Lateinamerika Jahrbuch 1997 9783964567321

Allgemeiner Länderteil sowie u.a. Aufsätze zu den Themen: Die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen in Lateinamerika

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German Pages 352 [354] Year 2019

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Table of contents :
INHALT
Teil I: Aufsätze
Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft. Neue Anforderungen an die entwicklungs- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit
Der verunsicherte Jaguar. Lateinamerika zwischen wirtschaftlichem Optimismus und politischer Skepsis
Unternehmer und Politik im Cono Sur. Eine vergleichende Analyse
Die Parlamente in den Präsidialdemokratien Lateinamerikas Ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen
Grundbedürfnisbefriedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen in Lateinamerika
Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen
Übersichten über regionale Integrationsbündnisse und -prozesse
Informationen zu einzelnen Ländern: Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 1996
Cono Sur
Brasilien
Andenregion
Mexiko
Zentralamerika
Karibischer Raum
Lateinamerika allgemein
Technische Erläuterungen zu der Datenbank IBEROSTAT
Gesamtverzeichnis der Jahrbücher 1992-1996
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
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Lateinamerika Jahrbuch 1997
 9783964567321

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

II

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Lateinamerika Jahrbuch • Band 6

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

LATEINAMERIKA JAHRBUCH 1997 Herausgegeben von Klaus Bodemer, Heinrich-W. Krumwiede, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1997

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lateinamerika Jahrbuch ... / Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.- Frankfurt am Main : Vervuert Erscheint jährlich. - Aufnahme nach 1992 ISSN 0943-0318 1992-

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany ISBN 3-89354-425-9

INHALT

Seiten

Teil I: Aufsätze Dirk Messner Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft. Neue Anforderungen an die entwicklungs- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit

9

Detlef Nolte Der verunsicherte Jaguar. Lateinamerika zwischen wirtschaftlichem Optimismus und politischer Skepsis

37

Peter Birle / Peter Imbusch / Christoph Wagner Unternehmer und Politik im Cono Sur. Eine vergleichende Analyse

58

Heinrich-W. Krumwiede Die Parlamente in den Präsidialdemokratien Lateinamerikas Ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen

86

Carsten Frank / Stephen Wehner Grundbedürfnisbefriedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen in Lateinamerika

108

Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen Übersichten über regionale Integrationsbündnisse und -prozesse - Gemeinsamer Zentralamerikanischer Markt (MCCA) - Andengemeinschaft - Karibische Gemeinschaft und Karibischer Gemeinsamer Markt (CARICOM) - Vereinigung Karibischer Staaten (ACS) -Rio-Gruppe - Lateinamerikanisches Wirtschaftsbündnis (SELA) -Dreier-Gruppe - Gemeinsamer Markt der Länder des Cono Sur (MERCOSUR) - Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (NAFTA/TLC) - Organisation Amerikanischer Staaten (OAS/OEA)

124 125 126 127 128 129 130 131 132 133

Informationen zu einzelnen Ländern: Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 1996 Cono Sur

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Argentinien Chile Paraguay Uruguay

135 145 150 154

Brasilien

158

Andenregion

172

Bolivien Ekuador Kolumbien Peru Venezuela

173 182 190 198 209

Mexiko

220

Zentralamerika

234

Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama

238 244 250 257 262 268

Karibischer Raum

274

Gesamt-Chronologie (außer Dominikan. Republik, Haiti und Kuba) Kennziffern zu den Klein- und Kleinststaaten der Region Dominikanische Republik Haiti Kuba

275 303 316 323 332

Lateinamerika allgemein Kennziffern zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Gesamtwirtschaftliche Eckdaten 1996 Außenwirtschaftliche Eckdaten 1996

341 344 345

Technische Erläuterungen zu der Datenbank IBEROSTAT

346

Gesamtverzeichnis der Jahrbücher 1992-1996

350

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

352

Teil I

Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

Dirk Messner

Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft Neue Anforderungen an die entwicklungs- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit

Die Veränderungen in der Weltwirtschaft stellen neue und hohe Anforderungen an alle Gesellschaften und Ökonomien. Standortdebatten haben daher rund um den Globus Hochkonjunktur. Im folgenden werden qualitativ bedeutende Veränderungen in der globalen Ökonomie der 90er Jahre und deren Auswirkungen auf die Wirtschaftsstandorte und die wirtschaftspolitischen Diskussionen in Deutschland und Lateinamerika dargestellt. Darauf aufbauend werden die deutsch-lateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen charakterisiert und Perspektiven der entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Kooperation ausgeleuchtet. Über die traditionelle entwicklungspolitische Zusammenarbeit hinaus werden neue Formen und Themenfelder der wirtschaftspolitischen Kooperation skizziert, die einen Beitrag zur Herausbildung einer tragfähigen ökonomischen Weltwirtschaftsordnung leisten könnten.

I. Die Weltwirtschaft der 90er Jahre: Neue Herausforderungen für Deutschland und Lateinamerika Die Internationalisierung der Marktwirtschaft ist kein neues Phänomen. Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts hatten der Welthandel und die Direktinvestitionen (in Relation zum damaligen Weltsozialprodukt) ein ähnlich hohes Niveau erreicht wie Mitte der 90er Jahre. Dennoch hat die ökonomische Globalisierung, verstanden als Verdichtung weltweiter Beziehungen, welche die gegenseitige Einwirkung lokaler und weit entfernter Ereignisse zur Folge haben, am Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität gewonnen. Sie geht einher mit einer zunehmenden Vernetzung über immer durchlässiger werdende Grenzen hinweg, die nicht nur Güter und Kapital umfaßt, sondern vor allem Informationen, Wis-

Lateinamerika Jahrbuch 1997

sen, Kenntnisse und Fertigkeiten. Während die „alte Weltwirtschaft" vor allem durch intersektorale Handelsbeziehungen zwischen den Volkswirtschaften (z.B. Rohstoffe versus Kapitalgüter) und überwiegend nationalstaatlich orientierte und verfaßte Unternehmen charakterisiert war, bilden sich in der „neuen Weltwirtschaft" zunehmend global vernetzte Produktionsstrukturen heraus.

1. Standortprobleme in Deutschland und Lateinamerika Deutschland hat lange auf der Grundlage hoher technologischer Kompetenz und Innovationsfähigkeit, leistungsstarker Bildungs-, Berufsbildungs- und Forschungsinstitutionen und weltweit führender Unternehmen in wichtigen Branchen der „fordistischen Phase" (z.B. in der Automobil-, Chemie- und Werkzeugmaschinenindustrie) von der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung profitiert. Der technologische, institutionelle und soziale Innovationsvorsprung Deutschlands schrumpft aber in den 90er Jahren. Schlüsseltechnologien werden in Deutschland zu wenig eigenständig vorangetrieben, während die Anwendung von Hochtechnologieprodukten in Sektoren „mittlerer Technologie" gut entwickelt ist. Die traditionelle Industriestruktur wird mit hohem Aufwand konserviert und perfektioniert, aber zu langsam verändert (Priewe 1996, Härtel 1996, Soskice 1996). Japan und die USA sind in vielen neuen Industrie- und Dienstleistungsbranchen erfolgreicher als Deutschland. Zudem kann eine wachsende Gruppe asiatischer Schwellenländer zunehmend zu den „alten Industrieländern" aufschließen und macht diesen (und eben auch Deutschland) gerade in den Industrien „mittlerer Komplexität" erfolgreich Konkurrenz. Aus dieser Konstellation ergibt sich die relative Schwäche des deutschen Standortes. Die lateinamerikanischen Ökonomien sind auch Mitte der 90er Jahre weiterhin stark von der traditionellen Weltarbeitsteilung zwischen Nord und Süd und der jahrzehntelang verfolgten Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung hinter hohen Zollmauern geprägt. Acht Kernprobleme sind zu bewältigen, um den Anschluß an die Entwicklungsdynamik der Weltwirtschaft zu finden (Messner 1997b): (1) die Innovationsfähigkeit des Importsubstitutionsmodells war gering, enorme Steigerungen der Arbeitsproduktivität sind notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu steigern; (2) in der Weltwirtschaft setzt sich ein neues organisations- und wissensbasiertes Produktionsparadigma durch (Eßer 1997a, Gerybadze et al. 1997), an das Lateinamerika noch lange keinen Anschluß gefunden hat (der Anteil von F&E-Investitionen am BSP liegt in Lateinamerika bei 0,4%; Deutschland 2,4%, Südkorea 3,0%); (3) die Importsubstitution führte in Lateinamerika in vielen Ländern zum Aufbau einer breiten, aber ineffizienten Industriestruktur (complete industrializationy, nun sind Spezialisierungsstrategien notwendig, die Deindustrialisierungsprozesse und damit auch den Abbau von Arbeitsplätzen nach sich ziehen; (4) das Exportpaket der Region besteht noch immer zu 80% aus Agrargütern, Rohstoffen und ressourcennahen Produkten mit geringer Wertschöpfung; allein Südkorea exportiert mehr Industriegüter als alle lateinamerikanischen Ökonomien zusammen; (5) auf Unternehmensebene stehen umfassende Restrukturierungsprozesse an, da die Betriebe im internationalen Vergleich in ihrer Mehrzahl zu klein sind, nur wenige Unternehmen über ein Exportpotential verfügen (1994 entfallen auf nur 200 Unternehmen gut 50% der Industriegüterexporte des Kontinents) und moderne Organisationsmuster (c/usfer-Strukturen; Zulieferernetzwerke) die absolute Ausnahme darstellen; (6) der bürokratische Entwicklungsstaat steht zur Disposition, aber ein neues Leitbild für die Aufgabenteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft steht noch aus; die institutionelle Modernisierung ist ein schwieriges und mittel- bis langfristiges Projekt, es sei

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

denn, man verließe sich auf die neoliberale Minimalstaatslösung, die rascher umzusetzen ist, aber wirtschaftlich wie politisch kaum Erfolg verspricht (Lechner 1997, Messner 1995); (7) der Umbruch zur Weltwirtschaft geht mit einer Verschärfung der sozialen Krise und z.T. gravierenden Beschäftigungseinbrüchen einher, die schon im Kontext des alten Entwicklungsmodells nicht gelöst werden konnten. Dies hängt jedoch nicht unabwendbar und kausal mit der Weltmarktintegration zusammen: Von Südkorea und Taiwan ist bekannt, daß die Integration in die globale Ökonomie mit einer relativ ausgewogenen Einkommensverteilung einherging; aber auch in Thailand, Indonesien und Malaysia haben sich im Prozeß der Außenorientierung seit Ende der 70er Jahre - dank tragfähiger Sozial-, Grundbildungs- und Gesundheitspolitiken, an denen es in Lateinamerika mangelt die Einkommensverhältnisse für die unteren 20% der Einkommenspyramide absolut wie relativ (im Verhältnis zum oberen Fünftel) beachtlich verbessert; (8) letztlich muß der Kontinent seine ökologischen Hausaufgaben machen, die angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme stark vernachlässigt werden. Die ökonomischen, institutionellen und politischen Anforderungen an die lateinamerikanischen Gesellschaften, sich in der neuen Weltwirtschaft zu positionieren, sind also hoch. Die asiatischen Schwellenländer der ersten, aber auch der zweiten Generation verfügen gegenüber den lateinamerikanischen Jate-comers" bereits über Startvorteile in die neue Weltwirtschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die seit Ende der 80er Jahre irreversible Außenöffnung des Kontinents eröffnet jedoch die Chance, in die intraindustrielle und -sektorale Weltarbeitsteilung hineinzuwachsen und die Entwicklungsblockaden des binnenmarktorientierten Entwicklungsmodells zu überwinden. Auch die bereits etablierten Ökonomien stehen angesichts der weltwirtschaftlichen Umbrüche vor komplizierten Such- und Lernprozessen, wie das Beispiel Deutschlands zeigt. Vor diesem Hintergrund könnten sich durchaus „windows of opportunity' für „Neueinsteiger" ergeben. 2. Die Herausbildung der Weltmarktwirtschaft: Sechs globale Trends Ein zunehmender Teil der Wertschöpfung und der Vermögen wird weltweit durch ein System eng verflochtener privater Netzwerke produziert und verteilt. Große multinationale Unternehmen, die innerhalb konzentrierter Angebotsstrukturen operieren und die Vorteile finanzieller Globalisierung voll ausschöpfen können, stehen im Zentrum dieses Prozesses. Länder, denen es nicht gelingt, sich an die globalen Produktionsnetzwerke anzudocken, werden in der weltwirtschaftlichen Hierarchie zurückfallen. Der Weltmarkt wird infolge der weitgehenden Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte weltweit zum Referenzrahmen für Unternehmen sowie für nationale Wirtschaftspolitiken. Die deutsche Standortdebatte und die lateinamerikanischen Strukturanpassungsdiskussionen reflektieren diesen Sachverhalt. Sechs wesentliche Entwicklungstrends lassen sich ausmachen, die die Dynamik der Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts charakterisieren: 1. Weltweite Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Entwicklungslogik, geographische Ausdehnung der Marktwirtschaft In nahezu allen Ländern der Welt setzten sich infolge des Zusammenbruchs der sozialistischen Ökonomien und der marktorientierten Reformen in China marktwirtschaftliche Prinzipien durch. Während seit der russischen Revolution von 1917/18 in der Weltwirtschaft zwei konkurrierende Wirtschaftssysteme existierten, kann nun von der einen Weltmarktwirtschaft gesprochen werden.

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

2. Verbreiterung und Vertiefung weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung Lateinamerika und die meisten Entwicklungsländer Afrikas und Asiens verfolgten nach 1945 zwar kapitalistische, aber stark etatistisch geprägte, nationale Projekte nachholender (industrieller) Entwicklung hinter hohen Zollmauern und jenseits des Referenzrahmens Weltmarkt (Importsubstitution). Nach dem Scheitern der einseitig binnenmarktorientierten Entwicklungsstrategien versuchen seit Ende der 80er Jahre nahezu alle lateinamerikanischen Ökonomien (aber auch Indien, andere asiatische sowie einige afrikanische Länder), sich aktiv in die Weltwirtschaft zu integrieren, wettbewerbsfähige Wirtschaftsstrukturen herauszubilden und aus den Entwicklungserfolgen der exportorientierten ostasiatischen Schwellenländer zu lernen. Während die weltwirtschaftlichen Verflechtungen bis Ende der 80er Jahre im wesentlichen auf die OECD-Länder und wenige asiatische Schwellenländer konzentriert blieben und die übrigen Länder auf sozialistische oder „staatskapitalistische" binnenmarktorientierte Entwicklungsprojekte setzten, führen diese beiden Umbrüche zu einer Öffnung bisher verschlossener Märkte, einer enormen geographischen Ausdehnung der Marktwirtschaft und der weltweiten Durchsetzung der Prinzipien der Marktökonomie. Die Auswirkungen dieser gewaltigen Umbrüche auf die zukünftige Struktur der Weltwirtschaft können noch nicht seriös prognostiziert werden. 3. Trend zur Regionalisierung und Herausbildung einer polyzentrischen Weltwirtschaft In allen Weltregionen entstehen seit einigen Jahren sich beschleunigende und vertiefende Projekte regionaler Integration und Kooperation. Aus der unizentrischen Weltwirtschaft der Vergangenheit (Gravitatonszentrum USA) entwickelt sich eine polyzentrische globale Ökonomie mit zunächst drei Kernregionen (USA/NAFTA; Japan/asiatische Schwellenländer; Europäische Union). Der MERCOSUR ist eine aktive Reaktion darauf, daß die Globalisierung gerade in den starken Ökonomien mit Regionalisierungstendenzen einhergeht. 4. Beschleunigte Globalisierung durch Informations- und Kommunikationstechnologien; Trend in Richtung Wissens- und Informationsökonomie Die Kosten für den Transport von Menschen, Gütern, Geld und Informationen sinken kontinuierlich, so daß geographische und zeitliche Distanzen an Bedeutung verlieren. Dieser Prozeß des Zusammenwachsens der Welt durch technologische Veränderungen wird durch die jüngsten dynamischen Entwicklungen in der Informationstechnik und der Telekommunikation, also die integrierte Nutzung von Texten, Daten, Graphiken, Audio, Bildern und Video in digitaler Verarbeitung und deren Transport über immer leistungsfähigere Computersysteme, nachhaltig beschleunigt. Es bilden sich nicht nur neue Wachstumssektoren (z.B. Multimedia) und handelbare Produkte (z.B. informationsbasierte Dienstleistungen) sowie sich verändernde Produktionsmethoden heraus - die technologischen Umbrüche stimulieren vielmehr die Globalisierungs- und Vernetzungsprozesse in der Ökonomie (aber auch in der Politik, Wissenschaft und Kultur) unmittelbar: Informationen und Know-how lassen sich am Ende des 20. Jahrhunderts ähnlich schnell um den Globus transportieren wie Geldkapital. Die entscheidenden „Rohstoffe" der Ökonomie des 21. Jahrhunderts (Kapital, Informationen und Wissen) sind damit in einem nie dagewesenen Maße weltweit mobil. Deutschland gehört in diesen Zukunftsbranchen bisher nicht zu den Spitzenreitern; Lateinamerika muß sich den neuen Herausforderungen stellen. Ob die steigende internationale Mobilität von Informationen und Wissen die Chancen für Entwicklungs- und Schwellenländer verbessern könnte, bleibt bisher umstritten.

