 341, 362, 369–370 Fried, Erich 15, 119, 148, 336 Friedrich, Brigitte 370 Friedrich, Caspar David 32 Friedrich, Hugo 33–34, 148, 294 Frisch, Max 111, 214 Fuchs, Gerd 80, 278, 281, 355, 370 G Gallup, Dick 317 Gan, Peter 150 García Lorca, Federico 33 Gast, Peter 55, 129 Geduldig, Gunter X, 163, 363, 368 Gelpke, Rudolf 64, 246 Genet, Jean 46 George, Stefan 38 Gerhardt, Rainer M. 38 Gerhardt, Ulrich 320 Gernhardt, Robert 43 Gerstäcker, Friedrich 3 Giacometti, Alberto 143 Ginsberg, Allen 39, 41, 80, 122, 132, 144, 195, 296, 364 Giono, Jean 151 Giorno, John 165, 288, 296–298, 301, 318 Godel, Dieter E. 14 Goertz, Jürgen 14
Personenregister Goes, Albrecht 14, 55 Goethe, Johann Wolfgang von 127, 132, 240–243, 246, 248–249, 274 Goetz, Rainald 362 Goldberg, Michael 305 Goldberg, Whoopie 273 Goll, Yvan 140, 144 Grack, Sibylle 349–350 Gracq, Julien 354 Graf, Herbert 280 Grass, Günter 23, 111 Greene, Graham 282 Gregor-Dellin, Martin 212, 215, 218, 355 Greiner, Ulrich 357 Grey Walter, William 65, 246 Grimm, Reinhold 15 Gropp, Petra 97, 100 Gross, Thomas 350, 353, 358 Großklaus, Götz 100, 199 Groys, Boris 97 Grünbein, Durs 201 Grzimek, Martin 358 Guillaume, Louis 152 Günther, Thomas 363 Gysin, Brian 287 H Habermas, Jürgen 353 Hackenberg, Kurt 10, 126 Hackmann, Peter 6–7, 140–141, 146, 151, 157, 369–370 Hädecke, Wolfgang 113 Hädrich, Rolf 156 Hagen, Jens 10, 341, 370 Hagerty, Ray 47 Hake, Wolfgang 165 Haley, Bill 46, 210 Hamburger, Michael 15, 336, 338, 364 Hamilton, Richard 44 Hamm, Peter 27 Handke, Peter 10, 30, 113, 157, 189, 275, 278, 281, 288, 359, 370 Han Shan 276 Hapshash and the coloured coats 222 Harrison, George 220 Härtling, Peter 349 Hartung, Harald 179 Hartung, Rudolf 10, 142, 349–350 Harvey, William S. 47 Harwood, Lee 15, 318, 336 Hasenclever, Walter 296 Hatala, Marián 364 Haug, Wolfgang Fritz 227 Hausmann, Manfred 4, 141 Hawkins, Spike 318 Hawthorne, Nathaniel 44 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 61, 229, 292 Hehl, Werner 231
Heidegger, Martin 4, 21, 124, 210 Hein, Birgit 126, 340, 362 Hein, Wilhelm 126, 340, 362 Heine, Heinrich 4, 139 Heißenbüttel, Helmut 59, 113, 117, 147, 149, 275 HEL, Toussaint 360 Helmlé, Eugen 272 Hendrix, Jimi 102, 115, 362 Henniger, Gerd 318 Hentig, Hans von 63, 66, 80, 246 Herburger, Günter 210 Herder, Johann Gottfried 246 Hermand, Jost 164 Herman’s Hermits 102 Hermlin, Stephan 155 Hesiod 46 Hespos, Hans-Joachim 14 Hesse, Eva 37–38, 139, 155 Hesse, Hermann 4, 139, 272 Heuer, Rolv 112 Heym, Georg 140 Hildebrandt, Guido 97, 175 Hill, Virginia 125–126, 323 Hinck, Walter 10, 172 Hitchcock, Alfred 99, 220, 223 Hitler, Adolf 21 Hochhuth, Rolf 