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German Pages 344 [338] Year 2019
Lateinamerika Jahrbuch 1994
Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg Lateinamerika Jahrbuch • Band 3
Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg
LATEINAMERIKA JAHRBUCH 1994 Herausgegeben von Albrecht von Gleich, Heinrich-W. Krumwiede, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1994
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lateinamerika Jahrbuch ... / Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.- Frankfurt am Main : Vervuert Erscheint jährlich. - Aufnahme nach 1992 ISSN 0943-0318 1992-
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Printed in Germany ISBN 3-89354-422-4
INHALT
Seiten Teil I: Aufsätze Heinrich-W. Krumwiede/Detlef Nolte Perspektiven einer Lateinamerikapolitik Deutschlands als Handelsstaat und Zivilmacht
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Peter Waldmann Gewalt, Demokratisierung und die Rolle der Polizei
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Carlo Secchi Neues Kapital für Lateinamerika Tendenzen und Perspektiven für den Entwicklungsprozeß
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Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen Übersichten über regionale Integrationsbündnisse und -prozesse -
Gemeinsamer Zentralamerikanischer Markt (MCCA) Andenpakt (Abkommen von Cartagena) Karibische Gemeinschaft und Karibischer Gemeinsamer Markt (CARICOM) Lateinamerikanisches Wirtschaftsbündnis (SELA) Lateinamerikanische Integrationsvereinigung (ALADI) Amazonaspakt Rio-Gruppe Dreier-Gruppe Gemeinsamer Markt der Länder des Cono Sur (MERCOSUR) Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (NAFTA/TLC) Organisation Amerikanischer Staaten (OAS/OEA)
87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Informationen zu einzelnen Ländern: Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 1993 Cono Sur
98
Argentinien Chile Paraguay Uruguay
99 115 128 134
Brasilien
142
Andenregion
158
Bolivien Ekuador Kolumbien Peru Venezuela
159 169 177 189 203
Mexiko
214
Zentralamerika
228
Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama
234 238 244 250 255 263
Karibischer Raum
267
Gesamt-Chronologie (außer Jamaika und Kuba) Länderkennziffern zu den Klein- und Kleinststaaten der Region Chronologie Jamaika Chronologie Kuba
268 297 311 318
Lateinamerika allgemein (Kennziffern zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung mit Graphiken)
329
Technische Erläuterungen zu der Datenbank IBEROSTAT
333
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
338
Teil I
H.-W. Krumwiede/D. Nolte: Deutsche Lateinamerikapolitik
Heinrich-W. Krumwiede/Detlef Nolte
Perspektiven einer Lateinamerikapolitik Deutschlands als Handelsstaat und Zivilmacht 'Das vereinte Deutschland ist trotz seiner inneren und europanahen Probleme entschlossen, seine Interessen und Verantwortlichkeiten weltweit wahrzunehmen. Südamerika bleibt dabei ein wichtiger Partner. ... Dabei müssen wir von unseren Wertvorstellungen, aber auch von unseren Interessen ausgehen.' (Bundesaußenminister Konferenz deutscher Buenos Aires, Oktober
Kinkel bei der Eröffnung der Botschafter in Südamerika, 1993)
Vorbemerkung Die tiefgreifenden Veränderungen in der internationalen Politik, die in den vergangenen Jahren zu verzeichnen waren, haben den Planungsbedarf in der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland erhöht und zu einer klareren Umschreibung deutscher außenpolitischer Grundpositionen gegenüber unterschiedlichen Weltregionen - so auch zu Lateinamerika - geführt. Diese Entwicklung unterscheidet sich von früheren Perioden, als häufig von seiten der Wissenschaft beklagt wurde, daß es eine deutsche Lateinamerikapolitik im eigentlichen Sinne nicht gebe. Ausgehend von einer konzeptionellen Diskussion außenpolitischer Grundinteressen der Bundesrepublik Deutschland als Handelsstaat und Zivilmacht wird das spezifische Interessenprofil gegenüber Lateinamerika herausgearbeitet sowie empirisch unterlegt, und es werden Entwicklungsperspektiven in den deutsch-lateiname9
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rikanischen Beziehungen aufgezeigt, die auf Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland (Wiedervereinigung), in ihrem internationalen Umfeld und in Lateinamerika zurückzuführen sind. Der Fragestellung des Artikels entsprechend wird die auswärtige Kulturpolitik (siehe hierzu Werz 1992), die traditionell einen ihrer Schwerpunkte in Lateinamerika hat, nicht behandelt. Ferner wird auf eine empirische Analyse der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Ländern verzichtet.
I. Deutsche Lateinamerikapolitik im Wandel 1. Auf der Suche nach einem lange nicht vorhandenen Gegenstand Folgt man den Aussagen wissenschaftlicher Abhandlungen, so bezieht sich der vorliegende Beitrag auf ein Phänomen, das bis vor kurzem nicht existiert hat. Bereits in der zweiten Hälfte der 60er Jahre hatte von Gleich (1968: 35) in einer der ersten Studien zur Lateinamerikapolitik der Bundesrepublik Deutschland vermerkt: "... Latin America does not play any particular role for most German politicians of the postwar era, and ... no specific German foreign policy toward Latin America is evident." Mehr als eine Dekade später, Anfang der 80er Jahre, hieß es in einer Studie von Mols (1982: 221): "Tatsächlich hat die Bundesrepublik Deutschland in den rund 30 Jahren ihres Bestehens .... zu keiner nach außen artikulierten außenpolitischen Position gegenüber Lateinamerika gefunden". Und in einem kürzlich veröffentlichten Artikel wird gleich zu Anfang festgestellt (Grabendorff 1993-94: 43): "Germany has never appeared to have a very strong overall relationship with the región and, due to its postwar history, has never developed a true 'Latin American Policy'." Auch in anderer Hinsicht überrascht die Kontinuität der Argumente. In der bereits erwähnten Studie aus dem Jahr 1968 werden Überlegungen und Befürchtungen vorgetragen, die an die aktuelle Diskussion erinnern. Beklagt werden u.a. der Rückgang des Anteils Lateinamerikas an den Exporten und Importen Deutschlands und die negativen Auswirkungen der EG-Politik für die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Deutschland (von Gleich 1968: 44f./50f.). Als positive Aspekte werden demgegenüber das ökonomische Potential Lateinamerikas und die Rolle Deutschlands als Interessenwalter und wichtigster Wirtschaftspartner Lateinamerikas in der EG (von Gleich 1968: 46f./51) erwähnt. Das von Wissenschaftlern beklagte Defizit einer eindeutig definierten deutschen Lateinamerikapolitik hat immer wieder zu Bestrebungen von Lateinamerikaspezialisten geführt, selbst konzeptionelle Vorschläge zu erarbeiten, sei es im Hinblick auf die deutschen Interessen (vgl. Krumwiede/Nolte 1994) oder auf einen wahrgenommenen außenpolitischen Handlungsbedarf (vgl. ADLAF 1983). Wenn sich Lateinamerikanisten mit dem Thema befassen, besteht allerdings immer die Versuchung, die Bedeutung der Region für die Bundesrepublik Deutschland überzubewerten und
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die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Außenpolitik gegenüber Lateinamerika zu überschätzen. Dies gilt in besonderer Weise für den bereits zehn Jahre zurückliegenden Versuch der ADLAF (Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung), eine Bestandsaufnahme der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Lateinamerika vorzunehmen und Empfehlungen für ihre Weiterentwicklung auszusprechen. Was die wirtschaftlichen Konzeptionen und Prognosen betrifft, wurden wesentliche Thesen von der tatsächlichen Entwicklung widerlegt, wie z.B. folgende: "die Grenzen des weltwirtschaftlichen Integrationsmodells und weltmarktorientierter Strategien der Entwicklungsländer sind in Lateinamerika offensichtlich" oder "die ebenfalls erforderliche Erschließung des potentiell großen Regionalmarktes ist mittelfristig nicht zu erreichen" (ADLAF 1983: 14f.). Und auch Möglichkeiten und Interessen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Lateinamerika wurden überzeichnet. Als Bedrohung wurde genannt: "Falls es nicht gelingt, die Probleme in Lateinamerika bald zu vermindern, wird die ganze Region, die bis jetzt dem Westen kulturell und wirtschaftlich noch verbunden ist, sich in andere Richtungen orientieren" (ADLAF 1983:7). 2. Ein neu erwachtes Interesse an Lateinamerika? Nach der deutschen Wiedervereinigung, dem Ende des sowjetischen Imperiums und dem Voranschreiten des europäischen Integrationsprozesses (Vertrag von Maastricht, Erweiterung der EU) wurden in Lateinamerika, aber auch in Deutschland Befürchtungen geäußert, daß der Dritten Welt und Lateinamerika im Rahmen der deutschen Außenpolitik künftig weniger Aufmerksamkeit zuteil würde als bisher (vgl. Benecke 1990) und sich auch die deutsche Wirtschaft stärker auf andere Entwicklungsregionen (Stichwort: Asien) orientieren würde. Zwischenzeitlich gibt es aber Indizien, die diese Einschätzungen zu widerlegen scheinen: So haben sich die diplomatischen Kontakte mit Lateinamerika in den vergangenen Jahren verdichtet - sicherlich auch eine Folge der Demokratisierung des Kontinents: In den Jahren 1990 bis 1993 haben insgesamt acht lateinamerikanische Präsidenten die Bundesrepublik Deutschland besucht, darunter die der drei wichtigsten lateinamerikanischen Staaten (Mexiko, Brasilien und Argentinen). Bundespräsident von Weizsäcker stattete 1992 Mexiko und 1993 Chile und Ekuador Staatsbesuche ab, und Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte 1991 Chile und Brasilien. Dies ist um so bemerkenswerter, als es sich erst um die dritte Reise eines deutschen Bundeskanzlers nach Lateinamerika handelte: 1979 hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt Brasilien, Peru und die Dominikanische Republik bereist, Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte 1984 Mexiko und Argentinien. Zudem gab es Bestrebungen, die deutschen Interessen in Lateinamerika neu zu definieren und Leitlinien für die deutsche Lateinamerikapolitik zu erarbeiten (siehe unten). Im Februar 1994 wurde eine große deutsche Industrieausstellung (TECHNOGERMA '94) in Mexiko-Stadt abgehalten, die allgemein als Erfolg gewertet wurde. Am Rande der Veranstaltung traf Wirtschaftsminister Rexrodt mit Vertretern der 11
Lateinamerika Jahrbuch 1994
deutschen Auslandskammern in Lateinamerika zusammen', eine weitere große Industrieausstellung ist für 1995 in Brasilien geplant. Im April beteiligte sich Deutschland - trotz anfänglicher Widerstände aufgrund der Sparpolitik des Finanzministers und nach Interventionen aus Wirtschaft und Fachkreisen - an einer Kapitalaufstokkung der Interamerikanischen Entwicklungsbank, die der Bundesrepublik Deutschland künftig mehr Einfluß im Exekutivrat der Bank sichert. Die Bundesrepublik wird ihren Kapitalanteil von 0,98% auf 1,9% aufstocken und dafür DM 185 Mio. einzahlen. Und im Rahmen einer "Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft"2 fand schließlich im Juni 1994 in Hamburg eine "Lateinamerika-Konferenz der deutschen Wirtschaft" statt. Kurz zuvor war ein "Lateinamerika-Gesprächskreis" gegründet worden, der Vertreter aus Wirtschaft (BDI, DIHT, Ibero-Amerika Verein und Auslandskammern) und Politik (Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium, BMZ) regelmäßig zusammenführen soll.
3. Auf dem Weg zu einer neuen Konzeption deutscher Lateinamerikapolitik Das neu erwachte deutsche Interesse an Lateinamerika spiegelt tiefgreifende Veränderungen in Deutschland (und in seinem internationalen Umfeld) wie auch in Lateinamerika wider, die neue Möglichkeiten für die wechselseitigen Beziehungen eröffnen. Nach der Wiedervereinigung wird die Bundesrepublik Deutschland international als bedeutende Mittelmacht wahrgenommen und kann nicht mehr als "politischer Zwerg", der angeblich keine Eigeninteressen verfolgt, auftreten. Angesichts der Probleme bei der Schaffung einer neuen Weltordnung nach dem Ende des OstWest-Konflikts, dem Zerfall des Ostblocks und dem Zusammenbruch kommunistischer Regime erscheint eine stärkere konzeptionelle Planung der Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands, die spezifisch deutsche Interessenlagen reflektiert, als unabweisbar. Vom Auswärtigen Amt wurden Positionspapiere zu Afrika und Asien verabschiedet. Anfang Oktober 1993 fand unter der Leitung von Bundesaußenminister Kinkel in Buenos Aires eine Konferenz der deutschen Botschafter in Südamerika statt. Die letzte vergleichbare Konferenz war vor 13 Jahren, im Mai 1980, gleichfalls in Buenos Aires abgehalten worden. Am Ende der Konferenz wurden 14 Thesen verabschiedet, die den Rahmen für die zukünftige Lateinamerikapolitik der Bundesrepu-
Paraliel hierzu wurde auch der Bericht einer deutsch-mexikanischen Kommission, die sich aus Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammensetzte, vorgelegt. In diesem Bericht werden der aktuelle Stand und zukünftige Perspektiven in bilateralen Beziehungen dargelegt (Kommission Mexiko-Deutschland 1994). Die Einsetzung der Beratungskommission war Im Juli 1991 beim Staatsbesuch des mexikanischen Präsidenten Salinas in Deutschland vereinbart worden. Es war die erste derartige Kommission zwischen Deutschland und einem lateinamerikanischen Land. Prioritäres Ziel der Lateinamerika-Initiative ist "die Änderung des Gesamtimages Lateinamerikas in Deutschland, um die Position der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika unter verstärkter Einbindung mittelständischer Unternehmen langfristig zu sichern und auszubauen' (BDI 1994).
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blik Deutschland abstecken sollen.3 Eine Konferenz der deutschen Botschafter in Zentralamerika schloß sich Ende Februar/Anfang März 1994 in Guatemala-Stadt an, auf der in einer AbSchlußerklärung ("Schlußfolgerungen und Empfehlungen") die deutsche Position gegenüber Grundproblemen in der Region dargelegt wurde. Bereits im Dezember 1992 hatte das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sein neues "Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika" vorgelegt.4 Den Thesen des Auswärtigen Amtes zur deutschen Lateinamerikapolitik kann man bescheinigen, daß sie, wie es ihre Absicht war, eine breit konsensfähige politische Grundposition zu Lateinamerika skizziert haben. So wird nicht nur auf die Wirtschaftsinteressen, sondern ausführlich auch auf deutsche Wertinteressen gegenüber Lateinamerika eingegangen, und Entwicklungen in Lateinamerika, die in dieser Hinsicht positiv waren, werden gebührend gewürdigt.
II. Deutsche Interessen an Lateinamerika Nachfolgend führen wir die an anderer Stelle begonnene Diskussion (Krumwiede/ Nolte 1994) fort, welche Lateinamerikapolitik deutschen Interessen am besten entspricht. Unser besonderes Anliegen ist es hier, die unterschiedlichen Dimensionen dessen, was wir Wertinteressen genannt haben, zu präzisieren, ihre Bedeutung für die deutsche Politik darzulegen und zu begründen, warum sich Lateinamerika im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen im besonderen Maße als Adressat und Partner einer an Wertinteressen orientierten Außenpolitik der Zivilmacht Deutschland (zum Begriff siehe später) anbietet. Zudem sollen die weniger erläuterungsbedürftigen wirtschaftlichen Interessen des Handelsstaates Bundesrepublik Deutschland an Lateinamerika mit umfassendem Datenmaterial illustriert und Entwicklungspotentiale aufgezeigt werden. Auch bei international stark verflochtenen Staaten wie der Bundesrepublik ist es notwendig, außenpolitische Interessenlagen zunächst national zu definieren. Es bereitet allerdings erhebliche Schwierigkeiten, zu einem - gewissermaßen "aufgeklärten" - Verständnis von nationalem Interesse zu gelangen. Denn Denkgewohnhei-
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Nach Aussagen des Beauftragten für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt handelt es sich bei diesen im Bulletin der Bundesregierung veröffentlichten Thesen um die amtliche deutsche Lateinamerikapolitik (Kaestner 1994: 10).
4
Dort werden als generelle Ziele der Zusammenarbeit u.a. genannt: 'reformwillige lateinamerikanische Staaten auf dem Weg zu einer friedlichen und tragfähigen Entwicklung zu unterstützen, die auf die Stärkung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, die breite Partizipation aller Bevölkerungsschichten und auf einen verantwortungsbewußten Umgang mit den natürlichen Ressourcen ausgerichtet ist." Im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung soll sich die Entwicklungszusammenarbeit auf vier Schwerpunktbereiche konzentrieren: "die Bekämpfung der extremen Armut, die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, die Entwicklung des Ressourcen- und Umweltschutzes sowie den Aufbau eines leistungsfähigen und sozial verträglichen Bildungswesens."
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Lateinamerika Jahrbuch 1994
ten, die auf die durch den Ost-West-Konflikt geprägte Weltordnung bezogen waren, wirken weiter fort. Für das "alte Denken" sind folgende Grundüberzeugungen typisch: 1. Wenn von nationalem Interesse die Rede ist, wird vornehmlich in Bedrohungskategorien gedacht. Unter den Bedrohungsszenarien gilt den sicherheitspolitischen Bedrohungen sowie der militärpolitischen Vorsorge gegen sie besondere Aufmerksamkeit. Die Relevanz von Ländern für das nationale Interesse der Bundesrepublik bemißt sich an ihrer Bedrohungsqualität oder ihrer Fähigkeit, als Allianzpartner Schutz vor Bedrohungen zu bieten. Hiermit ist wohl die heute noch beobachtbare Tendenz zu erklären, daß die negative Art der Interessenbegründung überwiegt: man geht weniger von Opportunitäten als von Bedrohungen aus. Vielleicht steht auch die Tatsache, daß vornehmlich - irgendwie als "bedrohlich" empfundene - Krisen die außenpolitische Aufmerksamkeit zentrieren und positive Entwicklungen unzureichend wahrgenommen und gewürdigt werden, mit dieser Denkgewohnheit in Zusammenhang. Die Konjunktur des sogenannten "erweiterten Sicherheitsbegriffes", der Probleme wie Umweltgefährdungen, Elendsflüchtlinge, Drogenproduktion und -handel, selbst Massenarmut, zu Sicherheitsbedrohungen erklärt, ist wohl auf die Gewohnheit, nationale Interessen vorwiegend negativ zu begründen, zurückzuführen. Auch scheint eine derartige negative Interessenbegründung öffentlichkeitswirksamer zu sein als eine positive. 2. Die Überzeugung ist weit verbreitet, nationale Eigeninteressen widersprächen moralischen Grundsätzen. Es wird davon ausgegangen, daß zwischen "Realpolitik" (verstanden als Machtpolitik) und "Moralpolitik" ein Gegensatz besteht und eine strikt am nationalen Interesse orientierte Außenpolitik im Zweifelsfalle moralische Normen mißachtet. 3. Da nationales Interesse im Sinne von nationaler Machtpolitik verstanden wird, stoßen Bestrebungen nach internationaler Kooperation auf erhebliche Vorbehalte. Die Frage wird nicht gestellt, inwieweit angesichts globaler, nicht national zu lösender Probleme internationale Kooperation im wohlverstandenen nationalen Eigeninteresse liegt. Mit Hilfe dieser für das "alte Denken"5 charakteristischen Denkfiguren lassen sich die deutschen Interessen gegenüber Lateinamerika nicht angemessen begründen. Wie an anderer Stelle ausgeführt (Krumwiede/Nolte 1994), geht heute auch für die USA keinerlei militärpolitisch relevante Bedrohung von Lateinamerika aus (für die Bundesrepublik war dies nie der Fall). Nachdem die Bürgerkriege in Zentralamerika in der Folge der Beendigung des Kalten Krieges friedlich beigelegt wurden - zum Jahresende 1994 wird auch die definitive Beendigung des Bürgerkrieges in Guatemala durch ein Friedensabkommen erwartet - , lassen sich sicherheitspoliti-
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Dieses 'alte Denken" steht vermutlich in Zusammenhang mit der während des Kalten Krieges sehr mächtigen sogenannten "realistischen Schule" der internationalen Politik. Vgl. die Hauptwerke von Morgenthau (1963) und Waltz (1979). Die - z.T. absurden - Konsequenzen dieses Denkens werden z.B. deutlich in Mearsheimer (1990). Zu einer Kritik dieses Denkens vgl. Rudolf (1994).