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

5. Herausbildung einer Infrastruktur der Weltmarktwirtschaft In den vergangenen Jahren ist eine weltumspannende Infrastruktur (Flughäfen, Häfen, Straßen- und Bahnsysteme, Telekommunikation) entstanden, die die zunehmende grenzüberschreitende Mobilität von Gütern, Kapital, Personen und Informationen erlaubt (Plehwe 1997). Nicht zuletzt länderübergreifende Infrastrukturprojekte der EU oder auch des MERCOSUR tragen zu dieser Entwicklung bei. 6. Verdichtung ökonomischer Interdependenzen, Weltmarkt als Referenzrahmen für nationale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken, Gefahr der „Kolonialisierung" der Politik durch den Markt Die Internationalisierung des Handels, der Direktinvestitionen sowie der Finanzmärkte setzt sich mit unvermindert hoher Geschwindigkeit fort. Seit den 70er Jahren ist der Welthandel anderthalbmal schneller gewachsen als das Weltsozialprodukt. Die ausländischen Direktinvestitionen, deren Zuwachsraten zwischen 1975 und 1985 mit denen der Weltexporte vergleichbar waren, begannen Mitte der 80er Jahre einen Höhenflug mit jährlichen Wachstumsraten von 23%. Die Internationalisierung der Finanzmärkte, die in den 70er Jahren einsetzte, überflügelte in den vergangenen 25 Jahren die Dynamik der grenzüberschreitenden Güter- und Direktinvestitionsströme bei weitem: Grenzüberschreitende Bankkredite wuchsen seit Mitte der 60er Jahre um durchschnittlich 23%; die Umsätze auf den Weltdevisenmärkten stiegen zwischen 1989 und 1995 um jährlich 13%. Besonders dynamisch entwickelt sich der grenzüberschreitende Handel mit Anleihen und Aktien (Bruttokäufe und -Verkäufe zwischen Gebietsansässigen und Gebietsfremden) im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt. Diese Relation sprang zwischen 1975 und 1993 in Deutschland von 5% auf 170% und in den USA von 4% auf 134% (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich). Bedeutend ist, daß ein immer geringerer Anteil der internationalen Zahlungsströme mit dem Welthandel in Beziehung steht (1996 etwa 2-5%). Die skizzierte globale Verdichtung der ökonomischen Interdependenzen verschärft zum einen den Wettbewerb zwischen den Unternehmen. Die Fähigkeit von Kapitalanlegern und Konzernen, nationale Grenzen zu überspringen und sich weltweit die günstigsten Standorte zu suchen, löst zum anderen einen Wettbewerb unter den potentiellen Gastländern aus. Im Standortwettbewerb bemühen sich Regierungen durch attraktive Bedingungen, z.B. bei den Steuern, den Lohnnebenkosten, der Arbeitsflexibilität, aber auch durch dauerhaft verläßliche Rahmenbedingungen, Investitionen in Bildung, Berufsbildungssysteme und Wissenschaft anzuziehen. Im globalen Wettbewerb wird Kreativität stimuliert, Produktivitäts- und Qualitätssprünge sind möglich, und viele Länder können die neuen Entwicklungschancen nutzen und ihren Wohlstand nachhaltig steigern. Es entsteht jedoch auch die Gefahr, daß bereits erreichte nationale Sozial- und Umweltstandards in einem ungezügelten globalen Wettbewerb ausgehebelt werden oder ein nicht regulierter Steuersenkungswettlauf zwischen den Staaten die weltweiten Finanzkrisen der öffentlichen Haushalte weiter verschärft, während die Besteuerung global agierender Unternehmen immer schwieriger wird. In den vergangenen Dekaden war es den Nationalstaaten in den entwickelten Ökonomien gelungen, den Markt mit sozialen (und auch einigen ökologischen) Leitplanken zu begrenzen und so die ökonomische Effizienz der Marktallokation mit sozialen Zielen auf Zeit zu versöhnen. Die nationalen Leitplanken werden durch die Globalisierung der Ökonomie immer poröser; neue Regulierungsmuster müssen entwikkelt werden. Vor dieser Herausforderung stehen Industrie- wie Entwicklungsländer gleichermaßen. Globalisierung und die Herausbildung der Weltmarktwirtschaft basieren nicht nur auf technologischen Veränderungen und den Eigengesetzlichkeiten der Marktlogik, sondern auch auf umfassenden und seit den 80er Jahren forcierten (wirtschafts-)politischen Re13

Lateinamerika Jahrbuch 1997

formen in Richtung Liberalisierung der internationalen Transaktionen (GATT-Verhandlungen, Beitritt nahezu aller Länder zur WTO; Abbau der Regulierung der internationalen Finanzmärkte seit dem Zusammenbruch des Bretton Wood-Systems 1973) und Deregulierungen auf nationaler Ebene in einer Vielzahl von Ländern, nicht zuletzt in Deutschland und Lateinamerika. Der Prozeß der Globalisierung im Sinne zunehmender Verdichtung ökonomischer, aber auch politischer, sozialer und kultureller Interdependenzen und die Universalisierung des Marktprinzips tendieren einerseits zur Vereinheitlichung unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationsmuster, Regulierungsmechanismen, Rechts- und Sozialsysteme sowie Institutionenlandschaften, die sich alle an der einen Rationalität der Weltmarktwirtschaft messen lassen müssen. Der sich intensivierende Wettbewerb produziert andererseits innerhalb des Referenzrahmens Weltmarkt eine größere Vielfalt von Lösungsansätzen sowie wirtschaftliche, politische und soziale Innovationen und wird zur Herausbildung unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsstile beitragen (Messner 1997). Diese Vielfalt basiert vor allem darauf, daß die globalen Marktgesetze auch weiterhin durch historisch unterschiedlich geprägte Institutionen, Normensysteme und kulturelle Eigenheiten „gebrochen" werden. Die Globalisierung führt also nicht zur Herausbildung einer Weltmarktwirtschaft, die auch nur durch ein annähernd hohes Maß an Homogenität charakterisiert wäre, wie die nationalen Volkswirtschaften der Vergangenheit.

3. Multinationale Konzerne: global players in der Weltmarktwirtschaft Die Rahmenbedingungen für Direktinvestitionen (und für Handel) verändern sich seit Mitte der 80er Jahre nachhaltig. Auf der einen Seite haben die technologischen Entwicklungen die Barrieren für die grenzüberschreitende Mobilität von Gütern, Kapital, Informationen, Arbeitskräften und Unternehmen gesenkt und insbesondere die Informationstechnologien haben die Bedingungen für die Organisation und das Management zwischenbetrieblicher Abläufe über größere Distanzen vereinfacht. Auf der anderen Seite haben politische Liberalisierungen in den Bereichen Handel, Direktinvestition und Technologietransfer Freiräume geschaffen, um die neuen technologischen Möglichkeiten zu nutzen. Im Ergebnis beschleunigt sich die Internationalisierung der Produktion. Für nationale Ökonomien sind multinationale Unternehmen wichtige Bindeglieder zur Weltwirtschaft. Ohne sie ist eine aktive Eingliederung in die internationalen Produktions- und Handelsnetzwerke kaum möglich. Die multinationalen Unternehmen beeinflussen die Umstrukturierungen in der Weltmarktwirtschaft und den nationalen Ökonomien signifikant: Multinationale Unternehmen • transferieren Technologien, Managementfähigkeiten und Finanzkapital; • beeinflussen die internationale Arbeitsteilung durch ihre Produktions-, Produkt-, Marketing- und Beschaffungsstrategien; • tragen mit ihren Standortentscheidungen zur Restrukturierung nationaler Ökonomien bei; • verfügen über 80% der privaten weltweiten technologischen Kapazitäten (Dunning 1993) und • verfügen vor dem Hintergrund zunehmenden Wettbewerbs von Ländern um Direktinvestitionszuflüsse gegenüber nationalen Regierungen (insbesondere schwächerer Ökonomien) über ein großes Verhandlungspotential zur Durchsetzung ihrer Interessen.

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Messner. Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

Der weltweite Bestand an internationalen Direktinvestitionen stieg zwischen 1980 und 1995 von US$ 500 Mrd. auf US$ 2.700 Mrd. Die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Direktinvestitionsflüsse beschleunigte sich von knapp 1% in der ersten Hälfte der 80er Jahre auf 34% zwischen 1985 und 1990. Zwischen 1990 und 1994 betrugen die Wachstumsraten 12,7%, 1995 gar 40% (Gesamtvolumen 1995: US$ 315 Mrd.). Direktinvestitionen sind damit in der vergangenen Dekade schneller gewachsen als alle anderen internationalen Aktivitäten. Während der internationale Handel lange der entscheidende Mechanismus und Motor war, der nationale Ökonomien miteinander verband, verstärkt seit Mitte der 80er Jahre insbesondere die Dynamik der Direktinvestitionen die wechselseitigen Interdependenzen zwischen den nationalen Ökonomien: Zwischen 1980 und 1994 hat sich die Relation zwischen den jährlichen Direktinvestitionsflüssen und den weltweit getätigten Investitionen von 2% auf 4% erhöht; das Verhältnis zwischen dem weltweiten Bestand an Direktinvestitionen und dem Weltsozialprodukt verdoppelte sich im gleichen Zeitraum von 5% auf 10%. Der Beitrag der multinationalen Unternehmen zur weltweiten Wertschöpfung stieg von 1982 bis 1994 von 2% auf 6% (UNCTAD 1996). Weltweit agieren etwa 40.000 Konzerne, die zusammen mit ihren 250.000 Tochtergesellschaften 1993 einen Gesamtumsatz von US$ 5.500 Mrd. erwirtschafteten (zum Vergleich: Weltexporte 1993 etwa US$ 4.000 Mrd.). Rund die Hälfte aller multinationalen Konzerne stammen aus nur fünf Heimatländern (Frankreich, Deutschland, Japan, Großbritannien, USA). Die Konzerne sind zudem die wesentlichen Akteure und Motoren im Welthandel: Der überwiegende Teil der Weltexporte wird seit Dekaden von ihnen getätigt (z.B. in den USA etwa 80%). Ein neuer Trend ist seit den 90er Jahren zu beobachten. Die Bedeutung des konzerninternen Handels am Welthandel steigt; Mitte der 90er Jahre entfällt ein Drittel des Weltexportes auf Intrafirmenhandel. Diese Entwicklung deutet auf die Internationalisierung von Wertschöpfungsketten hin. Die sektorale Struktur der Direktinvestitionen hat sich seit den 70er Jahren grundlegend verändert. 1973 entfielen noch etwa ein Viertel des Gesamtbestandes auf Rohstoffe und etwa 30% auf Dienstleistungen. Bis Mitte der 90er Jahre ging der Anteil des Direktinvestitionsbestandes im Rohstoffbereich auf etwa 10% zurück, während derjenige in den Dienstleistungssektoren auf gut 50% anstieg. Diese Veränderungen reflektieren den stattfindenden Strukturwandel in der internationalen Produktion. Schon diese Trends verdeutlichen: Gelingt in Lateinamerika die Modernisierung und Restrukturierung der Industrie nicht, wird diese Region kaum nachhaltig von dem weltweiten Direktinvestitionsboom profitieren können. 3.1.

Direktinvestitionen in Deutschland und Lateinamerika

Einfließende Direktinvestitionen reflektieren Standortvorteile der jeweiligen Länder, während ausfließende Direktinvestitionen besondere Stärken der einzelnen Unternehmen aufzeigen. Die Direktinvestitionen konzentrieren sich auf sehr wenige Länder. 1995 entfielen zwei Drittel davon auf die zehn wichtigsten Anlageländer, auf die 100 „unwichtigsten" Standorte hingegen nur 1%. Deutschland spielt als Zielland für Direktinvestitionen mit einem Weltanteil von 2,0% zwischen 1986-1995 nur eine unbedeutende Rolle (zum Vergleich: Großbritannien und Frankreich etwa 8%; Spanien ca. 5%). Das geringe Engagement multinationaler Unternehmen in Deutschland wird sehr unterschiedlich interpretiert; sicher ist, daß der Standort an Attraktivität verloren hat. Alteingesessene ausländische Unternehmen (General Motors/Opel, Ford) erhalten ihre deutschen Produktionsstätten; Konzerne, die in neuen Technologiefeldern zu Hause sind, finden

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

selten den Weg hierher. Diese Entwicklung reflektiert Strukturschwächen. Insbesondere die deutsche Forschungs- und Universitätslandschaft, die lange als absolute internationale Spitze galt, hat an Prestige verloren - die deutsche „Lohnkostendebatte" geht an diesen qualitativen Strukturproblemen vorbei, wie die im Vergleich zu anderen Industrieländern sinkenden öffentlichen Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung zeigen. Es scheint, als ob das deutsche Innovationssystem inkrementelle Innovationen gut hervorbringen und bewältigen kann, jedoch mit den derzeit in der Weltwirtschaft in vielen Branchen stattfindenden grundlegenden Innovationsprozessen Probleme hat (Matraves 1997). Der Anteil der Direktinvestitionen, der in Entwicklungsländern getätigt wurde, liegt in den 90er Jahren im Durchschnitt über 30% und ist im Vergleich zu den 80er Jahren deutlich angestiegen. Etwa 25% dieser Investitionen fließen nach Lateinamerika, davon etwa zwei Drittel nach Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko. Die Investitionen ausländischer Unternehmen in Lateinamerika steigen demnach in den 90er Jahren stark an. Allein 1995 flössen US$ 27 Mrd. in die Region. Es wäre jedoch verfrüht, diese Entwicklung als stabilen Trend zu deuten, da ein hoher Anteil der Direktinvestitionen unmittelbar mit den lukrativen Privatisierungsprogrammen (Telekommunikation, Infrastruktur, Bergbau), die derzeit in (nahezu) allen lateinamerikanischen Ländern umgesetzt werden, zusammenhängt. Diese werden bald abgeschlossen sein. Argentinien ist ein Beispiel für die großen Schwankungen der Direktinvestitionsströme: 1993 flössen (wegen der Privatisierung der staatlichen Luftfahrtgesellschaft, von Erdölunternehmen und der Telekommunikation) US$ 6,3 Mrd. in das Land am Rio de la Plata, 1994 waren es nur noch US$ 1,2 Mrd. Erst mittelfristig wird sich zeigen, ob die Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik die Standortattraktivität der Region - oder besser: der größeren Länder der Region - dauerhaft erhöht. Interessant ist, daß die Eliten Lateinamerikas hinsichtlich der Bedeutung von Direktinvestitionen für den Entwicklungsprozeß radikal umdenken. Dabei droht die Diskussion von einem Extrem ins andere zu kippen. Lange galten ausländische Unternehmen als generell schädlich für die nationale Entwicklung, viele Unternehmen wurden in den 60er und 70er Jahren verstaatlicht oder durch vielfältige staatliche Auflagen (über)reguliert. Heute übertreffen sich die Länder wechselseitig mit wiederum überzogenen Deregulierungs- und kontraproduktiven Steuersenkungsprogrammen zur Förderung von Direktinvestitionen. Oft gelten sie als der Schlüssel zur Modernisierung der Wirtschaft und zur Integration der nationalen Ökonomien in die Weltwirtschaft. Diese Sichtweise ist ebenfalls völlig realitätsfern. Multinationale Unternehmen können nationale Anstrengungen zur Stärkung technologischer Kompetenz und systemischer Wettbewerbsfähigkeit nicht ersetzen. In der Regel gilt, daß ausländische Unternehmen erst dann an langfristigen Investitionen in fortgeschrittenen Entwicklungsländern interessiert sind, wenn sich eine erfolgversprechende Modernisierung abzeichnet. 3.2.

Direktinvestitionen: Chancen und Risiken für Lateinamerika

Die dynamische Entwicklung der Direktinvestitionen und die sich abzeichnenden neuen internationalen Produktionsstrukturen implizieren für die lateinamerikanischen Gesellschaften sowohl Chancen als auch Risiken. Generell lassen sich zwei Entwicklungstrends unterscheiden: Statische Effekte von Direktinvestitionen: Länder, denen es gelingt, Direktinvestitionen anzuziehen, profitieren zunächst von entsprechenden Beschäftigungseffekten und

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

den Handelsaktivitäten der Konzerne. Sie werden Teil der sich herausbildenden internationalen Produktionsstrukturen. Auch Entwicklungsländer können sich spezialisieren und darum bemühen, (zunächst arbeits- und ressourcenintensive, technologisch wenig anspruchsvolle) Teile der Produktionsketten multinationaler Unternehmen in ihren Ländern anzusiedeln. Diese Form der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung bringt natürlich auch Risiken mit sich: Gerade in den Produktionssegmenten, in denen Entwicklungsländer Direktinvestitionen anziehen können, ist der (Preis-)Wettbewerb besonders hoch. Die Länder lassen sich demnach auf einen permanent hohen Wettbewerbsdruck ein, und ihr Verhandlungspotential gegenüber den ausländischen Konzernen, die gerade eine arbeitsintensive, technologisch anspruchslose Produktion in einer Vielzahl anderer Standorte ansiedeln können, ist gering. Dynamische Effekte von Direktinvestitionen: Standorte, die Investitionen multinationaler Konzerne anziehen, profitieren von deren Innovationspotential und partizipieren an den weltweiten technologisch-organisatorischen Lernprozessen. Da multinationale Unternehmen in der Regel an den jeweiligen Standorten nationale Zulieferernetzwerke aufbauen, findet eine Diffusion des Innovationspotentials statt. Für Entwicklungsländer können diese positiven dynamischen Effekte jedoch nicht a priori vorausgesetzt werden. Da multinationale Unternehmen vor allem arbeitsintensive, technologisch nicht anspruchsvolle und kaum mit den nationalen Strukturen der Standorte verflochtene Produktionsprozesse in schwächeren Ökonomien ansiedeln, leisten sie oft nur geringe Beiträge zur Weiterentwicklung der produktiven Strukturen der jeweiligen Ökonomien. Die lateinamerikanischen Länder können also nur dann von den Innovationspotentialen der Konzerne profitieren, wenn es ihnen gelingt, leistungsfähige nationale Unternehmen und Wirtschaftsstandorte aufzubauen und so wertschöpfungs- und technologieintensivere Investitionen anzuziehen. Brasilien, das in einigen Bereichen über eine .kritische Masse" technologischer Kompetenz verfügt, sollte sich in diese Richtung orientieren. Direktinvestitionen sind jedoch kein Ersatz für nationale Eigenanstrengungen zur Entwicklung von Wettbewerbsfähigkeit, sie können aber komplementäre Beiträge leisten. Südkorea und Singapur sind lehrreiche Beispiele für eine solche Strategie. Zu bedenken ist eine weitere wichtige Dimension: Der Umsatz der zehn größten Konzerne der Welt (1994: US$ 1.400 Mrd.) entspricht dem Bruttosozialprodukt Lateinamerikas. Das Verhandlungspotential der Konzerne - gerade gegenüber kleinen und schwachen Ländern - ist entsprechend hoch. Großunternehmen sind daher nicht nur Wirtschaftseinheiten, sondern Akteure der internationalen Politik. So dürften beispielsweise für die argentinische Regierung Verhandlungen mit General Motors und Volkswagen über die Ansiedlung von Unternehmen ebenso bedeutend für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sein wie Verhandlungen mit der Europäischen Union über Handelsfragen. Die lateinamerikanischen Länder müssen vor diesem Hintergrund ein großes Interesse an der Weiterentwicklung von überprüfbaren internationalen Verhaltenskodices für multinationale Unternehmen haben. Sie sollten in diese Richtung konzertierte Aktivitäten in den internationalen Organisationen entfalten, um ein Verhandlungsgleichgewicht mit den finanzstarken Konzemen anzusteuern. 3.3.

Zur Relativierung des Mythos der Multinationalen Unternehmen

Der Anteil der Direktinvestitionen an den weltweiten Investitionen Die Konzerne sind zweifelsohne wesentliche Träger technologischer Umbrüche und Motoren des Welthandels, also wichtige Akteure, die die Strukturveränderungen der 17

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Weltwirtschaft maßgeblich beeinflussen. Die zunehmende Bedeutung des Intrafirmenhandels im Welthandel deutet zudem darauf hin, daß Länder und Unternehmen, denen es nicht gelingt, sich in die internationalen Wertschöpfungsketten der multinationalen Unternehmen zu integrieren, in der Weltwirtschaft zurückzufallen drohen. Trotz der skizzierten Dynamik von Direktinvestitionen in der Weltwirtschaft darf aber die Bedeutung der multinationalen Unternehmen für die wirtschaftliche Entwicklung nationaler Ökonomien auch nicht überschätzt werden. Der Anteil der Direktinvestitionen an den weltweit getätigten Investitionen liegt Mitte der 90er Jahre bei knapp 4%. In den Industrieländern ist der Anteil der Direktinvestitionen an den Gesamtinvestitionen in den 90er Jahren im Vergleich zu 1984-89 sogar leicht von 3,9% auf etwa 3,5% gesunken. Andersherum heißt dies: Noch immer werden trotz der dynamischen Entwicklung der Direktinvestitionen etwa 95% der weltweit getätigten Investitionen von nationalen Unternehmen in ihren jeweiligen Heimatstandorten realisiert (UNCTAD 1996). Unternehmen als neue „vaterlandslose Gesellen'?