25 Hoffer, Klaus 127 Hoffmann, Dieter 27–28 Hoffmann, Dustin 273 Hofmannsthal, Hugo von 131–132, 214, 253, 278 Holiday, Billy 46 Höllerer, Walter 23–24, 31, 38, 41, 147, 149, 171, 184, 278, 296, 369 Holmes, John Clellon 41 Holthusen, Hans Egon 59, 113 Hopper, Dennis 273 Hopper, Hedda 223 Höppner, Berndt 11, 180, 287–289, 291, 316–317, 362 Horaz 272 Hornemann, Thomas 11, 287, 316, 362 Hubbard, L. Ron 64, 126, 243, 246 Hübsch, Hadayatullah 360 Hughes, Richard 231 Hugo, Victor 35 Huidobro, Vincente 318 Hummelt, Norbert 360–361 Huncke, Herbert 41 Huxley, Aldous 47 I Ignée, Wolfgang 59 J Jacob, Max 292, 317–318 Jagger, Mick 48
409
Jahn, Janheinz 155 Jahnn, Hans Henny 5–6, 13–14, 32, 78, 132, 144, 236, 240, 246–247, 278– 279, 353 James, Henry 44 James, John 15, 318, 336 Jandl, Ernst 30, 288 Jappe, Georg 354 Jaspers, Karl 4 Jean Paul 236, 246 Joachim, Dorothee 370 John, Elton 192 John, Rolf Eckart 7, 9, 122, 280, 287– 288, 291, 296, 301, 315–316, 318, 341, 370 Johnson, Uwe 111, 210 Jones, LeRoi 155 Jonke, Gert Friedrich 127 Joplin, Janis 115, 362 Jouhandeau, Marcel 318 Jouve, Pierre Jean 147 Joyce, James 39, 75, 85, 99, 132, 212– 213, 294 Jung, Carl Gustav 129, 246 Jürgens, Udo 229 K Kandel, Lenore 144, 287 Kante 104 Kapfer, Herbert 321, 331, 336 Kaplan, Alan 125, 312 Kappus, Franz Xaver 273 Karp, Uli 341 Karsch, Walther 221 Kärsten 5 Karsunke, Yaak 120, 275, 349 Kasack, Hermann 22 Kätelhön, Henner 150 Kemp, Friedhelm 317 Kerouac, Jack 41, 43, 80, 99, 122–124, 132, 184, 195, 205, 229, 255 Kierkegaard, Søren 142 Kilian, Jens 232 Klee, Paul 214, 279 Klee-Palyi, Flora 144, 151, 153, 156 Klein, Georg 339 Kling, Thomas 361 Knipp, Günther 14, 95, 127, 148, 244, 259, 283, 360, 370 Knopp, Felix 363 Kobold, Oliver 85, 339, 368, 370 Koch, Kenneth 184 Kochenrath, Hans-Peter 340 Köhler 6 Köhncke, Justus 104 Kolleritsch, Alfred 14, 127, 278–279, 369–370 König, Walther 11 Kopacki, Andrzej 364 Korth, Werner 4
410
Anhang
Korzybski, Alfred 50–51, 55, 66, 84, 100, 186, 196, 245–246 Kracauer, Siegfried 248 Kracht, Christian 122, 352 Kramberg, Karl Heinz 214–215 Krech, David 63 Krech, Rich 297 Kreimeier, Klaus 357 Kren, Kurt 340 Kreuder, Ernst 369 Kreuzer, Helmut 26 Kriwet, Ferdinand 95 Krolow, Karl 31–32, 139–143, 150, 152, 171, 181, 357 Krüger, Hanspeter 174, 280, 321 Krüger, Michael 308, 369 Krüll, Karl Heinz 165 Kubin, Felix 104 Kubrick, Stanley 47 Kuhligk, Björn 361 Kuhn, Rolf 150 Kunze, Reiner 15, 336 Kupferberg, Tuli 170, 231, 298 L Lady Gaga 273 Lafleur, Stan 360–361 Laing, Ronald D. 63, 223, 246 Lampe, Gerhard 162, 175 Lamping, Dieter 81 Leary, Timothy 47, 63 Léger, Fernand 153 Lehmann, Wilhelm 22, 