H.-W. Krumwiede/D. Nolte: Deutsche Lateinamerikapolitik
sehe Befürchtungen, wie sie in den USA wegen Zentralamerika in den 80er Jahren gehegt wurden, nicht mehr rechtfertigen. Das kommunistische Kuba bleibt zwar weiter Anlaß von Besorgnissen, aber eben nicht von Besorgnissen (klassischer) sicherheitspolitischer Natur. Die Tatsache, daß Lateinamerika nicht mehr Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der atlantischen Allianz ist, vergrößert zugleich den Handlungsspielraum der deutschen Lateinamerikapolitik. Wenn man den "erweiterten" Sicherheitsbegriff auf Lateinamerika anwendet, sollte man sich durch die übliche, häufig nicht unberechtigte Metapher "wir sitzen alle in einem Boot" nicht verwirren lassen. Zwar ist es richtig, daß Entscheidungen in Lateinamerika (Stichwort: Abholzung des Amazonas-Regenwaldes) für Klimaveränderungen in Deutschland mitverantwortlich sind, und daß dieses Problem mit seinen globalen Auswirkungen nur multilateral angegangen werden kann. Aber nüchtern gilt es zu konstatieren, daß vornehmlich die USA von dem Phänomen der lateinamerikanischen Elendsmigration betroffen sind und Afrika und das östliche Europa (unter Einschluß der früheren Sowjetunion) in dieser Hinsicht eine ganz andere "Bedrohungsqualität" für die Bundesrepublik haben. Ob man die amerikanische Politik des "Drogenkrieges" in Lateinamerika angesichts ihrer mangelnden Effizienz (Bagley/Tokatlian 1992) und ihrer schädlichen Auswirkungen für zivil-militärische Beziehungen, die demokratischen Normen entsprechen (Fitch 1992), nennenswert unterstützen sollte, ist fraglich. Die "positiven" deutschen Interessen in Lateinamerika müssen realistisch im Rahmen der Grundlinien und Grundinteressen deutscher Außenpolitik und unter Berücksichtigungen der Veränderungen, die in Lateinamerika in den vergangenen Jahren zu verzeichnen waren, definiert werden. Dabei gilt es, das bei Lateinamerikaspezialisten häufig anzutreffende "wishful thinking", wenn es um den Stellenwert "ihrer" Region geht, zu vermeiden.
1. Die Bundesrepublik Deutschland als Handelsstaat und Zivilmacht Wenn man versucht, wichtige, spezifisch deutsche Interessen an Lateinamerika zu eruieren, ist es sinnvoll, sich an einem Verständnis der Bundesrepublik als Handelsstaat und Zivilmacht zu orientieren. Der Begriff Handelsstaat bezieht sich auf die Tatsache, daß die Bundesrepublik als im internationalen Vergleich außergewöhnlich exportabhängige Nation im besonderen Maße auf die Sicherung und Erweiterung von Märkten für Exporte und Investitionen und die Unterstützung anderer Staaten für Regelwerke (wie GATT) angewiesen ist, die weltweit einen freien, ungehinderten Handel ermöglichen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang vor Augen führen, daß der Wert der deutschen Exporte 1990 (in der alten Bundesrepublik) nahezu so hoch war wie derjenige der USA mit ihrer mehr als viermal so großen Bevölkerungszahl (250 Mio. zu 61 Mio.) und ihrem fast viermal so großen BIP und um 25% höher lag als der Japans mit seiner doppelt so großen Bevölkerung (124 Mio.) und seinem doppelt so großen BIP (Senghaas 1993a: 469f.). Die relativen Zahlen machen noch deutlicher, warum man die Bundesrepublik als Handelsstaat charakterisieren kann. So lag der Anteil 15
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des Exports von Gütern und Dienstleistungen (ohne Faktoreinkommen) am BIP in der Bundesrepublik 1990 nicht nur dreimal höher als in den USA, sondern auch als in Japan, das gemeinhin als die Exportnation gilt: Bundesrepublik 32%, USA 10%, Japan 11% (Senghaas 1993a: 471). Plastischer formuliert: In Deutschland wird jede dritte Mark mit dem Export verdient, jeder dritte Arbeitsplatz hängt direkt von ihm ab. Als Handelsstaat hat die Bundesrepublik besondere ökonomische Interessen. Man könnte argumentieren, daß sie es sich nicht leisten kann, sich nur auf die großen Exportmärkte zu konzentrieren und weniger bedeutende zu vernachlässigen. So hat Außenminister Kinkel bei der Eröffnung der Botschafterkonferenz in Buenos Aires wohl nicht zufällig das ökonomische Interesse an Lateinamerika in den Vordergrund seiner Ausführungen gestellt: "Investitionen waren, sind und bleiben die Hauptsäulen unserer Beziehungen zu Lateinamerika. ... Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes rücken die Wirtschaftsund Handelsfragen in den Vordergrund der Weltpolitik. Der Industriestandort Deutschland ist in Gefahr geraten. Deshalb kommt unserem Export gerade in die Schwellenländer Lateinamerikas erhöhte Bedeutung zu. Gerade angesichts des Wachstumspotentials in vielen Ländern der Region müssen wir uns mehr als bisher anstrengen, unsere Märkte zu pflegen, unsere Standortvorteile zu nutzen und die starke deutsche Stellung bei den Investitionen auszubauen. Hier werden auch unsere Auslandsvertretungen stärker in die Pflicht genommen. Heute zählt jeder Auftrag! Die amtliche Politik ist gefordert, unserer Wirtschaft jede nur mögliche Hilfestellung zu geben." (Kinkel 1993: 15/16).6 Mit dieser Positionsbeschreibung reagiert die deutsche Außenpolitik nicht zuletzt auf die wachsende Konkurrenz zwischen den führenden Industrienationen.7 Ähnliche Aussagen waren in der jüngsten Vergangenheit auch aus dem amerikanischen Außenministerium zu vernehmen8.
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In den Thesen zur Lateinamerikapolitik" heißt es zu den deutschen Wirtschaftsinteressen: 'Handel und Investitionen bleiben auch künftig eine Hauptsäule unserer Beziehungen. Angesichts des bedeutenden Wachstumspotentials in der Region und der durch die Reform- und Öffnungspolitik gebotenen neuen Chancen sind unsererseits verstärkte Anstrengungen erforderlich, um unsere Märkte zu pflegen, Standortvorteile zu nutzen und die deutsche Stellung bei Investitionen auszubauen.' (Auswärtiges Amt 1993: 11).
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Vgl. beispielsweise die Aussage des Beauftragten für Lateinamerikapolitik im Auswärtigen Amt auf der Lateinamerika-Konferenz der deutschen Wirtschaft: '... jedermann erkennt: Die Konkurrenz schläft nicht! Die USA und Japan zeigen deutlich Flagge. Ich erinnere nur an die Im Dezember bevorstehende Konferenz der demokratisch gewählten Staats- und Regierungschefs - den 'Summit of the Americas' - eine Initiative Präsident Clintons. Natürlich müssen wir die Frage unserer lateinamerikanischen Freunde gewärtigen: Und was tut Ihr?' (Kaestner 1994: 11). Eine ähnliche Tendenz zeigte sich auch im Vortrag des Vertreters des Wirtschaftsministeriums, in dem gleichfalls auf die Verschärfung des Wettbewerbs in den verschiedenen Weltregionen und auf das verstärkte Engagement der USA und Japans in Lateinamerika hingewiesen wurde (siehe Schomerus 1994).
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Die wachsende wirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas für die USA und die stärkeren handelspolitischen Verbindungen ("die lateinamerikanische Option") werden als willkommene Stärkung der Verhandlungsposition in den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen - z.B. Im Rahmen des
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H.-W. Krumwiede/D. Nolte: Deutsche Lateinamerikapolitik
Um die ökonomische Bedeutung einer Region, wie hier Lateinamerika, für den Handelsstaat Bundesrepublik einschätzen zu können, bieten sich drei Kriterien an: 1. Bisheriger Stand von Investitionen und Handel; 2. Entwicklungspotential; 3. Unterstützung für weltweiten Freihandel. Der Begriff Zivilmacht und die mit ihm verbundenen Inhalte sind neu. Im folgenden Zitat werden für das Verständnis wichtige Definitionsmerkmale genannt. Nach Maull (1993b: 934) zielt eine Zivilmacht "auf die Transformation der internationalen Beziehungen im Sinne ihrer Zivilisierung. [...] Das heißt: auch in der internationalen Politik geht es um die zunehmende Verregelung und Verrechtlichung der Konfliktaustragung, um die Einhegung der Gewaltanwendung, um die Entwicklung von Mechanismen zur Entwicklung, Legitimierung und Durchsetzung allgemeiner Normen. [...[ Zivilmächte verschreiben sich diesen Zielen, weil sie ihren innenpolitischen Wertvorstellungen entsprechen und weil sie ihren Interessen am besten dienen: Zivilmächte sind in aller Regel auch Handelsstaaten. Zivilmacht bedeutet schließlich, internationale Probleme in Zusammenarbeit mit anderen Staaten lösen zu wollen, weil sie in aller Regel nur so zu lösen sind. [...] Zivilmacht in diesem Sinne bevorzugt Verhandlungslösungen und wirtschaftliche Anreize und Sanktionen, sie sucht multilaterale Kooperation und den Ausbau internationaler Institutionen. [...] Zivilmacht ist nicht das Gegenteil von militärischer Macht. Militärische Instrumente und militärische Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung, aber auch als Mittel zur Durchsetzung gemeinschaftlicher Prinzipien und Interessen, gehören durchaus zu Zivilmacht. Aber Zivilmacht sucht keine autonomen militärischen Handlungsoptionen, ja sie vermeidet sie sogar bewußt. Sie ist skeptisch gegenüber den konstruktiven Gestaltungsmöglichkeiten militärischer Gewaltanwendung, und sie wird sie - außerhalb des Bereichs der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung - nur im Sinne internationaler Polizeimaßnahmen anwenden, d.h. nur nach einer klaren Legitimierung durch die internationale Staatengemeinschaft und ausschließlich zusammen mit anderen Staaten." In Konkretisierung dieses Verständnisses von Zivilmacht sind Staaten und Regionen von besonderem Interesse für die Bundesrepublik Deutschland, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen: 1. Die Fähigkeit zur friedlichen Regulierung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Konflikte und die Bereitschaft, sich international für das Prinzip friedlicher Konfliktregulierung konkret einzusetzen und zu diesem Zwecke mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten. 2. Die Verwirklichung demokratischer politischer Strukturprinzipien und das internationale Eintreten für sie.
GATT - mit der EU und Japan gesehen: "The long-dormant regional option will not replace ties with Europe or Japan, but will enhance the U.S. ability to compete and encourage the Europeans and Japanese to take U.S. trade concerns in the General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) more seriously." (Pastor 1992: 108) "... to compete with them (Asia and Europe, H.W.K/D.N.) and assert global leadership today, Washington must enlist the cooperation of Latin America and the Caribbean in building a hemispheric market and a democratic community, and thus a competitive edge." (Pastor 1992: 125). Die Strategie dabei ist es, über die Bildung von Handelsblöcken das Welthandelssystem zu reformieren und zu liberalisieren (Pastor 1993: 100): 'NAFTA could be a useful reminder to the European Community that if transatlantic trade talks sour, the United States has other options' (Pastor 93: 100f ).
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Lateinamerika Jahrbuch 1994
In einem früheren Aufsatz (Krumwiede/Nolte 1994) haben wir im Hinblick auf diese außenpolitische Orientierung an Frieden und Demokratie von deutschen Wertinteressen gesprochen. Mit diesem Begriff sollte deutlich gemacht werden, daß eine Orientierung der deutschen Außenpolitik an diesen Werten nicht als blauäugige "Moralpolitik" abgetan werden sollte, sondern durchaus deutschen Eigeninteressen entspricht. Als "realpolitische" Argumente, die für eine solche Politik sprechen, wurden damals genannt: 1. Die deutsche Bevölkerung präferiert eindeutig, wie Umfragen belegen, eine derartige Politik.9 2. Das weltweite Image der Bundesrepublik wird nicht unwesentlich dadurch geprägt, an welchen Normen es seine Außenpolitik orientiert. Nach der Wiedervereinigung hat dieses Image für Deutschland, das nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen strebt, zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Für das außenpolitische Profil der Bundesrepubik wäre es förderlich, wenn sie weltweit, so auch in Lateinamerika, ein klar erkennbares Interesse an der Prävention und friedlichen Regulierung gewaltsamer Konflikte und der Verankerung pluralistischer, rechtsstaatlicher und sozialer Demokratie zeigte. Als Zusatzargumente sind zu nennen: 3. Die Bundesrepublik wird, nicht zuletzt durch die Aktivitäten der Vereinten Nationen, immer stärker in inner- und zwischenstaatliche Konflikte auch in fernliegenden Regionen einbezogen, in denen keine nennenswerten deutschen ökonomischen Interessen zur Debatte stehen. In immer stärkerem Maße wird die Bundesregierung gezwungen, Entscheidungen mit Handlungsfolgen zu treffen und sich unangenehmen Fragen wie den folgenden zu stellen: Welches Verhalten von Staaten bzw. politischer Gruppen rechtfertigt Interventionen im Namen der VN-Prinzipien, welche Handlungen lassen das alte Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten fragwürdig werden? 4. Für das Interesse an der Verbreitung der demokratischen Staatsform kann auch das handfeste Argument ins Feld geführt werden, daß Demokratien, wie die empirische Kriegsursachenforschung herausgefunden hat, so gut wie keine Kriege untereinander geführt haben (Ray 1993; Nielebock 1993; Russett 1993; Risse-Kampen 1994; Wolf 1994). Auch spricht vieles dafür, daß Demokratien eher zu Verhandlungslösungen bei Konfliktsituationen tendieren als autoritäre Regime (vgl. Dixon 1994). Demokratische Staaten dürften eher zu einer gemeinsamen Friedensordnung befähigt sein als politische Systeme unterschiedlicher ordnungspolitischer Orientierung.
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Bei einer Meinungsumfrage (im Auftrag der Rand Corporation) im Oktober/November 1991 sprachen sich 59% der Befragten für ein größeres internationales Engagement Deutschlands, vor allem im humanitären Bereich (88%) aus. Als außenpolitische Ziele wurden u.a. die Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Dritten Welt (50%), die weltweite Verbesserung der Umweltbedingungen (77%), die Förderung und Verteidigung der Menschenrechte in anderen Staaten (51%) genannt (Asmus 1992: 205-208).
H.-W. Krumwiede/D. Nolle: Deutsche Lateinamerikapolitik
5. Zudem kann man demokratische politische Systeme als stabilitätswahrende institutionelle Arrangements zur internen friedlichen Konfliktregulierung begreifen (Krumwiede 1993). Im Unterschied zu autoritären und totalitären Regimen sind Demokratien auf die Existenz von Kritik, Protest und Opposition als normale politische Phänomene institutionell eingerichtet. 6. In der Entwicklungsforschung und -politik gilt seit neuestem den politischen Rahmenbedingungen von erfolgreicher sozio-ökonomischer Entwicklung besondere Aufmerksamkeit. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, ist auch sozio-ökonomisch entwicklungsadäquat und fördert eine Wirtschaftsentwicklung, die im Interesse des Handelsstaates Bundesrepublik liegt. Initiativen und Maßnahmen zur Festigung der Demokratie in den verschiedenen Weltregionen, so auch in Lateinamerika, entsprechen also in mehrfacher Hinsicht deutschem Interesse. Auch in politischen Beziehungen zu Ländern der Dritten Welt sollte die Förderung demokratischer Rahmenbedingungen Ziel und Kriterium der Entwicklungszusammenarbeit sein. Die im Oktober 1991 vom Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger, bekanntgegebenen fünf politischen Kriterien, die zukünftig von zentraler Bedeutung für die Vergabe von Entwicklungshilfe sein sollen, zielen in die richtige Richtung: "1. Die Beachtung der Menschenrechte, 2. die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, 3. die Gewährleistung von Rechtssicherheit, 4. die Schaffung einer "marktfreundlichen" Wirtschaftsordnung, 5. die Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns." (BMZ 1991).10 Diese allgemeinen Kriterien wurden weitgehend von der EU übernommen, die seit dem Vertrag von Maastricht auch über Kompetenzen in der Entwicklungspolitik verfügt (siehe Langguth 1992).11 Den bereits genannten Interessen der Bundesrepublik als Zivilmacht könnte man das Interesse an Staaten hinzufügen, die sich um den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft bemühen. Für eine solche Orientierung sprechen zwei Argumente: 1. Nach dem Scheitern des kommunistischen Entwicklungsmodells gilt die Marktwirtschaft weltweit als einziges erfolgversprechendes Modell nachholender 10
In der nachfolgenden Diskussion (vgl. Waller 1992) über die Anwendung der vom BMZ verkündeten Kriterien setzte sich als Konsens durch, auf positive Maßnahmen im Sinne der Unterstützung bereits vorhandener demokratischer Tendenzen zu setzen. Nur in Extremfällen soll auf das Prinzip negativer Konditionalität, d.h. die Aussetzung von Entwicklungshilfe, wenn bestimmte Kriterien nicht erfüllt sind, zurückgegriffen werden. Im BMZ fand im September 1993 ein ganztägiges internes Seminar zum Thema "Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika. Was kann die deutsche Entwicklungspolitik tun?" statt (siehe hierzu Krumwiede/ Nolte 1993; Kurtenbach 1993a). Dabei wurde über die großzügige Auslegung der Kriterien im Falle Perus kontrovers diskutiert.
