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German Pages 352 [356] Year 2019
Lateinamerika Jahrbuch 1996
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Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Lateinamerika Jahrbuch • Band 5
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
LATEINAMERIKA JAHRBUCH 1996 Herausgegeben von Klaus Bodemer, Heinrich-W. Krumwiede, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut
Die Deutsche Bibliothek - CI P-Einheitsaufnähme Lateinamerika Jahrbuch ... / Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.- Frankfurt am Main : Vervuert Erscheint jährlich. - Aufnahme nach 1992 ISSN 0943-0318 1992-
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlaggestaltung: Konstantin ßuchholz Printed in Germany ISBN 3-89354-424-0
INHALT
Seiten
Teil I: Aufsätze Kurt Madiener Zum Problem der Justizreform in Lateinamerika
9
Peter Waldmann / Carola Schmid Schutz oder Erpressung. Annäherung an das Realprofil der lateinamerikanischen Polizei
39
Günther Maihold "Erblinden" die Institutionen und versagen die Akteure? Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie in Lateinamerika
62
Hartmut Sangmeister Ist die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika noch zeitgemäß?
92
Heinrich Kreft Zentralamerika in der internationalen Politik. Eine deutsche Perspektive
124
Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen Übersichten über regionale Integrationsbündnisse und -prozesse -
Gemeinsamer Zentralamerikanischer Markt (MCCA) Andenpakt (Abkommen von Cartagena) Karibische Gemeinschaft und Karibischer Gemeinsamer Markt (CARICOM) Vereinigung Karibischer Staaten (ACS) Lateinamerikanisches Wirtschaftsbündnis (SELA) Lateinamerikanische Integrationsvereinigung (ALADI) Rio-Gruppe Dreier-Gruppe Gemeinsamer Markt der Länder des Cono Sur (MERCOSUR) Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (NAFTA/TLC) Organisation Amerikanischer Staaten (OAS/OEA)
142 143 144 145 146 147 148 149 150 152 154
Informationen zu einzelnen Ländern: Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 199S
Cono Sur
156
Argentinien Chile Paraguay Uruguay
157 167 173 177
Brasilien
180
Andenregion
194
Bolivien Ekuador Kolumbien Peru Venezuela
195 203 211 218 228
Mexiko
238
Zentralamerika
252
Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama
256 260 265 270 275 281
Karibischer Raum
286
Gesamt-Chronologie (außer Dominikan. Republik, Haiti und Kuba) Kennziffern zu den Klein- und Kleinststaaten der Region Dominikanische Republik Haiti Kuba
287 310 323 327 335
Lateinamerika allgemein (Kennziffern zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung)
342
Technische Erläuterungen zu der Datenbank IBEROSTAT
347
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
352
Teil I
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
Kurt Madiener
Zum Problem der Justizreform in Lateinamerika I. Einführung Überall in Lateinamerika sind in den letzten Jahren die Militärdiktaturen verschwunden und durch zivile Regierungen ersetzt worden, die aufgrund freier Wahlen gebildet wurden. Der Sieg der Demokratie in allen diesen Ländern ist beeindruckend, aber es kann kein Zweifel bestehen, daß sie in vielen Ländern noch auf schwachen Füßen steht. Es entspricht allgemeiner Überzeugung, daß tiefgreifende Reformen erforderlich sind, um die demokratischen Institutionen zu stärken. Ziel ist die Begründung oder Stärkung des (sozialen) Rechtsstaates. Dabei kommt der Justiz eine Schlüsselrolle zu. Nur eine unabhängige Justiz, die als Dritte Gewalt konzipiert und institutionalisiert ist, kann die Achtung der Grundrechte gewährleisten. Gerade auf dem Gebiet der Justiz sind aber überall in Lateinamerika erhebliche Mängel festzustellen, die zu einer Vertrauenskrise geführt haben: Geklagt wird über mangelnde Unabhängigkeit der Justiz und der Richter, Korruption, endlos sich hinziehende Verfahren und schlechthin Ineffizienz. Überall stehen daher Pläne zur Reform der Justiz auf der Tagesordnung, mit denen alle oder einige dieser Mängel beseitigt oder wenigstens Verbesserungen erzielt werden sollen. Echte Reformen, die sich nicht auf rechtstechnische Änderungen beschränken, haben indessen einschneidende Wirkungen. Sie entziehen z.B. die Justizämter der parteipolitischen Disposition und verhindern damit ihre Vergabe als Parteipfründe. In letzter Konsequenz führen sie zu einer Umverteilung der Macht im Staatsapparat, und zwar insbesondere zu Lasten des Staatspräsidenten und Regierungschefs. Es nimmt daher nicht wunder, daß der Wille zur Reform nicht überall in gleicher Intensität spürbar ist. Manchmal scheint die Absicht mehr auf window-dressing gerichtet zu sein. In den meisten Ländern ist aber ein ernstes und zielstrebiges Bemühen um tiefgreifende Reformen festzustellen.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Dies gilt zum einen für Länder, die kriegs- oder bürgerkriegsähnliche Konflikte hinter sich haben (z.B. El Salvador, Nikaragua und Panama) oder die einen besonders großen Nachholbedarf an Rechtserneuerung aufweisen (z.B. Honduras). Aber auch Länder, die bereits über einen modernen Rechtspflegeapparat verfügen und auch über moderne Gesetze (z.B. Costa Rica und Brasilien), bereiten Reformen vor. Allgemein hat der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, manchmal verbunden mit der Ausarbeitung neuer Verfassungen (z.B. Brasilien), starke Reformimpulse freigesetzt. Die Reformen haben Bedeutung für den Rechtsschutz, den der einzelne genießt, und damit auch für den ausländischen Investor. Eine abhängige, korrupte und ineffiziente Justiz bietet keine Rechtssicherheit. Diese ist aber Voraussetzung dafür, daß in einem Klima des Vertrauens investiert werden kann. Zwar ist bekannt, daß sich einzelne international tätige Firmen ganz gut auf besondere Bedingungen vor Ort, wie z.B. eine korrupte Justiz, einzustellen vermögen und mit den Wölfen heulen. Die Folgen für ihr Ansehen und das ihres Heimatlandes können allerdings sehr negativ sein. Die Rechtsund Justizreform ist daher auch zur Schaffung eines günstigen Investitionsklimas erforderlich. Im folgenden können nur wenige Aspekte aus der Gesamtproblematik der Justizreform in Lateinamerika herausgegriffen werden. Das Material dazu stammt hauptsächlich aus meinem Forschungsvorhaben "Die Justiz als Garantie der Menschenrechte in Lateinamerika", das seit 1993 in Zusammenarbeit mit dem VN-Institut ILANUD und mit finanzieller Förderung insbesondere durch die Europäische Union in Mexiko und in den hispanophonen Ländern Mittelamerikas durchgeführt wurde (dazu Madiener 1995 und Madlener/Zaffaroni 1996) und derzeit mit anderen Partnern fortgeführt wird. Die Einbeziehung ausgewählter Länder Südamerikas mit neuen Kooperationspartnern wird derzeit vorbereitet. DerThemenbereich Gerichtsverfassung und Richterrecht, der in dem Forschungsprojekt untersucht wird, hat allgemeine Bedeutung für den Gesamtbereich der Justiz. Die Themen Strafprozeßordnung und Gefängniswesen wurden wegen ihrer besonderen Bedeutung für den Menschenrechtsschutz ausgewählt. Viele Probleme, die das Strafverfahren reformbedürftig erscheinen lassen, stellen sich aber ganz ähnlich im Zivilprozeß. Das Jugendstrafrecht wird hier einbezogen, weil die Jugendkriminalität die Öffentlichkeit in den letzten Jahren sehr beunruhigt. Vielfach scheinen die Länder kein ausreichendes rechtliches Instrumentarium zu besitzen, um diesem Phänomen zu begegnen. Schließlich wird auch die für Lateinamerika neue Institution des Ombudsmannes berücksichtigt. Deren Bedeutung ist auf dem Gebiet der Kriminalpolizei (policía judicial) und des Gefängniswesens unbestritten, ihr Verhältnis zu den Gerichten ist dagegen noch klärungsbedürftig.
II. Die geschichtliche Ausgangslage Die Mängel des Rechtswesens, die in vielen Ländern Lateinamerikas beklagt werden, sind nicht nur ein Erbe der Diktaturen der vergangenen Jahrzehnte. Sie haben ihre Wurzel in früheren geschichtlichen Entwicklungen. Deren Kenntnis wird leider häufig als unwichtig angesehen.
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Madiener: Justizreform in Lateinamerika
Als der Verfasser vor einigen Jahren zusammen mit einem lateinamerikanischen Kollegen seinen Forschungsplan, den er als Analyseinstrument für die Strafjustiz Lateinamerikas in Freiburg im Breisgau seit Ende der 80er Jahre ausgearbeitet hatte, der für die Finanzierung in Aussicht genommenen Institution vorlegte, stieß er dort auf großes Interesse. Der Forschungsplan wurde (fast) ohne Abstriche zur Förderung angenommen. Die einzige Einschränkung betraf den historischen Teil der Einleitung: Dieser könne nicht gefördert werden, wurde ohne Umschweife erklärt. Diese Reaktion entspricht einer weit verbreiteten Überzeugung, daß die Geschichte, zumindest wenn es sich um vergangene Epochen und nicht um die sog. Zeitgeschichte handelt, für das Handeln in unserer Zeit irrelevant sei. Dabei wird verkannt, daß wir alle Wurzeln haben, die weit zurückreichen und die häufig erst gegenwärtige Phänomene erklären können. Einsicht in die Zusammenhänge - einschließlich der historischen - ist aber unverzichtbare Voraussetzung für jede Reform: Wer blind ist, kann den Weg nicht finden. 1. Das koloniale Erbe Eine Hinterlassenschaft der Kolonialzeit ist insbesondere die verhängnisvolle Nichtachtung des Rechts durch den Staat. In den spanischen Kolonien galt die Maxime "La ley se acata, pero no se cumple" (Das Gesetz wird respektiert, aber es wird nicht befolgt). Diese Haltung der Behörden des Kolonialreichs war zumindest bis zu einem gewissen Grad vernünftig und auf jeden Fall verständlich: Die Normen kamen aus Europa. Sie waren oft das Werk von Juristen, die Amerika nie gesehen hatten und mit den besonderen Verhältnissen dieses fernen Kontinents nicht vertraut waren. Unter diesen Umständen lag es nahe, daß die Entscheidungsträger vor Ort dem Gesetz des Königs zwar ihre Reverenz erwiesen, es aber häufig nicht umsetzten, weil dies schwierig oder unpraktisch oder gar unmöglich zu sein schien. Was zur Kolonialzeit berechtigt sein mochte, ist seit der Unabhängigkeit anders zu bewerten. Die Länder Lateinamerikas unterliegen auf dem Gebiet der Gesetzgebung nicht mehr kolonialer Fremdbestimmung. Sie selbst schaffen ihr Recht, die Exekutive setzt es durch, und es wäre demnach auch zu erwarten, daß die Exekutive sich selbst an das Recht hält. Dies ist allerdings häufig nicht der Fall, wofür viele Beispiele angeführt werden könnten. Auf unheilvolle Weise wirkt hier die koloniale Tradition fort, nach der die Inhaber staatlicher Macht nur ein Lippenbekenntnis zu Recht und Gesetz ablegen, sich ihm aber nicht untenwerfen. Sie können das, weil die Justiz oft willfährig ist und der Bürger, der Ansprüche gegen den Staat erhebt, große Schwierigkeiten hat, ein für ihn günstiges Urteil zu erwirken. Aber auch dann, wenn er es erlangt hat, geht er häufig leer aus, weil der Staat nicht leistet und Zwangsvollstreckung gegen ihn weitgehend unzulässig ist. Die Folgen für das Rechtsbewußtsein der Bürger liegen auf der Hand: Der Staat erscheint als der natürliche Feind des Bürgers, der ihm immer mehr wegzunehmen sucht, sei es durch Steuern oder durch die Steuerung der Inflation oder durch die Manipulation der Inflationsindizes, der aber seinerseits nicht zu leisten bereit ist. Das gilt auch auf Gebieten der Daseinsvorsorge, wie z.B. der öffentlichen Sicherheit. In manchen Ländern kann man zwar Polizisten (oder Soldaten) zum persönlichen Schutz mieten, wenn man das Geld dazu hat. Andernfalls ist man aber weitgehend schutzlos. 11
Lateinamerika Jahrbuch 1996
2. Das verfassungsrechtliche Erbe des 19. Jahrhunderts Als die lateinamerikanischen Kolonien im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erstritten, verfügten die USA, die rund ein halbes Jahrhundert zuvor ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, über eine hochmoderne Verfassung, die Grundrechte, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz garantierte. Entsprechende Modelle waren in europäischen Ländern, die mit der Restauration beschäftigt waren, nicht zu finden. So war es nur natürlich, daß die unabhängig gewordenen Länder, die sich zudem mit Ausnahme Brasiliens als Republiken konstituierten, die USA als Vorbild nahmen. Daher finden wir bis heute in allen Ländern das amerikanische Modell des Präsidentialismus. In den bundesstaatlich verfaßten Ländern (Argentinien, Brasilien und Mexiko) entspricht auch die Gerichtsorganisation weitgehend dem nordamerikanischen Vorbild. Die Übernahme dieses Modells nordamerikanischer Verfassungsorganisation ist allerdings lediglich auf dem Papier geglückt. Die Praxis sieht anders aus. Überall begegnen wir in den lateinamerikanischen Ländern nach amerikanischem Vorbild dem mit großer Machtfülle ausgestatteten Präsidenten der Republik, der diese Machtfülle auch auszuspielen weiß. Das System der checks and balances dagegen findet sich zwar im Text der Verfassung, meist funktioniert es aber in der Praxis nicht. Das Ergebnis ist, daß das amerikanische Verfassungsvorbild lediglich theoretisch übernommen worden ist, die Verfassungswirklichkeit damit aber wenig gemein hat. Von einer Gewaltenteilung kann oftmals keine Rede sein. Alle Staatsgewalten sind vielmehr regelmäßig in der Person des Präsidenten konzentriert.
3. Das Erbe der letzten Jahrzehnte Ein weiteres Problem sind die Streitkräfte, die nicht überall aus dem Scheitern der von ihnen gebildeten oder unterstützten Diktaturen geschwächt hervorgegangen sind. In vielen Ländern stellen sie gewissermaßen eine weitere Staatsgewalt dar, die der Macht der zivilen Regierung Schranken setzt. Man denke an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte Chiles, Pinochet, aber auch an die Generäle anderer Länder, die sich weitgehend ihrer Verantwortung für das Geschehen während der Diktatur entzogen haben, oder an das Militär Guatemalas. Auch der Umstand, daß in Brasilien die für die Streitkräfte zuständigen Minister stets Berufssoldaten sind, deutet darauf hin, daß dem Militär nach wie vor eine starke Stellung zukommt. Die honduranische Verfassung behandelt in dem den Poderes del Estado gewidmeten Titel V neben dem Poder Legislativo (Kapitel I), dem "Poder Ejecutivo" (Kapitel VI) und dem Poder Judicial (Kapitel XII) auch die Fuerzas Armadas (Kapitel X).
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Madiener: Justizreform in Lateinamerika
III.
Der gegenwärtige Befund
1.
Die Lage der Justiz
Ein grundlegender Mangel des Justizwesens vieler Länder Lateinamerikas liegt darin begründet, daß Justiz und Richter nicht unabhängig sind. Die Präsidenten der lateinamerikanischen Staaten werden meist auf vier oder sechs Jahre gewählt. Der Staatspräsident und Regierungschef, der nach seiner Wahl die Richter am obersten Gerichtshof seines Landes für die Dauer seiner Amtszeit ernennt, ist nicht mehr die Regel, aber es gibt ihn noch. Jedenfalls ist in den meisten Ländern der Einfluß des Staatspräsidenten auf die Besetzung dieser Richterämter außerordentlich stark. Reichen die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten nicht aus, um den obersten Gerichtshof auf die Linie der Regierung zu bringen, dann werden sie eben erweitert. Dies kann zum einen dadurch geschehen, daß den Amtsinhabern außerordentlich günstige Pensionsangebote gemacht werden. Auch das court packing aus der Ära Roosevelt hat in solchen Situationen bereits Anwendung gefunden, zum Beispiel in Argentinien nach der Wahl des Präsidenten Menem: Die Zahl der Richter des Obersten Gerichtshofs wurde von fünf auf neun erhöht. Schließlich kann auch ein gefügiger Verfassungsgeber eingesetzt werden, um die verfassungsrechtlich verbriefte Unabsetzbarkeit der Richter kurzweg aufzuheben (so geschehen durch die Verfassungsreform vom 30./31.12.1994 in Mexiko). Die Besetzung der Stellen durch politisch genehme Richter hat zur Folge, daß man an den obersten Gerichten lateinamerikanischer Staaten außerordentlich viele Quereinsteiger findet. Es scheint eher die Ausnahme zu sein, daß ein Richter von der ersten Instanz über die Berufungsinstanz sich während eines langen Berufslebens langsam hochdient, um schließlich als Krönung seiner Laufbahn Kassationsrichter zu werden. Die Richter an den obersten Gerichten sind zwar immer Juristen, aber in manchen Ländern eher selten Berufsrichter. Nun muß man freilich in Rechnung stellen, daß die obersten Gerichte in Lateinamerika nicht nur rechtsprechende Aufgaben haben. In vielen dieser Länder, z.B. in Mexiko, gibt es kein Justizministerium. Das Vorhandensein eines Justizministeriums wird oft als eine Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz betrachtet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Justiz dort ressortiert, also gewissermaßen organisatorisch der Exekutive zu- oder gar nachgeordnet zu sein scheint. Auch in den Ländern, in denen ein Justizministerium vorhanden ist, sind dessen Kompetenzen für die Justiz beschränkt. Die Verwaltung des Justizapparates liegt regelmäßig nicht bei einem Ministerium, sondern in der Hand des obersten Gerichts. Die Verwaltungsaufgaben sind übrigens wesentlich komplizierter und umfangreicher als in Deutschland, denn oft gehört zum Bereich der Justiz auch die Kriminalpolizei (policia judicial). Die wenigen Richter am obersten Gericht (meist nicht mehr als ein Dutzend) sind daher nicht nur für die administrativen Belange der Justiz zuständig, für die Einstellung, Bezahlung, Beförderung, Versetzung, Pensionierung der Richter und aller Justizangestellten usw., auch für die Disziplinargerichtsbarkeit, sondern sie haben auch die entsprechende Zuständigkeit für die Kriminalpolizei, ohne daß sie allerdings polizeiliche Ausbildung oder Erfahrung aufzuweisen hätten.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Die Probleme der Justiz beschränken sich indessen nicht auf die obersten Gerichte. Die an den Untergerichten tätigen Richter besitzen in aller Regel praktisch keine unabhängige Stellung gegenüber dem obersten Gericht. Ihre Einstellung und Beförderung, ihre Versetzung usw. sind durchweg in der Hand dieses Gerichts, das auch die Disziplinargewalt über sie ausübt. Gegen die Disziplinarurteile des obersten Gerichts gibt es keine Rechtsmittel an eine weitere Instanz. Die Macht des obersten Gerichts über die Richter ist daher praktisch unbegrenzt. Der Umstand, daß es an einer Richterlaufbahn fehlt, hat viele negative Folgen. Nur in einigen Ländern (z.B. Brasilien und Costa Rica) kann ein junger Jurist sich auf eine Richterlaufbahn vorbereiten und nach dem Bestehen von Examina oder Prüfungswettbewerben damit rechnen, sein Leben lang als Richter tätig zu sein. In den meisten Ländern erhält er dagegen typischerweise meist aufgrund von Beziehungen eine Anfängerstellung. Fällt die nächste Wahl anders aus, so verliert er seine Stelle wieder. Der Richter kann daher nicht darauf vertrauen, daß er seinen Beruf lebenslänglich ausüben kann. In manchen Ländern, so z.B. in Mexiko im Bundesstaat Sinaloa, ist im Gesetz (Art. 7 Ley de Trabajadores al Servicio del Estado) nachzulesen, daß Richter politische Beamte (trabajadores de confianza) sind. In anderen ist das nicht der Fall. Aber auch wo das Gesetz diese Festlegung nicht bringt, ist die Überzeugung weit verbreitet, daß Richter nur so lange in ihrem Amt bleiben können, wie sie der Exekutive genehm sind. Übrigens ist auch die Zahl der (politisch protegierten) Quereinsteiger an den Gerichten 2. Instanz sehr hoch, weswegen die Richter an den Untergerichten nur geringe Aufstiegschancen haben. Unter diesen Umständen hat es für einen jungen Juristen wenig Sinn, sich um eine Ausbildung als Richter zu bemühen. Er weiß von vornherein, daß er möglicherweise nach wenigen Jahren den Beruf wechseln muß und zur Justiz allenfalls wieder zurückkommen kann, wenn seine Partei gewinnt. Bei dieser Sachlage ist es auch nicht besonders nützlich, wenn die Justiz selbst Geld in die Ausbildung von Richtern oder in ihre Fortbildung investiert: Möglicherweise wird sie die so Aus- und Fortgebildeten schon nach wenigen Jahren wieder verlieren. Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, daß die mangelnde Sicherheit der persönlichen Stellung sich auch auf die Motivation der Richter auswirkt. Hinzuzufügen ist, daß die Bezahlung an den unteren Gerichten nicht gut zu sein pflegt, in manchen Ländern, z.B. in Honduras, geradezu unzureichend. Ein Juez de Paz erhält dort kaum mehr als den Gegenwert von US$ 100 monatlich. Berücksichtigt man noch diese vielerorts (aber nicht überall) ungenügende Bezahlung, so ergibt sich auch eine Erklärung für das Übel der Korruption. Vor allem an Untergerichten in ländlichen Gegenden sind die materiellen Mittel spärlich, überall aber ist die personelle Ausstattung mangelhaft. Die Zahl der Richter ist durchweg viel zu gering im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und zum Geschäftsanfall. El Salvador etwa hat für ca. 5 Mio. Einwohner rund 500 Richter. Wollte man deutsche Maßstäbe anlegen (was freilich nicht angemessen wäre), so müßten fünf- bis sechsmal so viele Richter dort tätig sein. Die Folge der überall geringen Richterzahl ist deren unglaubliche Überlastung, z.B. auch bei den materiell gut ausgestatteten Bundesgerichten Brasiliens. Erschwerend kommt hinzu, daß die Verfahren oft nach veralteten Prozeßordnungen geführt werden müssen. Für die mangelnde Effizienz der Strafjustiz gibt es somit viele Gründe. Das Problem der Straflosigkeit (impunidad), das in den letzten Jahren häufig diskutiert worden ist 14
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
im Zusammenhang mit der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen, die während der Zeit der Diktatur begangen worden sind, ist im Grunde ein allgemeines Problem. Es stellt sich nicht nur bei politisch motivierten Delikten, sondern auch bei der Wirtschaftskriminalität und schlichtweg bei jeder Form der Kriminalität. Ein brasilianischer Bundesjustizminister namens Abi-Ackel hat vor einigen Jahren öffentlich erklärt, daß man in den Gefängnissen seines Landes eigentlich nur Arme finden könne. Dies dürfte nicht nur für Brasilien gelten, sondern mehr oder weniger für alle lateinamerikanischen Länder. Daß es bei der Straflosigkeit der Reichen und Einflußreichen nicht immer mit rechten Dingen zugeht, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Klagen, es gäbe nicht genügend qualifizierte Juristen als Richternachwuchs, sind in Ländern mit sehr schlechten Richtergehältern, z.B. Honduras, häufig und verständlich. Kommen sie dagegen aus Ländern, wo die Richterstellung gut ausgestattet ist, so ist ihnen mit Vorsicht zu begegnen: Manchmal wird das vorhandene Potential an qualifizierten Nachwuchskräften bewußt nicht ausgeschöpft. In vielen Ländern, wenn auch nicht in allen, ist die Richterschaft eine Domäne der Männer. Länder wie Panama, wo Richterinnen auf allen Ebenen des Gerichtswesens tätig sind und insgesamt mehr als 40% aller Richterstellen innehaben, sind die Ausnahme. Die Gleichberechtigung der Frau ist zwar im Verfassungsrecht der lateinamerikanischen Länder festgelegt und auch in den von diesen Ländern ratifizierten internationalen Menschenrechtsabkommen. In der Praxis werden Juristinnen aber vielfach nicht zu Richterinnen ernannt oder erhalten allenfalls einige wenige Stellen an den erstinstanzlichen Gerichten. Dies bedeutet nicht nur eine rechtswidrige Diskriminierung, sondern auch den Verzicht auf eine nicht zu unterschätzende Zahl befähigter Nachwuchskräfte, denn in vielen Ländern haben die Frauen einen Anteil von etwa 50% am Juristenstand. Wenn man einmal davon ausgeht, daß Frauen im allgemeinen weniger korruptionsanfällig sein dürften, so zeigt sich, wie verfehlt diese Politik der Diskriminierung ist. Ein Problem, das oftmals übersehen wird, besteht darin, daß neben den von den Rechtsfakultäten ausgebildeten Richtern in vielen Ländern eine außerordentlich große Zahl von Laienrichtern tätig ist (im mexikanischen Bundesstaat San Luis Potosi z.B. mehrere Tausend), nicht als Beisitzer, die zusammen mit Berufsrichtern entscheiden, sondern als Einzelrichter. Diese Laienrichter bringen keinerlei oder kaum Rechtskenntnisse mit und werden i.d.R. schlecht bezahlt. Aufmerksamkeit wird ihnen meist deswegen nicht gezollt, weil sie nur Bagatellfälle zu entscheiden haben. Man sollte sich aber nicht täuschen: Für die breite Masse der armen Bevölkerung sind Bagatellfälle keine Bagatellen. Ein Defizit auf diesem Gebiet ist daher für die rechtsuchende Allgemeinheit von außerordentlich großer Bedeutung.
2. Das Strafverfahrensrecht Auf dem Gebiet des Strafprozeßrechts ist die Lage in den einzelnen Ländern Lateinamerikas sehr unterschiedlich. Außer Kuba und Puerto Rico erlangten alle iberoamerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit vor der Reform des portugiesischen und des spanischen Strafprozeßrechts, die Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte. Sie gingen daher in die Unabhängigkeit mit einem Strafprozeßrecht, das dem Recht des antiguo régimen entsprach: einem geheimen Inquisitionsverfahren, das dem Angeklagten nur sehr wenige Rechte einräumte. 15
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Einige der lateinamerikanischen Länder reformierten dieses Verfahrensrecht, das seit der Aufklärung und der französischen Revolution als überholt gelten mußte, im 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Andere hielten daran aber bis in unsere Tage fest. So sind bestimmte Länder Lateinamerikas für Rechtshistoriker außerordentlich interessant, denn hier wird - z.B. in Honduras - eine Art des Verfahrens noch heute praktiziert, die man gemeinhin nur aus historischen Werken kennt. In Guatemala und im argentinischen Bundesrecht war es bis vor wenigen Jahren nicht anders. Ein besonderes Problem stellt in Lateinamerika die Untersuchungshaft dar. In einigen Ländern liegt der Prozentsatz der Untersuchungsgefangenen an der gesamten Gefängnispopulation mehr oder weniger auf einem vergleichbaren Niveau wie in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Diese Staaten sind aber Ausnahmen. Insgesamt dürften mehr als 70% der Gefangenen in den Gefängnissen Lateinamerikas Untersuchungsgefangene sein. In einzelnen Ländern, zum Beispiel in Honduras, sind es an die 90%. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Untersuchungshaft sehr einschneidende Folgen für den Betroffenen hat, meist zum Verlust der Arbeitsstelle führt, die Familie in wirtschaftliche Not bringt und bei mehrjähriger Dauer oft zur Lockerung der Familienbande oder gar zur Auflösung der Familie führt, dann kann man ermessen, welches Elend durch diese weitgehende Anwendung der Untersuchungshaft verursacht wird. Die Gründe dafür sind zum einen in der langen Prozeßdauer zu suchen. Es dauert in vielen Ländern Jahre, bis ein Strafprozeß entschieden ist, und wenn der Beschuldigte einmal in Untersuchungshaft sitzt und keine Möglichkeit hat, eine Kaution zu stellen, dann bleibt er dort meist bis zum Abschluß des Verfahrens, sei es durch Urteil oder durch Einstellung aufgrund Verjährung. Die lange Prozeßdauer kann aber nicht alles erklären. Es ist offensichtlich, daß in vielen Ländern zu rasch und zu schematisch Untersuchungshaft verhängt wird. Sehr negativ wirkt sich hier die Regelung des Flagranzdelikts aus: Wird der Verdächtige auf frischer Tat getroffen, so kann er regelmäßig ohne weiteres in Untersuchungshaft genommen werden. Ist er aber einmal in Haft, dann ist es für ihn ziemlich schwer, eine Aufhebung des Haftbefehls oder eine Aussetzung des Untersuchungshaftvollzugs zu erreichen. Bei manchen Delikten ist das überhaupt ausgeschlossen, und die Zahl dieser Delikte hat sich in den vergangenen Jahren erhöht, weil viele Regierungen in härteren Strafen und in weitgehenderer Anwendung der Untersuchungshaft ein Heilmittel für die Kriminalitätsbekämpfung sehen. Auch scheinen die Haftprüfungsverfahren weniger wirksam als bei uns zu sein (Beneti 1991; s. auch González Alvarez/Mora Mora/Houed Vega, 1989: 50 f.). Beklagt wird in den Ländern, die unter ihren Bürgern zahlreiche Indios haben, vor allem also in Guatemala, Mexiko und Peru, daß die europäisch ausgerichteten Strafverfahren den Angehörigen der Eingeborenenstämme nicht gerecht werden. Dieses Problem hat einen sprachlichen Aspekt, weil nicht alle Indios die europäische Amtssprache beherrschen. Es geht aber darüber hinaus. Geltend gemacht wird, daß speziell für Indios Gerichte gebildet werden sollten, möglichst reine Indiogerichte. Natürlich spielt hier auch eine Rolle, daß es im Bereich der staatlichen Justiz kaum Indios als Richter gibt, so daß bei Verfahren gegen Indios im Grunde eine koloniale Situation entsteht. Diese Problematik ist noch bei weitem nicht ausdiskutiert, geschweige denn gelöst. Immerhin liegen aber aus Guatemala und Panama gewisse Erfahrungen vor (s. auch Vêlez 1981). 16
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
3. Das Gefängniswesen Alarmierend ist die Lage in fast allen Ländern auf dem Gebiet des Gefängniswesens, in manchen ist sie schlichtweg katastrophal. Immer wieder erreichen uns selbst über die deutsche Presse, die Lateinamerika nur wenig Platz einräumt, Meldungen von Gefängnisaufständen, die oftmals mit Dutzenden von Toten enden. Es kann kein Zweifel daran sein, daß Häftlinge sich im Bewußtsein des Risikos für ihr Leben, das sie bei einem Aufstand laufen, nur dann dazu entschließen, wenn die Lage verzweifelt ist. Offensichtlich ist sie das in vielen Gefängnissen. Einer der Gründe für diese Lage ist die ständige Erhöhung der Gefangenenzahlen in den letzten Jahren. Es ist dies kein Phänomen, das auf Lateinamerika beschränkt, sondern in vielen Ländern zu beobachten ist, auch bei uns. Besonders dramatisch ist die Zahl der Strafgefangenen aber in den USA seit Anfang der 80er Jahre gestiegen: Sie hat sich in wenig mehr als 10 Jahren verdreifacht. Heute sitzen in den USamerikanischen Gefängnissen weit über eine Million Gefangene ein, im Verhältnis zur Bevölkerung eine ungemein hohe Zahl. Da die USA nach wie vor für viele lateinamerikanische Staaten eine Vorbildfunktion haben, kann es nicht verwundern, daß auch in Lateinamerika die Gefangenenzahlen außerordentlich stark angestiegen sind. Freilich ist die Nachahmung des USamerikanischen Vorbilds nicht immer ganz freiwillig. Zumindest auf dem Gebiet der Drogenbekämpfung üben die USA einen erheblichen Druck auf lateinamerikanische Länder aus, damit diese der harten, wenn auch erfolglosen Linie der US-amerikanischen Drogenbekämpfung folgen. So sind in vielen lateinamerikanischen Ländern nach USamerikanischem Vorbild die angedrohten Freiheitsstrafen außerordentlich stark erhöht worden, zum Beispiel in Costa Rica von 25 Jahren auf 50 Jahre. Eine solche Politik längerer Freiheitsstrafen, meist auch noch mit Beschränkungen hinsichtlich vorzeitiger Entlassung auf Bewährung verbunden, hat zwangsläufig binnen weniger Jahre eine erhebliche Steigerung der Gefangenenzahlen zur Folge. Dies hat in Lateinamerika freilich noch schwerwiegendere Folgen als in den USA, da bindende Standards für die Unterbringung der Gefangenen entweder fehlen oder nicht beachtet werden. So kommt es zu einer Überfüllung der Gefängnisse und der Unterbringung der Gefangenen unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Hinzu kommt noch das ungelöste Problem der Untersuchungshäftlinge, auf das bereits eingegangen wurde. Weitere Probleme sind veraltete Vollzugsordnungen, die den in den Gefängnissen herrschenden Verhältnissen nicht Rechnung tragen und die Rechtsstellung der Gefangenen ungenügend ausgestalten. Daneben bestehen die bekannten Probleme materieller Art, marode Gebäude und Einrichtungen, nicht oder schlecht ausgebildetes und unterbezahltes Personal usw. Allerdings sollte man über den negativen Erscheinungen nicht die positiven vergessen. Dazu zählt z.B., daß die Gefangenen im allgemeinen gut oder zumindest ausreichend ernährt werden, was bekanntlich nicht überall in den Ländern der sog. Dritten Welt der Fall ist. In manchen Gefängnissen können die Gefangenen, die handwerkliche Fähigkeiten besitzen, sozusagen unternehmerisch als Einmannbetrieb für Kunden von außerhalb der Anstalt tätig sein. Dies hat zur Folge, daß mit wesentlich mehr Eifer gearbeitet wird als in gefängniseigenen Betrieben. Besonders bemerkenswert ist aber, daß in den Anstalten, die nicht an Überfüllung leiden (bedauerlicherweise vermindert sich ihre Zahl stetig), oft ein sehr humaner Geist herrscht, weit entfernt von 17
Lateinamerika Jahrbuch 1996
der kalten, bürokratischen Atmosphäre moderner Gefängnisse. Bemerkenswert ist auch die Institution der sog. intimen Besuche, die in Lateinamerika entwickelt wurde, um Ehepartnern und Lebensgefährten (zumeist Frauen) das Zusammensein mit ihren einsitzenden Angehörigen ohne Anwesenheit Dritter zu ermöglichen. Zu Unrecht wird meist nur der sexuelle Aspekt dieser Besuche hervorgehoben, der aber keineswegs der wichtigste ist. Wesentlich ist vielmehr, daß der Häftling der Tag und Nacht vorhandenen Überwachung für einige Stunden entkommen und in die private Atmosphäre der Zweisamkeit eintauchen kann. Für sein psychisches Befinden und die Aufrechterhaltung der partnerschaftlichen Beziehung sind diese Besuche von großer Bedeutung.
4. Jugendkriminalität und Strafrecht In Spanien steht auch nach Erlaß des neuen Strafgesetzbuches vom November 1995 die Ausarbeitung eines Jugendstrafrechts immer noch aus. Die Strafmündigkeit tritt gemäß Art. 19 Abs. 2 Código Penal erst mit 18 Jahren ein. In vielen lateinamerikanischen Ländern sind zwar Jugendgesetze erlassen worden, die auch Anwendung finden, wenn Jugendliche strafbare Handlungen begangen haben. Die Altersgrenzen sind unterschiedlich. In Brasilien beginnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit z.B. mit 18 Jahren, in anderen Ländern liegt sie darunter. Daß es sich bei diesen Jugendgesetzen i.d.R. nicht um Jugendstrafrecht handelt, zeigt sich unter anderem daran, daß diese Gesetze meist auf die Normierung strafrechtlicher und -prozessualer Garantien, auf die jeder erwachsene Angeklagte Anspruch hat, verzichten. Sie gleichen insofern dem spanischen Jurgendfürsorgegesetz, das vom spanischen Verfassungsgericht aus diesem Grunde durch Urteil vom 14.2.1991 teilweise für verfassungswidrig befunden wurde (STC 36/1991). Der Mangel rechtsstaatlicher Garantien ist aber nicht das einzige Defizit. Nicht immer erlauben diese Jugendgesetze, in wirksamer Weise auf schwere Straftaten zu reagieren. Solche Taten werden offensichtlich immer häufiger von Jugendlichen begangen. Dies rückt stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, seitdem in allen Ländern Lateinamerikas das Problem der Straßenkinder an Bedeutung zunimmt. Vor 20 oder 30 Jahren gab es Straßenkinder in nennenswerter Zahl nur in Bogotá (Kolumbien). Die "gamines" von Bogotá waren überall bekannt, das Phänomen wurde bestaunt, und jedermann fragte sich, warum die Kolumbianer nicht fähig waren, dieses singulare Problem zu lösen. Inzwischen hat es sich überall ausgebreitet. Es ist eine Folge der Verelendung breiter Massen, und man kann allenthalben auch schon Kinder im Vorschulalter unter den Straßenkindern finden. Vereinzelte Versuche, dem Problem Herr zu werden, haben zwar in manchen Städten Erfolg gehabt, in den meisten aber nicht, wohl hauptsächlich, weil es an den Mitteln fehlt und weil möglicherweise auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür nicht günstig sind. Die Straßenkinder bringen sich meist durch Betteln und kleine Diebstähle durch, bis sie etwa 11,12 oder 13 Jahre alt sind. Dann sind die Mädchen in der Lage, sich zu prostituieren, und die Jungen sind stark genug, um zur Gewaltkriminalität überzugehen. Soweit sie strafrechtlich noch nicht verantwortlich sind, kann die Polizei mit den Mitteln des Strafverfahrensrechts nicht gegen sie vorgehen. Typischerweise werden sie zwar zunächst festgenommen, möglicherweise auch für einige Wochen untergebracht, aber dann müssen sie in der Regel wieder entlassen werden. Zum 18
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
Beispiel hat das als sehr fortschrittlich gepriesene Estatuto da Crianza e do Adolescente Brasiliens (Lei n. 8.069, de 13 de julho de 1990) zur Folge gehabt, daß untergebrachte Jugendliche, die zum Teil sehr schwere Straftaten begangen hatten, nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes aus den Jugendfürsorgeanstalten entlassen werden mußten. Da die Jugendlichen damit aber Unterbringung und Verpflegung verloren und keine ausgleichenden Fürsorgemaßnahmen getroffen wurden, haben sie alsbald wieder Straftaten begangen, die dann allerdings die Öffentlichkeit alarmiert haben. Gefährlich ist die Straflosigkeit jugendlicher Täter insbesondere auch deswegen, weil sie dazu führt, daß diejenigen, die unter diesen Straftaten zu leiden haben und von der Polizei keinen Schutz erfahren, das Recht selbst in ihre Hand nehmen. Das führt dann zu Fällen der Lynchjustiz, die uns immer wieder besonders aus Brasilien berichtet werden. Weiter kompliziert hat sich die Frage der nicht strafrechtlich verantwortlichen Jugendlichen durch den zunehmenden Drogenhandel, der in immer stärkerem Maße auch in den Ländern Lateinamerikas zu beobachten ist, die nicht als Produktionsländer gelten. Dabei wird von den Drogenbanden in steigendem Maße auf strafunmündige Jugendliche als Boten zurückgegriffen. Diese werden dann freilich häufig auch von den Banden umgebracht, weil sie zunächst zwar nützliche Helfer, dann aber auch potentiell gefährliche Mitwisser sind. Die großzügige Regelung in vielen lateinamerikanischen Staaten, die Jugendliche (z.T. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausnimmt, ist also durchaus problematisch, und sie wirkt keineswegs stets zugunsten der Jugendlichen.
IV.
Reformfelder
1. Gerichtsverfassung und Richterrecht a. Die Stellung der obersten Gerichtshöfe Von den drei Staatsgewalten besitzen in Lateinamerika regelmäßig Legislative und Exekutive eine originäre demokratische Legitimation, da sie unmittelbar vom Volk gewählt werden. Eine Volkswahl der Richter ist nirgends vorgesehen. Ihre Legitimation ist daher abgeleitet, und zwar meist sowohl von der Exekutive als auch von der Legislative, die bei der Richterwahl zusammenwirken. Regelungen dieser Art finden sich in vielen Ländern. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wirken bei der Wahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes Parlament und Exekutive zusammen: vom Bundestag gewählte Personen (meist Abgeordnete) und die jeweiligen Fachminister des Bundes und der Länder bilden gemeinsam gemäß Art. 95 Abs. 2 GG den Richterwahlausschuß. In den Ländern Lateinamerikas ist das Wahlverfahren anders geregelt. Regelmäßig findet die Wahl durch das Plenum des Parlaments statt, ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland die Wahl der Bundesverfassungsrichter gemäß Art. 94 Grundgesetz vorgesehen ist (die vom Bundestag zu wählenden Bundesrichter werden allerdings durch einen Wahlmännerausschuß gewählt, § 7 BVerfGG). Diese Ähnlichkeit 19
Lateinamerika Jahrbuch 1996
mag nicht zufällig sein: Häufig besitzen die obersten Gerichte der lateinamerikanischen Länder die Zuständigkeit für Verfassungsfragen; erst in den letzten Jahren sind in einigen Ländern eigene Gerichte oder Spruchkörper dafür eingerichtet worden, z.B. in Guatemala (Art. 268 ff. Verfassung) und in El Salvador (Art. 174, 183 Verfassung). Dem Präsidenten der Republik kommt für die Wahl der Richter des obersten Gerichts meist ein Vorschlagsrecht zu. In Ländern, die ein Zweikammersystem haben, z.B. Mexiko, findet sich das System der USA: der Präsident der Republik schlägt die Kandidaten für das Amt des Richters am Obersten Gerichtshof vor, der Senat stimmt zu oder lehnt ab. Dies gibt naturgemäß der Exekutive einen starken Einfluß auf die Besetzung der Richterämter. Um diesen Einfluß zu vermindern, sind in neueren Verfassungen originelle Lösungen verwirklicht worden. In El Salvador wird nach der Verfassung von 1983 die Kandidatenliste für die vom Parlament vorzunehmende Richterwahl vom Consejo Nacional de Judicatura vorgelegt. Der Consejo benennt die Hälfte der Kandidaten selbst, die andere Hälfte wird von den juristischen Standesorganisationen (Entidades representativas de los abogados de El Salvador) vorgeschlagen und vom Consejo in seine Vorschlagliste aufgenommen. Ein anderes Verfahren sieht die Verfassung Guatemalas von 1985 vor. Von den neun Richtern der Corte Suprema de Justicia werden nur vier von den Abgeordneten nominiert. Die übrigen fünf wählt das Parlament aufgrund einer Liste mit 30 Namen, die von einer Comisión de Postulación zusammengestellt wird. Diese Kommission besteht aus den Dekanen aller guatemaltekischen Rechtsfakultäten sowie einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von der Anwalts- und Notarkammer gewählt werden. Schließlich kommt noch ein Vertreter der Justiz hinzu, den der Oberste Gerichtshof ernennt (Art. 215 Verfassung). Diese beiden in den letzten Jahren entwickelten Modelle sind sicherlich verbesserungsfähig, aber sie stellen interessante Versuche dar, die Auswahl der Richter an den obersten Gerichten nicht nur unter politischen Gesichtspunkten treffen zu lassen. Sie könnten auch für die deutsche Reformdiskussion Anregungen bieten: Es besteht kein Zweifel, daß wir auf diesem Gebiet den Stein der Weisen keineswegs gefunden haben. Nicht nur die Wahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen ist indessen vielfach reformbedürftig. Sollen die obersten Gerichtshöfe in die Lage versetzt werden, sich ihrer ureigensten Aufgabe, der Rechtsprechung, zu widmen, so ist die Entlastung von Verwaltungsaufgaben erforderlich. Dazu gibt es in mehreren Ländern, z.B. in Mexiko aufgrund der Reform von 1994/1995, bereits Ansätze. Bewirkt wird diese Reform durch die Einrichtung eines Organs, für das im allgemeinen der spanische Consejo General del Poder Judicial (Art. 122 Verfassung von 1978) als Modell dient und dem die Verwaltungsaufgaben des obersten Gerichtshofs zugewiesen werden. Ob damit nun tatsächlich ein "órgano de autogobierno" der Judikative begründet wird, ist allerdings von Fall zu Fall zu prüfen. Auch in Spanien ist übrigens der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt durchaus umstritten, insbesondere weil er seit einer Reform des Jahres 1985 stark politisiert ist und kaum mehr als Selbstverwaltungsorgan der Justiz angesehen werden kann (rechtsvergleichend s. Barbero Santos 1991). Wie dem auch sei: Vor allem in den Ländern, in denen der oberste Gerichtshof, meist mit nur wenigen Richtern besetzt, den gesamten Bereich der Justiz zu verwalten hat, etwa weil ein Justizministerium nicht existiert oder ihm diese Aufgabe nicht zukommt, ist die Einrichtung eines selbständigen Verwaltungsorgans dringend 20
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
erforderlich. Erst dann lassen sich auch die Kandidaten für die höchsten Richterämter sachgerecht im Hinblick auf ihre Aufgaben als Richter auswählen: Bisher sind administrative Fähigkeiten mindestens ebenso wichtig. Um die Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Staatsgewalten zu stärken und ihre spärliche Ausstattung mit Haushaltsmitteln zu verbessern, haben eine Reihe von Ländern in ihren Verfassungen festgelegt, daß der Justiz ein fester Prozentsatz des Staatshaushalts zusteht, über den sie im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts weitgehend frei verfügen kann. So werden der Justiz in Costa Rica durch die Verfassung 6% des Staatshaushalts zugewiesen (Art. 177 Abs. 3), in El Salvador ebenfalls 6% (Art. 172 Abs. 4), in Honduras 3% (Art. 306), in Guatemala und Panama je 2% (Art. 213; Art. 211)'. Nicht überall scheint das reibungslos zu funktionieren, aber zweifellos handelt es sich um einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer unabhängigen Justiz. b. Richterlaufbahn; Ausbildung und Fortbildung der Richter Soweit die Richterlaufbahn nicht eingeführt ist, zum Beispiel in Nikaragua oder in Guatemala, wo es seit vielen Jahren einen Gesetzentwurf dazu gibt, den das Parlament aber bisher nicht behandelt hat, ist ihre Einführung im Grunde dringendstes Reformanliegen. Fehlt die Richterlaufbahn, so ermangelt es an der Grundlage für einen Richterstand, der sich durch Sachkenntnis und Berufsethos auszeichnen könnte. In einigen lateinamerikanischen Staaten, zum Beispiel in Brasilien, ist die Richterlaufbahn dagegen seit langem eingeführt. Um Richter zu werden, hat man sich Prüfungswettbewerben zu unterziehen. Ob diese Prüfungswettbewerbe immer sachgerecht durchgeführt werden, ist fraglich. Grundsätzlich wird jedoch der Kandidat für das Richteramt aufgrund eines geordneten Verfahrens nach sachgemäßen Kriterien ausgewählt. Brasilien hat auch eine interessante Regelung für den Quereinstieg. Bei den Gerichten 2. Instanz des Bundes und der Länder sind gemäß Art. 94 der Bundesverfassung von 1988 20% der Richterstellen erfahrenen Staatsanwälten und Anwälten vorbehalten. Dies stellt eine gewisse Sicherheit dagegen dar, daß sich die Richterschaft gegen die anderen juristischen Berufsgruppen abschottet. Diese brasilianische Regelung könnte durchaus Anregungen für Reformvorhaben in anderen Ländern bieten. Vielfach wird in Lateinamerika die "Professionalisierung" des Richterstandes gefordert. Neben der Einrichtung der Richterlaufbahn ist dafür Voraussetzung, daß Ausbildung und Fortbildung der Richter gewährleistet sind. Auch hier liegt vieles im argen. Dies beginnt schon damit, daß die Rechtsfakultäten selbst innerhalb ein und desselben Landes ein recht unterschiedliches Niveau aufweisen können. Auch da, wo das Rechtsstudium ein hohes Niveau erreicht, ist immer das Erbübel der mediterranen Juristenausbildung festzustellen: Sie ist zu theoretisch. Das bedeutet, daß der Absolvent einer Rechtsfakultät, so er denn eine gute Ausbildung genossen hat, zwar über theoretische Kenntnisse verfügt, aber im allgemeinen nicht gelernt hat, wie diese Kenntnisse in der Praxis anzuwenden sind.
In der Bundesrepublik geben die Länder im Schnitt etwa 3,3% ihres Haushalts für die Justiz aus. Aus vielerlei Gründen sind die Zahlen aber nicht ohne weiteres vergleichbar.
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Es gibt zwar überall Versuche, diesem Übel entgegenzusteuern. Insbesondere bestehen an vielen Rechtsfakultäten nach nordamerikanischem Vorbild "Rechtskliniken", wo Studenten unter Anleitung eines Professors die Fälle armer Parteien bearbeiten und auf diese Weise in die Gerichtspraxis eingeführt werden. Auch kommt es in Lateinamerika häufig vor, daß Jurastudenten bei den Gerichten die miserabel bezahlten Posten von Justizangestellten übernehmen und auf diese Weise mit der Praxis in Berührung kommen. In El Salvador versucht man, durch Vereinbarungen zwischen dem Obersten Gerichtshof und den Universitäten die praktische Ausbildung voranzubringen. Insgesamt ist die Ausbildungsreform, soweit sie - abgesehen von der Einrichtung von Schulen für Richter und Staatsanwälte - überhaupt in Angriff genommen worden ist, bisher aber nicht sehr weit vorangekommen. Was not täte, wäre eine gründliche Reform des Jurastudiums und die Einführung einer praktischen Ausbildung, wie wir sie in Gestalt der Referendarausbildung kennen. Dies scheitert aber bisher zum einen daran, daß die Notwendigkeit der Reform nicht überall gesehen wird, insbesondere aber an dem Umstand, daß es nicht leicht ist, ein Modell für eine solche Ausbildung zu finden: Im mediterranen Kulturkreis, mit dem die engsten und besten Kontakte bestehen, gibt es ein solches Modell nicht. Für die Aus- und Fortbildung der Richter sind in den letzten Jahren fast überall Richterschulen gegründet worden. Oft haben dabei Europa und die USA Pate gestanden, und die Vorlesungen werden häufig von ausländischen Juristen, meist von Spaniern, gehalten. Ob die Richterschulen in ausreichender Weise praxisbezogen arbeiten, erscheint indessen fraglich. Auch die spanische Richterschule, der Centro de Estudios Judiciales (früher Madrid, jetzt Barcelona), hat dieses Problem wohl noch nicht vollkommen gelöst. Offensichtlich ist auch eine gewisse Verzettelung der Mittel. So hat in den letzten Jahren praktisch jeder lateinamerikanische Staat (und innerhalb der föderalen Staaten fast jedes Bundesland) eine eigene Richterschule eingerichtet oder bereitet entsprechende Pläne vor. Daneben bestehen oftmals noch besondere Ausbildungsstätten für Staatsanwälte. Da Lateinamerika in zwei große Sprachblöcke zerfällt, den hispanophonen mit rund 20 Ländern und den lusophonen mit dem riesigen Bundesstaat Brasilien, der an die 160 Millionen Einwohner in über 20 Bundesländern zählt, läge es nahe, regionale Richterschulen einzuführen, und es wäre kein Nachteil, wenn auch die Staatsanwälte zu ihnen Zugang hätten. Dies setzte allerdings eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit über die Grenzen der Staaten und der Bundesländer und zwischen Richtern und Staatsanwälten voraus, und damit steht es nicht überall zum besten. Immerhin gibt es dazu Ansätze. In Mittelamerika, dessen politisch-wirtschaftliche Einigungsbestrebungen noch keine großen Fortschritte zu verzeichnen haben, werden mit französischer Unterstützung Kurse für Richter veranstaltet, die von Justizangehörigen aus mehreren Ländern der Region besucht werden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Frankreich vor wenigen Jahren die Initiative ergriffen hat, um im frankophonen Schwarzafrika, aber unter Einschluß auch von Ländern iberoamerikanischer Tradition, im Rahmen der Organisation pourl'harmonisation du droit des affaires en Afrique (OHADA) eine Ecole régionale supérieure de la magistrature vorzusehen, die das Niveau der Richter aus allen diesen Ländern heben soll. Insbesondere größere Rechtssicherheit ist das Ziel. Ähnliche Institutionen könnten in Lateinamerika gute Dienste tun. Ansatzpunkte böte der MERCOSUR, der Andenpakt sowie die Zusammen22
Madiener: Justizreform in Lateinamerika
arbeit der mittelamerikanischen Staaten. Auch wäre die Gründung gemeinsamer Einrichtungen innerhalb der Bundesstaaten Argentinien, Brasilien und Mexiko von Vorteil. c. Die Staatsanwaltschaft Die deutsche Staatsanwaltschaft ist Teil der Exekutive, und die Justizminister des Bundes und der Länder sind demgemäß weisungsbefugt. In der Nachkriegszeit wurde diskutiert, ob die Staatsanwaltschaften - ähnlich wie die Gerichte - unabhängig sein sollten. Es blieb dann aber bei der Weisungsgebundenheit der deutschen Staatsanwälte. In Lateinamerika ist eine abweichende Entwicklung zu beobachten. So genießt der brasilianische Generalbundesanwalt seit der Verfassung von 1988 eine gegenüber der Regierung unabhängige Stellung. Ob es zur Amtsenthebung des Präsidenten Collor de Mello gekommen wäre, wenn dieser die rechtliche Möglichkeit gehabt hätte, dem Generalbundesanwalt Weisungen zu erteilen und ihn notfalls auch seines Amtes zu entheben, ist mehr als fraglich. Es zeigt sich an diesem Fall, daß es durchaus vorteilhaft sein kann, wenn der Anklagebehörde eine starke Stellung eingeräumt wird. Nicht bei allen Reformvorhaben, welche die Staatsanwaltschaft zum Gegenstand haben, geht es indessen um die Einführung eines unabhängigen Organs der Rechtspflege. Wo das Strafverfahren seinen inquisitorischen Charakter verlieren soll und Elemente des Akkusationsprozesses vorgesehen werden, ist eine entsprechende Umgestaltung der Anklagebehörde erforderlich, ohne daß ihr unbedingt Unabhängigkeit von der Exekutive gewährt werden müßte. In erster Linie geht es hier darum, die Staatsanwaltschaft von der spanischen Tradition einer eher passiven Behörde zu befreien (wie das übrigens auch in Spanien angestrebt wird, wo man sich bei den Reformen stark am Bild der deutschen Staatsanwaltschaft orientiert). Erreicht werden soll insbesondere, daß die Staatsanwaltschaft selbst Ermittlungen anstellt oder leitet und diese Aufgaben nicht der Kriminalpolizei (policlajudicial) und dem Gericht überläßt. Was zur Laufbahn, zur Ausbildung und Bezahlung der Richter gesagt wurde, gilt mutatis mutandis auch für die Staatsanwälte. Die Mängel sind so schwerwiegend, daß die US-amerikanische Agency for International Development (USAID) bei der von ihr geförderten Staatsanwaltschaftsreform in Honduras in ihrem Finanzierungskonzept auch gleich Mittel für die Gehälter der Staatsanwälte vorgesehen hat. Es ist offenkundig, daß allein Gesetzesreformen nicht ausreichen. d. Die Verteidigung Die meisten Beschuldigten sind in Lateinamerika zu arm, um sich einen Verteidiger leisten zu können. Neben privaten Institutionen nach dem Vorbild der amerikanischen "legal dimes" sind es hauptsächlich "defensores públicos", die für die Beschuldigten kostenlos tätig werden. Es handelt sich dabei um Angehörige des öffentlichen Dienstes, die für ihre Tätigkeit vom Staat ein Gehalt beziehen, ähnlich wie die "public defenders" in den USA. Preußen hatte im 18. Jh. ein ähnliches System, schaffte es aber bald wieder ab, da man mit den beamteten Advokaten keine guten Erfahrungen machte. Insbesondere gelang es ihnen nicht, sich bei ihrer Klientel Vertrauen zu erwerben. Erwägungen, die in neuerer Zeit in Holland zur Einführung beamteter Verteidiger angestellt wurden, blieben ergebnislos. Unsere heutige Regelung - freie Wahl des Verteidigers, Gebühren23
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tragung durch den Staat - ist für Lateinamerika nicht ohne weiteres brauchbar, weil es keine staatlich festgesetzten Gebühren für die Strafverteidigung gibt. Dennoch könnte überlegt werden, ob nicht andere Lösungen als die der "defensores públicos" möglich sind, da dieses System aus verschiedenen Gründen (zu geringe Zahl der Verteidiger, ungenügende Bezahlung, mangelhafte Ausstattung mit sachlichen Mitteln) nicht überall seinen Zweck zufriedenstellend erfüllt.