141 Lennon, John 173 Leone, Sergio 282 Lessing, Gotthold Ephraim 80, 246, 273 Lethen, Helmut 22 Lévi-Strauss, Claude 293 Lewis, Jerry Lee 47 Lichtenstein, Alfred 276 Liessem, Thomas 230 Little Richard (Richard Wayne Penniman) 47 Llosa, Mario Varga 272 Lodenkämper, Karolus 95, 97, 175, 363 Loerke, Oskar 22 Loewig, Roger 14 Loewinsohn, Ron 147 Lovecraft, H. P. 246 Löwenthal, Leo 42 Lukács, Georg 129, 228 Lurçat, Jean 144, 151 M MacLeish, Archibald 156 MacSweeney, Barry 287, 318 Magritte, René 35, 79, 94, 181 Maitek, Henry 7, 370
Malanga, Gerard 122, 124, 318 Malcolm X 155 Mallarmé, Stéphane 32–34, 139–140 Mancini, Henry 339 Mandelstam, Ossip 132 Mann, Herbie 218 Mann, Klaus 22 Mann, Thomas 21–22 Manthey, Jürgen 130, 188, 240 Marcuse, Herbert 26, 44, 112, 114, 124, 200, 362 Marx, Karl 124, 296, 305 März 104 März, Ursula 353, 358 Massenbach, Christian von 78 Mathews, Harry 113, 282 Matic, Dusan 148 Matthaei, Renate 7, 30, 94, 141, 226, 288, 315, 344, 371 Mauthner, Fritz 50, 55, 84, 129, 132, 245–246, 332 May, Karl 3 Mayfield, Percy 205 McBain, Ed 231 McCartney, Paul 173 McClure, Michael 297–298, 301, 318 McLuhan, Herbert Marshall 58–59, 83, 91, 93, 95, 113, 117, 123–124, 132, 237, 290, 293, 298, 340 Meese, Jonathan 363 Meier, Leslie Siehe Rühmkorf, Peter Meinhof, Ulrike 120 Meister, Ernst 148 Mekas, Jonas 298, 340–341 Melville, Hermann 44 Mendelssohn, Moses 273 Mennemeier, Franz Norbert 351, 354– 356 Meyer, Franck 364 Meyer-Sickendiek, Burkhard 171, 197 Michaelis, Rolf 350, 357 Michel, Karl Markus 113, 120 Michelis, Christian 126, 340 Middendorf, Ingeborg 370 Middleton, Christopher 336 Miehe, Ulf 223, 278–279, 342, 370 Miller, Arthur 115 Miller, Henry 5 Mingus, Charles 132 Modersohn-Becker, Paula 214 Molière 4 Möllmann, Agnes 140 Monk, Thelonious 5, 217 Monroe, Marilyn 81, 222–223 Moreau, Gustave 79 Moritz, Karl Philipp 78, 240, 246, 255 Morrison, Jim 35, 37, 114, 205 Mounier, Emmanuel 32, 142 Muehl, Otto 10, 340 Müller, Adam 78
Müller, Johannes von 246 Müller, Lothar 352–353, 358 Mulligan, Gerry 5 Muschg, Adolf 27 Musil, Robert 75, 165, 244, 253 N Nagel, Stefan 232 Nekes, Werner 340 Nerval, Gerard de 152 Neumann, Georg 370 Neumann, Robert 113 Neuwirth, Bob 41 Neven DuMont, Reinhold 8, 10, 226, 315 Nickel, Eckhart 122 Nico (Christa Päffgen) 115 Nicolai, Friedrich 273 Niedermayer, Max 22 Niemann, Norbert 360 Nietzsche, Friedrich 3, 55, 129, 132, 204, 241, 246, 249, 260, 276, 282 Nirumand, Bahman 120 Nixon, Richard 124 Nolte, Jost 356 Norse, Harold 39, 71, 287 Nossack, Hans Erich 369 Notley, Alice 311 Nowak, Helga M. 119 O O’Hara, Frank 39, 44, 71, 73, 76, 80, 82, 94–95, 116–118, 121, 124, 