Die genannten Relationen sind nicht nur wichtig, um den Stellenwert zwischen nationalen und multinationalen Unternehmen quantitativ richtig ins Bild zu setzen. Bedeutender ist, wie mobil und damit unabhängig von jeweiligen Standorten Unternehmen in der globalen Ökonomie tatsächlich sind. Hiervon hängt entscheidend ab, wie sich die Verhandlungsmacht von Nationalstaaten gegenüber den multinationalen Unternehmen verändert. Je höher die Mobilität der Unternehmen, desto geringer die Chance, im nationalstaatlichen Rahmen politisch soziale oder auch ökologische Standards gegen den Willen der Wirtschaft durchzusetzen - die Kolonialisierung der Politik durch die Ökonomie drohte. Grundprinzipien der Demokratie kommen hier ins Spiel. Ein differenzierter Blick zeigt folgendes Bild: Noch immer erwirtschaften die international agierenden Unternehmen 75% ihrer Wertschöpfung in ihren „Heimatstandorten" (Hirst/Thompson 1996, S. 96f.). Trotz zunehmender Internationalisierung der Produktion bleibt selbst für multinationale Konzerne der „Heimatstandort" zentral. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und der von den Unternehmen zuweilen als politisches Instrument eingesetzten Drohung mit Standortverlagerungen, kann von „heimatlosen", global und losgelöst von ihren Kernstandorten agierenden Unternehmen bisher kaum die Rede sein. International orientierte Unternehmen agieren demnach auch in der zusammenwachsenden Weltmarktwirtschaft eher multi- als transnational (UNCTAD 1996). Und: Die relativ kleine Zahl der Konzerne, die sich besonders stark von ihren „Heimatstandorten" lösen, einen bedeutenden Anteil ihrer Wertschöpfung und Unternehmensaktivitäten im Ausland realisieren und zu transnationalen Unternehmensstrategien tendieren, neigen dazu, sich in den Ländern, in denen sie besonders stark engagiert sind, quasi zu „nationalisieren". Beispiel: Ford und General Motors in Deutschland, die relativ losgelöst von den Mutterunternehmen und dem alten „Heimatstandort" USA agieren, aber sich stark in den deutschen Standort eingebettet haben. Auch in der Weltmarktwirtschaft werden nationale Standorte also keineswegs bedeutungslos, damit auch nationale Wirtschaftspolitiken nicht überflüssig, und Spielräume für nationale Regulierung bleiben bestehen (Eßer et al. 1996). Das Bild der „staatenlosen" Unternehmen, die flexibel rund um den Erdball agieren, ist eine verzerrte Wahrnehmung. Vielmehr zeichnet sich folgendes Panorama ab: 1. Die Heimatstandorte bleiben für die überwiegende Zahl der Konzerne Mittelpunkt ihrer Unternehmensstrategien. 18

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2. Nationale und regionale Verflechtungen (z.B. innerhalb der EU) sind auch Mitte der 90er Jahre in den meisten Sektoren (Ausnahme: z.B. Chemie) typischer als in Weltbinnenmärkten operierende „staatenlose" Unternehmen. Hieraus ergibt sich für Lateinamerika und insbesondere den MERCOSUR, daß eine Vertiefung und Verbreiterung der regionalen Kooperation bedeutend ist. 3. Direktinvestitionen konzentrieren sich auf relativ wenige, technologisch und institutionell weit entwickelte Standorte, so daß der Standortwettbewerb um Direktinvestitionen im wesentlichen zwischen den OECD-Ländern und einigen rasch aufholenden neuen asiatischen Industrieländern stattfindet. Für Deutschland ist das im Prinzip eine gute Nachricht - wenn überfällige institutionelle Strukturreformen zur Stärkung der Innovationskraft in Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt werden. Die populäre Warnung vor der „Billiglohnkonkurrenz" ist völlig überzogen. 4. In Entwicklungsländern werden überwiegend nur technologisch wenig anspruchsvolle Arbeitsprozesse mit geringer Wertschöpfung ausgelagert oder ressourcenorientierte Produktionsanlagen (z.B. Bergbau) aufgebaut; so entfallen Mitte der 90er Jahre zum Beispiel nur 6% der industriellen Auslandsproduktion deutscher multinationaler Unternehmen auf Niedriglohnländer. Für Lateinamerika bedeutet dies, daß nur eine Orientierung der Ökonomien in Richtung höhere Wertschöpfung eine erfolgversprechende Integration in den weltwirtschaftlichen Kontext verspricht. Der Weg in diese Richtung ist, wie empirische Studien zeigen, steinig und lang (Eßer 1995/1997, MeyerStamer 1996a, Meyer-Stamer et al. 1996, Messner/Scholz, Garcia/Messner 1997).

4. Neoliberalismus als alternativloses Konzept im Standortwettbewerb? In Deutschland und Lateinamerika werden Standortdebatten geführt. In Deutschland geht es um die Frage, wie das hohe technologische Niveau der Wirtschaft erhalten bzw. wiedergewonnen werden kann, um als Hochlohnland in der Weltwirtschaft bestehen zu können; neoliberale Konzepte haben Konjunktur. Lateinamerika befindet sich nach jahrzehntelanger einseitiger Binnenmarktorientierung in einer schwierigen Phase des Umbruchs, in der der Aufbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen gelingen muß. In nahezu allen Ländern der Region werden seit Anfang der 90er Jahre einseitig wirtschaftsliberale Strategien umgesetzt. Es zeigt sich, daß neoliberale Politiken zwar zur monetären Stabilisierung der Ökonomien beitragen, der Aufbau nationaler technologischer Kompetenz und industrieller Wettbewerbsfähigkeit jedoch kaum vorankommt. Die neoliberale Antwort auf die Globalisierung lautet (Edwards 1995): • Die global wirkende Marktdynamik sowie (multinationale) Unternehmen sind die beiden Kräfte, die die weltwirtschaftliche Dynamik bestimmen und für Wohlfahrt sorgen; politische Eingriffe sollten vermieden werden. In der globalisierten Ökonomie ist wirtschaftspolitische Steuerung weitgehend unwirksam (World Bank 1993). • Nationale Ökonomien müssen sich durch weitgehende Liberalisierung, Deregulierung und Flexibilisierung an die neuen weltwirtschaftlichen Realitäten anpassen. • Wettbewerbsfähigkeit entsteht quasi automatisch durch die Stärkung der Marktkräfte und den Abbau staatlicher Regulierungen. Hinter diesem Programm steckt mehr als nur die (oft sinnvolle) Aufforderung zum Abbau Wachstums- und beschäftigungshinderlicher bürokratischer Hürden und zur Durchsetzung von Zukunftsinteressen gegen gut organisierte, besitzstandswahrende und 19

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strukturkonservative Gegenwartsinteressen. Das „neoliberale Zukunftsprojekt" ist erstens durch ein umfassendes Marktvertrauen geprägt. Zweitens wird mit dem Hinweis auf die Globalisierung das Primat der Politik und die Notwendigkeit der sozialen und ökologischen Gestaltung von Märkten generell in Frage gestellt (z.B. Ohmae 1990). Die Lehre der vergangenen Dekaden, daß die Demokratie nicht zuletzt auf dem Schutz der Bürger vor destruktiven Marktprozessen und dem Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlierern am Markt basiert, wird aufgegeben. 5. Strategien zur Stärkung systemischer Wettbewerbsfähigkeit Das wirtschaftsliberale Konzept wird den neuen Anforderungen in der Weltwirtschaft nicht gerecht - dies gilt sowohl für Deutschland als auch für Lateinamerika. Am wettbewerbsstärksten sind vielmehr jene Länder, die aktiv Standort- und Wettbewerbsvorteile schaffen (OECD 1992, Porter 1990, Meyer-Stamer 1996, Foray/Lundvall 1996). In der Weltwirtschaft erweisen sich solche Ökonomien als am leistungsfähigsten, deren Institutionen es gelingt, schnelle und effektive Lern- und Entscheidungsprozesse zu organisieren und den Wirtschaftsstandort neuen Anforderungen entsprechend zu gestalten. Politiken der aktiven Standortgestaltung gewinnen an Bedeutung. Wettbewerbsfähigkeit basiert nicht nur auf der Leistungsfähigkeit von Unternehmen, sondern auch auf national unterschiedlichen Institutionen und dem spezifischen Umfeld von Unternehmen (der Mesoebene) - Wettbewerbsfähigkeit hat einen systemischen Charakter (Eßer et al. 1996 und 1997, Messner 1995). Grundlegend sind: die Ausgestaltung der physischen Infrastruktur (Verkehrs-, Kommunikations- und Energiesysteme), Bildungs-, Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitiken, die Entwicklung branchenspezifischer Infrastrukturen sowie die aktive Gestaltung der Handelspolitik (z.B. Umwelt- und Sicherheitsnormen). An Bedeutung gewinnen die regionale und die kommunale Dimension innerhalb von Ländern, da durch enge Kooperation zwischen Regional- und Kommunalverwaltungen, Forschungseinrichtungen und lokal ansässigen Unternehmensgruppen die Qualität von Wirtschaftsstandorten deutlich verbessert werden kann. Aktive Wirtschaftspolitik zum Aufbau tragfähiger Wirtschaftsstrukturen ist demnach auch im Kontext der Weltwirtschaft möglich und notwendig. Die Alternative zu dieser Option sind passive Anpassungsstrategien (Lohnsenkung, Abbau sozialer Sicherungssysteme, Steuersenkungswettlauf). Da in vielen Feldern Standortpolitiken ohne aktive Mitwirkung von Unternehmen oder auch Wissenschaft und Gewerkschaften wenig effektiv ausfallen (z.B. berufliche Bildung, Innovationspolitik), müssen traditionelle staatliche Steuerungsmuster (Entscheidungsprozesse von oben, planungsstaatliche Ansätze) verändert werden. Der Staat agiert in der Standortpolitik vor allem als Impulsgeber und Moderator zwischen Unternehmen, ihren Verbänden, Wissenschaft und intermediären Institutionen, um im Dialog Schwachstellen zu ermitteln, Handlungsspielräume auszuleuchten sowie mittelfristige Visionen zu erarbeiten, die als Orientierungshilfe für staatliche Standortpolitiken und private Initiativen dienen. Da Wettbewerbsvorteile immer stärker auf Technologie, Wissen und raschem Informationsfluß basieren, muß Standortpolitik ein kontinuierlicher Prozeß sein, der darauf ausgerichtet ist, Leistungs- und Kreativitätspotentiale auf unterschiedlichen Systemebenen der Gesellschaft (z.B. in Unternehmen, öffentlichen Institutionen, Bildungseinrichtungen, Universitäten) zu mobilisieren und weiterzuentwickeln. Der umweltverträgliche Umbau der Wirtschaft sollte Kernbestandteil einer solchen Innovationsstrategie sein (Stärkung der Energie- und Ressourceneffizienz). Diese vielschichtigen institutionellen,

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organisatorischen und sozialen Herausforderungen sind durch Marktsteuerung allein nicht zu bewältigen. Die Stärke des deutschen Standortes basierte in den vergangenen Dekaden auf einem spezifischen institutionellen Design (z.B. dem dualen Berufsbildungssystem, leistungsfähigen Universitäten, engen Netzwerken von Technologieinstitutionen, kooperativen Beziehungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften) und einem gut entwikkelten Untemehmensumfeld in Branchen, die spätestens seit den 80er Jahren an Bedeutung verlieren (z.B. Stahlindustrie). Neue Technologien, neu entstehende Industrie- und Dienstleistungssektoren (z.B. Multimedia, Elektronikbranchen), sich verändernde Organisationsmuster in den Unternehmen und Verkrustungen in den öffentlichen Institutionen machen umfassende Anpassungsprozesse in der „Mesodimension" der deutschen Wirtschaft erforderlich (Meyer-Stamer 1996). Institutionelle Innovationen und Modernisierungen (z.B. im öffentlichen Sektor, den Universitäten, den Forschungs- und Bildungseinrichtungen, den Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften) stehen aus. In Lateinamerika steht eine grundlegende Weichenstellung an. Wird der Umbau der Ökonomien wirtschaftspolitisch weiterhin nur durch makroökonomisches Management begleitet und auf aktive Strategien zum Aufbau nationaler Wettbewerbsvorteile weitgehend verzichtet, ist es wahrscheinlich, daß der Kontinent einen stark ressourcenbasierten Entwicklungspfad einschlägt und keine wertschöpfungsintensiven Branchen etabliert werden können. Chile befindet sich auf diesem Weg, der durchaus Wachstum erlaubt, aber zu einer prekären Integration in die Weltwirtschaft führt. Um es plakativ auszudrükken: Südkorea, Taiwan und demnächst auch Thailand, Malaysia und Indonesien exportieren Computer, mikroelektronische Geräte und Kapitalgüter - Chile guten Wein, wohlschmeckende Trauben und Äpfel sowie Zellulose: .Die Entwicklungsvorteile, die Lateinamerika nutzt (Export von Rohstoffen und rohstoffbasierten Industriegütern...) können leicht zu Entwicklungshemmnissen werden, indem sie den Akteuren Chancen einräumen, auf soft options, ineffiziente Formen der Kapitalvenwendung und spekulative Bewegungen als Kapitalanleger, zu setzen. [...] Es ist nicht unwichtig, welche Leitbilder die Akteure wählen: Die in Ost- und Südostasien orientieren sich am Industrialisierungsmuster Japans, viele Akteure in Lateinamerika am Konsummuster Kaliforniens oder Miamis sowie an Varianten neoliberaler Makrotheorie von US-Universitäten" (Eßer 1996, S. 520/521).

II. Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland, der Europäischen Union und Lateinamerika 1. Deutsche und europäische Unternehmen in Lateinamerika Das Engagement der deutschen und europäischen Unternehmen in Lateinamerika sowie dem MERCOSUR läßt sich durch folgende Strukturmerkmale beschreiben: 1. Die deutschen und europäischen Unternehmen sind - z.B. im Gegensatz zu den USUnternehmen - nahezu ausschließlich im Industriesektor tätig. Das Interesse der europäischen Unternehmen am Standort Lateinamerika korreliert entsprechend mit Industrialisierungsfortschritten in der Region, die sich derzeit kaum abzeichnen. 2. Zwischen 1990 und 1994 stiegen die europäischen Direktinvestitionen nach Lateinamerika im Vergleich zu 1985-89 von US$ 6,3 Mrd. auf US$ 10,4 Mrd. (jeweils ku21

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muliert). Ihr Anteil an den Gesamtinvestitionen sank jedoch von 53,7% auf 22,6%, während der der USA von 39,9% auf 73,2% anstieg. 80% der europäischen Direktinvestitionen kommen aus fünf EU-Ländern (Spanien, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland; die Reihenfolge entspricht der Bedeutung als Herkunftsländer der Direktinvestitionen); der Anteil Deutschlands an den europäischen Investitionen liegt bei 20% (IRELA 1996). Europäische und insbesondere deutsche Unternehmen partizipieren demnach nur unterproportional am Direktinvestitionsboom der 90er Jahre in Lateinamerika. Insgesamt verliert Lateinamerika als Standort für deutsche Investitionen an Bedeutung. Zwar entfällt das Gros der deutschen Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern noch immer auf Lateinamerika, der Anteil der Neuinvestitionen in Lateinamerika an den gesamten Direktinvestitionen sank jedoch von Anfang bis Ende der 80er Jahre von 10% auf etwa 2% (Nunnenkamp/Agarwal 1993). 3. Über die Hälfte der 60 europäischen Unternehmen mit dem höchsten Umsatz in Lateinamerika sind in Brasilien konzentriert (34 Unternehmen), 18 in Argentinien, aber nur fünf in Mexiko und drei in Chile. Von den genannten 60 Tochtergesellschaften stammen ein Drittel aus Deutschland, zehn aus Großbritannien und acht aus Italien. Die europäischen Unternehmen sind damit überwiegend in den fortgeschrittenen lateinamerikanischen Ländern präsent. Die europäischen Unternehmen sind, angesichts ihres großen Engagements in Brasilien, einem Land, das sich noch in einer schwierigen Transitionsphase befindet, und in Argentinien, einer Ökonomie, in der die aktuelle Wirtschaftspolitik noch wenig dazu beiträgt, die Dynamik der Industrieproduktion und von Industrieexporten zu erhöhen, mit beachtlichen Anpassungsproblemen konfrontiert. 4. Von den 100 umsatzstärksten in- und ausländischen Unternehmen in Lateinamerika waren Anfang der 90er Jahre nur 16 europäische Tochterunternehmen. 5. Zu den 100 exportstärksten lateinamerikanischen Unternehmen gehörten Anfang der 90er Jahre nur sieben europäische Konzerne; auf sie entfielen weniger als 5% der Exporte dieser Gruppe. 6. Im Rahmen der laufenden Privatisierungen in Lateinamerika wurden insbesondere Dienstleistungsunternehmen (Fluggesellschaften, Telekommunikations- und Energieunternehmen, Banken, Verkehrsgesellschaften) an in- und ausländische Unternehmen verkauft. Insgesamt haben sich die europäischen Konzerne (Ausnahme: Spanien) nur wenig an den Privatisierungen beteiligt; dies gilt insbesondere für deutsche Unternehmen (Bundesstelle für Außenhandelsinformation 1997). Dieses fehlende Engagement könnte sich aus zwei Gründen ungünstig auf die Position der europäischen Unternehmen in Lateinamerika auswirken: Einerseits entwickeln sich gerade die Dienstleistungssektoren sehr dynamisch, andererseits intensivieren sich die Verflechtungen zwischen Dienstleistungs- und Industriesektor. Da die europäischen Aktivitäten stark industrieorientiert sind, hätten hier Synergieeffekte genutzt werden können. Als Gesamteindruck wird deutlich, daß die deutschen und europäischen Investoren seit Mitte der 80er Jahre nicht zu den bedeutendsten global players in Lateinamerika gehören. Die Größennachteile, die Exportschwächen sowie die geringe Partizipation an den Privatisierungsmaßnahmen verweisen darauf, daß die in Lateinamerika tätigen europäischen Unternehmen stark durch das einseitig binnenorientierte Industrialisierungsmodell geprägt sind und daher vor entsprechenden Anpassungsprozessen stehen. Zugleich darf nicht übersehen werden, daß das Engagement der europäischen Unternehmen durch Investitionsmotive beeinflußt wird, die sich an weltweiten Veränderungen und