2. Strafverfahren Das Mündlichkeitsprinzip ist in vielen Ländern Lateinamerikas seit langem eingeführt, so z.B. in der argentinischen Provinz Córdoba und in Brasilien. Soweit das aber noch nicht geschehen ist, steht bei der Reform des Strafverfahrens die Einführung des mündlichen Verfahrens im Mittelpunkt. Im Strafverfahren geht es oft um das Schicksal eines Menschen, vielleicht auch seiner Familie, und es stehen viele Fragen im Raum, die nicht allein durch beschriebenes Papier beantwortet werden können. Die schriftlichen Verfahren des antiguo régimen sind seit langem überholt. Der Strafrichter muß die Möglichkeit haben, den Angeklagten (wie auch andere Prozeßbeteiligte) zu sehen und mit ihm zu sprechen, um sich aufgrund dieses persönlichen Eindrucks ein Bild zu machen. Übrigens wirkt sich die Einführung einer mündlichen Hauptverhandlung nicht unbedingt zugunsten der Angeklagten aus: Aus Argentinien wird berichtet, daß nach der kürzlichen Einführung des mündlichen Verfahrens im Bundesrecht die verhängten Strafen strenger geworden seien. Offensichtlich ist der Eindruck, den der Angeklagte auf den Richter macht, nicht immer günstig. Die Einführung der mündlichen Verhandlung hat aber noch eine andere Bedeutung. Im 19. Jahrhundert wurde in Europa das geheime Inquisitionsverfahren abgeschafft, weil es zum einen dem Angeklagten nur schwache Verteidigungsrechte einräumte, zum anderen aber eine Kontrolle über die Tätigkeit der Gerichte durch die Öffentlichkeit beim geheimen Verfahren kaum möglich war. Inzwischen haben sich die Verhältnisse in Europa und auch in Lateinamerika geändert: Nur noch zu Sensationsprozessen strömen Zuhörermassen. Die Fälle, die Tag für Tag verhandelt werden, ziehen nur wenige Zuhörer an, meist Verwandte und Freunde des Täters und des Opfers. Dennoch ist die Kontrolle der gerichtlichen Verfahren durch die Öffentlichkeit im Rechtsstaat außerordentlich wichtig. Diese Kontrollfunktion nimmt aber heute weniger das Publikum wahr, das an den Verhandlungen teilnimmt, als die Presse. Unter diesem Aspekt ist die Reform des Strafverfahrensrechts von großer Bedeutung, um die Tätigkeit der Justiz einer öffentlichen Kontrolle zu unterziehen. Daß die Medien dabei manchmal zu weit gehen, gerade in Lateinamerika, steht auf einem anderen Blatt (s. die Landesberichte in ILANUD 1992/93). Von Bedeutung sind auch die Bemühungen, für Bagatellfälle vereinfachte Verfahren vorzusehen. Besonders weit sind diese in Brasilien gediehen mit der Einführung der Juizados de Pequeñas Causas und Juizados Especiáis Cíveis e Crimináis in den letzten Jahren (s. Madlener/Madlener 1995; Nalini 1995: 332 f.). Die Erfahrungen, die damit gemacht wurden, scheinen günstig zu sein, so daß es nützlich wäre, sie bei Reformen in anderen Ländern heranzuziehen. Im übrigen wäre es natürlich wichtig, Möglichkeiten alternativer Konfliktlösung zu eröffnen, um die Strafgerichte zu entlasten.
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Madiener: Justizreform in Lateinamerika
Rein technische Fragen wie die Ausstattung der Strafgerichte mit sachlichen Mitteln spielen eine unterschiedliche Rolle. Besonders Untergerichte sind in manchen Ländern unzureichend untergebracht und ausgestattet: oft fehlt es schon an Schreibmaschinen, von Dienstfahrzeugen (die bei den obersten Gerichten regelmäßig reichlich vorhanden sind) ganz zu schweigen. Andererseits ist die Informatisierung der Justiz z.T. sehr weit fortgeschritten, im Land Säo Paulo z.B. weiter als bei uns. Die entscheidenden Hemmnisse für einen besseren Ablauf der Strafverfahren sind im allgemeinen aber nicht in diesem Bereich zu suchen.
3. Gefängniswesen Die Überbelegung der Gefängnisse mit all ihren negativen Wirkungen steht in vielen Ländern im Zusammenhang mit der Regelung und der Praxis der Untersuchungshaft. Wird ein Ersttäter ertappt, der kein schweres Verbrechen begangen hat, verheiratet ist, mit seiner Familie zusammenlebt und Arbeit hat, so ist meist kein Grund gegeben, um ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Starre prozeßrechtliche Regelungen, z.B. im Fall von Flagranzdelikten, oder aber eine entsprechend schematische Praxis der Haftrichter führen jedoch dazu, daß in vielen Fällen dennoch Untersuchungshaft verhängt und vollzogen wird. Zwar sind vom Gesetzgeber durchaus Möglichkeiten vorgesehen, den Vollzug der Untersuchungshaft auszusetzen. Dafür ist aber - wie in den USA meist die Stellung einer Kaution (fianza) erforderlich. Im Gegensatz zu den USA, wo die 6a//-Büros dabei behilflich sind, ist der lateinamerikanische Untersuchungshäftling regelmäßig auf seine eigenen Mittel angewiesen, so die Gesetzgebung seines Landes nicht Alternativen, wie z.B. die "fianza juratoria", zuläßt. Dies bedeutet, daß es ihm oft nicht möglich ist, die Entlassung aus der Untersuchungshaft zu erlangen, weil er die Kaution nicht stellen kann. Bei bestimmten Delikten ist die Untersuchungshaft obligatorisch (delitos no excarcelables), was unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kritisiert wird (Hendler 1984; Zaffaroni 1984). Eine tiefgreifende Reform des Rechts der Untersuchungshaft ist also erforderlich (Guerra de Villalaz). Sie könnte im Rahmen umfassender Strafprozeßreformen erfolgen, wäre aber auch als Einzelmaßnahme sinnvoll. Ein anderer wichtiger Grund für die übergroße Zahl der Untersuchungshäftlinge ist die lange Prozeßdauer. Dieses Problem könnte allerdings nur durch eine Gesamtreform des Strafverfahrens gelöst werden, wie sie in mehreren Ländern bereits im Gange ist oder vorbereitet wird, und durch weitere Maßnahmen wie eine Vermehrung der Richterstellen. Gründe für das Ansteigen der Gefangenenzahlen liegen auch im Sanktionenrecht, also im Bereich des materiellen Strafrechts. Hier wäre zu prüfen, ob die wesentlich längeren Freiheitsstrafen, die seit einigen Jahren in einer Reihe von Ländern gängige Praxis sind, notwendig und nützlich sind. Die Frage stellen, heißt sie verneinen: Die in den USA gesammelten Erfahrungen mit immer extensiverer Androhung von langen Freiheitsstrafen und auch der Todesstrafe belegen dies. Eine Reform in diesem Bereich hätte allerdings hochpolitischen Charakter, vor allem wegen der außenpolitischen Implikationen. Bekanntlich drängen die USA auf eine energische Bekämpfung der Drogendelikte und setzen dabei insbesondere auf hohe Strafen, auch wenn diese Politik
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in den USA selbst außer dem ungeheuren Anstieg der Gefangenenzahlen nichts bewirkt hat. Nicht weniger schwierig, wenn auch aus anderen Gründen, ist die wünschenswerte Ersetzung der Freiheitsstrafe durch andere Sanktionen. In dieser Hinsicht haben wir in Deutschland unbestreitbare Erfolge aufzuweisen, denn nur noch bei ungefähr 17% unserer Strafurteile wird Freiheitsstrafe verhängt, die zudem in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle zur Bewährung ausgesetzt wird. Ermöglicht wurde dies durch die Reform der Geldstrafe, die jetzt gemäß § 40 StGB in Tagessätzen auferlegt wird, deren Höhe DM 2,- betragen kann, aber auch DM 10.000,-, je nachdem, welches Nettoeinkommen pro Tag der Täter hat oder haben könnte. Damit können seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb dieser Bandbreite von DM 2,- bis DM 10.000,berücksichtigt werden. In Lateinamerika spielt die Geldstrafe als Ersatz für die Freiheitsstrafe bisher kaum eine Rolle. Begründet wird dies mit der Armut der meisten Straftäter. Dieses Argument ist aber nicht in allen Fällen stichhaltig, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Jedenfalls sollte man sich daran erinnern, daß das bei uns und in anderen europäischen Ländern so erfolgreiche Tagessatzsystem, das wir aus Schweden übernommen haben, eine lateinamerikanische Schöpfung ist: Es findet sich bereits in dem berühmten brasilianischen Código Criminal von 1830 (Art. 55), der im vorigen Jahrhundert mit gutem Grund in Europa große Beachtung fand und in vielfacher Hinsicht europäischen Kodifikationen als Vorbild diente, z.B. in Spanien 1848 und in Portugal 1852. Es wäre verwunderlich, wenn diese Institution, die jahrzehntelang in Lateinamerika vergessen war, nicht doch in modernisierter Form in der Region ihres Ursprungs eine Rolle spielen könnte. Daneben sollten freilich weitere Alternativen zur Freiheitsstrafe entwickelt werden, die den örtlichen Gegebenheiten angepaßt sein sollten (Castillo Barrantes 1984). Diese Reformen des Sanktionenrechts könnten auch dort angepackt werden, wo Gesamtreformen derzeit nicht möglich erscheinen. Schließlich bleibt die eigentliche Reform des Gefängniswesens eine große Aufgabe. Dazu wären modernere Strafvollzugsordnungen erforderlich, die zum einen die Ziele des Strafvollzugs definieren, zum anderen aber auch die Rechtsstellung der Gefangenen genau umschreiben. Die Humanisierung des Strafvollzugs ist freilich ein Ziel, das ohne Einsatz materieller Mittel kaum im wünschenswerten Ausmaß erreicht werden kann. Daß hier wirtschaftliche Zwänge Schranken setzen, bedarf keiner Erläuterung. Es ist aber offensichtlich, daß eine Verminderung der Gefangenenzahlen durch eine Reform des Rechts der Untersuchungshaft und des Sanktionenrechts die Reform des Gefängniswesens und die Verbesserung der Haftbedingungen erleichterte.
4. Jugendstrafrecht Ob die Zeit für eine umfassende Reform des auf jugendliche Täter anwendbaren Rechts überall in Lateinamerika bereits gekommen ist, steht dahin. Oft wird die Anwendung des Strafrechts auf jugendliche Täter noch als eine im Grunde barbarische Maßnahme gesehen, weil man nicht in Betracht zu ziehen vermag, daß ein Jugendstrafrecht insbesondere Erziehungsmaßnahmen vorsehen muß und auch kann und daß ein Strafverfahren starke prozeßrechtliche Garantien bietet. Nicht übersehen werden dürfen
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aber die materiellen Probleme, denn ohne besondere Gerichte, Anstalten und Betreuer kann eine solche Reform keinen Erfolg zeitigen. Auf jeden Fall ist es aber an der Zeit, die Reformen vorzubereiten. Dafür besteht auch in vielen Ländern Lateinamerikas großes Interesse, denn daß die Jugendkriminalität stetig ansteigt, ist offensichtlich, und daß die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten nicht ausreichen, diesem Phänomen zu begegnen, nicht minder. Da auch Spanien bisher noch kein eigentliches Jugendstrafrecht hat, auf diesem Gebiet also kein Modell bieten kann, liegt es nahe, die deutschen Regelungen und Erfahrungen in diesen beginnenden Reformprozeß einzubringen. Zunächst aber gehört zur Vorbereitung der Reformen die Sammlung und Aufbereitung empirischen Materials, an dem es weithin fehlt (Bacigalupo 1986: 1368).
5. Justiz und Ombudsmann Seit Guatemala 1985 als erstes lateinamerikanisches Land die Institution des Ombudsmannes nach spanischem (und schwedischem) Vorbild eingeführt hat, sind ihm zahlreiche Länder auf diesem Wege gefolgt, z.B. Argentinien, El Salvador, Honduras, Mexiko und Kolumbien, andere bereiten entsprechende Gesetze vor. In Brasilien ist ihre Einführung allerdings am Widerstand der Staatsanwälte gescheitert, die von sich behaupten, die Aufgaben eines Ombudsmannes würden ohnehin von ihnen wahrgenommen. Auch in anderen Ländern waren es die Staatsanwaltschaften, die Widerstand gegen die Einführung der Institution leisteten. In El Salvador und Kolumbien hat das zu etwas seltsamen Konstruktionen geführt, denn dort ist der Ombudsmann in gewisser Weise in die Staatsanwaltschaft eingegliedert, gleichzeitig aber unabhängig. Unstreitig von großer Bedeutung ist die Rolle des Ombudsmannes im Gefängniswesen. Auf diesem Gebiet gibt es eine Tradition, die in das vorige Jahrhundert zurückreicht. Im mexikanischen Bundesstaat San Luis Potosí waren bereits aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahr 1847 von der Landesregierung ernannte procuradores de pobres tätig, die u.a. allwöchentlich die Gefängnisse zu besuchen hatten. Heute besteht bei der Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) eine Visitaduría General, die gemäß Art. 64 der Geschäftsordnung 1992 ausschließlich dafür zuständig ist, die Achtung der Menschenrechte in den Strafanstalten von Amts wegen zu überwachen. Die Berichte über die Arbeit der Visitaduría General der CNDH wie auch die anderer Ombudsmänner lateinamerikanischer Staaten (und selbst vieler argentinischer und mexikanischer Bundesländer) werden veröffentlicht und erreichen dadurch manche Verbesserung. Die Verbreitung der Institution des Ombudsmannes ist daher durchaus geeignet, sowohl einzelne Mißbräuche abzustellen als auch Anstöße für die Reform des Gefängniswesens zu geben. Unter anderem hat die mexikanische CNDH dazu mehrfach Vorschläge veröffentlicht. Was die Gerichte anlangt, so liegt es auf der Hand, daß ein Ombudsmann auf ihre rechtsprechende Tätigkeit nicht einwirken kann, soweit er nicht Verfahrensbeteiligter ist. Dies sollte aber nicht für die Untätigkeit der Gerichte und andere Mißbräuche gelten. Werden Verfahren jahrelang verschleppt, werden Verfahrensbeteiligte wegen ihrer Rasse oder aus Fremdenfeindlichkeit unangemessen behandelt, häufen sich Fälle von Korruption, ohne daß die Justizbehörden selbst etwas dagegen unternehmen, so ist es erforderlich, daß eine andere unabhängige Instanz den Finger auf die Wunde legt. 27
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Im Ursprungsland der Institution, in Schweden, sind Mißbräuche im Bereich der Justiz übrigens stets vom Ombudsmann angeprangert worden. In Mexiko ist die Kritik des Ombudsmannes (der Comisiön National de Derechos Humanos) an der Justiz allerdings auf starken Widerstand der Betroffenen gestoßen. Dies führte dazu, daß die Bundesjustiz (nicht aber die der Länder) aufgrund der Verfassungsreform von 1992 dem Tätigkeitsbereich der CNDH entzogen wurde. Von der Einrichtung der Kommission 1990 bis zu der Verfassungsreform hatte sie, damals unter dem Vorsitz des sehr tatkräftigen Menschenrechtlers Jorge Carpizo, immer wieder in ihrer "Gaceta" vor allem Prozeßverschleppungen im Bereich der Justiz des Bundes und der Länder gerügt. Den Bundesrichtern scheint dies so lästig geworden zu sein, daß schließlich der Verfassungsgeber dieser Kritik ein Ende setzte. Wie dieses Problem in Lateinamerika gelöst werden wird, zeichnet sich derzeit noch nicht ab. Von Bedeutung ist auch hier das spanische Vorbild: Der Defensordel Pueblo ist bei Mißbräuchen im Bereich der Justiz nur berechtigt, diese den zuständigen Justizbehörden zur Kenntnis zu bringen. Anders ist es, wie bereits erwähnt, in Schweden. Auch in Brasilien wird seit einiger Zeit die Frage der "äußeren Kontrolle" (contröle extemo) der Justiz diskutiert (Delgado 1993: 42 ff.). Brasilien verfügt aber über ein bemerkenswertes System innerbehördlicher Korrektur für Mißbräuche, und zwar sowohl im Bereich der Justiz als auch der Polizei, die corregedorias. Dieses System funktioniert sicher nicht immer zufriedenstellend, worauf auch die Diskussion über den contröle extemo hinzuweisen scheint. Es verdiente aber, näher untersucht zu werden, denn es stellt einen interessanten Ansatz dar, um ein besseres Funktionieren des Justizapparates zu gewährleisten und Menschenrechtsverletzungen im Bereich von Justiz und Polizei zu verhindern. Ein Vorteil des Systems ist insbesondere, daß die zuständige corregedoria im Notfall sofort in Anspruch genommen werden kann, denn ihr Büro ist bei den Justiz- und Polizeibehörden zu finden und üblicherweise ständig besetzt.
V. Die Rolle der Entwicklungshilfe 1. Entwicklungshilfe und Rechtswesen Die deutsche Entwicklungshilfe war anfänglich und lange Zeit allein auf "technische Zusammenarbeit" ausgerichtet. Zunächst war die Meinung vorherrschend, daß in Entwicklungsländern vor allen Dingen Brücken und Straßen, Telekommunikationseinrichtungen, Gesundheitswesen, Landwirtschaft und so weiter zu fördern seien, um diese Länder voranzubringen. Bereits 1983 findet sich aber im Sektorpapier des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Hinweis, daß künftig verstärkt auch Rechtsberatung (zum Beispiel im Bereich internationalen Vertragswesens) und die Unterstützung von Verwaltungsreformen berücksichtigt werden sollten (TZ 4.2.2). In Lateinamerika wurden solche Aufgaben insbesondere von den politischen Stiftungen mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit wahrgenommen. So hat die Friedrich-Naumann-Stiftung in Peru jahrelang die Ausbildung
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von erstinstanzlichen Richtern, die keine juristische Ausbildung hatten, betrieben (Brandt). Die Konrad-Adenauer-Stiftung führt seit einigen Jahren umfangreiche Projekte im Bereich der Justizreform in Bolivien, Chile und Venezuela durch. Seit dem Entwicklungspolitischen Forum der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (DSE) zum Thema "Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und Justizreformen in Lateinamerika" in Berlin Ende 1995 ist klar, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) auch in Lateinamerika mit Hilfe der ihm nachgeordneten Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit mbH (GTZ) verstärkt auf diesem Gebiet tätig sein wird. Vor den deutschen Institutionen führte freilich bereits u.a. die US-amerikanische Agency for International Development (USAID) in vielen Ländern Lateinamerikas entsprechende Programme durch. Sie hat dabei die "technische Zusammenarbeit" in den Vordergrund gestellt: In vielen Ländern wurde die Informatisierung der Justiz betrieben, es wurden Bibliotheken ausgebaut usw. Daneben wurde auch die Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten sowie anderen Justizangestellten in Angriff genommen, wobei übrigens, soweit ersichtlich, kein Versuch gemacht wurde, das US-amerikanische Recht in den Vordergrund zu stellen. Die Dozenten kamen überwiegend aus lateinamerikanischen Ländern oder aus Spanien. Die USAID hat unbestreitbar Erfolge aufzuweisen, z.B. in Panama, wo sie im Rahmen des Projekts "Mejoramiento de la Administración de Justicia"für die Justizreform US$ 12 Mio. beisteuerte (Griscom). Man muß sich aber im klaren sein, daß die "technische Zusammenarbeit" nicht immer überzeugende Ergebnisse zeitigen kann. Wenn die Justiz schlecht funktioniert, weil sie nicht unabhängig ist oder korrupt, was eine andere Form der Abhängigkeit darstellt, dann nützt es nichts, sie mit Computern und Software auszustatten. Auch juristische Bibliotheken helfen nicht weiter. Eher schon ist die Ausbildung der Richter und anderer Justizangestellten nützlich. Allein mit der Ausbildung werden aber grundlegende Änderungen auch nicht zu erreichen sein. Dies ist eine der Erwägungen, die einer verstärkten Rechtsberatung mit Mitteln der deutschen Entwicklungshilfe in Lateinamerika voranzustellen sind.
2. Ausgangslage Zu beachten ist, daß die lateinamerikanischen Länder im allgemeinen auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft keine Entwicklungsländer sind. Dies muß klipp und klar gesagt werden. In Lateinamerika gibt es Universitäten seit dem 16. Jahrhundert. Rechtswissenschaft konnte man in vielen Ländern bereits zu Zeiten der Kolonie studieren, im übrigen sind auch viele Bewohner der Kolonien, die ja alle Siedlungskolonien waren, zum Studium für einige Jahre in die Mutterländer gegangen. Nach der Unabhängigkeit wurde das Fundament der universitären Bildung überall erheblich erweitert. Alle lateinamerikanischen Länder verfügen seit langem über ein ausgebautes Universitätswesen. Auf die Ausbildungsmängel, die dieses Universitätswesen gerade auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft aufweist, wurde bereits hingewiesen. Sie sind aber nicht wesentlich anders als das, was in Europas mediterranen Ländern festzustellen ist: Das Studium ist vor allem zu theoretisch. Andererseits ist der Lerneifer der lateinamerikanischen Studenten wesentlich größer als der des Durchschnitts der deutschen. Wer die Ehre und das Vergnügen hatte, als Gastdozent in lateinamerikanischen Ländern tätig 29
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zu sein, weiß, wie groß ihr Wissensdurst ist und wie sehr sie bereit sind, sich einzusetzen und sich anzustrengen. Es ist auch keineswegs so, daß der lateinamerikanische Juristenstand insgesamt ein geringeres Niveau aufwiese als beispielsweise der deutsche. Natürlich wird es den Lateinamerikanern wesentlich schwerer gemacht, sich das nötige Wissen zu erwerben und auf dem laufenden zu bleiben. Die Bibliotheken sind fast überall in einem beklagenswerten Zustand. Viele lateinamerikanische Juristen gleichen das aber bis zu einem gewissen Grad dadurch aus, daß sie sich - oft unter großen Opfern Privatbibliotheken zulegen. Auch ist die Bereitschaft, im Ausland zu studieren, selbst dann noch, wenn man bereits eine gute und gesicherte berufliche Position erreicht hat, in Lateinamerika ungleich größer als in Deutschland. Sieht man von den wenigen Ländern ab, die aufgrund großer Armut, oftmals auch gleichzeitig rückständiger politischer Verhältnisse, ihren Bewohnern nie wirklich gute universitäre Ausbildungsmöglichkeiten bieten konnten, so darf man feststellen, daß das juristische Niveau in vielen lateinamerikanischen Ländern dem deutschen keineswegs nachsteht. Dies gilt beispielsweise für Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay, Venezuela und manche andere. Betrachtet man z.B. einige der in diesen Ländern erscheinenden juristischen Zeitschriften, so ist kein Zweifel, daß hier sehr ernsthaft und auf hohem Niveau wissenschaftlich gearbeitet und publiziert wird. Diese Zeitschriften haben übrigens häufig Auflagen, von denen die Herausgeber deutscher wissenschaftlicher Zeitschriften nur träumen können. Entwicklungshilfe auf dem Gebiet der Rechtsentwicklung ist zwar durchaus möglich und angebracht, aber sie muß all dies berücksichtigen. Als erstes muß der Hochmut abgelegt werden, wir Deutsche hätten auf allen oder auch nur auf den meisten Rechtsgebieten musterhafte Lösungen zu bieten. Wenn wir beispielsweise die Wahl der Richter zum Bundesverfassungsgericht oder auch zu den obersten Bundesgerichtshöfen betrachten, so können wir sehr schnell feststellen, daß wir keineswegs exportierbare Patentrezepte besitzen. Wir können auf diesem Gebiet keineswegs den Lateinamerikanern zeigen, wie das Problem zu lösen ist, wir können allenfalls zusammen mit ihnen ein Problem, das sie und wir haben, untersuchen und versuchen, dafür Lösungen zu erarbeiten. Bescheidenheit ist daher angesagt.
3. Mögliche Schwerpunkte der Zusammenarbeit Das Interesse am deutschen Recht, das oft durch Vermittlung der italienischen und der spanischen Literatur einen gewissen Grad der Bekanntheit erreicht hat, ist in Lateinamerika groß. Auf dem Gebiet des Strafrechts steht dabei die Dogmatik im Vordergrund. Zweifellos hat die deutsche Strafrechtswissenschaft in dieser Hinsicht etwas zu bieten. Fragt man indessen, inwieweit die Aktualisierung und Verfeinerung der Strafrechtsdogmatik in Lateinamerika zur Überwindung der Justizkrise einen Beitrag leisten kann, so fällt die Antwort eher ernüchternd aus. Dies soll nicht heißen, daß etwa die Modernisierung des Allgemeinen Teils eines lateinamerikanischen Strafgesetzbuchs kein wertvoller Beitrag zur Rechtsreform wäre. Diese Art der Reform kann indessen in den meisten lateinamerikanischen Ländern ohne fremde Hilfe geleistet werden: Ein Blick in die Lehrbücher des Allgemeinen Teils 30
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in Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Peru usw. zeigt, daß der Stand der Wissenschaft nichts zu wünschen übrig läßt. Im Sanktionenrecht könnten freilich wichtige Anregungen gegeben werden, denn bei der Zurückdrängung der Freiheitsstrafe, die hierzulande ebenso ineffektiv ist wie in Lateinamerika, haben wir gewisse Erfolge zu verzeichnen. Die dazu hierzulande eingesetzten Mittel lassen sich freilich in Lateinamerika allenfalls in abgewandelter Form einsetzen. Anders mag es auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung sein, dem auch die Schlüsselrolle bei der Justizreform zukommt: Ohne Unabhängigkeit der Justiz und der Richter kann es weder einen wirksamen Grundrechtsschutz noch Rechtssicherheit geben. Es darf aber nicht vergessen werden, daß es hier um hochbrisante politische Fragen geht, meilenweit von der sogenannten technischen Zusammenarbeit entfernt und für staatliche Entwicklungshilfeorganisationen wegen des jederzeit möglichen Vorwurfs der Einmischung oft auch heikel. Auf diesem schwierigsten, zugleich aber auch wichtigsten Gebiet der Justizreform sind vor allem die politischen Stiftungen zur Zusammenarbeit mit den Reformkräften in Lateinamerika berufen. Aufgrund ihrer langen Tätigkeit auf diesem Gebiet verfügen sie über die nötige Erfahrung und die erforderlichen Kontakte. Als nichtstaatliche Organisationen können sie auf diesem rechtspolitischen Gebiet, das hochpolitisch ist, freier agieren als Regierungsstellen. Ein weiterer Bereich, auf dem von deutscher Seite wesentliche Beiträge geleistet werden könnten, ist die Strafverfahrensreform. Der Zustand der deutschen Strafjustiz läßt zwar in vielem zu wünschen übrig. Im internationalen Vergleich steht sie aber nicht schlecht da, insbesondere wenn man mediterrane Länder betrachtet. Vereinfachung des Verfahrens bei gleichzeitiger Wahrung der Rechte des Beschuldigten und des Opfers mit dem Ziel der Beschleunigung, Entlastung der Justiz von Bagatellfällen, Einschränkung der Untersuchungshaft, all das sind Problemfelder, auf denen man aufgrund deutscher Erfahrungen Anregungen geben kann. Der Umstand, daß die spanischen Bemühungen um eine Reform des Strafprozeßrechts sich stark am deutschen Strafverfahren orientieren, ist zweifellos auch bedeutungsvoll, haben die spanischen Prozeßrechtler doch nach wie vor in Lateinamerika großen Einfluß. Ähnliches gilt auch für das Jugendstrafrecht. Allerdings muß bezweifelt werden, ob die Zeit schon reif ist für eine grundlegende Neuorientierung auf diesem Gebiet. Die wohl doch überstürzten Reformen der letzten Jahre, z.B. in Brasilien mit eher negativen Ergebnissen, mahnen zur Vorsicht. Da aber zweifellos Reformbedarf besteht, sollte hier langfristig angesetzt werden. Ein Gebiet, auf dem wir einen wichtigen Beitrag leisten könnten, das bisher aber leider kaum tun, ist die Juristenausbildung. Wenn man in einer Reihe von ausländischen Fakultäten Jura studiert hat, z.B. in Ländern mediterraner Tradition wie Frankreich und Spanien oder auch in den USA, und wenn man die Fakultäten weiterer Länder durch Gastdozenturen kennt, so stellt man fest, daß unsere Fakultäten, soweit sie nicht an Überfüllung durch Studenten und Desinteresse von Professoren leiden, eine vorzügliche Ausbildung bieten und dem universitären Ausbildungssystem der genannten Länder im allgemeinen deutlich überlegen sind. Besonders nützlich wäre es aber für Lateinamerikaner, wenn sie unsere Referendarausbildung, die eine einzigartige Verbindung von Theorie und Praxis bietet, kennenlernten. Diese Modelle in Lateinamerika bekannt zu machen und dadurch bei der Reform lateinamerikanischer Ausbildungsgänge zu helfen, wäre eine wichtige Aufgabe. 31
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4. Instrumente der Zusammenarbeit Für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechtsreform stehen viele verschiedene Wege offen. Der (bescheidene) Juristenaustausch, der mit Hilfe deutscher und lateinamerikanischer Förderungsinstitutionen stattfindet, schafft zweifellos Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit, aber eben nur Voraussetzungen. Er ist zum einen vornehmlich akademisch orientiert, und zum anderen unterliegt die Vergabe von Stipendien einschränkenden Regeln, wie z.B. relativ niedrig angesetzten Altersgrenzen. Stipendien des DAAD werden z.B., von Ausnahmen abgesehen, nur an Kandidaten vergeben, die nicht älter als 32 Jahre sind. Damit können die Juristen, die aktiv an Reformarbeiten beteiligt sind, überwiegend nicht erreicht werden. Was bisher fehlt zwischen Deutschland und Lateinamerika, sind Austauschprogramme für Praktiker aus dem Bereich der Justiz. Ein solches Programm wird z.B. seit einigen Jahren recht erfolgreich vom spanischen Consejo General del Poder Judicial und den deutschen Justizministerien für deutsche und spanische Richter durchgeführt. Allerdings sind nur Kurzaufenthalte vorgesehen. Früher schon entsandte das japanische Justizministerium regelmäßig Zivilrichter nach Nordrhein-Westfalen, damit sie sich bei den dortigen Gerichten mit der Praxis des deutschen Zivilprozesses vertraut machen konnten. Lange Zeit verbrachten koreanische Staatsanwälte jeweils ein Jahr in Baden-Württemberg, um die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften kennenzulernen. Es müßte möglich sein, solche Programme auch für Lateinamerika vorzusehen. An Interesse dafür mangelte es nicht. Hauptinstrument der deutschen Zusammenarbeit ist bisher die Entsendung von Beratern. Diese kann durchaus sinnvoll sein, wenn geeignete Juristen dafür gewonnen werden können. Fraglich ist aber, ob die häufig gewählte Form der Kurzzeitberatung geeignet ist. Zusammenarbeit auf so schwierigen und heiklen Gebieten wie der Justizreform setzt Vertrauen voraus. Dieses bei Kurzaufenthalten zu erwerben, ist nicht leicht. Frustrationen und Reibungsverluste sind leicht die Folge. Längerfristige Aufenthalte sind oft aber weder vom Arbeitsanfall her noch unter Berücksichtigung der Kosten zu rechtfertigen. Eine Lösung könnte gefunden werden, wenn man die Beratungs- mit einer Dozententätigkeit verbände. Dafür kämen sowohl Rechtsfakultäten mit Postgraduierten-Studiengängen als auch Richterschulen (und die entsprechenden Einrichtungen für Staatsanwälte) in Betracht. Bedauerlicherweise scheint der DAAD noch nie im Rahmen seines Programms für Langzeitdozenturen Juristen nach Lateinamerika entsandt zu haben. Hier gäbe es sicher die Möglichkeit, eine Verbindung mit einer Beratertätigkeit vorzusehen. Im Bereich der Schulung der Kriminalpolizei (policia judiciai) könnten auch die den deutschen Botschaften zugeordneten Polizeibeamten, deren Aufgabe die Verbindung mit den Polizeibehörden des Gastlandes bei der Drogenbekämpfung ist, eingesetzt werden, wie das z.B. Frankreich tut. Nicht weniger wichtig als die Entsendung von Beratern sind Seminare, die entweder in Lateinamerika oder in Deutschland veranstaltet werden. Finden sie hierzulande statt, so ist es möglich, wenigstens einen Eindruck von der Gerichtspraxis zu geben. Dies ist ein unschätzbarer Vorteil. Zu beachten ist allerdings, daß es nicht genügt, lateinamerikanische Delegationen nach Deutschland zu holen und sie dann mehr oder weniger ihrer eigenen Initiative zu überlassen. Erforderlich ist vielmehr eine gründliche Vorbereitung und ständige Betreuung, wie das bei den vom Auswärtigen Amt, INTER 32
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NATIONES und den politischen Stiftungen veranstalteten Reisen eine Selbstverständlichkeit ist. Besser noch als Besuchsreisen sind intensive Seminarprogramme. Die DSE/Zentralstelle für öffentliche Verwaltung in Berlin hat bereits 1988 auf Anregung des deutschen Botschafters in Buenos Aires im Auftrag des BMZ ein solches Seminar für Mitglieder der damaligen Strafprozeßreformkommission der argentinischen Bundesregierung veranstaltet. Dabei fanden nicht nur Vorträge von Professoren und Praktikern statt, sondern auch zahlreiche Besuche bei Gerichten und anderen Institutionen, die so einen Einblick in die Praxis der Rechtspflege gewährten.
5. Schwierigkeiten der Zusammenarbeit
Um fremden Juristen ein ihnen fremdes System zu erklären, ist es erforderlich, daß man ihr eigenes Rechtssystem und Ausbildungswesen kennt. Andernfalls läuft man ständig Gefahr, Dinge zu vermitteln, die für die Hörer banal sind, und das auszulassen, was zum Verständnis dringend erforderlich, weil unbekannt ist. Auf dem Gebiet des lateinamerikanischen Rechts gibt es indessen in Deutschland nur außerordentlich wenige Fachleute. Es ist bekanntlich ein Gebiet, auf dem nur wenige Anwälte gut verdienen, mit dem Richter nicht viel anfangen können und das Rechtswissenschaftlern nur wenige Möglichkeiten bietet. Demgemäß reduziert sich die Zahl der am lateinamerikanischen Recht Interessierten auf wenige, wenn man die in der Wirtschaft tätigen Juristen ausnimmt, weil sie für Aufgaben außerhalb ihres eigentlichen Tätigkeitsbereichs in der Regel nicht zur Verfügung stehen. Es rächt sich hier die Vernachlässigung der Rechtsvergleichung, die seit Jahren zu beobachten ist und auf manchen Gebieten bereits zu einem gewissen Niedergang geführt hat, eine Entwicklung, die an sich überraschend ist. Man hätte angenommen, daß nach dem Weltkrieg, der Nachkriegszeit mit dem damals großen Interesse der Jugend am Ausland und allen Aspekten fremder Kulturen, das Erlernen von Sprachen, das Eintauchen in fremde Kulturen zu der Normalausstattung des zukünftigen Weltbürgers gehören würde. Auch die Globalisierung, von der jetzt so viel die Rede ist, scheint doch eine gewisse Orientierung nach außen zu erfordern. Auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft ist das freilich kaum oder nur ganz beschränkt der Fall. Zwar wird überall in Deutschland das Europarecht und das europäische Recht gepflegt. Von den Rechtssystemen aus Übersee findet aber praktisch nur das der USA Interesse, wofür politisch-wirtschaftliche Gründe und die für Deutsche weniger schwierige Sprachbarriere maßgeblich sind. Die Vernachlässigung lateinamerikanischer Studien und Forschungen, die Einschränkungen bei so wichtigen Institutionen wie dem Ibero-amerikanischen Institut in Berlin, die verminderte Literaturanschaffung auch bei juristischen Forschungsinstituten im außeruniversitären Bereich stehen zwar im Gegensatz zu der Lateinamerikapolitik der Bundesregierung, die auf eine Verstärkung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zielt, sind aber harte Realität. Ähnliche Hindernisse bestehen auch auf lateinamerikanischer Seite. Zwar gibt es zweifellos mehr lateinamerikanische Juristen, die Kenntnisse im deutschen Recht besitzen, als deutsche, die mit dem Recht iberoamerikanischer Länder vertraut sind. Ihr Wissen über deutsches Recht schöpfen Lateinamerikaner aber häufig aus zweiter Hand, aus italienischen, portugiesischen und spanischen Quellen. Die steigende Zahl portugiesischer und spanischer Übersetzungen deutscher rechtswissenschaftlicher 33
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Werke, nicht zuletzt ein Verdienst von INTER NATIONES, erlaubt zunehmend auch den Zugang zu einem Teil der deutschen Literatur denjenigen, die nicht über Deutschkenntnisse verfügen. Übersetzt werden allerdings aus dem hier interessierenden Bereich meist nur Lehrbücher des Strafrechts, immerhin aber auch solche der Kriminologie. Übersetzungen von Arbeiten über Gerichtsverfassungsrecht, Strafprozeßrecht und Jugendstrafrecht sind selten, empirische Arbeiten oder solche für die Praxis werden so gut wie gar nicht übersetzt. Darüber kann man sich allenfalls gelegentlich aus Aufsätzen in iberoamerikanischen Zeitschriften informieren, aber auch bei der Aufsatzliteratur stehen das materielle Strafrecht und insbesondere die Strafrechtsdogmatik im Vordergrund. So stellt der Umstand, daß Deutsch als Fremdsprache in Lateinamerika nicht besonders verbreitet ist, ein erhebliches Hindernis dar. Daß die Schwierigkeit der deutschen Sprache abschreckend wirkt, mag auch mit weniger angepaßten Unterrichtsmethoden zusammenhängen. Die finanziellen Einschränkungen, denen die deutschen Kulturinstitute seit einer Reihe von Jahren unterliegen, tun ein übriges. Insbesondere rächt sich aber, daß lange Zeit bei der Stipendienvergabe Juristen vielfach benachteiligt wurden. Das Ergebnis ist, daß lateinamerikanische Juristen mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache und des deutschen Rechts eher selten sind. Deutschland wird daher bei der Rechtsberatung im Rahmen der Entwicklungshilfe nur eine verhältnismäßig bescheidene Rolle spielen können. Sie könnte dennoch wichtig sein, denn insbesondere auf dem Gebiet der Juristenausbildung, auf dem des Verfahrensrechts (sowohl im Zivil- als auch im Strafverfahren) und auch auf dem des Jugendstrafrechts hat es einiges an interessanten Lösungen und im Bereich des Gefängniswesens zumindest die Ergebnisse zahlreicher empirischer Untersuchungen zu bieten. So steht zu hoffen, daß die personellen Schwierigkeiten für eine Zusammenarbeit auf diesen Gebieten überwunden werden können. Ohne langfristige und gezielte Förderung eines stetigen Austausches in beiden Richtungen wird dies aber nicht möglich sein. Dieser Austausch sollte auch Praktiker einbeziehen, denn ohne deren Erfahrungen laufen Reformen Gefahr, Theorie zu bleiben.
VI.
Ausblick
Die Rückkehr zur Demokratie hat in vielen lateinamerikanischen Ländern einen starken Willen zu grundlegenden Reformen geweckt. Dies ist beispielsweise der Fall in Nikaragua, El Salvador, Panama und einer ganzen Reihe weiterer Länder, allerdings nicht überall. Die mexikanische Justizreform von 1994/95 beispielsweise scheint mehr auf Außen- statt auf Tiefenwirkung ausgerichtet zu sein. Reformen werden in Lateinamerika leider häufig sehr kurzfristig angegangen: Gesetzentwürfe werden in ganz kurzer Zeit ausgearbeitet und nach Möglichkeit ebenso rasch durch die gesetzgebenden Körperschaften verabschiedet. Dabei fehlt es oft an der Zeit, um zur Vorbereitung einer Reform empirisches und rechtsvergleichendes Material zu sammeln, wie das aber bei grundlegenden Reformen unentbehrlich ist. Eine Verstärkung der Bemühungen um gründliche Analysen als Grundlage für die Reformdiskussion ist unabdingbar. 34
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Die Kurzatmigkeit der Reformbemühungen hängt natürlich oft damit zusammen, daß ein Staatspräsident zum Beispiel nur vier Jahre zur Verfügung hat (Wiederwahl ist in der Regel ausgeschlossen), um eine Reform durchzuführen. Zur Vorbereitung tiefgreifender Reformen sind daher vor allem Kommissionen geeignet, in denen neben den politischen auch andere gesellschaftliche Kräfte vertreten sind, und die unabhängig von den relativ kurzen Wahlperioden der politischen Körperschaften arbeiten. Gerade auf dem Gebiet der Jugendkriminalität wäre es wünschenswert, wenn solche Kommissionen grundlegende Änderungen vorbereiten könnten. Daneben wären natürlich dringend erforderliche Sofortmaßnahmen auszuarbeiten. Das eine sollte das andere nicht ausschließen. Die Justizreform kann aber nicht im Bereich des Technischen bleiben. Auf diese Weise würde nichts oder fast nichts verbessert. Erforderlich sind grundsätzliche Reformen, insbesondere auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und des Richterrechts. In erster Linie geht es hier um die Unabhängigkeit der Justiz. Ohne eine unabhängige Justiz kann es keinen Rechtsstaat geben. Verwandelt man die vom Staatspräsidenten abhängige Justiz in eine tatsächlich unabhängige Justiz, so verändert sich das Machtgefüge der Staaten. Es ist dies eine Entscheidung, die politischer Natur ist, und die von den maßgebenden politischen Kreisen der einzelnen Staaten zu treffen ist. Das Ausland kann hier nur wenig tun, etwa dadurch, daß man in verstärktem Maße auch Juristen Stipendienchancen einräumt, damit sie rechtsvergleichend ihren Wissensund Erfahrungshorizont erweitern können. Insbesondere wäre es aber nützlich, wenn man Richtern und Staatsanwälten die Möglichkeit zu Auslandsaufenthalten mit Praxisbezug gäbe. Das seit einigen Jahren mit dem Consejo General del Poder Judicial der spanischen Richterschaft abgeschlossene Abkommen zum Richteraustausch, das überraschenderweise nicht überall bei den deutschen Gerichten bekannt ist, aber davon abgesehen zufriedenstellend zu funktionieren scheint, könnte einen Ansatzpunkt bieten, um auch lateinamerikanischen Praktikern einen realitätsnahen Eindruck von der deutschen Justiz zu geben. Auf dieser Linie sollten unsere Beiträge liegen, die wir - sicher nur in bescheidenem Maße - auch im Rahmen der Entwicklungshilfe leisten könnten. Dabei müßte immer bedacht werden, daß es sich nicht um eine Einbahnstraße handeln kann, sondern gerade im Verhältnis zu Lateinamerika mit seiner hochentwickelten Rechtswissenschaft ein beiderseitiges Geben und Nehmen anzustreben ist. Im Rahmen dieses Austausches könnten sicherlich beide Seiten lernen, wozu die deutsche freilich ihren gelegentlich zu spürenden Hochmut, der nicht weit von Besserwisserei angesiedelt ist, abzulegen hätte. Da die Justiz grundlegend nur reformiert werden kann, wenn ein entsprechender politischer Wille dazu vorhanden ist, sollte die Aufmerksamkeit derjenigen, die über die Beteiligung der Bundesrepublik an Reformen in Lateinamerika zu entscheiden haben, vor allen Dingen darauf gerichtet sein, ob ein echter Reformwille vorhanden ist. Nur dann wird eine Zusammenarbeit im Rahmen der Entwicklungshilfe auch Früchte tragen können. Dies bedeutet freilich nicht, daß Länder, in denen dieser Reformwille nicht oder noch nicht festzustellen ist, ausgeschlossen bleiben sollten. In diesen Ländern wären vor allem Studien zur Vorbereitung von Reformen und die Ausbildung durch die Vergabe von Stipendien und den Austausch mit Richtern und Staatsanwälten zu fördern.
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Eine schwierige Frage ist die, ob nur umfassende Reformen, die beispielsweise ein neues Strafgesetzbuch, ein neues Ordnungswidrigkeitengesetz, ein neues Jugendstrafrecht, ein neues Gerichtsverfassungsrecht, eine neue Strafprozeßordnung, ein neues Strafvollzugsgesetz usw. oder gar all dies auf einmal zum Ziel haben, sinnvoll sind oder ob auch Teilreformen geeignet erscheinen. In der gegenwärtigen Reformdiskussion scheinen die Stimmen zu überwiegen, die der Gesamtreform das Wort reden. Der Gedanke, daß man das Justizwesen von Grund auf und vollständig erneuern solle, hat natürlich etwas Bestechendes. Auf diese Weise können insbesondere auch Widersprüche vermieden werden, die sich bei Teilreformen leicht einschleichen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß eine Gesamtreform eine ungeheure Anstrengung bedeuten würde, die selbst bei uns Schwierigkeiten machte. Erinnern wir uns, daß wir trotz vielfältiger Reformen immer noch ein Strafgesetzbuch aus dem vorigen Jahrhundert haben, und daß die Gesamtreform der Strafprozeßordnung aus dem Jahr 1877, die in den 80er Jahren vom Bundesjustizministerium avisiert wurde, auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist. Auch den Bemühungen um eine einschneidende Reform unserer Gerichtsverfassung mit ihrem vierstufigen Aufbau (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof) wurde gerade eine Absage erteilt. In Ländern, die mit mannigfachen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, darf das Ziel einer Gesamtreform nicht aus den Augen verloren werden, aber es kann nur langfristig angesteuert werden. Jedenfalls wäre es nützlich, auch Reformfelder auszumachen, die einerseits dringender Bearbeitung bedürfen und andererseits weitgehend - wenn auch nicht völlig - selbständig erneuert werden können. Dazu zählen z.B. das Sanktionenrecht, das Jugendstrafrecht, das Recht der Untersuchungshaft, bis zu einem gewissen Grad auch die Entkriminalisierung im Bereich der Übertretungen und das Gefängniswesen. Keine Reform kann indessen ohne entsprechende Ausbildungsbemühungen Erfolg haben, auch keine Teilreform. Eine Bündelung der Mittel, die mehreren Ländern zur Verfügung stehen, könnte ebenfalls vorteilhaft sein. Darauf wurde bereits im Zusammenhang mit den Problemen der Aus- und Fortbildung der Richter hingewiesen: Es erscheint nicht als sinnvoll, daß jeder Staat, auch wenn er verhältnismäßig klein ist, eine eigene Richterschule unterhält und möglicherweise zusätzlich noch eine Schule für die Staatsanwälte. Entsprechendes gilt für die Länder der Bundesstaaten. Dieses Prinzip der Bündelung der Mittel läßt sich aber auch zumindest teilweise für andere Reformaufgaben anwenden. Die in der Nachkriegszeit begonnene Ausarbeitung eines Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika (Jescheck 1972; Rivacoba y Rivacova 1987) ist zwar nicht zum Abschluß gekommen, u.a. weil Motor dieses Unternehmens das berühmte Strafrechtsinstitut in Santiago de Chile war, dessen Tätigkeit nach dem Putsch von 1973 weitgehend zum Erliegen kam. Immerhin ist aber der Allgemeine Teil fertiggestellt, und die Arbeiten am Besonderen Teil sind begonnen, dann allerdings abgebrochen worden. Erfolgreicher waren indessen die Bemühungen der Prozeßrechtler, unter wesentlicher Beteiligung des Instituto Iberoamericano de Derecho Procesal (Montevideo) mit seinem damaligen Präsidenten Enrique Vescovi, um die Ausarbeitung einer Musterstrafprozeßordnung für Lateinamerika. Der Código Procesal Penal Modelo para Latinoamérica wurde 1989 in Buenos Aires veröffentlicht und hat Kodifikationen in mehreren Ländern als Vorbild gedient. 36
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Die Verstärkung regionaler Zusammenarbeit könnte daher auch auf dem Gebiet der Gesetzesreform nützlich sein. Dabei könnten naturgemäß regionale Institutionen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings sind solche Institutionen selten, wenn man hohe Anforderungen an Seriosität und Fachkompetenz stellt. Zu nennen ist außer dem schon erwähnten Iberoamerikanischen Prozeßrechtsinstitut vor allem das Institute Interamericano de Derechos Humanos (IIDH) in Costa Rica, das mit beträchtlichem Einsatz deutscher Mittel in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung aufgebaut worden ist. Insgesamt läßt sich feststellen, daß derzeit in den meisten lateinamerikanischen Ländern eine gewisse Aufbruchstimmung herrscht, die ermutigt werden sollte. In der Mehrzahl der Länder besteht ein Wille zu tiefgreifenden Reformen. Dies ist auch an den bereits erzielten Erfolgen abzulesen. So ist die Richterlaufbahn in mehreren Ländern in den letzten Jahren eingeführt worden, fast überall sind Richterschulen gegründet worden. Inwieweit der Reform der Prozeßordnungen durchgreifender Erfolg beschieden ist, läßt sich noch nicht beurteilen. Es ist aber sicher, daß auf diesem Weg vorangeschritten wird. Bedeutung hat dies auch für Auslandsinvestitionen, denn eine unabhängige Justiz, die mit einer sachgerechten Prozeßordnung Entscheidungen fällen kann, ist für jeden ausländischen Investor von großer Bedeutung. Das Bild, das die lateinamerikanische Justiz heute bietet, ist in vielen Ländern noch getrübt. In der Mehrzahl der Staaten sind jedoch wesentliche Fortschritte festzustellen, in einigen ist die Justiz bereits in einem erstaunlichen Maß modernisiert worden und genießt auch Unabhängigkeit. Die Amtsenthebung des Staatspräsidenten Brasiliens, Collor de Mello, die durch die parlamentarischen und gerichtlichen Instanzen bewirkt wurde, war eine Sternstunde der rechtsstaatlichen Institutionen. Daß ein so mächtiger Mann friedlich, ohne Einsatz von Gewalt, ohne Revolution, ohne Putsch, nach dem in der Verfassung vorgezeichneten Verfahren seines Amtes enthoben wurde, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, nicht nur für Brasilien, sondern für ganz Lateinamerika. Es lassen sich auch durchaus in anderen Ländern Lateinamerikas ähnliche Entscheidungen finden, die zur Hoffnung Anlaß geben. Auch die Einrichtung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der seinen Sitz in Costa Rica hat und bereits seit einer Reihe von Jahren über Fälle von Menschenrechtsverletzungen entscheidet, ist von großer Bedeutung. Der Anfang ist also gemacht. Was noch zu tun bleibt, ist die geduldige Weiterarbeit an den oft sehr schwierigen Reformen, um Schritt für Schritt auf dem Weg zu einer Justiz, die sich als Teil des rechtsstaatlichen Systems begreift und ihre Funktion zum Wohle aller Bürger, ohne Ansehen der Person, erfüllt, weiterzugehen. In allen Ländern Lateinamerikas gibt es Kollegen, die unter großem persönlichem Einsatz daran arbeiten. All dies gibt zu Hoffnung Anlaß.