131, 162–163, 169–170, 179, 192, 195, 273, 275–276, 279–280, 289, 293, 296, 301, 303, 311–312, 318, 345, 364 Olson, Charles 80, 155–156, 159, 163, 171, 197 Ondra, Anny 81, 180 Ono, Yoko 173 Orbison, Roy 222 Ovid 272 P Padgett, Ron 82, 84, 124–125, 175– 176, 272–273, 278–280, 287, 289, 292–293, 297, 299, 303–304, 311, 317–318, 370 Paeschke, Hans 225 Paetel, Karl Otto 41, 296 Päffgen, Christian Aaron (Ari) 115 Palm, Erwin Walter 152 Pankau, Johannes G. 23 Pasca, Doina 364 Pasolini, Pier Paolo 362 Pastior, Oskar 203 Pater, Walter 99 Patten, Brian 287 Paul, Jean 260 Pehnt, Wolfgang 225–226, 320
Personenregister Pennebaker, Donn Alan 41 Pennington, Laura 173 Perec, Georges 272 Perreault, John 280, 298–299 Perse, Saint-John 156 Pfeiffer, Linda 173, 287–288, 318, 339, 341 Pfeiffer, Ulrike 7, 173, 318, 341, 370 Picasso, Pablo 35, 151 Piefke, Elisabeth (siehe auch Zöller, Elisabeth) 4–5, 13, 32, 139–140 Pieper, Helmut 7, 13–14, 218, 240, 282–283, 287, 318, 370 Pieper, Monika 7, 287, 318, 370 Pinget, Robert 36 Pinthus, Kurt 23, 140 Piontek, Heinz 139, 141–142, 147, 150 Piwitt, Hermann Peter 12, 14–15, 63, 80, 240–241, 247, 273, 275, 278, 280– 282, 352, 357, 359, 370 Plant, Robert 48 Platon 273 Ploog, Jürgen 61, 360–361 Pointner, Rudolf 127 Pollock, Jackson 117, 293 Ponge, Francis 144 Poppe, Claus Peter 183 Porter, Cole 215 Poss, Alf 14 Post, Ted 324 Pound, Ezra 4, 32, 36–39, 132, 139, 141, 205, 276, 304 Presley, Elvis 47–48, 222 Prévert, Jacques 5, 32, 152–153, 156 Priessnitz, Reinhard 359 Proust, Marcel 75, 132, 211–212 Pynchon, Thomas S. 36 Q Queneau, Raymond 153 R Rachmaninov, Sergej V. 305 Rasche, Hermann 22 Rauschenberg, Robert 166 Rautenberg, Arne 360–361 Raworth, Tom 287, 317 Read, Peter 311 Redding, Otis 102, 230 Reed, Lou 132 Rehn, Jens 4 Reich, Wilhelm 55, 64, 66, 112, 129, 228, 246 Reich-Ranicki, Marcel 10, 27, 119– 120, 213–215, 222, 232, 349–356 Reichert, Klaus 157, 171 Reidemeister, Leopold 14 Reinholz, Gisela 4, 139, 369 Rémon, Martine 364 Renoir, Auguste 172–173
Reverdy, Pierre 292 Rhodan, Perry 317 Rhode, Eckhard 363 Richards, Keith 48 Richter, Gerhard 244 Richter, Hans Werner 8, 119 Richter, Robsie 360 Riefenstahl, Leni 279 Riley, Peter 15, 318 Rilke, Rainer Maria 4, 139, 143, 148, 272–273, 281–282 Rimbaud, Arthur 4, 32–35, 37, 39, 80, 132, 139–140, 155, 196, 236–238, 251, 260–261, 275–276 Rivers, Larry 289, 305, 307–308 Robbe-Grillet, Alain 5, 25, 32–33, 35– 36, 78–80, 112, 144, 209, 216 Röhl, Klaus Rainer 369 Röhnert, Jan 83, 97, 99–100, 162–163, 179–180, 361, 363 Roos, Theo 363 Rothchild, Paul A. 47 Rothe, Wolfgang 369 Rousseau, Jean-Jacques 242 Rühm, Gerhard 275 