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Im Vertrag von Maastricht heißt es dazu: "Die Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit, die eine Ergänzung der entsprechenden Politik der Mitgliedsstaaten darstellt, fördert: die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer: die harmonische, schrittweise Eingliederung der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft: die Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern. Die Politik der Gemeinschaft in diesem Bereich trägt dazu bei, das allgemeine Ziel einer Fortentwicklung und einer Festigung der Demokratie und des Rechtsstaats sowie das Ziel der Wahrung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu verfolgen." Im Haushaltsplan der EG für 1993 waren 4% der Mittel, d.h. mehr als DM 5 Mrd., für den Bereich Entwicklung vorgesehen (Niehaus 1993: 33).
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Entwicklung. Es entspräche den Interessen des Handelsstaates Bundesrepublik, wenn auch in Enwicklungsländern leistungsfähige Volkswirtschaften entstünden, die in größerem Maße die technisch anspruchsvollen deutschen Exportprodukte nachfragten. 2. Eine Konsolidierung von pluralistischer und rechtsstaatlicher Demokratie dürfte sich nur dann vollziehen, wenn das Problem kritischer Armut durch eine betont sozial ausgerichtete Marktwirtschaft entschärft wird.
2. Das Interesse des "Handelsstaates" Bundesrepublik an Lateinamerika a) Bisheriger Stand von Investitionen und Handel Deutsche Direktinvestitionen Während der 80er Jahre war in der gesamten Dritten Welt ein Rückgang des wirtschaftlichen Engagements von Unternehmen aus den Industrieländern zu verzeichnen. Stattdessen hat sich die Kapitalverflechtung zwischen den führenden Industrienationen verdichtet: Durchschnittlich 90% der deutschen Direktinvestitionen wurden in den vergangenen Jahren in den Industrieländern getätigt. Neuerdings hat zudem Osteuropa - hier vor allem Ungarn, die Tschechische Republik und mit Abstand Polen - für die deutsche Wirtschaft an Bedeutung gewonnen: Im Jahr 1993 wurden beispielsweise in Osteuropa mehr als doppelt so viele deutsche Direktinvestitionen getätigt als in allen Entwicklungsländern (Halbach 1994: 20). Lateinamerika war traditionell eine bevorzugte Region für Direktinvestitionen deutscher Unternehmen, die ihr Engagement während der 60er und 70er Jahre verstärkten. So ist Lateinamerika heute die einzige Weltregion außerhalb der EU, in der deutsche Unternehmen in einigen Branchen der verarbeitenden Industrie bedeutende Marktanteile besitzen oder sogar Schlüsselpositionen einnehmen. Auch die deutschen Banken haben sich traditionell stark in Lateinamerika engagiert und in den vergangenen Jahren ihr Kreditvolumen sogar erweitert. Beliefen sich die ausstehenden Kredite 1986 auf 20,4 Mrd. US-$, so waren es Anfang 1992 US-$ Mrd. 30,3. Mit einem Anteil von 14% (1986: 9%) an den ausstehenden Krediten - das sind 40% der Forderungen europäischer Banken - sind die deutschen Banken nach den US-amerikanischen und den japanischen der drittwichtigste Gläubiger Lateinamerikas (Grabendorff 1993/94: 55/61/96). Demgegenüber nahm das relative Gewicht Lateinamerikas bei den deutschen Auslandsinvestitionen während der 80er Jahre ab. Dies trifft allerdings auch für Investitionen aus anderen Industrieländern zu12. Flossen zu Beginn der 80er Jahre im Jahresdurchschnitt noch fast 10% der deutschen Auslandsinvestitionen nach Lateinamerika, so waren es am Ende der Dekade und zu Beginn der 90er Jahre So entfielen im Zeitraum 1987-90 nur noch 3,8% der weltweiten ausländischen Direktinvestitionen auf Lateinamerika, in den Jahren 1979-1982 waren es noch 12,6% gewesen (Nunnenkamp/Agarwal 1993: 4).
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nur noch rd. 2%13, mit einer 1992 und 1993 weiter abnehmenden Tendenz (s. Halbach 1994). In Teilen der deutschen Wirtschaft, aber auch im Wirtschaftsministerium mehren sich seitdem die Klagen über den Verlust von Marktpositionen und ein allzu geringes Engagement deutscher Unternehmen in Lateinamerika (vgl. BDI 1994). So heißt es in der am 1. Juni 1994 verabschiedeten "Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft": "Während deutsche Großunternehmen in einzelnen Industriebranchen teilweise marktbeherrschende Stellungen einnehmen, werden neue Beteiligungschancen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen verpaßt" (BDI 1994). Ende 1991 belief sich der Gesamtbestand deutscher Investitionen im Ausland nach Angaben der Bundesbank auf DM 259 Mrd.. Davon waren 90,3% (1979: 78,1%) in den Industrieländer konzentriert, 0,6% entfielen auf die mittel- und osteuropäischen Reformländer und 8,4% (1979: 14,1%) auf die Entwicklungsländer (ohne OPEC). Der Anteil Lateinamerikas am Gesamtbestand der deutschen Auslandsinvestitionen lag 1991 mit von DM 15,8 Mrd. bei 6,1%, 1979 waren es noch 11,5% gewesen. Allerdings waren 71% (1979: 78%) der deutschen Direktinvestitionen in Entwicklungsländern in Lateinamerika lokalisiert (Nunnenkamp/Agarwal 1993: 10; siehe auch Rösler 1993c). Nicht berücksichtigt in den genannten Zahlen sind die indirekten deutschen Investitionen über Drittländer (USA, Lichtenstein, Luxemburg, Holland, Schweiz etc.)14 und die teilweise beachtlichen Reinvestitionen deutscher Tochterunternehmen in Lateinamerika. Befragungen deutscher Unternehmen, die in Lateinamerika tätig sind, zeigen, daß sie neue Investitionsvorhaben in erheblichem Umfang lokal finanzieren: entweder aus örtlich erzielten Gewinnen oder über Kapitalaufnahmen in den Gastländern und auf den internationalen Finanzmärkten (Nunnenkamp/Agarwal 1993: 80; Rösler 1993b: 5). So plazierte beispielsweise VW de México 1992 eine internationale Anleihe in Höhe von DM 400 Mio., ohne daß dieser Betrag in den Statistiken über deutsche Auslandsinvestitionen auftauchte. Nach den Berechnungen der brasilianischen Zentralbank stammen 35% der deutschen Direktinvestitio-
Insgesamt flössen in den Jahren 1990 bis 1992 Investitionen im Wert von DM 2,3 Mrd. nach Lateinamerika (Nunnenkamp/Agarwal 1993: 13), in der Hauptsache nach Argentinien, Mexiko und Brasilien. Nach den Schätzungen der deutschen Handelskammern in Lateinamerika nahm der Investitionsbestand zwischen 1988 und 1993 um rd. 23% zu. Das Gros der Steigerung In diesen Jahren entfiel auf Mexiko und Argentinien (ein Plus von rd. 150%), demgegenüber nahm der Investitionsbestand in Brasilien nur um 4% zu (Rösler 1993b: 6: IAV 1994: 11). Die Bedeutung von Investitionen über Drittländer sei an einem Beispiel illustriert: "Vor seiner Übernahme durch die Hoechst AG vor einigen Jahren war Celanese ein US-amerikanisches Unternehmen. Im Januar 1993 gab das nunmehr zur Hoechst-Gruppe gehörende Unternehmen den Ausbau der Polyesterfaserproduktion und der Produktion für Plastikverpackungen in den mexikanischen Werken bekannt. Der Gesamtwert der dafür erforderlichen Investitionen wurde mit US$ 120 Mio. angegeben. Im Mai 1993 kündigte Celanese weitere Investitionen zur Errichtung von drei petrochemischen Produktionsanlagen in Mexiko an. Diese insgesamt US$ 370 Mio. werden aber In der Bundesbank-Statistik nicht als deutsche Investitionen erscheinen. Auch die mexikanischen Statistikbehörden werden diese Beträge fälschlicherweise als US-amerikanische Investitionen ausweisen." (IAV 1994: 10).
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nen in diesem Land aus Reinvestitionen nicht transferierter Gewinne (IAV 1994: 10). Eine neuere Studie (Nunnenkamp/Agarwat 1993) zeigt überdies, daß die deutschen Unternehmer in ihrem Investitionsverhalten in Lateinamerika im Vergleich mit anderen ausländischen Investoren weniger ausgeprägt auf positive oder negative Veränderungen im wirtschaftlichen und politischen Umfeld reagierten. D.h. in der Phase wirtschaftlicher Krise und Stagnation während der 80er Jahre nahm das wirtschaftliche Engagement deutscher Unternehmer weniger ab als das von Investoren aus anderen Industrieländern, und in der Phase des Aufschwungs zu Beginn der 90er Jahre reagierten sie zurückhaltender auf die neuen Investitionsmöglichkeiten, die sich u.a. durch den Privatisierungsprozeß lateinamerikanischer Staatsunternehmen ergaben. Als Hauptgründe für das geringe Interesse der deutschen Unternehmer an den Privatisierungen werden genannt: "die Bevorzugung traditioneller Investitionsbereiche, die mangelnde Attraktivität der Projekte (teilweise keine Mehrheitsbeteiligung möglich), die Möglichkeiten in Osteuropa und die z.Z. stattfindende strukturelle Anpassung in den deutschen Mutterhäusern." (BDI 1994: 13). Hinzu kommt, daß verstärkt in den Ländern der EU investiert wurde, wo sich ohnehin das Gros der deutschen Auslandsinvestionen konzentriert, und in Asien, wo im Vergleich mit Lateinamerika ein Nachholbedarf besteht. Viele Privatisierungen in Lateinamerika entfielen auf die Bereiche öffentliche Versorgungsunternehmen, Telekommunikation und Transport, in denen in Deutschland selbst ein Privatisierungs- und/oder Umstrukturierungsprozeß im Gange ist. Mittlerweile wird Klage darüber geführt, daß möglicherweise in einigen zukunftsorientierten Branchen - dies gilt insbesondere für die Telekommunikation - Chancen verpaßt wurden, weil die neuen Betreiber bei zukünftigen Investitionen möglicherweise ihre eigenen "Hauslieferanten" auf Kosten deutscher Mitbewerber bevorzugen werden. Das wahre Ausmaß der deutschen Direktinvestitionen in Lateinamerika läßt sich nur grob schätzen: So hatte beispielsweise 1988 der Bestand deutscher Direktinvestitionen in Lateinamerika nach Angaben der deutschen Bundesbank ein Volumen von DM 14,2 Mrd. erreicht. Eine im gleichen Jahr durchgeführte Befragung bei deutschen Handelskammern in Lateinamerika ergab jedoch einen kumulierten Bestand an Direktinvestitionen in Höhe von 16 Mrd. US-$ (Rösler 1993b: 6). Nach neueren Schätzungen (Ende 1993) liegt der tatsächliche Bestand deutscher Direktinvestitionen in Lateinamerika bei rd. DM 32,4 Mrd., und ist damit mehr als doppelt so hoch wie in den offiziellen Zahlen der Bundesbank ausgewiesen, die für 1991 einen Investitionsbestand (ohne Off-Shore-Anlagen) in Höhe von DM 13,4 Mrd. angeben (IAV 1994: 11). Berücksichtigt man diese Zahlenkorrektur, dann nimmt Deutschland unter den Investoren in Lateinamerika den zweiten Rang ein, nach den USA. Vom Bestand deutscher Direktinvestitionen in Lateinamerika - ohne die Kapitalanlagen in den Off-Shore-Finanzzentren (Kaiman-Inseln, Niederländische Antillen, Bahamas, Bermudas, Panama) - entfielen Anfang der 90er Jahre rd. 10% auf Argentinien, rd. 20% auf Mexiko und rd. 60% auf Brasilien (IAV 1994: 11), dem immer noch wichtigsten Standort für deutsche Investitionen in der Dritten Welt. 3/4 der deutschen Investitionen in Lateinamerika konzentrieren sich auf das verarbeitende
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Gewerbe (chemische und pharmazeutische Industrie, Maschinenbau, Fahrzeugbau, Elektrotechnik) (Nunnenkamp/Agarwal 1993: 17; IAV 1994: 9). Aus Kreisen der deutschen Wirtschaft wird immer wieder auf die Bedeutung dieser Direktinvestitionen für die lateinamerikanischen Volkswirtschaften hingewiesen. So heißt es in einem Bericht des Ibero-Amerika Vereins (IAV 1994: 9): "1993 überstieg die Produktion deutscher Tochterunternehmen in Lateinamerika mit jährlich schätzungsweise US$ 46 Mrd. das gesamte deutsche Exportvolumen nach Lateinamerika um das Fünffache. Damit entsprach das Produktionsvolumen dieser Unternehmen, das zusammen mit den örtlichen Arbeitskräften und Zulieferern erarbeitet wurde, ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt Kolumbiens. Allein in Brasilien schaffen deutsche Firmentöchter mit einem jährlichen Gesamtproduktionswert von umgerechnet US$ 23 Mrd. etwa 15% des industriellen BIP des Landes. Säo Paulo hat sich inzwischen zum wichtigsten deutschen Industriestandort außerhalb Deutschlands entwickelt."
Der Handel mit Lateinamerika Ähnlich wie die Direktinvestitionen konzentriert sich auch der deutsche Handelsaustausch auf die Industrieländer: So gingen 1990 85% der deutschen Exporte in die westlichen Industrieländer (1960 76%), aus denen 83% (1960 73%) der Wareneinfuhren kamen. Davon entfielen 52% der Einfuhren und 55% der Ausfuhren auf die EG, und 8% der Einfuhren und der Ausfuhren auf die USA und Kanada. In die Entwicklungsländer (ohne OPEC und die Staatshandelsländer in Europa und Asien) gingen 10% (1960 16%) der Importe und 7% (1960 15%) der Exporte (Statistisches Bundesamt 1992: 281). Dabei ist der Anteil Lateinamerikas am deutschen Außenhandel mit Entwicklungsländern in den vergangenen Jahren mit rd. 30% relativ konstant geblieben (Brand 1993a: 22/24). Im Vergleich mit den deutschen Investitionen nimmt sich das Handelsvolumen mit Lateinamerika eher bescheiden aus: Von den deutschen Ausfuhren gingen 1993 (vorläufiger Wert) 2,5% (DM 15 Mrd.) nach Lateinamerika (Statistisches Bundesamt, wiedergegeben in IAV, Wirtschaftliche Mitteilungen Mai 1994)15. Dies ist ein leichtes Plus gegenüber 1990, als der Anteil bei 1,9% lag, aber immer noch ein Rückgang gegenüber 1981 (3,3%) oder Mitte der 60er Jahre (6%) bzw. den 50er Jahren, als der Anteil einmal bei 12% (1954) gelegen hatte. Prozentual nahmen die Ausfuhren zwischen 1990 und 1993 um 30% zu. Dabei spielten nicht zuletzt die steigenden Exporte nach Brasilien (1993: +46%) ein wichtige Rolle. Mehr als 90% der deutschen Ausfuhren nach Lateinamerika sind industriell gefertigte Vor- und Enderzeugnisse, ein Drittel sind Maschinen. In die deutschen Exportstatistiken geht allerdings nicht der intensive Austausch zwischen deutschen Tochterunternehmen
Zum Vergleich: 1991 lag der Anteil Lateinamerikas an den Ausfuhren der EGbei 2%, der der USA bei 15% und der Japans bei 3,9% (Brandt 1993a: 17).
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- z.B. in der Automobilbranche16 - im innerlateinamerikanischen Handel ein, der Ergebnis einer regionalen Arbeitsteilung zur Nutzung komparativer Kostenvorteile in den verschiedenen Ländern der Region ist. Bei den deutschen Einfuhren aus Lateinamerika dominieren Nahrungsmittel und Rohstoffe, nur 30% sind Industrieerzeugnisse. Deutschland führte 1993 Waren im Wert von DM 12,5 Mrd. (vorläufige Zahlen) aus Lateinamerika ein, dies waren 2,7% (1990: 2,7%) aller Einfuhren'7. Wertmäßig reduzierten sich die deutschen Einfuhren aus Lateinamerika im Vergleich mit 1990 um 17%. Entscheidend für den Rückgang war der Preisverfall für traditionelle lateinamerikanische Ausfuhrprodukte. So verschlechterten sich die terms of trade im lateinamerikanischen Durchschnitt in den vergangenen Jahren um folgende Prozentsätze: 1993 um 4,9%, 1992 um 5,6%, 1991 um 8,7% und 1990 um 0,9% (CEPAL 1993:42). Im Ergebnis verringerte sich das chronische deutsche Handelsbilanzdefizit gegenüber Lateinamerika zwischen 1990 und 1992 von DM 3,4 Mrd. auf DM 390 Mio., und 1993 ergab sich erstmals wieder seit 1981 ein Aktivsaldo (in Höhe von DM 2,5 Mrd.) zugunsten Deutschlands (Statistisches Bundesamt, in: IAV Wirtschaftliche Mitteilungen Juni 1993/Mai 1994). Die gleiche Entwicklung zeigte sich im Handel zwischen Lateinamerika und der EG, der 1993 mit einem leichten Handelsbilanzüberschuß für Europa abschloß (Smith Perera 1994: 382 f). Über 80% des Handels der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika werden mit sechs Ländern - Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Venezuela - abgewickelt. Der Anteil Deutschlands an den Gesamtimporten aller lateinamerikanischen Staaten erreichte 1991 7,7%, der deutsche Anteil an den Gesamtexporten Lateinamerikas belief sich auf 6,9% (Brand 1993a: 15)'8. Für den deutschen Lateinamerikahandel sind durch die Integrationsbestrebungen in Lateinamerika kaum negative Auswirkungen zu erwarten: geringe handelsumlenkende Effekte zum Nachteil der deutschen Exporte werden vermutlich durch eine höhere Importnachfrage der Integrationsbündnisse nach Drittländerprodukten ausgeglichen. Der Handel zwischen den lateinamerikanischen Ländern nimmt durch die Integrationsabkommen in Produktsparten zu, in denen der deutsche Exportanteil gering ist. Eine Ausnahme bildet die NAFTA, wo die Sektorstruktur der mexikanischen Importe aus Deutschland in vielen Bereichen mit der Sektorstruktur der mexikanischen Importe aus den USA übereinstimmt. Es ist aber zu erwarten, daß der Verlust von Exportanteilen in der NAFTA durch höhere Direktinvestitionen in
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Die Bedeutung des Intraregionalen Handels zwischen deutschen Tochterunternehmen in Lateinamerika sei an einem Beispiel illustriert: "Das Mercedes-Benz-Montagewerk in Santiago de Tiangulstenco, Mexiko, erhielt 1993 Lieferungen von den Mercedes-Benz-Werken in Brasilien und den USA in Höhe von rd. DM 200 Mio. und lieferte seinerseits Waren nach Brasilien in Höhe von DM 30 Mio.' (BDI 1994: 12).