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Waldmann/Schmid: Schutz oder Erpressung - Lateinamerikanische Polizei
Peter Waldmann / Carola Schmid
Schutz oder Erpressung Annäherung an das Realprofil der lateinamerikanischen Polizei 1. Einleitung Die lateinamerikanische Polizei ist eine kaum erforschte Institution1. Dies erklärt sich u.a. aus den politischen Verhältnissen in zahlreichen Staaten des Subkontinents. Während der Phase der Militärdiktaturen, d.h. in den 60er, 70er und frühen 80er Jahren, galt die allgemeine Aufmerksamkeit den Streitkräften. Die polizeilichen Sicherheitsdienste rückten nur gelegentlich, in ihrer Rolle als Helfershelfer militärischer Repressionsmaßnahmen, stärker ins Blickfeld. Mit dem Rückzug der Generäle von den Schalthebeln politischer Macht hat sich diese Situation geändert. Der Übergang zu demokratischen Regierungsformen hat ein nachlassendes politisches und wissenschaftliches Interesse an den Streitkräften mit sich gebracht, verbunden mit einer vermehrten Beachtung der den hoheitlichen Zwang im Alltag verkörpernden Polizei. Im einzelnen sind es zwei, teilweise zusammentreffende Entwicklungen, die dazu geführt haben, daß man sich auf der jeweiligen nationalen Ebene wie auch von internationaler Seite zunehmend mit Polizeifragen beschäftigt. Erstens wird immer deutlicher, daß das Bemühen um eine dauerhafte Verankerung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen nicht auf die Verfassungsorgane im engeren Sinn, also das Parlament, die Exekutive und die oberen Gerichte, beschränkt bleiben darf, sondern auch die Verwaltung mit umfassen muß. Was nun die Polizei anlangt, so scheint sie solchen Bemühungen insofern hartnäckig zu trotzen, als sie in ihrer Denkart und Vorgehensweise weitgehend an den autoritären Mustern vergangener Militärregime festhält. Ihr Denken, so stellen Experten fest, bewege sich weiterhin in rigiden Freund-Feind-Gegensätzen, mit dem einzigen Unterschied, daß an die Stelle des früheren militärisch-politischen Feindes - des "subversiven Kommunisten" in der Terminologie der vom Militär entwickelten Doktrin nationaler Sicherheit - nunmehr der "soziale" Feind, d.h. der Kriminelle
Eine Ausnahme bildet insoweit eine Reihe von Aufsätzen in einem von Martha K. Huggins herausgegebenen, vor wenigen Jahren erschienenen Sammelband. Vgl. Huggins 1991; siehe auch als Oberblicksdarstellung Waldmann 1994: 45-57.
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und Asoziale getreten sei2. Dieses Verharren in Stereotypen erklärt sich zum einen aus dem eigentümlich konservativen Charakter bürokratischer Großorganisationen, zu dem im Falle der Polizei die Existenz zählebiger eigener Wert- und Normmuster tritt. Häufig mit äußerer Kritik konfrontierte Institutionen wie die staatlichen Sicherheitsorgane pflegen spezielle Schutzmechanismen zu entwickeln, die es ihnen erlauben, tradierte Orientierungen und operative Schemata ungeachtet eines erheblichen von außen kommenden Veränderungsdruck beizubehalten. Doch diese Erklärung reicht allein nicht aus. Zum anderen kommt hinzu, daß die Kriminalität in den lateinamerikanischen Großstädten in den vergangenen 15 Jahren dramatisch angestiegen ist3. Die Ursachen dieses Anstiegs sind vielfältig, teils geht er auf die wachsende Verelendung großer Teile der rapide sich ausdehnenden städtischen Bevölkerung zurück, teils auf den Aufschwung des Rauschgifthandels und seiner Kriminalität erzeugenden Begleiterscheinungen. Es ist kein Geheimnis, daß die Zunahme der Gewaltdelikte und der Bandendelinquenz die lateinamerikanische Polizei vor kaum lösbare Probleme stellt. Hier liegt eine weitere Wurzel ihres unveränderten Denkens in Freund-Feind-Kategorien und einer oft explosionsartig sich entladenden Aggressivität. Konkret läuft dies nicht selten darauf hinaus, daß sie aufs brutalste gegen vergleichsweise harmlose Kriminelle, wie Taschendiebe, kleine Hehler und räubernde Kinderbanden, vorgeht, während sie die mächtigen Gangsterkartelle und deren allgemein bekannte Führer ungeschoren läßt. Dies erzeugt bei den Betroffenen Bitterkeit und verschafft der Polizei in der Presse, vor allem der internationalen Presse, einen schlechten Ruf. Entsprechend wird der Tourist, der nach Lateinamerika aufbricht, meist nachdrücklich vor der dortigen Polizei gewarnt. Er solle sich vorsehen, denn Polizisten seien im harmloseren Fall nur träge und ineffizient, doch müsse man auch damit rechnen, daß sie mit den Kriminellen unter einer Decke steckten und die Bürger erpreßten oder ausraubten. Diese Warnungen und generell das schlechte Image, das der Polizei in den meisten lateinamerikanischen Staaten anhaftet, sind sicher berechtigt. Die Polizei in diesen Ländern ist fast durchgehend korrupt und sie mißachtet oft systematisch die Menschenrechte. Polizisten sind aber von Natur aus nicht sadistischer, profithungriger und rücksichtsloser als die meisten anderen Menschen. Wenn sie diese Züge überproportional ausgebildet haben, so liegt dies an ihrer professionellen Sozialisation, dem Aufbau, der Struktur und der Funktionsweise der polizeilichen Institutionen. Also gilt es über diese mehr in Erfahrung bringen. Wendet man sich mit dieser Haltung fragenden Wissenwollens - also nicht, wie üblich, anklagend und von vornherein verurteilend - der südamerikanischen Polizei zu, so stellt man rasch fest, daß sie äußerst selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen war. So gründlich die Polizei in England, den USA und neuerdings
Vgl. Pinheiro, a.a.O.: 167ff. Eine Behauptung allgemeiner Art wie diese gilt natürlich nicht für alle Staaten in gleichem Maße. Sie trifft auf früher unter Militärherrschaft stehende Länder wie Brasilien und Chile in weit stärkerem Maße zu als auf langjährige Demokratien wie Kolumbien und Venezuela, wo die verschiedenen Feindbilder (der politisch-militärische, der soziale Feind, die Drogenmafia usw.) durchaus differenziert betrachtet werden. Für Kolumbien vgl. Riedmann 1995: 3; für Guatemala Cifuentes 1995: 10 ff. In Brasilien hat als Reaktion auf den Kriminalitätsdruck die Praxis spontanen Lynchens erneut an Boden gewonnen. Vgl Benevides/Fischer 1985: 20ff.
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auch in Deutschland von Forschern unter die Lupe genommen worden ist4, so wenig ist in dieser Hinsicht bisher in Lateinamerika geschehen. Ausnahmen von dieser Regel bilden lediglich Ansätze zu Polizeireformen, die Journalisten und Wissenschaftler zu mehr oder weniger kritischen Kommentaren reizen, und alles, was mit der Opferseite von Menschenrechtsverletzungen zusammenhängt (siehe hierzu Abschnitt 4). Dieser Mangel an Kenntnissen über eine so überaus wichtige Institution rechtfertigt die folgenden Ausführungen. Sie können die Lücke nicht schließen, sollen aber den Blick auf gewisse strukturelle Dilemmata lenken, um das Bewußtsein für die Komplexität der immer lauter geführten Reformdiskussion zu schärfen. Wenngleich, dem Übersichtscharakter des Artikels entsprechend, weiterhin von "der lateinamerikanischen Polizei" gesprochen wird, ist der Leser von vornherein davor zu warnen, diesen Ausdruck allzu wörtlich zu nehmen. Die Unterschiede in Stil und Habitus zwischen den Polizeien sowohl verschiedener lateinamerikanischer Staaten als auch innerhalb derselben sind z.T. beträchtlich. Der Aufsatz stützt sich wesentlich auf Referate und Materialien einer Tagung über die lateinamerikanische Polizei, die im Rahmen des Rechtsstaatsprogramms der KonradAdenauer-Stiftung im Mai 1995 in Panajachel/Guatemala veranstaltet wurde. Dabei kamen Polizeiexperten (sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler) aus mehreren lateinamerikanischen Ländern (u.a. aus Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Guatemala und Venezuela) zu Wort. Insbesondere wurden Fragen der Polizeigeschichte, des organisatorischen Aufbaus, der Kompetenzen und Personalstruktur der Polizei, der Formen des Machtmißbrauchs und der Reaktionen der Bevölkerung sowie schließlich Möglichkeiten einer Reform der Polizei diskutiert. Der Artikel hält sich im wesentlichen an diese Gliederung. Die Literaturverweise beziehen sich größtenteils auf die der Tagung zugrunde liegenden Manuskripte5.
2. Geschichtlicher Rückblick Ist es allgemein nicht gut um die Erforschung der lateinamerikanischen Polizei bestellt, so gilt dies nicht minder für die Polizeigeschichte. Nicht selten existieren zwar umfangreiche Bände, die, von ehemaligen Polizeioffizieren verfaßt, die jeweilige Geschichte der Institution detailreich aus einem halb-offiziellen Blickwinkel beschreiben. Doch neigen sie zu einer idealisierenden Betrachtungsweise und geben meist wenig Aufschlüsse über mehr strukturelle Aspekte wie das professionelle Selbstverständnis der Polizeiverbände, ihr konkretes Vorgehen und ihr Verhältnis zum Bürger. Interessiert man sich für diese Fragen, so muß man sich mit großenteils spekulativen Überlegungen aufgrund einiger weniger empirischer Untersuchungen begnügen.
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Einen partiellen Überblick Uber die kaum noch überschaubare Literatur bietet Schmid, Carola: Posibilidades de una investigación empírica sobre ia Policía en América Latina, Manuskript, Panajachel 1995.
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Die Ergebnisse der Tagung sind, ergänzt durch einige zusätzliche Beiträge, 1996 in Form eines Sammelbandes unter dem Titel "Justicia en la calle: Ensayo sobre la policía en América Latina" in Kolumbien erschienen.
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Das hieraus sich ergebende Bild weist ausgesprochen zwiespältige Züge auf. Einerseits folgte die institutionelle Entwicklung den durch das europäische Beispiel gesetzten Standards. Zunächst war es das britische Modell einer rasch und beweglich auf Urbane Störungen aller Art reagierenden Schutzpolizei, das Lateinamerikas politische Eliten beeindruckte, später waren es die zentralistischen Polizeisysteme Frankreichs6, Italiens und Spaniens. Auf der anderen Seite scheiterte jedoch die Übernahme europäischer Organisationsmuster und Verhaltensorientierungen an den spezifischen, mitdem alten Kontinent nur bedingt vergleichbaren gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die in den noch jungen lateinamerikanischen Republiken herrschten. Als Ergebnis dieser widersprüchlichen Einflüsse entstand eine zutiefst hybride Institution, die nicht den Verhältnissen in jenen Ländern angepaßt war, ohne doch eine glaubwürdige Doublette der europäischen Vorbilder darzustellen. Die Parallelen zwischen lateinamerikanischer und europäischer Polizeientwicklung bezogen sich, wie gesagt, vor allem auf den im normativ-institutionellen Bereich. Dort wie hier wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts die zunächst noch wohlfahrtsstaatlich ausgerichtete Polizei, die, ein Kind des Absolutismus, bevormundend und betreuend in zahlreiche Lebensbereiche eingegriffen hatte, durch eine strikt auf Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit beschränkte Schutzpolizei ersetzt7. Anfang des 19. Jahrhunderts, zu Beginn der Unabhängigkeitskämpfe, und teilweise noch bis in die 20er und 30er Jahre fielen Polizeiangelegenheiten in Lateinamerika in die Kompetenz der Städte. Sie waren sehr großzügig definiert, reichten von der Überwachung der Nahrungsmittel über die Eintreibung von Steuern und die Beaufsichtigung öffentlicher Arbeiten bis hin zur Kontrolle und Verfolgung von Prostitution und Kriminalität. Im Zuge der inneren Wirren und der allmählichen Herausbildung der neuen Nationalstaaten kam es dann zu einer schrittweisen Auflösung der städtischen Polizeivollmachten. An deren Stelle trat der Staat als oberste Weisungs- und Kontrollinstanz der Polizei. Der Zentralisierung der Anordnungs- und Kontrollbefugnisse entsprach organisatorisch die Umformung der Polizei in einen bürokratischen Apparat, der, zumindest formell, an Recht und Gesetz gebunden ist. Die traditionellen städtischen Nachtwächter verschwanden ebenso von den Straßen wie die im Dringlichkeitsfall aus der städtischen Bürgerschaft sich rekrutierenden Milizen. Als allein zuständig für die Wahrung des öffentlichen Friedens und der allgemeinen Ordnung schälte sich der hauptamtlich angestellte, für diesen Zweck geschulte und mit einem festen Gehalt besoldete Polizeibeamte heraus. So sahen es jedenfallsdie polizeilichen Reformgesetze jener Jahrzehnte vor, mit denen die aufgeklärten städtischen Machteliten Lateinamerikas dokumentierten, daß sie mit dem in Europa sich herausbildenden Idealtypus einer professionalisierten, Staat und Gemeinwohl gleichermaßen verpflichteten Polizei Schritt halten wollten. Auf gesellschaftlich-struktureller Ebene kam diesen Bestrebungen der Umstand zugute, daß sowohl die europäische als auch die lateinamerikanische Entwicklung im 19. Jahrhundert (in Lateinamerika allerdings erst ab Mitte des Jahrhunderts) durch ein starkes Wachstum der Städte geprägt war. Die moderne Polizei, das darf man nicht
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Der französische Einfluß hat sich insofern bis heute erhalten, als der SCTIP (Servicio Cooperación Técnica Internacional de Policía) mit Sitz in Paris lateinamerikanische Polizeioffiziere regelmäßig zur Fortbildung nach Frankreich einladt.
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Vgl. etwa Maier 1995a. Zur europaischen Polizei-Entwicklung im 19. Jahrhundert Waldmann 1995.
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vergessen, stellt vor allem eine institutionelle Antwort auf die Probleme dar, welche die Zusammenballung riesiger Menschenmassen auf begrenztem Raum aufwarfen. In Europa waren es die durch den Industrialisierungsprozeß und die Freisetzung bislang schollengebundener Arbeitskräfte ausgelösten Wanderungsströme aus dem Hinterland in die Großstädte, welche eine Neuordnung des Polizeiwesens dringlich nahelegten. Nicht von ungefähr stammte das erste Schule machende Experiment einer modernen, beweglich auf Störungen aller Art reagierenden Polizei aus London, der damals größten europäischen Metropole (1829) (vgl. Mather 1985). In Lateinamerika bremsten die durch die Unabhängigkeitskriege eingeleiteten inneren Konflikte zunächst den Fortgang der Urbanisierung. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß es sich, im Gegensatz zu Nordamerika, von vornherein um einen primär auf Städtegründungen beruhenden Typus der Kolonialisierung gehandelt hatte. Ab 1850 nahm die Verstädterung dann allmählich zu, zunächst aufgrund der sukzessive aufeinander folgenden Einwanderungswellen aus Europa, die ab den 30er Jahren dieses Jahrhunderts durch innere Wanderungen aus den ländlichen Räumen in die Großstädte Lateinamerikas abgelöst wurden, ein Prozeß, der teilweise bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Damit stellten und stellen sich all die Probleme, die aus Europa als Konsequenz der Verstädterung bekannt sind, teils in noch drastischerer Form, auch in Lateinamerika. Den Ähnlichkeiten, die eine zumindest phasenweise äußere Parallelität der Polizeientwicklung in Europa und Lateinamerika begünstigten, standen jedoch andererseits kaum überwindbare Differenzen gegenüber. Hier ist an erster Stelle das ungeheure, jedem Versuch zentralistischer Kontrolle spottende Hinterland in Lateinamerika zu nennen, das in einem auffälligen Gegensatz zu dem seit dem späten Mittelalter von einem dichten Städtenetz überzogenen alten Kontinent steht. Hatte in Europa der Industrialisierungsprozeß mit der verkehrsmäßigen Erschließung eines Landes die Ausdehnung der staatlichen Machtkontrolle bis in die entlegensten Regionen zur Folge, so blieb demgegenüber der Dualismus "Zivilisation - Barbarei", wie ihn Sarmiento in seinem berühmten Essay nannte, in Lateinamerika im 19. und teilweise bis weit ins 20. Jahrhundert hinein voll erhalten (vgl. Sarmiento 1972). Im Gegenteil, oft wurden die lateinamerikanischen Hauptstädte das Opfer der Invasionen aus dem Hinterland, d.h. sie wurden von "unzivilisierten" Bandenführern und ihrem Gefolge überrannt und erobert, die sich teils bald wieder zurückzogen, teils eine Jahrzehnte währende diktatorische Herrschaft errichteten. Generell blieben die dünn besiedelten Flächen und Gebirgsregionen des Landesinnern dem Machtanspruch der sich langsam herausbildenden nationalstaatlichen Eliten entzogen. Dort übten und üben z.T. bis heute alternative Gewalten die Herrschaft aus: Caudillos, Indiostämme, Banden von Vagabunden und Wegelagerern im 19. Jahrhundert, Großgrundbesitzer, Guerillatruppen oder Drogenkartelle. Wenngleich es dem einen oder anderen energischen Staatspräsidenten, wie etwa Porfirio Diaz in Mexiko, gelang, das Hinterland mit Hilfe einer schlagkräftigen Gendarmerie vorübergehend zu zähmen (vgl. Gerdes 1987), blieb es doch ein Unruheherd, von dem aus der in der Hauptstadt mühsam erreichte Zustand der Zivilität und des sozialen Friedens jederzeit wieder in Frage gestellt werden konnte. Dies führt zu einem weiteren, prinzipielleren, Strukturunterschied zwischen Europa und Lateinamerika, der die jeweilige Polizeientwicklung beeinflußte. Die moderne Polizei ist das interne Ordnungsorgan eines grundsätzlich befriedeten Gemeinwesens. Für ihre Entfaltung ist nur Platz, wo man zu einem grundlegenden Konsens über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gefunden hat und politische Meinungsverschie43
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denheiten nicht mehr mit Waffengewalt ausgetragen werden. In diesem Sinne zählte es zu den wichtigen Voraussetzungen für die Entstehung einer professionellen städtischen Schutzpolizei im Europa des 19. Jahrhunderts, daß dieses zugleich das Jahrhundert der Konsolidierung des Nationalstaates war. Aus der Rückschau unterliegt es keinem Zweifel, daß die staatliche Kontrolle über den einzelnen in dieser Zeit stark zugenommen hat. Teils gezielt, teils durch die Umwälzung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen gezwungen, dehnten staatliche Instanzen ihren Zugriff und Regulierungsanspruch auf immer mehr Lebensbereiche aus. Vor allem erlangte der Nationalstaat nun das unbestrittene Gewaltmonopol, das die absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts und davor bereits ständig reklamiert hatten, ohne es doch faktisch durchsetzen zu können. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird in Westeuropa das alleinige Vorrecht des Staates, über physische Zwangsmittel zu verfügen, von niemandem mehr ernsthaft in Frage gestellt, auch nicht von der erstarkenden und aufbegehrenden industriellen Arbeiterschaft (vgl. Haupt 1985). Der verinnerlichte staatliche Disziplinierungsdruck sitzt inzwischen so tief, das kaum der Gedanke kollektiven Widerstandes aufkommen und breite Resonanz finden kann. Die politischen Verhältnisse in Lateinamerika kontrastieren insoweit auffällig zu den europäischen. Bis heute ist es dort kaum einem Staat gelungen, das beanspruchte Gewaltmonopol erfolgreich durchzusetzen. Dies liegt im wesentlichen an dem Auseinanderdriften der strukturellen Entwicklungsstränge in Europa und Lateinamerika im 19. Jahrhundert, das durch ähnlich lautende Institutionenentwürfe nur mühsam, und jedenfalls nicht dauerhaft überdeckt werden konnte. Während in Europa im Zuge der Restauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die durch die Französische Revolution ausgelösten Emanzipationsschübe weitgehend erstickt wurden, zogen die Unabhängigkeitskriege in Südamerika eine durchgehende Lockerung obrigkeitlicher Machtkontrolle nach sich. Es kam zu einer sozio-politischen Mobilisierung breiter, bis dahin in Abhängigkeit und Unterwerfung gehaltener Bevölkerungsschichten, die sich nach der definitiven Vertreibung der Spanier mangels einer an ihre Stelle tretenden äquivalenten Herrschaftsinstanz nicht mehr eindämmen ließ, sondern anhielt. Bekanntlich folgten den Konflikten mit der Kolonialmacht im Regelfall lang anhaltende, blutige innere Wirren, die erst mit der Herausbildung der Nationalstaaten als neue politische Bezugseinheit in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einem vorläufigen Ende kamen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, daß durch die ständigen, gewaltsam ausgetragenen politischen Fraktionskämpfe in den neu entstandenen Republiken der Wirkungsradius der Polizei von vornherein stark eingeschränkt war. Ihr gesetzlicher Auftrag, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrecht zu erhalten, war allenfalls in der Hauptstadt einlösbar und auch dort nur phasenweise'. Nicht selten war sie, wie dies Riekenberg für den Fall Guatemala beschrieben hat, nur einer unter mehreren Gewaltakteuren, die allesamt mit dem Einsatz von Zwangsmitteln primär Partikularinteressen verfolgten (vgl. Riekenberg 1995). Aus jener Zeit stammt die oftmals betonte militärische Ausrichtung der lateinamerikanischen Polizei, d.h. ihre Annäherung in Aufbau, Geist und Vorgehensweise an das Vorbild der Streitkräfte. Tatsächlich ist davon auszugehen, daß es zu einer konsequenten Trennung zwischen militärischen und polizeilichen Institutionen erst dann
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Vgl. etwa für Buenos Aires Bracht 1994.
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kommen kann, wenn die politische Entwicklung "reif ist für die Differenzierung zwischen dem "externen Feind", dessen Bekämpfung Sache der Streitkräfte ist, und dem "Störer" oder politisch Aufsässigen, der als interner Problemfall in die Zuständigkeit der Polizei fällt. In Europa wurde diese Differenzierung von den politischen Eliten überwiegend ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommen, als deutlich wurde, daß man etwa einer massiven Streikdemonstration wirksamer begegnet, indem man eher flexible Polizeibeamte einsetzt als das Militär, das alles, was sich ihm in den Weg stellt unbarmherzig niedermacht (vgl. Jessen: 1991: 76 u. 126ff.; Funk 1986: 2. Kap.). Rein äußerlich folgten viele lateinamerikanische Staaten alsbald dem europäischen Vorbild einer institutionellen Trennung von Militär und Polizei. Oft nur halbherzig verwirklicht, bewährte sie sich in der Praxis nur selten9. Die meist unklaren politischen Machtverhältnisse und die nur zögerliche Ausformung eines klar erkennbaren politischen Herrschaftszentrums ließen es häufig als eine schwer entscheidbare Ermessensfrage erscheinen, wer im einzelnen als externer Feind, wer als politischer Gegner einzustufen sei. Das 20. Jahrhundert hat insoweit nur einen begrenzten Fortschritt gebracht. Der Konsolidierung der Staatsmacht und der Festschreibung der Staatsgrenzen als Positivum stehen in vielen Ländern unvermindert heftige Konflikte über die angemessene Staatsform und Verteilung der Herrschaftsbefugnisse gegenüber. In diesem Klima sozialen und politischen Unfriedens, das zeitweise die Form von Guerillakämpfen oder gar offenem Bürgerkrieg annahm und zeitweise die Etablierung repressiver Militärdiktaturen begünstigte, blieben die Entfaltungsspielräume für eine eigenständige polizeiliche Institution gering'0. Angesichts sich unversöhnlich befehdender Großgruppen steht die Polizei ständig in Gefahr, entweder von einer der Parteien als bewaffneter Arm benützt oder direkt von den Streitkräften für repressive Zwecke vereinnahmt zu werden. Die Entwicklung der Polizei in den vergangenen 5 Jahrzehnten spiegelt in vielen Ländern diese zwickmühlenartige Konstellation wieder: In Zeiten intensiver innerer Konflikte büßte sie regelmäßig an Bedeutung und Einfluß ein, da sie - ähnlich wie die deutsche Polizei gegen Ende der Weimarer Republik (vgl. Lessmann 1989) - zwischen die politischen Fronten geriet und sozusagen zerrieben wurde. Bedeutungslos im Sinne ihrer originären Aufgabe, den öffentlichen Frieden zu bewahren, war sie auch unter Militärregimen, die aus einer manichäistischen Weltsicht heraus politisch Oppositionelle aller Couleur unterschiedslos als Landesfeinde abstempelten und die Polizei teils mit, teils ohne Zwang dazu brachten, sich an ihrem Vernichtungsfeldzug zu beteiligen. Phasen eines bescheidenen Aufschwungs für die Polizei und vermehrter institutioneller Selbständigkeit waren dagegen stets jene Perioden, in denen die politischen Spannungen nachließen und, wenn auch nur vorübergehend, eine Atmosphäre sozialer Befriedung und gegenseitiger politischer Duldung aufkam, beispielsweise in Chile während der 60er Jahre, vor der Spaltung des soziopolitischen Kräftefeldes unter Allende oder in Kolumbien in den 60er und frühen 70er Jahren, zur Zeit des "Frente Nacional". Es bleibt abzuwarten, ob die jüngste Demokratisierungswelle, die Lateinamerika erfaßt
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Dies gilt selbst für langjährig demokratisch regierte Staaten wie Venezuela, dessen diverse Polizeien bis 1994 samtlich von Offizieren der Guardia Nacional, dem "vierten Arm der Streitkräfte" geleitet wurden. Zum chilenischen Fall vgl. Aguila Zufiiga 1995.
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hat, ebenfalls eine Phase relativen inneren Friedens einleitet, welcher der Polizei Raum für institutionelle Eigenentfaltung läßt.
з. Formelle und informelle Organisationsstrukturen Die nun folgenden Angaben zur aktuellen Organisationsstruktur der lateinamerikanischen Polizei beruhen auf Datenmaterial über ein halbes Dutzend dieser Staaten, darunter einige der bevölkerungsreichsten und politisch einflußreichsten (Brasilien, Argentinien, Mexiko, Kolumbien, Venezuela u.a.); sie dürften mithin für das Gros der lateinamerikanischen Staaten repräsentativ sein11. Die Polizei stellt fast durchweg ein hochgradig zentralistisches, zumindest laut Satzung straff durchorganisiertes Verwaltungsorgan dar. In Einzelfällen, beispielsweise in Venezuela sowie neuerdings auch in Kolumbien, hat man formelle Zugeständnisse an den häufig geäußerten Wunsch nach vermehrter Bürgernähe und dezentraler, lokaler Kontrolle der Polizei gemacht12. Doch im allgemeinen haben sich die nationalen bzw. regionalen politischen Führungseliten dieses wichtige Instrument der politischen Überwachung und gesellschaftlichen Disziplinierung der Bürger nicht aus der Hand nehmen lassen. In Bundesstaaten (z.B. in Brasilien, Mexiko und Argentinien) ist die Polizeigewalt zwischen dem Bund und den Gliedstaaten aufgeteilt, wobei die teilweise auch für den metropolitanen Bereich zuständige Bundespolizei meist über eine bessere technische Ausstattung verfügt, besser bezahlt und effizienter ist als die Länderpolizeien (vgl. Maier и.a. 1995b). Vergleichbar der europäischen Situation, wird auch in Lateinamerika zwischen den beiden polizeilichen Hauptfunktionen, der präventiven Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, und der Verfolgung von Straftaten, unterschieden. Beide mögen ausnahmsweise von ein und derselben Institution wahrgenommen werden, im allgemeinen haben sie jedoch ihren institutionellen Niederschlag in der Trennung zwischen der umfangmäßig stärkeren Schutz- und Sicherheitspolizei einerseits, der als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft und der Gerichte tätigen Justiz- oder Kriminalpolizei andererseits gefunden. Schwerpunktmäßig in den Städten konzentriert, weist die Schutzpolizei zuweilen auch eine für das Hinterland zuständige Abteilung auf. Dessen Kontrolle ist aber nicht selten speziellen, typusmäßig zwischen Polizei und Militär angesiedelten Formationen übertragen, die den italienischen Carabinieri oder der spanischen Guardia Civil vergleichbar sind. Zu den Hauptzweigen der Institution kommt noch eine je nach Land unterschiedlich große Anzahl von Spezialpolizeien hinzu13.
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Neben den in Anm. 3 erwähnten Referaten über Kolumbien und Guatemala stützen wir uns auf folgende Manuskripte: Mansilla 1995; Maier 1995b; Escobar 1995; Gabaldön 1996.
12
In Venezuela untersteht die Schutzpolizei den Gouverneuren der Einzelstaaten, doch die für die Verbrechensbekämpfung weit wichtigere Kriminal- und Justizpolizei ist Bundesangelegenheit.
13
Ungeachtet des teilweise hohen Grades an funktioneller Arbeitsteilung sind Kompetenzkonflikte zwischen den verschiedenen Zweigen der Polizei in Lateinamerika an der Tagesordnung. Sie häufen sich naturgemäß, wo man es versäumt hat, eindeutige Zuordnungen für Spezialaufgaben, wie etwa die Drogenbekämpfung, vorzunehmen.
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Dazu kann u.U. die aus der allgemeinen Schutzpolizei ausgegliederte Verkehrspolizei gehören, die in der Ära der Militärdiktaturen entstandenen Geheimpolizeien, eine Zoll- und Grenzpolizei, Polizeieinheiten für den Strafvollzug, speziell für Entführungsfälle geschulte Einheiten usw. In fast sämtlichen Ländern existiert eine Spezialabteilung, die ausschließlich für Delikte im Zusammenhang mit dem Anbau und Handel von Rauschgift zuständig ist. Dank ausländischer Zuschüsse besonders gut bewaffnet und ausgerüstet (z.B. mit Hubschraubern), sind ihre Angehörigen zugleich noch stärker als andere Polizeizweige der Verführung durch Bestechung ausgesetzt. Soweit den offiziellen Angaben Glauben geschenkt werden darf, läßt sich in diesen Ländern nicht generell von einem Mangel an Polizisten und polizeilicher Präsenz sprechen. Insgesamt übertrifft die Personalstärke der Polizei teilweise (z.B. in Bolivien) jene des Militärs14. Was die "Polizeidichte", d.h. die Zahl der Einwohner, die auf einen Polizeibeamten entfällt, betrifft, so liegt sie zwischen 250 :1 (Argentinien, Venezuela) und 800 : 1 (Guatemala); in der Mehrzahl der Länder bewegt sie sich um die 400 : 1, eine durchaus mit den Verhältnissen in den polizeilich gut versorgten westlichen Industrieländern vergleichbaren Relation. Dabei bleibt freilich offen, inwieweit diese Zahlen auch das Verwaltungspersonal einschließen oder sich nur auf für den Außendienst verfügbare Beamte beziehen. Außerdem sind starke räumliche Ungleichgewichte in Rechnung zu stellen. Einer verhältnismäßig hohen Polizeidichte in den Städten steht in der Regel eine ausgesprochen kärgliche Polizeiversorgung auf dem breiten Lande gegenüber. Wie auch immer man die Zahlenangaben interpretiert, jedenfalls scheint Personalmangel nicht das Hauptproblem der lateinamerikanischen Polizei(en) zu sein. Innerhalb der Staatsbürokratie ist die Polizei im Regelfall dem Innenministerium bzw. dem Justizministerium zugeordnet, ausnahmsweise (z.B. in Chile) kann für sie auch das Verteidigungsministerium zuständig sein. Unabhängig von formellen Zuständigkeitsregelungen läßt sich der Einfluß, den die Streitkräfte als Vorbild und überlegene, ältere Bruderorganisation nach wie vor auf die Polizei ausüben, kaum überschätzen. Neben häufigen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Polizei15 kommt dieser Einfluß u.a. darin zum Ausdruck, daß Sonderklauseln im Konfliktfall den unmittelbaren Übergang der obersten Befehlsgewalt über die Institution auf das Verteidigungsministerium vorsehen können, daß polizeiliche Dienstvergehen oft durch Militärgerichte geahndet werden oder polizeiliche Führungsposten Offizieren der Streitkräfte vorbehalten bleiben. Die bleibende Prägekraft des Militärs manifestiert sich auch in der übertriebenen Wertschätzung von Waffen und Bewaffnung durch viele Polizisten, in dem autoritär-repressiven Verhaltensstil, den sie gegenüber dem Bürger an den Tag legen, und nicht zuletzt in der straff hierarchischen Gliederung der Institution (vgl. Mansilla 1995: 14ff.).
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Vgl. Mansilla 1995:4. In Anbetracht der Seltenheit ernsthafter zwischenstaatlicher Konflikte in der jüngeren Geschichte der meisten lateinamerikanischen Staaten gerat das Militär hinsichtlich der Rechtfertigung seiner Existenz zunehmend in Argumentationsnot. Vor allem im Zeichen der Konsolidierung demokratischer Verhältnisse klingt die Forderung durchaus plausibel, daß dem Ausbau der Polizei Vorrang einzuräumen sei, da deren Aufgaben qualitativ und quantitativ ständig zunähmen.
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In Guatemala sind mehrere Initiativen zu einer Polizeireform am Widerstand der Streitkräfte gescheitert. Vgl. Cifuentes 1995: 17 ff.
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In aller Regel gibt es drei vertikale Rangebenen: die der Offiziere, die der Unteroffiziere und die Mannschaftsebene. Die Unteroffiziere stellen manchmal ein selbständiges Zwischenstratum dar, teilweise werden sie den Mannschaften zugeordnet. Mannschaften und Offiziere gehören in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Welten an; was sie verbindet, ist außer den hierarchischen Weisungskanälen lediglich der Umstand, daß sämtliche Angehörige der Polizei in der gesellschaftlichen Prestigeskala ziemlich weit unten rangieren. Die Offiziere, die im Unterschied zum Militär, wo sie oft lächerlich hohe Prozentzahlen erreichen, nur einen relativ geringen Anteil des Gesamtpersonals ausmachen, bilden eine kleine, mit besonderen Privilegien ausgestattete Gruppe. Aus der unteren oder mittleren Mittelschicht stammend, müssen sie einen gehobenen Bildungsabschluß aufweisen und eine besondere Schulung absolvieren, um auf der Führungsebene in den Polizeidienst eintreten zu können. Demgegenüber kommt der einfache Polizist aus den armen Bevölkerungsschichten, nicht selten aus ländlichen Gegenden, die von ihm mitgebrachten Bildungsvoraussetzungen sind dementsprechend minimal. Manchmal hat er schon vergeblich versucht, in anderen Berufszweigen Fuß zu fassen, bevor er sich schließlich bei der Polizei bewarb, deren Aufnahmekriterien sehr großzügig sind. In Ländern mit einem hohen indigenen Bevölkerungsanteil, wie etwa Bolivien, rekrutieren sich die Offiziersränge überwiegend aus den mestizischen Bevölkerungsgruppen, bei den Mannschaften dominiert das rein indianische Element (vgl. Mansilla 1995: 11). Das hat zur Folge, daß die Kontakte zwischen beiden Statusgruppen minimal sind. Die Aufstiegs- und Beförderungschancen beschränken sich im wesentlichen auf die jeweils durch den Eintritt vorgegebene Rangebene, ein individueller Wechsel zwischen ihnen ist so gut wie ausgeschlossen16. Die hierarchische Zweiteilung der Organisation, die durch die intermediäre Schicht der Unteroffiziere nur teilweise aufgelockert wird, ist einer der wesentlichen Faktoren, die die Entstehung einer spezifischen Polizei-Subkultur auf Mannschaftsebene begünstigen (vgl. Maier 1995b: 13; Mansilla 1995: 13). Um sich die Situation und Mentalität des einfachen Polizeibeamten vorstellen zu können, müssen noch zwei weitere Umstände in Rechnung gestellt werden. Zum ersten zieht der Polizeiberuf oft junge Männer an, deren Eltern oder nahe Verwandte bereits im staatlichen Sicherheitsdienst beschäftigt waren. Für die Polizei ist, mit anderen Worten, in Lateinamerika (wie übrigens auch in Europa) ein beträchtliches Ausmaß an Selbstrekrutierung kennzeichnend. Man wird nicht zuletzt deshalb Polizist, weil man aus einer Familie von Polizisten stammt. Für das Berufsbild und die berufliche Einstellung bedeutet dies, daß sie sich, unabhängig von einem eventuellen Wandel der Institution und der Gesetze, aus bestimmten Perzeptions- und Verhaltensweisen speisen, die vom Vater oder Onkel an den Sohn weitergegeben werden. Im gleichen Sinn einer Fortschreibung angeblich bewährter Praktiken und Sichtweisen wirkt sich das gängige Sozialisationsmuster des "training ort the job" aus. Zwar existieren in sämtlichen Ländern Polizeischulen, die, differenziert nach Rängen, dem jungen Polizeianwärter das notwendige Wissen und die erforderlichen Fertigkeiten für die Ausübung seines Berufs vermitteln sollen. Die Ausbildung ist jedoch meistens kurz und schlecht, zu wenig praxisnah in Inhalt und Form. Folglich erlernt der junge Beamte sein Handwerkszeug von dem
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Wenngleich die Statuten mancher Länder (z.B. in Mexiko und Venezuela) de jure die Möglichkeit eines Aufstiegs in den Offiziersrang vorsehen, scheidet dieser wegen der schwierigen Bedingungen, an die er geknüpft ist, de facto weitgehend aus.
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Kollegen, mit dem er auf Patrouille geht, oder im Revier, im Kontakt mit den anderen Beamten. Die maßgebliche berufliche Sozialisationsinstanz ist für ihn die Polizeistation, auf der er erstmals seinen Dienst versieht, nicht die Polizeischule. Das gilt nicht zuletzt für die Kunst, zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Das Gehalt des einfachen Polizeibeamten ist in allen Ländern sehr niedrig. Es bewegt sich, je nach nationalem Preisniveau und durchschnittlichem Lebensstandard, zwischen US$ 125,(Bolivien) und US$ 375,- pro Monat (Kolumbien) (die argentinischen Verhältnisse, wo der Streifenbeamte US$ 700,- verdient, stellen eine nicht-repräsentative, mit den hohen Lebenshaltungskosten in diesem Land zu erklärende Ausnahme dar). Diese Summe reicht kaum für den Polizeibeamten selbst, geschweige denn für den Unterhalt einer Familie aus, zumal wenn man bedenkt, daß sie durch Solidaritätsabschläge für Service-Leistungen der Institution weiter, und zwar z.T. erheblich, reduziert wird. Nach oben hin existiert eine deutliche Gehaltsstaffelung - die höchsten Polizeioffiziere kommen auf das Acht- bis Zehnfache des Betrages, der den untersten Rängen zusteht. Das Gehalt wird ergänzt durch spezielle, Mitgliedern der Institution zustehende Vergünstigungen, etwa preiswerte Gesundheitsdienste, besondere Erholungsstätten oder verbilligte Kredite im Falle eines Hausbaus. Auch hier gibt es allerdings eine Abstufung entsprechend der Ranghöhe, so daß die breite Masse des polizeilichen Fußvolkes von diesen Sonderdiensten am wenigsten profitiert. Sie sucht und findet zusätzliche Verdienstmöglichkeiten am Rande oder gegen das Gesetz. Generell herrscht unter den Experten Einigkeit darüber, daß die Bewerbung um den Eintritt in den Polizeidienst nur im seltensten Fall aus dem Motiv heraus erfolgt, dem Bürger und der Allgemeinheit von Nutzen zu sein. Was junge Leute mit unterdurchschnittlichem Bildungsniveau antreibt, dies zu tun, ist neben einer eventuellen Familientradition vielmehr zum einen die Aussicht, über ihre Mitmenschen Macht auszuüben und zum anderen die Hoffnung auf lukrativen Verdienst bei mäßigem Einsatz. Wie schon angedeutet, lassen sich extralegale von illegalen Zusatzeinnahmen unterscheiden, wenngleich die Grenze zwischen ihnen im Einzelfall nicht immer leicht zu ziehen ist17. Zu ersteren zählen vor allem Vergünstigungen (sei es in Geldform oder als Naturalien), die für dem Bürger oder Organisationen im Rahmen von Dienstverpflichtungen erwiesene Gefälligkeiten entgegengenommen werden. Wenn der Beamte etwa bei einem Verkehrsunfall ein besonders sorgfältiges Protokoll (im Hinblick auf die Versicherung der Betroffenen) aufnimmt, wenn er immer bestimmte Photographen engagiert, die lädierten Kraftfahrzeuge zu bestimmten Werkstätten abschleppen läßt, wenn er bei Fußballspielen oder im Hinblick auf den Schutz einer bestimmten Bank einen besonderen Einsatzeifer entwickelt, dann kann er erwarten, daß dies entsprechend honoriert wird. Viele Beamte verdienen sich ein Zubrot, indem sie (trotz offiziellen Verbots) zusätzlich für private Sicherheitsdienste tätig sind. Die extralegalen Einnahmen können bis zu 50 % oder mehr des offiziellen Gehaltes erreichen. Sie finden eine Ergänzung in den illegalen Einkünften, die aus unterschiedlichen Quellen stammen und, je nach Funktion, Rang und Erwerbsenergie des Betreffenden, im Extremfall ein Mehrfaches des offiziellen Gehaltes ausmachen können. Die großzügigen Spender verfolgen alle dasselbe Ziel, von der Polizei bei ihren dubiosen Tätigkeiten in Ruhe gelassen Die Existenz extralegaler und illegaler Einkünfte als solche wurde von keinem der auf der Tagung anwesenden Polizeiexperten bestritten. Am differenziertesten ausgeschlüsselt wurden sie in den Beiträgen von G. Mingardi, J. Maier und H C.F. Mansilla.
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zu werden oder sie sogar für eine Beteiligung an ihren kriminellen Vorhaben zu gewinnen. Der verbreitetste Fall der Bestechung, mit dem Ziel, wegen eines wirklich oder angeblich begangenen Delikts nicht weiter belästigt zu werden, sind kleinere oder größere Verkehrssünden. Ihnen folgt auf der nächsten Stufe die Kontrolle und Erpressung von Kleinkriminellen, Betreibern von Spielstätten, Zuhältern und Prostituierten sowie von jugendlichen Straßenbanden, die für ein regelmäßig entrichtetes "Schutzgeld" ungeschoren bleiben. Auf der höchsten Stufe geht es schließlich um die Niederschlagung von Strafverfahren und die Beteiligung der Polizei an lukrativen Delikten im großen Stil, wie etwa dem Drogengeschäft oder organisiertem Kraftfahrzeugdiebstahl. Im nächsten Abschnitt wird noch auf die eine oder andere Deliktkonfiguration, welche die Polizei zu einer eigenständigen Einkommensquelle ausgebaut hat, zurückzukommen sein. Es macht, wie diese Ausführungen zeigen, wenig Sinn, die lateinamerikanische Polizei allein unter dem Blickwinkel der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben zu betrachten. Ein nicht minder wichtiger Aspekt betrifft die Erschließung zusätzlicher Ressourcen. Angesichts der chronischen Finanzknappheit des lateinamerikanischen Staates befindet sich die Polizei, dies gilt sowohl für die Institution als Ganze als auch für den einzelnen Beamten, in einem ständigen Konkurrenzkampf mit anderen sozialen und beruflichen Gruppen um spärliche Mittel. Gerade unter diesem Gesichtspunkt gewinnen zwei neuere Entwicklungen an Bedeutung, auf die am Schluß dieses Abschnittes kurz hingewiesen werden soll. Die erste ist primär externen Ursprungs, sie betrifft die internationale Kampfansage an die Produktion von und den Handel mit Rauschgift, insbesondere Kokain. Seitdem die internationale Staatengemeinschaft, angeführt von den USA, es zu ihrem erklärten Anliegen gemacht hat, dem Drogenproblem weniger von der Konsumentenseite her als vielmehr durch die konsequente Verfolgung der Herstellung und des Vertriebs von Rauschgift zu Leibe zu rücken, hat sich für eine Reihe lateinamerikanischer Staaten eine unerwartete Quelle zusätzlicher Revenuen aufgetan. Ähnlich wie in früheren Phasen, als es um die Prämierung einer konsequenten Unterdrückung von Guerillabewegungen ging, hat ein Wettstreit zwischen den verschiedenen staatlichen Sicherheitsagenturen darüber begonnen, welche am besten für die Bekämpfung aller mit dem Rauschgiftgeschäft zusammenhängenden Aktivitäten geeignet ist. Engagement, vor allem von Erfolg gekröntes Engagement im Antidrogenkampf, verspricht beträchtlichen Mittelzufluß von internationaler Seite, den die großenteils miserabel ausgestatteten lateinamerikanischen Sicherheitskräfte sehr gut gebrauchen können. So hat beispielsweise im Falle Boliviens, wie von Mansilla aufgezeigt wurde, die Tatsache, daß es der Polizei gelungen ist, das Militär im Antidrogenkampf auszustechen, zu einer beträchtlichen Verselbständigung und Aufwertung dieser Institution im Verhältnis zu den traditionell dominierenden Streitkräften geführt". Die zweite Entwicklung ist rein interner Natur, sie betrifft die Zunahme privater Sicherheitsdienste. Aufgrund der dramatischen Steigerung der Kriminalität in den letzten 15 Jahren zählt das private Bewachungsgewerbe zu den Branchen mit der höchsten Wachstumsrate. In manchen Ländern übersteigt die Zahl der Angestellten privater Sicherheitsdienste bereits jene der Polizeibeamten. Wenngleich sie überwiegend bewaffnet sind, wirkt sich das Auftreten eines weiteren Gewaltakteurs in diesen ohnedies Vgl. Mansilla 1995:15. Dieser Versuch der Polizei, sich aus der Abhängigkeit vom Militär zu lösen, bildete den Hintergrund der bewaffneten Zusammenstöße, zu denen es im März 1996 zwischen den beiden Institutionen anläßlich einer Parade in La Paz kam Vgl. "La Razön" vom 26.3.1996.
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an einen Pluralismus sich physischer Zwangsmittel bedienender Gruppen gewöhnten Gesellschaften weniger gravierend aus, als man annehmen könnte. Zu echten Rivalitäten zwischen der neuen Privatpolizei und der etablierten offiziellen Polizei ist es kaum gekommen, zumal erstere ihr Personal großenteils aus den Reihen ehemaliger (oder noch aktiver) Polizeibeamter und Militärs rekrutiert. Freilich wirkt sich dieser zusätzliche Schutz nur zugunsten der Einflußreichen und Wohlhabenden aus, für die er finanziell erschwinglich ist, so daß dadurch im Ergebnis die Kriminalitätsbelastung der Unterschichten und Marginalgruppen noch zusätzlich verstärkt wird (vgl. Maier 1995b: 18ff.).