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globalen Unternehmensstrategien ausrichten. Folgende Aspekte sind für viele europäische Großunternehmen zentral: 1. Die Veränderungen in Europa wirken sich auf die Investitionsstrategien der europäischen Unternehmen aus. Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes hat die Investitionsbedingungen im EU-Raum verbessert, die bevorstehende Währungsunion erhöht die Attraktivität des gemeinsamen Marktes weiter. Außerdem nehmen die Bemühungen europäischer und insbesondere deutscher Unternehmen zu, zukunftsfähige Formen der Arbeitsteilung mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zu entwikkeln. Auch wenn dieser Prozeß noch am Anfang steht, wird deutlich, daß die ost- und mitteleuropäischen Länder als Rohstoffexporteure und Zulieferer für einfache Chemikalien, Stahl und andere schwerindustrielle Produkte an Bedeutung gewinnen. Mittelosteuropäische Länder können als Standorte für Lohnveredelungsaktivitäten (ähnlich wie Mexiko für US-Unternehmen) in Frage kommen. 2. Die Standortqualität der ost- und südostasiatischen Länder ist gegenwärtig größer als die Lateinamerikas. Die asiatischen Länder haben seit den 80er Jahren in großem Stil in Forschung und Entwicklung sowie Bildung und technische Ausbildung investiert. In Lateinamerika fielen und fallen die Investitionen in wirtschaftsrelevante Forschungsund Bildungsbereiche sowie die materielle und immaterielle Infrastruktur insgesamt gering aus. Die Standortattraktivität der asiatischen Länder ist zudem aufgrund der hohen Wachstumsdynamik in der gesamten Region groß. 3. Die europäische Integrationsdynamik, die neuen Möglichkeiten in den ost- und mitteleuropäischen Ländern sowie die Attraktivität der asiatischen Wachstumsregion könnten zu einer Reduzierung der europäischen Investitionen in Lateinamerika führen. Entscheidend für das zukünftige Interesse europäischer Unternehmen in Lateinamerika werden jedoch die Dynamik des wirtschaftlichen Umbruchs und die Charakteristika des neuen Entwicklungspfades in Lateinamerika selbst sein. Derzeit deutet sich in der Mehrzahl der Länder die Konsolidierung eines stark ressourcenbasierten Spezialisierungsmusters ab (z.B. in Argentinien und auch in Chile). Sollte sich dieser Trend fortsetzen, dürfte Lateinamerika als Standort für europäische Konzerne eher an Bedeutung verlieren. Entscheidend wird sein, ob sich in Brasilien ein stärker industrieund technologiebasiertes Wachstumsmuster durchsetzt und dieses auf die Nachbarländer, also die Agglomerationszentren zweiter und dritter Ordnung, ausstrahlen kann. Europäische Unternehmen werden wenig Interesse an Lohnveredelungsaktivitäten in Lateinamerika zeigen. Wichtiger wird - auf der Nachfrageseite - die Dynamik der Binnennachfrage (also die Größe der Märkte und deren Wachstum) sein; aus diesem Grund ist die Herausbildung des MERCOSUR und von NAFTA ein wichtiger Investitionsanreiz. 2. Strukturmerkmale der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland, der EU und Lateinamerika 1. Die Exporte der lateinamerikanischen Länder sind weiterhin durch Produkte mit relativ geringer Wertschöpfung geprägt. Die Industriegüterexporte Lateinamerikas betragen Mitte der 90er Jahre etwa US$ 80 Mrd. und damit ca. 2,5% der Weltindustriegüterexporte (dies entspricht ziemlich exakt dem Volumen der Industriegüterexporte Südkoreas). Darüber hinaus bleibt festzuhalten, daß es sich bei den Industriegüterexporten überwiegend um Produkte niedriger Technologieintensität handelt. Augenscheinlich ist jedoch auch, daß sich die europäischen Ausfuhren nach Latein-

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amerika auf die .klassischen Industriegüter" konzentrieren. Japanische und USamerikanische Exporteure sind im lateinamerikanischen Raum stärker mit Hochtechnologieprodukten präsent, und die asiatischen Schwellenländer machen deutschen Unternehmen in ihren .angestammten" Bereichen Konkurrenz (Beispiel: Textilmaschinen aus Taiwan). D.h., in Lateinamerika und den EU-Ländern bestehen offensichtlich Angebotsschwächen. Aus deutscher Perspektive wäre es bedeutend, in welchem Umfang deutsche (Maschinenbau-)Unternehmen an dem derzeit stattfindenden Modernisierungsprozeß partizipieren können, der nahezu die gesamte lateinamerikanische Industrie umfaßt. Hier werden die Kooperationspartner für die Zukunft festgelegt. Zwar wuchsen die Exporte der EU (Deutschlands) nach Lateinamerika zwischen 1990 und 1995 um etwa 13% p.a. (8%), die Ausfuhren Japans, der asiatischen neuen Industrieländer und der USA jedoch um über 20% (WTO 1996). Die EU und Deutschland verlieren also Marktanteile in Lateinamerika. Beide Seiten müßten an einer Intensivierung und qualitativen Vertiefung der Handelsbeziehungen interessiert sein. Dies gilt insbesondere auch für die EU, die seit Anfang der 90er Jahre erkennt, daß die starke europäische Binnenorientierung auch im Handelsbereich ergänzt werden muß um aktive Strategien, um in allen dynamischen Märkten der Weltwirtschaft präsent zu sein. Die EU-Agrarmarktordnung bleibt ein Exporthindernis für lateinamerikanische Exporteure (Stichworte: Nahrungs- und Futtermittel, Bananen- und Apfelprotektionismus). Hierunter leidet das europäische Image in der Region, und dies in einer Phase, in der sich der Kontinent zur Weltwirtschaft öffnet und seine Partner der Zukunft auswählt. Deutlich ist, daß sich viele lateinamerikanische Wirtschaftsakteure stärker in Richtung USA und Asien orientieren - einer Wachstumsregion, die allerdings auch nicht unbedingt als Musterbeispiel für Freihandelsorientierungen steht. Verschiedene Untersuchungen zeigen, daß die Vollendung des europäischen Binnenmarktes insgesamt weder zu größeren Vorteilen noch zu größeren Nachteilen für lateinamerikanische Länder führt. Ein Nachteil für Lateinamerika ergibt sich ohne Zweifel daraus, daß die Länder Mittelosteuropas, die eine ähnliche Produktionsstruktur wie die fortgeschrittenen lateinamerikanischen Ökonomien aufweisen, in der EUPräferenzordnung weiter nach vorn gerückt sind. Die mittelosteuropäischen Länder konkurrieren mit den lateinamerikanischen Exporteuren in den Bereichen Textil, Stahl und Agrargüter und verfügen aus politischen Gründen sowie wegen der niedrigeren Transportkosten über Wettbewerbsvorteile. Diese Konstellation drückt sich darin aus, daß der Anteil Lateinamerikas an den EU-Importen Mitte der 90er Jahre bei etwa 5% stagniert, derjenige der östlichen Reformländer jedoch allein zwischen 1990 und 1992 von 2,7% auf 7,5% anstieg. Den Handelsbeziehungen mit dem MERCOSUR kommt aus EU-Perspektive besondere Bedeutung in den europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen zu: Mitte der 90er Jahre gehen 45% der EU-Exporte nach Lateinamerika in den MERCOSUR und 53% der EU-Importe aus Lateinamerika kommen aus dem MERCOSUR. 27% der Importe des MERCOSUR entfallen auf die EU (USA 23%). Die EU-Kommission hat beschlossen, mit den MERCOSUR-Ländern ein Rahmenabkommen über Handel und Wirtschaftskooperation anzustreben, das bis zum Jahr 2001 in Kraft treten soll. Nach Berechnungen der Kommission könnte der Anteil der EU am Außenhandel des MERCOSUR von derzeit 27% ohne den Abschluß auf etwa 22% sinken, bei Abschluß jedoch auf 36% ansteigen (European Commission 1994).

Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

Aus einer deutschen handelspolitischen Perspektive wird deutlich, daß Lateinamerika (z.B. im Vergleich zu Asien) keinen absolut prioritären Exportmarkt darstellt. Dennoch: Gerade weil in Lateinamerika derzeit ein weitreichendes Modernisierungsprogramm umgesetzt wird und eine Erneuerung der gesamten Infrastruktur ansteht, sollte sich die deutsche Wirtschaft auf ihre alten Stärken - insbesondere im Kapitalgüterbereich - besinnen. Wird hier der Anschluß verpaßt, werden auch zukünftige Aufträge (Erweiterungsund Ersatzinvestitionen, Wartung und Dienstleistung) an deutschen Anbietern vorbeigehen. 3.

Felder zukünftiger Zusammenarbeit zwischen Deutschland, der EU und den lateinamerikanischen Ländern

Die beiden Regionen haben nicht nur gemeinsame Interessen und Ziele (z.B. Demokratie, Menschenrechte, Ausgestaltung der Weltwirtschaft), sondern stehen auch vor gemeinsamen Problemen und Herausforderungen (Eßer 1994). 1. Die Staaten Lateinamerikas stehen nach ihrer Importliberalisierung ebenso wie die Länder Europas im Wettbewerb mit Asien und den USA. In Lateinamerika und in Europa hat sich die Sektorstruktur der Wirtschaft, damit auch die Exportstruktur, im Vergleich zu Ostasien und den USA zu langsam verändert. 2. Beide Regionen müssen Innovationsstrategien in den Mittelpunkt ihrer Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Integrationspolitik stellen, um nicht in eine Wachstums- und Außenwirtschaftsfalle zu laufen. In Europa und Lateinamerika ist ein offensives Vorgehen zur Einordnung in die internationale Standortkonkurrenz sowie zur Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu den anderen Weltregionen erforderlich - nicht ein sich angesichts unzureichender Innovationsdynamik verschärfender Protektionismus. Beide Regionen müssen also eine tragfähige technologisch-industrielle Vision für die nächsten Jahrzehnte entwerfen, um die Wirtschafts- und Strukturpolitik so weiterzuentwickeln, daß ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit in zukunftsorientierten Industrie- und Dienstleistungssektoren schnell wächst. 3. Beide Regionen sind gezwungen, die neuen Technologien (Informations- und Kommunikationstechnologien, Biotechnik, neue Werkstoffe, Energiesysteme) in ihre wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Entwicklung einzuordnen und sich den umweltpolitischen Herausforderungen (Stichworte: Stoffstromreduzierung, Umwelt-Effizienzrevolution) zu stellen. Erst dadurch entstehen zukunftsträchtige Entwicklungspfade und ausreichende Wettbewerbspotentiale. 4. In beiden Regionen gibt es bisher keine ausreichende Klarheit über den politischinstitutionellen Mechanismus, um die neuen Anforderungen durch eine Bündelung der regionalen Kräfte zu bewältigen. Auch für die mittelgroßen EU-Länder besteht ein im nationalen Rahmen allein immer weniger überwindbares Problem darin, daß Vorstöße in verschiedenen hochtechnologischen Feldern überaus hohe finanzielle Mittel erfordern. Hier liegt eine wichtige Begründung der europäischen Integration. Um wieviel wichtiger ist die Bedeutung der Integration in Lateinamerika. Aus diesen gemeinsamen Orientierungen und Problemen könnten sich für die deutsche und europäische Entwicklungszusammenarbeit folgende wichtige Felder ergeben (Eßer 1994): 1. Gestaltung der neuen Wirtschaftsordnung: Die Entwicklung der neuen Wirtschaftsordnung ist in Lateinamerika noch keinesweg abgeschlossen. Zwar werden die wichtigsten Rahmenbedingungen von den Regierungen der Länder Lateinameri-

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kas selbst, nicht selten allerdings mit Unterstützung durch IWF, Weltbank und IDB gestaltet; in einigen Politikfeldern, etwa der Wettbewerbs-, Lohn- und Arbeitsmarktpolitik und der Verbraucherschutzgesetze, können sich jedoch deutsche und europäische Beiträge als nützlich erweisen. Staatsreform: Die Staatsreform wird sich in Lateinamerika über einen längeren Zeitraum hinziehen; in fast allen Ländern steht die institutionelle Reform erst am Anfang. Die Entbürokratisierung, die Verwaltungsreform und ganz besonders die Dezentralisierung stoßen auf erhebliche Hemmnisse. Die positiven wie negativen Erfahrungen mit dem deutschen föderalen System sind angesichts der Dezentralisierungsanstrengungen in Lateinamerika besonders interessant. Auch die Entwicklung einer neuen Gesellschaftsordnung befindet sich in der ersten Phase. Dies gilt insbesondere für die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen (Grundrechte, Rechtssicherheit, rechtsstaatliche Justiz, Partizipation intermediärer Organisationen, Meinungs- und Informationsfreiheit). In beiden Reformbereichen, der Staats- und Gesellschaftsreform, ist deutsche und europäische Unterstützung wichtig; dies gilt vor allem für die Verwaltungsreform, die Dezentralisierung und den Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz. Strukturierung der Meso-Dimension: Engagement der deutschen und europäischen EZ zur Strukturierung des Meso-Raums in den Ländern Lateinamerikas ist aus drei Gründen wichtig: Die Länder Europas besitzen erstens in diesem Bereich eine große Erfahrung und damit Angebotsstärken. Der Meso-Raum wird dagegen von manchen anderen Gebern vernachläßigt. In Lateinamerika kommt es zweitens wie in Europa zu einer (sub)regionalen Kooperation in Bildung und Forschung. Die Tochtergesellschaften europäischer Industrieunternehmen in Lateinamerika besitzen drittens großes Interesse an einer schnellen Entwicklung der Meso-Institutionen; sie würden die Erfolgschancen ihrer Umstrukturierungsprozesse erhöhen. Entwicklung der sozialen Dimension der Marktwirtschaft: Die deutsche und europäische EZ sollte zur Gestaltung eines komplexen Sets von Politiken beitragen, die auf eine schnelle soziale Basissicherung und eine wachsende Beschäftigung gerichtet sind. Auch im sozialen Sektor kann sie die eigenen Angebotsstärken nutzen, zum Beispiel zwecks Entwicklung einer tragfähigen Sozialversicherung oder zum Aufbau einer Sozialpartnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital. Darüber hinaus sind Anstöße zur Organisation der armen Bevölkerung wichtig, nicht zuletzt um Demokratie zu stärken. Entwicklung der ökologischen Dimension der Marktwirtschaft: Die deutsche und europäische EZ sollte die Entwicklung einer möglichst vorsorgeorientierten Umweltpolitik und den Aufbau staatlicher Umweltbehörden unterstützen sowie leistungsfähige gesellschaftliche Akteure in diesem Bereich (Institutionen der Wirtschaft, Verbraucherorganisationen und private Umweltverbände) zeitlich begrenzt fördern. Regionale Kooperation und Integration: Die deutsche und die europäische EZ sollte die (sub)regionale Kooperation und Integration auch im Interesse der EULänder selbst fördern: Ein offener, konstruktiver Regionalismus - im Norden und im Süden - kann zu einem Abbau der Störungen im multilateralen Handelssystem sowie zur Stabilisierung und politischen Ausgestaltung der Weltmarktwirtschaft beitragen. Aus der Sicht Lateinamerikas sind die Erfahrungen der EU als dem weltweit fortgeschrittensten und ambitioniertesten regionalen Integrationsprojekt bedeutend. Die EU kann als Laboratorium für den Versuch gelten, angesichts der Globalisierung der Ökonomie auch die Reichweite der Politik über eng gewordene nationale Grenzen hinaus zu erweitern. Die EU verdeutlicht jedoch auch alle Probleme und Fallstricke

Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

eines solchen Projekts: Bürokratisierung, Koordinationsschwierigkeiten zwischen lokaler, nationaler und EU-basierter Politik, Verlust nationaler Identitäten. Die Skizzierung potentieller Felder der Zusammenarbeit darf nicht als Aufforderung zu einer wirkungslosen „Bauchladen-EZ" mißverstanden werden. Sinnvoll wäre es vielmehr, die existierende Vielzahl isolierter Projekte der Entwicklungszusammenarbeit zu überwinden, sich auf sehr wenige Kooperationsfelder zu konzentrieren, also Schwerpunktbildung voranzutreiben, und profilierte, signifikante Beiträge zur Strukturbildung in den lateinamerikanischen Ländern zu leisten (Hillebrand/Messner/Meyer-Stamer 1993). Gerade weil Lateinamerika für Deutschland und die EU kein prioritärer Raum ist und auch Lateinamerika nicht ausschließlich auf privilegierte Beziehungen zu der EU setzen darf, kann ein ernsthafter Politikdialog, der die Auseinandersetzung über wirtschafts- und gesellschaftspolitische Leitbilder einschließt, von gemeinsamen Interessen ausgeht und gemeinsame Stärken und Schwächen berücksichtigt, erfolgreich und dynamisch verlaufen. Hier sind Politik, Wissenschaft, gesellschaftliche Organisationen und Kulturinstitutionen gefragt. Ein solch zukunftsgerichteter Dialog wäre - nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systemalternative - für beide Seiten ein interessanter Beitrag zu der notwendigen Auseinandersetzung über unterschiedliche Typen von Marktwirtschaft und tragfähige gesellschaftliche Organisations- und Steuerungsmuster, mit denen die Probleme des nächsten Jahrhunderts bewältigt werden können. Die Diskussionen im Rahmen des G 8-Gipfels in Denver (im Sommer 1997) zwischen den USA, die die Wachstumserfolge der vergangenen Jahre feierten und ihr liberales Marktwirtschaftskonzept als weltweites Vorbild vorschlugen, und den Europäern, die auf die massiven Prozesse sozialer Exklusion in den USA verwiesen, aber auch vor der Notwendigkeit einer schwierigen Umstrukturierung ihrer Wohlfahrtsstaaten stehen, zeigen, daß die Auseinandersetzungen über die Zukunft der Marktwirtschaft(en) erst begonnen haben. Patentlösungen gibt es nicht; Handlungsoptionen müssen unter den Bedingungen der „neuen" Weltwirtschaft und der tiefgreifenden technologisch-organisatorischen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft neu ausgelotet werden. Der oft eher einer „Belehrungskultur' verhaftete Politikdialog im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit könnte in Richtung einer Herausbildung von „Lerngemeinschaften" weiterentwickelt werden.

III. Zukunftsaufgabe internationaler Zusammenarbeit: Der globale Markt braucht ordnungspolitische Leitplanken und mehr wirtschaftspolitische Koordination 1.