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Zum Vergleich: 1991 lag der Anteil Lateinamerikas an den Einfuhren der EG bei 2,3%, der der USA bei 12,9% und der Japans bei 3,9% (Brand 1993a: 17).
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Abweichende Angaben bei Grabendorff (1993/94: 84): deutscher Anteil an dem Importen 6,4%, an den Exporten 6,1%. Zum Vergleich die Anteile der USA (41,0%/45,4%), EG 12 (16,3%/ 22,1%), Japan (6,l%/6,2%).
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den NAFTA-Ländern und damit über eine stärkere Beteiligung am Handel innerhalb der NAFTA ausgeglichen werden kann (vgl. Brand 1993b). Was die deutschen Auslandsinvestitionen betrifft, so haben die Integrationsbemühungen der kleineren Volkswirtschaften nur begrenzte Auswirkungen auf das Engagement deutscher Unternehmer. Zu erwarten ist eine Verstärkung der deutschen Präsenz in Ländern, die über einen großen Binnenmarkt verfügen und in denen deutsche Unternehmen bereits eine starke Marktposition besitzen: Mexiko (NAFTA), Brasilien und Argentinien (MERCOSUR). Die Bedeutung der Integrationsbündnisse für den deutschen Außenhandel und die deutschen Direktinvestitionen wird deshalb vor allem von der Entwicklung in diesen für die deutschen Wirtschaftsinteressen in Lateinamerika zentralen Ländern abhängen (vgl. Nunnenkamp/ Agarwal 1993). Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik Deutschland der bedeutendste Handelspartner Lateinamerikas (1991: 28% der Importe und 33% der Exporte), und sie gilt in Lateinamerika als das Land, das gegenüber den Anliegen der Region am aufgeschlossensten ist. Diese Position "als traditioneller Freund Lateinamerikas", der in den Gremien der EU für die aus deutscher Sicht berechtigten Interessen der lateinamerikanischen Partnerländer eintritt, möchte die Bundesrepublik nach den "Thesen zur Lateinamerikapolitik" beibehalten. b) Zum Entwicklungspotential Lateinamerikas Bei aller Faszination durch Wachstums- und sonstige ökonomische Entwicklungserfolge in Ostasien sollte man nicht das grundlegende Faktum vergessen, daß Lateinamerika unter den Entwicklungsländern sozio-ökonomisch überwiegend zur "Mittelklasse", z.T. sogar zur "Oberklasse" gehört. Lateinamerika weist immer noch ein deutlich höheres Entwicklungsniveau als die bevölkerungsstärksten asiatischen Länder auf. So erwirtschafteten die sechs bevölkerungsreichsten Länder Lateinamerikas - Brasilien, Mexiko, Argentinien, Kolumbien, Peru und Venezuela - 1991 nach den Zahlen der Weltbank ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von US$ 2.645, die sechs größten Länder Asiens - China, Indien, Indonesien, Pakistan, Bangladesh und Vietnam - verfügten demgegenüber nur über ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von US$ 366 (Rösler 1993b: 2). Das Lateinamerika-Klischee von den monokulturellen Exportökonomien ohne nennenswerte Industrialisierung entspricht nicht der gegenwärtigen Realität und mißachtet die erheblichen sozio-ökonomischen Fortschritte, die es in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. So gilt Kolumbien in der deutschen Öffentlichkeit als typisches Kaffeeland. Dies war es vor 20 Jahren, wenn man die Zusammensetzung seiner Exporte betrachtete. Inzwischen macht der Kaffee, obwohl er in größeren Mengen als früher exportiert wird, unter 20% des Exportvolumens aus, und Industrieprodukte (im weitesten Sinne des Wortes) bestreiten mehr als 35% (Latin American Weekly Report, Special Report 1994). Lateinamerika befindet sich in einer Phase der wirtschaftlichen Erholung. Zudem gibt es erfolgversprechende Ansätze zur wirtschaftlichen Integration und zum Ab25
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bau von Handelshemmnissen, wodurch die lateinamerikanischen Binnenmärkte zusammenwachsen. Die Interamerikanische Entwicklungsbank hat die 90er Jahre bereits zur "Dekade der Hoffnung" deklariert und prognostizierte (1991) bis zum Jahr 2000 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von mehr als 4%, bei steigender Tendenz gegen Ende der Dekade. Der Internationale Währungsfond (IMF 1994: 178) geht von einem wirtschaftlichen Wachstum des BIP von 2,8% im Jahre 1994, 3,4% im Jahre 1995 und einem durchschnittlichen Wachstum von 4,7% in den Jahren 1996 bis 1999 aus. Die Weltbank (1994) hält nach einer Prognose vom März 1994 bei einer günstigen Entwicklung im Zeitraum bis zum Jahr 2003 ein durchschnittliches jährliches Wachstum (des BIP) von 3,7% bzw. 1,7% (pro Kopf der Bev.) für möglich. Die günstigen Wachstumsprognosen machen Lateinamerika mit seinen bald 500 Mio. Einwohnern als Handelspartner und Wirtschaftsstandort für Direktinvestitionen interessanter. Dies gilt in besonderer Weise für die USA19, die sich mit Kanada und Mexiko in der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) zusammengeschlossen haben und unter Präsident Bush die Idee einer ganz Lateinamerika umfassenden Freinhandelszone (American Enterprise Initiative) in die Diskussion gebracht haben. Aber auch Japan und die EU20 legen ein verstärktes Interesse an Lateinamerika an den Tag, wobei sich tendenziell eine Konkurrenzsituation um Anteile auf einem expandierenden Markt entwickelt. Ein Kommentar in der spanischen Zeitung "El Pais" (13.6.1994, 10) anläßlich des V. Iberoamerikanischen Gipfels in
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Die Beziehungen zwischen Lateinamerika und den USA haben sich In den vergangenen Jahren tiefgreifend verändert: es gibt heute einen Grundkonsens über das wirtschaftliche (Marktwirtschaft und Integration in den Welthandel) und das politische Ordnungsmodell (Demokratie). Das Interesse der lateinamerikanischen Staaten an einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den USA ist gewachsen, und auch für die USA hat Lateinamerika an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen. Seit Mitte der 80er Jahre hat sich der seit den 50er Jahren zu verzeichnende Trend einer Abnahme der relativen Bedeutung des Handels zwischen den lateinamerikanischen Staaten und den USA umgekehrt. So erhöhte sich der Anteil der USA bei den Industriegüterimporten Lateinamerikas zwischen 1986 und 1991 von 47% auf 54%, der Anteil Europas ging von 38% auf 31%, der Japans von 15% auf 13% zurück (Brand 1993a: 14). Die USA exportierten 1992 Waren im Wert von mehr als US$ 65 Mrd. nach Lateinamerika - eine Verdopplung gegenüber 1986. In den Jahren 1986-1991 wurden durch die Exporte nach Lateinamerika mehr als 650.000 Arbeitsplätze in den USA geschaffen (Pastor 1993: 108). Nach einigen Autoren (vgl. Balley/Perry 1993) kommt der NAFTA und der EAI (Enterprise for the Americas Initiative) zentrale Bedeutung hinsichtlich der zukünftigen wirtschaftlichen Stärke der USA zu. Andere Studien (vgl. Brand 1993a: 67) gehen davon aus, daß die USA ihre Handelsanteile In Lateinamerika in den 90er Jahren auf Kosten der Konkurrenzländer weiter ausdehnen werden. Hierbei sind die Im Gefolge der "Enterprise for the Americas Initiative" vom Juni 1990 mit mittlerweile 31 Ländern Lateinamerikas und der Karibik bi- oder multilateral abgeschlossenen T r a d e Framework Agreements' besonders wichtig. Diese können zwar noch nicht als Vorstufe für eine den gesamten Kontinent umfassende Freihandelszone angesehen werden, sie schaffen aber handelspolitische Konsultationsmechanismen, über die die Konkurrenzländer nicht verfügen (vgl. Brand 1993a: 58f.).
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So erhöhte sich der Wert der europäischen Exporte (EG) nach Lateinamerika zwischen 1983 und 1993 von ECU 12 Mrd. auf ECU 20 Mrd., allein in den vergangenen drei Jahren nahmen die europäischen Exporte nach Lateinamerika um 33% zu (in die gesamte Welt nur um 4%) (Smith Perera 1994: 382 f.).
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Cartagena (Kolumbien) trug bereits den Titel "Amerika kommt in Mode". In diesem Zusammenhang sollte man aber relativierend berücksichtigen, daß nach Berechnungen der Vereinten Nationen der Anteil Lateinamerikas und der Karibik am Welthandel 1992 nur bei rd. 4%, der der EG bei rd. 35% lag (CEPAL 1994: 35). Die in Lateinamerika in Angriff genommenen Wirtschaftsreformen tragen aller Wahrscheinlichkeit nach erheblich zur sozio-ökonomischen Modernisierung der Region bei und machen sie auch für den Handelsstaat Bundesrepublik attraktiver. Es sei betont, daß es sich hier um richtungsweisende Gabelungsentscheidungen handelt. Lateinamerika hat sich definitiv von dem über Jahrzehnte verfolgten sozioökonomischen Entwicklungsmodell der "importsubstituierenden Industrialisierung" staatskapitalistischer Natur mit durch hohe Zollmauern vor ausländischer Konkurrenz geschützter Industrie und der mit diesem Entwicklungsmodell verbundenen inflationsfördernden populistischen Politik getrennt. Es setzt jetzt auf Weltmarktintegration, die Erlangung internationaler Wettbewerbsfähigkeit und hat staatliche Betriebe und Dienstleistungen z.T. privatisiert. Es mag zu einer Abschwächung des Reformtempos kommen, aber eine Umkehrung des Reformkurses ist unwahrscheinlich. Es gibt bereits Versuche, das Problem der Effizienz bzw. internationalen Wettbewerbsfähigkeit in den Griff zu bekommen (Eßer 1994). Entscheidender als das Effizienzproblem dürfte aber unserer Überzeugung nach das Problem tiefgreifender sozialer Ungerechtigkeit sein (vgl. Krumwiede/Nolte 1993: 29-35; Nolte 1994). Die Weltbank (1992:39) schätzt den Anteil der Armen an der Bevölkerung Lateinamerikas, also der Personen, deren Einkommen nicht ausreicht, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, auf rund ein Viertel, die Wirtschaftskommission der VN für Lateinamerika CEPAL (1992:4) für 1990 auf 46% und den Anteil der extrem Armen auf 22%. Nur wenn es gelingt, das kritische Ungleichheits- und Armutsproblem zu entschärfen, dürfte Lateinamerika eine Wirtschaftsentwicklung durchmachen, die es dem Wirtschafts- und Sozialprofil der OECD-Länder nahe bringt. Denn wie die Entwicklungsgeschichte der heutigen Industrieländer - auch die der ostasiatischen Länder - gezeigt hat, besteht zwischen nur "mäßiger sozialer Ungleichheit" und erfolgreicher sozio-ökonomischer Entwicklung ein systematischer Zusammenhang. Dem deutschen Interesse entspricht es, sich auch in Lateinamerika für eine soziale Marktwirtschaft einzusetzen.
c) Unterstützung für weitweiten Freihandel In Übereinstimmung mit den Prinzipien ihres innerwirtschaftlichen Reformkurses treten die lateinamerikanischen Staaten auch international für den Freihandel und das für ihn konstitutive Regelwerk (GATT) ein. Die früher vorhandenen Tendenzen zum "tercermundismo" mit der Konsequenz, eine "neue Weltwirtschaftsordnung" zu fordern, die den Interessen der Dritten Welt als Exporteur von Agrarprodukten und Rohstoffen besondere Rechnung trägt, haben an Bedeutung eingebüßt. Zu fragen bleibt, wie die Bundesrepublik Deutschland lateinamerikanischen Forderungen nach einem Abbau des Protektionismus in Europa genügen kann.
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Als Handelsstaat hat Deutschland ein Interesse am Abbau des für Lateinamerika schädlichen Protektionismus der EU. Allerdings sind in der Außenhandelspolitik den autonomen Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland durch die Einbindung in die EU enge Grenzen gesteckt. Lateinamerika ist im Vergleich mit den europäischen Wirtschaftspartnern ökonomisch nicht wichtig genug, um außer in marginalen Bereichen (Stichwort: Bananen) eine - begrenzte - Konfliktstrategie im Rahmen der EU zu verfolgen. Für die EU hat Lateinamerika bisher weder handelspolitisch noch entwicklungspolitisch Priorität. Die entwicklungspolitischen Präferenzen (Entwicklungshilfe, Handelserleichterungen etc.) der EU liegen bei den ehemaligen Kolonien Frankreichs und Großbritanniens in Afrika und der Karibik, im Mittelmeerraum und neuerdings auch in den osteuropäischen Ländern. Zudem stellt sich das Problem, daß Lateinamerika beim Export von Industriegütern, deren Einfuhr in die EU geringeren Einschränkungen als beispielsweise Agrarprodukten unterliegt, gegenüber anderen Anbietern inner- und außerhalb der EU (USA, Japan, Südostasien) nicht konkurrenzfähig ist. Lateinamerika exportiert weiterhin in der Hauptsache Rohstoffe und Agrarprodukte in die EU. Bei letzteren betreibt die EU bekanntlich gegenüber Drittländern eine restriktive Importpolitik. Bei Tropenfrüchten werden zudem anderen Entwicklungsländern (AKP-Staaten) Präferenzen eingeräumt. Es bleibt abzuwarten, ob es sich bei den Absichtserklärungen, die im ersten Halbjahr 1994 von Vertretern der EU zu hören waren, in Gespräche über Freihandelsabkommen mit den Integrationsbündnissen in Lateinamerika - vor allem mit dem MERCOSUR - eintreten zu wollen (vgl. Marin 1994), nur um ein Strohfeuer oder um eine echte Trendwende in den Handelsbeziehungen zwischen der EU und Lateinamerika handelt. Bis 1996 wird man klarer sehen. Schließlich lösen sich ab Mitte 1994 vier Länder - Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien - in der Ratspräsidentschaft der EU ab, die besondere, wenn auch nicht immer konvergierende Beziehungen zu Lateinamerika pflegen. 3. Das Interesse der "Zivilmacht" Bundesrepublik an Lateinamerika Zwischen der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten und der Bundesrepublik Deutschland bestehen gemeinsame Wertinteressen, denen in einer Periode besondere Bedeutung zukommt, in der sich die internationale Politik in einer Phase des Umbruchs und der Neustrukturierung befindet. Einerseits wird die Weltpolitik unberechenbarer und konfliktträchtiger; andererseits nehmen die Bestrebungen zu, Systeme zur Konfliktregulierung zu schaffen. Gerade in einer Phase der Neubestimmung der Spielregeln internationaler Politik sind die in den politischen Eliten (und in der Bevölkerung) der verschiedenen Länder dominierenden Wertvorstellungen von Relevanz. Was heißt gemeinsame Wertinteressen? Dies heißt, daß ähnliche, politisch relevante, kulturell verankerte Grundvorstellungen vorherrschen. Dabei sind Innen- und Außenpolitik eng miteinander verwoben. Die Wertinteressen hinsichtlich der präferierten inneren Ordnung im eigenen und in anderen Ländern, beziehen sich auf die Wahrung der Menschenrechte, die Sicherung einer demokratischen Ordnung und 28
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ein marktwirtschaftliches Ordnungsmodell, das dem sozialen Ausgleich große Bedeutung zumißt. Neben den auf die innere Ordnung der Staaten bezogenen Wertinteressen gibt es auch außenpolitische Wertinteressen, die sich auf die in der politischen Elite und in der Bevölkerung verankerten Wertvorstellungen hinsichtlich der Strukturierung der internationalen Beziehungen beziehen. Diese können zwischen Staaten und/oder Staatengruppen ein unterschiedliches Ausmaß an Differenz oder Kongruenz aufweisen. Lateinamerika zeichnet sich im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen nicht zuletzt durch seine Bereitschaft und Fähigkeit zur inner- und zwischenstaatlichen friedlichen Konfliktregulierung sowie die Tatsache aus, daß nahezu die gesamte Region demokratisch regiert wird.