4. Formen des Machtmißbrauchs Sowohl in der Einleitung als auch im letzten Abschnitt war bereits von den illegalen Praktiken der lateinamerikanischen Polizei die Rede. Der Mißbrauch ihrer Amtsmacht, vor allem in Form von Korruption und exzessiver Gewaltanwendung, ist zweifellos der Aspekt ihrer Tätigkeit, mit dem die Öffentlichkeit am besten vertraut ist. Die Presse wie auch die bekannten Menschenrechtsorganisationen versorgen den interessierten Leser regelmäßig mit Berichten über Schäden und Opfer, die aufgrund des zügellosen polizeilichen Vorgehens zu beklagen sind. Dabei wird oft nicht hinreichend zwischen verschiedenen Ländern und Regimetypen differenziert. Die Verhältnisse im zivilisierten Kleinstaat Costa Rica lassen sich nicht ohne weiteres mit jenen im benachbarten, von ständigen Krisen geschüttelten Guatemala vergleichen, unter den vergangenen Militärdiktaturen schaltete und waltete die Polizei weit willkürlicher und brutaler als im gegenwärtigen demokratisch-rechtsstaatlichen Kontext. Auch bezüglich des Grades an Offenheit oder Heimlichkeit illegalen Verhaltens sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern z.T. beträchtlich. Wird in Mexiko-Stadt z.B. ziemlich offen über die Höhe der wegen eines angeblichen Verkehrsdelikts eingeforderten Bestechungssumme verhandelt (vgl. Schmid 1995), so kann in Chile der Versuch, einen Polizeibeamten durch ein Geldangebot umzustimmen, eine Festnahme wegen Beamtenbeleidigung zur Folge haben. Läßt sich das Ausmaß der Bestechlichkeit eines Berufs- oder Verwaltungszweiges nur schwer quantifizieren, so sind demgegenüber einige mehr oder weniger zuverlässige Parameter entwickelt worden, die es erlauben, die relative Häufigkeit illegaler Gewaltexzesse (insbes. mit Todesfolgen) zu messen. So hat etwa P. Chevigny die Gesamtzahl der Morde in einem Lande zur Anzahl der von der Polizei Getöteten in Beziehung gesetzt, die Zahl getöteter Polizisten mit der Anzahl der von der Polizei Umgebrachten verglichen oder der Anzahl durch Polizeischüsse Verwundeter die Anzahl der durch die Polizei Getöteten gegenübergestellt (vgl. Chevigny 1991: 189-217). Eine andere Form der Messung besteht darin, zu ermitteln wieviele Menschen von je 100.000 Einwohnern eines Landes pro Jahr Polizeiexekutionen zum Opfer fallen. Es wurden auch Befragungen in Strafanstalten und Untersuchungsgefängnissen durchgeführt, um herauszufinden, wieviele der Insassen mißhandelt worden sind. Die Ergebnisse, von denen hier nur eine kleine Auswahl präsentiert werden soll, sind durchweg alarmierend. So bewegte sich das Verhältnis getöteter Zivilisten zu getöteten Polizisten in den 80er Jahren in Jamaika, Säo Paulo und Buenos Aires zwischen 10:1 und 12:1; die letztgenannte Relation wurde im Falle von Buenos Aires von Maier und seinen Mitarbeitern für 1994 im wesentlichen bestätigt (vgl. Chevigny 1991: 51
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189-217; Maier 1995c). In diesem Jahr wurden laut Zeitungsberichten im Großraum von Buenos Aires insges. 127 Menschen durch Polizeischüsse getötet. Im (noch mehr Menschen umfassenden) Großraum von Säo Paulo waren es 1992 gar 1.400, davon allein 111 bei der Niederschlagung eines Gefängnisaufstandes (vgl. Mingardi, S. 7). Entfielen Anfang der 80er Jahre in Kanada auf 100.000 Einwohner 0,07 Opfer von Polizeigewalt und in den USA 0,18, so lauteten die entsprechenden Zahlen für Argentinien im Jahr 1984 (ein Jahr nach der Rückkehr des Landes zu einer demokratischen Regierungsform) 2,03 und für Brasilien, wo zu jenem Zeitpunkt noch die Streitkräfte herrschten 4,06. Allerdings gibt es auch lateinamerikanische Staaten mit niedrigeren Werten. Für Costa Rica lag er 1982 bei 0,70, für Venezuela 1989/90 bei 0,75 (vgl. Gabaldón 1995: 2). Laut einer Befragung in Chile in jüngerer Zeit äußerten 71 % der dort in Gefängnissen Inhaftierten, sie seien in der einen oder anderen Form körperlich mißhandelt, d.h. geschlagen, an den Füßen aufgehängt, gefoltert worden usw. (vgl. Lösing 1995: 24). Generell gilt, daß wegen der leichten Festnahmebedingungen einerseits, der trägen, ineffizienten Arbeitsweise der Justiz andererseits eine viel zu hohe Zahl Beschuldigter in Untersuchungsgefängnissen oder regulären Strafanstalten festgehalten wird, wo sie wehrlos den Schikanen des Wachpersonals ausgeliefert sind. Je nach Land beläuft sich der Anteil der Untersuchungsgefangenen auf 35-90% aller Inhaftierter; oft müssen sie endlos auf ein Urteil warten, in vielen Fällen kommt es nicht einmal zur Prozeßeröffnung. Wenngleich auch auf dem breiten Lande nicht unüblich, konzentrieren sich doch die illegalen Gewaltpraktiken der Polizei im städtischen, vor allem dem großstädtischen Bereich. Bevorzugte Zielscheibe sind die städtischen Unterschichten und Randgruppen, einschließlich der Kinder- und Jugendlichenbanden. Das Vorgehen der Polizei ist insoweit durchaus selektiv. Während sie die konsequente Verfolgung typischer Mittelschichtdelikte, wie Betrug, Wirtschaftsvergehen und Umweltverschmutzung, nicht zuletzt wegen ihrer komplizierteren Struktur, vernachlässigt, geht sie umso unnachsichtiger gegen Diebe und Räuber vor, die sich an fremdem Eigentum vergreifen (vgl. Waldmann 1994: 53). Ihrer Fixierung auf einen bestimmten Tätertypus, den jungen, männlichen, ärmlich und zerlumpt aussehenden Angehörigen des Subproletariats wird teilweise durch die bestehende Gesetzeslage Vorschub geleistet. Beispielsweise gibt es in Argentinien und Venezuela bis heute Gesetze, die sich generell gegen Asoziale und Vagabunden, also eine bestimmte Kategorie von Personen, nicht einen präzise umschriebenen Deliktstatbestand, richten. In Argentinien kann unter Berufung darauf z.B. eine Festnahme von bis zu 24 Stunden erfolgen (vgl. Lösing 1995:12; Maier 1995b: 9; Gabaldón 1991-1992). Um der steigenden Kriminalitätswelle Einhalt zu gebieten, geht die Polizei immer häufiger zu groß angelegten Razzien über. Generalstabsmäßig geplante Säuberungsaktionen im großen Stil, bei denen mehrere Polizeieinheiten zusammengezogen werden, sind u.a. aus Brasilien, Kolumbien und Venezuela bekannt (vgl. Hernández 1991:157ff; Pinheiro A.a.O.: 167ff u. 176ff ). Dabei werden systematisch ganze Straßenzüge und Stadtviertel durchkämmt und "Verdächtige" (schon ein abgelaufener Personalausweis oder eine bereits verbüßte Vorstrafe reichen aus, um als verdächtig eingestuft zu werden) mißhandelt, festgenommen oder unmittelbar erschossen. Zweck dieser Operationen mit quasi-militärischem Charakter kann es schwerlich sein, Kriminelle zu fassen. Denn erfahrene Angehörige der Unterwelt lassen sich nicht auf diese Weise überraschen, sondern weichen den großmaschigen Fahndungsmanövern beizeiten aus. Der intendierte 52
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Effekt ist wohl mehr sozialpsychologischer Natur. Durch ihr rabiates Vorgehen will die Polizei den bürgerlichen Schichten beweisen, daß sie weiterhin Herrin der Lage und die bestehende Eigentumsordnung nicht prinzipiell gefährdet ist. Die an die Adresse der in der sozialen Misere lebenden Schichten gerichtete Parallelbotschaft lautet, mit dem Repressionsdruck der Ordnungskräfte sei auch in Zukunft zu rechnen; reiche die von ihnen ausgeübte Kontrolle auch nicht aus, um die quantitative Zunahme von Einzeldelikten zu verhindern, so seien sie doch insgesamt stark genug, um die armen Schichten in Schach zu halten und größere soziale Unruhen im Keim zu ersticken'9. Besonders gut sind wir über die brasilianische Situation unterrichtet, wo ein Sozialwissenschaftler zwei Jahre lang als verdeckter Beobachter in einem Polizeirevier an der Peripherie von Säo Paulo Dienst tat20. Er stellte fest, niemand, am wenigsten die Polizei selbst, leugne, daß Gewalt und Zwang zu ihrem täglichen Handwerkszeug gehören. Die Begründung der Polizisten für ihre rasche Bereitschaft zur Gewaltanwendung lautete, sie seien insoweit nur repräsentativ für die insgesamt sehr gewalttätige brasilianische Gesellschaft. Außerdem könne man sich als Polizeibeamter bei den Unterschichten nur durch die ständige Androhung und häufige Anwendung physischen Zwangs Respekt verschaffen. Die Militärpolizei, welche für die Wahrung der allgemeinen Sicherheit und Ordnung zuständig ist, ist nach G. Mingardi besonders brutal. Sie hat sich nicht die vorbeugende Verhütung von Verbrechen, sondern die konsequente Eliminierung wirklicher oder angeblicher Krimineller zum Ziel gesetzt, was in Sentenzen wie "ein erledigter Straffall bedeutet, daß der Täter tot ist" oder Fragen der Offiziere an Neulinge, ob sie schon ihren ersten Banditen umgebracht hätten, zum Ausdruck komme. Doch auch die Kriminalpolizei weicht nicht wesentlich von diesem Muster ab, zieht sie es doch vor, statt einer Straftat den mutmaßlichen Täter zu "bearbeiten", d.h. zu foltern, um ein Geständnis von ihm zu erpressen. Indes geht aus einer Parallelstudie zur venezolanischen Schutzpolizei hervor, daß man sich vor voreiligen Verallgemeinerungen hüten muß. Gabaldön wies mittels einer Befragung der Polizeibeamten von Merida nach, daß diese nicht automatisch und unterschiedslos physische Zwangsmittel einsetzen. Neben situativen Variablen, ob sie sich etwa provoziert oder bedroht fühlen, spiele auch die vermutete Einschätzung der Gewaltanwendung als legitim oder illegitim durch die Allgemeinheit eine Rolle (vgl. Gabaldön 1995: 11). Zugleich bestätigte diese Untersuchung die besondere Bedrohung, der Unterschichten und Marginalgruppen von Seiten der Polizei ausgesetzt sind, da sie im Vergleich zu Angehörigen der Mittel- und Oberschicht über keinerlei "Beschwerdemacht" verfügen. Stellt Gewaltanwendung, sowohl in ihrer legalen als auch in der illegalen Form, ein spezielles Attribut der Sicherheitskräfte dar, so stehen demgegenüber sämtliche Zweige der lateinamerikanischen Staatsverwaltung in dem Verdacht, mehr oder weniger korrupt zu sein. Im Vergleich belegt allerdings auch in dieser Hinsicht die Polizei mit den höchsten Rang. Beispielsweise gehen laut einer Befragung in Mexiko 88% der dort lebenden Bürger davon aus, daß die Polizei korrupt ist (zum folgenden vgl. Schmid
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Was ihr freilich nicht immer gelingt, wie u.a der "Volksaufstand" in Caracas von 1989 beweist, der nur mit militärischer Hilfe niedergeschlagen werden konnte.
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Wir meinen damit Guaracy Mingardi. Neben seinem bereits wiederholt erwähnten Aufsatz vgl. den von ihm verfaßten Band "Tiras, Gansos e Frutas. Cotidiano e Reforma na Policla Civil". Säo Paulo 1992, der eine ausführliche Darstellung seiner Untersuchungsergebnisse enthalt.
("Caracazo")
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1995: 8ff.). Dieses Befragungsergebnis kommt nicht von ungefähr zustande, es hängt damit zusammen, daß die Korruption in der mexikanischen Polizei gleichsam institutionalisiert ist. Es gilt dort das System des sog. "entre"oder der "cuota", d.h. eines festen Beitrags, den jeder Polizeibeamte an seinen Vorgesetzten abführen muß. Dieser wiederum ist zur Abzweigung eines Teils der bei ihm eingehenden Zusatzeinnahmen an den nächsthöheren Vorgesetzten verpflichtet, so daß an der Spitze der Organisation der Löwenanteil an den illegal eingetriebenen Geldern abgeschöpft wird. Dieser dürfte nicht gering sein, bedenkt man, daß nach R. Schmid in der mexikanischen Hauptstadt täglich rund 1 Mio. US$ an Schmiergeldern durch die Polizei eingesammelt werden (vgl. Schmid 1995: 9). Die Polizisten, bis hin zum Streifenbeamten auf der Straße, beugen sich meist freiwillig dem Abgabezwang, in der Hoffnung, eines Tages, nach dem Aufstieg in eine gehobene Position (was in Mexiko im Unterschied zu den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern offenbar möglich ist) selbst von dem Akkumulationseffekt profitieren zu können. Im Grunde bleibt ihnen aber gar keine andere Wahl als die, sich an dem Spiel zu beteiligen, da die "cuota" ansonsten von ihrem Gehalt abgezogen werden würde, denn sie bildet nur den markantesten Baustein eines generellen Umverteilungssystems, das dafür sorgt, daß der Innendienst an den Pfründen, die der polizeiliche Außendienst abwirft, partizipiert. Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Abgabepflichten, insbesondere löst jede Stellenrotation eine Welle von Zuwendungen und "Geschenken" aus, durch welche Kandidaten versuchen, sich für vorteilhafte Positionen ihren Gönnern gegenüber erkenntlich zu erweisen und benachteiligte Konkurrenten zu entschädigen. Bisweilen ist zu hören, Gewaltexzesse und Korruption seien alternative Formen polizeilichen Machtmißbrauchs, wo das eine überwiege, sei die andere Form wenig verbreitet, und umgekehrt gelte dasselbe2'. Diese These baut im wesentlichen auf sozialpsychologischen Prämissen auf. Es wird davon ausgegangen, daß das aggressive Verhalten von Polizeibeamten gegenüber dem Bürger letztlich auf einem Ventileffekt beruhe: Das autoritär-repressive soziale Klima innerhalb der Polizeistationen und vor allem die physischen Schikanen, denen die niedrigen Ränge ausgesetzt seien, verleite diese dazu, sich nach außen am wehrlosen Bürger abzureagieren. Demgegenüber hätten eingespielte Korruptionspraktiken ein Mindestmaß an Einverständnis und Solidarität innerhalb der polizeilichen Dienstgruppen zur Voraussetzung, wodurch der Aufbau eines aggressiven Gefühlsstaus vermieden werde. An diesen Überlegungen ist richtig, daß die Ausbildung und der erste Dienstabschnitt bei der Polizei (übrigens auch beim Militär) für den Adepten eine Phase extremer körperlicher Herausforderungen und Demütigungen darstellt, die offenbar den Zweck verfolgen, ihn gleichzeitig zu desensibilisieren und gegenüber seiner sozialen Umwelt sozusagen aufzuladen22. Außerdem ist bekannt, daß es Polizeien wie die chilenische gibt, die als äußerst brutal aber kaum korrupt gelten, und andere, wie etwa die venezolanische oder bolivianische, die mehr wegen ihrer Korruptionsaffären als aufgrund von Gewaltexzessen von sich reden machen. Doch als Regelfall kann man dieses
Diese Hypothese wurde tentativ von M.K Huggins, die seit langem über die lateinamerikanische Polizei arbeitet, auf dem Symposium in Panajachel vorgetragen. Vgl. die Interviewaussagen eines kolumbianischen Polizisten in der Tageszeitung "El Espectador" vom 3.10.1993
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"Entweder - Oder" nicht betrachten, im Gegenteil: Die Regel scheint eher der kombinierte Einsatz beider Methoden des Machtmißbrauchs zu sein, wobei es letztlich meist um irgendeine Form illegaler Bereicherung geht. So erfahren wir von Mexiko, zu Unrecht geforderte Gebühren wegen eines angeblichen Verkehrsdeliktes würden umso bereitwilliger bezahlt, je willkürlicher sie erschienen, allein abgestützt durch unzweideutige Drohgebärden der Beamten, die offenbar nicht zögern würden, den verlangten Tribut mit brachialem Zwang einzutreiben. Ahnlich sprechen kolumbianische Polizisten von "ataque psicológico", wenn sie es darauf anlegen, den Beschuldigten durch Androhung von Gewalt zum Reden oder zur Zahlung eines "Lösegeldes" zu bringen (vgl. "El Espectador" vom 3.10.1993). Tatsächlich wird man vor einer allzu vereinfachenden Sichtweise des Verhältnisses zwischen Gewalt und Korruption warnen müssen, was allein schon daraus hervorgeht, daß der Einsatz von physischen Zwangsmitteln durch die Polizei ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann: Er kann a) eine durch private oder berufliche Sozialisation aufgebaute Grundaggression zum Ausdruck bringen, die sich mehr oder weniger spontan vor allem dann entlädt, wenn der Polizist sich angegriffen fühlt; b) rein instrumenten mit dem Ziel einer besseren Durchsetzung von Recht und Ordnung, d.h. um die Polizeiarbeit effektiver zu gestalten, erfolgen: und schließlich c), in Verbindung mit Korruption und Erpressung primär der Verfolgung privater Interessen dienen. Die Auslösebedingungen und Funktionen von Gewaltanwendung in den drei Fällen variieren so stark, daß es kaum möglich erscheint, sie eindeutig mit Korruptionspraktiken zu korrelieren, die ja nur bei der einen Variante im Vordergrund stehen. Was den kombinierten Einsatz von Gewalt und Korruption angeht, so hat das raffinierteste System die Kriminalpolizei von Säo Paulo entwickelt. Es schließt neben dem Beschuldigten als Opfer und der Polizei als Erpresser noch zwei weitere Akteure ein: den Informanten und einen Rechtsanwalt. Der Informant gibt der Polizei den entscheidenden Hinweis auf einen Kriminellen, wofür er großzügig belohnt wird. Selbst wenn der betreffende Kriminelle nicht gleich gefaßt werden kann, kommt einmal der Augenblick, in dem es der Polizei gelingt, seiner habhaft zu werden. Nun wird er solange gefoltert, bis er bereit ist ein Geständnis abzulegen. Darauf läßt die Polizei einen Rechtsanwalt seines Vertrauens kommen, der mit der Polizei die Summe aushandelt, für die das Verfahren niedergeschlagen wird und der Beschuldigte unbehelligt bleibt oder mit einer kleinen Strafe davon kommt. Ähnlich wie beim cuofa-System in Mexiko-Stadt handelt es sich hier um ein hochgradig ausgefeiltes, und das heißt zugleich: ein nach außen hin abgesichertes Verfahren. Beispielsweise legt die Polizei Wert darauf, daß nicht ein anrüchiger Schmierenanwalt, sondern ein anerkannter Vertreter seiner Profession eingeschaltet wird, diesem wird, falls die Angelegenheit ruchbar werden sollte, ein bequemes Schlupfloch mit dem Argument eröffnet, die empfangene Lösegeldsumme stelle das mit dem Mandanten vereinbarte Honorar für die Antwaltstätigkeit dar usw. Natürlich setzt das aufwendige System, bei dem mehrere Zahlungen (an den Informanten, den Anwalt, die Polizei) anfallen, voraus, daß es sich um finanzkräftige Kriminelle der "gehobenen Kategorie" handelt. G. Mingardi, der diese Vierecksinteraktion beschreibt23, betont abschließend, MeVgl. Mingardi S. 6 ff, S. 12 ff. In weniger ausgeklügelter Form ist der Einsatz von Folter und Gewalt zur Erzielung extralegaler Einnahmen auch in den Polizeien anderer lateinamerikanischer Länder verbreitet. So wurde ein einem der Verfasser (P.W.) bekannter Assistent an der juristischen Fakultät
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thoden dieser Art, wie sie während der 80er Jahre noch üblich waren, erwiesen sich gegenüber den neuen Dimensionen, die das Verbrechen in den 90er Jahren angenommen hat, als vergleichsweise ineffektiv. Vor allem versagten die klassischen Formen der Einschüchterung und Erpressung angesichts der rapiden Zunahme von Gewaltdelikten und organisierter Bandendelinquenz. So ließe sich der neue Typus des gewaltsamen Kriminellen, der kein Risiko scheut, durch die polizeilichen Praktiken der Folterung und des raschen, rücksichtslosen Schußwaffengebrauchs, im Unterschied zum traditionellen Dieb oder Hehler, nicht mehr abschrecken. Ähnliche Probleme werfe die organisierte Kriminalität auf. Mit dem traditionellen Informanten- und Spitzelsystem ließen sich die Führer krimineller Großbanden schwer fassen, da sie weitgehend in legal abgeschirmten Räumen agierten. Außerdem verfügten sie, vor allem soweit das Drogengeschäft involviert sei, über soviel Einfluß und Ressourcen, daß die Polizei kaum eine Chance hätte, sie dingfest zu machen. Diese kritischen Bemerkungen zur Effizienz der Polizei werfen abschließend die Frage ihrer Reformbedürftigkeit sowie jene der Reformmöglichkeiten auf.
5. Reformperspektiven Es sind mehrere Wege denkbar, um über die Ziele und Möglichkeiten einer Polizeireform zu diskutieren. Man könnte beispielsweise die professionellen und sonstigen Defizite der lateinamerikanischen Polizei aufzählen, ihnen das Modell einer einwandfrei funktionierenden Organisation gegenüberstellen und daraus die dringlichsten Desiderate einer Polizeireform ableiten. Abgesehen davon, daß dabei das z.T. problematische soziale und institutionelle Umfeld der Polizei außer Betracht bliebe24, dürfte die Zeit für diese Art von umfassender Bilanz noch nicht reif sein. Was vielmehr not tut, ist zunächst eine sorgfältige Bestandsaufnahme der Ist-Strukturen. Dazu zählt neben einer gründlichen Kenntnis des Aufbaus und der Funktionsabläufe des Polizeiapparates die Klärung der Absichten und Interessen, welche die relevanten gesellschaftlichen und politischen Akteure mit ihrer Einwirkung auf die Polizei verfolgen. Denn je nachdem, ob sich diese Ziele harmonisieren lassen oder stark divergieren, wird sich herausstellen, inwieweit eine Veränderung des Ist-Zustandes überhaupt möglich ist und in welcher Richtung. Bei einem großzügigen Betrachtungsmaßstab lassen sich vier Hauptbezugsgruppen erkennen, denen im Hinblick auf eine mögliche Reform der Polizei Gewicht zukommt: die jeweiligen nationalen politischen Führungseliten, die internationale Öffentlichkeit, die breite Bevölkerung in diesen Ländern und, last not least, die betroffenen Polizeibeamten selbst. Was zunächst die nationalstaatlichen Führungseliten angeht, so kann man ihnen unterstellen, daß sie sich im großen und ganzen durchaus mit dem gesetzlichen Auftrag von Buenos Aires Zeuge, wie zwei dort als Studenten eingeschriebene Polizisten sich folgende Geschichte erzahlten: Auf ihrem Revier wurden zwei miteinander befreundete Jugendliche eingeliefert, der eine aus einer armen, der andere aus einer wohlhabenden Familie. Darauf mißhandelte die Polizei den mittellosen Jugendlichen so lange, bis es sein Freund nicht mehr aushielt und den Vater anrief, damit er ihn freikaufe. Wir denken dabei an die Justiz und die restliche Verwaltung, die meistens kaum weniger korrupt sind als die Polizei.
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der Polizei identifizieren, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu wahren und Kriminelle zu verfolgen. Vor allem ist ihnen daran gelegen, daß die Polizei dem Anspruch auf ein staatliches Gewaltmonopol Nachdruck verleiht und, sofern dieser nicht durchsetzbar ist, zumindest glaubhaft demonstriert, daß der Staat sich nicht einschüchtern läßt, sondern politischen Abweichlern und Kriminellen, welche die Gesetze mißachten, effektiv die Stirn bietet. Stoßen sie dabei auf unüberwindbare Hindernisse, wie im Falle der überaus mächtigen, international vernetzten Rauschgiftkartelle, so nehmen sie gerne zu spektakulären Ersatzhandlungen wie den erwähnten Razzien Zuflucht, um damit wenigstens den Anschein der Souveränität gegenüber der eigenen Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die keineswegs unangefochtene, auch den Sicherheitsapparat tangierende Position der staatlichen Machteliten erklärt, warum man sich in diesen Kreisen - Ausnahmen bestätigen die Regel - nur wenig mit Rechtsstaatsklauseln und dem Menschenrechtsgedanken anfreunden kann25. Solange einzelne oder ganze Gruppen darauf bestehen, dem Staat das alleinige Anrecht auf die Ausübung physischen Zwangs vorzuenthalten, ist es aus der Sicht der Staatseliten überflüssig, ja schädlich, diese Gruppen zu schützen und ihren Mitgliedern einen unantastbaren Raum individueller Freiheit und körperlicher Integrität einzuräumen. Denn dadurch würden sie nur ermuntert, sich weiterhin erfolgreich dem staatlichen Autoritätsanspruch zu widersetzen. Aus diesem Grunde ist auf den Polizeischulen, dem Hauptinstrument, dessen sich die staatlichen Führungseliten zur Vermittlung ihrer Sicherheitsvorstellungen bedienen, viel von Hierarchie, Kriminalitätskontrolle und professioneller Effektivität die Rede, und nur wenig von den gesetzlichen Schranken polizeilichen Handelns und den Rechten der Beschuldigten (vgl. Riedmann 1995:13; Mansilla 1995: 20ff.). Freilich werden sich die verantwortlichen Politiker angesichts der Sensibilisierung der internationalen öffentlichen Meinung in ihren Diskursen prinzipiell aufgeschlossen für Menschenrechtsfragen und entsprechende polizeiliche Reformmaßnahmen zeigen. Mit welchem Eifer sie dann auf deren tatsächliche Verwirklichung dringen, ist eine andere Frage. Die internationale Öffentlichkeit stellt in mancherlei Hinsicht das Kompliment zu den lateinamerikanischen Staatseliten und deren Vorstellungen bezüglich der Polizei dar. Maßgeblich getragen und beeinflußt von Mittelschicht-Intellektuellen aus den entwikkelten westlichen Industriegesellschaften, in denen der Staat seit geraumer Zeit ein kaum bestrittenes Zwangsmonopol durchgesetzt hat, liegt ihr vor allem der Schutz des Individuums am Herzen, das sich hilflos der Willkür der Sicherheitskräfte ausgeliefert sieht, wenn es in Lateinamerika einmal in die Mühlen der staatlichen Verfolgungsmaschinerie geraten ist. Deshalb drängen diese Gruppen darauf, daß das Vorgehen der Polizei einer vermehrten rechtlichen Kontrolle unterworfen wird und den Beschuldigten und Inhaftierten nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch gewisse Mindestgarantien eingeräumt werden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß die internationale Öffentlichkeit und die entsprechenden Beratergremien, die den lateinamerikanischen Staaten eine Polizeireform nahelegen, keineswegs nur mit einer Stimme sprechen. Grob skizziert, Ein brasilianischer Staatsanwalt, der konsequent gegen die illegalen Todesschwadronen vorging und die schlimmsten Mörder vor Gericht zu stellen versuchte, mußte die deprimierende Erfahrung machen, daß ihm von offizieller Seite alle erdenklichen Hindemisse in den Weg gelegt wurden. Vgl. Bicudo 1977.
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lassen sich zwei Hauptreformmodelle erkennen (vgl. Huggins 1992: 19-26; Menzies 1995:141-162, insbes. 149ff ). Das maßgeblich von angelsächsischer, vor allem nordamerikanischer Seite vertretene Modell sieht eine weitgehende Dezentralisierung der Polizei vor. Über deren Anbindung an die jeweilige lokale Gemeinschaft verspricht man sich eine erhöhte Transparenz und Kontrolle polizeilichen Handelns. Auf diese Weise lasse sich, so heißt es, eine bürokratische Verselbständigung des Polizeiapparates verhindern, die Polizei bleibe stets ein Organ der Bürgerschaft. Dem steht das europäische, vor allem das kontinentaleuropäische Modell gegenüber, das wesentlich von der Vorstellung geprägt ist, die Polizei sei ein Staatsorgan. Hier wird weniger der Wachsamkeit der Bürger als Garantie für die ordnungsgemäße Ausübung der Polizeigewalt vertraut als der Einbindung der Polizei in eine insgesamt am Prinzip der Rechtsstaatlichkeit orientierten Staatsverwaltung. Weniger die jeweilige lokale Gemeinschaft als die Möglichkeit gesetzlicher Kontrolledes polizeilichen Verhaltens soll nach dieser Konzeption dafür Sorge tragen, daß der Rahmen der Gemeinverträglichkeit nicht gesprengt wird. Eine unübersehbare Ambivalenz kennzeichnet auch die Ziel- und Wunschvorstellungen, die die dritte Bezugsgruppe, die breite Masse der Bevölkerung, in den verschiedenen lateinamerikanischen Staaten an die Polizei heranträgt. Dabei muß natürlich wieder nach Ländern und sozialen Schichten differenziert werden. Allgemein läßt sich jedoch feststellen, daß in diesen Ländern die Polizei ein sehr geringes Ansehen genießt26. Dies ist umso auffälliger, als die Polizei in den westlichen Industriestaaten zu jenen Institutionen zählt, denen die Mehrzahl der Bürger Vertrauen entgegenbringt. In Lateinamerika dominiert demgegenüber das Mißtrauen, was sich nicht nur an den Ergebnissen von Meinungsumfragen ablesen läßt, sondern auch aus Alltagssentenzen hervorgeht, wie: "Wenn Du mit einem Problem zur Polizei gehst, wird noch ein größeres daraus", oder: "Wenn Dir ein Polizist entgegenkommt, wechsle am besten die Straßenseite". Dabei wäre es verfehlt anzunehmen, die Bevölkerungsmehrheit wolle die Polizei vom Umfang her reduziert oder gar abgeschafft sehen. Nicht "weniger Polizei!", sondern eher "noch mehr Polizei!" lautet der allgemeine Ruf (vgl. Kalmanowiekki 1991: 47-60). Dabei soll es sich jedoch um eine Polizei handeln, die diese Bezeichnung verdient, weil sie dem Recht und der Ordnung zur Durchsetzung verhilft, anstatt beide zu torpedieren: eine Polizei, die vor allem berechenbar ist. Was den Durchschnittsbürger in Lateinamerika am meisten stört, ist die Tatsache, daß Polizeibeamte, weit davon entfernt, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, ihrerseits eine Quelle permanenter Verunsicherung darstellen (vgl. Gabaldön 1993: 44-59; Waldmann 1994: 75ff. u. 89f.). Man kann nie wissen, ob sie jemandem Schutz gewähren oder ihn erpressen wollen (vgl. Schmid 1995: 14ff.). Und selbst wenn sich herausstellt, daß das letztere intendiert ist, bleibt die Unsicherheit darüber bestehen, welche Summe jeweils erwartet wird und was passieren wird, wenn man sie nicht zahlt. Für eine effektive Sicherheitsgarantie wäre ein Großteil der Bürger dazu bereit, der Polizei noch weitergehende Vollmachten bei der Verfolgung Krimineller einzuräumen. Beispielsweise sind 50% der Brasilianer mit der "Hinrichtung" Krimineller durch die Polizei einverstanden, und immerhin über 25 % gestehen ihr sogar das Recht zu,
In diesem Punkte waren sich samtliche auf der Tagung in Panajachel anwesende Experten, mit Ausnahme der Vertreter Chiles, einig.
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Beschuldigte zu foltern27. Allein die Tatsache, daß zahllose Vorstadtbewohner brasilianischer Großstädte es widerstandslos akzeptieren, von Justicieiros (Bandenbossen) beherrscht zu werden, die für ihre äußerst rüden, freilich transparenten Machtmethoden bekannt sind, anstatt polizeilichen Schutz zu reklamieren, beweist, wie hoch die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit sozialer Verhältnisse und Reaktionen eingeschätzt wird. Was schließlich die letzte Bezugsgruppe, die Polizisten selbst und ihre Einstellungen, anbelangt, so stehen wir - und damit kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück - bislang vor einem großen Dunkelfeld. Es ist bekannt, daß es eine, sicher nach Ländern mit unterschiedlichen Akzenten versehene, eigene polizeiliche Subkultur gibt, bestehend aus spezifischen Normen, Werten und Alltagspraktiken, die vor allem auf der unteren Ebene der Posten, Reviere und Streifen im Kontakt von Mann zu Mann gelernt und weitergegeben wird. Aber wir wissen sehr wenig über die Inhalte dieser Polizeikultur. Bruchstücke, die durch die Untersuchungen von Huggins, Mingardi und Schmid zutage gefördert wurden, deuten darauf hin, daß dazu u.a. gehört28: -
das Gebot gegenseitiger Verläßlichkeit und Solidarität, auch jenseits und wider die Gesetze,
-
das Gebot konsequenter Verschwiegenheit "nach außen", der Fähigkeit Geheimnisse zu wahren, das gepaart ist mit Offenheit und Vertrauen "nach innen", gegenüber den Kollegen,
-
die Orientierung am unmittelbaren Dienstvorgesetzten als "Chef, dessen Autorität und Kompetenz nicht infrage gestellt werden29,
-
die Akzeptanz und partielle informelle Verpflichtung zur Korruption,
-
die Akzeptanz und Verpflichtung zu illegaler Gewaltanwendung in bestimmten Situationen.
Bereits diese wenigen Elemente lassen erkennen, daß man sich davor hüten muß, die lateinamerikanische Polizei als eine amorphe Gruppe zu betrachten, deren einziges durchgehendes Merkmal darin besteht, daß sie sich ununterbrochen über die Gesetze hinwegsetzt. Zwar stellt die ständige Kollision mit Recht und Gesetz, wie der vorangehende Abschnitt gezeigt hat, ein wichtiges Charakteristikum der Polizei dar. Doch heißt dies keineswegs, daß polizeiintern jede Art der Korruption und Gewalt erlaubt und damit gewissermaßen abgesegnet wäre. Vielmehr existieren subtile Unterschiede und Grenzen zwischen akzeptablen, gruppenintern gebilligten und inakzeptablen, mißbilligten Gesetzesverstößen, Grenzen, die sich nur aus den informellen Normen der polizeilichen Subkultur erschließen lassen.
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Mündliche Auskunft von G. Mingardi auf dem Symposium in Panajachel.
28
Vgl. zum folgenden vor allem die ebenso scharfsinnigen wie subtilen Überlegungen und Schlüsse von Huggins/Haritos-Fatouros 1995.
29
Diese eindeutig klingende Formulierung birgt durchaus gewisse Ambivalenzen. Sie stellt auf das nicht zuletzt kulturell abgestützte streng hierarchische Denken innerhalb der Institution sowie die umfassende Abhängigkeit des einfachen Polizeibeamten von seinem jeweiligen Vorgesetzten ab, schließt aber keineswegs eine zugleich innerlich reservierte bis kritische Haltung gegenüber demselben aus.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Für eine erfolgversprechende Reform muß sicher den Vorstellungen aller vier Bezugsgruppen, die hier erwähnt wurden, Rechnung getragen werden. Doch will uns scheinen, daß die zuletzt genannte der Polizisten selbst eine stärkere Beachtung verdient als ihr bisher zuteil wurde. Denn ohne ein Aufbrechen und eine allmähliche Transformation der zäh verankerten traditionellen polizeilichen Subkultur ist jeder Reformansatz, in welche Richtung auch immer er zielen mag, zum Scheitern verurteilt. Diese Einsicht auf der einen Seite, sowie unser gänzlich unzulängliches Wissen über die Eigenwelt der Polizisten auf der anderen machen intensive Untersuchungen zur Binnenstruktur und Subkultur der lateinamerikanischen Polizei zu einem dringlichen Desiderat und zur Vorabbedingung aller weiterer Reformbemühungen.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Günther Maihold
"Erblinden" die Institutionen und versagen die Akteure? Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie in Lateinamerika Im November 1992 konnte sich der peruanische Präsident Alberto Fujimori auf 60% Unterstützung in der öffentlichen Meinung stützen; trotzdem mußte er bei den Kommunalwahlen seinen Kandidaten für das Bürgermeisteramt von Lima angesichts der sich abzeichnenden klaren Niederlage zurückziehen. Fujimori wird 1995 als Präsident mit 64,4% wiedergewählt, sein Gegenkandidat Javier Pérez de Cuéllar erhält gerade 21,8% der Stimmen. Trotz dieses Erfolges gelingt es Fujimori wiederum nicht, die von ihm explizit unterstützten Kandidaten für die Bürgermeisterämter in Lima und Callao durchzusetzen, seine Akzeptanz bei der Bevölkerung scheint sich ausschließlich auf das Präsidialamt zu beschränken. Gleichwohl erreicht keine der nationalen politischen Parteien 5% der Stimmen, so daß sie sich für die Fortsetzung ihrer rechtlichen Existenz einem Prozeß der Neueinschreibung unterziehen müssen. Der Präsident Perus, der sich explizit als Vertreter der "Politik der Antipolitik" (Grompone 1995:9) präsentiert, beendet auf diese Weise einen Abschnitt der politischen Entwicklung seines Landes, der von der Dominanz der Traditionsparteien APRA und Acción Popular geprägt war und das Land in wirtschaftliche Zerrüttung und Bürgerkrieg geführt hatte. Ohne charismatische Fähigkeiten zu besitzen, hat sich Fujimori damit zum Exponenten eines neuen politischen Stils in Lateinamerika erhoben, der Massenintegration der Bevölkerung ohne Rückgriff auf die traditionellen Elemente des lateinamerikanischen Populismus erreicht. Gleichwohl lassen sich am peruanischen Beispiel eine Fülle jener Elemente explizieren, die heute die Demokratien Lateinamerikas ausmachen. Auch wenn die bereits erreichten Formen demokratischer Herrschaft das öffentliche Bild Lateinamerikas prägen, so darf dies doch nicht den Blick auf Defizite und neue Herausforderungen verstellen, denen die Länder des Subkontinents gegenüberstehen. Dies hat nichts mit der oft beklagten fracasomania (Hirschman) zu tun, die mit einem undifferenzierten Pessimismus 62
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
die Entwicklung der lateinamerikanischen Demokratien begleitet. Vielmehr wird hier die Auffassung vertreten, daß sich die verschiedenen historischen Erfahrungen, die Bedingungsgeflechte und Kräftekonstellationen in den verschiedenen Transitionsprozessen zu hybriden Demokratieformen1 verdichtet haben, die zwar alle dem Grundmodell Dahls (Dahl 1989) entsprechen, dieses aber für die konkrete Beschreibung der demokratischen Leistungsfähigkeit und Regierbarkeit unzureichend ist. Dabei geraten in der Mehrzahl der Untersuchungen vor allem die Institutionen ins Blickfeld, die mit Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit als Kanäle für den Ausdruck politischer Angebote und Forderungen überprüft werden. Das heißt, der institutionengeleitete Zugang steht im Vordergrund des Interesses, während Qualität der Akteure und ihre Zuordnung zur demokratischen Institutionalität oftmals nur auf die traditionellen antidemokratischen streng holders wie das Militär begrenzt bleiben (Maihold 1990a). Zunehmend wird jedoch deutlich, daß die in einigen Ländern erkennbaren Fragmentierungsprozesse im Parteiensystem, die abnehmende Bindungsfähigkeit politischer Optionen sowie die Inflation "unabhängiger" Kandidaten ohne Einbeziehung in politische Bewegungen an einem zentralen Punkt der politischen Systeme - nämlich im Bereich der Integration und Repräsentation - durch defizitäre Vermittlungsleistung Krisen heraufbeschwören, die zu Unregierbarkeitsvermutungen Anlaß geben. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Annahme, daß ein großes Gewaltpotential in Ländern Lateinamerikas vorhanden ist, das aufgrund fehlender Kanäle sozialer und politischer Artikulation schnell anomische Formen annehmen könnte. Insofern ist nicht nur eine Betrachtung von Parteien und Parteiensystemen angezeigt, sondern auch eine weiter ausgreifende Perspektive, die soziale Bewegungen und andere soziale Akteure ins Blickfeld nimmt. Die Frustration all jener, die von einer zentralen Rolle alter und neuer sozialer Bewegungen in der Transitionsphase ausgegangen waren (Meschkat 1995:10), und die ungeklärte Rolle, die beispielsweise die Unternehmerschaft in kritischen Momenten der Demokratie (Birle 1995:388ff.) hinsichtlich einer substantiellen oder nur prozeduralen Verpflichtung auf die Demokratie (O'Donnell 1992b) einnehmen würde, stehen zur Diskussion. Letztlich wird jedoch gerade erst die Analyse des Zusammenspiels von institutionellen Arrangements, Akteuren und politischer Konjunktur dazu Schlüsse erlauben; obgleich sollen Veränderungen im engeren politischen Aktionsfeld im Vordergrund der Diskussion stehen, um die Herausforderungen für die Demokratie in dieser Perspektive festmachen zu können.
So spricht Wiarda (1995) von halfway houses und Whitehead (1993: 325) von provisorischen, unvollständigen und unkonsolidierten Demokratien.
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I. Ist die "dritte Welle" in Lateinamerika bereits ausgelaufen? Seit dem Beginn der dritten Welle der Demokratisierung (Huntington 1991 )2 sind mehr als 20 Jahre vergangen. Während andere Autoren schon die besorgte Frage nach einem möglichen Auslaufen der Welle stellen (Diamond 1996), erscheint eine Zwischenbilanz der politischen Entwicklung in Lateinamerika angemessen, in der die Welle ab den 80er Jahren spürbar wurde. Auf den ersten Blick wird deutlich, daß die Demokratisierung (Zentralamerika) und die Redemokratisierung (Südamerika) das Bild des Subkontinents nachhaltig bestimmen; gleichwohl ist die Ausbildung von gemischten Formen semidemokratischer Regime festzustellen (Diamond 1996: 29), die als Systemtypen sich eher durch ihre stagnativen Tendenzen in der demokratischen Entwicklung ausweisen. Autoritäre Regime sind beinahe völlig verschwunden und stehen bei ihrem Auftauchen (Peru nach dem autogolpe von Präsident Fujimori und Guatemala nach dem Kopie-Versuch von Präsident Serrano) unter erheblichem nationalen und internationalen Druck. In regionale Integrationsvereinbarungen und Assoziierungsverträgen (vgl. hierzu jüngst zwischen dem MERCOSUR und Chile) wurde eine Demokratieklausel aufgenommen, die die Mitgliedschaft eines den demokratischen Entwicklungspfad verlassenden Landes sofort ruhen läßt. Somit erscheint auf den ersten Blick die demokratische Zukunft Lateinamerikas sowohl intern wie auch extern gesichert zu sein. Unsicherheitselemente gehen demgegenüber eher von der wirtschaftlichen Front aus, die seit dem ökonomischen Einbruch in Mexiko Ende 1994 das Bild des Subkontinents als "nach Ostasien zweite große Wachstumsregion" (FAZ 27. Juni 1994) wieder getrübt haben. Die große Varianz der historischen Erfahrungen, die hybriden Formen demokratischer Verfahrensweisen in den verschiedenen Ländern sowie die unterschiedliche Geschwindigkeit des Transitionsprozesses lassen es auf den ersten Blick geraten sein, keine generellen Aussagen über den Stand der Demokratie in Lateinamerika vorzunehmen. Während sich in Mexiko noch immer eine Phase demokratischer Transition den Weg zu bahnen versucht, haben andere Länder, wie Venezuela, Ekuador und Kolumbien, eher Erfahrungen einer Dekonsolidierung ihrer politischen Systeme zu verkraften. Die meisten Staaten Zentralamerikas (Ausnahme Guatemala) bewegen sich auf dem Pfad hinzu einer demokratischen Konsolidierung, scheinen sich aber durch die Gleichzeitigkeit des Auftretens von Problemen der Transition und der Konsolidierung eher in einer Phase der Stagnation und Stabilisierung der errungenen Systemkonfiguration zu befinden. In Peru besteht offensichtlich momentan keine institutionelle Nachfrage nach politischen Parteien, während sich das mexikanische Reformkonzept nach einem beinahe exklusiv parteieninduzierten Schema bewegt. Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay kommen auf dem Wege einer partiellen demokratischen Konsolidierung voran, ohne daß - ebenso wie in Paraguay - letztlich eine klare Unterordnung der militärischen Führung unter zivile Kontrolle erreicht worden ist. Bolivien nimmt sich demgegenüber
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Huntington unterscheidet im 20. Jahrhundert weltweit drei Wellen des Übergangs zu demokratischen politischen Systemen, die jeweils auch wieder von autoritären Gegenwellen abgelöst wurden. Die erste Welle der Demokratisierung beginnt mit den 20er Jahren. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzt die 2. Welle ein, und die dritte findet ihren Ausgangspunkt in der Demokratisierung Portugals 1974. Lateinamerika hat insbesondere im Rahmen der 2. und 3. Welle den Umschwung zu demokratischen Regierungen erlebt, die jedoch von der autoritären Gegenwelle in den 50er und 60er Jahren unterbrochen war.
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
als Beispiel eines reformorientierten Prozesses der politischen Modernisierung aus, ohne daß die zentrifugalen Kräfte im Parteienspektrum mit kräftigem populistischen Einschlag hätten gebannt werden können. Trotz dieser Heterogenität scheint gleichwohl eine Zwischenbilanz angemessen, die jenseits der Erfahrungen eines jeden Landes nach strukturellen Elementen des demokratischen Wandels im politischen Bereich fragt, die die Zukunftsfähigkeit der Demokratie besser gewährleisten können3.
II. "Halbierte Demokratie" und demokratische Blockaden Der Übergang zur Demokratie vollzieht sich in Lateinamerika unter der Rahmenbedingung einer notwendigen Synchronisation von wirtschaftlicher Modernisierung und politischer Demokratisierung, deren Gleichzeitigkeit massive Belastungen des demokratischen Prozesses mit sich gebracht hat. Zunächst ist das Zusammenfallen beider Prozesse für die lateinamerikanische Entwicklungsgeschichte kein neues Phänomen, da die wirtschaftliche Expansion und Modernisierung der traditionalen Exportwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls mit einer Demokratisierungswelle vielerorts zusammengetroffen war. Allerdings folgen aus der Durchsetzung der Marktrationalität in allen Bereichen des sozialen Lebens nicht nur wirtschaftspolitische Anpassungsprozesse, sondern auch die "Kolonisation des Staates" durch eine effektive Marktgesellschaft, die die Demokratie in eine vornehmlich legitimitätsbeschaffende Funktion hineindrängt. Diese Funktionalisierung der Demokratie für den Markt infolge der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Prinzipien mündet in das Ergebnis einer "halbierten Demokratie", die ihren demokratischen Gehalt auf die Wahl der politischen Autoritäten beschränkt, ohne daß die starke Exekutivgewalt bei der Durchsetzung der Sachgesetzlichkeiten wirtschaftlicher Rationalität beeinträchtigt würde (Lechner 1996: 2). Zudem ist in Rechnung zu stellen, daß sich gerade die Phase der Transitionen durch ihre Zentrierung auf das Moment der politischen Wirkung der Parteien auszeichnet, während im Abschnitt der Konsolidierung eher sozio-ökonomische Fragen die nationale Agenda bestimmen (Garretön 1993: 19). Dabei leiden die demokratischen Regime zunehmend unter Glaubwürdigkeitsverlust, der sich sowohl auf die politischen Führungskräfte, die von ihnen gestalteten Institutionen wie auch ihre Leistungen bezieht. Jenseits von demoskopischen Messungen des Vertrauens in die wichtigsten Institutionen in den Ländern Lateinamerikas4 ist auf diese Entwicklung bei der Anlage des Demokratisierungsprozesses bereits frühzeitig hingewiesen worden (Maihold 1990: 15 ff.; Munck 1993). Nimmt man einfache Indizien der viel bemühten Parteienverdrossenheit, wie die steigende Zahl der "nichtetablierten" Parteien, die Entwicklung der Wahlbeteiligung und die Abnahme der Stammwählerschaft (Rattinger 1993: 24), 3
Die folgenden Ausführungen sind insofern angreifbar, als sie nicht jeden Einzelfall treffen, sie versuchen aber Problemlagen gerecht zu werden, für die sich hinreichende Fallzahlen in Lateinamerika anführen lassen.
4
Vgl. hierzu die von Latin American Weekly Report immer wieder aktualisierten Ziffern, in denen sich seit 1993 dieselbe Tendenz erkennen läßt: Die Zufriedenheit mit den Parlamenten befindet sich auf einem Niveau zwischen 10 und 25%, während die politischen Parteien sich bereits im Negativfeld befinden (vgl. hierzu Nolte 1996: 300f; jüngst auch das Latinobarömetro).
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hinzu, so ist der Befund eines dramatischen Verfalls der Leistungslegitimität der Demokratie und ihrer Institutionen nicht mehr von der Hand zu weisen. Daraus läßt sich die hier vertretene These ableiten, daß im zweiten Abschnitt der politischen Entwicklung der lateinamerikanischen Demokratie ein ernstes Strukturproblem entsteht, das aus der Inkongruenz demokratischer Institutionen mit den zentralen politischen und sozialen Akteuren folgt. Das Format der Akteure entspricht nicht den Anforderungen und Möglichkeiten des geschaffenen institutionellen Rahmens, die Institutionen "erblinden", da sie nicht in der Lage sind, auf veränderte normative und kognitive Erwartungen bzw. neue Umweltbedingungen adäquat zu reagieren (Rüb 1996: 40). Dies ist aber zunächst nicht als Dysfunktion der Institutionen als solche zu verstehen, sondern der fehlenden Entwicklung von Akteursqualitäten in den lateinamerikanischen Gesellschaften zuzurechnen, die nicht notwendigerweise dem institutionell vorgegebenen Format entsprechen (Franco 1993: 52 ff.). Gerade die Wiederbegründung von politischen Parteien nach der autoritären Phase ohne organische und personelle Erneuerung hat den restaurativen Charakter eines politischen Stils geprägt, der zwar extern induzierte Erfahrungen aufnahm, aber nicht den Wandel zu einer demokratischen Institutionalität mitvollzog. Dieses strukturelle Hinterherhinken von Parteien, Verbänden und Interessengruppen hinter den demokratischen Rahmenbedingungen beschreibt heute Krisenphänomene der lateinamerikanischen Demokratien in der Phase der Konsolidierung. Weithin ist zwar eine institutionelle demokratische Ordnung hergestellt und durch Wahlen mit verfassungsmäßigem Regierungswechsel bestätigt, auffällig bleibt jedoch in diesem Prozeß weiterhin der Verbrauch und Verschleiß politischer Optionen, so daß die Erfolgschancen für Außenseiter und politisch unerfahrene "synthetische" Kandidaten steigen. Gleichzeitig unterliegen die Parteien einem Abnutzungsprozeß, der sie von der gesellschaftlichen Dynamik isoliert und zu unorganischem Handeln verführt. Damit erhalten die politischen Prozesse einen unkontrollierbaren, stark personalistischen und akzentuiert klientelistischen Charakter, der zur Vertiefung vorhandener Negativbilder in der Gesellschaft beiträgt. Angesichts der gegebenen demokratischen, manchmal sogar stärker parlamentarisierten institutionellen Ordnung leiden viele Länder unter dem Problem der fehlenden Qualitäten der Akteure, d.h. die Kompatibilität von Rollenvorschriften und institutionellem Potential mit dem Leistungsvermögen der politischen Akteure verursacht neue Krisensymptome, die auch in eine institutionelle Regression münden können. Dies gilt in gleichem Maße für die politischen wie auch die sozialen und ökonomischen Eliten, die mit massiven Problemen der Repräsentativität und der Leistungslegitimität jenseits der nur kurzfristig tragfähigen Wahllegitimität konfrontiert sind. Die Entförmlichung und Informalisierung des politischen Prozesses erzeugt zusätzliche Instabilitätsmomente für die neue institutionelle Ordnung. Neben der fehlenden Bodenhaftung der Parteien, die sich immer weniger lokal zu reproduzieren vermögen, treten neue gesellschaftliche Akteure auf, deren Interventionstiefe oftmals nicht bis auf die nationale Ebene reicht bzw. deren Vielgestaltigkeit keine politische Interessennahme mit verallgemeinerungsfähigen Positionen erlaubt. Dieses Aggregationsproblem beschreibt eine zunehmende Kluft zwischen einer dynamischen politischen Kultur auf lokaler Ebene und einer mit Distanz verfolgten politischen Auseinandersetzung auf nationaler Ebene. Diese neue Desartikulation politischer Interessenvertretung, die neben die steigende Unvereinbarkeit von territorialer und sektorialer Repräsentation 66
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
tritt, macht deutlich, in wie geringem Maße Parteien und parteiähnliche Bewegungen die Ausbildung politischen Führungspersonals jemals betrieben haben. Nur eine stärkere Vernetzung und vertikale Integration der Organisationen der Zivilgesellschaft sowie die Beförderung der Neukonzipierung von Politik- und Parteikonzepten, die heute eher empirischen als geplanten Charakter zu besitzen scheinen, vermag diese Strukturprobleme anzugehen.
III.
Transition zur Demokratie und Transformation der Politik
Vormals gültige Konzepte, die die politischen Regime der Vergangenheit als "Fassadendemokratie" (Torres-Rivas 1987: 161) oder später als "Demokratien niedriger Intensität" (Torres-Rivas 1990:17 f.) einstuften, haben heute neuen Begriffen wie dem der delegativen Demokratie (O'Donnell 1992) Platz gemacht. Die Kontinuität autoritärer Enklaven und die unvollständige Beseitigung der autoritären Vergangenheit tragen in dieser Perspektive während des Prozesses der politischen Transition zu gemischten institutionellen Formen bei, die die Delegation von Herrschaft durch die soziale Ungleichheit weiter vertiefen, womit alle jene Teile der Bürgerschaft marginalisiert werden, die unfähig sind, ihre Interessen wirksam zu repräsentieren; damit wird derduale Charakter der Gesellschaften in der Region verstärkt (Weffort 1993: 134). Jüngst ist erneut die Bedeutung einer gemeinsamen Betrachtung von institutionellen Aspekten und des Handelns der Akteure bei der Analyse von Transitionsprozessen hervorgehoben worden (Nolte 1996: 308 f.; Merkel 1994). Gerade in der fehlenden Entsprechung von institutionellen Rahmen und dem Handlungspotential der sozialen und politischen Akteure kann heute ein entscheidendes Defizit in der demokratischen Wirklichkeit Lateinamerikas geortet werden. Das Format der Akteure kommt nicht mit den institutionellen Arrangements der demokratisierten Gesellschaften zur Deckung, so daß sich spürbare Leistungsdefizite nicht nur bei den politischen Parteien oder Parteiensystemen feststellen lassen, sondern auch eine nur sehr begrenzte Ausfüllung der intermediären Aufgaben von Verbänden und Interessengruppen (Cansino/Alarcön Olguin 1994: 34). In dieser Hinsicht ist die Feststellung von Interesse, daß der Gründungscharakter der neuen Demokratien sich meist nicht auf die zentralen Akteure des gesellschaftlichen Lebens bezieht, sondern vielmehr ein gradueller Prozeß der Einbeziehung all jener Sektoren der Zivilgesellschaft induziert wurde, die zuvor in ihrer politischen Beteiligung eingeschränkt oder gar ausgeschlossen waren (Torres-Rivas 1987: 72). Die Teilhabe jener Akteure die sich zuvor außerhalb der Formalität des politischen Prozesses bewegten, läßt es geraten erscheinen, die Demokratisierung nicht nur in Termini der Institutionalisierung zu begreifen. Vielmehr sind in die Analyse neben die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen dieses politischen Integrationsprozesses auch Kriterien hinsichtlich der Qualitäten der politischen Akteure und deren Weiterentwicklung aufzunehmen. Nicht zuletzt ist daher die Überlegung der Transition als "Transaktion" (Share/Mainwaring 1986) als Verbindung von akteurs- und systemorientierten Elementen ins Blickfeld geraten, die die Handlungskompetenz sozialer Kräfte hervorhebt, um politische Institutionen, Pakte und Allianzen zu begründen (Torres-Rivas 1990: 19).
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Der erfolgreiche Übergang von der Transfer- zur Leistungslegitimität beschreibt die Schwierigkeiten einer erfolgreichen Strategie, die Vertiefung der Demokratie mit dem Prozeß der ökonomischen Konsolidierung zu verbinden. Die "Demokratie des Möglichen" (Lechner 1992: 176) kann zwar zunächst auf einen "Legitimitätsbonus" bauen, "dessen Umfang begrenzt und zudem unbekannt ist, der jedoch kapitalisiert oder verspielt werden kann" (Rovira Más 1993:161). Die Überlastung des demokratischen Verfahrens mit Erwartungen der Bürger hat diese Legitimitätressourcen meist schnell schwinden lassen. Dies stellt die politischen Systeme und die Gesellschaften der Region vor neue Herausforderungen, wenn sie die Legitimität, Effizienz und Stabilität der Regierungsführung als Voraussetzung nachhaltiger Leistungslegitimität der Demokratie sicherstellen wollen (Tomassini 1993:63 ff ). Regierbarkeit ist in diesem Kontext nicht mehr nur als Überhang an Erwartungen zu definieren, sondern bezieht sich auf die Möglichkeit der Regierungen, das Potential der Institutionen und der politischen Praxis in die Fähigkeit zur Definition und Umsetzung von Politiken zu transformieren. Dies bedeutet, Kanäle für Bürgerbeteiligung zu eröffnen und die Begründung neuer kollektiver Identitäten zu fördern, um gerade jene Effekte einer autoritären Transition zur Demokratie (Torres-Rivas 1990: 53) zu überwinden, die ein Gegenüber von Staat und Bürger ohne Vermittlungsinstanzen zur Folge haben. Heute gilt es also, in stärkerem Maße die Inputs des politischen Systems ins Blickfeld zu rücken, die in Gestalt von Forderungen und Unterstützung auf das politische System einwirken, als die Entscheidungen, die als Output, konkret: als Effizienz des politischen Mandates diskutiert werden. Weithin sind die Transitionsprozesse nur unter dem Output-Aspekt betrachtet worden, so daß das notwendige Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen der Bevölkerung und ihrer Unterstützung für das politische Regime aus dem Blickfeld geraten ist. Insofern hat auch der Begriff der Wahllegitimität einen Wandel erfahren: Bezog er sich früher auf die "Sauberkeit" der Wahlen, so steht heute die Frage der Reichweite der sozialen und politischen Unterstützung einer Regierung für den Zeitraum ihres Mandates im Vordergrund. Der rasante Verlust, dem dieses Legitimitätspolster unterworfen ist, hat die Ausweitung plebiszitärer Elemente als Basis einer Relegitimierung in der Verfassungsdiskussion vieler Länder erneut Aktualität gewinnen lassen. Zwar ist das Interesse an einer Öffnung des politischen Prozesses gegenüber der Bevölkerung durchaus verständlich, es bestehen aber große Zweifel, inwieweit direkt-demokratische Elemente die Handlungsfähigkeit der Regierungen tatsächlich verbessern können (Bobbio 1985: 67). Vielmehr wäre von Interesse, die Idee des "öffentlichen" als jenen Raum zu betonen, der die substantielle Beteiligung und Präsenz der sozialen Akteure gegenüber der staatlichen und privaten Ordnung hervorhebt (Portantiero 1989: 93); allerdings ist in dieser Hinsicht die lateinamerikanische Diskussion ebenso verkürzt, wie dies für den gesamten Bereich der Diskussion des GemeinwohlGedankens gilt (Rosenberg 1985).