Das Institutionengeflecht der Weltmarktwirtschaft - Die untersteuerte Weltmarktwirtschaft

Angesichts der Globalisierung der Ökonomie kann und darf Wirtschaftspolitik nicht mehr auf den nationalstaatlichen Rahmen reduziert bleiben. Der Weltmarkt ist längst nicht mehr nur ein Ort des grenzüberschreitenden Austausches von Gütern, Kapital und Personen, sondern umfaßt auch ein Ensemble von Institutionen, die in ihrer Mehrzahl in der Phase nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Bei den bedeutenden internationalen Regulierungsinstanzen der Weltwirtschaft (insbesondere IWF, Weltbank, GATT/ WTO) handelt es sich jedoch erstens um „Markt'institutionen, die vor allem darauf ausgerichtet sind, die weltweiten Liberalisierungsprozesse weiter voranzutreiben, also politi27

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sehe Regulierungen abzubauen; zweitens unterliegen diese Institutionen kaum demokratischer Kontrolle, so daß sie - im Gegensatz zu Regulierungsinstanzen demokratischer Nationalstaaten - keinem öffentlichen Legitimationsdruck unterliegen. Aus diesen Gründen können die existierenden internationalen Institutionen derzeit die sich verengenden Spielräume für nationalstaatliche Steuerung nicht kompensieren: Während demokratisch legitimierte Institutionen in den westlichen Nationalstaaten auf die Gestaltung und zuweilen auch Begrenzung der Marktwirtschaft ausgerichtet waren und sind (z.B. wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme zur Abfederung der Instabilitäten der Marktwirtschaft, Korrektur nicht erwünschter Verteilungseffekte der Marktallokation, Umweltregulierungen), fungieren die wichtigen internationalen Institutionen eher als Motor universeller Liberalisierung (Altvater/Mahnkopf 1996). Daß heißt: Der Globalisierungsprozeß führt zur Verengung nationaler politischer Gestaltungsspielräume, zugleich sind im Rahmen wirtschaftsliberaler Strategien in vielen Ländern auf nationalstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene Regulierungsmechanismen abgebaut worden (dies gilt ausgeprägt für Lateinamerika in den 90er Jahren; weniger ausgeprägt, aber im Trend auch für Deutschland), ohne daß auf internationaler Ebene regulierende Institutionen mit angemessenen Monitoring-, Kontroll- und Regulierungsmechanismen ausgestattet worden wären. Dabei ist unstrittig, daß Privatisierungen und der Abbau von Bürokratie und Überregulierung Beiträge zur Überwindung der Wirtschaftsund Beschäftigungskrisen in vielen Ländern leisten können. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob der Gestaltungsanspruch der Politik gegenüber der Ökonomie aufrechterhalten bleibt oder - wie aus neoliberaler Perspektive - der Markt zum möglichst wenig regulierten Motor weltweiter ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung erklärt wird. Die internationalen Institutionen und Regime, die zur sozialen und umweltpolitischen Ausgestaltung der Weltwirtschaft beitragen könnten (wie z.B. die ILO im Bereich sozialer Rechte, die Umweltkonventionen, die durch den Rio-Prozeß angestoßen wurden), verfügen entweder über zu geringe Handlungskompetenzen und Sanktionsmechanismen oder werden von den wichtigen Akteuren der Weltwirtschaft (z.B. der G 8, multinationalen Konzernen) weder ernst genommen noch gestärkt (vgl. soziale Dimension: Kapstein 1996; vgl. Umwelt: Loske 1996). Die Weltmarktwirtschaft ist untersteuert und institutionell unterentwickelt. Hieraus entsteht eine Reihe von Problemen, die Nationalstaaten im Alleingang nicht lösen können: • Die Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten wird in wichtigen Feldern zunehmend eingeschränkt. Öko- und Sozialdumping drohen, und selbst der IMF verweist auf die Gefahr unkontrollierbarer Steuersenkungswettläufe zwischen den Staaten, mit der Folge chronischer öffentlicher Fiskalkrisen. Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen und Kapitaleinkommen wird aufgrund der Internationalisierung der Finanzmärkte und fehlender Kooperation zwischen den Nationen immer schwieriger (Tanzi 1996). Das Beispiel Deutschland: Der Anteil der Einkommens- und Körperschaftssteuer am BSP ist zwischen 1990 und 1994 von 2,8 auf 1,4% gesunken (1950: 3,6%). Der Anteil der Lohnsteuer der abhängig Beschäftigten am BSP dagegen stieg seit 1950 von 1,8% auf heute 7-8%. • Die internationalen Finanzmärkte sind - worauf auch die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr aufmerksam macht - durch hohe Instabilitäten und zunehmende Risikotransaktionen gekennzeichnet; die Regulierungskapazitäten der nationalen Zentralbanken zur Stabilisierung der Weitfinanzmärkte sind beschränkt (BIZ 1996).

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

Institutionen der Weltwirtschaft

internationale Organisationen

Objekte der

Abteilungen d e s

und Institutionen

1) Internationaler Währungsfonds 2) Weltbank 3) Regionale Integrationsprojekte (EU etc.) 4) Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 5) Internationale Arbeitsorganisation der UN Entwurf D. Messner nach: Altvater/Mahnkopf 1996, S. 143

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Lateinamerika Jahrbuch 1997



Die Mexiko-Krise 1994/95 und der Zusammenbruch der Baring-Bank 1996 infolge mißglückter Spekulationsaktivitäten eines Bankangestellten waren hierfür eindringliche Beispiele. In der seit den 80er Jahren weitgehend deregulierten Weltwirtschaft muß das Primat der Politik wieder durchgesetzt und verankert werden. Ob und inwieweit soziale und ökologische Dimensionen des Welthandels in der WTO Berücksichtigung finden, ist eine der Fragen, die in diesem Kontext von großer Bedeutung sind (Kulessa 1995/ 1997, Braun 1995).

Diese Problemkonstellationen verweisen auf die zentrale Frage der Handlungsfähigkeit der Wirtschaftspolitik. „Politikwettbewerb" in einem weltwirtschaftlichen System, in dem die Staaten ohne ordnungspolitischen Rahmen gegeneinander antreten und beggar-my-neighbour-Strategien (wie kompetitive Währungsabwertungen oder auch Steuersenkungswettläufe) die Oberhand gewinnen, erhöht die Gefahr protektionistischer Reaktionen und einer Desintegration der Weltwirtschaft. Sie können nur durch Politikkoordination in der globalen Ökonomie verhindert werden: wirtschaftlicher Wettbewerb muß mit wirtschaftspolitischer Koordination, verläßlichen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und ordnungspolitischen Grund- und Mindestnormen verknüpft werden (Bergsten 1995, Nowotny 1997). 2. Stärkung wirtschaftspolitischer Koordination: Ein neues Feld für den Politikdialog und Ansätze für gemeinsames Handeln in der Weltwirtschaft Weil das Tempo der Globalisierung die Möglichkeiten der Regierungen übertrifft, notwendige ordnungspolitische Rahmenbedingungen für die Stabilisierung der (weltwirtschaftlichen Beziehungen im Alleingang zu schaffen, sind wirtschaftspolitische Koordination zwischen den Nationalstaaten und die Schaffung einer weltwirtschaftlichen Ordnungspolitik wichtige Zukunftsaufgaben. Unter dem Druck des Ost-West-Konfliktes waren die OECD-Staaten durchaus in der Lage, nationalstaatliche Egoismen zu überwinden und erfolgreiche Abstimmungsprozesse in der Währungs-, Zins- und Fiskalpolitik zu betreiben. Statt dessen setzen die G 8-Länder in den 90er Jahren zunehmend auf merkantilistische Deflationierungs-, Abwertungs-, Einkommensteuer-, Lohnsenkungs- und Sozialabbauwettläufe. Aufgrund fehlender wirtschaftlicher Koordination und Kooperation zwischen den Industrieländern droht der Standortwettbewerb soziale Standards und Löhne nach unten zu nivellieren nicht zuletzt mit der Gefahr, konzertiert rezessive Tendenzen zu verstärken. Vor diesem Kontext ist auch eine Ausweitung und Neuorientierung der deutsch/europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen sinnvoll. Europa und Lateinamerika könnten zu Bündnispartnern werden, um die Ausgestaltung der Weltwirtschaft voranzutreiben. 2.1. Die Gestaltung und Steuerung von Wirtschaftsprozessen ist auch in der Weltwirtschaft möglich und notwendig Oft wird behauptet, daß angesichts des zunehmenden Standortwettbewerbs die Chancen für wirtschaftspolitische Kooperation und Koordination zwischen den Nationalstaaten gering seien. Der Steuerungsverzicht ist jedoch eine politische Entscheidung und kein Naturgesetz, denn es gibt gute Gründe dafür, daß aus der Verdichtung und Bewußtwer-

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

dung ökonomischer Interdependenzen auch gemeinsame Interessen und Initiativen zu ihrer institutionellen Einbettung entstehen. Für ärmere und schwächere Ökonomien kann der Kooperationswille durch die Chance, aktiv an der Gestaltung der Weltwirtschaft mitwirken zu können und Zugang zu den finanziellen und immateriellen Ressourcen der internationalen Gemeinschaft zu bekommen, motiviert sein. Für die reichen und handlungsmächtigeren Länder und Akteure ist Kooperation ratsam, weil viele Probleme - wie z.B. Umweltprobleme - ohne die Länder des Südens und Ostens nicht gelöst werden können. Zudem sind auch sie auf Kooperation zur Blockierung globaler Abwärtsspiralen und Dumpingprozesse angewiesen. Wirtschaftspolitische Steuerung wird in der Weltmarktwirtschaft keineswegs unmöglich. Handlungsspielräume können auf fünf Ebenen mobilisiert werden (Hirst/Thompson 1996, Eßer et al. 1996). Auf all den skizzierten Ebenen der weltwirtschaftlichen Architektur ergeben sich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten zwischen Deutschland, der EU und Lateinamerika: 1. Die zentralen Länder der Weltwirtschaft (G 7: USA, Kanada, Japan, England, Frankreich, Deutschland, Italien) repräsentieren weit mehr als die Hälfte des Weltsozialprodukts, drei ihrer Währungen (Dollar, DM und Yen) 80% aller Weltfinanzumsätze und 90% aller Weltwährungsreserven. Sie verfügen daher über gemeinsames Steuerungspotential. Deutschland gehört zu den wichtigen global players und könnte eine Vorreiterrolle im Prozeß der Etablierung einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnungspolitik übernehmen. 2. Internationale Regime (wie die WTO) können in Bereichen, in denen die nationale Ordnungspolitik zu kurz greift (z.B. Regulierungen von Direktinvestitionen, internationales Wettbewerbsrecht), zur Herausbildung einer internationalen Ordnungspolitik beitragen. Die EU könnte, außenpolitische Geschlossenheit vorausgesetzt, Initiativen in diese Richtung voranbringen; die lateinamerikanischen Länder, die als Nationalstaaten nicht zu den bedeutenden global players gehören, könnten sich im Verbund (z.B. durch den MERCOSUR) Gehör verschaffen. 3. In regionalen Integrationsprojekten (EU, MERCOSUR, NAFTA etc.) können wichtige Regulierungsleistungen erbracht werden, die kleine und mittlere Staaten vor dem Hintergrund des Standortwettbewerbs nur schwer durchsetzen könnten (z.B. währungspolitische Kooperation, Durchsetzung von Umweltnormen, Arbeitsschutzbestimmungen, Steuerharmonisierungen). Regionen werden zu einer entscheidenden Ebene der Ausgestaltung einer neuen Architektur und Einbettung der Weltwirtschaft. Dieser Prozeß ist in der EU weiter gediehen als z.B. im MERCOSUR; gemeinsame Lernprozesse könnten hier ansetzen. Zukünftig wird auch die Vertiefung der Kooperation zwischen den regionalen Integrationsprojekten an Bedeutung gewinnen. Die EU und der MERCOSUR könnten hier eine Pionierrolle übernehmen. 4. Auf lokaler Ebene können und müssen strukturpolitische Entscheidungen vorbereitet und umgesetzt werden (z.B. Modernisierung kommunaler Einrichtungen, Berufsbildungszentren, Technologieinstitutionen). Globalisierung und .Lokalisierung" ergänzen sich. In den Industrieländern und insbesondere in Deutschland sind hier bereits wichtige Erfahrungen gesammelt worden. Lateinamerika ist generell durch stark zentralistische Strukturen gekennzeichnet; Dezentralisierung und eine Stärkung der lokalen Ebenen sind eine wichtige Zukunftsaufgabe. Die deutsch-europäische Entwicklungszusammenarbeit kann hier durch gebündelte Aktivitäten Beiträge leisten. 5. Auf nationalstaatlicher Ebene existieren hohe Anforderungen, aber auch Handlungsspielräume für aktive Standortpolitiken (vgl. .systemische Wettbewerbsfähigkeit"). Zudem stellt der Nationalstaat das Scharnier zwischen den lokalen und supra31

Lateinamerika Jahrbuch 1997

nationalen Handlungsebenen dar. Hier stehen Deutschland und die lateinamerikanischen Länder vor komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen, denen weder mit etatistischen .Planungsstaaten" noch mit dem neoliberalen .Minimalstaat" begegnet werden kann. Das Verhältnis zwischen Staat, Markt, Gesellschaft und Individuen befindet sich im Umbruch. Die Bedeutung von und die Beziehungen zwischen hierarchischen, marktförmigen und netzwerkartigen Organisations- und Steuerungsmustern verändert sich nachhaltig. Institutionelle Innovationen sind notwendig, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden (Commission on Global Governance 1995, Messner 1995). Die internationale Wirtschaftsordnung der Zukunft wird auf vielschichtigen Entscheidungssystemen, die auf Beratung, Konsensbildung und flexiblen Spielregeln basieren, beruhen. Dabei ist die grundlegende Frage, wer Regeln und Prinzipien festlegt, offen. Bisher sind die OECD-Länder und die G 7 (seit Sommer 1997 die G 8) die entscheidenden Akteure und in allen wichtigen internationalen Institutionen (z.B. Weltbank, IWF) tonangebend. Eine zukunftsweisende Politik muß darauf ausgerichtet sein, den Stellenwert der Nicht-OECD-Länder (in denen 90% der Weltbevölkerung leben) in den internationalen Institutionen zu stärken, um die Legitimität multilateraler Vereinbarungen zu erhöhen. Lateinamerika (der MERCOSUR) sollte sich, trotz der Kompliziertheit der internen Reformprozesse, in die Ausgestaltung der Weltwirtschaft aktiv einmischen. Nicht zuletzt, weil das Gelingen und die Nachhaltigkeit der internen Reformen unmittelbar von den äußeren Bedingungen abhängen. Deutschland und die EU sollten kooperative Lösungen von globalen Problemen ansteuern und aus den positiven Erfahrungen des Interessenausgleichs in der EU lernen. Sie sollten nicht versuchen, den hegemonialen Politikstil der USA zu kopieren. In der immer interdependenteren Weltwirtschaft ist nicht weniger, sondern mehr Kooperation und Koordination zwischen den Nationen gefragt; nur so kann gemeinsame Problemlösung gelingen.

2.2.

Eine wirtschaftliche Weltordnungspolitik ist notwendig

Eine wirtschaftliche Weltordnungspolitik ist angesichts der Verdichtung globaler ökonomischer Interdependenzen unabdingbar (Bergsten 1995). Es ist allgemein akzeptiert, daß die nationale Politik Verantwortung für .öffentliche Güter" (z.B. Polizei, Rechtsprechung, Umweltschutz) übernehmen muß, die der Markt nicht bereitstellen kann. Die gleiche Verantwortung wird jedoch bisher auf internationaler Ebene von vielen wichtigen Akteuren nicht akzeptiert. Dabei ist es offensichtlich, daß die Globalisierung der Märkte die Entwicklung eines tragfähigen multilateralen Ordnungsrahmens erforderlich macht, um •

Marktversagen (wie z.B. die lateinamerikanische Verschuldungskrise der 80er Jahre, Umweltkrisen) zu begrenzen;



klare Spielregeln für die weltwirtschaftlichen Akteure zu setzen, nachdem durch die Erosion der hegemonialen Führerschaft der USA und der Verteilung internationaler wirtschaftlicher Macht auf eine Reihe von Ländern ein Steuerungs- und Führungsvakuum entstanden ist;



Gegengewichte zur zunehmenden Hinwendung einiger Länder zu unilateralen Entscheidungen zu etablieren, die die multilaterale Ordnung unterminieren (z.B. das Helms-Burton-Gesetz der USA, auf dessen Grundlage Unternehmen bestraft werden sollen, die in Ländern investieren, deren Verhalten den USA nicht gefällt: z.B. Kuba).

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

Eine zu schaffende Weltwirtschaftsordnung muß die folgenden internationalen öffentlichen Güter bereitstellen bzw. sichern und entsprechende institutionelle Säulen entwikkeln: Globale Rechtsstaatlichkeit: Allseitig akzeptierte Regeln, Konfliktregulierungs- und Sanktionsmechanismen bilden die Grundlage eines multilateralen Ordnungssystems. Finanzstabilität: Ein stabiles Währungssystem, das die Fähigkeit besitzt, größere systembedingte Rückschläge und Krisen zu bewältigen und eine vorausschauende Regulierung internationaler Finanzmärkte zu gewährleisten, muß entwickelt werden: • Um permanente Wechselkursinstabilitäten zu begrenzen, ist eine Stabilisierung der realen (inflationsbereinigten) Wechselkurse der wichtigsten Währungen innerhalb einer Bandbreite (von etwa 10%) sinnvoll. • Kurzfristige Kapitalspekulationen auf den internationalen Finanzmärkten sollten durch eine Steuer auf kurzfristige Kapitalanlagen begrenzt werden (Tobinsteuer). • Der Internationale Währungsfond muß für verbesserte Datentransparenz sorgen und mit umfangreicheren Finanzierungsmöglichkeiten ausgestattet werden, um auf Währungskrisen (wie in Mexiko 1994/95) reagieren zu können. • Die großen multinationalen Banken müssen ihre internen Kontrollmechanismen weiterentwickeln, um Spekulationswellen zu begrenzen und Zusammenbrüche (wie den der Baring Bank von 1995) zu vermeiden. Handel und Investitionen: Die WTO muß weiterentwickelt werden (Arbeits-, Sozialund Umweltstandards). Ein Regelwerk für Direktinvestitionen, deren Bedeutung rasch wächst, muß geschaffen werden. Ein globales Wettbewerbsrecht und eine internationale Wettbewerbspolitik stehen aus. Umwelt: Zum Schutz globaler Umweltgüter und zur Stärkung nachhaltiger Entwicklung wäre die Gründung einer .Global Environmental Organization' sinnvoll, um bereits existierende, aber unkoordinierte Ansätze auf diesem Gebiet zusammenzuführen (Fues 1997). Infrastruktur und Institutionen: Gemeinsame Standards für Maße, Gewichte, technische, ökologische Normen und einvemehmliche Regelungen zur Gestaltung und Gewährleistung der Freiheit der Meere und gemeinsam benutzter Flugsicherungs- und Telekommunikationsnetze müssen entwickelt werden. Korruptionsbekämpfung: International verbindliche Regeln und Sanktionsmechanismen könnten zur Bekämpfung grassierender Korruption beitragen. Gelingt es nicht, eine weltwirtschaftliche Ordnungspolitik zu entwickeln, dürften sich die Befürchtungen des Landeszentralbankpräsidenten von Hannover, Helmut Hesse (1996), bewahrheiten: Es bliebe .den nationalen Regierungen vielfach nichts anderes übrig, als sich nicht unwesentlich auf die Bedingungen einzulassen, die das internationale mobile Kapital erfüllt sehen möchte". So gesehen, ist internationale wirtschaftspolitische Koordination und Kooperation auch eine notwendige Bedingung zur Stabilisierung der nationalstaatlich organisierten Demokratie. EU und MERCOSUR wären geeignete Akteure, um gemeinsam die neuen Herausforderungen anzugehen. 2.3. Nord-Süd-Bezlehungen aufwerten und In Richtung „Global Govemance" weiterentwickeln Vor diesem Hintergrund steht auch eine Neuorientierung und Vertiefung der Nord-Süd(-Ost)-Beziehungen aus. Die Ausgestaltung der Weltwirtschaft am Ende des 20. Jahrhunderts kann nicht an die konfliktiven Debatten der 70er Jahre um eine .Neue Weltwirt33

Lateinamerika Jahrbuch 1997

schaftsordnung" anknüpfen, in der es vor allem um höhere monetäre Nord-SüdTransfers ging. Die Entwicklungsländer lernten aus diesen konfrontativen Auseinandersetzungen, daß sie mit Maximalforderungen und Stimmenmehrheit die Machtstrukturen in der Weltwirtschaft und -politik nicht verändern können. Die Industrieländer sollten gelernt haben, daß durch die machtgestützte Verweigerung von Kompromissen keine gemeinsamen Problemlösungen gefunden werden können, an denen ihnen im aufgeklärten Eigeninteresse gelegen sein muß. Ende der 90er Jahre geht es um gemeinsame Anstrengungen zur Einbettung und Ausgestaltung der globalen Ökonomie, die Vereinbarung eines allgemein akzeptierten internationalen Regelwerkes und die Herausbildung von Mechanismen gemeinsamer Problemlösung in der interdependenten Weltwirtschaft. Nur so können Bedingungen geschaffen werden, um die sozialen und ökologischen Dimensionen der Marktwirtschaft weiterzuentwickeln und einen „globalen Raubtierkapitalismus", vor dem z.B. Helmut Schmidt warnt, zu verhindern. „Global Govemance" wird zu einer zentralen Herausforderung der Zukunft (Desai/Redfern 1995; Messner/Nuscheler 1996). Seit der Verschuldungskrise der 80er Jahre und dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Verhandlungsmacht des Südens (abgesehen von den wenigen asiatischen Schwellenländern und China) gegenüber den OECD-Staaten gesunken. Die OECD-Länder müssen, schon aus langfristigem Eigeninteresse, den Gesprächsfaden mit den Ländern des Südens und Ostens wieder aufnehmen, um die neuen weltwirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen eine Vielzahl weiterer Weltprobleme einhergeht (z.B. Frieden, Umwelt, Migration), zu meistern (Stiftung Entwicklung und Frieden 1997). Der Abbau der Entwicklungszusammenarbeit weist in diesem Zusammenhang in die völlig falsche Richtung und dokumentiert das fehlende globale Problembewußtsein der Industrieländer. Die Länder des Südens müssen ebenfalls ihre nationalen Engstirnigkeiten überwinden. Die Blockadehaltungen vieler Länder, z.B. beim Klimaschutz, zeigen, daß auch hier Lernprozesse ausstehen. Diese neuen Dimensionen der internationalen Kooperation, die aus der Globalisierung resultieren, sollten in den deutsch/europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen aufgegriffen und entwickelt werden. Internationale Koalitionen sind notwendig, um Durchbrüche in der Ausgestaltung der Weltwirtschaft zu erzielen.