a) Friedliche Konfliktregulierung und Rüstungsbegrenzung sowie VN-Einsätze Lateinamerika war vor dem Ende des Ost-West-Konflikts die Weltregion mit den relativ geringsten Rüstungsausgaben, wenn man gängige Indikatoren der Rüstungsbelastung, wie den Anteil der Rüstungsausgaben am BIP und an den Ausgaben der Zentralregierung betrachtet (Büttner 1993: 425). Hieran hat sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nichts geändert. Wenn man fragt, warum in Lateinamerika im Gegensatz zum Nahen und Mittleren Osten und zu Fernost keine Tendenzen zum Hoch- oder gar Wettrüsten zu verzeichnen sind, bietet sich als Antwort an, daß in Lateinamerika keine diesen Regionen vergleichbare zwischenstatliche Konfliktstrukturen und Konfliktpotentiale existieren, die für intensive Bedrohungsgefühle und ihnen entsprechendes Hoch- und Wettrüsten verantwortlich sind. Anders als in anderen Regionen hatte der Ost-West-Konflikt in Lateinamerika nicht andere vorhandene Grundkonflikte überwölbt und gewissermaßen "eingefroren", die nach seiner Beendigung "aufgetaut" und machtvoll ausgebrochen wären. Vielleicht mehren sich in Zukunft ethnische Konflikte - möglicherweise sind die Vorgänge im mexikanischen Chiapas Vorboten für ähnliche Entwicklungen in lateinamerikanischen Staaten mit einem hohen indigena-Ante'A (Guatemala, Peru, Bolivien, Ekuador); nirgendwo ist es aber zu einem ethnisch-nationalistischen Separatismus gekommen, noch ist aufgrund der weitgehenden sprachlichen und religiösen Homogenität Lateinamerikas künftig mit ihm zu rechnen. Demgemäß droht in Lateinamerika, anders als etwa in Afrika, kein Staatsverfall. Vielmehr hat sich in den lateinamerikanischen Staaten ein relativ solides Nationalbewußtsein entwickelt. In den 80er Jahren galt Zentralamerika als "Pulverfaß" und international bedeutsamer regionaler Konfliktherd (Bendel 1993). Nach der sandinistischen Revolution von 1979 befürchteten die amerikanischen Administrationen, daß die UdSSR in Zentralamerika Fuß fassen könnte und sich diese Region - mit Auswirkungen für das gesamte Lateinamerika - in eine Zone verwandeln würde, in der sich konkurrierende Supermachtansprüche überkreuzen. Dementsprechend verfolgte die ReaganAdministration das Ziel, das sandinistische Regime zu stürzen und im revolutionär gefährdeten El Salvador mit hohem Mitteleinsatz eine Siegesstrategie der Streitkräf29
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te über die Guerilla zu unterstützen. Im Zeichen der Überwindung des Kalten Krieges verständigte sich dann aber die Bush-Administration bereits 1989 mit der Sowjetunion auf eine gütliche Konfliktregulierung in Nikaragua und El Salvador (Kramer 1990). Eine friedliche Beendigung der gewaltsamen innerstaatlichen Konflikte in Zentralamerika wurde nicht zuletzt durch das Ende des Ost-West-Konflikts und die dadurch bedingte Kursänderung der US-amerikanischen Politik möglich. Anzuerkennen gilt aber, daß sich nahezu das gesamte Lateinamerika mit der ContadoraInitiative von 1983 und seit 1987 auch die zentralamerikanischen Staaten selbst mit der Esquipulas-Initative für eine friedliche Regulierung der Bürgerkriege in Zentralamerika durch Verhandlungslösungen eingesetzt hatten. Ihr Politikansatz setzte sich schließlich durch. Mit der Bereitschaft der Sandinisten, international überwachte, freie und faire Wahlen in Nikaragua (1990) zu veranstalten, war die Grundvoraussetzung für die Beendigung des nikaraguanischen Bürgerkrieges geschaffen. Mit dem Friedensabkommen zwischen Regierung/Streitkräften und Guerilla vom 16.1. 1992 wurde der Bürgerkrieg in El Salvador definitiv beendet und das Friedensabkommen unter VN-Überwachung schrittweise umgesetzt. In beiden Ländern wurden danach massive Schritte zur Verkleinerung der Streitkräfte und Demilitarisierung der Gesellschaft eingeleitet21. In Guatemala, dem einzig noch verbleibenden Bürgerkriegsland in Zentralamerika, finden seit 1990 Gespräche zwischen der Regierung und der Guerilla über die Beendigung des Bürgerkrieges durch ein Friedensabkommen statt. Im Vorgriff auf das Friedensabkommen, dessen Abschluß für Ende des Jahres vorgesehen ist, einigten sich Regierung und Guerilla im April 1994 auf ein Menschenrechtsabkommen und dessen Überwachung durch eine Mission der Vereinten Nationen. Lateinamerika befindet sich zu Beginn der 90er Jahre in einem Prozeß der Neuregelung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Neudefinition seiner Rolle in der internationalen Politik. Es gibt Bestrebungen und deutliche Fortschritte - beispielsweise zwischen Argentinien und Chile sowie zwischen El Salvador und Honduras - , bestehende Grenzkonflikte definitiv zu regeln oder einzuhegen. Lateinamerika gehört heute eher zu den "zones of peace" als zu den "zones of turmoil" in der Welt (Singer 1993). Argentinien und Brasilien, die sich früher als natürliche Rivalen sahen und ihre Verteidigungsanstrengungen auf einen möglichen militärischen Konflikt untereinander ausrichteten, haben ein Abkommen zur technischen Kooperation auf dem Gebiet der Nuklearenergie abgeschlossen und 1990 förmlich erklärt, daß sie keine Atomwaffen herstellen wollen, sowie 1991 ihre Nuklearinstallationen internationaler Inspektion zugänglich gemacht. Im November 1993 ratifizierte Argentinien den
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Neuerdings ist der Themenbereich "Rüstung, Abrüstung und Demobilisierung" ein Aufgabenfeld deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Dazu gehören "Finanzierungs- und Ausbildungshilfe bei Demobilisierungsmaßnahmen über Umschulungen ehemaliger Soldaten und die Konversion von Truppen und Material für friedliche Zwecke bis hin zur Unterstützung von vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen den Militärs einer Region, der Ausbildung ziviler Regierungsbeamter In Sicherheitsfragen und die Förderung von Gesprächen über die Rolle der Streitkräfte in einer demokratischen Gesellschaft" (siehe Spranger 1993b: 9).
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Atomwaffensperrvertrag von Tlatelolco. In Brasilien steht nur noch das Votum des Abgeordnetenhauses aus, nachdem der Senat im Mai 1994 dem Vertrag zugestimmt hat. Damit gilt der Atomwaffensperrvertrag de facto für das gesamte Lateinamerika. Dieser Tatsache kommt vor dem Hintergrund der aktuellen Bemühungen (vor allem der USA, aber auch ihrer europäischen Verbündeten) die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, große Bedeutung zu (siehe auch Redick 1994). Auch in der AbSchlußerklärung des IV. Außenministertreffens zwischen der EU und der Rio-Gruppe wurde auf die Proliferationsproblematik bei Massenvernichtungswaffen explizit eingegangen und auf die Fortschritte bei der Ratifizierung des Vertrages von Tlatelolco hingewiesen (El Dia, 3.5.1994, 22). In den vergangenen Jahren haben sich die lateinamerikanischen Staaten im Rahmen der Vereinten Nationen verstärkt an Einsätzen zur Friedenssicherung und Konfliktregulierung engagiert. Insgesamt beteiligten sich im ersten Quartal 1993 acht lateinamerikanische Staaten (Argentinien, Brasilien, Chile, Ekuador, Honduras, Kolumbien, Uruguay, Venezuela) mit 2100 Offizieren und Soldaten an Missionen der VN. In größerem Umfang entsandten allerdings nur Uruguay und Argentinien Truppen, die anderen Länder beschränkten sich auf militärische Beobachter: 10% aller Militärbeobachter und 4% aller Truppen bei Missionen der VN kamen zu diesem Zeitpunkt aus Lateinamerika. Die uruguayischen Streitkräfte hatten mehrere hundert Soldaten und Offiziere in Kambodscha und Mozambique stationiert, Argentinien hatte neben kleineren Missionen fast 900 Offiziere und Unteroffiziere nach Kroatien entsandt, im September 1993 wurden weitere 300 Soldaten für VN-Einsätze nach Kuwait und nach Zypern eingeschifft. Außerdem stellten lateinamerikanische Regierungen - hier insbesondere die mexikanische und die kolumbianische, aber auch die chilenische Regierung - fast 400 zivile Polizisten für Einsätze der VN zur Verfügung (Quelle: GRIP 1993; Presseberichte). Es ist in der Zukunft nicht auszuschließen, daß im Rahmen der VN deutsche und lateinamerikanische Soldaten bei gemeinsamen Einsätzen zusammenarbeiten22.
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Die militärischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten waren in der Vergangenheit dadurch belastet, daß die Streitkräfte in einer Vielzahl von Ländern direkt politische Macht ausübten und die Militärregime wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen kritisiert wurden. Allerdings nahmen auch in dieser Periode regelmäßig lateinamerikanische Offiziere an Ausbildungsprogrammen der Bundeswehr teil. Heute gibt es durch die Rückkehr zu zivilen Regierungen eine neue Grundlage für die militärische Zusammenarbeit, obwohl immer noch Probleme hinsichtlich der Unterordnung des Militärs unter die zivile Führung existieren und auch die innere Struktur der Streitkräfte reformbedürftig ist. Hier bietet sich, wenn es die betreffenden Regierungen wünschen, ein Erfahrungsaustausch mit der Bundeswehr hinsichtlich des Prinzips der Inneren Führung an. Die lateinamerikanischen Militärs sehen sich heute außerdem mit dem Problem konfrontiert, daß sie in einer Phase sinkender Staatsausgaben mit bescheideneren Verteidigungsbudgets auskommen müssen, und sie stehen vor der Aufgabe, nach dem Ende des Kalten Krieges und der Verringerung der zwischenstaatlicher Konflikte auf dem Kontinent ihre Rolle neu definieren zu müssen. Auch bei den Themen Truppenreduzierung und Modernisierung sowie dem Aufbau kollektiver Sicherheitssysteme gibt es Berührungspunkte für engere Beziehungen zwischen der Bundeswehr und lateinamerikanischen Streitkräften. Bundesverteidigungsminister Volker Rühe besuchte im Februar 1993 Argentinien und Chile.
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Lateinamerika weist zudem ein besonders hohes Maß an regionaler Selbstorganisation auf. Neben der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die ihr Selbstverständnis verändert hat und sich heute als Gemeinschaft demokratisch legitimierter Regierungen versteht und in ihrer neuen Charta Sanktionen gegen demokratisch nicht legitimierte Regierungen vorsieht (siehe Hakim 1993b; Kurtenbach 1993b; Muñoz 1993)23, haben sich die lateinamerikanischen Staaten mit der RioGruppe ein neues Sprachrohr in der internationalen Politik geschaffen. So treffen sich beispielsweise jährlich die Außenminister der Rio-Gruppe mit denen der EU. Das vierte Treffen fand im April 1994 in Säo Paulo statt. In den "Thesen zur Lateinamerikapolitik" des Auswärtigen Amtes heißt es im Hinblick auf die oben beschriebenen Entwicklungen nicht von ungefähr: "Wir sehen in Lateinamerika eine Partnerregion von zunehmendem politischem Gewicht, die Reformanliegen im Rahmen der Vereinten Nationen mitträgt, sich der Mitverantwortung für die Lösung der globalen Herausforderungen - Sicherung des Friedens, Durchsetzung der Menschenrechte, Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln sowie Kampf gegen Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung - zunehmend stellt sowie in den Nord-Süd-Beziehungen eine konstruktive Rolle spielt." (Auswärtiges Amt 1993: 9).
b) Eine demokratische Region Unter allen Entwicklungsregionen ist Lateinamerika die demokratischste. Der Prozeß der Demokratisierung bzw. Redemokratisierung, in dessen Verlauf zumeist Militärregime eines neuen Typs (bürokratisch-autoritäre Regime) abgelöst wurden, begann 1979 in Ekuador und verbreitete sich in den 80er Jahren im gesamten Lateinamerika - mit der Ausnahme Kubas und Haitis. In einigen Staaten ist es bereits mehrfach zum Regierungswechsel durch Wahlen gekommen. Allgemein ist eine Tendenz zu "sauberen" Wahlen sowie der verstärkten Anerkennung von politischen Spielregeln, wie sie für eine pluralistische Demokratie typisch sind, festzustellen (Hofmeister 1994; Krumwiede/Nolte 1993; Nolte 1992b; Nohlen/Thibaut 1994). Die neuen Demokratien Lateinamerikas haben überdauert, trotz enormer wirtschaftlicher und sozialer Probleme, und obwohl Regierungen angesichts der Wirtschaftskrise häufig zu unpopulären Maßnahmen gegriffen haben (Nolte 1992a; 1994). Es scheint, daß der Zyklus der Herrschaftsformen (das für Lateinamerika früher kennzeichnende Pendeln zwischen Autoritarismus und Demokratie) durchbrochen ist und die demokratische Staatsform weiter Bestand haben wird. Zu einer demokratischen Regression ist es - wenn man von dem Sonderfall Haiti absieht -
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Im Juni 1991 beschloß die OAS. im Falle eines gewaltsamen Umsturzes in einem Mitgliedsland umgehend den Ständigen Rat der Organisation einzuberufen, der dann Innerhalb von zehn Tagen die Außenminister zu Konsultationen zusammenruft oder eine Sondersitzung der Vollversammlung ansetzt (OEA 1991: 4f), und im Dezember 1992 stimmte die Vollversammlung der OAS einer Reform der Charta der Organisation zu, nach der bei einem Staatsstreich die Mitgliedschaft des betreffenden Landes suspendiert werden kann (OEA 1992: 90).
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bisher nur in Peru gekommen, wo der gewählte Staatspräsident Fujimori ein halbautoritäres, fassadendemokratisches Regime errichtet hat. Ein Novum in der lateinamerikanischen Geschichte ist es, daß die (Links-)lntellektuellen, die früher verächtlich von bloß "formaler" Demokratie sprachen, nach leidvollen Erfahrungen unter den "neuen autoritären Regimen" dem Grundrechtsschutz der "formalen Demokratie" jetzt eine hohe Bedeutung zuerkennen und nicht mehr die "formale" Demokratie" im Namen einer "substantiellen Demokratie" verwerfen. Kritisch ist aber einzuwenden, daß die meisten lateinamerikanischen Demokratien (noch) erhebliche Mängel aufweisen (Krumwiede 1993b): Generell kann man von einer unzureichenden Unterordnung des Militärs unter den Primat der zivilen Politik sprechen (Stepan 1988; Agüero 1992; Zaverucha 1993; Fitch 1992); gravierende Menschenrechtsverletzungen finden nicht nur in Staaten statt, die mit starken Guerillabewegungen konfrontiert sind, sondern generell werden gegenüber einfachen Kriminellen elementare Menschenrechte mißachtet (vgl. den Beitrag von Waldmann; Krumwiede/Nolte 1993: 35-40). Hingewiesen wurde bereits auf unzureichende Initiativen zur Lösung des Problems kritischer sozialer Ungleichheit und Armut, das, wenn es fortbesteht, die Konsolidierung von Demokratien, die diesen Namen verdienen, am stärksten gefährdet. Initiativen und Maßnahmen der Bundesregierung, die zur Festigung der Demokratie in Lateinamerika beitragen wollen, sind grundsätzlich zu begrüßen.24 Bereiche, in denen die Bundesrepublik Deutschland ihre spezifischen Erfahrungen zur Verfestigung der Demokratie in Lateinamerika anbieten will, sind "bundesstaatliche Verfassungsordnung, Wahlrecht, Justizreform, Dezentralisierung, kommunale Selbstverwaltung, wirksame und gerechte Steuersysteme" (Thesen zur Lateinamerikapolitik). Bei den lateinamerikanischen Ländern, die noch Mittel im Rahmen der traditionellen Entwicklungszusammenarbeit (E2) erhalten25, können die Programme zur Armutsbekämpfung als Beitrag zur Stärkung der Demokratie angesehen werden. Wirtschaftlich weiter entwickelte Länder sollten - falls Bedarf besteht und entsprechende Anfragen gestellt werden - in den Genuß eines anderen Typus von Entwicklungshilfe kommen, der im Auswärtigen Amt als "Demokratie- und Rechtsstaatshilfe" katalogisiert wird (Kinkel 1993b: 17).
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Dazu heißt es in den "Thesen zur Lateinamerikapolitik": "Zentrales Anliegen auch in unseren Beziehungen zu Lateinamerika bleibt die Unterstützung der politischen, wirtschaftlich-sozialen und gesellschaftlichen Reformen in Richtung Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte."
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Was die traditionelle Entwicklungszusammenarbeit (EZ) betrifft, wird eine große Zahl der lateinamerikanischen Staaten aufgrund des bereits erreichten Entwicklungsniveaus aus der Förderung herausfallen. Insofern Ist mit einem Rückgang des Anteils Lateinamerikas an den bilateralen öffentlichen Gesamtleistungen (Zusagen) zu rechnen, der zu Beginn der 90er Jahre bei rd. 13% lag (BMZ 1993a: 47).
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Dies ist ein Bereich, in dem die deutschen politischen Stiftungen bereits in der Vergangenheit aktiv waren26. Die Stiftungen hatten überdies traditionell einen Schwerpunkt ihrer Arbeit in Lateinamerika und haben versucht, dort den Aufbau demokratischer, entwicklungsorientierter Organisationen und Institutionen zu unterstützen. So wurden beispielsweise 1992 knapp die Hälfte der Mittel der KonradAdenauer-Stiftung (KAS) in Lateinamerika eingesetzt (Krieger 1993: 99), bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) war es rd. ein Drittel der Mittel (FES 1993: 6). Seit 1992 verfügt auch das Auswärtige Amt im Rahmen der Ausstattungshilfe für Länder der Dritten Welt über einen kleinen Fond zur "Demokratisierungshilfe", der zunächst für den Zeitraum 1992 bis 1994 DM 18,6 Mio. umfaßte (von Rottenburg 1993). Ziel der Demokratisierungshilfe ist es, Demokratisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt zu fördern, in der Hauptsache über die technische Unterstützung der Vorbereitung und der Durchführung von demokratischen Wahlen (Ausstattung der Wahlbüros, Lieferung von Computern etc.). Darüber hinaus hat die Bundesrepublik Deutschland in Lateinamerika an Wahlbeobachtungsmissionen der Vereinten Nationen und der OAS durch die Entsendung von Beobachtern teilgenommen oder sich an der Finanzierung der Missionen beteiligt. Bei aller berechtigten Kritik an Mängeln der lateinamerikanischen Demokratien (O'Donnell 1994) sollte man einen wichtigen Punkt nicht vergessen: Ohne den Überlegungen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington über das Konfliktpotential zwischen den großen Zivilisationen folgen zu wollen, kann man festhalten, daß zwischen Europa und Lateinamerika - einer durch die lange Kolonialgeschichte christlich geprägten Region - eine große kulturelle Affinität27 besteht, ganz im Gegensatz zu anderen Regionen der Dritten Welt. So hat kürzlich (1993) der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes in einem in mehreren spanischsprachigen Zeitungen abgedruckten Essay erneut darauf hingewiesen: "No hay nada fuera de Europa que más se parezca a Europa que el continente americano.'' ("Es gibt nichts außerhalb Europas, das mehr Ähnlichkeiten mit Europa aufweist als der amerikanische Kontinent"). Dies zeigt sich beispielsweise in der weitgehenden Übereinstimmung über Konzepte wie Demokratie und Menschenrechte, auch wenn hinsichtlich der Umsetzung beider Konzepte oder der externen Einflußnahme zu deren Verwirklichung durchaus Meinungsverschiedenheiten bestehen können. Gleichwohl ist eine Tendenz zur Zusammenarbeit und zur Vertretung ge-
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1990 und 1991 haben die politischen Stiftungen im Bereich der Gesellschaftspolitik und Sozialstrukturpolitik weltweit jeweils über DM 300 Mio. aus dem Etat des BMZ für Projekte eingesetzt (BMZ 1993: 74).
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Diese Affinität spiegelt sich in der Bevölkerung nur begrenzt wider. In einer Meinungsumfrage des Allensbachinstituts vom September 1989 wurde die Frage gestellt: 'Hier auf diesen Karten stehen verschiedene Volksgruppen, Nationalitäten. Bitte verteilen Sie diese Karten auf dieses Blatt hier, je nachdem, ob wir mit diesen Menschen Ihrer Meinung nach eher viel gemeinsam haben oder wenig gemeinsam haben". Nur für 6% der Befragten bestanden mit Südamerikanern viele Gemeinsamkeiten, 73% sahen wenig Gemeinsamkeiten (unentschieden 19%, keine Angabe 2%) (Noelle-Neumann/ Köcher 1993: 853). Auf die Frage in welchem Land der Welt würden sie am liebsten leben, nannte im Februar 1987 gerade 1% der Befragten Südamerika (Noelle-Neumann/Köcher 1993: 954).
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meinsamer Positionen in internationalen Foren zu verzeichnen (vgl. Kaestner 1994: 6).