111.1. Von der Transition zur Konsolidierung der Demokratie Die Analyse der Transitionsprozesse hat zur Festlegung von drei Entwicklungsabschnitten geführt: der Liberalisierung, der Demokratisierung und der demokratischen Konsolidierung. Während sich Liberalisierung auf den Raum der führenden Eliten bezieht, 68
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
um eine kontrollierte demokratische Öffnung ohne größere Spielräume für politische Partizipation unter Gewährung individueller Persönlichkeitsrechte zu induzieren (O'Donnell/Schmitter 1986: 7), umfaßt Demokratisierung das erfolgreiche Funktionieren all jener demokratischer Institutionen, die die politische Konkurrenz und eine breite Bürgerbeteiligung sicherstellen. Als Minimalstandard werden freie und geheime Wahlen, ein kompetitives Parteiensystem und das allgemeine Wahlrecht angesehen. Im Unterschied zur Liberalisierung, die eine Verminderung der Repression und die Erweiterung der Freiheitsrechte als Teil der Modifizierung eines autoritären Systems beschreibt, stellt die Demokratisierung einen Regimewechsel dar, der sich auf die Durchsetzung demokratischer Prinzipien in den bestehenden Institutionen bezieht; zudem sollen neue Institutionen wachsen, diefürdas demokratische Leben und den Zugang von Personen und Organisationen unverzichtbar sind. Dies bedeutet sowohl eine Öffnung gegenüber bislang marginalisierten Gruppen, aber gleichzeitig auch die demokratische Kontrolle ziviler Instanzen über das Militär. Auf der Grundlage dieses Ansatzes hat sich die Gleichsetzung von Demokratisierung mit demokratischer Institutionalität ergeben (Rüb 1994:111 ff.), die gerade heute angesichts sich ausweitender Probleme in der Regierbarkeit zum Gegenstand politischer Kritik geworden ist. Die demokratische Konsolidierung ist auch als zweite Transition bezeichnet worden angesichts ihres komplizierten und langwierigen Charakters (O'Donnell 1992a: 18). Als konsolidierte Demokratien werden jene Systeme bezeichnet, bei denen von der Akzeptierung demokratischer Verfahren beim Regierungswechsel durch die wichtigsten politischen Akteure ausgegangen werden kann; zudem weisen die institutionellen Strukturen keine nichtdemokratischen Enklaven auf, und es hat sich eine angemessene Artikulierung der Zivilgesellschaft durch die politischen Parteien innerhalb des demokratischen Verfahrens eingestellt. Die Reproduktion der demokratischen Institutionalität verbunden mit der Erweiterung demokratischer Verfahrensweisen auf das soziale Leben sollte dann zu einem neuen politischen Stil geführt haben, der eine klare Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Interessen im Regierungshandeln sicherstellt (O'Donnell 1992a: 48). Bei erreichter Konsolidierung wird von einer sehr begrenzten Möglichkeit autoritärer Regressionen ausgegangen, sei es in Form des klassischen Militärputsches oder auch der zunehmenden Einschränkung von Handlungsspielräumen staatsbürgerlichen Handelns und in der Geltung der klassischen liberalen Grundrechte. Bei der Expansion demokratischer Verfahren in Bereiche, die bislang von autoritären Kalkülen dominiert waren, treten die politischen Akteure den vested interests etablierter Machtfaktoren entgegen und müssen gleichzeitig die Indifferenz in der Bevölkerung angesichts der sich vertiefenden wirtschaftlichen Krise berücksichtigen. Hier erhält die Frage nach der Möglichkeit einer "Demokratie ohne Demokraten" eine besondere Bedeutung, zumal der politischen Kultur aufgrund ihrer langfristigen Anlage keine unmittelbare Wirksamkeit für den Konsolidierungsprozeß selbst zuerkannt wird. Gleichwohl besitzen Einstellungen und Werthaltungen ebenso wie die Positionierung der signifikanten Akteure zentrale Bedeutung für einen erfolgreichen Konsolidierungsprozeß. Angesichts der Multiplizierung und Diversifizierung sozialer Akteure wird die strukturierte Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft zum zentralen Thema dieser Phase (Puhle 1994: 176). Die Vermittlung zwischen Interessen, Identitäten und Konflikten, die in der Phase der Demokratisierung virulent wurden, kann sich nicht auf die Konstruktion repräsentativer Institutionen beschränken, sondern muß zunehmend ihre
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Leistungsfähigkeit und ihre Öffnung zu weiteren gesellschaftlichen Bezugsgruppen im Auge behalten (O'Donnell 1992a: 38). Unter dem Gesichtspunkt der Herausforderung, die ein erfolgreicher Prozeß demokratischer Konsolidierung erfüllen muß, sind drei grundlegende Dilemmata erarbeitet worden: - Konflikt vs. Konsens: Hierbei steht die Verarbeitung von kritischen Niveaus, von Wettbewerb und von Konflikten im Vordergrund, die ohne geeignete Vermittlung die Funktionsfähigkeit der Demokratie beeinträchtigen könnten. - Repräsentativität vs. Regierbarkeit: Der Interessenausgleich, bezogen sowohl auf die Zahl wie auch das Gewicht der vertretenen Interessen, muß in stabilen Demokratien so geregelt werden, daß keine politische Handlungsunfähigkeit oder eine Abschottung von der Gesellschaft befürchtet werden muß. - Effizienz der Regierungspolitik vs. gesellschaftliche Akzeptanz: Auch hier geht es um die Suche nach dem notwendigen Gleichgewicht zwischen der Effektivität des politischen Mandates und der Begründung einer demokratischen politischen Kultur, die "deadlock"-Situationen und institutionelle Blockaden vermeidet (Diamond 1990: 48 ff.). Damit müßten in dieser Phase der politischen Entwicklung auch all jene Elemente paktierter Transitionen aufgelöst werden, die spezifische Gruppenrechte garantierten (Valenzuela 1992: 84 ff.). Nach wie vor bestimmen partielle Konsolidierungen das Bild in Lateinamerika. In Begriffen von Legitimität und Autonomie ausgedrückt bedeutet dies, daß die gesellschaftlichen Vermittlungsinstanzen die Behauptung einer sozial anerkannten Identität nicht erreichen konnten und die Legitimität der Regimestrukturen auch weiterhin einem staatszentrierten Muster der Bindung gesellschaftlicher Kräfte folgen (Cansino/Alarcön Olguln 1994: 44 ff.). Den Parteien und ihren Beziehungen zu den Interessengruppen kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer Autonomie gegenüber den Interessengruppen und Verbänden als auch hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit für die Ausübung der gesellschaftlichen Vermittlerrolle. Ihre Entfernung von den Prozessen der Politikformulierung und Implementierung und das Fehlen einer effektiven Repräsentationsfunktion verkomplizieren die Konsolidierungsprozesse in Lateinamerika nachhaltig (Cansino/Alarcön Olguin 1994: 53). Eine nur sektorale Reichweite und ein konfliktiver Modus des Konsolidierungsprozesses verbunden mit einer nur eingeschränkten Beteiligung der gesellschaftlichen Gruppen sind Elemente einer in Lateinamerika dominanten niedrigen Konsolidierung des demokratischen Systems, die jedoch durchaus durch die Komplementarität verschiedener Repräsentationsformen kompensiert werden kann. Während die zentralen Akteure im Transitionsprozeß die Parteien sind, kann die demokratische Konsolidierung als entscheidend geprägt von den Interessengruppen und deren Rolle der nachholenden Pluralitätsbildung betrachtet werden (Schmitter 1992: 431 f.; Sandschneider 1995: 745). Damit erhält die Vernetzung partialer Repräsentationselemente eine größere Bedeutung als die für den Transitionsprozeß maßgebliche Monopolisierung der Repräsentationsfunktion durch die Parteien. Trotz der immanenten Gefahr einer Fragmentierung enthält die Art der Beteiligung breiter gesellschaftlicher Gruppen ein entscheidendes Element für die Qualität der Demokratie, die aus dem Zusammenwirken von gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und sozialen Bewegungen bestimmt wird. Repräsentation stellt sich damit nicht als Nullsummenspiel zwischen sozialen Gruppen und öffentlichen Instanzen dar (Schmitter 70
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1992: 433ff.), sondern als erweiterbare Ressource politischer Legitimität auf der Grundlage des Zusammenwirkens von funktionaler, territorialer und politischer Repräsentation (Córdoba Macias 1995: 20 f.). III.2.
Neues Politikverständnis und neuer politischer Stil?
"Lateinamerika ist ein Kontinent von Akteuren ohne Aktionen... Die Soziologen werden immer mehr von der Heteronomie der sozialen Akteure überrascht, die entweder einem Staat national-populistischen Typs oder ökonomischen Entscheidungen von außerhalb des Kontinents untergeordnet sind" (Touraine 1988: 469). Diese Einschätzung weist auf jenen Sachverhalt hin, den Manuel Antonio Garretón (1995:17ff) als ambivalente Transitionen bezeichnet hat, die ohne institutionellen Bruch mit der Kontinuität autoritärer Enklaven ablaufen oder einer umfassenden politischen Demokratisierung Platz machen. Sein Plädoyer für politisches Handeln in der Phase der Konsolidierung setzt sich daher aus drei Elementen zusammen: -
Stärkung des Staates durch eine Reform staatlichen Handelns in Gestalt der Modernisierung, Dezentralisierung und Reorganisation mit der Eröffnung neuer partizipativer Chancen; Stärkung von Repräsentation der Gesellschaft und ihrer Partizipation durch Aufbau eines starken Parteiensystems, das sich durch seine Offenheit, interne Demokratisierung und Konzertierungsqualitäten auszeichnet; Verdichtung der Zivilgesellschaft sowohl gegenüber dem Staat wie auch gegenüber dem Parteiensystem mit dem Ziel, nicht nur eine stärkere symbolische Integration sondern eine reale Problemlösungsfähigkeit herzustellen.
Diese gleichzeitige Dynamisierung der bislang eng miteinander verknüpften Elemente eines sozialpolitischen Bedingungsgeflechts unter staatlicher Ägide orientiert sich zunächst am Ziel größerer Autonomie und Pluralität. Allerdings hat sich dabei erwiesen, daß die Gemeinsamkeit hinsichtlich demokratischer Verfahrensweisen unzureichend ist, um die fehlenden Grundkonsense zu garantieren, die soziale Unzufriedenheit und gesellschaftliche Desorganisation auffangen könnten. Das grundlegende Mandat bezieht sich daher auf soziale Integration und Demokratisierung und auf den Übergang von Pluralität zu Pluralismus, um auf diese Weise die demokratische Wirklichkeit zu vervollständigen und auszudehnen (Garretón 1991a: 56). Die Suche nach einer neuen Demokratie stellt sich insofern als prekär dar, als Akteure und Institutionen nach außen hin in ihrer Form sich nicht verändert haben. Materiell ist die Transformation der Politik vor allem für die Gemeinschaft der Bürger spürbar, die sich in einer allgemeinen Politikverdrossenheit (desencanto) und der Abwendung von den etablierten Formen von Politik ablesen läßt. Die bestehende Institutionalität kann daher trotz der vorgenommenen Neustrukturierung nicht die konfliktive Wahrnehmung der Bürgerrechte administrieren (Lechner 1994:34); die soziale Integration, die gerade als Element der Transition verstanden wird, bleibt prekär. Demokratie scheint die Desintegration als Folge der ökonomischen Prozesse nicht kompensieren zu können, die soziale Fragmentierung und die Auflösungstendenzen des sozialen Lebens werden durch die Folgen des Strukturanpassungsproblems vertieft (Lechner 1991: 212). Kollektive Identitäten ethnischer, sozialer oder territorialer Fundamentierung werden zunehmend geschwächt, und deren präkonstitutive Inhalte verlie71
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ren ihre soziale Kohärenz (Lechner 1995: 64). Die politische Integration des sozialen Lebens durch die Demokratie und die Wiederherstellung der comunidad treffen auf Vermittlungsinstanzen, die ihre politische Filterfunktion zur Zusammenführung divergierender Interessen immer weniger wahrzunehmen vermögen. Populismus und Fundamentalismus können daher als neue Formen sozialer Integration und kollektiver Identität Platz greifen, zumal die neuen sozialen Bewegungen aufgrund ihres reaktiven Charakters und des Fehlens innovativer Integrationsmechanismen als komplementäre Instrumente ausfallen (Lechner 1991:227). Die institutionalisierte Politik verliert damit ihren Charakter und ihre Fähigkeit zur Kontrolle sozialer Prozesse, auch wenn in der politischen Kultur sich der Primat der Politik fortsetzt. So geht unter dem Gesichtspunkt des politischen Prozesses zwar die Zentralität der Politik als maßgebliches Subsystem zur Integration der Gesellschaft verloren und macht einer polyzentrischen Koordinationsleistung Platz; in den Erwartungen der Bevölkerung dauern jedoch die Regelungsansprüche an die Politik fort (Lechner 1995: 64). Ob es sich bei diesem Phänomen eher um ein Wahrnehmungs- oder ein Kompetenzproblem bei der Beurteilung des Politikversagens handelt, kann in diesem Kontext vernachlässigt werden. Maßgeblich bleibt die festzustellende Distanzierung des Bürgers von der politischen Institutionalität und ein sich vertiefender Prozeß des Rückzugs in das private Leben. Die Restrukturierung von öffentlicher und privater Sphäre beinhaltet das Vordringen von Marktgesetzen in den öffentlichen Bereich, während sich die Ausübung der Bürgerrechte zunehmend "privatisiert". Die Politik verliert damit ihre Stellung als Zentrum gesellschaftlicher Steuerung, ein Wandel, der durch ein Neuarrangement des demokratischen Institutionsgefüges nur teilweise aufgefangen werden kann. Die institutionelle Fassung dieser Gesellschaften gerät dort an ihre Grenzen, wo die normativen Grundlagen nurmehr verfahrenstechnischen Charakter besitzen, deren eingeschränkte Wertbasis unzureichende Integrationsleistung angesichts der Pluralisierung von individuellen Lebenswelten und milieubestimmten Wertegemeinschaften erbringt (Bermbach 1995). Mit der Beeinträchtigung der vertikalen Responsivität zwischen Bürgerinteressen und institutioneller Struktur erhält die politische Aggregationsleistung als Systemimperativ neue Bedeutung. Die Suche nach Stabilität und Schutz angesichts der fragmentierten kollektiven Identitäten und der sich auflösenden Werthorizonte bedingen, daß die Politik nurmehr als polyzentrische Integrationsleistung verstanden werden kann, die auf "tiefgestaffelten, mehrstufig aufeinander bezogenen Prozessen der Willensbildung" (Bermbach 1995: 291) aufbauen muß. Im lateinamerikanischen Kontext bedeutet dies die Suche nach neuen Formen von Integrationsmechanismen ethnisch heterogener, multikultureller und informalisierter Gesellschaftsgruppen, die sich in zunehmendem Maße aus der politischen Institutionalität hinausbegeben haben oder marginalisiert wurden. Die Verknüpfung partizipativer Modelle auf lokalem, regionalem und nationalem Niveau scheint in immer geringerem Maße von politischen Parteien oder sozialen Bewegungen leistbar zu sein. Am besten vermögen hier noch Interessengruppen wegen ihres single-issue-Ansaizes zu agieren. Weithin schwanken jedoch die Formen der politischen Beteiligung zwischen Engagement und Rückzug als Folge der Dominanz individueller Kalküle oder stark differenzierter Identitäten. Eine Rückkehr zu alten - viele Interessenlagen übergreifenden - Loyalitätsmustern ist durch die Deinstitutionalisierung der etablierten Mechanismen der Interessen72
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
artikulierung weithin blockiert. Die neue Pluralität von einzelnen - nur schwierig verallgemeinerungsfähigen - Interessen findet in den bislang vorherrschenden Instituten verfaßter Partizipation (Parteien) kaum mehr Platz, so daß eine Entlastung der politischen Repräsentationsbeziehungen nur durch die Bereitstellung neuer Kanäle und Strukturen der Beteiligung möglich wird. Dies bedeutet, daß die Unterforderung der Bürger durch den Akt der Wahl bei gleichzeitiger Überforderung der Politiker (Welzel 1995: 146) in einer strikt repräsentativen Demokratie parteipolitischer Ausprägung aufgefangen werden muß durch eine multidimensionale Responsivität zwischen Entscheidungsträgern und kurz- bzw. mittelfristigen Interessensgruppierungen der Zivilgesellschaft.
III.3.
Demokratiekonzepte und die Entdeckung der aktiven Staatsbürgerschaft
Die Diskussion über die Leistungsfähigkeit der demokratischen Systeme Lateinamerikas ist in hohem Maße davon abhängig, was unter Demokratie verstanden wird. Dies gilt besonders für alle Ansätze, die über das Demokratiekonzept von Robert Dahl hinausgehen. Allerdings kann diese Position nicht zu einer Immunisierung der Verfassungswirklichkeit von working democracies führen, die dann jeglicher Kritik die Legitimität abspricht (so etwa Nohlen/Thibaut 1993:4f). Eine Abgrenzung der lateinamerikanischen Demokratie als degenerierte Form eines reinen Typus der Demokratie ist sicherlich aufgrund ihres teleologischen Charakters wenig hilfreich (O'Donnell 1996). Allerdings erscheint es durchaus zulässig, den Begriff Demokratisierung auch jenseits des Bereiches anzuwenden, der den klassischen Kern des Konzeptes von Dahl überschreitet. Eine Beschränkung auf das Minimum "technischer" Spielregeln kann leicht den Blick auf den hinter diesen stehenden Sinn des demokratischen Verfahrens "und damit auch den Kontakt zum normativen Alltagsverständnis von Demokratie und zu den politischen Diskursen, in denen über reale oder vermeintliche Demokratiedefizite gestritten wird" (Scharpf 1993: 26), verstellen. Dies wird nicht zuletzt am lateinamerikanischen Beispiel dadurch begründbar, daß die Idee der Demokratie traditionell an ein ethisches Prinzip der Integration oder sozialen Demokratisierung gebunden ist, d.h. der Eliminierung von Ungleichheiten und der Beteiligung der Bevölkerung an den sie betreffenden Entscheidungen (Garretón 1991a: 51). So nimmt es nicht wunder, wenn in Brasilien Demokratie eng mit dem Begriff paträo verbunden ist und damit einen stark paternalistischen Unterton besitzt. In Uruguay meint Demokratie vielfach die Fortsetzung der traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die angesichts der Wirtschaftskrise an ihre Grenzen geraten, während in Argentinien Demokratie eng verbunden ist mit der Erwartung an eine starke Regierung nationalistischer Ausprägung (Wiarda 1995:96). Von diesen nationalen Ausprägungen des Demokratieverständnisses abgesehen, die in enger Beziehung zu den tradierten Entwicklungskonzepten stehen, haftet der heutigen Demokratiediskussion eine konservative Orientierung an. Weithin wird eine Neutralität der politischen Institutionen hinsichtlich des Entwicklungsmodells unterstellt (Lechner 1991:216), die nicht zuletzt der Entstehung der Transition aus einer Haltung des "nunca más" angesichts der erfahrenen Menschenrechtsverletzungen sowie der Akzeptanz von Demokratie "by default" geschuldet ist (Whitehead 1993:317). Die Ergänzungen des offenen, pluralistischen Demokratiemodells 73
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durch die Elemente der nationalen Autonomie der Länder Lateinamerikas, eines abweichenden nationalen Integrationsniveaus, eines höheren Ranges des Prinzips der Sozialstaatlichkeit und eines anderen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft (Mols 1985: 37f.) lassen eine Begrenzung der Demokratiediskussion in Lateinamerika auf eine Wahldemokratie nicht zu. Vielmehr muß es bei der Weiterentwicklung demokratischer Bedingungen in der Phase der Konsolidierung darum gehen, jene Bereiche zu beschreiben, in denen sich heute eine lebendige Demokratie umzusetzen vermag. Mit dem Verlust an Bindungswirkung für kollektive Identitäten und der Abdrängung des Bürgers in das Privatleben als Folge der Individualisierung und der Durchsetzung der Marktgesellschaft erhalten individuelle Kategorien größere Bedeutung. Die Wiederentdeckung des Bürgers und seiner Rechte gegenüber dem Staat (liberale Tradition) wird dabei verbunden mit einem Konzept der Staatsbürgerschaft, die den Staat als symbolische Gesamtsumme der Gemeinschaften auffaßt (kommunitaristische Tradition) (Lechner 1995: 65). Der gemeinsame rechtliche Status als formal definierte Rechte und Pflichten hat sich als Minimalkonsens zwischen den verschiedenen Visionen von aktiver Staatsbürgerschaft etabliert. Während von konservativer Seite gerade im Begriff des Staatsbürgers die integrative Dimension durch moralische Werte und soziale Verantwortlichkeit gefunden wird, weisen eher sozialdemokratisch motivierte Ansätze ein Konzept der sozialen Staatsbürgerschaft aus, das auf der Basis einer Grundausstattung von sozialen Leistungen effektive Bürgerschaft erst möglich machen soll (Miller 1995: 433). Die Venwendung des Konzepts der Staatsbürgerschaft folgt den bezeichneten Interessen: Während einerseits der rationale Konsument öffentlicher Güter hervorgehoben wird, steht auf der anderen Seite die aktive Beteiligung am politischen Leben im Vordergrund. Auch die Kategorie des empowerment vermag die unterschiedliche politische Auffassung des Begriffs der Staatsbürgerschaft nicht aufzulösen: Während die einen in der Einbindung des Bürgers in Marktbeziehungen die Chance zu einer verantwortlichen und autonomen Bürgerschaft erkennen, fordern die anderen die moralische Verpflichtung des Staates ein, um allen Bürgern den Zugang zu ihren Rechten zu ermöglichen (Zapata 1996:86). Die analytische Unterscheidung zwischen der Sphäre von Autonomie und der Sphäre für die Autonomie macht die Breite der Positionen hinsichtlich der Verbindung von aktiver Staatsbürgerschaft mit politischer Identität deutlich. Sie bilden gleichzeitig auch die Basis für eine neue Form von Politik, die gerade auf die Konstruktion von politischen Identitäten abhebt, die nicht mehr aus den traditionellen Loyalitätsbindungen gespeist werden, sondern auf den verschiedenen Facetten der Individualität beruhen. Gleichwohl haftet der daran anschließenden Diskussion ein Großteil jener Fallstricke an, die aus der Gegenüberstellung von formaler und substantieller Demokratie folgen. Obwohl diese Alternative als weithin überwunden betrachtet werden kann, tritt sie heute in neuer Gestalt wieder auf: Die Differenz zwischen der formalen Demokratie - verstanden als leere Hülse - und der wahren Demokratie, die sich aus der direkten Beziehung zwischen Bevölkerung und politischem Führer ergibt, findet sich bei jenen neuen Politikern wieder, die im Gefolge der Durchsetzung personalistischer Systeme (Fujimori in Peru) in die Politik eingerückt sind. Die formale Demokratie als Ausdruck von Regeln und Verfahrensweisen steht dann einer substantiellen Demokratie als Verkörperung der Zwecke des "guten Regierens" gegenüber, wobei letztere ohne Repräsentationsfor-
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men auskommen kann (Grompone/Mejia 1995: 54 ff.). Damit verbunden ist ein Konzept der Übertragung genereller Vollmacht auf einen politischen Treuhänder, dessen Handeln von vornherein von Kontrollen, Partizipationsmechanismen oder anderen Verpflichtungen freigestellt wird. Die Personalisierung dieser Repräsentation der nationalen Einheit gegenüber partikularen Interessen in der Gestalt des Präsidenten verweist die Ausübung der aktiven Staatsbürgerschaft noch weiter in den Bereich der Marktgesellschaft hinein und reduziert das Partizipationsinteresse auf eine symbolische Präsenz der Wahldemokratie, so daß der Bürger als Teil einer sich entfaltenden Zivilgesellschaft seines eigenen Beteiligungsinteresses enthoben wird. Demgegenüber versucht ein Konzept der aktiven Staatsbürgerschaft im Kontext der Stärkung der Zivilgesellschaft, dem Interesse an einer Beteiligung der Person in ihren multiplen Identitätsrollen am politischen Leben gerecht zu werden. In republikanischer Absicht steht weniger die Verteidigung des autonomen und rationalen Individuums im Vordergrund als vielmehr der Aufbau eines vielfach gestaffelten Systems politischer Beteiligungsformen. Aktive Staatsbürgerschaft rückt damit jenseits ihrer liberalen Komponente in die Leerstelle der sozialen Integration moderner Gesellschaften ein, um durch die Multiplizität von aktiven und inaktiven (aber aktivierbaren) Beteiligungsformen die Voraussetzung für eine lebendige Demokratie zu schaffen. Um das demokratiestützende Potential einer aktiven Staatsbürgerschaft zu mobilisieren und in vielen Ländern auch erstmals die Wahrnehmung von Bürgerrechten für breite Bevölkerungskreise nach jahrzehntelanger Marginalisierung zu ermöglichen, muß eine Hauptaufgabe darin bestehen, "robuste Subjekte" (Fuentes/Sánchez 1995: 25) zu schaffen, die in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu bestimmen und deren Befriedigung auf der Basis ihrer Ressourcen und lokalen Kultur zu verfolgen. Damit erscheint der Bereich des Lokalen als unmittelbarer Raum der Erfüllung von ciudadanía, ohne daß daraus gleich die Schlußfolgerung zu ziehen wäre, aktive Staatsbürgerschaft finde ihre Grenze in der Kommunalpolitik. Unter dem Gesichtspunkt einer Vertiefung der politischen Demokratisierung folgt daraus eine Betonung von Formen der Bürgerbeteiligung und eine Stärkung der lokal zu lösenden politischen Steuerungsaufgaben. Dezentralisierung und Förderung der kommunalen Selbstverwaltung finden hier ihren unmittelbaren Ort der Gewährleistung von Chancen zur Umsetzung aktiver Staatsbürgerschaft, politische Initiativen wie die Ley de Participación Popular in Bolivien, tragen diesem Anliegen Rechnung. Allerdings begreift dieses Gesetz (ILDIS 1994:11ff.) seine Aufgabe gerade darin, die repräsentative Demokratie durch partizipative Elemente zu ergänzen. Beteiligungschancen werden zwar erweitert, es wird aber weniger der individuelle als der kollektive Charakter von als homogen unterstellten Gruppen anvisiert. Man versucht, sowohl den traditionellen Organisationsformen der indigenen Bevölkerung zu entsprechen als auch neuen Artikulationseinheiten (organizaciones territoriales de base sowie comunidades indígenas und juntas vecinales) rechtliche Gültigkeit zu verleihen. Die Anerkennung des Konzeptes der aktiven Staatsbürgerschaft bedeutet insofern den Auftrag an die Politik, zur Bildung und rechtlichen Konstituierung sozialer Akteure beizutragen und effektive Beteiligungsformen sicherzustellen (Aguilera et al. 1994). Oftmals werden daraus zwei Einwände erhoben: Für Sandschneider ist eine solche Expansion von Beteiligungsformen nur auf Ebenen geringer Komplexität wie der Kommunalpolitik mit wachsenden Kompetenzproblemen möglich (Sandschneider 1995: 748); 75
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von Alarcön und Olguin wird eine Substitution der politischen Parteien durch die Expansion der aktiven Staatsbürgerschaft unterstellt (Alarcön/Olguin 1996: 25). Ist also aus der ciudadanizaciön der Politik die Folgerung zu ziehen, daß mit weniger Staat und ohne politische Parteien bessere Ergebnisse zu erzielen seien? Sicherlich kann davon ausgegangen werden, daß effektive Staatsbürgerschaft zu einer Verringerung von Parteienherrschaft führt, die in vielen Ländern der Region noch maßgeblich ist. Dies bedeutet aber nicht, neuen Stimmen Vorschub zu leisten, die sich für eine Substitution politischer Parteien durch nichtstaatliche Organisationsformen, gar in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen aussprechen. Eine Revitalisierung der politischen Repräsentation über die traditionelle parteizentrierte Form hinaus und ihre Kontextualisierung mit neuen Formen sozialen und politischen Ausdrucks ist in geeigneter Weise in der Lage, adäquate Niveaus der Institutionalisierung und sozialer Kohäsion zu schaffen. Der Beitrag der politischen Parteien und anderer gesellschaftlicher Gruppen sollte daher verstanden werden in Richtung einer Transformation "imaginärer" Bürger in "reale" Bürger (Alarcön Olguin 1996: 26).
IV.
Eine neue Architektur von Staatlichkeit in Lateinamerika? - Staat und Zivilgesellschaft
Die Charakterisierung einiger Ausprägungen demokratischer Regime als delegative Demokratien betont einen traditionellen Zug der lateinamerikanischen politischen Kultur. Politik ist in dieser Region meist mehr unter dem Blickwinkel von Partizipation - oder Nicht-Partizipation - verstanden worden als von Repräsentation (Touraine 1989:138), was nicht zuletzt der begrenzten Autonomie der sozialen Akteure und der Parteien gegenüber dem Staat geschuldet ist. Obwohl sich die Parteien intensiv um die Gestaltung der neuen institutionellen Ordnung bemüht haben, ist ihre unzureichende Ausführung der Rolle einer intermediären Instanz zu beklagen, was in dem schwierigen Moment der demokratischen Konsolidierung ein nachhaltiges Defizit darstellt (Alcántara 1993:140). Mit der Betonung der aktiven Staatsbürgerschaft und der Zuweisung ihres unmittelbaren Handlungsfeldes auf den lokalen Raum wird von manchen Autoren eine "Munizipalisierung" des politischen Lebens befürchtet (Murillo 1993:9), da sich in diesem Bereich der unmittelbare Kontakt zwischen Staat und Bürger ergäbe. Die Gefahren eines solches Lokalismus für die Rekrutierungsmuster und die Einübung des politischen Stils sind nicht zu unterschätzen, wenn man die durchaus konfliktive Beziehung zwischen der Bindung an ihren Wahlkreis und der parteipolitischen Loyalität bei vielen Abgeordneten in Lateinamerika nimmt. Allerdings läßt sich gerade mit dem Eintreten in die zweite Phase des Anpassungsprozesses in Lateinamerika ein größeres Maß an Anforderungen an die Gestaltungsfähigkeit der Regierungen und politischen Akteure erkennen (Haldenwang 1996). So tritt in dieser neuen Stufe der Strukturanpassungspolitik vor allem das Interesse an der Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die Erhöhung der Effizienz staatlicher Regulierung und die Verbesserung der sozialen Lage in den Vordergrund, ohne daß die Erfolge der Phase der stabiliserenden Anpassung in Gestalt der makroökonomischen Stabilität aufs Spiel gesetzt werden dürften. Während die exekutive Umset-
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Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfahigkeit der Demokratie
zung der stabilisierenden Anpassung eine relative Isolierung von den Verwerfungen des politischen Systems ermöglichten und dieses Programm von einem kleinen Kreis von Entscheidungsträgern implementiert werden konnte, ist für die zweite Stufe der Anpassung in Lateinamerika, die sich auf Fragen der politischen Legitimierung bezieht, mit einer größeren Anzahl an Akteuren zu rechnen. Die Fähigkeit zur Erzielung von Kompromissen wird erforderlich (Naim 1994: 36 f.). Die Suche nach dem politischen Konsens soll dabei unter Ausschluß einer Überpolitisierung durch implizite und explizite Vereinbarungen erzielt werden, so daß gesellschaftliche Forderungen und Konflikte politisch verarbeitet und in neue Formen staatlicher Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft überführt werden können. Neue Regulierungsformen beziehen sich dabei insbesondere auf die Dezentralisierung staatlicher Kompetenzen, die Durchsetzung neuer Formen monetärer Steuerung, die Herstellung größerer Effizienz in der Regierungsverwaltung sowie die Etablierung von Netzwerken zur Regulierung bestimmter Politikfelder. Damit verlagert sich das Interesse der politischen Gestaltung von der Makro- zur Mesoebene, wo Staat und gesellschaftliche Akteure gezielte Unterstützungspolitiken aushandeln und die gesellschaftliche Strukturbildung vorantreiben. In diesem Handlungsfeld treffen staatliche Institutionen, Unternehmen und intermediäre Organisationen zusammen, um auf der Basis geteilter Souveränitäten vorhandene Steuerungsressourcen zu potenzieren. Die Reichweite dieser Vernetzung erstreckt sich von der Problemwahrnehmung bis zur Implementierungskompetenz. Gerade in den lateinamerikanischen Gesellschaften ist jedoch die Strategiefähigkeit der Akteure, die nationale Kohärenz sowie die notwendige Vertrauensbasis für diese Art gesellschaftlicher Steuerung oftmals prekär (Eßer et al. 1995: 196 f.). Die Gewährleistung dieser Voraussetzung kann daher nur durch die Öffnung politischer Prozesse für die Vielzahl der Akteure der Zivilgesellschaft hergestellt werden. Dabei soll nicht auf die meist fruchtlose Diskussion über Wesen und Gehalt von Zivilgesellschaft eingegangen werden (Gudynas/Santandreu 1996). Vielmehr reicht der Hinweis darauf, daß Zivilgesellschaft als Gesamtheit von organisierten Interessen einen Prozeß der vertikalen Integration durchlaufen muß (López 1990: 92 ff.), wenn sie nicht nur eine Expansion partikularer Interessen darstellen will, die einer übergreifenden Politikfähigkeit weithin entbehrt. Erfahrungen in der vertikalen Integration und politischen Artikulation zivilgesellschaftlicher Akteure in Gestalt der Asamblea de la Sociedad Civil in Guatemala (Aguilera 1994) sowie der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen in regionalen Integrationsprozessen weisen auf Chancen einer ergänzenden Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an Entscheidungsprozessen hin, die eine Öffnung traditioneller staatlicher Entscheidungsprozesse ermöglichen. Die Reform des Staates als zweite Stufe der Anpassung bewegt sich damit auf eine neue Architektur in seiner Beziehung zur Gesellschaft hin. Überkommene Positionen des Staates als einfache Herrschaftsagentur, die es zu zerstören gelte oder derer man sich bemächtigen müsse, haben heute ihre Berechtigung verloren. Gleichermaßen kann Staatlichkeit nicht nur als neutrales Instrument - zusammengesetzt aus einer Ansammlung von Institutionen und Organisationen im Dienste einer technokratischen Elite - verstanden werden, sondern muß als polyvalente und multidimensionale Integrationsleistung aufgefaßt werden (Garretön 1995: 7). Die autoritative Schlichtung von Interessenkonflikten macht zunehmend verhandelten Lösungen Platz, die zwar die 77
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demokratische Verantwortlichkeit verwischen, aber angesichts einer fragmentierten, konfliktanfälligen politischen Kultur mittelfristig tragfähiger erscheinen. Die Gegenüberstellung von Staat und Zivilgesellschaft in ihren unterschiedlichen Ausprägungen (Korporativismus, Klientelismus, Etatismus, Blockadehaltungen) vermag insofern wenig über die Leistungsfähigkeit der neuen Architektur auszusagen, wenn deren Potential gerade in der Verschränkung der Steuerungsressourcen zu finden ist.
V.
Interessenvermittlung, politische Konfliktaustragung und Institutionenordnung
Mängel in der Steuerung der lateinamerikanischen politischen Systeme sind nicht zuletzt auf die anhaltende Prägung der sozio-politischen Beziehungen in Lateinamerika durch eine staatszentrierte Anlage zurückzuführen, in der Staat, System oder politische Akteure und Zivilgesellschaft entweder eng miteinander verschränkt oder einander untergeordnet bzw. unterdrückend agierten (Garretön 1991: 64). Diese Bindung an die staatliche Zentralität beschränkt die Funktion der Parteien auf die Rolle einer Vermittlung von Partikularinteressen, die ihre eigentliche Repräsentationsfunktion zur Stabilisierung des politischen Systems einschränkt. Mit der Auflösung dieses Komplexes im Kontext des Endes der Importsubstitutionspolitik und der Fiskalkrise des Staates wird eine Zivilgesellschaft "freigesetzt", die eine globale Krise der politischen Repräsentation jenseits schon erreichter Niveaus der Institutionalisierung oder der Reife der politischen Kulturen bedingt (Paramio 1992: 269). Diese Krise der traditionellen sozialen Akteure als Folge der Erosion ihrer politischen Ressourcen bedeutet jedoch nicht das gleichzeitige Entstehen neuer Akteure, die deren Funktion wahrnehmen könnten. Vielmehr scheint sich trotz der ökonomischen Krise in Lateinamerika keine Ausweitung der sozialen Bewegungen als Reaktion auf ihre prekären Überlebensbedingungen einstellen zu können, sondern eine Zerstörung kollektiver Ausdrucksformen und unwirksamer defensiver Haltungen innerhalb der Bevölkerung (Calderön/dos Santos 1992: 187). Die traditionellen Kanäle der sozialen Akteure zur Verarbeitung ihrer Konflikte und Interessen in staatliches Handeln verstopften als Folge der Anpassungsprogramme und der Reduzierung des Staatsapparates, so daß diese Akteure neue Formen der Repräsentation gegenüber einer sich autonomer darstellenden Zivilgesellschaft und eines eingeschränkten Zugangs zum bürokratischen Apparat finden müssen. Parteien und Verbände befinden sich damit vor neuen Herausforderungen in der Wahrnehmung ihrer Repräsentationsfunktionen. Hatten sie bislang die Interessen begrenzter Eliten "in den Staat hinein" vermittelt, so stehen sie nun vor der Unmöglichkeit, breiten Gruppen der Bevölkerung den Zugang zur Ausübung ihrer Bürgerrechte gewährleisten zu können, so daß diese Gesellschaften ohne repräsentierbare Gruppen als Folge der kulturellen und sozio-ökonomischen Marginalisierung bleiben (Torres-Rivas 1990: 51). Dies gilt in besonderem Maße für jene Gesellschaften Lateinamerikas, die nicht durch die Massenmobilisierung populistischer Regime eine Beteiligung breiter gesellschaftlicher Gruppen am politischen System erfahren haben. Die Schwäche der Parteiensysteme läßt sich nicht zuletzt aus der fehlenden sozialen Verankerung all
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jener Parteien erklären, die mehr den Charakter von Parteien in einem System, aber nicht als Parteiensystem insgesamt haben (Cerdas 1992: 73). Die politischen Institute spannen insofern kein Spektrum von Alternativen auf, sondern agieren ohne substantielle zwischenparteiliche Beziehungen (kooperativer oder polarisierter Art) als individuelle Akteure mit weithin personalistischer Basis. Damit sind die Voraussetzungen für die Volatilität nicht nur der Parteiloyalitäten der Wähler, sondern auch der politischen Parteien selbst gegeben, die nach konjunktureller Notwendigkeit ihr ideologisches Vorzeichen ändern können, ohne daß dies die begrenzte Anhängerschaft nachhaltig beeinträchtigen würde. Die Parteien stehen somit vor der Herausforderung, über ihre eigene organische Stärkung hinaus einen gesamtgesellschaftlichen Beitrag mit der Konstituierung anderer sozialer Akteure zu leisten und als Instrumente der nationalen Integration mit Verankerung in der Zivilgesellschaft tätig zu werden, ohne ihre Rolle als Mechanismen der politischen Demokratie zu vernachlässigen (de Riz 1987: 46). Die Modernisierung der Gesellschaften in Form ihrer zunehmenden Segmentierung, wie z.B. im informellen Sektor, bedingen jedoch Ausschlußgebiete, die der staatlichen Kontrolle entzogen und für soziale und politische Organisationsversuche quasi immun sind (Lechner 1992: 174). Die partizipative Intentionalität des Demokratisierungsprozesses wird insofern nicht nur an der Segmentierung der Gesellschaft gebrochen, sondern auch an der Modernisierung des Staates, die sozial marginalisierend wirkt. Die Gefahr einer Blockade der Demokratisierung (Calderón/dos Santos 1992: 190) kann nur durch ein neues Modell staatlichen Handelns in Gestalt des Austausches mit den sozialen Organisationen auf der Basis einer größeren sozialen Repräsentativität der Modernisierung gebaut werden, wenn nicht die Logik der ökonomischen Modernisierung mit der Logik der politischen Demokratisierung in einen fundamentalen Widerspruch geraten soll (Lechner 1996). Die Gleichzeitigkeit von Modernisierungs- und Demokratisierungsprozeß hat den Charakter der neuen Demokratien als "halbierte Demokratien" geprägt. Mit dem Ende der sozialen und politischen Inkorporierung der Bevölkerung durch den Staat nach dem Muster der staatlichen Repräsentation und seiner Problemverarbeitungskompetenz haben die sozialen Organisationen und politischen Parteien ihre sozialen Referenzen verlorens. Der Parteienwettbewerb in den segmentierten Gesellschaften Lateinamerikas trifft somit an seine immanenten Grenzen, wenn er sich nicht von den überkommenen Formen des staatszentrierten politischen Stils befreien kann (Calderón/dos Santos 1992:109). Bis heute hat in Lateinamerika die Politik die Gesellschaft mehr verändert als sie repräsentiert (Touraine 1993: 80), was neben dem Fehlen von repräsentierbaren Gruppen und Interessen die defizienten Mechanismen der Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft erkennbar werden läßt. Wenn dann die Regierung jenseits der politischen Parteien durch Konzertierungsprozesse den direkten Kontakt mit den gesellschaftlichen Akteuren sucht, so liegt der Verdacht nahe, es wiederhole sich die traditionelle korporativistische Unterwanderung der Politik (Bendel/Krennerich 1996: 328). Die Belastung neokorporativistischer Elemente 5
Vgl. Touraine (1993: 74), der ausführt: "Lander mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, wie Argentinien und Venezuela, waren darin Im Vergleich zu den ärmsten Ländern des Kontinents nicht sehr unterschiedlich: Die soziale Repräsentativität der Parteien war gering".
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der Repräsentation in Lateinamerika durch den autoritären Charakter früherer Erfahrungen sektoraler Repräsentation kann jedoch nicht den Blick auf die Vielzahl von Pakten, Allianzen und Regierbarkeitsvereinbarungen verstellen, die in den lateinamerikanischen Gesellschaften zumindest kurz und mittelfristig stabilisierende Wirkungen entfaltet haben. Als wohl bekanntester Fall der Begründung eines solchen Regierfoarkeitspaktes, dessen Auswirkungen auch heute noch ablesbar sind, kann sicherlich Bolivien gelten (Mayorga 1992 und 1995). Aber auch die bereits vor dem Wahlgang angelegte Allianz der Concertaciön in Chile weist über ein wahlpolitisches Bündnis hinaus; sie bezieht sich eher auf eine gewollte Kontrolle möglicher politischer Polarisierung angesichts der Unsicherheiten der noch nicht konsolidierten institutionellen Ordnung. Für die Fülle der sozialen Konzertationsprozesse (Menjivar Larin 1993) stellt sich auch bei tri- oder multipartiten Vereinbarungen die Frage, ob die jeweiligen Verbände oder Vereinigungen die hinreichenden repräsentativen Qualitäten aufweisen, die für die Garantie des Übereinkommens notwendig sind (Weffort 1993: 128). Die soziale Regressivität der Anpassungsprogramme und der Verlust repäsentierbarer Gruppen, wie am Beispiel der Gewerkschaften in ihrer nurmehr marginalen sozialen Zentralität erkennbar wird, bringt die Grundlage der Regierbarkeit ins Schwanken. Unterstellt man zudem, daß die funktionale Repräsentation von defensiven Verhaltensweisen geprägt ist und soziale Bewegungen oftmals geneigt sind, die Strukturen der formalen Repräsentation zu verlassen, steht die demokratische Konsolidierung vor schweren Herausforderungen.
VI.
Grenzen des Parteienwettbewerbs, Legitimationsentzug und politische Innovationspotentiale
Im Zentrum der Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Demokratie in Lateinamerika steht die Krise der politischen Parteien und der Parteiensysteme, so daß sich manche Autoren schon gezwungen sehen, eine Lanze für die politischen Parteien zu brechen (Bendel 1994). Betrachtet man die Rolle der politischen Parteien in ihrer Scharnierfunktion zwischen Zivilgesellschaft und Staat, die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und die interne Struktur in den Parteien, so wird schnell deutlich, welchen zentralen Charakter Parteien und Parteiensysteme im Rahmen der politischen Transitionen einnehmen. Die Belastungen beim Entstehen der politischen Parteien in Lateinamerika, ihr beträchtliches politisches Alter vor allem in Südamerika und das Fehlen identitätstiftender c/eavage-Strukturen (Linz 1992:184ff) haben ein Parteiensystem geprägt, das in hohem Maße durch die Dominanz von caud/7/o-dominierten und stark personalistischen Strukturen geprägt ist. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Anpassungsfähigkeit, Komplexität, Autonomie und Kohärenz haben die lateinamerikanischen Parteiensysteme ebenso wie die einzelnen Parteien erkennbare Fortschritte gegenüber den 60er Jahren zu verzeichnen (Dix 1992: 505; Mainwaring/ Scully 1995), allerdings unterliegen sie einer schleichenden Unterminierung ihres traditionell bestehenden Repräsentationsmonopols durch alternative Kanäle der Interessenvermittlung.
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Zwei Gemeinplätze bestimmen die Analyse der gegenwärtigen Parteiensysteme in Lateinamerika: - Die Parteien sind nicht in der Lage gewesen, die Zeichen des Wandels in der Gesellschaft zu erkennen und haben sich aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit bürokratisch verhärtet und ihre Organisation gegenüber neuen Gruppen verschlossen. Als Handlungsoption wird dann die Demokratisierung der Organisationen und die Erneuerung der Führungskräfte beschworen, da sie sich neuen Ideen und gesellschaftlichen Gruppen unzugänglich erwiesen hätten (Grompone 1995: 13). Dieser Autismus der Parteien und ihre eingeschränkte soziale Durchlässigkeit wird dann sichtbar als Glaubwürdigkeitskrise, die eine effiziente Wahrnehmung der Interessenvermittlung verhindert (Nikken 1992: 12). - Gerade der lateinamerikanische Präsidentialismus hat zu einer autoritären Delegitimierung der Politik beigetragen, weil er sich traditionell feindlich zu jeglicher Form politischer Vermittlung verhalten hat (Grompone 1995: 19). Diese historisch induzierte Position einer Marginalisierung und Instrumentalisierung der Parteien unter personalistischen Vorzeichen findet ihre Entsprechung in der Dominanz populistischer Massenparteien, die heute weitreichenden Krisen ausgesetzt sind. Der Niedergang der traditionellen Komponenten im brasilianischen Parteiensystem, die neopopulistische Aufwertung des Partido Justicialista durch den argentinischen Präsidenten Menem und die tiefe innere Spaltung der Staatspartei PRI in Mexiko scheinen dieses Bild zu bestätigen. Allerdings lassen sich auch andere Beispiele anführen: so der Verfall des hochinstitutionalisierten venezolanischen Parteiensystems von Acción Democrática und COPEI, die Transformation des FDN zum PRD in Mexiko sowie die Entstehung eines neuen Parteientyps, der Bewegungspartei PT in Brasilien. Zu der Vielzahl an Fällen lassen sich jeweils kritische Anmerkungen hinsichtlich ihres Institutionalisierungsgrades und der von ihnen ausgehenden Bindungswirkung anführen, die noch um Kommentare zum Komplex der Parteiidentifikation und generalisierten Loyalitätsbindungen zu ergänzen wären. Entscheidend für unseren Argumentationsgang ist die Frage nach dem Stellenwert der Parteien innerhalb der Repräsentationspyramide des lateinamerikanischen Staates, ihres Repräsentationsvorranges, aber auch des Verlustes des traditionalen Repräsentationsmonopols. Die Relevanz einer Vielzahl kollektiver Akteure (politische Parteien, Interessengruppen, soziale Bewegungen) für die Vermittlung spezifischer Interessen und Wertorientierungen universaler oder partikularer Art für die Funktionsfähigkeit zu entwickelnder Demokratie ist insbesondere unter dem Blickwinkel der Blockade von Interessen durch die traditionellen Akteure und das Auftreten nicht-institutioneller Bewegungen gegeben. Dies wird besonders spürbar an der Rolle der Parlamente in Lateinamerika, die im Zuge der Demokratisierung immer weniger den zentralen Ort der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen bilden. Die nationale Agenda artikuliert sich jenseits der institutionalisierten Form des Konfliktaustrages und enthebt das Parlament seiner politischen Steuerungsfunktion. Neue Arenen zum Austrag widerstreitender gesellschaftlicher Interessen setzen sich durch, die Pluralität von Interessen bewegt sich zunehmend in informellen Bahnen. Die Wahlverwandtschaft zwischen Korporativismus und Konzertierung einerseits und Pluralismus und pressure andererseits könnte auf ein fragiles Verhältnis zwischen der Vertretung partikularer Interessen und dem für die Einheitswahrung 81
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notwendigen Konsens hindeuten. Gleichwohl deutet sich in den extrainstitutionellen Verhandlungsarenen (weithin unter Ausschluß der Parlamente) eine zunehmende Selbstbeschränkung in der Verfolgung partikularer Interessen an, so daß gesamtgesellschaftliche Anliegen aufgrund des Verhandlungsdrucks stärkere Berücksichtigung finden. Die Erfahrungen der Declaraciones de Bambita in Panama sowie des Acuerdo Nacional Razonable in Costa Rica und der Convergencia Nacional in Honduras weisen darauf hin, daß der Staat in einem pluralistischen System in der Strukturierung und Bündelung der Interessenvielfalt, sei es auch unter Einschluß oder Ausschluß der Parteien, nachhaltige Beiträge zur Überwindung von Legitimitätsdefiziten leistet. Die Tatsache, daß diese Konzertierungsinitiativen zeitlich begrenzt sind und als Partialkompromisse oftmals wieder versanden, belegt ihren extrainstitutionellen Charakter, der gleichzeitig ihr Innovationspotential für den Erfolg fragiler Demokratien aufzeigt.
VII.