Rühmkorf, Peter 23–24, 26, 32, 146– 147, 149, 359, 369 Rumpf, Gernot 14 Russel, Eric Frank 246 Russell, Bertrand 52 Rygulla, Ralf-Rainer 3, 5, 7, 9–11, 13, 35, 47, 59, 84, 89, 103, 118, 122, 125, 155, 157, 169, 222, 225, 279, 287– 294, 296–299, 302, 307, 316–318, 336, 340–341, 356, 362, 369–371 S Salzinger, Helmut 119, 305 Samström, Lasse 360 Sander, Hartmut 6, 10, 146, 155, 157, 370 Sanders, Ed 170 Saroyan, Aram 318 Sarraute, Nathalie 36, 78, 112 Sartorius, Joachim 362 Sartre, Jean Paul 3–5, 112, 139, 142, 145, 155 Satie, Eric 260 Saupe, Dieter 359 Schäfer, Jörgen 172, 177, 352 Schaff, Adam 246 Schaffner, Franklin J. 324 Schamp, Matthias 361 Scheffel, Helmut 112 Schiemann, Philipp 360 Schiller, Friedrich von 23, 26 Schjeldahl, Peter 289, 304 Schlegel, Friedrich 35, 101, 244, 273 Schleiermacher, Friedrich 306 Schlesinger, John 163
411
Schmidt, Arno 13, 78, 81–82, 88, 132, 236, 240–241, 244–246, 249, 260, 276, 294 Schmidt, Delf 191, 240 Schmitz, A. 351 Schneckenburger, Max 114 Schnell, Hartmut 9, 12, 15, 38, 57, 69, 73, 75, 80, 83, 94, 117, 163, 179, 183, 188–189, 271–273, 276, 278, 282, 293–294, 336, 338, 345, 364, 370 Schnell, Raoul Wolfgang 320 Schnurre, Wolfdietrich 4, 139–140, 147, 151–152 Schnurrer, Achim 315 Scholz, Ferdinand 361 Schönborn, Sibylle (siehe auch Späth) 370 Schönburg, Alexander von 122 Schöning, Klaus 320–321 Schrobsdorff, Angelika 220 Schröder, Erika 122 Schröder, Jörg 8, 10–11, 122, 155, 189, 287–288, 297, 339, 341, 369 Schulz, Genia 110 Schulz, Tom 361 Schumacher, Eckard 293 Schumacher, Emil 94, 150–151, 362 Schumann, Gerhard 5 Schweikert, Uwe 358 Schwitters, Kurt 260, 292 Sebastian, André 363 Selg, Olaf 364 Seneca 272 Senghor, Léopold Sedar 155 Seuren, Günter 25, 210, 288 Shakespeare, William 146 Sheila 276, 345 Sielaff, Volker 361 Silbermann, Alphons 81 Simmel, Johannes Mario 114 Simon, Claude 112 Sinatra, Frank 13, 170, 220 Šklovskij, Victor 44 Smith, David 117 Smith, Jack 340 Smith, Patty 115 Sontag, Susan 34, 45, 114 Sparling, George 297 Späth, Sibylle (siehe auch Schönborn) 22–23, 179 Spillane, Mickey 318 Spitzweg, Carl 274 Stafford, Peter 298 Steigenberger, Achim 361 Stein, Gertrude 38 Steinhagen, Harald 23 Stern, Guy 228 Stevens, Wallace 39, 159, 191 Stomps, Victor Otto 6 Störig, Hans Joachim 306
412
Anhang