So wurde auch in der AbSchlußerklärung des vierten Treffens der Außenminister der EU und der Rio-Gruppe explizit auf die kulturellen Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Werte hingewiesen: "Die Außenminister der Rio-Gruppe und der Europäischen Union ... bekräftigten die gemeinsame kulturelle Identität und die Übereinstimmung der Werte und Prinzipien, die beide Regionen im politischen und sozioökonomischen Bereich charakterisieren ..." ("Los ministros de Asuntos Exteriores del Grupo de Río y de la Unión Europea ... reafirmaron la identidad cultural común y la coincidencia de los valores y principios que caracterizan a ambas regiones en los ámbitos político y socioeconómico [...] .") (El Día (México D.F.) 3.5.1994, 22). In einigen Staaten der Region zeigt sich - Argentinien ist das markanteste Beispiel ein Abrücken von traditionellen Positionen des "tercermundismo" (der Dritteweltorientierung) und der Wunsch, als Teil der westlichen Staatengemeinschaft die politischen Beziehungen mit den westlichen Industrienationen, den USA und der EU zu stärken. Vor mehr als zehn Jahren fanden mehrere wissenschaftliche Konferenzen über ein "Neues atlantisches Dreieck?" zwischen Westeuropa, Lateinamerika und den Vereinigten Staaten statt (siehe Grabendorff/Roett 1985). Vielleicht kommt diesem Thema heute, nach den weltpolitischen Veränderungen der vergangenen Jahre und dem Anstieg von Konflikten in vielen Teilen der Welt größere Relevanz zu als zum damaligen Zeitpunkt. Haben sich doch die genannten Regionen, was die grundsätzliche wirtschaftliche und politische Ausrichtung betrifft, weiter angenähert, und macht es heute noch mehr Sinn, die bereits bestehenden engen kulturellen und politischen Beziehungen auszubauen. Lateinamerika könnte damit in ein neugestaltetes "transatlantisches Verhältnis" zwischen den USA und Europa (siehe hierzu Hellmann 1994) eingebunden werden. Es liegt im Interesse der USA wie Europas, die wirtschaftliche Entwicklung und soziale Reformen in Lateinamerika zu unterstützen, um auf diese Weise die Demokratie in der Region zu festigen (siehe auch Diamond 1994)28. In dieser Hinsicht ist das Urteil des französischen Soziologen Alain Touraine (1994) interessant, der schreibt: "Europa muß verstehen, daß seine Zukunft teilweise von seiner Annäherung an Lateinamerika abhängt, die überdies wesentlich einfacher zu bewerkstelligen ist als eine groß angelegte Aktion im südlichen Mittelmeerraum oder selbst im nachkommunistischen Europa. Die Zukunft der Demokratie in der Welt wird nur gesichert sein, falls sich Lateinamerika fest in
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Auch in den USA wird den gemeinsamen Wertinteressen mit Lateinamerika in einer in vielen anderen Regionen unberechenbarer gewordenen Welt wachsende Bedeutung eingeräumt. So verweist beispielsweise der amerikanische Lateinamerikaspezialist Lowenthal (1993: 90) auf die Gefährdung der demokratischen Ideale. z.B. in Osteuropa, und fordert deshalb, darauf zu achten, daß sie im geographischen Umfeld der USA fest verankert werden. Insofern ist es folgerichtig, daß die USA bei der Mittelvergabe durch Entwicklungsbanken (BID etc.) für eine stärkere politische Konditionierung - Demokratie, Menschenrechte, "good governance" (geringe Militärausgaben, gegen Korruption und Verschwendung etc.) - eintreten, so der dafür zuständige Unterstaatssekretär Im Finanzministerium Summers vor einem Kongreßausschuß am 5. Mai 1993 (U.S. Policy Information and Texts USIS Nr.49 7.5.1993, 27).
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die Gemeinschaft der demokratischen Nationen einfügt" (Übersetzung H.-W.K./ D.N.).
III. Zusammenfassung: Lateinamerika aus dem Blickwinkel deutscher außenpolitischer Interessen Gegenüber den anderen Entwicklungsregionen sticht Lateinamerika durch seine Fähigkeit zur inner- und zwischenstaatlichen friedlichen Konfliktregulierung, die es eindrucksvoll bewiesen hat, hervor. Es gibt zwar ethnische Konflikte in Lateinamerika (Stichwort: Chiapas), wegen der weitgehenden sprachlichen und religiösen Homogenität ist es aber nirgendwo zu Tendenzen eines staatssprengenden Ethnonationalismus gekommen, noch ist mit ihm in Zukunft zu rechnen. Demgemäß ist der Staatsverfall, anders etwa als in Afrika, kein Thema in Lateinamerika. Im Gegensatz zum Nahen und Mittleren Osten und zu Fernost sind in Lateinamerika keine Tendenzen zum Auf- oder gar Wettrüsten zu verzeichnen. Im Gegenteil: Lateinamerika, das dem deutschen öffentlichen Bewußtsein als besonders militärisch geprägte Region gilt, weist unter allen Weltregionen die geringste Rüstungslast auf. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sind nicht wie in anderen Entwicklungsregionen "eingefrorene" Konflikte aufgebrochen, sondern das Ende des Kalten Krieges hat sich in Lateinamerika durchweg positiv ausgewirkt. Bemerkenswert ist auch die Bereitschaft lateinamerikanischer Staaten, an internationalen Einsätzen unter VN-Ägide zur friedlichen Konfliktregulierung teilzunehmen. Hinzuweisen ist auch auf die neuen Entwicklungen zur Stärkung regionaler Selbstorganisation. Kurzum: Im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen und dem östlichen Europa unter Einschluß der ehemaligen Sowjetunion kann Lateinamerika nicht nur gegenwärtig, sondern auch in der absehbaren Zukunft als "Zone des Friedens" gelten. Lateinamerika ist heute eine nahezu homogen demokratische Region. Große Fortschritte sind hinsichtlich des politischen Pluralismus, demokratisch-sauberer Wahlen und des demokratischen Machtwechsels zu verzeichnen. Wie die Aktivitäten der OAS belegen, will es seinem Selbstverständnis nach eine demokratische Region bleiben. Aber gravierende Strukturdefekte sind unverkennbar. Im Bereich der Rechtstaatlichkeit weist es erhebliche Mängel auf und in nahezu allen lateinamerikanischen Staaten entsprechen die zivil-militärischen Beziehungen nur partiell demokratischen Normen. Zwar haben die meisten Staaten Reformen zum Abbau des staatlichen Populismus und zum Ausbau einer weltmarktintegrierten marktwirtschaftlichen Ordnung unternommen. Aber diese Marktwirtschaften sind durchweg wenig sozial. Trotz anderslautender öffentlicher Erklärungen wurde wenig unternommen, um die gerade in Lateinamerika besonders extreme soziale Ungleichverteilung zu korrigieren und das drückende Problem weitverbreiteter kritischer Armut zu lindern. Bei aller Kritik an den (noch) bestehenden Demokratiedefiziten in Lateinamerika sollte man nicht übersehen, daß Lateinamerika sich unter allen Entwicklungsregionen durch das größte Ausmaß an kultureller Affinität zu Europa auszeich36
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net. In Lateinamerika gelten die gleichen Normen für Demokratie und Menschenrechte, auch wenn gegen sie im Alltag verstoßen wird. Lateinamerika reklamiert anders etwa als Asien - kein von Europa unterschiedliches Menschenrechtsverständnis für sich. Wegen seines besonderen politischen Profils sollte Lateinamerika unter den Entwicklungsregionen der Vorzug für die "Zivilmacht" Bundesrepublik gehören. In bezug auf Investitionen und Handel besitzt Lateinamerika zwar nur sekundäre Bedeutung für die Bundesrepublik, aber für den Handelsstaat Bundesrepublik ist Lateinamerika viel zu wichtig, auch im Hinblick auf seine Entwicklungsperspektiven und -potentiale, um die Region zu vernachlässigen. Gegenüber übertriebenen Erwartungen ist zwar Skepsis angebracht, aber es ist nicht auszuschließen, daß sich Teile Lateinamerikas schon mittelfristig erfolgreich in Richtung auf das OECD-Länderprofil zubewegen (Mexiko wurde 1994 als erstes lateinamerikanisches Land in die OECD aufgenommen), das für die "Zivilmacht" und den "Handelsstaat" Bundesrepublik Deutschland von besonderem Interesse ist. Die Merkmale eines solchen Staates sind nach Senghaas (1993: 474) folgendermaßen zu charakterisieren: "politische Stabilität; Rechtssicherheit; eine differenzierte Infrastruktur; qualifizierte Arbeitskräfte; Interessenausgleich; anhaltende Produktivitätssteigerungen in allen Sektoren mit der Folge entsprechend breitenwirksamer Einkommenssteigerung und nachfragestarker Binnenmärkte; hohe Investitionseffizienz und eine sich schrittweise aufbauende Wettbewerbsfähigkeit auf schwierigen internationalen Märkten".
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Waldmann: Gewalt, Demokratisierung und die Rolle der Polizei
Peter Waldmann 1
Gewalt, Demokratisierung und die Rolle der Polizei Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen illegale oder am Rande der Legalität angesiedelte Gewaltpraktiken der Polizei in lateinamerikanischen Ländern. Freilich ist das brutale Vorgehen der Polizei keine isolierte Erscheinung, sondern eingebettet in einen allgemeinen Strom von Gewalttaten zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit, für den sich im angelsächsischen wissenschaftlichen Sprachgebrauch der Terminus Vigilantismus eingebürgert hat. Vigilantismus meint eine Form der Gewaltanwendung, deren Hauptmerkmale a) ihre Illegalität und b) die Ziele der Erhaltung und Verteidigung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sind. "Man verteidigt eine Ordnung, indem man die Gesetze, auf denen diese Ordnung beruht, bricht", so könnte man mit einer paradoxen Formulierung die Handlungslogik vigilantistischer Gruppen charakterisieren, andere sprechen kurzerhand von "Establishment-Gewalt" (Rosenbaum/ Sederberg 1976:4f). Im folgenden wird zunächst ein allgemeiner Überblick über die wichtigsten Formen des Vigilantismus in Lateinamerika gegeben. In einem weiteren Abschnitt wenden wir uns dann der lateinamerikanischen Polizei zu, deren illegale Zwangsmethoden kurz beschrieben und interpretiert werden.
I Um sich einen Überblick über die wesentlichen Formen vigilantistischen Handelns in Lateinamerika zu verschaffen, bietet es sich an, auf die von H.J. Rosenbaum und P.C. Sederberg entworfene allgemeine Typologie zu diesem Phänomen zurückzu-
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Oer vorliegende Beitrag wurde im September 1993 abgeschlossen.
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Lateinamerika Jahrbuch 1994
greifen (Rosenbaum/Sederberg 1976:9ff). Ihr Basikriterium waren die Zielsetzungen vigilantistischer Gewaltpraktiken. Sie arbeiteten drei Hauptziele heraus und entwickelten entsprechend drei Grundtypen vigilantistischer Strömungen, die sie "crime-control Vigilantism", "social-group-control Vigilantism" und "regime-control Vigilantism" nannten. Der erste Teiltypus, bei dem die Bekämpfung der Kriminalität im Vordergrund steht, knüpft an die typischen Motivkonstellationen und Verhaltensmuster sog. "law and oycier"-Bewegungen an: Angesichts der vermeintlichen Inefflzienz oder allzu großen Nachgiebigkeit der mit der Strafverfolgung betrauten Staatsorgane (Staatsanwaltschaft, Gerichte) beschließen bestimmte Gruppen, die Eindämmung der ausufernden Kriminalität und damit die Wiederherstellung von Recht und Ordnung selbst in die Hand zu nehmen. Diese eigenmächtig mit Zwangsgewalt gegen tatsächliche und angebliche Gesetzesbrecher vorgehenden Gruppen können sich entweder aus der Gesellschaft heraus bilden oder aus frustrierten Teilen der staatlichen Sicherheitskräfte (Militär, Polizei) rekrutieren; teils spielt sich ihr illegales Treiben ganz offen vor den Augen der Öffentlichkeit und der Behörden ab, die anstatt einzuschreiten stillschweigende Zustimmung bekunden, teils ziehen sie es vor, ihre Strafaktionen heimlich, etwa im Schutze der Dunkelheit, durchzuführen. Ihre Opfer sind überwiegend Einzelpersonen (manchmal auch Kleingruppen, z.B. kriminelle Banden), denen vorgeworfen wird, die fundamentalen Werte und Normen der Gemeinschaft, insbesondere das Recht auf Eigentum und Besitz, zu mißachten und damit den Frieden und die öffentliche Sicherheit empfindlich zu beeinträchtigen. Die Tatsache, daß die Gefahr für den gesellschaftlichen Status quo primär von einzelnen ausgeht, ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen dem crime-control Vigilantism und dem social-group-control Vigilantism, dem zweiten Haupttypus. Hier sind es breitere soziale Gruppen und Strömungen, etwa neu sich bildende Klassen, erstarkende ethnische Minderheiten, politische und religiöse Bewegungen, die das überkommene gesellschaftliche Ordnungsgefüge und Machtgleichgewicht in Frage stellen. Der gesteigerten Ernsthaftigkeit der Herausforderung, hinter der nicht einzelne sondern soziale Kollektive stehen, entspricht die vermehrte Heftigkeit der Reaktion durch die etablierten Gruppen, die ihren Besitzstand bedroht sehen. Nicht selten entsteht eine umfassende Gegenbewegung, ideologische Rechtfertigungen werden konstruiert, um die Überlegenheit des Bestehenden gegenüber Veränderungswünschen zu begründen, der Gesetzgebungsapparat wird zur Festschreibung tradierter Macht- und Besitzpositionen benutzt usf. Falls all dies nicht ausreicht, um die Forderungen der auf einen Strukturwandel drängenden Kräfte abzuwehren, kann es zu gewaltsamen Schikanen und Einschüchterungsversuchen vonseiten der in Bedrängnis geratenen gesellschaftlichen Gruppen kommen, oder aber das Militär tritt als letzte Bastion der Verteidigung des Status quo auf den Plan. Wenngleich analytisch unschwer voneinander unterscheidbar, können in der Praxis der Gewaltakteure crime-control Vigilantism und social-group-control Vigilantism zuweilen ineinanderfließen. Denn eine beliebte Taktik etablierter Machteliten im Umgang mit nachdrängenden oder sonstwie unzufriedenen sozialen Schichten besteht darin, den kollektiven Charakter der Auseinandersetzung zu leugnen und diese zu einem bloßen Sicherheits- und Ordnungsproblem herabzustufen.
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/Valdmann: Gewalt, Demokratisierung und die Rolle der Polizei
Ein zunächä überraschend wirkender, jedoch durchaus der Logik der Typologie entsprecheider und zudem für Lateinamerika äußerst relevanter Typus ist schließlich die citte Form, der sogenannte regime-control Vigiiantism. Hier geht es um Zwangseinvirkungen von Organisationen oder Gruppen auf den Regierungsapparat und d s politische Führungspersonal, etwa in Form eines Staatsstreichs, um eine effektivere Nutzung des staatlichen Durchsetzungspotentials zum Zweck der Erhaltung dsr bestehenden Ordnung zu erreichen. Ergänzt mai mit Rosenbaum/Sederberg die Differenzierung nach Zielen durch eine weitere, di< auf die Art der Akteure (ob diese der gesellschaftlichen oder der staatlichen Sphire angehören) abstellt, so gelangt man zu einer Sechsfeldertafel vigilantistischer Sewaltformen, wie sie in Figur 1 aufgezeichnet ist. Wir übernehmen das typologiscb Schema der beiden Autoren unverändert (unter Übertragung der englischen Beztichnungen ins Deutsche), füllen jedoch (in Abweichung von dem ursprünglichen ichema) die sechs Felder ausschließlich mit für Lateinamerika kennzeichnenden Femen vigilantistischer Gewalt. Die Figur soll primär die Vielfalt vigilantistischen Heideins in Lateinamerika verdeutlichen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständig^. Manifestationen jes Vigiiantismus in Lateinamerika Ziele Kriminaliätsbekämpfung
Kontrolle sozialer Gruppen
Regimekontroile
gesell Schaft lieh
lynchmorde; "justieeiros"; städtische SelbsthiIfegruppen
"rondas campesirtas"; priv. Milizverbande von Großgrundbesitzern; "ethnische" Gewalt gegen Indiostänme
Entführung und Ermordung einzelner Politiker
staat-
polizeiliche Exzesse, u.a. gegen Kriminelle, Asoziale, "Straßenkinder"
militärische Unterdrükkung von Guerillabewegungen
militärische Staatsstreiche; Formen "kalter" politischer Machteroberung
Akteure
lich
Die einzelnen Rlder seien kurz erläutert. Unter den aus dem gesellschaftlichen Raum heraus efolgenden Abwehrreaktionen gegen den zunehmenden Kriminalitätsdruck sind unächst die sich häufenden Fälle von Lynchjustiz zu erwähnen (Souza Martins 1991; Benevides/Fischer Ferreira 1991). Vor allem aus Brasilien (aber nicht nur as diesem Land) wird von regelmäßigen extralegalen Hinrichtungen dieser Art sowoli im kleinstädtischen Milieu als auch besonders in Großstädten berichtet. Teils spatan, als unmittelbare Massenreaktion auf ein soeben verübtes Delikt erfolgend, tes längerfristig vorbereitet und nach fast zeremoniellen Regeln ablaufend, erklärersich diese Strafaktionen, die in rund der Hälfte der Fälle zum Tode des Delinquentei führen, vor allem aus dem Fehlen der Polizei oder einer anderen staatlichen Ordrungsmacht in den riesigen Elendsvierteln der lateinamerikanischen Großstädte, dem Bevölkerung deshalb zu drastischen Maßnahmen der Eigenhilfe greift. Eine ähnl:he Funktion erfüllen die bewaffneten städtischen Selbsthilfegruppen und die soc "justieeiros" (wörtlich: Gerechtigkeitsstifter). Manche der justieeiros, die ebenfalls vor allem in brasilianischen Großstadtslums ein eisernes Regiment 47
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führen, rühmen sich, bis zu 50 Kriminelle eigenhändig umgebracht zu haben (Rodrigues Fernandes 1991). Diesen Bemühungen der Bevölkerung, sich der Kriminellen und Asozialen zu erwehren, stehen die fragwürdigen, illegalen Gewaltpraktiken der Polizei gegenüber, die von offiziell bekannten und geduldeten Zwangsformen wie der Verabreichung von Schlägen auf Polizeiwachen bis zu Verstümmelungen und Massenerschießungen ("Massakern") sich primär aus Polizisten zusammensetzender 'Todesschwadronen" reichen. Wenden wir uns nun dem zweiten Typus, der vigilantistischen Kontrolle sozialer Gruppen und Bewegungen zu, so sind an erster Stelle die unzähligen Landverteilungskonflikte zu nennen, welche die ländliche Sozialgeschichte der meisten lateinamerikanischen Gesellschaften bis in die jüngste Zeit geprägt haben. Ihr Ausgangspunkt war in der Regel das Nebeneinander von Latifundium und Minifundium; d.h., daß es einige wenige Großgrundbesitzer gab, die mit Hilfe ihres Anhangs sowie z.T. zusätzlich angeworbener Privatmilizen die Masse der landhungrigen Kleinbauern und Landarbeiter gewaltsam in Schach hielten. In Kolumbien und in Brasilien sind derartige mit Gewalt ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen Landherren, die sich meist auf fragwürdige Besitztitel stützen, und kleinen Parzellenbauern, die ein Stück Boden für sich reklamieren, noch heute an der Tagesordnung. Eine weitere Variante dieses Typs stellen die Zwangsmaßnahmen weißer Siedlergruppen gegen Indiostämme dar. Auch hier pflegen die Motive primär wirtschaftlicher Natur zu sein: Goldsucher, Unternehmer, welche die Holzvorräte eines Gebietes ausbeuten wollen oder an der Erweiterung ihres Grundbesitzes interessierte Landwirte machen den Indios einen Teil ihres Territoriums streitig, indem sie diese vertreiben und eventuell auch in größerer Zahl umbringen (Beispiele: Paraguay; das Amazonasgebiet, der Norden Kolumbiens). Der wichtigste staatliche Träger dieses Typs von Vigilantismus, der sich gegen soziale Gruppen und politische Bewegungen wendet, die am Status quo rütteln wollen, ist das Militär. Vor allem in den 60er und 70er Jahren, als mit Blick auf die kubanische Revolution und das von Castro gegebene Beispiel zahlreiche Guerillabewegungen in Lateinamerika entstanden waren, erstickten die Streitkräfte in einer großangelegten und ñi¡t äußerster Brutalität durchgezogenen Gegenoffensive jegliche Opposition und stellten die traditionelle Zugehörigkeit Lateinamerikas zum westlich-kapitalistischen Staatenblock erneut sicher. Was schließlich den Typus des Vigilantismus zum Zweck der Regime-Kontrolle betrifft, so weist die lateinamerikanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zahllose Beispiele von offenen und verdeckten Staatsstreichen auf, deren Hauptzweck, abgesehen von persönlichen Machtmotiven der Putschisten, darin bestand, eine als zu ineffizient oder progressiv erscheinende Regierung abzulösen, um Ordnung und Sicherheit entsprechend dem Verständnis der traditionellen Machteliten die dabei häufig von den USA unterstützt wurden - wiederherzustellen. Andererseits gibt es nur relativ wenige Fälle, in denen gesellschaftliche Gruppen oder Individuen durch die Eliminierung eines einzelnen Politikers den Gang der politischen Geschehnisse in ihrem Sinnn zu beeinflussen suchten. Wie die letzte Bemerkung erkennen läßt, lassen sich zwar für alle Unterformen vigilantistischer Gewalt, die in der Abbildung aufgeführt sind, Beispiele finden; dies heißt jedoch keineswegs, daß alle Teilfelder gleich stark besetzt sind. Insbesondere wenn man Lateinamerika mit Nordamerika (d.h. in diesem Fall den USA) vergleicht, 48
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sieht man rasch, daß die Schwerpunkte vigilantistischer Vorgehensweise jeweils in unterschiedlichen Bereichen lagen und liegen (Maxwell Brown 1975; Lipset/Raab 1978): -
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Waren es in den Vereinigten Staaten vor allem gesellschaftliche Gruppen, die Selbstjustiz übten, so stammen in Lateinamerika die meisten vigilantistischen Initiativen aus dem staatlichem Raum. Nicht ein Zusammenschluß radikalisierter Bürger, sondern die staatlichen Sicherheitskräfte, als Hoheitsträger oder in informeller Funktion, sind für das Gros vigilantistischer Gewalttaten im südlichen Teil Amerikas verantwortlich. Im Rahmen des Vigilantismus zur Kontrolle sozialer Gruppen nehmen in Nordamerika Bewegungen einen großen Platz ein, welche die rassische, ethnische und religiöse Vorherrschaft des ursprünglichen protestantisch-angelsächsischen Einwanderungskerns gegenüber nachdrängenden Zuwanderergruppen aus anderen Nationen und Kulturen (man denke z.B. an die katholischen Iren), aber auch gegen Indianer und Schwarze (erwähnt seien etwa die drei Ku-Klux-Klan Bewegungen) abzusichern trachteten. Hingegen ist dieser Typus in Lateinamerika primär in seiner wirtschaftlichen (Landverteilungskonflikte!) und politischen Variante (Unterdrückung von Protestbewegungen) vertreten; rassische, ethnische und religiöse Vorurteile waren in Lateinamerika weit seltener Ausgangsund Kristallisationspunkt vigilantistischer Bewegungen als dies in den USA der Fall war. Drittens ist nochmals auf die Häufung von militärischen Erhebungen, Putschen, Pronunciamientos, blutigen und unblutigen Varianten des Staatsstreichs in der Geschichte der lateinamerikanischen Republiken hinzuweisen, der in den USA eine beachtliche Stabilität der politischen Institutionen gegenübersteht, die auch durch de erhebliche Zahl von Mordattentaten auf die höchsten politischen Würdenträger nicht beeinträchtigt wurde.