Verschlankung, Entförmlichung und Informalisierung der Politik
Die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Parteien scheinen einem Konzept derAmbiguität zu folgen: In einem Wechselspiel zwischen Kontrolle und Unverständnis wird die Annäherung der Politik an den Bürger verlangt, die Aufnahme der Erwartungen der Gesellschaft durch die Parteien eingeklagt, andererseits besteht nur eine beschränkte Bereitschaft, sich auf die Politik oder das "politische Geschäft" einzulassen, und es werden stattdessen Formen des Protestes vorgezogen (Franze 1994: 102f). Diese gegenseitige Anklage zwischen Parteien und selbsternannten Vertretern der Zivilgesellschaftgründetaufeinem gegenseitigen Blockadevorwurf: Die Parteien hätten sich von der Gesellschaft abgeschottet, und die Zivilgesellschaft weigere sich, in den bestehenden Institutionen politisch tätig zu werden. Diese plakativen Gegenüberstellungen sind zwar für die politische Auseinandersetzung hilfreiche Formeln, in der Analyse weisen sie auf ein Phänomen hin, das als Verschlankung der Politik beschrieben werden kann. Damit ist die Verminderung der Handlungsspielräume der traditionellen Akteure, wie Gewerkschaften, Parteien, Unternehmerverbände etc., gemeint, die aus der Einschränkung ihrer eigenen Strukturen bezogen auf die Vermittlungsleistung abgeleitet werden kann (Arancibia Cördova 1992 und 1994). Der Vielfalt der Prozesse, die zu dieser Verschlankung der traditionellen Akteure und des von ihnen aufgespannten öffentlichen Raumes beigetragen haben, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden (Miranda Lozano 1994). Für die Beurteilung des damit verbundenen Repräsentationsproblems und die Auswirkungen auf die Regierbarkeit der lateinamerikanischen Gesellschaften kann jedoch festgehalten werden, daß die Vermittlungsleistungen der bestehenden öffentlich wirksamen Akteure nachgelassen haben. Dies gilt sowohl für den Verlust an sozialer Zentralität der Arbeitnehmerorganisationen, die mit der Abwanderung von Beschäftigten in den informellen Sektor nurmehr minoritär den Faktor Arbeit repräsentieren; gleiches trifft für die Unternehmerverbände zu, die durch interne Differenzierung (Weltmarkt versus Binnenmarktproduktion) sowie Diversifizierung der Interessenlagen (fehlende Einbindung von Klein- und Mittelbetrieben) nurmehr
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segmentäre Interessenartikulation betreiben, ohne nachhaltig den politischen Prozeß für die Gesamtheit des Sektors beeinflussen zu können. Neben die Verschlankung des sozialen und politischen Interessenaustrages tritt die Entförmlichung des politischen Prozesses. Der Bedeutungsverlust der Parlamente und die Aufweichung tradierter tripartiterVereinbarungen haben in Lateinamerika neue Formen des extra-institutionellen Verhandlungsstaates gefördert. Die Fülle der Prozesse zursozialen Konzertation von Sektorpolitiken, Produktivitätsvereinbarungen und Qualitätsverpflichtungen im betrieblichen Bereich haben die staatliche Intervention in der Arbeits- und Sozialpolitik reduziert. Das bekannte Streikverbot durch das Arbeitsministerium hat seine Wirkung auf das Verhältnis der Tarifpartner eingebüßt. Jenseits des Arbeitslebens ist die Entförmlichung des politischen Prozesses auch im Bereich von Schlichtungsvereinbarungen und Planungs- bzw. Entwicklungsräten auf kommunaler und regionaler Ebene erkennbar, wo sich zur AbStützung der institutionellen Verfahren neue Formen der Öffnung des politischen Systems durchgesetzt haben. Die institutionellen Strukturen werden so zunehmend überwuchert von informellen Vereinbarungen, deren Beitrag zur Demokratisierung nicht zu unterschätzen ist, die jedoch gleichzeitig die Gefahr neuer Elitenpolitik und mangelnder demokratischer Verantwortlichkeit begründen können. Im politischen Bereich haben die von Parteienverdrossenheit gekennzeichneten Einstellungen der Bevölkerung eine Informalisierung der Politik bewirkt. Damit wird zum einen das Fehlen kollektiver Identitäten in der Wählerschaft (Parteibindung), der bekannte Verbrauch der politischen Optionen und das Bestehen extra-systemischer Kandidaturen beschrieben (Paramio 1993:264), zum anderen das Auftreten informaler politischer Bewegungen gekennzeichnet, die mehr von der Aggregation als der Fusion kollektiver Identitäten auf sehr niedrigen Integrationsniveaus in die demokratische Institutionalität hinein leben (Lazarte 1992: 77ff). Als konkrete Ausformung der Informalisierung kann die Figur des oofs/derangeführtwerden, der sich der Parteien oder der Allianzen von Parteien bedient, aber letztlich aufgrund personaler Qualitäten regiert (Cerdas 1993: 77). Gleiches gilt für jene Persönlichkeiten, die unter Aufgabe ihrer programmatischen Postulate auf ihre ursprüngliche parteipolitische Bindung verzichten und dann eine personenzentrierte politische Führung etablieren (Cerdas 1992: 86). Eine besondere Bedeutung nehmen jene Kandidaten ein, die als unabhängige, nicht politische Persönlichkeiten gerade den Anti-Parteieneffekt nutzen, um eine parteipolitisch und ideologisch ungebundene Position einnehmen zu können (Franze 1994:105). Der klassische politische Führer mit seiner innerparteilichen Karriere wird dabei ersetzt durch die unabhängige Persönlichkeit, die aufgrund ihrer anerkannten Fähigkeiten aus dem Beruf in die Politik wechselt. Diesem Prozeß in der Führungsschicht entspricht auf der Ebene der Gefolgschaft ein Verschwinden zweier traditioneller Figuren der politischen Realität Lateinamerikas: Das aktive Parteimitglied und der verläßliche Wähler nehmen zunehmend Positionen eines abwartenden Pragmatismus und reduzierter Beteiligung an, so daß die etablierten Elemente parteipolitischen Handelns an ihre Grenzen geraten (Grompone 1995: 31). Die sinkende Präsenz der politischen Parteien steht im umgekehrten Verhältnis zur Zunahme der Bedeutung der Massenmedien. Die mediale Vermittlung von Interessen ersetzt das Kollektiverlebnis "Partei" und erlaubt eine individualisierte Wahrnehmung
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der Staatsbürgerschaft (Perelli 1995: 168), die zur Personalisierung der Macht in Korrespondenz tritt6.
VIII. Antipolitik und Neopopulismus Gleichzeitig hat sich eine neue Form politischen Handelns mit anti-politischer Motivation etabliert. "Hacer política por fuera de la política" kann als Motto einer anti-politischen Opposition verstanden werden, die auch für all jene Parteien gilt, die - trotz ihrer Teilnahme am etablierten politischen Kontext - auf dem grundlegenden Argument eines Konfiktes zwischen Regierten und Regierenden, Bürgern und Politikern, Wählerschaft und politischer Klasse, Wählern und Parteien, Gesellschaft und Staat, Volk und politischem System oder Zivilgesellschaft und Parteienherrschaft aufbauten (Schedler 1995: 24). In Lateinamerika hat sich diese Option in Personen/Bewegungen wie Aldo Rico (Argentinien), Carlos Palenque (CONDEPA) und Max Fernández (UCS) in Bolivien, Femando Collor de Mello (PRN) in Brasilien, Abdalá Bucarám (PRE) in Ekuador, Alberto Fujimori (Cambio 90 - Nueva Mayoría) in Peru und Andrés Velásquez (Causa R) in Venezuela niedergeschlagen. Dabei reicht die Breite der politischen Bewegungen von populistisch motivierten Zusammenschlüssen über Protestparteien bis zu AntiSystemparteien, die auch zu anti-demokratischer Opposition neigen. Letztlich handelt es sich bei der Mehrzahl dieser Parteien um neue Gruppierungen, die gerade aus ihrem "unbefleckten Entstehen" schöpfen, allerdings sind jedoch auch Personen anzuführen wie Rafael Caldera, Cuauhtémoc Cárdenas und Collor de Mello, die ihre Anziehungskraft aus ihrer Trennung von etablierten Massenparteien als einen Akt der "Reinwaschung" schöpfen. Die Gestaltungskraft dieser Vereinigungen oder Personen hat sich bislang als sehr unterschiedlich erwiesen, einige weisen nur kurzfristige Präsenz auf, andere haben sich mittelfristig als maßgebliche politische Instanzen etablieren können. Nicht ohne Grund sind im lateinamerikanischen Kontext einige Formen der anti-politischen Artikulation von Parteien mit dem Begriff des Neopopulismus verbunden worden. In expliziter Anwendung auf den Fall Fujimori und Menem sowie Collor de Mello und Caldera wird der "regreso del líder" zum Anlaß genommen, um eine neue Qualität der Verbindung zwischen politischer Führung und Bevölkerung angesichts der gewachsenen kollektiven Unsicherheit und Orientierungslosigkeit nachzuweisen (Novaro 1996: 91 f.). In klarer Absetzung zum traditionellen Populismus in Lateinamerika (G. Vargas/J. D. Perón), der auf die Massenintegration breiter sozialer Sektoren mit großer interner Diversität in das politische System hinein baute, um das Ziel der Nation zu stärken, zeichnet sich der Neopopulismus eher durch die Schwächung der ihn tragenden Organisationen und die Erschöpfung der Funktionalität staatlicher Institutionen für das Ziel der nationalen Integration aus. Die Bindung an die Bevölkerung vollzieht sich eher durch die Massenmedien, die Effizienz des staatlichen Handelns und die Durchschlagskraft der Person treten in den Vordergrund der Bindung der Bevölkerung
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Grompone/Mejla 1995: 66 ff. haben in ihrer Untersuchung der neuen politischen Führungsschicht, die sich am politischen Modell Fujimoris orientiert, die verschiedenen Ausformungen dieser Führungsschicht und ihre Werteorientierungen ausgearbeitet.
Maihold: Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
an die Führungspersönlichkeit. Der personalistische Führungsstil und die Inszenierung des Lebens der neuen lideres lassen der öffentlichen Meinung eine viel bedeutendere Rolle bei der Beurteilung ihrer Politik für die Interessen der Bevölkerung zukommen. Gleichwohl bewahrt sich das Bild der einheitsstiftenden Größe, die sich jenseits institutioneller Regeln auf ein direktes Band zu der Bevölkerung stützen kann, wobei mit den Sozialprogrammen (PRONASOL/Mexiko, FONCODES/Peru, PU/Argentinien) ein Instrument der politischen Vermarktung von Bürgernähe zur Verfügung steht, das auch die Billigung der internationalen Finanzorganisationen besitzt (Novaro 1996:144). Die Verstärkung der personalistischen Komponente in der Politik Lateinamerikas vollzieht sich jedoch nicht nur auf dem Niveau der Präsidenten, sondern ist gleichermaßen auch in den politischen Parteien präsent. Mit der Neigung der Parteien, fast ausschließlich im Kontext einer von Wahlen bzw. Wahlkämpfen beherrschten politischen Konjunktur zu agieren, ist dieser Tendenz weiter Vorschub geleistet. Der Aufruf, "die Parteien sollten ihre gegenwärtige Rolle als Unternehmensgruppen zum Verkauf des Images ihrer Wahlprodukte verlassen und sich in institutionelle (programmatische und ideologische) Parteien verwandeln" (Murillo/Ruiz 1995: 291), wird sicherlich von allen Seiten Unterstützung finden, allerdings sind wenige Parteiführungen bislang bereit, sich als Vermittler eines effektiven Zugangs der Bürgerschaft zu neuen Mechanismen der politischen Partizipation zu begreifen. Insofern wird sich die bestehende politische Elite mit dem Rückgriff auf ihr traditionelles Instrumentarium der Verbindung von territorialer und sektoraler Repräsentation innerhalb der eigenen Parteigliederungen nicht von den Vorurteilen und den Sackgassen einer auf sich selbst zentrierten Politik und den Mechanismen der Kooptation und des Klientelismus befreien können, die keine neuen Identifikationen schafft, sondern alte Rekrutierungsmuster wiederbelebt (Grompone/Mejia 1995: 67). Diese Haltungen frieren die Beziehungen zur Zivilgesellschaft ein, anstatt neue Ansatzpunkte für die Integration beider Gesellschaftsgruppen durch Öffnung der eigenen Strukturen zu erlangen (Maihold 1994: 220).
IX.
Regierbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie in Lateinamerika
Mit dem Übergang zur Demokratie hat sich die Aufmerksamkeit natürlich in besonderem Maße auf die Regierungsformen und weniger auf den Grad der Regierbarkeit gerichtet. Gerade diesen Aspekt versucht jedoch jene Debatte aufzufangen, die sich unter dem Stichwort gobemabilidadmit den drei Elementen der politischen Machtausübung, nämlich Effektivität, Legitimität und Stabilität befaßt (Camou 1995: 17). Während sich die Fragen der Effektivität und der Effizienz im Regierungshandeln in besonderer Weise mit den "klassischen" Elementen der Staatsreform (accountability u.a.) in Verbindung bringen lassen, bezieht sich der Begriff der Legitimität auf den Versuch, die konsensualen Komponenten für das angemessene Funktionieren jedes politischen Systems hervorzuheben. Regierbarkeit ist unter diesem Gesichtspunkt als ein systemisches Phänomen zu begreifen, das in konzentrischen Kreisen Regierung, Interessengruppen und Zivilgesellschaft in einem vernetzten System aufeinander bezieht (Tomassini 1994: 26 f.). Regierbarkeit kann somit von einer einfachen institutionellen Neuordnung im Bereich 85
Lateinamerika Jahrbuch 1996
der staatlichen Politik abgesetzt werden und damit in größerem Maße mit den gesellschaftlichen Steuerungsmaßnahmen zur Integration des Gemeinwesens identifiziert werden (Sagasti et al. 1994: 24). Das Thema der Regierbarkeit befindet sich damit im Zentrum des politischen Prozesses und an der Verknüpfung der zentralen Achsen der politischen Entwicklung (Arbós/Giner 1993:9). In diesem Sinne kommt der Betrachtung der politischen Systeme unter dem in den 70er Jahren maßgeblichen Kriterium der "Überlastung mit Erwartungen" in Lateinamerika eine geringere Bedeutung zu als der Frage, wie Regierbarkeit angesichts der "Überlastung mit Akteuren" reale Konsense für eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen gewährleisten kann. Regierbarkeit gerät damit zu einer Frage der Gesellschaft (Alcántara 1994a: 38 ff.), die kritische Steuerungsleistungen zur Bewahrung ihres inneren Gleichgewichtes erzeugen muß. Der Caracazo7 von 1989 ebenso wie die Blockade der Institutionen im Kontext des Verfassungskonfliktes in Nikaragua 1994/1995 oder die Absetzung der Präsidenten Brasiliens und Venezuelas, Collor de Mello und Andrés Pérez, können als Elemente jener Unregierbarkeitsvermutung angeführt werden, die unter dem Titel der unruliness und der Instabilität die Diskussion bestimmt haben. Im Umkehrschluß wird daraus die Konsequenz gezogen, daß Institutionenbildung zu einem höheren Grad an Regierbarkeit führt (Rojas Bolaños 1995: 36). Andererseits war bereits darauf hingewiesen worden, daß eine "Erblindung" der Institutionen durch unzureichende Informationsweitergabe unterentwickelter Akteure verursacht werden kann. In der Phase der demokratischen Konsolidierung wächst den Interessengruppen als Instrumenten nachholender Pluralitätsbildung größere Bedeutung zu, wie auch die zweite Stufe der Anpassungspolitik umfassendere Leistungen der gesellschaftlichen Akteure bei der Erzielung sozialer Konsense beinhaltet. Demgegenüber bleiben offensichtlich in der politischen Kultur Lateinamerikas überzogene Regelungsansprüche an die Politik bestehen, die angesichts der Durchsetzung der Marktgesellschaft und des Verlustes an Zentralität der politischen Steuerung ohne reale Entsprechung bleiben. Die Entförmlichung des politischen Interessenaustrages muß wegen ihres extrainstitutionellen Charakters nicht grundsätzlich negativ bewertet werden, da sie zusätzliche Legitimitätsressourcen zu mobilisieren vermag. Auf diese Weise kann die Politik zumindest kurzfristig den integrativen Voraussetzungen eines sozialstaatlich gefüllten Demokratiekonzeptes und wachsender staatsbürgerlicher Initiativen besser entsprechen. Die Verdichtung der Zivilgesellschaft und ihr scaling-up über das lokale Niveau hinaus (Fox 1996: 1091) sollte durch die Bildung von Sozialkapital der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wieder jene "Dicke" verleihen, die den Verlusten der Entförmlichung und Informalisierung entgegenzuwirken vermag und den politischen Prozeß neue Substanz gewinnen läßt. Angesichts der Verschlankung des politischen Prozesses durch die nachlassende Bindungswirkung der traditionellen sozialen Akteure (Gewerkschaften, Unternehmer etc.) ist der Resonanzraum des politischen Konfliktaustrages reduziert, neue Akteure und vernetzte gesellschaftliche Steuerung müssen zur Beibehaltung eines adäquaten Legitimitätsniveaus und hinreichender Repräsentationsreserven dem politischen System zugeführt werden. Traditionale Formen politischer Rekrutierung und klientelistischer 7
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Aufstand der Bevölkerung in den marginalisierten Stadtteilen von Caracas/Venezuela im Jahre 1989 gegen die Erhöhung der Benzinpreise und der Tarife des öffentlichen Nahverkehrs, der mit Plünderungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen verbunden war.
Maihold: Regíerbarkeit und Zukunftsfähigkeit der Demokratie
Einbeziehung in die Parteien vermag den individualisierten Lebensentwürfen und der subjektiven Selbstbezüglichkeit keine Heimat zu eröffnen. Die anstehende regionale Diskussion über die Rolle der Parteien in den sich konsolidierenden Demokratien Lateinamerikas bleibt insofern ein dringendes Desideratum. Zivilpolitische Bewegungen setzen die tradierten Institutionen unter Argumentationszwang und spannen mit ihren Initiativen ein neues Feld autonomer Öffentlichkeit auf, das zum Ausgangspunkt einer neuen Öffentlichkeit in den lateinamerikanischen Gesellschaften werden könnte. Die Herausforderung zur Herstellung der notwendigen Minimalsolidarität wird sich in immer größerem Umfang durch verhandlungsdemokratische Mechanismen ergeben, die zwar auch weiterhin unter dem Verdacht eines autoritären Korporativismus stehen, aber nichtsdestotrotz eine entscheidende zusätzliche Ressource zur Administrierung des Konfliktes und Erhöhung der operativen Kapazitäten des Staates darstellen. Das Alternieren zwischen politischer Debatte und gewaltsamer Aktion, zwischen Wort und Blut, wie es Alain Touraine (1988) beschrieben hat, ist für die lateinamerikanische Geschichte kennzeichnend gewesen. Eine politische Entwicklung, die dem "Wort" die erste Option einräumen soll, kann nur aus dem angemessenen Zusammenwirken von Akteuren und Institutionen entspringen. Demokratie ist in diesem Sinne demokratische Regierbarkeit, die dem Primat der sozialen Integration der Bevölkerung in ihren institutionellen Formen gerecht werden muß.
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Hartmut Sangmeister
Ist die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika noch zeitgemäß ? "Once upon a time there was a field called development economics - a branch of economics concerned with explaining why some countries are so much poorer than others and prescribing ways for poor countries to become rich. [...] That field no longer exists." Krugman 1993, S. 15. Die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit 1 (EZ) der Bundesrepublik Deutschland ist seit ihren bescheidenen A n f ä n g e n in den fünfziger Jahren zu e i n e m dauerhaften E n g a g e m e n t geworden, für d a s bis 1994 insgesamt fast 200 Mrd. D M aufgewendet w u r d e n ( B M Z 1995a: 160). Lateinamerika flössen 1950-93 im R a h m e n der bilateralen deutschen EZ mehr als 15 Mrd. DM zu. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre beliefen sich die deutschen öffentlichen EZ-Leistungen an Lateinamerika auf jährlich etwa 1 Mrd. DM, d a v o n ca. 850 Mio. D M p.a. bilaterale Leistungen im Durchschnitt der Periode 1990-94 ( B M Z 1995a: 55). V o n d e n g e s a m t e n (Netto-)Aufwendungen der Bundesrepublik Deutschland für bilaterale öffentliche EZ, die sich zwischen 1950 und 1993 auf ca. 127 Mrd. D M beliefen, entfielen auf Lateinamerika 11,8% (vgl. Tabelle 2 f . Dieser Anteil Lateinamerikas a n der g e s a m t e n bilateralen O D A der Bundesrepublik Deutschland ist etwas höher als der Bevölkerungsanteil der lateinamerikanischen Länder an der Gesamtbevölkerung
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Entsprechend den Kriterien des Development Assistance Committee (DAC) der OECD werden Leistungen als öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance - ODA) gewertet, wenn sie (a) von öffentlichen Trägern erbracht sind, (b) die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Hebung des Lebensstandards im Empfängerland als Hauptziel haben und (c) ein "Zuschußelement" (d.h. die Differenz zwischen Schenkungen und Leistungen zu Marktbedingungen) von mindestens 25 enthalten
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Die in Tabelle 2 ausgewiesenen deutschen ODA-Leistungen an Lateinamerika wahrend des Zeitraums 1950-93 in Höhe von 14,988 Milliarden DM enthalten auch Zahlungen an überregionale Institutionen in Lateinamerika, wiez.B. die Zentralamerikanische Bankfürwirtschaftliche Integration (BCIE), die Karibische Entwicklungsbank (CDB) oder der Andenpakt; nach Angaben des BMZ beliefen sich die nicht länderspezifisch aufteilbaren ODA-Leistungen für Lateinamerika in den Jahren 1950-92 auf insgesamt rund 330 Mio. DM.
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der "Dritten Welt", der im Berichtszeitraum zwischen 9 und 10% lag. Gemessen an seinem Bevölkerungsanteil ist Lateinamerika also im Vergleich zu anderen Entwicklungsländerregionen bei der Vergabe deutscher ODA—Leistungen keineswegs benachteiligt worden. Zwar hatte Lateinamerika in den Jahren 1950-59 nur 0,1% der deutschen ODALeistungen erhalten; aber bereits in der Dekade 1960-69, nachdem die EZ stärker institutionalisiert worden war3, stieg der lateinamerikanische Anteil an den deutschen ODA-Leistungen auf 8,7%. Entsprechend der mittelfristigen Finanz- und Haushaltsplanung wird das deutsche Entwicklungshilfebudget in den kommenden Jahren stagnieren. Den Erfordernissen zunehmender Mittelverknappung muß auch die deutsche Entwicklungshilfepolitik Rechnung tragen; die EZ wird in Zukunft differenzierter und stärker der Situation der Empfängerländer und ihrer Regionen angepaßt sein müssen. Dies gilt auch für die EZ mit Lateinamerika. Vor allem bei den wirtschaftlich leistungsstärkeren Staaten in Lateinamerika stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von EZ, sofern man darunterdie Zurverfügungstellung zusätzlicher Ressourcen versteht, d.h. von Ressourcen, die über diejenigen hinausgehen, die der Empfänger selbst beschaffen kann, sei es im eigenen Lande, sei es durch kommerzielle außenwirtschaftliche Transaktionen. In der deutschen Öffentlichkeit, die sich mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgekosten der Wiedervereinigung konfrontiert sieht und der substantielle Einschränkungen ihrer eigenen sozialstaatlichen Absicherung drohen, ist das Interesse an den Problemen "der Fremden" tendenziell eher sinkend - und damit auch die Akzeptanz der Entwicklungshilfepolitik. Zwar ist die Bereitschaft zur "Hilfe für die Armen" in Lateinamerika, Afrika und Asien, wie sie sich beispielsweise im Spendenaufkommen kirchlicher Hilfswerke niederschlägt, nach wie vor beachtlich; und Meinungsumfragen zufolge haben etwa drei Viertel der deutschen Bevölkerung - auch in den neuen Bundesländern - im allgemeinen eine positive Einstellung zur Entwicklungshilfe (OECD 1995: 15). Aber die staatliche EZ droht zunehmend in Legitimierungsnöte zu geraten: Sie muß politische und wirtschaftliche Rechtfertigungen für den Ressourcentransfer in die Entwicklungsländer liefern, die von der Öffentlichkeit akzeptiert werden. Dies gilt auch für die EZ mit den meisten lateinamerikanischen Staaten, deren Gesellschaften durch einen scharfen Kontrast zwischen Reich und Arm sowie durch erhebliche Glaubwürdigkeitsdefizite ihrer staatlichen Institutionen gekennzeichnet sind.
1. Ziele der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika In dem 1995 verabschiedeten "Lateinamerika-Konzept" der deutschen Bundesregierung wird als übergreifendes Ziel der EZ mit Lateinamerika genannt: diese Region bei einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung zu unterstützen sowie zur Verbesserung der
Das 1961 gegründete Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit übernahm vom Auswärtigen Amt die Zuständigkeit für die Entwicklungspolitik. Bereits in den fünfziger Jahren hatte das Bundesministerium für Wirtschaft erstmals eine halbe Million DM aus den Gegenwertmitteln des Marshall-Plans für den Erfahrungsaustausch mit "weniger entwickelten Gebieten" zur Verfügung gestellt.
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wirtschaftlichen und sozialen Lage der Menschen beizutragen; vorrangiges Ziel ist dabei die Bekämpfung der Armut (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1995: 16). Das "Lateinamerika-Konzept" versteht sich als Grundlage "einer modernen Lateinamerika-Politik an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert" (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1995: 3). Es soll nicht nur dazu dienen, auf die Wachstumsmärkte Lateinamerikas aufmerksam zu machen und die deutsche Präsenz in Lateinamerika zu verstärken, sondern es wird auch als Angebot zu Dialog, Kooperation und Partnerschaft mit Lateinamerika verstanden, als umfassender Ansatz zur Förderung der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen (BMWi 1995: 7). In das "Lateinamerika-Konzept" der Bundesregierung haben wesentliche Überlegungen Eingang gefunden, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits 1992 seinem "Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika" (BMZ 1992a) zugrundegelegt hatte. Von einer regionenspezifischen Akzentuierung der deutschen Entwicklungspolitik für und mit Lateinamerika konnte zuvor kaum die Rede sein, da die praktizierten Verfahren und Instrumente der bilateralen Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Staaten sich nicht wesentlich von denjenigen in anderen Teilen der "Dritten Welt" unterschieden4. Konzeptionell orientierte sich die staatliche EZ mit Lateinamerika lange Zeit an dem modernisierungstheoretisch begründeten Paradigma nachholender Industrialisierung von außen nach innen. Leitbild war mithin ein Konzept, dessen entwicklungsstrategisches Grundmuster westeuropäisch-nordamerikanischen Vorbildern entsprach, wobei freilich weitgehend unberücksichtigt blieb, daß sich gegenüber der historischen Modellvorlage - dem Aufstieg Westeuropas und der USA zu Industriemächten - zwischenzeitlich völlig veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen ergeben hatten sowie signifikante Unterschiede in der Konfiguration der Machtverteilung innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften bestanden. Die gängigen Modernisierungs-leitbilder, an denen sich die EZ überwiegend orientierte, haben sich nicht überall als tragfähig erwiesen. Die Gleichung "Wirtschaftswachstum = Entwicklung" ist in Lateinamerika in dieser trivialen Form nicht aufgegangen (und auch anderswo nicht), weder in der urspünglichen modernisierungstheoretischen Version, noch in der strukturalistischen Variante ä la CEPAL. Der von entwicklungsökonomischen Theorien propagierte Mythos, den armen Ländern den "Königsweg" weisen zu können, dem sie nur folgen müßten, um reich zu werden, dieser Mythos ist an der Realität zerbrochen. Lateinamerika mußte spätestens seit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise zu Beginn der achtziger Jahre schmerzlich erfahren, daß die bis dahin verfolgte Strategie importsubstituierender Industrialisierung nicht länger finanzierbar war.
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Das "klassische" Instrumentarium der deutschen EZ besteht aus Finanzieller Zusammenarbeit (FZ), Technischer Zusammenarbeit (TZ) und Personeller Zusammenarbeit (PZ). Im Auftrag des BMZ — das auf der politischen Entscheidungsebene die Hauptverantwortung für die deutsche EZ tragt —wird die FZ von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) durchgeführt, die TZ von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). In der PZ, die durch das BMZ (technische Ausbildung) und das Auswärtige Amt (Kultur- und Sprachprogramme) finanziert wird, sind weitere Durchführungsinstitutionen tätig, vor allem die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung (DSE), die Carl Duisberg Gesellschaft (CDG) sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD)
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Die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre aus der Sicht des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dr. Ursula Schäfer-Preuss (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Bonn) Im lateinamerikanischen Subkontinent haben in den zurückliegenden Jahren wichtige Veränderungen stattgefunden. Es hat eine rasante wirtschaftliche Entwicklung eingesetzt. Nach Asien ist Lateinamerika in den letzten Jahren zur Region mit dem größten Wirtschaftswachstum geworden. Die überwiegende Mehrzahl der Länder Lateinamerikas wird heute demokratisch regiert. Es sind wirtschaftliche Reformen eingeleitet worden, durch die die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessert worden sind. Wirtschaftszusammenschlüsse wie der Mercado Común del Sur (MERCOSUR) haben den interregionalen Handel gefördert. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr ihr Lateinamerika-Konzept vorgestellt. Im Rahmen dieses Konzepts wird deutlich, welche wichtige Rolle der Entwicklungszusammenarbeit in dieser Region nach wie vor zukommt. Es zeigt, welche konkreten Möglichkeiten für die Entwicklungspolitik gerade jetzt bestehen, der gestiegenen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in der Welt Rechnung zu tragen, und zwar in Übereinstimmung sowohl mit unseren eigenen außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Belangen als auch in Übereinstimmung mit den Entwicklungsvorstellungen unserer Partner. In ihrer Entwicklungszusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Partnerländern legt die Bundesregierung verstärkten Wert auf Maßnahmen zur Verbesserung der politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und der jeweiligen Strukturen. Besonderen Stellenwert hat die Unterstützung von Reformen des Justizwesens, wobei auch die rechtliche und tatsächliche Absicherung der benachteiligten indianischen Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt. Die Instrumente zur Förderung der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit sollen stärker genutzt werden. In den fortgeschrittenen Ländern der Region kann darüber hinaus bei entsprechender Kreditwürdigkeit das neue Instrument der Verbundfinanzierung eine wichtige Rolle spielen, das die Mobilisierung größerer Finanzvolumina durch die Mischung von öffentlicher Kapitalhilfe zu günstigen Konditionen mit Marktmitteln ermöglicht. Das Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung stellt auch weiterhin vier, in enger Wechselwirkung miteinander stehende Schwerpunktbereiche in den Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit mit Lateinamerika:
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- Die unmittelbare Bekämpfung der extremen Armut, - die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen, - den Aufbau eines leistungsfähigen Bildungswesens, das der armen Bevölkerungsmehrheit neue Perspektiven im Wirtschaftsleben eröffnet, sowie - die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Mit der Konkretisierung der Elemente des Lateinamerika-Konzepts geht eine differenzierte, länderspezifische Ausgestaltung unserer Entwicklungszusammenarbeit einher. Es ist nicht die Absicht der Bundesregierung, die Entwicklungszusammenarbeit lediglich auf die ärmsten Länder des Kontinents zu beschränken. Vielmehr wird sie auf anspruchsvollem Niveau und mit differenzierten Instrumenten auch mit den sogenannten lateinamerikanischen Schwellenländern fortgesetzt. Bei einem stagnierenden Gesamthaushalt für die Entwicklungszusammenarbeit und bei neuen Herausforderungen für die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit durch Osteuropa und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die Region Mittelmeer-Nahost ist es nicht zuletzt im Lichte der anhaltenden Defizite bei der Armuts- und Arbeitslosigkeitsbekämpfung in Lateinamerika und einer Verschärfung des Ungleichgewichts bei der Einkommensverteilung gelungen, die Anteile für Lateinamerika einschließlich Karibik am Gesamtumfang der bilateralen Finanziellen und Technischen Zusammenarbeit von 11,5% in 1995 auf 12,5% in 1996 (Sollzahlen) anzuheben. Die Qualität der Zusammenarbeit mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik hat sich geändert. Maßnahmen der Finanziellen Zusammenarbeit werden zugunsten von höheren Beratungsleistungen in ihrem Umfang graduell reduziert. Kapitalinvestitionen können insbesondere in weit größerem Umfang durch die multilateralen Finanzierungseinrichtungen, wie Interamerikanische Entwicklungsbank und Weltbank (die Bundesrepublik Deutschland ist Mitglied in beiden Einrichtungen), mitfinanziert werden. Auch hat eine starke sektorale Konzentration vor allem in den sogenannten Schwellenländern stattgefunden, beispielsweise auf Maßnahmen der Armutsbekämpfung, des Umwelt- und Ressourcenschutzes und der Förderung von Klein- und Mittelindustrie bzw. -unternehmen (so im Falle Brasiliens). Vernetzungsbestrebungen sind von Bedeutung im Bereich der Förderung der Klein- und Mittelindustrie in einem Schwellenland wie Uruguay, das mittelfristig aus dem Kreis der Empfängerländer bilateraler staatlicher Hilfe herauswachsen dürfte. Zunehmende Bedeutung hat darüber hinaus eine Intensivierung von staatlicher und nichtstaatlicher Zusammenarbeit vor allem im Bereich der Armutsbekämpfung, aber auch bei der Reform des Justizwesens erhalten. Die Entwicklungszusammenarbeit mit unseren lateinamerikanischen Partnerländern soll Beitrag zur Bewältigung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme sein. Hiermit wollen wir sie unterstützen, auf dem eingeschlagenen Reformweg weitere Fortschritte zu erzielen.
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Die entwicklungstheoretischen Diskussionen diesseits und jenseits des Atlantiks sind an der konzeptionellen Ausgestaltung der deutschen EZ mit Lateinamerika nicht spurlos vorüber gegangen, zumal die lateinamerikanischen Diskussionsbeiträge nicht unwesentlich zur Bereicherung der entwicklungstheoretischen Forschung in Deutschland beigetragen haben. Freilich hing das Ausmaß, in dem die Stimmen Lateinamerikas in der entwicklungstheoretischen Strategiediskussion bei der Ausgestaltung der deutschen Entwicklungspolitik berücksichtigt (oder zumindest: zur Kenntnis genommen) wurden, in hohem Maße davon ab, inwieweit diese Stimmen mit der politischen Programmatik der jeweils in Bonn regierenden Partei(en) in Einklang standen. "Das Ende der »Dritten Welt« und das Scheitern der großen Theorie" - so der Titel eines entwicklungstheoretischen Nekrologs (Menzel 1992) - haben die deutsche Entwicklungspolitik nicht unberührt gelassen. Sie ist realistischer in der Einschätzung der Grenzen ihrer Möglichkeiten und Wirkungen geworden, die zwischen machtvollen Interessen der Wirtschafts-, Sicherheits-, Außen- und Innenpolitik insgesamt eher gering bleiben. Zudem hat die staatliche EZ begonnen, auf die Ausdifferenzierung der politischen, ökonomischen und sozialen Situation in den Entwicklungsländern mit einer regionalspezifischen Akzentuierung ihrer Strategiekonzepte zu reagieren. Hinzu kommt, daß seit 1991 mit den sogenannten "Spranger-Kriterien" Rahmenbedingungen für die deutsche Entwicklungspolitik formuliert wurden, durch die bilaterale Leistungen konditioniert werden sollen: von der Wahrung der Menschenrechte und dem Vorhandensein rechtsstaatlicher Strukturen im Empfängerland, von einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen und am Entwicklungsprozeß sowie von der Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns in den Empfängerländern, von einer Liberalisierung der Wirtschaftspolitik und der Förderung privatwirtschaftlicher Unternehmen. Zumindest dem Anspruch nach will die deutsche EZ insbesondere diejenigen Empfängerländer unterstützen, die sich um demokratische Verhältnisse sowie um eine wirtschaftlich leistungsfähige und sozial ausgeglichene Gesellschaftsordnung bemühen. Die "Spranger-Kriterien" sollen vorrangig dem Politikdialog mit den Partnerregierungen dienen und Entscheidungshilfen bei der Auswahl der Instrumente, Träger und Schwerpunkte der EZ bieten5. Für die EZ mit Lateinamerika bedeutet dies u.a. eine vermehrte Förderung von Maßnahmen zur Stärkung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie die Unterstützung von Reformen zur Verbesserung der Partizipation aller Bevölkerungsschichten am Entwicklungsprozeß (BMZ 1995a: 50). In der entwicklungspolitischen Vergabepraxis sind die "Spranger-Kriterien" bislang mit pragmatischer Flexibilität gehandhabt worden, wobei sowohl Erfahrungen der bisherigen EZ als auch politische und soziokuiturelle Besonderheiten der Empfängerländer Berücksichtigung fanden. Oder mit anderen Worten: nicht immer sind die "Spranger-Kriterien" im Politikdialog mit allen Partnern mit derselben Rigidität zur Anwendung gekommen. Zwar gelten in der deutschen Entwicklungspolitik die Menschenrechte als universell gültig und schützenswert, aber bei der Einforderung ihrer Einhaltung wird gelegentlich durchaus auf andersartige kulturelle Traditionen und politische Verhaltensweisen der "Partner" Rücksicht genommen (wofür nicht nur die EZ mit China ein Beispiel ist).
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im Rahmen des Politikdialogs hat beispielsweise der brasilianische Justizminister Nelson Jobim im Marz 1996 in Bonn an einer Gesprächsrunde über die Demarkierung von Indianergebieten teilgenommen und den Aktionsplan seiner Regierung zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in Brasilien vorgestellt.
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Immerhin dürften die "Spranger-Kriterien" aber bereits Einfluß auf die Vergabe von EZ-Mitteln an einige lateinamerikanische Staaten gehabt haben: beispielsweise auf die Einstellung der Mittelvergabe an Haiti 1992/93 sowie auf die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit El Salvador und die deutliche Ausweitung der EZ mit Chile (OECD 1995: 17).
2. Bisherige Leistungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika6 In der EZ der Bundesrepublik Deutschland mit den Ländern der "Dritten Welt" ist Lateinamerika lange Zeit kaum eine besondere Bedeutung zugemessen worden, zumal es keine aus einer gemeinsamen (kolonialen) Vergangenheit bedingte spezifischen Bindungen an diese Region gab. Das vorrangige Interesse galt in der ersten Dekade der deutschen EZ dem Entkolonialisierungsprozeß in Afrika und Asien. Der entwicklungspolitische Zielkatalog wurde von export- und deutschlandpolitischen Interessen (Nichtanerkennung der DDR) dominiert und Lateinamerika erschien eher ein Kontinent sekundärer entwicklungspolitischer Priorität zu sein (Hamann 1994:107); die meisten Länder Lateinamerikas spielten als Empfänger deutscher EZ-Leistungen in der Frühphase der Entwicklungskooperation nur eine nachgeordnete Rolle gegenüber den afrikanischen Staaten südlich der Sahara und den Ländern im Armutsgürtel Südostasiens. Deutsche Entwicklungshilfe wurde zunächst hauptsächlich nach (außen—politischen Wohlverhaltensgesichtspunkten vergeben und an möglichst viele Länder: "Deutsche Hilfe trat selbst in solch abgelegenen Gebieten wie Britisch-Honduras, [...], Nikaragua, Guatemala, El Salvador, der Dominikanischen Republik, Haiti, Honduras [...] in Erscheinung" (Sohn 1972: 14). Später hat die deutsche Entwicklungspolitik die Ungebundenheit an historisch gewachsene Verpflichtungen gegenüber Lateinamerika auch als Chance verstanden, ihre Leistungen stärker als andere Geberländer vorrangig nach entwicklungsstrategischen Gesichtspunkten zu vergeben und hierbei - wenn möglich - das Bedürftigkeitsprinzip in den Vordergrund zu stellen. Allerdings gab es bereits zu Beginn der sechziger Jahre parlamentarische Initiativen zugunsten einer bevorzugten Behandlung Lateinamerikas bei der Vergabe von Entwicklungshilfeleistungen, da hier größere und beständigere Erfolge der EZ erwartet wurden als in anderen Teilen der "Dritten Welt". Solange Lateinamerika jedoch nicht als politische "Problemregion" galt, in der eine Machtübernahme des Kommunismus zu befürchten war, konnte die Region auf keine bevorzugte Vergabe finanzieller und technischer Hilfeleistungen rechnen. Dies haben Botschafter lateinamerikanischer Staaten in der Bundesrepublik Deutschland seit Beginn der offiziellen EZ gegen Ende der fünfziger Jahren mehrfach zum Anlaß genommen, immer wieder gegen die vermeintliche Benachteiligung ihrer Region bei der Mittelvergabe zu protestieren (Moniz Bandeira 1995: 159ff.). Bei konsequenter Ausrichtung der staatlichen EZan der wirtschaftlichen und sozialen Bedürftigkeit der Empfängerländer hätte Lateinamerika während der sechziger und
Die folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit allen Staaten Lateinamerikas und der Karibik.
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siebziger Jahre kaum Aussicht auf einen wesentlichen Anteil an den begrenzten Mitteln des deutschen Entwicklungshilfeetats haben können; denn die Staaten dieser Region nahmen in den üblichen internationalen Klassifikationen der "Dritten Welt" an Hand von Entwicklungsindikatoren wie Pro-Kopf-Einkommen, Industrialisierungsgrad etc. überwiegend mittlere bis höhere Positionen ein. De facto spielten für die Vergabe deutscher EZ-Leistungen an lateinamerikanische Regierungen auch andere Kriterien als lediglich entwicklungspolitische Förderungswürdigkeit eine Rolle, wie etwa außenpolitische Opportunitätserwägungen, die Stabilisierung oder Erschließung von Absatzmärkten sowie die Sicherung der Rohstoffversorgung für die deutsche Wirtschaft. Zudem drängt sich der Eindruck auf, daß für die Vergabe der EZ-Mittel an die lateinamerikanischen Länder aus politischen Erwägungen eher das "Gießkannenprinzip" maßgeblich gewesen zu sein scheint als eine strikte Orientierung an entwicklungsstrategischen Kriterien (vgl. Tabelle 1). "Pragmatische Flexibilität", die sich die deutsche EZ bisweilen zugute hält, zeigt sich beispielsweise in einer BMZ-Liste der bis Ende 1992 abgeschlossenen 148 Projekte der bilateralen TZ mit Brasilien. Hier finden sich Projekte jeglichen Typs und unterschiedlicher Größenordnungen, mit höchst diversen Zielsetzungen; ein DM-500Projekt mit der Bezeichnung "Lieferung von Forelleneiern für die Fischzucht in Säo Paulo" war offensichtlich ebenso von entwicklungspolitischer Relevanz wie das Projekt "Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten der brasilianischen Kohle" (Fördersumme 436.000 DM), die "Förderung des Gesundheitswesens in Rio de Janeiro" (245.685,22 DM) oder das Projekt "Lagerstättenkundliche Untersuchungen in Minas Gerais", mit einer Fördersumme von 23,1 Mio. DM bis dahin das aufwendigste Einzelprojekt der bilateralen staatlichen TZ mit Brasilien. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren konnte Lateinamerika seine Position als Empfänger deutscher öffentlicher EZ-Leistungen deutlich verbessern. Insbesondere für die sich rasch industrialisierenden Schwellenländer des lateinamerikanischen Subkontinents wurden die entwicklungspolitischen Erfolgsaussichten weithin als sehr günstig angesehen. Da das "kritische Minimum" an institutioneller, materieller und personeller Infrastruktur in Ländern wie Brasilien, Chile und Argentinien gegeben zu sein schien, versprach Entwicklungskooperation mit diesen lateinamerikanischen "Aufsteigerländern" zu einer rentablen Investition in eine vielversprechende Zukunft zu werden, mit interessanten Absatz- und Beschaffungsmärkten für die deutsche Wirtschaft. Während der siebziger Jahre floß ein wachsender Anteil der deutschen ODA-Leistungen an Lateinamerika. Die (Netto-)Leistungen an lateinamerikanische Staaten erreichten in der Periode 1970-79 mit 3,2 Mrd. DM fast das Zweieinhalbfache der Vorperiode 1960-69, um sich in den Jahren 1980-89 nochmals mehr als zu verdoppeln (auf knapp 7 Mrd. DM). Im Durchschnitt der Jahre 1970-79 wurden die jährlichen Nettoauszahlungen an Lateinamerika jährlich um 1,7% gesteigert und zwischen 1980 und 1989 um 1,6%. Trotz dieser Zuwachsraten waren die deutschen ODA-Leistungen an Lateinamerika pro Kopf der dortigen Bevölkerung rückläufig, da das demographische Wachstum in der Region während der siebziger Jahre jährlich 2,5% erreichte und auch in den
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achtziger Jahren mit jährlich 2,3% noch deutlich über der nominalen Steigerungsrate der EZ-Zahlungen lag7. Der Anteil der Kreditfinanzierung im Rahmen der deutschen ODA-Leistungen an Lateinamerika hat sich im Laufe derzeit signifikant verändert. Wurden 1960-69 noch mehr als 40% der Nettoauszahlungen als Kredite gewährt, so sank dieser Anteil in der Dekade 1970-79 auf knapp 26%, um sich im Zeitraum 1980—89 wieder leicht auf ca. 28% zu erhöhen. Während der achtziger Jahre, dem "Verschuldungsjahrzehnt", in dem sich die externe Zahlungsfähigkeit vieler lateinamerikanischer Schuldnerländer zeitweise rapide verschlechtert hatte, trugen EZ-Kredite in verstärktem Ausmaße dazu bei, Finanzierungslücken in vielen Bereichen zu schließen, die sich nach 1982 durch den erschwerten Zugang Lateinamerikas zu kommerziellen Bankkrediten aufgetan hatten. Zahlungsbilanz-Aspekte spielten daher bei den Empfängerländern für die Beantragung von EZ-Leistungen häufig eine wichtigere Rolle als entwicklungsstrategische Erwägungen. Zu der gesamten Auslandsverschuldung lateinamerikanischer Länder trugen die öffentlichen EZ-Kredite jedoch nicht entscheidend bei8. Unter dem Eindruck der verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Verschuldungskrise Lateinamerikas sah sich die deutsche Bundesregierung möglicherweise veranlaßt, auch ihrem entwicklungspolitischen Engagement in der Region erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Erstmals 1985 wurde in den periodischen "Berichten zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung" ausdrücklich betont, daß Lateinamerika eine wachsende Bedeutung bei der geographischen Verteilung der Entwicklungshilfemittel zuzumessen sei, eine Formulierung, die 1988 erneut zur Charakterisierung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Mittel- und Südamerika gewählt wurde (BMZ 1985: 42; 1988: 47). Mit rund 3,3 Mrd. DM bilateraler deutscher EZ-Zusagen zwischen 1950 und 1993 nimmt Brasilien mit Abstand den Spitzenplatz unter den lateinamerikanischen Empfängerländern ein, gefolgt von Peru, dem Mittel in Höhe von 2,4 Mrd. DM zugesagt wurden (vgl. Tabelle 3). Auf die zehn Staaten, denen 1950-93 die höchsten kumulierten Beträge zugeteilt wurden, entfallen etwa drei Viertel der gesamten deutschen EZ-Leistungen an Lateinamerika. Hatten 1982/83 noch drei lateinamerikanische Länder in der Liste der zwanzig Hauptempfänger bilateraler deutscher ODA-Leistungen rangiert (Brasilien auf Platz 12 mit 2,2% der bilateralen Hilfe; Peru auf Platz 13 mit 1,9%; Mexiko auf Platz 17 mit 1,7%), so fanden sich 1992/93 nur noch Peru (Platz 8 mit 2,1%) und Bolivien (Platz 9 mit 2,0%) auf dieser Liste (OECD 1995: 29). 1995 war unter den zehn Hauptempfängern deutscher TZ (soweit sie von der GTZ verwaltet wird) kein einziges lateinamerikanisches Land mehr. Für die finanzielle Intensität der deutschen Entwicklungskooperation mit Lateinamerika war aus der Sicht des Mittelgebers die Art des jeweiligen politischen Regimes in
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Bei der Bewertung der nominalen ODA-Leistungen ist aus der Sicht des Geberlandes zu berücksichtigen, daß die jährliche Inflationsrate in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1960-69 3,2% betrug, zwischen 1970-79 5,3 und zwischen 1980-89 2,9%; der reale Transfer von EZ-Mitteln ist also entsprechend niedriger anzusetzen.
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Sämtliche bi- und multilateralen EZ-Kredite an Lateinamerika hatten 1993 lediglich einen Anteil von 14,2% an der gesamten langfristigen Auslandsverschuldung der Region; 1980, also vor dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise, hatte dieser Anteil sogar nur 13,2% betragen; vgl. World Bank 1994, vol. 1: 206.
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den Empfängerländern offensichtlich kein allein entscheidendes Vergabekriterium; im Laufe der Zeit wechselnde (latente) Präferenzen für "linke" oder "rechte" Regime dürften aber die Mittelvergabe durchaus mitbeeinflußt haben. Immerhin finden sich auf den vorderen Plätzen der Leistungsempfänger Paraguay unter der Diktatur Stroessners, aber auch Peru während des links-nationalistischen Militärregimes (1968-80). Im Falle Chiles wurden deutsche Entwicklungshilfeleistungen sowohl während der Regierungszeit Allende (1970-73), als auch während des Pinochet-Regimes gewährt. Selbst die härteste Phase der Militärherrschaft in Brasilien, während der Präsidentschaft Garrastazu Mèdici (1969-74), bedeutete kein Hindernis für eine erhebliche Ausweitung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit Brasilien. Für Nikaragua wurden die deutschen Entwicklungshilfeleistungen nach dem Sturz der Somoza-Dynastie (1979) vervierfacht und blieben auf diesem Niveau zunächst weitgehend konstant, auch nachdem seit 1982 in Folge des Regierungswechsels in Bonn zunehmend Vorbehalte gegen die Unterstützung der Sandinisten artikuliert worden waren. Lediglich gegenüber dem sozialistischen Kuba erlegte sich die offizielle bundesdeutsche Entwicklungspolitik eine fast vollständige Abstinenz auf. Von der ehemaligen DDR erhielt Castro hingegen anhaltende wirtschaftliche und ideologische Unterstützung (Krämer 1994).
3. Erfolge, Mißerfolge und viele kleine Verbesserungen Fragt man nach Erfolgen und Mißerfolgen der (bundes-)deutschen EZ mit Lateinamerika, dann hängt die Antwort entscheidend von dem Bewertungsmaßstab ab, den man der Wirkungsprüfung zugrunde legt. Das Development Assistance Committee (DAC) der OECD-Geberländer hat in seinen 1992 verabschiedeten "Principles forEffective Aid" Empfehlungen für das laufende (projektimmanente) Monitoring, die Projektfortschrittsund Abschlußkontrollen sowie für die expost Evaluierung der öffentlichen EZ-Maßnahmen formuliert (OECD 1992a). Diese Empfehlungen werden zumindest teilweise bereits seit längerem in den Erfolgskontrollen berücksichtigt, denen Maßnahmen der deutschen bilateralen TZ und FZ seit 1970 kontinuierlich unterworfen sind. Wesentliche Kriterien der Evaluierungen, durch die für eine begrenzte Anzahl laufender oder bereits abgeschlossener EZ-Projekte und -Programme Gründe für den Erfolg oder Mißerfolg festgestellt werden sollen, sind Effektivität (Zielerreichungsgrad), Effizienz (Kosten-Nutzen-Relation) und entwicklungspolitische Nachhaltigkeit (BMZ 1993: 15). Als besonders schwierig hat sich bislang die Beurteilung der Nachhaltigkeit von EZMaßnahmen erwiesen, d.h. inwieweit positive Ergebnisse der EZ auch nach Beendigung der Fördermaßnahmen über einen längeren Zeitraum hinweg Bestand haben (Stockmann/Gaebe 1993). Beispiele für offiziell als erfolgreich eingestufte Projekte in Lateinamerika sind9: -
Landwirtschaftliche Nutzbarmachung von Flußniederungen in Brasilien durch kostengünstige Be- und Entwässerung. Das PROVARZEAS-Projekt konnte mit einem vergleichsweise geringen Förderaufwand von 4,25 Mio. DM in den Jahren 1978—86 eine beachtliche Multiplikatorwirkung erzielen: Die beteiligten kleinen und mittleren
Diese Beispiele, wie auch die nachfolgenden Beispiele für weniger erfolgreiche Projekte, sind entnommen aus BMZ 1985: 98f.; 1988: 110f.; 1991: 131f.; 1995a: 139f.
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Bauern brachten eine Eigenbeteiligung von rund 840 Mio. DM an den erforderlichen Investitionen auf, womit etwa 150.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden10. -
Ernährungssicherungsprogramm in Guatemala. Dieses 1976 begonnene Projekt, das ursprünglich nur zur Behebung von Erdbebenschäden beitragen sollte, wurde zu einem umfassenden Selbsthilfeprogramm für marginalisierte Bevölkerungsgruppen erweitert. Mittels food-for-work als zentralem Förderungsinstrument gelang die direkte Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Maßnahmen zur Steigerung und Sicherung der landwirtschaftlichen Subsistenzproduktion. Dem Projekt, das bis 1986 mit 24,5 Mio. DM gefördert wurde, ist auch von guatemaltekischer Seite nachhaltiger Erfolg bescheinigt worden.
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Zweisprachige Primarschulerziehung in Peru. Dieses Projekt zielte darauf ab, ein Modell für eine den Bedürfnissen der peruanischen Hochlandbevölkerung entsprechende zweistufige Alphabetisierung in Quechua und Spanisch zu entwickeln. Auf diese Weise sollten durch den Anfangsunterricht in der Muttersprache Quechua die soziokulturelle Identität und damit die Lernmotivation der Kinder gefestigt sowie durch das nachfolgende Erlernen der spanischen Sprache die sozioökonomische Integration in die Volkswirtschaft des Landes gefördert werden".
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Luftreinhaltung im Großraum von Mexiko-Stadt. Von deutscher Seite wurden rund 10 Mio. DM zur Verfügung gestellt, um durch technische und wirtschaftliche Beratung der mexikanischen Regierung Entscheidungshilfen für eine Schwerpunktsetzung innerhalb des Programms zur Verbesserung der Luftqualität in der metropolitanen Region zu geben.
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Einfachwohnungsbau durch Selbsthilfe in El Salvador. Mit 17,5 Mio. DM deutscher FZ-Mittel wird das Projekt Popotlan II in Apopa, nördlich der Hauptstadt San Salvador gefördert; 1.500 einfachste Wohnhäuser einschließlich infrastruktureller Einrichtungen werden von den zukünftigen Bewohnern gruppenweise unter der Anleitung von Facharbeitern gebaut, um einen Beitrag zur Bekämpfung der chronischen Wohnungsnot zu leisten, von der vor allem die ärmere städtische Bevölkerung El Salvadors betroffen ist.