Storm, Theodor 279 Stramm, August 4, 139 Strauch, Michael 245 Stuckrad-Barre, Benjamin von 122, 352 Stünke, Hein 146 Sullivan, Vernon 59 Szasz, Thomas 63 T Tate, Sharon 223 Taylor, Liz 48, 94, 114, 169, 222 Terrill, Mark 364 Tetzlaff, Alfred 353 Teufel, Fritz 120 The Beatles 9, 47, 102, 104, 152, 170, 217–218, 220, 222, 260 The Doors 9, 46–47, 70, 102, 114, 117, 169, 205, 222, 294 The Fugs 9, 102, 170 The Heavy Metal Kids 222 The Kinks 102 The Rolling Stones 9, 78, 102, 117, 152, 170, 205, 219, 222, 230–231, 260, 305 The Soft Machine 9, 102, 260 The Velvet Underground 9, 102, 205, 222 The Who 9 Theobaldy, Jürgen 11, 15, 27, 336, 352, 357, 359–360, 369 Thielen, Hans-Peter 111 Thiess, Frank 21 Thomas, Dylan 115, 139, 144 Tieck, Ludwig 78, 132, 185, 187, 246, 276 Totok, William 361 Trier, Hann 143, 146 Tröger, Beate 361 Tsakiridis, Vagelis 119, 209, 222 Turner, Lana 308 Tzara, Tristan 35, 144, 155 U Ueding, Gert 357 Uexküll, Jakob von 64–65, 246 Urban, Peter 125 Usinger, Fritz 151
V Valéry, Paul 158, 197 Vautier, Ben 272 Veitch, Tom 71, 122, 209, 280, 289, 297 Vendler, Helen 305 Venuti, Lawrence 306 Vesper, Bernward 233 Vian, Boris 59 Viebahn, Fred 315 Vogler, Toni 357 Völkert-Marten, Jürgen 369 Vormweg, Heinrich 7, 15, 30, 113, 209, 215, 225, 349 Vostell, Wolf 95, 120, 315 W Wagner, Richard 361 Waine, Anthony 362 Wainwright, Loudon 103, 192, 205, 337 Wakowski, Diane 124 Waldman, Anne 71, 122, 124, 297, 317–318 Wallmann, Jürgen P. 351, 357 Wallraff, Günter 120 Walser, Martin 12, 25, 59, 111, 113, 164, 275, 359 Wang, We 139 Warhol, Andy 45, 47, 71, 113–114, 121, 123–124, 166, 216, 244, 260, 288, 298, 307, 312, 340–342 Wawerzinek, Peter 360 Wayne, John 298 Wehebrink, Claudia X, 368 Weibel, Peter 340 Weiss, Peter 233 Weissner, Carl 280, 360 Wellershoff, Dieter 7–9, 12–13, 23–25, 123, 132, 141, 143, 150, 156, 203, 209–210, 212, 216, 226, 287–288, 317, 341–342, 349, 355–356, 360, 370–371 West, Mae 81, 181 Weyer, Anselm 164 Weyrauch, Wolfgang 4, 141, 148, 220 Whitehead, Alfred North 52 Whitman, Walt 39, 181, 205, 311
Wichner, Ernest 361 Widhalm, Fritz 361 Wieland, Christoph Martin 246, 272 Wiemer, Rudolf Otto 232 Wiener, Oswald 275 Wieser, Wolfgang 66, 244, 246 Wiest, Rolf 126, 340 Wilde, Oscar 39 Willbrand, Klaus 6, 141, 146, 354 Williams, William Carlos 32, 34, 36– 39, 54, 71, 80–81, 84, 153, 156, 158– 159, 171, 184, 191, 193, 197, 209, 275–276, 304, 311 Willik, Otto 364 Willikens, Eberhard G. 14 Willson, Leslie 15, 189, 336, 364 Wilson, Colin 64, 128, 245–246 Wingler, Hedwig 127 Winkler, Ron 361 Witsch, Joseph Caspar 6, 8, 24, 146, 150, 221 Witte, Bernd 5 Wittgenstein, Ludwig 129, 132, 333 Wittinger, Robert 14 Wobser, Jochen 339 Wolf, Christa 189 Wolf, Ror 275 Wolken, Elisabeth 14–15 Wondratschek, Wolf 119, 128, 189, 362 Woolf, Virginia 75, 272 Wuttke, Martin 363 X Xerox, Frank 291 Z Zappa, Frank 192, 298 Zeller, Michael 362 Zimtfisch 104 Zöller, Elisabeth (siehe auch Piefke) 275, 369 Zöller, Klaus 369 Zylla, Klaus 363 Zymner, Rüdiger 163