Allgemeiner Aussagen zur vigilantistischen Gewalt in Nord- und Lateinamerika ist freilich sogeich einschränkend hinzuzufügen, daß es "Lateinamerika" eigentlich nicht gibt, weil die Verhältnisse in jedem Land etwas anders liegen. Entsprechend der jeweiligen Größe, dem sozio-ökonomischen Entwicklungsstand, der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung sowie der politischen Tradition und Kultur begegnen wir in den einzelnen lateinamerikanischen Gesellschaften und Staaten jeweils unterschiedlichen Intensitätsgraden und einer unterschiedlichen Streubreite vigilantistiscner Vorgehensweisen. Man nehme als Beispiel etwa die beiden Andenländer Kolumbien und Chile. Die kolumbianische Gesellschaft liefert ein mehr als reichliches Anschauungsmaterial für sämtliche Spielarten vigilantistischer Gewalt, mit Ausnahme von Staatsstreichen. Physische Zwangsanwendung, die gewaltsame Eliminierung des Gegners, ist dort zu einem so gängigen Mittel der Austragung gesellschafticher und politischer (sowie persönlicher) Kontroversen geworden, daß niemand, der in diesem Land die konservative Machtstruktur in Frage stellt, sei er einfacher Bauern- und Gewerkschaftsführer, Richter, Journalist oder Guerillero, oder auch Inhaber einer staatlichen Spitzenposition, dagegen gefeit ist, eines Tages umgebracht zu werden. In Chile ist die Situation dagegen eine ganz andere. Dort hat es zwar einerseits, ungeachtet einer jahrzehntelangen ungetrübten demokratischen Entwicklung, 1973 ebenfalls einen militärischen Staatsstreich gegeben und 49
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wurden unter der anschließenden repressiven Militärdiktatur Tausende von Oppositionsanhängern gewaltsam beseitigt. Auch bilden die chilenischen Gefängnisse keine Ausnahme von der für ganz Lateinamerika geltenden Regel, nach der das Foltern der Häftlinge gängige Praxis ist. Andererseits muß man jedoch einräumen, daß die Achtung vor Recht und Gesetz in diesem Lande, sowohl beim Bürger als auch bei den Angehörigen des Staatsapparates, weit stärker verwurzelt und verbreitet ist als in den meisten anderen lateinamerikanischen Republiken. Daß Bandenchefs unbehelligt ganze Stadtviertel regieren könnten, ist hier schwerlich denkbar. Man muß also in dieser, wie auch vielen anderen Fragen sorgfältig auf regionsund länderspezifische Unterschiede innerhalb Lateinamerikas achten und sich vor vorschnellen Verallgemeinerungen hüten. Wie es in räumlicher Hinsicht verschiedene Streuungsgrade und Schwerpunktbereiche vigilantistischer Gewalt gibt, so lassen sich auch aus einer zeitlichen Perspektive phasenspezifische Verschiebungen erkennen. Bei einer Betrachtungsweise, die Feinabstufungen vernachlässigt, bietet es sich an, für die jüngere Zeit drei Entwicklungsphasen des Vigilantismus in Lateinamerika zu unterscheiden, die in etwa unserer Typologie (wenngleich in umgekehrter Reihenfolge) entsprechen. Eine erste Phase, die zeitlich etwa zwischen 1930 und 1960 liegen dürfte, war primär vom regime-control Vigilantism bestimmt. Es war dies die Zeit der generellen Umorientierung Lateinamerikas von einem außeninduzierten und nach außen gerichteten zu einem von Binnenkräften getragenen wirtschaftlichen Wachstum, als die Unsicherheit und Suche nach neuen Entwicklungsmodellen zu häufigen, mehr oder weniger gewaltsamen Regierungswechseln führte. Eine zweite, etwa von 1965 bis 1985 reichende Phase stand vor allem im Zeichen des social-group-control Vigilantism. Konkret ging es um die Unterdrückung der zahlreichen Protest- und Guerillabewegungen, die im Anschluß an die kubanische Revolution Anhänger und teilweise beträchtliches politisch-militärisches Gewicht erlangt hatten. Das Militär, das bei diesem vigilantistischen Gegenfeldzug die Regie übernahm, büßte aufgrund der systematischen Verletzung der Menschenrechte (sowie seines Versagens in anderen Politikbereichen) in den meisten lateinamerikanischen Ländern dermaßen an politischem Ansehen ein, daß es ab Beginn der 80er Jahre den politischen Rückzug antreten mußte. Damit war der Weg für eine politische Redemokratisierung dieser Staaten frei, die zugleich eine dritte Teilform des Vigilantismus in den Vordergrund treten ließ: den crime-control Vigilantism, der sich primär gegen den Kriminellen und Asozialen als Individuum richtet und von der Polizei als maßgeblicher Trägergruppe ausgeht. Von ihm handelt der zweite Abschnitt.
II. Der südamerikanischen Polizei wird seit jeher nachgesagt, sie sei wenig rücksichtsvoll gegenüber dem Bürger und halte sich kaum an die Gesetze. Vor allem die Angehörigen der unteren sozialen Schichten haben dies stets zu spüren bekommen. Doch selbst wenn man diese traditionell laxe Einstellung zu Recht und Gesetz in Rechnung stellt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in den letzten 10-15 Jahren, parallel zu der Redemokratisierung zahlreicher lateinamerikanischer Staaten, eine zunehmend härtere und brutalere Gangart der Polizei zu verzeichnen ist. Es sieht fast so aus, als hätte der unter den Militärregimen waltende Geist der 50
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staatlichen Repression nur die Träger und Adressaten ausgewechselt: Der Soldat wurde durch den Polizisten ersetzt, an die Stelle des Terroristen oder Guerrillero als Feindfigur ist de- Kriminelle bzw. der Asoziale getreten. Struktur unc Funktionsweise des polizeilichen Sicherheitsapparates zählen zu den bislang in der Lateinamerikaforschung stiefmütterlich behandelten Themen. Dennoch, eine Reihe von Indikatoren und die wenigen zugänglichen Studien, die hierzu durchgeführt wurden, sprechen für die Richtigkeit unserer etwas provokativ formulierten Hypothese: -
Die Fälle illegaler Festnahme mit anschließender Folterung sowie die Fälle illegaler Hausdurchsuchungen weisen in vielen lateinamerikanischen Ländern eine steigende Tendenz auf. - Noch alarmierender erscheint, daß viele eines Delikts Verdächtigte nicht einmal verhaftet, sondern sofort umgebracht werden. In einigen Fällen, etwa bei der Erstürmung von Gefängnissen, in denen eine Revolte ausgebrochen war, haben Polizisten wahre Blutbäder angerichtet (ai Info 7/93). Die üblichen Erklärungen für derartige Erschießungen lauten entweder, die Betreffenden hätten sich der Festnahme durch Flucht zu entziehen versucht, oder aber sie hätten sich gewehrt und die Polizeibeamten, die sie stellten, gewaltsam angegriffen, so daß diesen nichts anderes übrig geblieben sei, als aus Notwehr zu schießen. Es ist unmöglich, die Triftigkeit dieser Art von Begründung, die meist in den einschlägigen Zeitungsberichten übernommen wird, im Einzelfall zu überprüfen. Von einem nordamerikanischen Forscher wurden aber, gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation Americas Watch, einige Kriterien entwickelt, die zumindest eine generelle Aussage darüber gestatten, wie häufig und wahrscheinlich illegale Tötungen durch die Polizei in einem Land sind (Chevigny 1991). Solche Kriterien sind vor allem der Anteil an allen Morden in einem Land, der auf die Polizei als Urheber und Verantwortlicher entfällt, das Verhältnis zwischen getöteten Polizisten und von der Polizei Umgebrachten sowie schließlich das Verhältnis zwischen den von der Polizei Verwundeten und den von ihr Getöteten. Die Annahme geht dahin, daß stets dann, wenn der Prozentsatz der auf das Konto der Polizei gehenden Toten im Verhältnis zu den Vergleichszahlen ungewöhnlich hoch liegt, von einer hohen Rate widergesetzlich Umgebrachter ausgegangen werden darf. Mit Hilfe dieses Meßinstruments wurden in mehreren südamerikanischen Großstädten (Kingston, Buenos Aires, Säo Paulo und Rio de Janeiro) empirische Untersuchungen durchgeführt. Das gleich lautende Ergebnis all dieser Untersuchungen war, daß die Polizei offenbar gewohnheitsmäßig und in zunehmendem Maße der Kriminalität Verdächtige und sonstige Asoziale erschießt, ohne daß dafür die geringste rechtliche Handhabe vorliegt. - Ebenfalls symptomatisch für die Tendenz der Polizei, unter Mißachtung gesetzlicher Schranken zu einer generalisierten Gewaltanwendung überzugehen, ist die Häufung von Großeinsätzen, insbesondere von Razzien und breit angelegten Säuberungsaktionen. Ursprünglich als Ausnahme betrachtet, die an besondere rechtliche Voraussetzungen geknüpft ist, sind solche flächendeckenden Großaktionen heute beispielsweise in Venezuela und Brasilien mittlerweile zu einem Routineinstrument polizeilicher Strafverfolgung und Ordnungsstabilisierung geworden (Hernández 1991): Von mehreren zu einer Großeinheit zusammengefaßten Polizeiformationen, der Militärpolizei, der Nationalgarde oder einem ande51
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ren militärähnlichen Verband werden ganze Straßenzüge und Stadtviertel systematisch durchkämmt, um kriminelle "Elemente" aufzustöbern. Die Kriterien für die Durchsuchung von Wohnungen bzw. die Verhaftung von Personen sind dabei ziemlich willkürlich. Eine fehlende Arbeitserlaubnis, veratete Personalpapiere, eine Vorstrafe, unter Umständen schon ein zerlumptes Äußeres können hinreichen, um jemanden Tage lang hinter Gitter zu bringen. Last not least sei auf die wachsende Verbreitung polizeilicher Spezial- und Exekutionskommandos, oft Todesschwadronen genannt, hingewiesen. Bei diesen Mörderbanden, deren Existenz u.a. für Brasilien, Kolumbien, Peru, Ecuador und Guatemala bezeugt ist, kann es sich um Sonderformationen der Sicherheitskräfte mit einem offiziellen Status oder um informell entstandene und operierende Gruppen von Polizisten handeln. Allen gemeinsam ist eine besonders abstoßende und brutale Vorgehensweise, von der man sich scheinbar einen Abschreckungseffekt auf potentielle Gesetzesbrecher verspricht. Beispielsweise gehen die Morde an den "Straßenkindern" in Brasilien allesamt auf das Konto solcher Killerbanden, die sich nicht mit der bloßen Tötung der Kinder begnügen, sondern diese zusätzlich verstümmeln und entsetzlich zurichten. Angeblich kommt es in der Regel zur Gründung dieser Gruppen, weil Polizisten, unzufrieden mit der lahmen und nachsichtigen Arbeitsweise des Justizapparates, glauben, in eigener Regie für Sicherheit und Ordnung sorgen zu müssen. Ebenso unstrittig ist jedoch, daß dieses ursprüngliche Motiv allmählich in den Hintergrund zu treten pflegt und das 'Töten auf Bestellung" zu einem oft eng mit dem Drogenhandel und der Prostitution verbundenen Geschäft dieser Banden wird.