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Erosionsschutzkontrolle im Gebiet des Rio Checua in Kolumbien. Da die kolumbianische Regierung nicht über die Mittel und das Know-how zur wirksamen Behebung der Erosionsschäden verfügt, die durch unangepaßte Bodenbewirtschaftung eingetreten sind, stellt die deutsche Seite FZ- und TZ-Mittel zur Verfügung, damit kurative und/oder präventive Maßnahmen zur Sicherung der erodierten oder erosionsgefährdeten Flächen durchgeführt werden. Dadurch sollen die Produktionsgrundlagen der im Gebiet wohnenden Bauern gesichert und die Gefährdung der Wasserversorgung von Bogotá begrenzt werden.
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Integrations- und Beschäftigungsförderungsprogramm von Soldaten in El Salvador. Um den ca. 33.000 Soldaten und Guerillakämpfern, die nach Beendigung des Bür-
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Eine ausführlichere Beschreibung dieses Projektes findet sich bei Thiesing 1986: 14f
"
Aus den Erfahrungen mit diesem Projekt ist spater ein Modell für interkulturelle, zweisprachige Erziehung entwickelt worden, um die indianischen Sprachen aufzuwerten und sie von ihrem zweitklassigen Status als Haus-, Küchen- und Dorfsprachen im Verhältnis zu den dominanten offiziellen Amtssprachen Spanisch und Portugiesisch zu befreien; siehe hierzu von Gleich 1994:151f.
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gerkriegs demobilisiert wurden, neue Lebensperspektiven und erhöhte Eingliederungschancen in den Arbeitsmarkt zu bieten, wurden von der GTZ (nach Wiederaufnahme der deutschen EZ im Jahre 1992) Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungsniveaus, der beruflichen Ausbildung und der Arbeitserfahrungen der Zielgruppe durchgeführt. In einer zweiten Phase (ab Januar 1998) werden verstärkt Existenzgründungen, Kleinst- und Kleinunternehmer und deren Eingliederung in regionale Wirtschaftskreisläufe gefördert. In der Programmkonzeption sind die entwicklungsökonomischen (Unter-)Ziele zugleich Mittel für das politische (Ober-)Ziel der Friedenssicherung und Entschärfung des Gewaltpotentials. Auch nach Einschätzung der salvadorianischen Regierung haben die bisher durchgeführten Maßnahmen dazu beigetragen, den Friedensprozeß und die demokratische Entwicklung in El Salvador zu stabilisieren. In der Liste der durch das BMZ als weniger erfolgreich eingestuften entwicklungspolitischen Maßnahmen mit deutscher Beteiligung finden sich z.B. in Peru das Projekt integrierter ländlicher Regionalentwicklung in Ayacucho sowie der Bau des Fischereihafens Samanco(17,5 Mio. DM); in Bolivien das Vorhaben zur Erweiterung der Zinnhütte Vinto sowie ein ländliches Regionalentwicklungsprogramm im Department Santa Cruz; in Costa Rica ein Projekt zur Förderung des Genossenschaftswesens (4,8 Mio. DM). In der Dominikanischen Republik erhielt ein mit deutschen EZ-Krediten finanziertes Ausbau- und Modernisierungsprogramm für die elektrischen Übertragungs- und Verteilungssysteme von der KfW die Wertung "nicht mehr ausreichende entwicklungspolitische Wirksamkeit" (KfW 1996: 62). Kenner der Entwicklungshilfe-Szene in Lateinamerika können diese Mißerfolgsliste um zahlreiche andere problematische Projekte erweitern, wie etwa das TZ-Irrigationsprojekt im semiariden Nordostbrasilien (Sangmeister 1981) oder das FZ-Projekt Zinkhütte in Cajamarquilla/Peru (Hoppen 1987). Eklatante Fehlleitungen von EZ-Mitteln waren insgesamt jedoch Ausnahmen, wie bei jenem TZ-Projekt "Ausbildungswerkstatt für Kfz-Mechaniker", dessen einzige Aufgabe die Wartung der Nobelkarosse des Staatspräsidenten blieb. Das wegen seiner ökologischen und sozialen Auswirkungen in der deutschen und brasilianischen Öffentlichkeit außerordentlich umstrittenen Grande-Carajäs-Projekt im östlichen Amazonasgebiet Brasiliens erhielt keine deutschen FZ- oder TZ-Mittel, wohl aber einen Finanzierungsbeitrag der KfW in Höhe von 130 Mio. US-Dollar zur "Sicherung der Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft" (Moser 1995: 16). Die Häufung weniger erfolgreicher Projekte in einem Land kann als ein Indiz dafür verstanden werden, daß auch eine "Überförderung" möglich ist, wenn die administrative Absorptionskapazität des Empfängers überschritten wird. So sind beispielsweise Peru - traditionell ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungskooperation mit Lateinamerika - von 1950 bis einschließlich 1994 deutsche EZ-Leistungen in Höhe von insgesamt 1,8 Mrd. DM für eine Vielzahl von FZ- und TZ-Projekten in unterschiedlichsten Bereichen zugeflossen; erst seit Beginn der neunziger Jahre wurden Projekte und Programme der deutsch-peruanischen EZ auf wenige Sektoren konzentriert, um die Wirksamkeit zu verbessern (BMZ 1995b: 138). Gründe für Mißerfolge in der Entwicklungskooperation mit Lateinamerika waren Fehleinschätzungen derökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen seitens der Projektplaner, unangepaßte Übertragung deutscher Planungstechniken oder Produktionsverfahren auf lateinamerikanische Verhältnisse, Vernachlässigung 103
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des soziokulturellen Umfeldes oder mangelnde Berücksichtigung der ökologischen Konsequenzen der durchgeführten Maßnahmen. Trotz einzelner Mißerfolge genießt die deutsche Entwicklungspolitik in Lateinamerika insgesamt ein recht hohes Ansehen. Neben Professionalität und interkultureller Lernfähigkeit wird ihr zugute gehalten, daß sie ihre Kooperationsangebote in der Vergangenheit mit weniger sachfremden Konditionen verknüpft hat, als dies bei anderen Gebern häufig der Fall war. Die Bindung von EZ-Leistungenan Lieferaufträge für Waren und Dienstleistungen aus dem Geberland wurde in der deutschen EZ mit Lateinamerika bis in die siebziger Jahre nur vereinzelt praktiziert. Seit den achtziger Jahren hat sich jedoch der Druck auf die Entscheidungsträger der Entwicklungspolitik spürbar erhöht, durch geeignete Maßnahmen unmittelbare Vorteile für die deutsche Wirtschaft sicherzustellen. Allerdings ist der bis Anfang der neunziger Jahre merklich gestiegene Anteil der Lieferbindung deutscher bilateraler ODA-Leistungen - der bei lateinamerikanischen Partnern für deutliche Irritationen sorgte - wieder rückläufig, seitdem die OECD-Länder 1992 die Einhaltung einer strengeren Disziplin bei liefergebundener Entwicklungshilfe und bei Mischfinanzierungen (d.h. bei einer Verknüpfung von Mitteln aus dem Entwicklungshilfeetat und auf dem Kapitalmarkt aufgenommenen Finanzierungsmitteln) vereinbart haben (OECD 1995: 46). Von deutscher Seite wird vor allem bemängelt, daß die bürokratischen Genehmigungsverfahren in vielen lateinamerikanischen Staaten die Planung und Durchführung von EZ-Projekten mit vermeidbar hohen Transaktionskosten und erheblichen Zeitverzögerungen unnötig belasten. Angesichts der Massenarmut in Lateinamerika sollte deutsche Entwicklungspolitik ihr Ziel ernstnehmen, elementare Lebensvoraussetzungen zu sichern helfen und Unterprivilegierte in den Stand zu setzen, sich selbst zu helfen (BMZ 1988: 39). Wo dies auf der Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht möglich war, weil eine "Partnerregierung" Menschenrechte mißachtete oder kulturelle, soziale und wirtschaftliche Partizipationsrechte bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. ethnische Minderheiten) beeinträchtigte, dann mußte versucht werden, auch außerhalb der etablierten Formen zwischenstaatlicher EZ in Not geratenen Menschen beizustehen. Die Zusammenarbeit der öffentlichen Entwicklungspolitik mit Kirchen und anderen nichtstaatlichen Organisationen hat es in Lateinamerika ermöglicht, eine Vielzahl basisorientierter Projekte und Programme mit Schwerpunkten in den grundbedürfnisrelevanten Bereichen (Aus—)Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau erfolgreich durchzuführen. Allein in Brasilien wurden zwischen 1962 und 1992 etwa 700 kirchliche Entwicklungsprojekte mit rund 324 Mio. DM aus dem deutschen Bundeshaushalt unterstützt, wovon mehr als 60% auf Maßnahmen der katholischen Kirche entfielen. Seitens der staatlichen Entwicklungspolitik wird die Brückenfunktion der Kirchen ausdrücklich anerkannt und das Ansehen Deutschlands in Lateinamerika nicht zuletzt auch auf die Hilfsprogramme der Kirchen zurückgeführt' 2 . Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland/Brot für die Welt hat 1993/94 rund 25% seiner gesamten Fördermittel für Projekte und Programme in Lateinamerika bewilligt, die überwiegend mit Kirchen und kirchennahen Organisationen
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Vgl die Stellungnahme von Minister Spranger im Deutschen Bundestag, 13. Wahlperiode, 56. Sitzung vom 22 September 1995: 4732
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durchgeführt wurden sowie mit nichtkirchlichen nationalen oder überregionalen Organisationen in den Empfängerländern, um diese in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Engagement zu unterstützen (AG KED 1995: 24). Ausschließlich in Lateinamerika ist seit 1961 die Bischöfliche Aktion Adveniat tätig, die 1994/95 mit insgesamt 125,5 Mio. DM Hilfsprojekte für die Kirche in Lateinamerika unterstützte, davon 13,6 Mio. DM für kirchliches Bildungswesen (Bischöfliche Aktion Adveniat 1995: 17). Das katholische Hilfswerk Misereor bewilligte in dem Zeitraum 1990-94 jährlich durchschnittlich 101 Mio. DM für Projekte in Lateinamerika, wobei insbesondere das Bemühen um soziale Gerechtigkeit ein vorrangiges Ziel der kirchlichen Entwicklungsarbeit mit lateinamerikanischen Partnern darstellt; ein Schwerpunktland (vor Kolumbien, Peru, Argentinien, Bolivien, Mexiko und Guatemala) der Projektarbeit von Misereor ist Brasilien, wo verstärkt das Engagement lokaler Gruppen im Urbanen Raum sowie die Qualifizierung diözesaner Sozialprogramme in Nord- und Nordostbrasilien gefördert werden13. Auch die deutschen politischen Stiftungen sind in Lateinamerika seit vielen Jahren aktiv, vor allem mit Projekten der gesellschaftspolitischen Bildung und der Sozialstrukturhilfe. In mehreren Ländern der Region haben die politischen Stiftungen mit ihrem Einflußpotential als wichtige zusätzliche Schiene zur offiziellen Diplomatie gedient. Die KonradAdenauer-Stiftung (KAS) ist seit Beginn ihrer Tätigkeit sehr stark in Lateinamerika engagiert, wohin mehr als die Hälfte ihrer Projektmittel fließt und die meisten Auslandsmitarbeiter eingesetzt sind (Wagner 1994:186); seit 1981 unterhält die KAS in Buenos Aires den Centro Interdisciplinario de Estudios sobre elDesarmllo Latinoamericano (CIEDLA). Das Lateinamerika-Profil der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die seit Mitte der sechziger Jahre in der Region aktiv ist, wird durch eine ausgeprägte Einbindung wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Forschungseinrichtungen in die Politikberatung geprägt14. Eine stärkere Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen (NROs) und privaten Akteuren wird inzwischen auch von der staatlichen EZ als Chance für die Mobilisierung der Entwicklungspotentiale in Lateinamerika gesehen; nichtstaatliche Akteure haben häufig einen besseren Zugang zu intermediären Organisationen (lokale Selbsthilfegruppen, Genossenschaften, Gewerkschaften etc.) und können dadurch einen wichtigen eigenständigen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den lateinamerikanischen Staaten leisten (BMZ 1992a: 15). Allerdings werden die Programme und Projekte der zahlreichen nichtstaatlichen Organisationen bislang meist unkoordiniert in Gang gesetzt und nicht hinreichend systematisch auf Wirksamkeit überprüft.
Neben den Aktivitäten der großen Hilfswerke gibt es vielfältige Unterstützungsaktionen kirchlicher Institutionen und Solidaritätsgruppen in Lateinamerika, wie etwa die Bruderhilfe der Erzdiözese München für die Kirche in Ekuador (1995: 5.9 Mio. DM) oder die Projekte "Konkrete Solidarität" der Missionszentrale der Franziskaner für Straßenkinder in Uruguay und Brasilien sowie für AIDS-Kranke in Argentinien. In verschiedenen lateinamerikanischen Staaten hat die FES wissenschaftliche Politikberatung institutionalisiert, unter Namen wie Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales (ILDIS) oder Centro de Estudios Democráticos de América Latina (CEDAL).
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4. Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit Der "Ausschuß für Entwicklungshilfe" der OECD hat für die neunziger Jahre eine stärkere Fokussierung der EZ mit Lateinamerika gefordert. Dabei sollten die Geberländer die lateinamerikanischen Bemühungen um ein sich selbsttragendes Wirtschaftswachstum und soziale Stabilität unterstützen sowie politischen Pluralismus und ökonomische Partizipation in Lateinamerika stärken (OECD 1992:11f.). Die deutsche EZ mit Lateinamerika will sich auf vier zentrale Ansätze konzentrieren (Schaffer 1995: 237f.): die unmittelbare Bekämpfung der extremen Armut; die mittelbare Bekämpfung der Armut durch Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen; der Aufbau eines leistungsfähigen Bildungswesens, das der armen Bevölkerungsmehrheit neue Perspektiven im Wirtschaftsleben eröffnen soll; die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Neben einer inhaltlichen Konzentration der deutschen EZ mit Lateinamerika werden die verfügbaren finanziellen Mittel auch auf eine geringere Anzahl von Ländern verteilt. Schwellenländer, deren wirtschaftliche Situation es erlaubt, auf das interne und externe kommerzielle Finanzierungspotential zurückzugreifen, sollen bei der FZ nicht mehr berücksichtigt werden' 5 . Dahinter steht auch die Überlegung, daß gegebenenfalls die Gewährung langfristiger Kapitalhilfe zu Vorzugskonditionen eine Fehlallokation knapper Mittel begünstigen kann und notwendige Reformprozesse im Empfängerland (z.B. zur Förderung der internen Kapitalbildung) verzögert. Sofern in den wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern Lateinamerikas entwicklungshemmende Know-how-Defizite bestehen, sollen sie aber auch weiterhin durch TZ unterstützt werden, um die großen Entwicklungsreserven in Schlüsselbereichen zu mobilisieren. Ohnehin lag der instrumentelle Schwerpunkt der bisherigen deutschen EZ mit Lateinamerika bei der TZ, d.h. bei Maßnahmen, die im Rahmen der allgemeinen Ziele der deutschen Entwicklungspolitik dazu beitragen sollen, die Leistungsfähigkeit von Menschen und Institutionen in den Empfängerländern zu erhöhen. Bei den zehn lateinamerikanischen Schwerpunktländern der deutschen EZ hatte von 1950-92 lediglich in El Salvador und Bolivien die FZ einen größeren Anteil an den ODA-Zusagen als die TZ. Von den Lateinamerika insgesamt zugesagten EZ-Mitteln entfielen mehr als 60% auf TZ in Form von Beratungstätigkeiten deutscher Fachkräfte, projektbezogener Aus- und Fortbildung lateinamerikanischer counterparts in Deutschland sowie Lieferungen von Sachgütern und Erstellung von Anlagen. Ende 1992 waren fast 900 deutsche TZ-Fachkräfte (einschließlich Entwicklungshelfern) in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik tätig (BMZ 1994a: 82f.). Im Rahmen der PZ haben allein zwischen 1988 und 1992 mehr als 5.800 Fachund Führungskräfte aus Lateinamerika und der Karibik an Aus- und Fortbildungskursen der DSE teilgenommen; etwa ein Viertel der Teilnehmer kam aus Brasilien (DSE 1993: 120f.). Die DSE hat schon Mitte der achtziger Jahre die Einführung partizipativer Regionalplanungstechniken sowie den Dezentralisierungsprozeß als Teil der unumgäng-
Von dieser Konzentration der deutschen EZ-Mittel waren ab 1994 in Lateinamerika zunächst Venezuela, Uruguay, Panama und Costa Rica betroffen, für die keine neuen Projekte der EZ mehr begonnen werden sollen; vgl. Schaffer 1995: 242.
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Ist die Technische Zusammenarbeit mit Lateinamerika noch zeitgemäß? Hans-Jürgen Krüger (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Eschborn) Das Zeitalter der Globalisierung erfordert weltweites Handeln. Zöge sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit abrupt oder schleichend (durch Wertverfall nominal gleichbleibender Mittel) aus Lateinamerika zurück, würde sie nicht nur verantwortungslos im Sinne einer globalen Verantwortungsethik, sondern auch unklug handeln. Dabei bestehen die Eigeninteressen nicht in kurzatmiger Lieferbindung, sondern darin, gemeinsam zu lernen, wie man mit neuen Herausforderungen sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Change-Prozesse fertig wird. Das zahlt sich auf die Dauer aus - für alle daran ernsthaft mitarbeitenden Partner. Freilich muß man sich selbst dem Wandel unterziehen und den Herausforderungen der Globalisierung aussetzen. Die Zeit der Dampflokomotiven-EZ ist vorbei, es geht jetzt wirklich um Akkupunktur im Sinne einer Therapie des kleinsten Eingriffs, der - an der richtigen Stelle angesetzt - die Selbstheilungskräfte des Körpers mobilisiert. Lateinamerika hat diese Selbstheilungskräfte. Wo es sie einsetzt, werden auch Entwicklungsprojekte zum Erfolg. Interessanterweise sind es die Projekte, in denen der überwiegende Teil der Mittel vom Partner kommt, in denen die Partner ihre besten Leute langfristig für das Projekt abstellen und in denen die Führungsspitze der Partnerorganisation sich mit dem Projekt identifiziert, die gemessen an den Kriterien Effektivität, Effizienz, Nachhaltigkeit und Signifikanz z.T. überraschende Erfolge zeitigten. Aber es bleibt auch für den Akkupunkteur viel zu tun. Er muß den Körper, den er heilen will, gründlich kennen. Dazu muß er lernen, nicht nur an seinen eigenen zu denken, und aufhören, Leitbilder, die er für sich selbst aufgestellt hat, unreflektiert übertragen zu wollen. Die GTZ reagiert auf diese Herausforderung durch Flexibilisierung und Dezentralisierung ihrer Entscheidungsstrukturen. Durch Verlagerung von Sach- und Entscheidungskompetenz in die Partnerländer, durch wachsenden Einsatz lokaler Fachkräfte auch als Experten der GTZ und durch Planungsmethoden, die die Beteiligung der Betroffenen in den Mittelpunkt stellen, glauben wir, die "richtigen Stellen" besser als zuvor finden zu können. Gleichzeitig müssen wir uns gemeinsam mit unserem Hauptauftraggeber, dem BMZ, und den Partnerländern den Forderungen nach transparenten und zügigen Abwicklungen stellen. Es geht nicht an, daß von einer "Antragstellung" (schon das Wort erinnert an Zentralverwaltungsdenken) bis zum Projektbeginn drei bis vier Jahre vergehen. Im Zeitalter der Globalisierung werden nicht mehr die Kleinen von den Großen gefressen, sondern die Langsamen von den Schnellen
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Ist die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika noch zeitgemäß? Die Frage sollte nicht nach dem "ob?", sondern nach dem "wie?" gestellt werden. Eine so gestellte Frage ist ein Appell an die Kreativität und Anpassungsfähigkeit auf beiden Seiten. In den letzten Jahren ist da schon einiges geschehen. Das BMZ hat sich im Politikdialog auf Schwerpunktbildung mit den Partnerländern geeinigt. Den Gemischtwarenladen der Vergangenheit gibt es nicht mehr. Die Projekte wurden "politischer". Institutionelle Probleme des Partners, rechtliche, soziale und ethische Rahmenbedingungen sind nicht mehr tabu (vgl. das Indianerthema in Brasilien). Materiallieferungen ("Forelleneier") sind auf ein absolutes Minimum reduziert. Qualität der Beratungsleistungen steht heute im Vordergrund. Lateinamerika hat heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die finanziellen und personellen Ressourcen, um Change-Prozesse selbsttragend zu machen. Wie wäre es, wenn die deutsche EZ nicht das statistische Durchschnittseinkommen, sondern die Bereitstellung solcher Ressourcen zum Kriterium der Förderungswürdigkeit machen würde? Vielleicht tut ein wenig Konkurrenzprinzip und mehr Eigenleistung (nicht die unsäglichen "counterpart-MMe\" in Form von schlecht bezahlten Staatsfunktionären, stummen Telefonen und renovierungsbedürftigen Verwaltungsbauten, sondern Risikokapital in die gemeinsame Projektkasse!) der Qualität der Projekte ganz gut? Auf jeden Fall muß der Aspekt der gemeinsamen Anstrengungen viel stärker hervorgehoben werden, wozu auch beitragen könnte, wenn wir zugeben (oder überhaupt erst einmal darüber nachdenken), daß auch wir von den Partnern lernen können.
liehen Reformen der staatlichen Verwaltungsapparate durch Trainingsmaßnahmen unterstützt (Edelman 1985). Derzeit sind Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Justizreform Schwerpunkte der von der DSE mit Lateinamerika durchgeführten PZ' 6 . Die FZ, d.h. die langfristige Finanzierung von Maßnahmen zur besseren Nutzung oder Erhöhung des Produktionspotentials im Empfängerland durch zinsgünstige Kredite oder Zuschüsse, lag im lateinamerikanischen Durchschnitt bei weniger als 40% der von deutscher Seite zugesagten Mittel. Im Vergleich zu anderen Regionen hatte in Lateinamerika die FZ als entwicklungspolitisches Instrument eine deutlich geringere Bedeutung als die TZ; dies galt zumindest solange, wie privates Kapital in ausreichendem Maße in die meisten lateinamerikanischen Staaten floß, und insofern Technologieund Wissenstransfer entwicklungsstrategisch wichtiger bewertet wurden als zinsgünstige Kredite. In den Jahren 1993/94 haben nur noch zehn lateinamerikanische Staaten deutsche FZ-Zusagen im Gesamtwert von 703 Mio. DM erhalten (KfW 1995: 7). So soll beispielsweise Brasilien als Schwellenland grundsätzlich keine FZ-Mittel mehr erhalten, außer für Maßnahmen zur Erhaltung der tropischen Regenwälder (BMZ 1992b: 5). Die deutsche EZ mit Lateinamerika kann ihre Wirksamkeit vermutlich weiter verbessern, wenn sie die soziokulturelle Komponente bei der Projekt- und Programmplanung noch stärker berücksichtigt. Die Protagonisten von Entwicklung sind in der
Vgl. das Schwerpunktheft"Estado de derecho y reforma judicial" der Zeitschrift D+C Desarrollo y Cooperación, Nr. 2/1996.
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Regel von außen kommende Akteure, die bereit sein müssen, sich zusammen mit internen Akteuren auf komplexe Regeln der Schaffung einer neuen, gemeinsamen Wirklichkeit einzulassen; dies setzt die Beherrschung geeigneter Kommunikationsformen voraus, damit auf beiden Seiten keine blockierenden Oefensivhaltungen entstehen, die in der Vergangenheit so manches EZ-Projekt haben scheitern lassen (vgl. Hobart 1993). Nur wenn die (nationalen/regionalen/lokalen) gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hinreichend Berücksichtigung finden, unter denen durch Intervention von außen interne Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden sollen, nur dann läßt sich die latente Gefahr verringern, daß Projekte und Programme der EZ von der Zielgruppe abgelehnt werden oder diese sich gegen "Entwicklungsangebote" als immun erweist. Im Sinne einer "Hilfe zur Selbsthilfe" sollte EZ dazu beitragen, die Steuerungs- und Problemlösungskompetenz der Zielgruppen so zu vergrößern, daß innovative Verhaltensänderungen möglich werden, die diese Gruppen in die Lage versetzen, ihre Lebensbedingungen selbständig und dauerhaft zu verbessern. Externe Innovationsangebote durch EZ werden von der Zielgruppe aber mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückgewiesen, wenn sie gegen bestehende Handlungsrechte verstoßen oder einen technisch-organisatorischen Komplexitätsgrad aufweisen, der die Zielgruppe mental, technisch-organisatorisch oder finanziell überfordert (Braun 1993:35). Neben dem Wissen um ökonomische und politische (Miß-)Erfolgsbedingungen der EZ müssen die Durchführungsorganisationen also auch hinreichende soziokulturelle Kompetenz erwerben, um die Effizienz und Nachhaltigkeit der von ihnen gesteuerten Maßnahmen zu erhöhen. Der "lernfähige Moloch" GTZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 82 vom 16.4.1996), die KfW und andere wichtige Durchführungsinstitutionen der deutschen EZ haben im Laufe der Zeit zunehmend soziokulturelle Kompetenz und ein beachtliches Wissen über die lateinamerikanischen Empfängerländer und ihre Region erworben (vgl. BMZ 1995c; GTZ 1995; Brot für die Welt 1994). Hierbei lassen sich durch verstärkte Kooperation zwischen den EZ-Akteuren Komplementaritäts- und Synergieeffekte nutzbar machen. Wissen aus dem entwicklungspolitischen Alltag und konzeptionelles Know-how können eine fruchtbare Synthese bilden. Ein vielfältigeres und flexibleres BeziehungsmusterderEZ-Akteureermöglicht Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch zwischen staatlichen Instanzen, relevanten Wissenschaftseinrichtungen der Lateinamerikaforschung sowie NROs17. Bestehende Ansätze eines Dialogs zwischen staatlicher Entwicklungspolitik, Wissenschaft und NROs, die in den letzten Jahren entstanden sind (z.B. von Gleich/Kohlhepp/Mols 1991), sollten daher deutlich intensiviert werden18.
So gehören beispielsweise der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung (ADLAF) etwa 30 Institutionen und knapp 250 Wissenschaftler der unterschiedlichsten akademischen Disziplinen an. In einer NRO wie der Kooperation Brasilien (KoBra e.V.) sind bundesweit derzeit 78 Brasilien-Solidaritätsgruppen zusammengeschlossen. Vgl in diesem Zusammenhang auch die Rede von Bundespräsident Roman Herzog vor der Stiftung Wissenschaft und Politik am 13.3.1996, in der er u.a. auf das bürokratische Vorurteil hinwies, daß wissenschaftliche Politikberatung blasse Theorie und oft daher nur Zeitverschwendung sei; dieses Vorurteil bedeute eine Selbstverurteilung der Bürokratie zur Innovationsunfähigkeit; Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, Nr. 27, 3.4 1996: 270. Ein positives Kooperationsbeispiel ist der gemeinsame Arbeitskreis staatlicher und nichtstaatlicher EZ-lnstitutionen für "Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe". Eine Arbeitsgruppe (unter Beteiligung von BMZ, Brot für die Welt, DSE, FES, GTZ, KAS, KfW und Miseror) dieses Arbeitskreises hat 1995 unter Federführung der Evangelischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe
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Dabei gilt allerdings, daß auch NROs, die sich in der EZ mit Lateinamerika engagieren, Gefahr laufen, "in ihren gewohnten Geschäften und unter der Last ihrer übernommenen Aufgaben in Routine zu erstarren" (Boll 1991: 32). Und angesichts der "NROProliferation" muß kritisch geprüft werden, ob jedes "Hilfsangebot" zweckmäßig ist. Die bisher zur Verfügung stehenden Evaluierungsergebnisse der EZ-Aktivitäten von NROs lassen bei einer Reihe von Projekten einen Mangel an Nachhaltigkeit erkennen (OECD 1995: 32). Daß durch Schaffung von Allianzen, die sich für umfassende Armutsbekämpfung und für eine kohärente Politik in den Nord-Süd-Beziehungen einsetzen, innovative entwicklungspolitische Ansätze gefunden werden können, die über die etablierten EZ-lnstrumente hinausweisen, zeigen Erfahrungen des Dialogprogramms der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE). Im Rahmen des BrasilienSchwerpunktes dieses Dialogprogramms wurden 1992-96 zahlreiche Dialoge mit Entscheidungsträgern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft geführt; in enger Zusammenarbeit mit der brasilianischen Partnerorganisation Forum Carajäs (einem Zusammenschluß regionaler Basisorganisationen) setzte sich das Dialogprogramm mit der Frage auseinander, welche Beiträge im Norden und im Süden geleistet werden können, um eine nachhaltige Entwicklung in der östlichen Amazonasregion Brasiliens zu gewährleisten und die Beteiligungsrechte der dort lebenden Menschen zu stärken. Mit einem "Runden Tisch", den das Dialogprogramm der GKKE und Forum Carajäs im Mai 1995 in Säo Luis organisierten, wurde Hilfestellung bei der Etablierung tragfähiger Dialogstrukturen zwischen brasilianischen Basisorganisationen (z.B. von Landarbeitern und Kleinbauern, von Kautschukzapfern, von Arbeitern in den regionalen Eisenerzverhüttungsbetrieben, von Indianern) und brasilianischen Entscheidungsträgern gegeben. Dieser "Runde Tisch" hat vielfältige Nachfolgeaktivitäten in Brasilien und Deutschland ausgelöst (vgl. Die Zeit Nr. 15 vom 5.4.1996: 30). Ein weiterer Schwerpunkt des GKKE-Dialogprogramms war die Begleitung der Friedensprozesse in Guatemala und El Salvador als exemplarisches Engagement der Friedensförderung durch Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen (Kurtenbach 1994).
5. Benötigt Lateinamerika noch Entwicklungszusammenarbeit? Ein grundsätzlicher Einwand gegen staatliche EZ lautet, daß sie nicht mehr sei als ein Reparaturbetrieb für die nachteiligen Auswirkungen einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung und im günstigsten Falle lediglich wie Akupunktur bei einer chronischen Krankheit wirken könne. Zur Illustrierung dieses Einwandes ließe sich folgendes Rechenexempel vorführen: Die Zusage von 156,44 Mio. DM für FZ und TZ, die beispielsweise Brasilien 1992 von Deutschland erhielt, bedeuteten ca. 1 DM pro Kopf der brasilianischen Bevölkerung; der gleiche Betrag wäre dem Lande zugeflossen, hätte es für die 1992 nach Deutschland exportierten 18 Mio. Tonnen Eisenerz 8,69 DM je Tonne mehr erzielt. Freilich bleibt bei einer solchen Argumentation unberücksichtigt, daß sich die
(EZE) ein Diskussionspapier Ober "Strukturanpassungspolitik und soziale Investitionsfonds in Lateinamerika: Das Beispiel Honduras" erarbeitet, das die gemeinsame Position gegenüber der Weltbank darstellen soll.
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unterstellte Preiserhöhung am Markt eben nicht hätte durchsetzen lassen und mithin der Zufluß von EZ-Mitteln für Brasilien zusätzliche Ressourcen bedeutete, die mit normalen kommerziellen Transaktionen nicht zur Verfügung gestanden hätten. Ein zweiter Einwand gegen EZ lautet, daß viele Empfängerländer inzwischen ein Pro-Kopf-Einkommen erreicht haben, das ihnen Entwicklung aus eigener Kraft gestatten müßte. In Ländern, die schon seit längerem über das ökonomische Potential verfügen, um die absolute Armut zu überwinden, seien ernsthafte Eigenanstrengungen zur Beseitigung der strukturellen und institutionellen Verursachungsfaktoren von Armut wichtiger als Transferzahlungen, Kredite und technische Beratung von außen. Nach Berechnungen der Weltbank wären beispielsweise im Falle Brasiliens 1990 interne Transferzahlungen (ohne Verwaltungskosten und "Sickerverluste") in Höhe von lediglich 1,1% des Bruttoinlandsprodukts ausreichend gewesen, um die Armut zu eliminieren (World Bank 1990:51). Der damalige "Preis" von 5,3 Mrd. US-Dollar zur Beseitigung der Armut hätte zwar das mehr als Dreißigfache der gesamten ODA-Leistungen betragen, die Brasilien 1990 zuflössen (167 Mio. US-Dollar), wäre aber sicherlich nicht unerreichbar hoch gewesen angesichts der Fähigkeit des Landes, für den Import von Nukleartechnologie in den Jahren 1991 und 1992 jeweils rund 3 Mrd. US-Dollar aufzuwenden (Banco Central do Brasil 1993: 75). Bei einer eindimensionalen, ausschließlich einkommensorientierten Klassifikation der Empfängerländer deutscher EZ werden Ökonomen kaum Schwierigkeiten haben vorzurechnen, daß eine Fortführung der Entwicklungskooperation mit den meisten lateinamerikanischen Staaten nicht mehr notwendig sei. In der Tat war 1995 von den Staaten Lateinamerikas und der Karibik lediglich Haiti nach den Kriterien des DAC als Least Developed Country (LLDC) eingestuft; Guyana, Nikaragua und Honduras waren als Low Income Countries (LIC) klassifiziert, während die übrigen Länder der Region als LowerMiddle Income Countries (LMIC) oder als Upper Middle Income Countries (UMIC) eingestuft waren (BMZ 1995a: 180). Das regionale Pro-KopfBruttosozialprodukt(BSP) erreichte 1993 in Lateinamerika und der Karibik mit 2.950 US-Dollar das Neuneinhalbfache des südasiatischen Durchschnittswertes und fast das Sechsfache des BSP per capita in Afrika südlich der Sahara (World Bank 1995: 163). Die Verteilung der begrenzten deutschen EZ-Mittel lediglich auf der Basis einer solchen einkommensorientierten Länderklassifikation hätte zur Folge, daß in Lateinamerika und der Karibik allenfalls die wenigen LLDCs und LICs Berücksichtigung finden könnten. Dabei bliebe freilich außer Acht, daß auch in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder mit vergleichsweise hohem Pro-Kopf-Einkommen nach wie vor gravierende Entwicklungsdefizite bestehen. Zwar hat Lateinamerika nach der "verlorenen Dekade" der achtziger Jahre zu einer beachtlichen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsdynamik zurückgefunden, aber die sozialen Fortschritte sind bislang bescheiden geblieben. Zudem sind wesentliche Faktoren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit - wie z.B. hinreichend qualifiziertes Humankapital und materielle Infrastruktur - nur begrenzt verfügbar. Für eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Menschen in Lateinamerika - erklärtes Ziel in dem "Lateinamerika-Konzept" der Bundesregierung - ist die Zuführung zusätzlicher externer Ressourcen nach wie vor hilfreich. Eine Fortführung der EZ mit Lateinamerika ist in den Bereichen sinnvoll, in denen besondere Engpässe in den Empfängerländern bestehen: Armutsbekämpfung, Bildung, Umwelt- und Ressourcenschutz. Die Schwerpunktbildung in dem "Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika" (BMZ 1992a) soll diesen Engpässen 111
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weitgehend Rechnung tragen. Hinzu kommt die verstärkte Orientierung der bilateralen EZ an den Zielen und Empfehlungen des umweit- und entwicklungspolitischen Aktionsprogramms "Agenda 21", das 1992 von der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) verabschiedet wurde. So sind z.B. im Rahmen von Umschuldungsverhandlungen Debt-for-Nature-Swaps mit Bolivien, Honduras und Peru vereinbart worden; zur Vorbereitung und Umsetzung der Klimarahmenkonvention bzw. der Artenvielfaltkonvention erhielten Kolumbien, Brasilien und Mexiko deutsche EZ-Leistungen (Bohnet 1996; Wöhlcke 1996). EZ ist für viele lateinamerikanische Empfängerländerauch dann weiterhin nützlich, wenn sie zur Stärkung technologischer Kompetenz beiträgt. Denn hinreichende technologische Kompetenz (d.h. die Fähigkeit, Technologieangebote zu kennen, zu bewerten, anzupassen und weiterzuentwickeln) ist Voraussetzung für die Nutzung eines relativ breiten Spektrums von Einfach- bis Hochtechnologien; eine solche technologische Kompetenz ist sowohl für die Bekämpfung der Armut erforderlich wie auch für die Durchsetzung umweltverträglicher Entwicklungskonzepte und die Erreichung systemischer Wettbewerbsfähigkeit (Hillebrand/Messner/Meyer-Stamer 1993; Eßer et al. 1994). Die Volkswirtschaften Lateinamerikas sind gezwungen, ihre Standorlbedingungen zu verbessern, da sie im internationalen Wettbewerb um Investitionen, um Kapital sowie um Exportchancen stehen; ihnen stellt sich daher die Aufgabe, nach Dekaden der Binnenmarktorientierung die Weltmarktorientierung zu unterstützen, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch die Schaffung nationalerWettbewerbsprofile erhöhen sowie durch regionale Integration und Kooperation die Voraussetzung für eine intensivere Einbindung in die Weltwirtschaft zu verbessern (Eßer 1994:6). In jedem dieser drei Aufgabenbereiche können durch EZ zusätzliche Ressourcen, Erfahrungen und Know-how zur Verfügung gestellt werden. Auch die lateinamerikanischen Schwellenländer haben noch immer in vielen Bereichen gravierende Know-how-Defizite, die in Zusammenarbeit mit Geberländern leichter und schneller überwunden werden könnten. Externe Beratungshilfe kann daher bei der Mobilisierung der Entwicklungsreserven dieser Länder eine wichtige Rolle spielen. Dies setzt allerdings voraus, daß die TZ ihren herkömmlichen Projektansatz weitgehend aufgibt; statt punktueller, unvernetzter Eingriffe auf der Mikroebene ist die Systemwirkung der EZ auf der Meso- und Makroebene zu stärken, d.h. die EZ-Aktivitäten müssen sich zu einer zusammenhängenden Kette summieren oder zumindest komplementär zu sonstigen entwicklungsrelevanten Aktivitäten in dem Empfängerland sein. Die Fortführung externer "Hilfe" bei der Armutsbekämpfung in Lateinamerika kann als ethischer Imperativ verstanden werden, aber sie hat auch einen funktionalinstrumentellen Charakter. Denn EZ kann dazu beitragen, für bislang in Armut lebende Menschen wirtschaftliche und soziale Sicherheit zu schaffen und damit wesentliche Voraussetzungen einer dynamischen Wettbewerbsgesellschaft herzustellen, die auf der Kreativität und Motivation ihrer Mitglieder beruht. EZ kann u.U. auch einen Beitrag im Sinne von ökologischer Sicherheit leisten, die in den "ökologischen Risikogesellschaften" des Nordens und des Südens zunehmend gefährdet erscheint.
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6. Perspektiven der künftigen Entwicklungszusammenarbeit Die deutsche EZ muß in einem sich rasch verändernden Entwicklungsländerumfeld operieren, für das sie in den fünfziger und sechziger Jahren weder in instrumenteller noch in institutioneller Hinsicht konstruiert wurde. Mangelnde Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der deutschen EZ-lnstitutionen an Veränderungen in den Entwicklungsländern waren zumindest teilweise bedingt durch das Gewicht eingefahrener Denkstile und bürokratischer Abwicklungsroutinen, durch administrative Sachzwänge, haushaltsrechtliche Auflagen, Besitzstandsdenken und Eigeninteressen der development setfers (Köhler 1993: 285). Unzureichende Reaktionsfähigkeit der deutschen EZ auf veränderte Rahmenbedingungen war aber auch bedingt durch die Unterordnung entwicklungspolitischer Ziele unter andere deutsche Politikziele, wiez.B. die Agrar- und Außenwirtschaftspolitik (Wissenschaftlicher Beirat 1994). Andererseits ist die Legitimierung von EZ-Routinen in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend schwieriger geworden. Denn es herrscht die Auffassung vor, daß dort, wo die Rahmenbedingungen für Entwicklung gegeben sind, diese auch stattfindet und EZ sich nach angemessener Zeit selbst überflüssig macht. Wo diese Rahmenbedingungen jedoch fehlen und EZ auch nicht in der Lage ist, sie zu ersetzen, bewirkt sie wenig und erscheint insofern überflüssig. Angesichts der Notwendigkeit, die deutsche Entwicklungspolitik an veränderte Erfordernisse anzupassen, hat der Wissenschaftliche Beirat beim BMZ die (hypothetische) Frage aufgeworfen, wie die EZ für künftige Herausforderungen konzipiert werden sollte, wenn sie völlig frei vom Gewicht administrativer und haushaltstechnischer Vorgaben, gewachsener regionaler und sektoraler Verteilungsmechanismen wäre, frei auch von etablierten organisatorischen Strukturen und Eigeninteressen vorhandener Institutionen und deren Beharrung auf erprobten Abwicklungsroutinen. Ohne diese hypothetische Frage zu beantworten, hat der Beirat - ausgehend von dem Status quo - für die zukünftige deutsche EZ drei Aufgabenbereiche unterschieden, die auch für die konzeptionelle Ausgestaltung der Zusammenarbeit mit Lateinamerika Bedeutung haben: 1.
Für die Schwellenländer müßten neue Kooperationsformen entwickelt und die bisher praktizierten Verfahren der Zusammenarbeit auf ihre Tauglichkeit und Notwendigkeit überprüft werden.
2.
Für die Entwicklungsländer mit mittlerem Einkommen sei eine duale Hilfsstrategie erforderlich, die einerseits den Entwicklungspotentialen der neuen Mittelklassen in diesen Ländern Rechnung trage und andererseits den marginalisierten Armen dieser Länder direkte Hilfe zur Selbsthilfe anbiete.
3.
Bei der EZ mit Armutsländern solle der Gesichtspunkt unmittelbarer Hilfsbedürftigkeit tendenziell Vorrang vor der Frage haben, inwieweit hier überhaupt Entwicklungspotentiale existieren, die mit Aussicht auf Erfolg gefördert werden können. Humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Ressourcenschutz könnten bei diesen Ländern zunehmend erforderlich werden.
Der Beirat fordert also eine differenzierte länderspezifische Ausgestaltung der EZ, und er empfiehlt, von der "plakativen" Armutsorientierung der deutschen EZ abzurücken, da diese die überzogene Erwartung wecken könnte, durch Entwicklungshilfe sei Armutsbekämpfung wirksam und flächendeckend für Millionen von Menschen zu leisten. 113
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Die Gefahr einer solchen vordergründig einseitigen Armutsorientierung wird auch darin gesehen, daß die EZ insgesamt in eine "Legitimitätsfalle" gegenüber der deutschen Öffentlichkeit geraten könnte, da sie die Erwartungen, die sie wecke, mit ihren begrenzten Mitteln nicht erfüllen könne (Wissenschaftlicher Beirat 1994: 9). Gerade die EZ mit den besonders armen Ländern Lateinamerikas könnte zudem in eine weitere Falle geraten: die "Irrelevanzfalle" (Nuscheier 1995:33). Diese Staaten haben für die westlichen Geberländer geostrategisch, politisch und wirtschaftlich erheblich an Bedeutung verloren. Ihre Exportangebote - einige Rohstoffe und unverarbeitete Agrarprodukte - werden auf dem Weltmarkt immer weniger nachgefragt. Sie können nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auch nicht mehr mit der Drohung, Partei für die Gegenseite zu ergreifen, Geld erhalten, das dann gegebenenfalls als Entwicklungshilfe deklariert würde. Vor allem Entwicklungsländer, die de facto für die Geber politisch und ökonomisch weitgehend irrelevant geworden sind, können sich auch nicht mehr des früher für lange Zeit sehr populären Arguments bedienen, daß die Industrieländer auf Kosten der "Dritten Welt" lebten und sie daher in Form von EZ gleichsam "Wiedergutmachung" zu leisten hätten. Wenn auch politische und ökonomische Motive für die EZ mit zumindest einem Teil der lateinamerikanischen Staaten erheblich an Bedeutung verloren haben, können dennoch ethische Motive an Gewicht gewinnen. Die zunehmende Globalisierung vieler Lebensbereiche, die das ökonomische, politische, soziale, kulturelle und ökologische Geschehen prägt, bedarf auch einer "planetarischen Verantwortungsethik" (Hans Jonas). Denn ohne internationales Regelwerk im Sinne einer globalen Verantwortungsethik wird die Weltgesellschaft weiter so funktionieren wie bisher: als eine Art Dreiparteiensystem, in dem zwei Parteien um Gewinn und Verlust spielen, während die dritte Partei von dem Spiel gänzlich ausgeschlossen bleibt. Es ist jener Teil der Menschen, die aus eigener Kraft ihre wirtschaftliche und soziale Situation nicht mehr verändern können. Von dem Armutsproblem bleiben auch die Gesellschaften der Geberländer nicht verschont, deren soziale Peripherien sich zunehmend vergrößern. Globalisierung ohne globale Verantwortungsethik bedeutet im Süden wie im Norden die Verbreiterung und Verschärfung sozialer Ungleichheit. Folglich muß die Politik der Globalisierung der Märkte "nachgestaltet" werden, wenn es gelingen soll, ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit für alle zu erreichen. Effizienz, Suffizienz und sozialer Ausgleich müssen integrale Bestandteile eines globalen Leitbilds zukunftsfähiger Entwicklung sein. Der rasch fortschreitende Prozeß weltweiter Umweltzerstörungen, die Bilder von Gewalt und menschenverachtender Grausamkeit, die Angst vor Bevölkerungswachstum, Drogenhandel und Armutsflüchtlingen müssen allmählich zu der Erkenntnis führen, daß diese Probleme nicht isoliert gesehen werden können, nicht regional begrenzt oder begrenzbar, sondern daß sie von globaler Dimension sind. Eine solche Sichtweise wäre Voraussetzung für die schon seit langem geforderte Aufwertung der Entwicklungspolitik zur Querschnittsaufgabe im Sinne einer ressortübergreifenden Gesamtpolitik. Der Begriff der Querschnittsaufgabe bezieht sich auf Ziele (Umweltschutz, Friedenssicherung, Entwicklung etc.), eingesetzte Instrumente und Verfahren (Kohärenzgebot) sowie auf Träger (Ministerien, Verbände, Kirchen, NROs). EZ als Querschnittsaufgabe erfordert nicht allein eine verbesserte Koordination zwischen den nationalen staatlichen Akteuren und den internationalen Organisationen, sondern sie bedarf zusätzlich der aktiven Unterstützung und Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. EZ ist nicht
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Von Asien lernen? Unterstützung wirtschaftlicher Strukturanpassung durch die deutsche Finanzielle Zusammenarbeit Dr. Josef Stadlbauer (Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), Frankfurt am Main) 1. Die FZ hat den Anspruch, strukturverändernd zu wirken. Daraus leitet sich letztlich ihre Rechtfertigung ab als ein Ressourcentransfer deutscher Haushaltsmittel mit Geschenkcharakter. 2. Anerkanntes Oberziel für die EZ ist die Armutsminderung, wobei die FZ den weiteren Anspruch erhebt, daß mit ihren Maßnahmen eine hinreichend große Breitenwirksamkeit erzielt wird. 3. Wesentliches Förderinstrument der FZ zur strukturellen Bekämpfung der Armut ist die Unterstützung von Politikreformen im Rahmen von Struktur- und Sektoranpassungsprogrammen der Partnerländer. 4. FZ-Strukturhilfe wird regional sehr unterschiedlich eingesetzt, mit einem eindeutigen Schwerpunkt in Subsahara-Afrika. Im Asienkonzept des BMZ wird zwischen dynamischen (Singapur, VR China, Indonesien, Thailand, Südkorea, Malaysia) und weniger dynamischen Ländern unterschieden, wobei FZ-Strukturhilfe in den 90er Jahren nur für Länder der zweiten Gruppe (Bangladesch, Indien, Nepal) zum Einsatz gekommen ist. 5. Im Hinblick auf den wirtschaftlichen Reformbedarf ist es aufschlußreich, worin sich die dynamischen von den weniger dynamischen Ländern unterscheiden: - Dynamische Länder erreichten mit durchschnittlich höherem Wirtschaftswachstum eine deutliche Reduzierung der Armut. - Die bemerkenswerten Fortschritte bei der Reduzierung der Armut sind nicht allein Folge hoher Wachstumsraten des Sozialprodukts. Ebenso wichtig wie die Höhe ist die auch Verteilungsaspekte berücksichtigende Qualität des Wachstums: In allen Ländern kam es zu hohen Steigerungsraten der landwirtschaftlichen Ertragskraft; parallel dazu entwickelte sich der moderne Sektor und nahm eine große Zahl der in der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte auf. Der moderne Sektor ist - wenngleich in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedlichem Ertragsniveau - exportorientiert und arbeitsintensiv. - Die Wachstumsstrategie wurde ergänzt durch eine aktive und langfristig angelegte Politik in den sozialen Sektoren: Bildung, Gesundheit, Familienplanung. Die dynamische Ländergruppe zeichnet sich durch relativ stabile gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und (mit Ausnahme Indonesiens) eine geringe Auslandsverschuldung aus. Notwendige gesamtwirtschaftliche Anpassungen wurden frühzeitig und weitgehend aus eigenem Antrieb in Kooperation mit den internationalen Finanzinstitutionen vorgenommen. 115
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6. Die wirtschaftlichen und sozialen Leistungen der dynamischen asiatischen Länder werden durch politische und soziokulturelle Eigenheiten ermöglicht und begünstigt (vgl. hierzu Machetzki, R., Zur Klassifizierung von "Entwicklungspotentialen" asiatischer Länder nach soziokulturellen Grundmerkmalen/Variablen - eine Kurzskizzierung, 1993): ein hohes Maß an staatlicher Gestaltungsfähigkeit für eine entwicklungsfördernde Wirtschafts- und Sozialpolitik; eine relativ "moderne" (konkurrenzbedingte) Form der Elitebildung, gefördert durch soziale Mobilität und einen differenzierten Bildungssektor; eine hohe Lernfähigkeit der Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Lernethik, wodurch die Entwicklung "menschlicher Ressourcen" schneller und umfassender zu verwirklichen ist als in anderen Gesellschaften; eine hohe Arbeits- und Sparethik, die sich in hoher Arbeitsproduktivität und hohen volkswirtschaftlichen Spar- und Investitionsquoten niederschlägt. Diese Eigenheiten beschreiben Faktoren und Potentiale, die nicht nur in diesen erfolgreichen Ländern gegeben sind; die Entwicklung und Nutzung solcher Potentiale sollte grundsätzlich allen Entwicklungsländern möglich sein. 7. In den weniger dynamischen Ländern - nicht nur Asiens - wird die EZ auf die Veränderung von Rahmenbedingungen, politische und gesellschaftliche Reformen und armutsorientierte Politiken hinwirken müssen. Dabei sollte eine konsequentere Haltung bei Unwilligkeit der Empfänger zu einer reformorientierten Zusammenarbeit bis zur Reduzierung der Hilfe und Reprogrammierung zu reformfreudigeren Ländern eingenommen werden - in koordinierter Weise mit anderen Gebern. 8. Isolierte Projekte (project by project und donor by donor) sind oft ineffizient und selten strukturverändernd. Demgegenüber sind sogenannte Sektorinvestitionsprogramme und die zielorientierte Bündelung von Projekten, Programm- und Strukturhilfemaßnahmen sowie die Kombination von FZ und TZ vorzuziehen. Dabei sind vor allem die für einen Sektor relevanten gesellschaftlichen Kräfte (Zielgruppen, Institutionen, NROs) sowie die interessierten Geber durch die Regierung des Empfängerlandes zu einer Konsensfindung zusammenzuführen. 9. Die Industrieländer haben eine globale Verantwortung, in der sie neben der EZ noch in ungleich wichtigeren Politikbereichen gefordert sind, um die Lebensverhältnisse in den Entwicklungsländern zu verbessern und der dortigen Wirtschafts- und Sozialpolitik eine stärkere Entwicklungsorientierung zu ermöglichen. Hierzu gehören zum einen die von den Industrieländern maßgeblich beeinflußten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Welthandelsordnung, offene Märkte; Zinsniveau auf den internationalen Finanzmärkten beeinflußt durch die Qualität der Wirtschafts- und Finanzpolitik) und zum anderen Sektoren der Binnenpolitik, wie Verkehr und Umwelt, die bisher nicht unbedingt als erfolgreiche, beispielgebende Modelle für eine nachhaltige, den langfristigen Fortbestand der Menschheit sichernde Entwicklungspolitik angesehen werden können. Die Industrieländer sind die Hauptverursacher der globalen Umweltprobleme (CO2, FCKW u.a.); im Interesse einer globalen nachhaltigen ökologischen Entwicklung müssen sie deshalb ihre Verbrauchsmuster so verändern, daß der Ressourcenverbrauch deutlich reduziert wird.