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Messner: Deutschland und Lateinamerika in der Weltwirtschaft

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Nolte: Der verunsicherte Jaguar

Detlef Nolte

Der verunsicherte Jaguar Lateinamerika zwischen wirtschaftlichem Optimismus und politischer Skepsis

Wirtschaftliche Perspektiven In Lateinamerika, aber auch außerhalb der Region kommt es regelmäßig zu Kongressen und Expertenrunden, die sich, betrachtet man den Veranstaltungstitel, auf den gleichen Kontinent beziehen, de facto aber von unterschiedlichen Welten zu handeln scheinen. Während internationale Finanzorganisationen, Bankiers und andere Unternehmerkreise immer wieder die günstigen Investitionsmöglichkeiten und die positiven Wachstumsprognosen für Lateinamerika preisen, wobei es hinsichtlich der präferierten Länder gewisse kurzfristige Modeschwankungen gibt, treffen sich Nichtregierungsorganisationen und Sozialpolitiker, soweit es diese überhaupt noch gibt, zu Veranstaltungen, auf denen das Elend in der Region angeprangert wird und auch die Perspektiven für die Zukunft eher düster erscheinen. Beide Sichtweisen werden der lateinamerikanischen Realität nur in Teilen gerecht, stehen aber in einem thematischen Zusammenhang: Sie beziehen sich auf die Frage nach dem Entwicklungsmodell und den Entwicklungsperspektiven für die Region. Natürlich ist auch Lateinamerika von der allgemeinen Globalisierungsdiskussion längst erfaßt worden. Der Standort Lateinamerika sieht sich im Wettbewerb mit anderen Regionen. Allerdings ist das Thema der Einbindung Lateinamerikas in die internationale Wirtschaft und der daraus folgenden Konsequenzen für den autonomen Handlungsspielraum der nationalen Regierungen - im Vergleich zur Diskussion in den Industrieländern - kein völlig neues Thema. Es wurde bereits in den 50er Jahren im Umfeld der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) und später in den 60er und 70er Jahren aus dem Blickwinkel der Dependenztheorie erfaßt. Damals wurden vor allem der eingeschränkte Handlungsspielraum der nationalen Regierungen und die Nachteile für die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

Region herausgearbeitet. Heute werden neben den Kosten auch die Chancen der Einbindung in den internationalen Wettbewerb diskutiert. Was die wirtschaftspolitische Ausrichtung betrifft, hat sich mittlerweile in Lateinamerika der sogenannte „Washington-Konsensus"' durchgesetzt, der Politiken vorsieht, um Marktwirtschaften durchzusetzen und abzusichern, die nach außen offen sind und in denen die Grundregeln makroökonomischer Stabilität beachtet werden. In den meisten Ländern der Region wurden Zollschranken2 abgebaut, Staatsunternehmen privatisiert, die staatliche Verwaltung rationalisiert und die Marktkräfte gestärkt. Zudem wird der Haushaltsdisziplin und der Sicherung der Preisstabilität3 ein hoher Stellenwert eingeräumt. Zugleich hat es sich gezeigt, daß es bis auf Nuancen keine realistischen Alternativen zu einer Neuausrichtung in der Wirtschaftspolitik gibt. Selbst linke Parteien haben sich mittlerweile zu der Erkenntnis durchgerungen, daß jegliche soziale Reform auch finanziert werden muß (in der Regel über höhere Verbrauchssteuern). Versuche, gegen den Strom zu schwimmen und im traditionellen Stil populistische Politiken zu betreiben, erwiesen sich im nachhinein als äußerst kostspielig. Alan Garcia (1985-90) in Peru kann in gewisser Weise als das abschreckendste Beispiel gelten, aber auch die jüngste Entwicklung unter Caldera (1994-) in Venezuela offenbart das gleiche Dilemma. Eine Verzögerung der Strukturanpassung bewirkt in der Regel noch höhere Kosten. Tendenziell scheint die Hyperinflation - eine Folge populistischer Politiken und verzögerter Anpassungspolitiken - die Unterschichten noch härter zu treffen als die wirtschaftliche Anpassungspolitik, die ihrerseits auch große Segmente der Mittelschichten negativ tangiert. Die Wähler in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten scheinen sich dieser Option zwischen der Szylla der Hyperinflation und der Charybdis struktureller Anpassungspolitiken und der damit verbundenen sozialen Kosten bewußt zu sein. Dies macht verständlich, warum in den meisten Ländern das politische Interesse zurückgegangen ist und Mitte der 90er Jahre häufig Politiker in das Präsidentenamt gewählt wurden, die für wirtschaftliche Stabilität einstanden - unbeschadet der zu erwartenden sozialen Kosten. Zuweilen wird der Eindruck vermittelt, mit den Stabilisierungserfolgen und der Umorientierung auf den Weltmarkt seien die Entwicklungsprobleme Lateinamerikas bereits gelöst. Eine große deutsche Bank kündigte für das kommende Jahrzehnt bereits die „Dekade des Jaguars" an (Dresdner Bank Lateinamerika AG 1997). Richtig ist zwar, daß inzwischen in den meisten Ländern ein Konsens darüber besteht, daß und wie eine erfolgreiche Stabilisierungspolitik durchgeführt werden sollte. Kontrovers wird aber weiterhin darüber diskutiert, ob damit bereits die Grundlagen für ein langfristiges und dauerhaftes Wirtschaftswachstum gelegt worden sind bzw. welche weiteren Politiken dazu notwendig sind. Gleiches gilt für die Frage, ob und wann die wirtschaftliche Neuausrichtung breiten Bevölkerungssegmenten zugute kommen und die Armut in der Region abnehmen

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Beim .Washington-Konsensus" (vgl. Williamson 1993) handelt es sich um Wirtschaftsreformen, die den lateinamerikanischen Regierungen in den 80er und 90er Jahren von den in Washington ansässigen nationalen und internationalen Entscheidungsfragen! (US-Regierung, Kongreß, think tanks, Weltbank, IWF, IDB etc.) .nahegelegt" wurden. Edwards (1995: 41-65) spricht demgegenüber von einem .neuen lateinamerikanischen Konsensus" und relativiert die Rolle der multilateralen Finanzorganisationen bei der Herausbildung dieses wirtschaftspolitischen Grundkonsensus. So gingen die durchschnittlichen Außenzölle in Lateinamerika zwischen 1983 und 1995 von 41,6% auf 13,7% zurück (Iglesias 1997: 7). Wahrend die durchschnittliche jährliche Inflationsrate in der Region (Dez -Dez.) noch 1990 bei fast 1.200% gelegen hatte, lag der Wert Ende 1996 unter 20%. In elf von 23 Ländern lag die Teuerungsrate sogar unter 10%, in drei weiteren nur knapp darüber (CEPAL 1996:41).

Nolte: Oer verunsicherte Jaguar

wird, zumal die wirtschaftliche Umstrukturierung und Neuausrichtung in allen Ländern mit hohen sozialen Kosten verbunden war. Die Entwicklung in einigen lateinamerikanischen Ländern - wie z.B. besonders markant in Argentinien4 - deutet darauf hin, daß der wirtschaftliche Wiederaufschwung nur sehr begrenzt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in modernen Wirtschaftssektoren beiträgt. In neun von 17 lateinamerikanischen Ländern hat die offene Arbeitslosigkeit zwischen 1990 und 1995 zugenommen (CEPAL 1996: 42). Nach Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entfielen acht von zehn zwischen 1990 und 1995 in Lateinamerika geschaffenen Arbeitsplätzen auf den informellen Wirtschaftssektor, der mittlerweile mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen in der Region absorbiert (CEPAL 1997:15). Trotz beachtlicher gesamtwirtschaftlicher Wachstumsraten in vielen lateinamerikanischen Volkswirtschaften ging der Anteil der Armen an der Bevölkerung kaum zurück, und Lateinamerika bleibt stärker als andere Weltregionen von schroffen sozialen Gegensätzen geprägt. Schon 1990 hatte die Weltbank (1990: 171) im .Weltentwicklungsbericht" angeprangert: „Nirgendwo in den Entwicklungsländern stehen Armut und nationaler Wohlstand in einem so scharfen Gegensatz wie in Lateinamerika und der Karibik. Der Grund dafür ist die außergewöhnliche Ungleichheit der Einkommensverteilung in der Region". An diesem Befund hat sich bisher kaum etwas geändert. Nach Berechnungen der Weltbank lebten 1995 35% der lateinamerikanischen Bevölkerung in Armut. Dies sind ca. 165 Millionen Menschen. Davon litten 86 Millionen unter extremer Armut (Gacitüa 1997: 128-129). Die CEPAL (1997: 28/31) geht für 1994 sogar von einem Anteil von 39% (= 209 Millionen) Armen aus. Interessantes Illustrationsmaterial hinsichtlich der potentiellen Breitenwirkung der wirtschaftlichen Neuorientierung bietet der chilenische Fall. Die chilenische Volkswirtschaft weist seit 1984 durchgehend hohe wirtschaftliche Wachstumsraten auf. Allein in der ersten Hälfte der 90er Jahre hat das Pro-Kopf-Einkommen kumulativ um rd. 30% zugenommen. Auch die Realeinkommen nahmen im gleichen Umfang zu. Zugleich konnte der Anteil der Armen von zunächst fast 40% der Bevölkerung auf 25% (1996) abgesenkt werden. Die Arbeitslosenquote lag im Jahresdurchschnitt 1996 bei 6,4%, dem niedrigsten Wert seit den frühen 70er Jahren. Was lehrt der chilenische Fall? Der .trickle down'-Effekt scheint in der Tat zu funktionieren; er setzt allerdings über einen längeren Zeitraum sehr hohe durchschnittliche Wachstumsraten - von über 6% - voraus, und er führt nicht zu einer gerechteren Einkommensverteilung. Dem „Weltentwicklungsbericht 1996" zufolge hatte Chile nach Brasilien die am stärksten konzentrierte Einkommensverteilung in Lateinamerika (Daten von 1994). Mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate des BIP von 3,1% in den Jahren 1991 bis 1996 (CEPAL 1996: 39) war in Lateinamerika zwar eine Trendwende im Vergleich mit den 80er Jahren zu verzeichnen, die Wachstumsrate lag damit aber unter dem historischen Vergleichswert für den Zeitraum 1945 bis 1980 (5,5%) und unter der Wachstumsrate von 6% p.a., die von der CEPAL (1997: 13) für notwendig erachtet wurde, damit die sozialen und technologischen Herausforderungen, mit denen sich Lateinamerika konfrontiert sieht, bewältigt werden können. Neben der Frage der Einkommensverteilung, der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der Reduzierung der Armut zeigen sich weitere Problemfelder hinsichtlich des zukünftigen Entwicklungsweges der lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Zu nennen sind

4

Dort hat sich die Arbeitslosenquote von einem bereits hohen Ausgangsniveau von rd. 7% Anfang der 90er Jahre seit 1995 bei rd. 17% eingependelt (Daten des Statistischen Amtes in Argentinien).

39

Lateinamerika Jahrbuch 1997

schwerwiegende Defizite in der Infrastruktur (vor allem im Bereich der Verkehrswege)5, im Bildungssektor, der von der Sparpolitik der 80er Jahre besonders betroffen war, sowie hinsichtlich einer umweltverträglichen Entwicklung. Die Qualität des lateinamerikanischen Schulsystems - vor allem der öffentlichen Schulen - fällt im internationalen Vergleich deutlich ab. Lateinamerikanische Schüler gehen im Durchschnitt zwei Jahre weniger zur Schule als Schüler in anderen Regionen mit einem vergleichbaren Entwicklungsniveau (Edwards 1997: 99-100). Nach Schätzungen der CEPAL (1997: 18) würde ein umfassendes Programm zur Qualitätsverbesserung im Bildungswesen für die Gesamtregion zusätzliche Ausgaben in Höhe von 3,9% des lateinamerikanischen Sozialprodukts erforderlich machen. Zudem konnten einige der Probleme der Vergangenheit nur zum Teil gelöst werden bzw. zeigten die angewendeten Rezepturen nur eine begrenzte Heilkraft. So bleiben die Spar- und Investitionsquoten - gerade im Vergleich mit den dynamischen asiatischen Volkswirtschaften6 - im lateinamerikanischen Durchschnitt niedrig (vgl. Edwards 1997: 97). Während in Ostasien die ausländischen Direktinvestitionen jährlich seit 1993 bei über 3,2% des regionalen BIP lagen, waren es in Lateinamerika selbst im Boomjahr 1994 nur 1,4% (Edwards 1997: 98). In einigen Ländern (wie z.B. in Argentinien) erwies es sich als nachteilig, daß die Privatisierungspolitiken häufig weniger Element einer langfristigen Strategie zur Effizienzsteigerung in der Wirtschaft oder Teil einer Gesamtstrategie zur wirtschaftlichen Entwicklung bildeten, als vielmehr der kurzfristigen Schließung von Haushaltslücken und zur Begleichung von Auslandsschulden dienten. Diese Quelle kann jedoch nur einmal zur Haushaltssanierung genutzt werden. Trotz der Privatisierungen und Umschuldungsmaßnahmen sind in vielen Ländern Lateinamerikas die Auslandsschulden weiter gestiegen, auch wenn in Relation zu anderen volkswirtschaftlichen Kennziffern die Belastung zurückgegangen ist. So wuchs die Gesamtverschuldung der Region von US$ 443 Mrd. im Jahr 1990 auf US$ 607 Mrd. im Jahr 1996 an, wobei das Gros der Zunahme auf Mexiko, Argentinien und Brasilien entfällt. Für den Schuldendienst mußten 1996 allerdings nur noch durchschnittlich 14,5% der Exporterlöse aufgewendet werden gegenüber 23,5% im Jahr 1990 und 38,6% bei Ausbruch der Schuldenkrise (1982/83) (CEPAL 1995: 68; 1996: 54). In Phasen internationaler Hochzinspolitik und knapper werdenden Geldes besteht jedoch erneut das Risiko von Finanzkrisen in der Region. Trotz der nach wie vor ungelösten Probleme war wirtschaftlich in der ersten Hälfte der 90er Jahre - nicht zuletzt im Vergleich mit den 80er Jahren, der .verlorenen Dekade" ein deutlicher Aufschwung zu verzeichnen. Die wirtschaftlichen Wachstumschancen Lateinamerikas werden überwiegend positiv beurteilt. Nach neueren Schätzungen des IWF (1997: 206) wird das Sozialprodukt bis Ende der 90er Jahre und zu Beginn der kommenden Dekade (1998-2002) im Jahresdurchschnitt um 5% (1997: 4,4%) wachsen. Die Weltbank (1996: 6) hielt nach einer Prognose vom April 1996 bei einer günstigen Entwicklung im Zeitraum bis zum Jahr 2005 ein durchschnittliches jährliches Wachstum (des BIP) von 3,8% für möglich (zum Vergleich: OECD-Länder 2,8%; Ostasien 7,9%; Osteuropa u. Rußland 4,4%). Allerdings gibt es auch vorsichtige Warnungen, wie die eines englischen Bankers, „die Party zu genießen, aber in der Nähe der Tür zu tanzen" (Fi-

'

*

40

Nach Berechnungen der Weltbank sind bis zum Jahr 2000 jährliche Investitionen im Umfang von US$ 60 Mrd. notwendig, um die Defizite im Infrastnjkturbereich in Lateinamerika zu beseitigen (Edwards 1997: 101). So liegt die Sparquote im lateinamerikanischen Durchschnitt (in Prozent des BIP) bei 21% gegenüber 34% in Ostasien (Iglesias 1997:13).

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

nancial Times 25.3.1996), die sich aber weniger auf das Wachstumspotential der Region als vielmehr auf die Attraktivität Lateinamerikas (im Vergleich mit anderen Optionen) für kurzfristige Kapitalzuflüsse bezogen. Die günstigen Wachstumsprognosen machen Lateinamerika mit seinen bald 500 Millionen Einwohnern als Handelspartner und Wirtschaftsstandort für Direktinvestitionen interessant, zumal das lateinamerikanische Pro-Kopf-Einkommen (BIP) mit rd. US$ 2.600 (1995) deutlich höher als in anderen Regionen der .Dritten Welt" liegt und bis zum Jahr 2.000 nach Schätzungen der Interamerikanischen Entwicklungsbank (1996) bei fast US$ 3.000 liegen wird. Wichtig für den wirtschaftlichen Aufschwung in der Region und die Außenwahrnehmung des lateinamerikanischen Wirtschaftspotentials sind die Integrationsprozesse, die in der ersten Hälfte der 90er Jahre in Gang gekommen sind. Besonders die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) und der MERCOSUR wirken als Attraktionspole auf die übrigen lateinamerikanischen Staaten. In Reaktion auf das verbesserte wirtschaftliche Klima in der Region versuchen die führenden Industrienationen ihre Handelsbeziehungen zu Lateinamerika auszubauen und vertraglich abzusichern (vgl. Nolte 1995; Bodemer/Nolte 1997). Während die USA auf die Schaffung einer die gesamte westliche Hemisphäre umfassende Freihandelszone (Stichworte: Bush-Initiative und Miami-Gipfel) hinwirken7, hat die EU im Dezember 1995 ein interregionales Rahmenabkommen mit dem MERCOSUR und im Juli 1996 ein bilaterales Abkommen mit Chile abgeschlossen. Mit Mexiko wurden gleichfalls Verhandlungen eingeleitet. Da alle Bestrebungen auf die Schaffung von Freihandelszonen in der ersten Dekade des nächsten Jahrtausends hinzielen, ist nicht auszuschließen, daß sich daraus ein „atlantisches Dreieck" - eine Zone des freien Austausches zwischen Europa, Nord- und Südamerika - entwickeln könnte.