Das Bedenkliche am exzessiven und widergesetzlichen Einsatz hoheitlicher Zwangsmittel liegt darin, daß die Polizei dadurch zunehmend ihrem in der Verfassung und den Gesetzen demokratischer Staaten verankerten Auftrag entfremdet wird. Anstatt präventiv auf die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinzuwirken, wird sie zu einer selbst diese Ordnung störenden repressiven Institution. Anstatt die Grundrechte des Individuums zu schützen, verletzt sie diese ständig. Anstatt die Unparteilichkeit des Staates auf glaubwürdige Weise zu verkörpern, betreibt sie private Geschäfte und mißbraucht ihr Zwangspotential, um den Bürger zu erpressen. Wie reagiert der Bürger auf diese eigenmächtige Funktionsverschiebung, wie wird diese von den einzelnen sozialen Gruppen und der Gesellschaft im allgemeinen beurteilt? Auf diese Frage läßt sich nur schwer eine einheitliche Antwort geben, da die Einstellung zur Polizei, je nach dem Grad der Betroffenheit durch kriminelle Übergriffe einerseits, durch Willkürmaßnahmen der Sicherheitsdienste andererseits, erheblich schwankt. Auf dem Lande schätzt man die Effizienz der Polizei wohlwollender ein als in den Großstädten, die obere Mittelschicht stellt ihr ein besseres Zeugnis aus als die kleinen Händler, Handwerker und Geschäftsleute der unteren Mittelschicht usf. Insgesamt hat man jedoch den Eindruck, daß eine zwiespältige Meinung vorherrscht: Das Anliegen, die allgemeine Ordnung zu schützen und dem einzelnen eine minimale Sicherheit hinsichtlich seiner Person, seiner Familie und seines Besitzes zu garantieren, ist zu zentral, als daß es sich irgendjemand leisten könnte, auf die Polizei gänzlich zu verzichten, d.h. ihre Abschaffung zu fordern. Nicht "weniger Polizei!" sondern "mehr Polizei!" lautet der allgemeine Ruf (Kalmanowiecki 1991). Aber, und hier wird die skeptische bis ablehnende Einstellung gegen52
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über dem gegenwärtigen Verhalten der Ordnungshüter sichtbar, es soll sich um eine Polizei handeln, die nicht bestechlich und politisch parteilich ist, die rasch und effizient vorgeht und jeden gleich behandelt, kurzum um eine Polizei, die diesen Namen wirklich verdient. Diese Wunschpolizei, das geht recht klar aus Umfragen und anderen Formen der Artikulation des Willens der breiten Bevölkerung hervor, sollte durchaus mit drakonischen Maßnahmen und Mitteln gegen überführte Kriminelle und Tatverdächtige vorgehen. Was die meisten am gegenwärtigen Zustand und Verhaltensstil der Polizisten stört, ist vor allem deren Unzuverlässigkeit, Unberechenbarkeit und absolut willkürliche Vorgehensweise, die Tatsache, daß man als Bürger nie im Voraus weiß, ob man von ihnen in einer konkreten Situation geschützt oder ausgebeutet werden wird. Dag&gen wird an der exzessiven Härte der Polizei keinerlei Kritik geübt, im Gegenteil: Quer durch alle sozialen Gruppen und Schichten ist die Ansicht verbreitet, die gegenwärtig gültige Rechtsordnung und das Justizwesen, die dem Beschuldigten eine Reihe von Rechten einräumen und bis zur Verurteilung von der Vermutung seiner Unschuld ausgehen, seien zu "weich" um der wachsenden Kriminalitätswelle, die diese Länder überschwemme, Einhalt zu gebieten. Einen so toleranten Umgang mit dem Rechtsbrecher könnten sich nur die seit langem innerlich befriedeten europäischen Staaten leisten. Dagegen müßten in den von häufigen inneren Unruhen uind steigender Delinquenzbelastung heimgesuchten lateinamerikanischen Gesellschaften schärfere Regeln gelten. Das alttestamentarische "Auge um Auge, Zahn umi Zahn" sei hier angebrachter, wolle man sich nicht gänzlich der Anarchie ausliefern:: Wer sich am Eigentum oder sonstigen Gütern eines Dritten vergreift, sollte dafiür unmittelbar und drastisch büßen müssen, bis zum Verlust seines Lebens. Die verbreitete Zustimmung zur Praxis des Lynchens, teilweise bis in höchste Regierunigskreise hinein, und der häufige Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe sind deutliche Zeugnisse für diese Einstellung. In diesen Ruf sttimmen auch breite Teile der lateinamerikanischen Unterschichten ein. Dies erscheint insofern bemerkenswert, als sie die Hauptleidtragenden des von der Polizei ausgeübten repressiven Terrors sind. Welches Land man auch betrachtet, die Opfer der polizeilichen Gewaltakte entstammen immer der gleichen sozialen Gruppe: es handelt sich um junge Männer, die arm und arbeitslos sind und teilweise bereits einmal eingesperrt waren (in Brasilien kommt hinzu, daß sie meist Farbige sind). Die extreme Not und Armut des sozialen Milieus, aus dem sie stammen, läßt sie auf der Suche nach Überlebensmöglichkeiten den Weg in die Kriminalität einschlagen. Der von der Polizei und den Sicherheitsbehörden geführte "Kampf gegen das Verbrechen" entpuppt sich somit, selbst wenn dies den Beteiligten nicht immer bew/ußt ist, bei genauerem Hinsehen als ein Kampf zwischen Besitzenden und Habenichtsen. Die Kluft zwischen jenen, die im Wohlstand leben oder zumindest ihr Auskommen haben, einerseiits, und der breiten Masse derjenigen, die ohne eine feste Stelle und ein regelmäßiges Einkommen einen täglichen Kampf um ihre Existenz führen müssen, andererseits, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ständig vertieft. Das rapide Bevölkerungswachstum, dem keine entsprechende Vermehrung der Arbeitsplätze gegeniüberstand, die Land-Stadt-Wanderungen, die eine Lockerung traditioneller Solidariitätsbindungen nach sich zogen, in jüngerer Zeit vor allem die neoliberale Wirtschaftspolitik der lateinamerikanischen Regierungen, die mit einem Rückzug des Staate« aus sämtlichen Sozialpflichten verbunden war - all dies hat 53
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dazu beigetragen, daß sich die Einkommens- und Vermögensschere zwischen dem besitzenden und dem besitzlosen Teil der Bevölkerung ständig geöffnet, die latente strukturelle Spannung zwischen ihnen zugenommen hat. Man hat deshalb nicht zu Unrecht behauptet, die für das repressive Vorgehen der Militärdiktaturen bestimmende Gegenüberstellung "guter Bürger - Terrorist" sei nach dem Übergang zur Demokratie durch die zunächst harmloser klingende, letztlich indes nicht weniger brisante Dichotomie "guter Bürger - Gesetzloser" abgelöst worden. Im Namen derselben "Doktrin der nationalen Sicherheit", die unter der Militärherrschaft die brutale Unterdrückung sämtlicher Regungen einer politischen Opposition rechtfertigte, und zum Teil mit durchaus ähnlichen Methoden werde heute ein kaum weniger erbarmungsloser Krieg gegen die neuen "Feinde" der Gesellschaft, nämlich Kriminelle und Asoziale, geführt (Pinheiro 1991). Gewiß ist diese neue Konfliktachse nicht zuletzt deshalb zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses und breiter publizistischer Aufmerksamkeit geworden, weil eine durch die Menschenrechtsdiskussion sensibilisierte nationale und internationale Öffentlichkeit heute die brutalen, gesetzeswidrigen Praktiken staatlicher und selbsternannter gesellschaftlicher Ordnungshüter nicht mehr widerspruchslos hinnimmt, sondern die Bestrafung der Schuldigen und institutionelle Reformen fordert. Doch das erklärt nicht alles, ebensowenig wie der Hinweis darauf, die lateinamerikanische Polizei habe seit jeher wenig Federlesens bei der Bestrafung und Abschreckung von realen oder potentiellen Übeltätern gemacht. Tatsächlich deuten, ungeachtet der riesigen Dunkelziffern in diesem Bereich, sämtliche verfügbaren Indikaktoren darauf hin, daß sowohl der Kriminalitätsdruck einerseits, als auch das repressive Vorgehen der Polizei gegen die Unterschichten und das Subproletariat in manchen lateinamerikanischen Großstädten andererseits eine neue quantitative Dimension erreicht haben, die die Kriegsmetapher gerechtfertigt erscheinen lassen. Das Groteske an diesem "Krieg" besteht darin, daß die Methoden und Waffen, die dabei zur Anwendung kommen, im Grunde untauglich sind. Blendet man erneut auf das Vorgehen der Streitkräfte bei ihrem oben als social-group-control Vigilantism bezeichneten repressiven Versuch zurück, die mächtig aufkommenden sozialen und politischen Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre in Schach zu halten und schließlich auszulöschen, so muß man einräumen, daß er im Sinne seiner Zielsetzung nicht "erfolglos" war (wobei freilich die Zahl der dabei unschuldig zu Tode gekommenen so hoch war, daß dadurch dieser "Erfolg" stark relativiert, wenn nicht sogar aufgehoben wird). Dagegen scheint der neue Feldzug gegen Kriminalität und Marginalität von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein, da er an Symptomen herumkuriert, anstatt das Übel an der Wurzel anzupacken. Wenn es, wie oben angedeutet, zutrifft, daß der unzweifelhaft angestiegene Kriminalitätspegel weniger auf das nachlassende Moral- und Normbewußtsein der lateinamerikanischen Unterschichten als vielmehr primär auf die Verschlechterung ihrer materiellen Existenzbedingungen zurückzuführen ist, welchen Sinn soll es dann haben, sie durch zunehmend harte Verfolgungs- und Sanktionspraktiken vor Übergriffen gegen das Hab und Gut anderer abschrecken zu wollen? Solange die Misere, in der zahllose Menschen in diesen Ländern leben, anhält, ist schwerlich damit zu rechnen, daß die Bereitschaft einer wachsenden Zahl unter ihnen, sich ungeachtet des damit verbundenen gesteigerten Risikos am Besitz der Wohlhabenderen schadlos zu halten, merklich zurückgehen wird.
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Wenngleich die repressive Kampagne der Polizei somit ungeeignet erscheint, das angeblich angepeilte Ziel einer Eindämmung der Kriminalität zu erreichen, so bedeutet dies doch nicht, daß sie gänzlich wirkungslos wäre. Ihre Hauptfunktion, aus der Interessenwarte der Herrschenden betrachtet, liegt vermutlich im symbolischen Bereich. Hinsichtlich der Sicherheitsbedürfnisse, die einen besonders empfindlichen, mit irrationalen Ängsten belasteten Gefühlsbereich betreffen, ist es oft methodisch angezeigt, zwischen tatsächlicher Sicherheitslage und den Sicherheitsgefühlen, die u.U. eine eigene Dynamik entwickeln, zu unterscheiden. Mag die gesteigerte polizeiliche Repression auch ein verfehltes Mittel zur Reduzierung des tatsächlichen Kriminalitätsvolumens darstellen, so schließt dies doch nicht aus, daß dadurch subjektiv beide Seiten des oben beschriebenen latenten Konfliktszenarios nachhaltig beeindruckt werden: Den mittleren und oberen Schichten demonstriert die Polizei auf diese Weise, daß sie handlungsfähig bleibt und entschlossen ist, den drohenden "anarchischen" Auswüchsen der unteren Schichten, der "classes dangäreuses", einen energischen Riegel vorzuschieben. Den besitzlosen Schichten ihrerseits wird die Lektion vermittelt, daß mit dem Staat und seinen Sicherheitskräften nicht zu spaßen ist, so daß sie, bei aller ausufernder Kleinkriminalität, keine Chance haben, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verändern. Über die Stabilisierung des gesellschaftlich-politischen Machtgefüges als Ganzes erfährt indirekt auch die bestehende Besitzordnung eine Bestätigung und Festigung. Die Situaton erinnert in gewißer Weise an das Europa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Damals gab es ebenfalls eine riesige Zahl wurzelloser Armer und Hungernder, und auch damals sahen sich die Sicherheits- und Ordnungskräfte von Seiten des Bürgertums und der politischen Führungsspitze mit der Erwartung konfrontiert, es gelte die besitzlosen "gefährlichen Klassen" durch Einsatz der staatlichen Zwangsmittel in Schach zu halten und einer eventuell drohenden sozialen oder politischen Revolte vorzubeugen. Indes sahen die Leiter der Sicherheitsbehörden schließlich ein, daß sich die allzu harte Unterdrückung sozialer Proteste und die unnachsichtige Verfolgung vergleichsweise harmloser Gesetzesverstöße kontraproduktiv auswirkten, d.h. daß sie den schwelenden Volkszorn erst recht anfachten und heftige Konflikte provozierten. Dies war der Augenblick, von dem ab man das bis dahin für die Wahrung des inneren Friedens zuständige Militär allmählich durch kleinere Polizeieinheiten ersetzte, die flexibler und behutsamer vorgingen. In Lateinamerika vollzieht sich dieser Prozeß gegenwärtig genau in umgekehrter Richtung. Dort wird die bürgerliche Polizei, die teilweise auf eine beachtliche Tradition zurückblicken kann, in manchen Ländern zunehmend durch militärähnliche Formationen ersetzt oder zumindest in den Schatten gestellt. Es bleibt abzuwarten, ob diese eindeutig als regressiv einzustufende Entwicklung durch die Menschenrechtsdiskussion und die davon ausgehenden reformerischen Impulse (in jüngster Zeit wurden erstmals Polizisten wegen Gewaltmißbrauchs vor Gericht gestellt und beginnt man sich in manchen lateinamerikanischen Ländern ernsthaft mit einer Reform des Justizwesens zu befassen) dauerhaft zum Stillstand gebracht werden kann. Jedenfalls gibt zu denken, daß dieser regressive Schub ausgerechnet in eine Phase politischer Demok'atisierung fällt, an die viele Beobachter Lateinamerikas große Hoffnungen knüp'en. Sollte es sich hier um einen weiteren Anwendungsfall des für Lateinamerika oft beschworenen Gesetzes struktureller Heterogenität handeln?
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Cario Secchi: Neues Kapital für Lateinamerika
Carlo Secchi
Neues Kapital für Lateinamerika Tendenzen und Perspektiven für den Entwicklungsprozeß*
1. Einleitung Lateinamerika erlebte in den 70er Jahren einen bis dahin ungekannten Anstieg an Kapitalzufluß, dem ein abrupter Rückgang in den 80er Jahren folgte, als die Region zu einem Nettoexporteur finanzieller Ressourcen wurde, hauptsächlich infolge der Verpflichtungen aus ihren Auslandsschulden. Die letzten Jahre sind wiederum gekennzeichnet durch ein Wiederaufleben des Kapitalzustroms nach Lateinamerika. Dieser Umschwung ist bemerkenswert. Noch 1989 beliefen sich die Nettokapitalzuflüsse auf lediglich US$ 5,3 Mrd., wenig im Vergleich zu den Nettoüberweisungen an Gewinnen und Zinsen in Höhe von US$ 38,6 Mrd.. Doch schon 1992 stieg der Nettokapitalzufluß auf US$ 58,6 Mrd. an. Trotz erheblicher Unterschiede in der Wirtschaftpolitik und ihren Ergebnissen für die Region als ganzes kehrt das Kapital in fast alle Länder zurück.1 Einige Länder, insbesondere Mexiko werden davon mehr begünstigt als andere, aber nur wenige gehen leer aus. Anders als in der Zeitspanne von 1978-82, besteht der Löwenanteil des neuerlichen Mittelzuflusses aus privatem Kapital2. *
Der vorliegende Beitrag basiert auf neueren Untersuchungen des Istituto di Studi Latlno-Amerlcani (ISLA), Bocconi Universität, Mailand. Der Autor dankt insbesondere S. Bazzoni für seine Mitarbeit. - Anmerkungen sind als Endnoten ausgewiesen (S. 80 f.).
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Lateinamerika Jahrbuch 1994
Es setzt sich zusammen aus: ausländischen Direktinvestitionen, Portfolio-Investitionen, Anleihen auf den internationalen Kapitalmärkten und der Repatriierung von Fluchtkapital. Das plötzliche Wiederauftauchen lateinamerikanischer Länder als bedeutende Kreditnehmer hatte positive Auswirkungen auf die Wirtschaft der Region. Erstens ermöglichte es der kräftige Anstieg der Kapitalzuströme den Regierungen, eine expansivere Wirtschaftspolitik zu verfolgen als in den 80er Jahren, in denen die internen Handlungsspielräume durch die begrenzte Verfügbarkeit externer Mittel stark limitiert war. Zweitens führte es zu höheren inländischen Investitionen. Tatsächlich tragen ausländische Kapitalzuflüsse dazu bei, die in Lateinamerika traditionell niedrigen Sparraten zu kompensieren und könnten der Region im Laufe der Zeit zu einem anhaltend hohen Wirtschaftswachstum verhelfen. Drittens halfen die Nettokapitalzuflüsse bei der Wiederauffüllung der Devisenreserven. So veranlaßt der Wunsch nach Abschwächung der Auswirkungen der Kapitalzuflüsse auf den Wechselkurs die Zentralbanken häufig dazu, auf den Devisenmärkten zu intervenieren, indem sie ausländische Währungen gegen einheimische eintauschen. Dies führt letztlich zu höheren Devisenreserven. Indessen hat der steile Anstieg der Kapitalzuflüsse nach Lateinamerika nicht nur positive Effekte. So besteht ein Zusammenhang zwischen Kapitalzuflüssen und einer Aufwertung des realen Wechselkurses. Darüber sehen sich Zentralbanken in der Absicht, die Auswirkungen ausländischer Marktinterventionen auf die einheimische Währung zu vermeiden, veranlaßt, einen Teil des Kapitalzustroms zu neutralisieren mit der Folge von andauernd überhöhten einheimischen Realzinsen und entsprechenden Belastungen für den Staatshaushalt. Schließlich verstärkt der wiedererlangte Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten die Interdependenz der Finanzmärkte und damit auch die potentielle Bedeutung interner und externer Schocks als entscheidende Bestimmungsfaktoren für die Kapitalzuströme. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen verfolgt dieser Beitrag drei Ziele: erstens die gegenwärtige Phase der Kapitalzuflüsse nach Lateinamerika darzustellen; zweitens die Bestimmungsfaktoren dieser Ströme zu erklären und drittens die wichtigsten Implikationen der Kapitalzuflüsse für die Wirtschaftspolitik herauszuheben.
2. Daten zu den jüngsten Kapitalzuflüssen nach Lateinamerika Tabelle 1 gibt eine Aufschlüsselung der lateinamerikanischen Zahlungsbilanzen für die Jahre 1983-1992. Kapitalzuflüsse stellen sich als Überschuß in der Kapitalbilanz dar: etwa US$ 16 Mrd. in 1983 und ca. 58,6 Mrd. in 1992.3 1993 setzte sich der Zustrom fort, wenngleich mit geringeren Zuwächsen.4 Dies ist zum Teil auf die ungewisse politische Entwicklung in Brasilien und Venezuela zurückzuführen. Beide Länder erlebten 1993 erhebliche politische Wirren mit der Folge rückläufiger Kapitalzuströme. Nach vorläufigen Daten von J.P. Morgan, verringerten sich die Kapitalüberschüsse in Brasilien von 1992 auf 1993 von 8 Mrd. auf US$ 3 Mrd. und in Venezuela von US$ 2,3 auf 1,5 Mrd.. 58
Cario Secchi: Neues Kapital für Lateinamerika
Obwohl 1994 die Investoren in Lateinamerika bereits von einer Serie von Ereignissen aufgeschreckt worden sind, die sie an die Investitionsrisiken in der Region erinnert haben, gibt es dennoch gute Gründe, die einen anhaltenden Zustrom von Privatkapital erwarten lassen5 (Financial Times, 11 April 1994).
Tabelle 1: Lateinamerika: Zahlungsbilanzen 1983-1992 (Mio. US$) Jahr
1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992" * **
Laufende Rechnung (1) -8.199 -923 -2.333 -16.722 -9.471 -9.363 -5.204 -3.197 -17.595 -34.525
Kapitalbilanz (2) 5.176 11.900 5.460 8.827 12.474 6.165 5.351 16.339 33.252 58.658
Irrtümer u. Auslassungen (3) -2.527 2.210 -3.974 -254 1.037 2.461 2.912 1.212 3.817 279
Veränderungen d. Devisenreserven (4)' 5.550 -8.766 847 8.148 -4.039 5.659 -3.059 -14.354 -19.475 -24.412
(4) = -[(l) + (2) + (3)]. Ein Minus in Spalte 4 bedeutet eine Zunahme der Devisenreserven. vorläufige Daten
Quelle: IDB, Economic and Social Progress in Latin America, 1993 Report.
2.1. Verteilung nach Ländern Aus Tabelle 2 geht hervor, daß im Zeitraum von 1990-92 die geographische Verteilung der Kapitalströme keineswegs gleichmäßig war. So war 1990 der Zufluß allein nach Mexiko größer als in die übrigen Länder insgesamt. Auch zeigen die Zahlenangaben starke jährliche Schwankungen. Chile und Brasilien waren 1990 neben Mexiko die einzigen Länder, die einen nennenswerten Kapitalüberschuss auswiesen, aber schon im darauffolgenden Jahr ging der chilenische Überschuß wesentlich zurück und zwar hauptsächlich, weil das Programm der Schuldenumwandlung inzwischen ausgelaufen war. Ebenso erging es Brasilien. Andererseits verzeichneten Argentinien und Venezuela kräftige Zuwächse des Nettokapitalzuflusses. Trotz solcher Schwankungen bestätigen die verfügbaren Daten, daß die jüngsten Kapitalzuströme sich vorrangig auf wenige Länder konzentrieren. Zwischen 1990-92 war Mexiko das Hauptempfängerland, aber auch Argentinien, Brasilien, Chile und Venezuela erhielten beachtliche Anteile der Kapitalströme. Zusammen genommen entfie59
1 Netto-Kapitalzustrom (Mio. US$)
a r r9 999,1
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-356
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