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nur eine staatliche Aufgabe, sondern auch eine genuine Aufgabe der Zivilgesellschaften in Geber- und Empfängerländern. Es gibt (mindestens) drei Bereiche, in denen Solidarität und Eigeninteressen zusammenfallen können, in denen die Menschen in den Industrieländern mit den Menschen in anderen Teilen der Welt gemeinsame Interessen entdecken können. Dies ist der Fall bei Problemen mit ökologischen, friedenspolitischen und langfristigen ökonomischen Aspekten. Insofern sind die Schwerpunkte, die für die zukünftige deutsche EZ mit Lateinamerika derzeit erkennbar werden, durchaus sinnvoll, da sie sich auf gemeinsame Interessen beziehen. "Aufgeklärtes" Eigeninteresse führt zumindest zu begrenzter Solidarität, nämlich in Bereichen, in denen unterlassene Solidarität auch für die "Geber" selbst negative Konsequenzen haben kann. Eigeninteresse sollte aber auch zu einer Veränderung der Produktions- und Konsummuster in den westlichen Geberländern selbst fuhren. So ist beispielsweise das "ökologische Destruktionspotential" in den westlichen Industriegesellschaften derzeit noch um ein vielfaches höher als in den übrigen Teilen der Welt. Der Energieverbrauch pro Kopf der Bevölkerung betrug 1992 in Lateinamerika 931 kg RÖE, in den westlichen Industrieländern aber 4.834 kg RÖE; in Lateinamerika wurden in der Periode 1980-89 jährlich percapita durchschnittlich 516 m3 Frischwasser entnommen, in den westlichen Industrieländern 1.156 m3 (UNDP 1995: 235). Nur wenn die Geberländer selbst Lernbereitschaft demonstrieren, ist ihre EZ glaubwürdig (vgl. Deutscher/Jahn/Moltmann 1995). Moralische, politische und wirtschaftliche Gründe sprechen dafür, deutsche EZ-Leistungen für Menschen in Lateinamerika nach wie vor als sinnvoll zu bewerten - sofern sich die EZ dem wandelnden Bedarf in den Empfängerländern ständig neu anpaßt. Aber auch wenn das komplizierte deutsche Entwicklungshilfesystem sich anpassungs- und lernfähig zeigt, kann die EZ mit Lateinamerika stets nur subsidiär und komplementär zu den Eigenanstrengungen der Empfängerländer sein, sie kann lediglich Aktivitäten unterstützen, für die der Empfänger die endgültige Verantwortung trägt. Dabei müssen Geber und Empfänger ein Interesse an der besten Venwendung der knappen öffentlichen Mittel haben und beide tragen hierfür Verantwortung. Entscheidend für die Akzeptanz der EZ mit Lateinamerika dürfte sein, daß Kooperationsangebote nicht nur als Instrumente verstanden werden, der deutschen Wirtschaft den Weg nach Lateinamerika zu ebnen. Vielmehr sollte im entwicklungspolitischen Dialog mit den lateinamerikanischen Partnern die Bekämpfung der Armut als moralische Herausforderung ernst genommen werden, aber auch als Gebot politischer und wirtschaftlicher Weitsicht. Letztendlich wird sich die zukünftige EZ mit Lateinamerika daran messen lassen müssen, ob sie dazu beiträgt, Menschen zu entwickeln und nicht nur Dinge. Und das bedeutet: Ziel von Entwicklung muß das Vorhandensein körperlichen, sozialen und mentalen Wohlbefindens in einer lebenswerten Umwelt sein, als notwendige Voraussetzung für Selbstverantwortlichkeit und Partizipationsfähigkeit der Menschen. Dieses Ziel von Entwicklung gilt natürlich nicht nur für Lateinamerika. Das "Recht auf Entwicklung" ist von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in die Definition der allgemeinen Menschenrechte aufgenommen worden.
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Tabellarischer Anhang: Tabelle 1: Bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit* der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika 1950-1993 - Nettoauszahlungen in Mio. DM ._. ... Öffentliche Entwicklungs zusammenarbe it 1950-1993 Land
Zuschüsse
Antigua und Barbuda Argentinien Bahamas Barbados Belize Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Dominica Dominikanische Republik Ecuador El Salvador Grenada Guatemala Guyana Honduras Jamaica Kolumbien Kuba Mexico Nicaragua Panama Paraguay Peru St.Kitts und Nevis St.Lucia St.Vincent & Grenadinen Suriname Trindidad & Tobago Uruguay Venezuela
0, 823 799, 915 0, 298 5, 868 1, 882 738,187 1.736, 350 924, 862 223, 900 5, 482 217,799 484, 561 262, 923 4, 599 374,486 7, 951 224, 816 145, 297 799, 511 14, 293 508, 945 304, 831 56, 536 285, 757 1.200, 857 0, 603 1, 497 0, 858 10, 306 12,625 197,917 369,838
Kredite 239,035
517,066 731,422 41,636 113,078 0, 060 84,304 125,490 122,051 71,501 24,448 159,579 225,062 242,858 52,984 183,738 2,442 88,919 895,927
47,519 9, 027 87,919
ODA Insgesamt
OOF
0, 823 1 038,950 0,298 5, 868 1,882 1 255,253 2 467,772 966,498 336,978 5, 542 302,103 610,051 384,974 4, 599 445,987 32,399 384,395 370,359 1 042,369 11,814 561,929 488,569 58,978 374,676 2 096,784 0, 603 1, 497 0, 858 10,306 60,144 206,944 457,757
0, 145 3.519,570 7,514 87,456 8.270,352 221,953 8, 651 59,192 70,463 1,404 44,549 0, 835 30,348 0, 930 237,916 31,632 1.258,534 46,477 0, 833 64,255 66,485 0, 003 7,631 35,769 1,402 318,877
* öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) sowie sonstige öffentliche Leistungen (OOF), die eine der ODABedingungen nicht erfüllen. Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
T a b e l l e 2: Leistungen der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika 1950-1993 - N e t t o a u s z a h l u n g e n in Mio. D M -
Periode
ODA-Leistungen an Lateinamerika in % der g e s a m t e n ODA
davon ODA-Kredite
ODA-Zuschüsse und -kredite an Lateinamerika3 Mio. DM
Mio.
DM
%
1950-59 1960-69 1970-79 1980-89 1990-93
2,669 1.281,379 3.200,713 6.967,730 3.536,035
0, 0 0 0 561,115 822,558 1.935,317 845,444
0, 0 43 , 8 25, 7 27, 8 23, 9
0, 1 8, 7 12, 7 12 , 8 11,6
1950-93
14.988,526
4.164,434
27, 8
11, 8
a
Die hier ausgewiesenen ODA-Leistungen an Lateinamerika sind höher als die Summe der Zahlungen an die einzelnen Länder gemäß Tabelle 1, da dort u.a. keine überregionalen Leistungen enthalten sind, die sich nicht länderspezifisch zuordnen lassen. Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie eigene Berechnungen.
T a b e l l e 3: Schwerpunktländer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika 1950-93 - R e g i e r u n g s - Z u s a g e n in Mio. D M -
Empfängerland
1. B r a s i l i e n 2. P e r u 3. B o l i v i e n 4. C h i l e 5. K o l u m b i e n 6. A r g e n t i n i e n 7. E c u a d o r 8. G u a t e m a l a 9. N i c a r a g u a 10. El S a l v a d o r
davon
Gesamtzusagen Mio. DM
FZ in %
TZ in %
3.257,00 2.444,00 1.667,83 1.445,40 1.361,46 1.101,32 830,14 668,46 691,15 603,21
36,8 45,2 51,0 29,8 31,8 17, 9 31,0 38,3 45,6 57,2
63, 2 54, 8 49, 0 70,2 68, 2 82, 1 69,0 61,7 54,4 42, 8
Anzahl der EZExperten Projekte per 31.12.1993 340 161 164 110 134 131 72 64 57 60
Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
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123 54 103 51 41 38 46 32 87 36
Sangmeister: Entwicklungszusammenarbeit
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Heinrich Kreft *
Zentralamerika in der internationalen Politik Eine deutsche Perspektive Einleitung Das deutsche und europäische Interesse an Zentralamerika1 war bis in die 70er Jahre hinein sehr gering. Die Länder des amerikanischen Isthmus waren einer Mehrheit der Bevölkerung wahrscheinlich kaum mehr als dem Namen nach bekannt. Die wenig beachteten internen Konflikte wurden erst durch das Engagement der Supermächte verschärft und weltpolitisch "aufgewertet". Es kam zu einer Überlagerung im wesentlichen interner macht- und sozioökonomischer Auseinandersetzungen mit ideologisch-militärischen Rivalitäten des Kalten Krieges. So ging es in Nikaragua und El Salvador nicht mehr in erster Linie um interne Machtkämpfe und intern bestimmte Entwicklungsalternativen, sondern um die Zugehörigkeit zu den großen Blöcken, ihren Einflußsphären und Entwicklungsmodellen. Zentralamerika wurde sehr schnell zu einem teilweise leidenschaftlich diskutierten Thema der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland und anderen Teilen Europas. An deutschen Universitäten wurde Anfang der 80er Jahre offen für die Beschaffung von Waffen für die salvadorianische Guerilla (FMLN) gesammelt und zahlreiche Westdeutsche und Nordeuropäer leisteten freiwillige Arbeitseinsätze im sandinistischen
*
Der Autor vertritt ausschließlich seine persönliche Meinung.
1
Historisch gehören zu Zentralamerika die Länder Guatemala, Honduras, El Salvador, Nikaragua und Costa Rica, die von der Unabhängigkeit bis 1838 die "Vereinten Provinzen von Zentralamerika" bildeten. Da Panama sich inzwischen auch nach Zentralamerika orientiert und sich am Integrationsprozeß beteiligt, wird es hier einbezogen, im Gegensatz zu Belize, das zwar als Beobachter an den Gipfeltreffen teilnimmt, sich aber ansonsten eher an den Staaten der Karibik orientiert.
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Kreft: Zentralamerika in der internationalen Politik
Nikaragua, das entsprechend der Arithmetik der Bipolarität zu einem Schwerpunkt der offiziellen DDR-Wirtschafts- und Militärhilfe wurde. Erst als der Kalte Krieg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an Virulenz verlor, ergab sich auch für Zentralamerika die Chance für regionale politische Lösungen der internen Konflikte. Der Weg wurde frei für den von den Zentralamerikanern selbst initiierten "Esquipulas-Friedensprozeß". Der vorliegende Artikel versucht, die Entwicklung in Zentralamerika und seine Rolle in der internationalen Politik aus der Sicht der deutschen (und europäischen) Außenpolitik zu analysieren und Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen.
1. Die Zentralamerikakrise aus verschiedenen Perspektiven Es waren vor allem die sandinistische Revolution und die Konflikte in El Salvador und Guatemala, die ein dauerhaftes Interesse Europas an der Region weckten. "Die Aufmerksamkeit Europas bestand anfangs in nicht viel mehr als einem mehrstimmigen Ausdruck von Betroffenheit, die sich dann aber zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik entwickelte" (Crawley 1993: 208). Da diese Politik aber auch stets die eigenen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten im Auge hatte, ist zunächst eine Analyse der US-Position in Zentralamerika angezeigt. Anders als Europa haben die USA im Laufe ihrer Geschichte immer ein großes Interesse an Zentralamerika gehabt und sehr sensibel auf alle Entwicklungen in ihrem "Hinterhof' reagiert, die als tatsächliche oder vermeintliche Gefährdung der eigenen (auch wirtschaftlichen) Sicherheit empfunden wurden. Dabei standen immer sowohl Wirtschafts- als auch Sicherheitsinteressen (überragende Bedeutung des Panamakanals, aber auch Angst vor einer Flüchtlingswelle) im Vordergrund, die aber stets begleitet wurden von einem irrationalen Element, das seine Wurzeln im Monroeismus hat (Krumwiede 1986: 37). Dieses historische Interesse der USA wurde durch die - so perzipierte - kommunistische Bedrohung lediglich bestärkt und löste den MonroeismusAbwehr-Reflex aus. Konzepte zur langfristigen Bekämpfung der internen sozioökonomischen und politischen Ursachen der Unruhen in Zentralamerika konnten sich nur selten gegenüber kurzfristigen Strategien zur Abwehr angeblich von außen kommender Gefahren durchsetzen. So kam es in den 80er Jahren zu einer massiven direkten und indirekten US-Militärhilfe für El Salvador und in etwas geringerem Maße für Honduras. Durch den Aufbau und die Unterstützung der nikaraguanischen Contra unternahmen die USA den Versuch, das sandinistische Regime in Nikaragua zu stürzen. Auch wegen marginaler Wirtschaftsinteressen (geringer Handelsaustausch, kaum Direktinvestitionen) und der großen geographischen Distanz kam Europa zu einer völlig anderen Betrachtungsweise des Zentralamerika-Konflikts, der in seinem Ursprung nicht als Teil des Ost-West-, sondern vielmehr des Nord-Süd-Konflikts gesehen wurde. Gemäß dieser Analyse konnte eine dauerhafte Befriedung nur durch die Beseitigung der internen Ursachen des Konflikts bei gleichzeitigem Heraushalten aus der Ost-WestKonfrontation erreicht werden. Dazu mußten die revolutionären Bewegungen als Dialogpartner akzeptiert sowie eine nachhaltige Demokratisierung und sozioökonomische Entwicklung in Gang gesetzt werden.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Die Einschätzung des Zentralamerika-Konflikts, seiner Ursachen und die Begründung einer europäischen Zentralamerikapolitik waren naturgemäß in den einzelnen Mitgliedsstaaten wie auch je nach politischem Standort sehr unterschiedlich. So gab es in Deutschland, Italien und Spanien aufgrund traditionell engerer Beziehungen zu Lateinamerika einen breiteren Konsens hinsichtlich der Bedeutung einer gemeinsamen Zentralamerikapolitik. Auf der politischen Linken wurde das Schwergewicht auf den Aufbau neuer, sozial gerechter Gesellschaften gelegt, während man sich in konservativen Kreisen eher Sorgen um Machtgleichgewichte innerhalb und zwischen den Staaten der Region (Grabendorff 1984:291) und vor allem um den Imageverlust machte, den die USA aufgrund einer direkten Intervention in Zentralamerika erleiden würden (mit negativen Folgen für Deutschland und andere europäische Staaten). Wenn auch für Westeuropa in Zentralamerika keine direkten Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen auf dem Spiel standen, so gab es doch durchaus einige gewichtige Gründe, die schließlich ausschlaggebend waren für das europäische Engagement. So war es zweifellos für Westeuropa außerordentlich wichtig, daß die - für die Verteidigung Europas unverzichtbaren - USA sich nicht soweit militärisch in Zentralamerika engagierten, daß dadurch das Atlantische Bündnis ernsthaft gefährdet würde2. Ein Engagement mit Bodentruppen hätte möglichenweise auch einen Abzug von USTruppen aus Europa zur Folge gehabt mit negativen Konsequenzen für das militärische Gleichgewicht auf dem alten Kontinent. Daneben gab es die durchaus nicht aus der Luft gegriffene Befürchtung, eine direkte Verwicklung der USA in Zentralamerika könne der Sowjetunion als Vorwand für eine Intervention in irgendeinem Teil Europas dienen (IRELA 1991: 5). Der Zentralamerika-Konflikt bot der Europäischen Gemeinschaft zudem in einer Zeit grassierenden "Euro-Pessimismus" - im Unterschied zu anderen Teilen der Dritten Welt - ganz einfach auch die Gelegenheit, sich auf der Weltbühne politisch zu profilieren. Zentralamerika war eine Region, wo die EG der skeptischen öffentlichen Meinung in Europa und den Supermächten gleichermaßen demonstrieren konnte, daß die "europäischen Werte" durchaus einen effektiven Beitrag zum Fortschritt in einem höchst konfliktiven Teil der Welt zu leisten vermochten (Crawley 1993:216; Whitehead 1991: 54). In Ermangelung offensichtlicher direkter Interessen Europas in Zentralamerika entstand zudem der nicht unwillkommene Eindruck in der Öffentlichkeit, die EG-Politik sei uneigennützig und wenn nicht gar ausschließlich, so zumindest im wesentlichen von entwicklungspolitischen Motiven bestimmt.
2. Initiativen zur Befriedung des Zentralamerika-Konflikts Die Entwicklung Zentralamerikas zum "Pulverfaß" Anfang der 80er Jahre führte zu diversen Initiativen zur Deeskalation und Beilegung des Konflikts. So gab es bereits im August 1981 eine mexikanisch-französische Initiative zur Beendigung des
2
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Dem damaligen spanischen Außenminister Morän zufolge hatte "eine größere Militärintervention der USA (in Zentralamerika) den Verbleib Spaniens in der NATO aufs Spiel setzen" können (Morän 1998: 42).
Kreft: Zentralamerika in der internationalen Politik
salvadorianischen Konflikts, die von der Regierung El Salvadors jedoch vehement zurückgewiesen wurde. Die relative Abnahme des US-Einflusses in Lateinamerika in den 70er Jahren ließ zunehmend Raum für eine neue Rolle der Regionalmächte in der karibischen Region. Dieser wurde von Mexiko, Venezuela und Kolumbien sowie Panama im Januar 1993 zur Gründung der Contadora-Gruppe3 genutzt. Damit wurde der Versuch unternommen, eine gemeinsame Zentralamerikapolitik zu entwickeln und durchzusetzen (Grabendorff 1985: 60). Trotz interner Meinungsverschiedenheiten, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung in Nikaragua, war sich die Gruppe in der Ablehnung eines direkten Engagements der USA in der Region einig. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten lehnten sie die vorrangige Interpretation des Zentralamerikakonflikts im Bezugsrahmen der Ost-West-Auseinandersetzung ab und betonten stattdessen - wie Europa - die internen sozioökonomischen und politischen Ursachen (vgl. Drekonja Kornat 1985; Kurtenbach 1987). 1984 legte die Contadora-Gruppe eine "Akte für Frieden und Kooperation in Zentralamerika" vor, in der vor allem der Aspekt der militärischen Sicherheit überwog: Verbot von Militärstützpunkten sowie der Unterstützung irregulärer Streitkräfte in allen Ländern der Region, Abrüstung und Abzug der ausländischen Militärberater. In den vier Jahren ihrer Existenz gelang es der Contadora-Gruppe aber nicht, die angestrebte Unterzeichnung eines regionalen Abkommens durchzusetzen. Im Januar 1987 scheiterte ein letzter Vorstoß der Contadora-Außenminister (an der sich auch die Contadora-Unterstützergruppe beteiligte)4 am generellen Widerstand der US-Administration gegen ein Abkommen, das den Bestand eines sandinistischen Nikaragua garantierte. Die Initiative wurde aber auch durch die sog. Tegucigalpa-Gruppe (Costa Rica, El Salvador, Honduras), in deren Augen die Aktivitäten der Contadora-Gruppe einseitig Nikaragua begünstigten, als inakzeptable Bevormundung zurückgewiesen. Es erwies sich als Nachteil, daß die Contadora-Initiative keine Lösung aus der betroffenen Subregion selbst war, sondern von Staaten, die ein Übergreifen des Zentralamerikakonflikts auf die übrige Region verhindern wollten. Trotz dieses Geburtsfehlers, der ihr Scheitern mitverursachte, gebührt der Contadora-Initiative das Verdienst, zur Verhinderung einer weiteren Eskalation der Konflikte beigetragen und die Basis für die weiteren Friedensbemühungen gelegt zu haben Die Initiative ging im Februar 1987 an die Zentralamerikaner selbst über, als der Präsident Costa Ricas, Oscar Arias, mit seinem mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Friedensplan an die Öffentlichkeit trat, der schließlich zur Grundlage des im August 1987 im guatemaltekischen Wallfahrtsort Esquipulas von den fünf Präsidenten Zentralamerikas (einschließlich des nikaraguanischen Präsidenten Ortega) unterzeichneten Abkommens wurde5. Damit verpflichteten sich die Präsidenten zum Abschluß von Waffenstillstandsvereinbarungen mit der bewaffneten Opposition, zu einem Dialog mit der zivilen, unbewaffneten Opposition, zur Demokratisierung, zur
3
Der Name wurde nach dem Ort des ersten Treffens, einer zu Panama gehörenden Insel, gewählt.
4
Zur Contadora-Unterstützergruppe gehörten Brasilien, Argentinien, Uruguay, Ekuador und spater Bolivien. Aus Contadora und Unterstützergruppe ging später die "Rio-Gruppe" mit eigener Agenda hervor.
5
Originaltitel des Abkommens: "Procedimiento para establecer la paz firme y duradera troamérica", besser bekannt unter "Esquipulas II".
en Cen-
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Nichteinmischung und Unterlassung jeglicher Unterstützung von irregulären Kampfverbänden in den Nachbarstaaten (denen die Legitimität abgesprochen wurde - Contra, FMLN und URNG gleichermaßen) und zur Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung und Überprüfung der Erfüllung eines Friedensplans (vgl. Krumwiede 1988). Die komplexen regionalen Sicherheitsfragen, die in der Contadora-Initiative breiten Raum eingenommen hatten, wurden ausgeklammert. Zudem machte sich das Abflauen des Ost-West-Konflikts bemerkbar, und die Reagan-Administration sah sich nach dem Wahlsieg der Demokraten bei den Kongreßwahlen vom November 1986 und der Aufdeckung des "Iran-Contra-Skandals" Ende 1986 zu einer flexibleren Haltung in ihrer Zentralamerika-Politik gezwungen. Unter konstantem wirtschaftlichen und militärischen Druck gab auch das sandinistische Nikaragua seine Verweigerungshaltung auf. Durch die Unterzeichnung des Esquipulas-Il-Abkommens unterstrich die sandinistische Führung ihren Willen zu einer realistischeren Einschätzung ihrer unhaltbaren Position, zweifelte aber auch nicht am eigenen Sieg in demokratischen Wahlen.
3. Der europäisch-zentralamerikanische "San José-Dialog" Der Beitrag der Europäischen Gemeinschaft zur Befriedung Zentralamerikas wird ausdrücklich in der Präambel des Esquipulas-Friedensabkommens erwähnt. Neben dem Hauptziel der Friedensschaffung, das durch eine Entmilitarisierung der Region, den Abzug ausländischer Militärs und die Einleitung eines Dialogs zwischen den Kriegsparteien erreicht werden sollte, standen von Anfang an die Förderung der Demokratisierung als Voraussetzung einer politischen Stabilisierung und der Schutz der Menschenrechte. Zur Absicherung legten die Europäer großen Wert auf die zentralamerikanische Integration als Vehikel für die langfristige sozioökonomische Entwicklung der Region und als Grundlage für die Konsolidierung des Friedensprozesses und der Demokratisierung6. Um diese politischen Ziele zu operationalisieren, entwickelte der damalige Bundesaußenminister Genscher zusammen mit dem Präsidenten Costa Ricas, Monge, Überlegungen zu einem interregionalen Dialog zwischen der EG und den Staaten Zentralamerikas. Diese führten im September 1984 zu einem ersten Treffen der Außenminister beider Regionen in San José, der Hauptstadt Costa Ricas. Auf dem Folgetreffen im November 1985 in Luxemburg wurden jährliche Außenministertreffen vereinbart und ein wirtschaftliches Kooperationsabkommen zur Unterfütterung des Dialogs abgeschlossen7.
6
Das Grundkonzept der europäischen Zentralamerikapolitik ist in einer Stellungnahme enthalten, die im Juni 1983 vom Europäischen Rat in Stuttgart unter deutscher Präsidentschaft verabschiedet wurde (Heymer 1996).
7
Teilnehmer der jährlichen Konferenzen waren zunächst die EG-Kommission, die Außenminister der damals zehn EG-Mitgliedsstaaten, Portugals und Spaniens, der fünf zentralamerikanischen Staaten (Costa Rica, Guatemala, Honduras, Nikaragua, El Salvador) sowie der vier ContadoraStaaten (Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Panama).
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Kreft: Zentralamerika in der internationalen Politik
Zunächst signalisierte die EG der Contadora-Gruppe ihre Unterstützung, deren Beifall sich jedoch in Grenzen hielt8. Dabei agierten die Europäer mit großer Vorsicht und waren darauf bedacht, auf jedwede Politik gegenüberZentralamerika, die zu einem wirklichen Bruch mit Washington hätte führen können, zu verzichten (Crawley 1993: 220). Nach dem Scheitern der Contadora-Initiative haben die EG und ihre Mitgliedsstaaten ihre Unterstützung unmittelbar auf den Esquipulas-Friedensprozeß übertragen.
4. Internationale Unterstützung für Esquipulas II Oer Esquipulas-Friedensprozeß entschärfte den Zentralamerika-Konflikt und führte ihn auf die nationale Ebene zurück, wo auch die eigentlichen Konfliktursachen lagen. Damit wurden die Voraussetzungen für Verhandlungen zwischen Regierung und bewaffneter Opposition geschaffen, welche schließlich zur Befriedung von Nikaragua und El Salvador führten. Das Esquipulas Ii-Abkommen wurde von den Zentralamerikanern selbst als "zweite Unabhängigkeitserklärung" der Region gefeiert, doch wurde gerade auch im Verlaufe des Friedensprozesses deutlich, welch bestimmende Rolle Washington in der Region immer noch spielt (Moreno 1994: 138). Hatte sich schon die Reagan-Administration in ihrer Endphase gezwungen gesehen, aufgrund internen Drucks und des sich dem Ende zuneigenden Kalten Krieges zumindest rhetorisch positiv auf die Friedensbemühungen in der Region zu reagieren, schien US-Präsident Bush von Anfang an gewillt, die Zentralamerika-Politik seines Vorgängers als historischen Ballast abzuwerfen. Dadurch wurde der Weg frei, damit aus einer der letzten großen Krisen des Kalten Krieges die erste erfolgreiche Beilegung eines Regionalkonflikts nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts werden konnte. Nach dem "bipartisan accord" zwischen dem Weißen Haus und der demokratischen Mehrheit im Kongreß im März 1989 nahmen die USA eine positivere Stellung zum Arias-Plan und dem Esquipulas Friedensprozeß ein (United States Department of State 1989a: 1ff). Die neue Administration ging dabei von einem Wahlsieg der Sandinisten in den von diesen inzwischen anberaumten freien Wahlen aus und nahm damit bewußt in Kauf, daß das über ein Jahrzehnt lang bekämpfte Regime eine demokratische Legitimation und damit eine Stabilisierung erreichen könnte. Nach dem für alle überraschenden Wahlsieg des Oppositionsbündnisses unter Violeta Chamorro setzten die USA in El Salvador (und auch in Guatemala) ganz auf eine Verhandlungslösung und übten entsprechenden Druck auf ihre Verbündeten aus, vor allem auch auf die Militärs (Eguizäbal 1993: 177). Nach der Beendigung der Kampfhandlungen in El Salvador und der Intervention zum Sturz Noriegas in Panama verlagerten die US ihre Aufmerksamkeit bald zunehmend auf den Wirtschaftsbereich sowie auf die Drogenbekämpfung und damit verstärkt vom zentralamerikanischen Isthmus in die Andenländer und nach Mexiko.
Im Gegensatz zur E G luden die Contadora-Staaten ihre Unterstützergruppe zur Teilnahme an der Dritten Contadora-Konferenz ein, was von den Europaern nicht goutiert wurde.
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Lateinamerika Jahrbuch 1996
Auch die UdSSR betrachtete den Bürgerkrieg in Nikaragua lange als Bestandteil ihrer strategischen Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten. Ein Jahrzehnt lang lieferten die Sowjetunion und ihre sozialistischen Verbündeten (insbesondere die DDR) der sandinistischen Regierung nicht nur Waffen, sondern auch kostenlos große Mengen Erdöl und Lebensmittel sowie stark subventionierte Gebrauchsgüter. Die UdSSR finanzierte das Regime zudem durch die Abnahme von nikaraguanischen Exportgütern zu Preisen weit über Weltmarktniveau. Von 1980 bis 1989 erreichte das Gesamtvolumen der sowjetischen Lieferungen fast 3 Mrd. Dollar (Valenta 1990:145) und die nikaraguanische Verschuldung gegenüber der UdSSR lag Anfang der 90er Jahre bei über 3,5 Mrd. Dollar. Trotz dieser massiven Unterstützung, die zu einer völligen ökonomischen Abhängigkeit Nikaraguas führte, behielt Moskau stets die möglichen Konsequenzen eines solchen Engagements auf die USA im Auge. Nach einer gewissen Verzögerung wirkte sich die Einführung der Perestroika durch Gorbatschow auch auf die sowjetische Nikaragua-Politik aus. Bereits im August 1987 erklärte der Kreml seine Unterstützung für Esquipulas II und stellte Ende 1988 seine Militärhilfe an Nikaragua ein. Auf ihrem Treffen in Wyoming im September 1989 brandmarkten Baker und Schewardnadse gemeinsam jegliche Waffenlieferungen an Mittelamerika als Verletzung des EsquipulasAbkommens, was in Washington als Aufforderung Moskaus an Kuba, die DDR und die CSSR angesehen wurde, dem eigenen Beispiel zu folgen (Alexandrova/Halbach 1990: 287). Damit ist das Einlenken der sandinistischen Führung nicht nur auf den Druck Washingtons, sondern zu einem gewissen Teil auch Moskaus zurückzuführen, das sich von einer großen Bürde für die eigene angeschlagene Wirtschaft befreien wollte, damit aber auch seine Abkehr vom Revolutionsexport der Vergangenheit unterstrich. Dagegen blieb das Interesse Kubas an einer Unterstützung der Sandinistas und der FMLN in El Salvador zunächst erhalten, hoffte es doch, dadurch aus seiner regionalen Isolation herauszufinden, bis sich auch hier die wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau mäßigend auswirkte. Es ist nicht leicht, den Beitrag Europas und des San José-Dialogs zum Esquipulas Friedensprozeß konkret zu bemessen, aber er muß im allgemeinen als beachtlich angesehen werden. Allein die Tatsache, daß die San José-Konferenzen die zentralamerikanischen Regierungen überhaupt regelmäßig an einen Tisch brachte, war von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Verlauf der Friedensprozesse und die Demokratisierung in der Region (Crawley 1993: 222). So riefen die europäischen und zentralamerikanischen Regierungen im gemeinsamen AbschluBkommuniqué der San José Vl-Konferenz (Dublin) alle irregulären Kräfte in der Region auf, sich in die verfassungsmäßige Ordnung ihrer jeweiligen Ländereinzugliedern. Nach der kaltblütigen Ermordung von sechs Jesuiten in San Salvador im November 1989, dem traurigen Höhepunkt massiver Menschenrechtsverletzungen, vor allem durch mit Rückendeckung oberster Regierungsstellen operierende Todesschwadronen, stellten in einer koordinierten Aktion die EG-Kommission, Deutschland und verschiedene andere EGMitglieder ihre Entwicklungszusammenarbeit mit El Salvador ein. Als auch die USA ein Jahr später ihre Hilfe massiv kürzten, sah sich die salvadorianische Regierung zu einer flexibleren Haltung bei den Friedensgesprächen gezwungen. Die Einbeziehung Nikaraguas in den San José-Dialog verhinderte die völlige Isolierung des Landes vom Westen. Die meisten EG-Mitglieder intensivierten auch ihre bilateralen Beziehungen mit dem sandinistischen Regime. Nachdem sich Nikaragua auf dem zentralamerikanischen Gipfel von Costa del Sol (El Salvador) im Februar 1989 130
Kreft: Zentralamerika in der internationalen Politik
zu demokratischen Reformen bereit fand, erklärte auch die Bundesregierung ihre grundsätzliche Bereitschaft, die Entwicklungszusammenarbeit mit Nikaragua aufzunehmen. In dieser Phase fand ein offizieller Besuch von Präsident Ortega in Bonn (Mai 1989) und ein Gegenbesuch des Bundesministers für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Warnke, in Nikaragua (Juni 1989) statt. Damit trugen die Europäer wesentlich zur Herstellung eines Vertrauensklimas bei, das für die Abhaltung freier und fairer Wahlen nötig war. Auch an der finanziellen und technischen Durchführung des Wahlprozesses beteiligten sich die Europäer, insbesondere Deutschland (Computerausrüstung) und Spanien. Nachdem sich einige europäische Länder, darunter auch Deutschland mit einer zivilen Komponente, bereits an der Beobachtergruppe der VN in Zentralamerika (ONUCA) 9 zur Überwachung der wesentlichen Bestimmungen des Esquipulas-Abkommens beteiligt hatten, nahmen sie auch an der VN-Wahlbeobachtermission (ONUVEN) in Nikaragua teil. Diesem Engagement folgten Wahlbeobachtermissionen in Honduras (November 1993), El Salvador (März und April 1994) sowie zuletzt in Guatemala (November 1995, Januar 1996), wo die EU eine eigenständige flächendeckende Wahlbeobachtung durchführte. Neben den bilateralen Akteuren und der EG kam vor allem den Vereinten Nationen eine wichtige Rolle bei der Befriedung Zentralamerikas zu. Seit 1987 spielen die VN eine wachsende und entscheidende Rolle in der Region. Ihre Tätigkeit in den Bereichen Verifikation, Vermittlung, Wahlbeobachtung und Flüchtlingshilfe waren zentrale Elemente des Friedensprozesses. Eine wichtige Rolle spielten die VN auch bei der Koordinierung des wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramms und im Rahmen des "peace-building" (Kühn 1995: 206). Diese Rolle der VN wurde aber erst durch das Ende des Ost-WestKonflikts möglich, da für die Einsetzung von ONUCA und ONUSAL ein Zusammenwirken der Supermächte im Sicherheitsrat erforderlich war. In Zeiten des Kalten Krieges akzeptierten die USA allenfalls ein Engagement der von ihnen dominierten OAS. Washington hatte kein Interesse daran, über die VN der Sowjetunion eine Einflußmöglichkeit in der westlichen Hemisphere einzuräumen. Nachdem es in Nikaragua noch zu einer gemeinsamen Aktion von OAS und VN gekommen war, übernahmen die Vereinten Nationen in El Salvador und Guatemala allein die "peace keeping Operations". Die Gründe dafür dürften zum einen in der Abneigung der Zentralamerikaner gegenüber der von den USA dominierten OAS zu suchen sein. Darüber hinaus scheinen die USA selbst Zweifel an der Effizienz der OAS gehegt zu haben. Denn letztendlich ist eine VN-Aktion für die USA auch weitaus billiger, da sie an "peacekeeping Operations" der VN mit 28 Prozent, am Beitragsaufkommen der OAS aber zu 50 Prozent beteiligt sind. Für den Einsatz von bewaffneten Soldaten zur Überwachung der Demobilisierung ist zudem ein Mandat des VN-Sicherheitsrates erforderlich, was leichter für eine VN- als für eine OAS-Aktion zu erreichen ist (Wilson/Gonzales Diaz 1995: 158).
9
Das ONUCA-Mandat basierte auf einer Resolution des VN-Sicherheitsrates (SR-Res.644 (1989) vom 7.11.1989, die Bezug nahm auf einen Bericht des VN-Generalsekretärs vom 11.10.1989 (S/20895). Dieses Mandat, das zunächst nur zivile Komponenten umfaßte, wurde später (SR-Res 650 vom 27.3.1990) um eine militärische erweitert, um eine Mitwirkung der O N U C A an der Demobilisierung der Contra zu ermöglichen. Auch dieses Mandat wurde nochmals erweitert, und zwar um die Überwachung des Waffenstillstands und des Rückzugs der nikaraguanischen Streitkräfte aus den sogenannten Sicherheitszonen (SR-Res 653 vom 20.4.1990).
131
Lateinamerika Jahrbuch 1996
5. Externe Unterstützung der Konsolidierung des Friedens- und Demokratisierungsprozesses Die Situation Zentralamerikas hat sich im Laufe einer Dekade erheblich verändert. In Nikaragua und El Salvador gingen lang andauernde, blutige Auseinandersetzungen zu Ende. Die ausgehandelten Friedensvereinbarungen wurden weitgehend eingehalten und umgesetzt. In Guatemala scheint 1996 der Durchbruch für eine endgültige Friedensregelung in Reichweite. In allen sechs zentralamerikanischen Staaten haben sich zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit im Jahre 1821 gleichzeitig demokratische Regierungen etabliert. Die Wahlen der letzten Jahre erhielten, trotz verbleibender struktureller Defizite (u.a. defizitäre Wählerverzeichnisse und geringe Wahlbeteiligung z.B. in Guatemala), von internationalen Wahlbeobachtern das Gütesiegel "free and fair" und wurden von der überwiegenden Mehrheit der Wahlverlierer als rechtens anerkannt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Isthmus scheint eine dauerhafte demokratische Entwicklung möglich, doch ist der Friedens- und Demokratisierungsprozeß noch keineswegs konsolidiert. Während durch die demokratische Öffnung der politischen Systeme eine politische Ursache für das Entstehen des Konfliktherdes weitgehend beseitigt werden konnte (die FMLN ist zweitstärkste Partei in El Salvador, in Guatemala ist mit der FDNG eine der Guerilla nahestehende Partei aus dem Stand drittstärkste Fraktion im Parlament geworden), sind die sozioökonomischen Ursachen des Konflikts, d.h. insbesondere die große Armut der Bevölkerungsmehrheit und die Verteilungsungerechtigkeit (so die unzureichende direkte Besteuerung) bisher nicht behoben. Im Gegenteil, der unglücklicherweise zeitgleich zum politischen Transformationsprozeß erforderlich werdende, durch Weltbank und IWF koordinierte ökonomische Anpassungsprozeß hat die Armut zunächst noch weiter vergrößert. Mittels Sozialfonds konnten die Anpassungsprogramme zwar in gewissem Rahmen abgefedert werden, doch sind diese Fonds kein Ersatz für eine nachhaltige Wiederbelebung der Wirtschaft, die für jeden Einzelnen spürbar ist. Davon ist die Region 1996 noch weit entfernt, wenn sich auch die makroökonomischen Daten für El Salvador und Guatemala sowie nach vielen Jahren des Rückschritts erstmals auch seit 1994 für Nikaragua verbessert haben. Die Region bleibt auf lange Sicht auf internationale Hilfe angewiesen. Nach dem geringen Erfolg der zwei größeren längerfristig angelegten regionalen Zentralamerikakonzepte der Reagan-Administration (Caribbean Basin Initiative und Kissinger-Report} legte die Bush-Regierung mit dem "Partnership for Democracy and Development in Central America" (PDD) ein neues Konzept vor. Die PDD-Initiative zielte auf eine Zusammenarbeit der Geber bei der Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Zentralamerika (u.a. Demokratisierung, Menschenrechte, Justizverwaltung, Demobilisierung) (Zarate 1994:109). Dabei wurde die PDD in die auch für Zentralamerika geltende "Enterprise for the Americas Initiative" eingebettet. Obwohl die USA betonten, daß damit keine Konkurrenz für den San Jose-Prozeß angestrebt werde, wurde bald deutlich, daß sich die USA und die Zentralamerikaner neben einer an sich zu begrüßenden besseren Koordinierung der Hilfsprogramme (die aber bereits von der Weltbank geleistet wurde) auch die Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen versprachen und vom besseren Image insbesondere der europäischen Länder in der Region zu profitieren hofften. Die EU hat ohne großen Enthusiasmus am PDD-Konzept mitgewirkt, das nach dem letzten großen Treffen vom März 1993 132
Kreit Zentralamenka in der internationalen Politik
in Tokio von der Agenda verschwunden ist. Es ist das eingetreten, was viele zentralamerikanische Politiker befürchteten, nämlich daß das Interesse der USA an der Region nach dem Ende des Kalten Krieges erheblich zurückgehen würde. Auf der außenpolitischen Agenda der Clinton-Administration war für Zentralamerika neben Ostasien, Nahost und Bosnien sowie Mexiko, Haiti und Kuba in der westlichen Hemisphere kaum noch Platz. Die von den Lateinamerikanern empfundene Vernachlässigung ihrer Region seit dem Miami-Gipfel von 1994 durch Washington (Rothkopf 1996) ging indes soweit, daß sich Clinton gezwungen sah, Außenminister Christopher im Februar 1996 zu einer "goodwill-tour" nach El Salvador und Südamerika zu entsenden. Die USA haben aber ohne Zweifel insgesamt den gewichtigsten Beitrag für den Wiederaufbau der Region geleistet, wenn auch Teile zugesagter Mittel für Nikaragua aufgrund der Annäherungspolitik Frau Chamorros an die sandinistische Opposition und ungeregelter Enteignungsfälle amerikanischen Eigentums nie zur Auszahlung gelangt sind. Das schwindende Interesse an der Region hat inzwischen aber zu einem deutlichen Rückgang der US-Auslandshilfe für Zentralamerika geführt. Stellten die USA 1993 noch 350 Mio. Dollar zur Verfügung, reduzierten sie ihre Hilfe 1995 auf nur noch 200 Mio. Dollar mit weiter sinkender Tendenz. Damit sind die USA weit hinter die Entwicklungshilfeleistungen der Europäer zurückgefallen, und Japan ist zum größten bilateralen Geber der Region avanciert. Das von den USA im Dezember 1994 in Miami ausgerichtete Gipfeltreffen, an dem mit Ausnahme Kubas alle Präsidenten der westlichen Hemisphere teilnahmen, sollte ein neues Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft begründen und den Weg zu einer amerikanischen Freihandelszone bis zum Jahr 2005 ebnen. Hierzu wie auch zur NAFTA-Erweiterung nach Süden (bzw. als Vorstufe dazu die Einräumung von NAFTA-Parität für Zentralamerika) ist es, mitverursacht durch die mexikanische Pesokrise, nicht gekommen. Die Clinton-Administration erhielt nicht einmal für den aus US-Sicht relativ unproblematischen NAFTA-Beitritt Chiles die Zustimmung des Kongresses zu Tasf-fracfc"-Verhandlungen. Auf diesem Gebiet wird die USRegierung erst nach den Präsidentschaftswahlen vom November 1996 (ob nun erneuerte Clinton- oder eine republikanische Dole-Administration) wieder über genügend Handlungsspielraum verfügen, um den in Lateinamerika geweckten Erwartungen entsprechen zu können. Die Kooperation Europas (und auch Japans) mit Zentralamerika ist dagegen seit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen ausgebaut worden bzw. verharrt auf hohem Niveau. Der Bedarf der Region wird als anhaltend hoch und die Hilfe als essentiell für die Konsolidierung des Friedens- und Demokratisierungsprozesses angesehen. Die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Zentralamerika basiert auf dem Kooperationsabkommen vom November 198510. Einen größeren Umfang nahm die EU-Hilfe jedoch erst an, als der Friedensprozeß in Gang kam. Auf der San José Vl-Konferenz vom Februar 1989 in San Pedro Sula (Honduras) kam es zu einer stärkeren Betonung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das San José-VIIl-Treffen von Lissabon (Februar 1992) führte zu einer erheblichen Beteiligung der EU am Wiederaufbauprogramm für El Salvador in Höhe von 150 Mio. ECU für 1993. Darüber hinaus 10
Ein auf der San José IX-Konferenz in San Salvador (1993) abgeschlossenes "Kooperationsabkommen der Dritten Generation" ist aufgrund der noch ausstehenden Ratifizierung durch zwei ZA-Staaten bisher nicht in Kraft getreten.
133
Lateinamerika Jahrbuch 1996
wurde ein auf vier Jahre angelegtes "Mehrjahresprogramm zur Förderung der Menschenrechte in Zentralamerika" in Höhe von 1,5 Mio. E C U jährlich aufgelegt. Parallel zum Anstieg der EU-Leistungen, ist auch die Kooperation der meisten EUMitgliedsstaaten mit Zentralamerika seit Beginn des San Jose-Dialogs erheblich angestiegen. Durch den Abbau der US-Hilfsleistungen und den gleichzeitigen kontinuierlichen Anstieg des EU-Engagements sind die E U und ihre Mitgliedsstaaten inzwischen zum größten Geber der Region aufgestiegen. Zentralamerika ist pro Kopf bei weitem der größte Empfänger von EU-Hilfe. Nach einer in den 80er Jahren vorgenommenen Einschränkung der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit einigen Ländern der Region wegen als negativ beurteilten politischen Rahmenbedingungen hat die Bundesregierung die seitdem eingetretenen Entwicklungen mit einer Wiederaufnahme und z.T. deutlichen Erhöhung der Kooperation honoriert. Nikaragua und El Salvador sind seit der Beendigung ihrer Bürgerkriege mit durchschnittlichen jährlichen Neuzusagen von 60 bzw. 50 Mio. DM Schwerpunktländer der deutschen E Z in Zentralamerika geworden. Nikaragua, das in den 80er Jahren unter sandinistischer Herrschaft von der Finanziellen Zusammenarbeit (FZ) ausgenommen war, rückte sogar in die erste Reihe der Empfänger deutscher Entwicklungshilfe in Lateinamerika. Im Jahre 1991 erhielt das kleine Land mit 105 Mio. D M die höchste deutsche Hilfszusage aller lateinamerikanischen Länder. Da gleichzeitig die Entwicklungszusammenarbeit mit den beiden Schwellenländern der Region Costa Rica und Panama in den letzten Jahren im Zuge der Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit auf weniger Empfängerländer reduziert wurde, ist das Gesamtvolumen der E Z mit Zentralamerika in den vergangenen zehn Jahren relativ konstant geblieben. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützte die Region im Durchschnitt mit jährlich ca. 250 Mio. DM, davon 150 Mio. D M bilaterale staatliche Hilfe und weitere 100 Mio. D M aus dem Haushalt des B M Z finanzierter Technischer Zusammenarbeit über den Deutschen Entwicklungsdienst, die politischen Stiftungen, die Kirchen und andere NGOs. Schwerpunkte der deutschen E Z sind vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Armut und der bewaffneten Konflikte Projekte zur Reintegration demobilisierter Ex-Kombattanten (sowohl der Armeen als auch der Guerilla), Projekte zum demokratischen Wiederaufbau der Länder und zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der ärmsten Bevölkerungsgruppen.
6. Perspektiven Während die U S A ihr (finanzielles) Engagement in Zentralamerika noch weiter reduzieren, haben Deutschland", Europa, Japan und auch die internationalen Finanzinstitutionen bekräftigt, ihre Zusammenarbeit mit der Region auf hohem Niveau fortsetzen zu wollen. Das deutsche Engagement wurde im Mai 1996 durch den Besuch von Bundespräsident Herzog in Nikaragua unterstrichen, wo er mit allen Präsidenten Zentralamerikas zusammentraf. Mit seinem Besuch würdigte er den erfolgreichen
"
134
Vgl. Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung (Bundespresseamt, 1995).
Kreft: Zentralamerika in der internationalen Politik
Zusagen der deutschen bilateralen staatlichen finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Zentralamerika (in Mio. DM)
Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama BCIE*
1991
1992
1993
1994
1995
19861995
%
33,0 50,0 7,0 5,0 70,0 4,0
50,0 33,0 10,0 55,0 4,0
1,0 50,0 30,0 32,2 53,0 3,0
4,0 50,0 23,0 13,5 59.0
-
24,4 7,0 30,0 105,0 7,0
-
-
-
-
-
-
98,3 428,5 392,6 202,9 372,1 24,1 20,0
6,4 27,8 25,5 13,2 24,2 1,6 1,4
1986 1987
1988
1989
1990
35,2 50,0 63,0 0,1 0,45 6,1 20,0
1,2 91,0 53,2 42,0 0,8
12,3 61,9 73,2 5.0 3.0
1,6 0,3 53,2 65.1 13,8
11,0 0,9 50,0
-
-
-
-
-
-
-
12,0
Summe FZ/TZ 174,8 188,2 155,4 134,0 72,9 (i.e.S.) 64,0
83,5
79,4
65,0
-
173,4 169,0 152,0 169,2 149,5
1538,5 100
81,9
722,5
81,3
64,0
62,7
60,7
TZ (i.w.S )
80,0
Summe
254,8 252,2 238,9 213,4 137,9 255,3 250,3 206,0 232,9 210,2
2261,0
* Zentralamerikanische Entwicklungsbank Quelle: BMZ
Friedens- und Demokratisierungsprozeß in der Region und brachte gleichzeitig die fortbestehende Unterstützungsbereitschaft Deutschlands gegenüber den zentralamerikanischen Partnern zum Ausdruck. Deutschland und Europa haben weiterhin ein großes Interesse daran, daß die Pazifizierung und Demokratisierung Zentralamerikas Fortschritte macht. Denn eine erhebliche Reduzierung oder gar Einstellung der Hilfe würde nicht nur den in der Vergangenheit mit Bezug auf Zentralamerika formulierten (entwicklungs-)politischen Zielen und Grundsätzen widersprechen, sondern das mit der Zentralamerika-Politik erworbene politische Prestige12 gefährden, sie könnte sogar innenpolitische Kontroversen auslösen. Innerhalb der EU hat sich Deutschland daher auch für eine Fortsetzung des San José-Dialogs eingesetzt. In einer "Erklärung von Florenz" auf der San José Xll-Konferenz im März 1996 in Italien sind Europäer und Zentralamerikaner übereingekommen, den erfolgreichen Dialog zwar den seit seinem Beginn eingetretenen Veränderungen in Zentralamerika und Europa anzupassen, aber in seiner ganzen Breite fortzusetzen. Format und Rhythmus der Außenministerkonferenzen13 wurden geändert, doch das Instrumentarium und Volumen der Kooperation wurden erweitert. Die San José-XII-Konferenz hat deutlich gemacht, daß die zentralamerikanische Seite dem Dialog mit Europa nach wie vor erhebliche
Vgl. S. 2f. Vor dem Hintergrund erheblich gewachsener Belastungen der EU-Außenminister aufgrund neu hinzugekommener Konsultationsverpflichtungen wurden die bisher jahrlichen Ministerkonferenzen auf einen Zwei-Jahres-Rhythmus, mit Troika-Treffen in den dazwischen liegenden Jahren, umgestellt.
135
Lateinamerika Jahrbuch 1996
Bedeutung beimißt, was vor dem Hintergrund weiter sinkender US-Hilfeleistungen nicht verwundert. Ziel des Dialogs bleibt die Festigung des Friedens- und Demokratisierungsprozesses. Dabei wird der Modernisierung des Staates und der Achtung der Menschenrechte erhebliche Bedeutung beigemessen. So wurde in Florenz das "EUMehrjahresprogramm zur Förderung der Menschenrechte in Zentralamerika" um weitere vier Jahre verlängert. Das Interesse der Zentralamerikaner richtet sich zunehmend auf eine größere Unterstützung bei der Integration ihrer kleinen Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft durch Investitionen und vor allem durch einen erweiterten Marktzugang. Diesem Wunsch konnte durch die Revitalisierung und Kompetenzerweiterung der "gemischten Kommission" und durch die Einrichtung eines Handelsforums teilweise Rechnung getragen werden. Die Forderung der Zentralamerikaner nach zusätzlichen Sonderpräferenzen im Rahmen des allgemeinen Präferenzsystems der EU (APS) bleibt vorerst auf der Agenda, ist aber bereits im Entwurf der Kommission für eine Änderung der APS enthalten. Mit Japan hat seit Beginn der Dekade ein neuer Akteur für die zentralamerikanischen Länder eine erhebliche Bedeutung erlangt. Aufgrund seiner besonderen Beziehungen zu den USA hatte sich Japan im Gegensatz zu vielen europäischen Staaten jeglicher öffentlicher Kritik an der Lateinamerikapolitik Reagans enthalten. Es verzichtete auf jegliche Unterstützung für das sandinistische Nikaragua, aber unmittelbar nach dem Wahlsieg von Frau Chamorro wurde das Land in die japanische Entwicklungshilfe aufgenommen. Japan beteiligte sich auch an den diversen internationalen Wahlbeobachtermissionen in der Region. Inzwischen hat Japan seine Entwicklungshilfe für Zentralamerika erheblich aufgestockt und ist zum größten bilateralen Geber der Region aufgestiegen. Zentralamerika ist damit ein Schwerpunkt der "new global partnership"zwischen den USA und Japan geworden. Das politische Interesse Japans an Zentralamerika ist aber eher indirekter Natur geblieben. Die Verbesserung seiner (aufgrund von Handelskonflikten angespannten) Beziehungen mit den USA bleiben eine wesentliche Motivation seines Engagements (Kreft 1995: 243f). Auch die internationalen Finanzinstitutionen haben ihr Engagement in den vergangenen Jahren erheblich ausgeweitet.. Neben der Weltbank hat sich die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) als Hauptgeber der Region etabliert. Ihre führende Rolle wurde auch äußerlich dadurch sichtbar, daß der BID von der Weltbank die Leitung des letztjährigen Geberkoordinierungstreffens zu El Salvador übernahm. Es scheint also, daß die internationale Kooperation mit Zentralamerika auch in den kommenden Jahren trotz schwindenden Medieninteresses und neuer Themen auf der außenpolitischen Agenda in einem beträchtlichem Rahmen fortgesetzt wird. Damit werden wichtige Weichen für die Konsolidierung des Friedensprozesses in Zentralamerika gestellt, der ohne das Ende des Kalten Krieges nicht so schnell zum Erfolg geführt hätte. Der Vergleich mit anderen Konfliktregionen, die in den Ost-WestGegensatz eingebundenen waren, zeigt, daß es ohne den Druck und die Unterstützung externer Akteure auch in Zentralamerika zu keiner erfolgreichen Konfliktregulierung gekommen wäre. Mit der politischen Konfliktregulierung wurde aber für die Länder und ihre Bevölkerung in sozio-ökonomischer Hinsicht vielfach nur der status quo ante wieder hergestellt. Der Mehrheit geht es heute (noch) nicht besser als vor Ausbruch der Konflikte. Eine neuerliche Abwendung der internationalen Gebergemeinschaft von Zentralamerika zum jetzigen Zeitpunkt würde die Chance des Isthmus auf eine Konsolidierung der Demokratie und die Einleitung einer nachhaltigen Entwicklung 136
Kreft: Zentralamerika ¡n der internationalen Politik
gefährden. Natürlich bleibtdie Verantwortung für notwendige durchgreifende Reformen bei den einzelnen Staaten selbst. Die nunmehrdemokratisch legitimierten Regierungen der Region müssen die notwendigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen so setzen, daß sich die zweifellos vorhandenen natürlichen und menschlichen Entwicklungspotentiale entfalten können. Auch nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts bleibt der Nord-Süd-Dialog mit Zentralamerika noch für lange Zeit auf der internationalen Agenda.
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