Politische Perspektiven Das wirtschaftliche Engagement ausländischer Unternehmen in Lateinamerika wird nicht allein von ökonomischen Faktoren beeinflußt. Daneben kommt auch den politischen Rahmenbedingungen Bedeutung zu. Ähnlich wie die wirtschaftlichen sind auch die politischen Perspektiven Lateinamerikas tendenziell positiv einzuschätzen. Man könnte sogar soweit gehen, im politischen Bereich einen komparativen Vorteil Lateinamerikas für ausländische Investitionen im Vergleich mit anderen Dritte-Welt-Regionen zu postulieren. Nachdem die 80er Jahre für Lateinamerika als Periode der Transition, d.h. des Übergangs von autoritären zu demokratischen Systemen bezeichnet werden können, können die 90er Jahre als Periode der fortschreitenden Konsolidierung der Demokratie betrachtet werden. Mitte der 90er Jahre ist Lateinamerika die bei weitem demokratischste Region in der „Dritten Welt"; die Demokratie hat sich in der Region verfestigt. Wie im wirtschaftlichen Bereich haben sich auch in der Frage der politischen Ordnung im Rahmen der Globalisierung und regionalen Integration die Handlungsspielräume nationaler Politik verengt. Die Demokratie, mit all ihren Defiziten in der nationalen Praxis, gilt für die Region als Norm; oder wie es zwei renommierte amerikanische Sozialwissenschaftler als Kennzeichen einer konsolidierten Demokratie charakterisiert hatten: „democracy has become the only game in town" (Linz/Stepan 1996, S. 5). 7

Seit 1995 treffen sich jährlich die Handelsminister der USA und Lateinamerikas, zuletzt im Mai 1997 in Belo Horizonte (Brasilien).

41

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Diese positive Entwicklung kontrastiert mit den negativen Orakeln, wie sie Ende der 80er Jahre insbesondere unter US-amerikanischen Sozialwissenschaftlern, aber auch in Teilen der politischen Führungsschicht Lateinamerikas in Mode waren (vgl. Nolte 1990: 19-20). „Die Demokratie sieht sich in Lateinamerika mit schweren Risiken konfrontiert. Die Unzufriedenheit, die Korruption und die Polarisierung nähren die Gefahr einer erneuten militärischen Intervention" lautete das Menetekel in einem Bericht des .Interamerikanischen Dialogs" (Diälogo Inter-Americano 1989: XII; Übers. D.N.), ein Diskussionsforum, in dem sich Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (darunter ehemalige Minister und Staatspräsidenten) aus Lateinamerika und den USA regelmäßig mit der Entwicklung in der Region befassen. Ein bekannter US-amerikanischer Politikwissenschaftler entwickelte vor dem Hintergrund der Schuldenkrise das folgende, damals weit verbreitete Krisenszenario: „Die Frage ist weniger, ob die demokratischen Regime gewaltsam gestürzt werden, als vielmehr, ob Lateinamerika langsam zu unverantwortlichen, populistischen Politiken einer vergangenen Epoche zurückkehren wird. Versprechen zur Umverteilung können in der augenblicklichen wirtschaftlichen Krise nicht erfüllt werden. Was wird das Ergebnis des Scheiterns populistischer Politiken sein? Werden die populistischen Regime den politischen Prozeß derart radikalisieren, daß es unvermeidlich zu einer Polarisierung kommt und die Streitkräfte dann zu einer realen Bedrohung in den 90er Jahren werden?" (Roett 1989: 70-71; Übers. D.N.). Keine dieser Voraussagen ist eingetreten, vielmehr gibt es Anzeichen für eine zunehmende Verwurzelung der Demokratie in der politischen Kultur Lateinamerikas. Nach einer Meinungsumfrage, die Mitte 1996 parallel in 17 lateinamerikanischen Staaten durchgeführt wurde (Latinobarömetro 1996) - dabei wurden insgesamt ca. 20.000 Personen befragt - waren immerhin 72% der befragten Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner bereit, die Demokratie zu verteidigen. 61% der Befragten stimmten der Aussage zu, „die Demokratie ist jeder anderen Regierungsform vorzuziehen". 17% der Befragten meinten, daß unter bestimmten Gegebenheiten ein autoritäres System vorzuziehen sei; gleichfalls 17% waren der Meinung, daß für ihre Lebenssituation der Regierungsform keine Bedeutung zukomme. Die Zustimmungsrate zur Demokratie wies von Land zu Land eine beachtliche Variationsbreite auf, sie lag aber in keinem Land mit Ausnahme von Honduras - unter 50%. Die höchsten Zustimmungsraten für autoritäre Lösungen gab es in Paraguay (26%), Brasilien (24%) und Mexiko (23%). Die höchsten Zustimmungswerte für die Demokratie waren in Uruguay (80%) und Argentinien (71%) zu verzeichnen. Was für die Bevölkerung als Ganzes zutrifft, gilt auch für die politisch mobilisierten Bevölkerungssegmente und zentralen politischen Akteure. So finden in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern offen antidemokratische Parteien nur einen geringen Zuspruch bei Wahlen. Gesellschaftliche Akteure, die in der Vergangenheit - unter anderen politischen Rahmenbedingungen - ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie offenbart hatten, wie Teile der Unternehmerorganisationen und der Gewerkschaften, zeigen sich mittlerweile mit dem demokratischen System ausgesöhnt, und wichtige Akteure, die in der Vergangenheit offen antidemokratische Positionen bezogen hatten, haben an Einfluß verloren und beginnen, sich mit der demokratischen Ordnung zu arrangieren. Zu den positiven Tendenzen der vergangenen Jahre gehört ohne Zweifel das Zurückdrängen des Einflusses der Militärs. Besonders beeindruckend fällt dabei die Bilanz in Argentinien aus. Dort hatten die Militärs seit den 30er Jahren immer wieder in den politischen Prozeß interveniert. Mittlerweile nimmt Argentinien, was die Unterordnung des Militärs unter die zivile Gewalt betrifft, einen Spitzenplatz in Lateinamerika ein (vgl. Nolte 1996c: 116-119). 42

Nolte: Oer verunsicherte Jaguar

Das Risiko militärischer Interventionen in die Politik hat auch deshalb abgenommen, weil es im Gegensatz zu den 60er oder 70er Jahren kaum noch zivile Unterstützungsgruppen - das berühmte Pochen an die Kasernentore - für innenpolitische militärische Abenteuer gibt, zumal sich auch die Militärs in Zeiten schrumpfender Staatseinnahmen und gestiegener Effizienzanforderungen nicht mehr - wie noch in Zeiten der Militärherrschaft - dem Diktat der Ökonomie entziehen können. Und auch international wächst nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der Beilegung vieler Grenzkonflikte und dem Fortschreiten der wirtschaftlichen Integration der Rechtfertigungszwang für hohe Militärausgaben. Das internationale Umfeld ist in den 90er Jahren eindeutig demokratieförderlich. Ein Abweichen von der demokratischen Nonn wird von der lateinamerikanischen Staatengemeinschaft und ihren wichtigsten Handelspartnern nicht mehr ohne weiteres akzeptiert, wobei, wie auch in anderen Weltregionen, eine Abweichung für kleinere, wirtschaftlich schwache Staaten wesentlich schwieriger ist als für große. Die USA sehen die Verankerung demokratischer Systeme - nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes - mittlerweile in ihrem strategischen Interesse. Und auch die EU sieht sich der Förderung der Demokratie in der Region verpflichtet, zumal die lateinamerikanischen Regierungen sich in ihrer Mehrheit jetzt eindeutig zur westlichen Staatengemeinschaft bekennen und die traditionelle Dritte-Welt-Rethorik an Bedeutung verloren hat. Symptomatisch für diese neue Ausrichtung sind der Austritt Argentiniens aus der „Bewegung der Blockfreien" (1991) und die Aufnahme Mexikos in die OECD (1994), den exklusiven Klub der Industrienationen. Putschisten, die ein autoritäres Regime errichten wollen, müssen heutzutage in Lateinamerika nicht nur im eigenen Land mit Widerstand rechnen; sie geraten auch international unter Druck. Sie müssen Sanktionen der USA, der EU und der Nachbarländer in Rechnung stellen, denn die demokratischen Regierungen in Lateinamerika sind bestrebt, autoritären Rückfällen auf dem Kontinent einen Riegel vorzuschieben. Die Wahrung der Demokratie in der Region wird mittlerweile als Aufgabe der lateinamerikanischen Staatengemeinschaft wahrgenommen. So hat die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ihr Selbstverständnis verändert. Sie versteht sich heute als eine Gemeinschaft demokratischer Staaten. Waren in der Vergangenheit Einmischungen in die inneren Angelegenheiten von Mitgliedsländern - auch zum Schutz der Demokratie - verpönt, so sieht die neue Charta der OAS Sanktionen gegen Mitgliedsländer vor, deren demokratisch gewählte Regierungen gestürzt wurden. In vielen lateinamerikanischen Staaten, die nur über eine schwache demokratische Tradition verfügen, hat es sich darüber hinaus eingebürgert, internationale Wahlbeobachtungsmissionen (der OAS, der Vereinten Nationen, der EU etc.) einzuladen. Erst deren positives Urteil verleiht den Wahlen ein demokratisches Gütesiegel. Auch die wirtschaftlichen Integrationsprozesse in der Region fördern die Konsolidierung der Demokratie, zumal sie auf hohe Zustimmung stoßen. In der bereits erwähnten Umfrage des Latinobarömetro sprachen sich 58% der Befragten für die wirtschaftliche Integration aus, wobei die Zustimmungswerte in den MERCOSUR-Staaten - Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay - zwischen 62% und 70% variierten. Zwei von drei befragten Lateinamerikanern und Lateinamerikanerinnen sahen wirtschaftliche Vorteile in den subregionalen Integrationsbündnissen. In Mexiko war allerdings nur eine knappe Mehrheit der Befragten - 45% zu 39% - für die wirtschaftliche Integration der lateinamerikanischen Staaten. Dieses Ergebnis manifestiert weniger eine Kritik an der NAFTA, als vielmehr den Wunsch, den potentiellen

43

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Nutzen aus dem Freihandelsabkommen mit den USA nicht auf andere lateinamerikanische Staaten auszuweiten. Die wirtschaftliche Integration zwischen demokratischen Nachbarstaaten wirkt auch innenpolitisch stabilisierend auf die Demokratien. Ohne NAFTA wäre der indianische Aufstand im mexikanischen Bundesstaat Chiapas möglicherweise blutig niedergeschlagen worden; und auch der Reformdruck auf die herrschende politische Klasse in Mexiko wäre geringer ausgefallen. Der MERCOSUR hat sich darüber hinaus - dies gilt auch für das Assoziierungsabkommen mit Chile - explizit eine Demokratieklausel gegeben, die den Ausschluß nichtdemokratischer Regierungen vorsieht. Der verhinderte paraguayische Putschgeneral Oviedo, der sich im April 1996 zunächst geweigert hatte, als Oberbefehlshaber des Heeres zurückzutreten, gehörte zu den ersten Opfern dieser neuen Dimension der Globalisierung in Lateinamerika. Wäre die Regimefrage - wie in der Vergangenheit - nur eine interne Angelegenheit geblieben, wäre der General heute möglicherweise Präsident. Während der zivile Präsident Wasmosy in der Krise zeitweilig bereit war, zu kapitulieren und zurückzutreten bzw. den rebellierenden General zum Verteidigungsminister zu ernennen, sagte die internationale Staatengemeinschaft nein, wobei der Druck der USA und nicht zuletzt des großen Nachbarn Brasilien, der mit empfindlichen wirtschaftlichen Repressalien drohte, entscheidend war. Trotz der beschriebenen demokratieförderlichen Tendenzen in Lateinamerika ist der Konsolidierungsprozeß durchaus mit Problemen behaftet. In der augenblicklichen politischen Konstellation läßt sich als allgemeiner Trend - mit Ausnahmen und Nuancen zwar feststellen, daß nicht mehr das Überleben demokratischer Systeme in Lateinamerika auf dem Spiel steht; die Diskussion zielt jetzt stärker auf die Qualität der Demokratie bzw. die Voraussetzungen einer „sustainable democracy" (Przeworski et al. 1995), oder wie es ein US-amerikanischer Wissenschaftler (Carother 1997: 89) kürzlich formulierte: .Die Frage für Lateinamerika lautet nicht, ob die Demokratie der Form nach erhalten, sondern ob sie ihrer Substanz nach verwirklicht werden kann" (Übers. D.N.). Schlecht funktionierende demokratische Institutionen können mittel- oder langfristig die Stabilität der politischen Systeme gefährden (vgl. Maihold 1996). In dieser Hinsicht ist es beunruhigend, daß in Meinungsumfragen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten fast alle politischen Institutionen und Akteure sehr negativ bewertet werden. In der Umfrage des Latinobarömetro von Mitte 1996 waren nur 27% der Lateinamerikaner mit der Funktionsweise der Demokratie zufrieden, 45% waren wenig zufrieden, und 20% waren überhaupt nicht zufrieden. 81% der Befragten sahen einen Handlungsbedarf zur Durchsetzung einer vollen Demokratie. Nach einer optimistischen Lesart kann die Tatsache, daß die Demokratie als Regierungsform weiterhin sehr positiv bewertet wird (vgl. Tabelle 2), als Zeichen für eine fortschreitende Konsolidierung gewertet werden: Die Legitimität der politischen Systeme wird auf der normativen Ebene von den Leistungen und der Wahrnehmung der politischen Institutionen und Akteure getrennt (vgl. Przeworski et al. 1995: 59), zumal die Kritik an der Funktionsweise der demokratischen Institutionen auch als ein Indikator für die politische Reife der Bürger angesehen werden kann. Es wäre viel bedenklicher, wenn offenkundig vorhandene institutionelle Fehlentwicklungen nicht kritisiert würden.

44

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

Tabelle 1: Demokratie oder Autoritarismus In Lateinamerika (in %) Frage: Mit welcher der folgenden Aussagen sind Sie eher einverstanden? Die Demokratie ist jeglicher anderen Regiemngsform vorzuziehen. Unter bestimmten Bedingungen ist eine autoritäre Regierung einer demokratischen vorzuziehen. Für Leute wie mich macht es zwischen einem demokratischen und einem autoritären Regime keinen Unterschied. Demokratie

Autoritarismus

Indifferent

Lateinamerika

61

17

17

Südamerika und Mexiko

61

18

16

Zentralamerika

61

13

18

Uruguay

80

9

8

Argentinien

71

15

11

Bolivien

64

17

15

Peru

63

13

14

Venezuela

60

19

13

Kolumbien

60

20

18

Paraguay

59

26

13

Chile

54

19

23

Mexiko

53

23

17

Ekuador

52

18

23

Brasilien

50

24

21

Costa Rica

80

7

8

Panama

75

10

12

Nikaragua

59

14

20

El Salvador

56

12

22

Guatemala

51

21

19

Honduras

42

14

29

Quelle: Latinobarômetro 1996

45

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Von den politischen Institutionen und Akteuren wurden fast durchgehend die Parteien am schlechtesten bewertet: Wenig Vertrauen genießen auch Regierungen, Parlamente und Justiz. Demgegenüber schneiden das Militär, die Presse und mit Abstand auch die Unternehmer in der Wahrnehmung der Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen deutlich besser ab. Ein Vergleich zwischen den verschiedenen lateinamerikanischen Staaten offenbart allerdings eine beträchtliche Variationsbreite im Ansehen der genannten Akteure und Institutionen, die Unterschiede in der politischen Kultur und im Grad der Konsolidierung der Demokratie widerspiegeln. Besonders beunruhigend ist, daß in Meinungsumfragen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten auch die Justiz sehr negativ bewertet wird8. Dieser Indikator dokumentiert das mangelnde Vertrauen in das Rechtssystem, wie auch das geringe Ansehen und die Legitimationskrise der Justiz. In seinen neueren Arbeiten hat der argentinische Politikwissenschaftler Guillermo O'Donnell (1992; 1994; 1995) auf einen markanten Widerspruch in den zeitgenössischen lateinamerikanischen Demokratien hingewiesen, in denen sich demokratische Elemente mit autoritären Komponenten vermischen: „Die demokratischen, partizipatorischen Rechte eines pluralistischen Systems (Polyarchie) werden respektiert, aber die liberale Komponente der Demokratie wird systematisch verletzt. Wir befinden uns in einer Situation, in der man frei wählen kann und der Prozeß der Stimmauszählung transparent ist, aber in denen man keine korrekte Behandlung durch Polizei und Justiz erwarten kann" (O'Donnell 1994: 166-167; Übers. D.N.). Es handelt sich um Demokratien mit schwach ausgeprägten Bürgerrechten U°w-inten$ity citizenship"). Denn ohne Gleichheit vor dem Gesetz (in seiner Anwendung und hinsichtlich der Möglichkeit, das Recht einzufordern) gibt es keine gleichen Bürgerrechte, und es wird das Risiko autoritärer Rückfälle, der Ausweitung korrupter Praktiken und eines Anstiegs der sozialen und politischen Gewalt heraufbeschworen. Zudem kann die mangelnde Rechtssicherheit auch negative Auswirkungen für die Wirtschaft zeitigen. In einem im August 1995 veröffentlichten Leitartikel in der Neuen Zürcher Zeitung (26 /27.8.1995: 1) hieß es dazu unter der Überschrift: .Wozu Menschenrechte in Lateinamerika?": „Menschenrechte sind auch gut fürs Geschäft. Denn wo die Menschenrechte ungestraft verletzt werden, ist kein Rechtsstaat. Und wo dieser fehlt, ist eine gedeihliche ökonomische Entwicklung in Frage gestellt, weil potentielle Investoren in einem Staat ohne verläßliches Recht für langfristige Kapitalanlagen zu wenig Sicherheit haben. Wie soll die Justiz ein Schuldbetreibungsverfahren korrekt durchführen, wenn sie nicht einmal Mord und Folter ahndet? Die Menschenrechte sind ein Indikator: Wo sie außer Kraft gesetzt sind, muß man annehmen, daß die ganze Rechtsverfassung eines Staates schlecht ist". Eine ähnliche Position vertritt der ehemalige Staatssekretär im USHandelsministerium (1993-1995), Jeffrey Garten (1997: 75; Übers. D.N.): „Falls ausländische Regierungen nicht bereit sind, die wesentlichen Grundrechte zu schützen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie auch andere grundlegende Gesetze mißachten werden, die für den Handel von großer Bedeutung sind. Dazu gehören solche, die das geistige Eigentum schützen, die Korruption bekämpfen oder zur Offenlegung kritischer finanzieller Informationen verpflichten". Gravierende Mängel im Justizwesen erhö-

'

46

Dies wird auch in einer von der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage dokumentiert. Es äußerten Vertrauen in die Justiz: in Guatemala 15%, in Ekuador 16%, in Peru 22%, in Bolivien 22%, in Mexiko 22%, in Venezuela 22%, in El Salvador 25%, in Kolumbien 26%, in Chile 27%, in der Dominikanischen Republik 33%, in Costa Rica 39%, in Uruguay 53% (Latin American Weekly Report WR-97-16: 187)

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

Tabelle 2: Wirtschaftliche Integration in Lateinamerika Frage: Sind Sie im allgemeinen für oder gegen die wirtschaftliche Integration der Länder Lateinamerikas, auch wenn dies einige Kosten und Opfer für die Argentinier, Brasilianer... impliziert? (in %) dafür

dagegen 21

Lateinamerika

58

Südamerika und Mexiko

63

19

Zentralamerika

48

24

Kolumbien

83

8 17

Bolivien

72

Argentinien

70

10

Ekuador

66

19

Peru

66

12

Paraguay

66

16

Uruguay

64

20

Brasilien

62

22

Chile

60

19

Venezuela

53

23

Mexiko

45

39

Nikaragua

64

22

Costa Rica

50

20

El Salvador

49

22

Panama

49

37

Honduras

41

24

|

Quelle: Latinobarómetro 1996

hen die wirtschaftlichen Transaktionskosten (vgl. Eyzaguirre 1997) und beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen (vgl. Sherwood 1997)'.

'

Nach empirischen Studien läßt sich ein statistischer Zusammenhang zwischen politischer Verläßlichkeit/Glaubwürdigkeit und wirtschaftlichem Wachstum nachweisen. Auch ein willkürliches und unberechenbares Justizsystem ist ein wirtschaftlicher Kostenfaktor (vgl. Weder 1995).

47

Lateinamerika Jahrtuch 1997

Tabelle 3: Grad der Zufriedenheit mit der Demokratie (in % ) Frage: Im allgemeinen. Würden Sie sagen, daß sie mit der Funktionsweise der Demokratie in Argentinien, Brasilien ... sehr zufrieden, eher zufrieden, nicht sehr zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden sind? zufrieden

nicht sehr zufrieden

überhaupt nicht zufrieden

Lateinamerika

27

45

20

Südamerika und Mexiko

27

50

20

Zentralamerika

27

36

19

Uruguay

52

38

9

Argentinien

34

50

14

Ekuador

34

47

16

Venezuela

30

41

27

Peru

28

53

12

Chile

27

54

15

Bolivien

25

58

17

Brasilien

20

46

31

Paraguay

22

59

19

Kolumbien

16

61

22

Mexiko

11

51

33

Costa Rica

51

35

8

Panama

28

42

29

El Salvador

26

41

27

Nikaragua

23

49

23

Guatemala

16

47

27

Anmerkung: Die Antworten "sehr zufrieden" und "eher zufrieden" wurden addiert. Quelle: Latinobarömetro 1996

Rechtssicherheit impliziert für die Bürger allerdings nicht allein den Schutz vor polizeilichen Übergriffen und eine effiziente Justiz, die dem Bürger bei Streitfällen zu seinem Recht verhilft, sondern auch Sicherheit in einem elementaren Sinn, daß der Staat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gegenüber Rechtsbrechern und anderen Formen privater Gewalt schützt. Darauf hat Diamond (1997: 24-25; vgl. auch Przeworski et al. 1995: 36) in seinen konzeptionellen Überlegungen zur Konsolidierung der Demo48

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

Tabelle 4: Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen und Akteure Frage: Wieviel Vertrauen haben Sie im Hinblick auf die genannten Institutionen, Gruppen oder Personen? % der Antworten 'Viel" und "etwas" MSär

Regierung

Parlament

Parteien

Justiz

Presse

Gewerkschaften

Argentinien

20

25

17

32

23

56

10

22/22

Bolivien

20

22

16

36

25

63

27

40/34

Unternehmen*

Brasilien

25

19

17

63

41

50

32

38/26

Chile

51

42

27

50

36

48

42

44/40

Ekuador

34

27

18

76

31

55

28

35/30

Kolumbien

18

15

11

45

32

43

27

63/54

Mexiko

18

22

18

40

19

30

19

31/26

47

44

Paraguay

40

42

37

66

48

44/41

Peru

48

33

19

38

25

42

26

37/33

Uruguay

36

38

32

38

55

55

34

29/28

Venezuela

16

19

11

59

27

55

19

35/25

Lateinam.

29

27

19

49

32

50

27

37/32

* Hier sind große Unternehmen bzw. Untemehmerverbande gemeint. Quelle: Latinobarömetro 1996

kratie in Lateinamerika nachdrücklich hingewiesen: .Mehr als alles andere ist Ordnung wie sie durch die Sicherheit und Voraussehbarkeit der sozialen Umwelt verkörpert wird die andere Dimension politischer Leistungsfähigkeit, die die Bürger am meisten schätzen und die von Theoretikern der demokratischen Konsolidierung am häufigsten vernachlässigt wird" (Übers. D.N.). Vor dem Hintergrund eines Anstiegs der Straftaten - die wachsende Kriminalität wird in nahezu allen Meinungsumfragen in Lateinamerika als eines der wichtigsten Probleme benannt (vgl. auch Tabelle 5) - kommt der Schaffung effizienter, nicht korrupter und die Bürgerrechte respektierender Polizeikräfte10 im Rahmen der Reform und Stärkung staat10

Zur Polizei in Lateinamerika ausführlich Waldmann/Schmid (1996), Waldmann (1996). .Falls die Polizei als korrupt, zum Machtmißbrauch neigend, inkompetent und zu keinerlei Rechenschaft verpflichtet [...] wahrgenommen wird, muß dies auch die Perzeption von staatlicher Autorität und Legitimität in der Bevölkerung beeinflussen' (Diamond 1997:28).

49

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Tabelle 5: Persönliche Sicherheit und Kriminalität in Lateinamerika Frage: Wurden Sie oder ein Familienangehöriger in den vergangenen 12 Monaten überfallen, angegriffen oder Opfer eines Verbrechens? (Antworten in %) ja

nein

w.n./k.A.

Argentinien

27

71

1

Brasilien

23

76

1

Chile

30

69

1

Mexiko

31

65

4

Paraguay

30

69

2

Peru

33

65

2

Uruguay

16

83

1

Venezuela

43

56

1

Quelle: Latinobarómetro 1995

licher Strukturen zentrale Bedeutung zu. Reformen von Justiz und Polizei müssen gemeinsam im Rahmen eines integralen Ansatzes angegangen werden. Denn ohne eine Justiz, die die Grundrechte von Angeklagten schützt und Menschenrechtsverletzungen bestraft, erhöht sich das Risiko (insbesondere in Ländern mit einer autoritären Tradition), daß die Polizei systematisch ihren rechtlichen Handlungsrahmen überschreitet. Grundsätzlich ist den Überlegungen des französischen Soziologen Alain Touraine (1996) zuzustimmen, daß die Prioritäten Lateinamerikas momentan eher im politischen als im ökonomischen Bereich liegen und daß es deshalb für die weitere wirtschaftliche und politische Konsolidierung wichtig sei, die politischen Vermittlungsstrukturen zwischen Staat und Gesellschaft zu stärken und auch die Steuerungskapazitäten staatlicher Institutionen zu verbessern. Es gilt, der .staatlichen Anämie" (B6liz 1997) vorzubeugen. Andernfalls sind auch die wirtschaftlichen Reformen gefährdet, worauf Haggard/Kaufman (1992: 25) zu Recht verweisen: „Damit die Regierungen ihre Rolle in der Wirtschaft verringern und sich das Spiel der Marktkräfte ausweiten kann, muß der Staat selbst gestärkt werden" (Übers. D.N.). Keineswegs wird eine Rückkehr zu tradierten Politikformen, der Wiederherstellung korporativistischer staatlicher Kontrollen und klientelistischer Praktiken gegenüber der Gesellschaft, noch eine erneute Verwischung der Grenzen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gefordert. Der Zusammenbruch dieser Politikformen und des dazu gehörenden Wirtschaftsmodells ist nicht mehr rückgängig zu machen, und es wäre auch nicht wünschenswert, die Befreiung der Wirtschaft und Gesellschaft von staatlicher Bevormundung umkehren zu wollen. Aber es ist fraglich, ob die „liberale Revolution" bereits alle Lösungen für die Entwicklungsprobleme des Kontinents bereithält. Anders ausgedrückt: „Die Hauptschwierigkeit, mit der sich der Kontinent konfrontiert sieht, wird darin bestehen, nahezu simultan zwei augenscheinlich widersprüchliche Transformationen zu erreichen - sich auf den Liberalismus einzulassen und ihn gleichzeitig hinter sich zu las-

50

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

sen" (Touraine 1996; Obers. D.N.). Nach dem Zurückdrängen klientelistischer Praktiken und Abhängigkeitsverhältnisse in Politik und Gesellschaft müssen die gesellschaftlichen Akteure verstärkt in die Lage versetzt werden, ihre Interessen autonom zu artikulieren und in das politische System einzubringen, das über die Kapazität verfügen muß, Interessenkonflikte in friedlichen Bahnen auszutragen und zu Mehrheitsentscheidungen zu gelangen, die in der Gesellschaft auf breiten Konsens stoßen. Dazu gilt es auch, Mechanismen wechselseitiger Kontrolle im politischen System zu stärken, für mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen zu sorgen und die Politiker zu mehr Verantwortlichkeit gegenüber ihren Wählern anzuhalten. Positiv zu vermerken bleibt, daß nach der Modernisierung und Reform der Wirtschaft in der ersten Hälfte der 90er Jahre jetzt eine Reform der politischen Institutionen" - im Sinne eines „democratic deepening" (Diamond 1997) - auf der Tagesordnung steht und sich bereits erste Fortschritte und Trends zeigen. Auch der VI. Iberoamerikanische Gipfel, der im November 1996 die Staatsoberhäupter und Regierungschefs Lateinamerikas und der Iberischen Halbinsel in Chile zusammenführte, stand unter dem Leitthema „Gobernabilidad para una democracia efíciente y participativa'. In der Erklärung von Viña del Mar heißt es u.a.: „Heute ist uns mehr bewußt, daß die Konsolidierung der Demokratie eine ständige Aufgabe darstellt, die jedes Volk entsprechend seiner politischen Tradition entschlossen angehen muß. [...] Die Stärkung der Demokratie in Iberoamerika hat zu einer Neubewertung der politischen Institutionen als zentrale Säulen der Demokratie geführt und ein allgemeines Interesse im Hinblick auf die Perfektionierung der politischen Systeme, der Staatsformen und der sie konstituierenden politischen Organe hervorgerufen. Die Staatsreform umfaßt die Exekutive, die Legislative und die Judikative" (Übers. D.N.). In einer Vielzahl lateinamerikanischer Staaten wurden Dezentralisierungsprozesse eingeleitet, die im Idealfall zu einer Demokratisierung der politischen Systeme von der Basis her sowie zu größerer Bürgernähe und Effizienz der Verwaltung führen können. In vielen Ländern wurden Reformen im Justizbereich eingeleitet12, die zu mehr Rechtsstaatlichkeit, zu einer besseren Kontrolle der Inhaber politischer Ämter und zur weitergehenden Konsolidierung der Demokratie beitragen können. Dies gilt im Hinblick auf die Ernennungspraxis der Richter (größere politische Unabhängigkeit), die Stärkung der Verfassungsgerichte, den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte (durch Menschenrechtsbeauftragte oder Ombudsmänner), die Stärkung und größere Unabhängigkeit der Wahlgerichte, die Reform des Strafrechts und der Strafprozeßordnung etc. Viele der Reformen befinden sich allerdings erst in einer Anfangsphase, andere wurden nur halbherzig durchgeführt oder haben sich in der politischen Praxis noch nicht durchsetzen können. Reformbedarf besteht auch im Bereich der Parlamentsarbeit, damit die „zweite Gewalt" ihre Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive und ihrer Gestaltungsfunktion im Rahmen der Gesetzgebung wahrnehmen kann. Großer Anpassungs- und Modernisierungsbedarf besteht ferner bei den intermediären Organisationen zwischen Staat und Gesellschaft. Dies gilt sowohl für die politischen Parteien als auch für Interessenorgani"

12

So wurden in vielen Ländern die Verfassungen reformiert. In der Regel leisten die überarbeiteten Verfassungstexte dem Buchstaben nach einen Beitrag zur Stärkung der Grundrechte und Modernisierung der politischen Institutionen in den betreffenden Ländern. Grundsätzlich positiv zu bewerten ist, daß mit den Verfassungsreformen den politischer Institutionen und Verfahren ein größeres Eigengewicht in der Diskussion Uber die Verfestigung und Vertiefung der Demokratie eingeräumt wird (vgl. Gargarella 1997: 971). Zum Thema Justizreform in Lateinamerika siehe Rowat/Malik/Dakolias (1995), Madiener (1996), Nolle (1996), Jarquln/Camllo (1997): Ratliff/Buscaglia (1997).

51

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Tabelle 6: Aufschwung oder Niedergang Frage: Würden Sie sagen, daß sich dieses Land im Aufschwung befindet, stagniert, oder einen Niedergang erlebt? (in %)

Lateinamerika

Aufschwung

Stagnation

Niedergang

26

50

21

|

Südamerika und Mexiko

29

48

21

Zentralamerika

20

53

23

Peru

58

28

10

Chile

51

40

10

Brasilien

41

44

14

j

Bolivien

36

48

15

|

Ekuador

27

52

18

Kolumbien

26

53

20

Argentinien

21

50

26

Paraguay

20

55

23

Uruguay

18

55

24

Mexiko

14

55

29

Venezuela

14

48

32

I !

I

Panama

31

56

11

|

El Salvador

27

48

19

|

Guatemala

24

47

20

|

Costa Rica

21

54

21

Nikaragua

12

60

25

Honduras

7

50

40

Quelle: Latinobarômetro 1996

sationen wie Gewerkschaften oder Unternehmerverbände (vgl. Nolte 1994; Maihold 1996: 66-67). Es ist schwer abzuschätzen, welche politische Entwicklung Lateinamerika in den nächsten Jahren nehmen wird: Eine Entpolarisierung und Entideologisierung der Politik geht einher mit wachsender Unzufriedenheit mit den politischen Akteuren und den politischen Institutionen. Zu erwarten ist eine Kombination aus politischer Stabilität, was die politische Ordnung betrifft, und politischen Umbrüchen - oder „realignments" - in der Parteienlandschaft. Obgleich hier zwischen den lateinamerikanischen Ländern zu unter-

52

Nolte: Der verunsicherte Jaguar

scheiden ist: Es gibt Länder mit hoher parteipolitischer Stabilität - wie Chile oder Kolumbien - und andere, die sich immer noch im Umbruch befinden oder eine latente Instabilität aufweisen, wie Peru oder Venezuela. Analysiert man die Wahlen in Lateinamerika nach der Rückkehr zur Demokratie 13 , so lassen sich verschiedene Wahlzyklen unterscheiden. Zu Anfang und Mitte der 80er Jahre standen die Wahlen zunächst unter dem Zeichen des Übergangs von autoritären Systemen zu Demokratien. Die Wahlergebnisse lassen die Interpretation zu, daß die Wähler mit ihrer Wahlentscheidung versuchten, einerseits abzusichern, daß es zu einem deutlichen Bruch mit der autoritären Vergangenheit kommt, andererseits sollte das Risiko autoritärer Rückfälle gering gehalten werden, d.h. radikale Optionen wurden vermieden. Der zweite Wahlzyklus Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre stand unter dem Vorzeichen des wirtschaftspolitischen Umbruchs bzw. der wirtschaftlichen Krise. Fast durchgängig mußten die regierenden Parteien empfindliche Niederlagen hinnehmen. Zudem setzten sich häufig politische Außenseiter - Fernando Collor de Mello in Brasilien, Alberto Fujimori in Peru, Carlos Menem in Argentinien - bei Wahlen durch. Der dritte Wahlzyklus Mitte der 90er Jahre stand unter dem Vorzeichen politischer Kontinuität und Stabilität. Die Wähler belohnten Regierungsparteien, die wirtschaftliche Stabilisierungserfolge vorweisen konnten, auch wenn diese mit sozialen Kosten verbunden waren. Über den nächsten Wahlzyklus Ende der 90er Jahre kann man nur spekulieren. Es gibt Anzeichen dafür, daß sich viele Wähler dann nicht mehr mit den wirtschaftlichen Stabilisierungserfolgen zufrieden geben, sondern auf Parteien setzen werden, die ihnen eine spürbare Verbesserung ihrer Lebenssituation versprechen. Zumal eine Mehrheit der Lateinamerikaner die Situation in ihren Ländern eher skeptisch beurteilt. Nach der Umfrage des Latinobarómetro wähnten nur 26% der Lateinamerikaner ihr Land im Aufschwung, 50% der Befragten sahen eine Stagnation und 21% meinten, ihr Land erlebe einen Niedergang. Nur in zwei von 17 Ländern überwog die positive Wahrnehmung: in Chile und Peru (vgl. Tabelle 6).

Fazit Es mehren sich die positiven Anzeichen für eine dauerhafte Verankerung der Demokratie in Lateinamerika, gleichwohl sollte man bei einem Blick auf die Region die noch bestehenden Risiken nicht übersehen. .Lateinamerika sollte weder als Beispiel dafür, wie Regierungen versagen, noch als das neue Leuchtfeuer demokratischen Wohlstands analysiert werden" (Domínguez 1997: 101, Übers. D.N.). Lateinamerika besitzt im Vergleich mit anderen Regionen in der Dritten Welt komparative politische Vorteile, die aber - wie im wirtschaftlichen Bereich - dynamisch weiterentwickelt werden müssen. Die wirtschaftliche und die politische Entwicklung beeinflussen sich gegenseitig und stehen in einem engen Wechselverhältnis. Die wirtschaftlichen Stabilisierungserfolge, vor allem die erfolgreiche Bekämpfung der Hyperinflation, haben einen Beitrag zur politischen Stabilisierung geleistet, zugleich sichert der wachsende politische Konsens über wesentliche Grundlinien der Ordnungspolitik den wirtschaftlichen Umbruch politisch ab. Mit Blick auf die Zukunft werden die wirtschaftlichen Stabilisie-

11

Siehe hierzu Bendel/Nolte (1995); Nolte (1991b; 1992; 1994) sowie die verschiedenen Ausgaben von .Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation": Heft 17/18 (1991) - Wahlen in Lateinamerika 19901991; Heft 25/26 (1994) - Abkehr vom Neoliberalismus? Wahlen in Lateinamerika 1992-1993; Heft 28 (1995) - Lateinamerikas Wähler setzen auf Stabilität. Wahlen 1994/95.

53

Lateinamerika Jahrbuch 1997

rungserfolge allein nicht mehr ausreichen. Insofern ist der Aussage des ehemaligen Chefökonomen der Weltbank für Lateinamerika, Sebastián Edwards, zuzustimmen, wenn er fordert: „Der Washington-Konsensus muß um eine soziale Dimension ergänzt werden. Falls diese Modifikation nicht effizient und schnell vorgenommen wird, werden wir in der Zukunft ein ernstes Problem bekommen" (Suplemento Cash, Página 12, 10.11.1996; Übers. D.N.). Die dauerhafte Verelendung breiter Gesellschaftsschichten, hohe Arbeitslosenquoten und eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich stellen eine schwere Belastung für die politischen Systeme dar und können erneut zu politischer Instabilität führen. Gesellschaftliche Anomie und gewaltsame soziale Proteste, das Anwachsen illegaler Wirtschaftszweige und der organisierten Kriminalität (Stichwort: Drogen) sowie der generelle Anstieg von Gewaltkriminalität in den lateinamerikanischen Metropolen sind eine Folge der sozialen Verwerfungen14 und können autoritäre Strömungen in der Politik begünstigen. Schon heute liegt die Mordrate in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten über dem Durchschnittswert der USA15. Es ist auch nicht auszuschließen, daß interne soziale und politische Spannungen wieder nach außen kanalisiert werden und der Prozeß einer friedlichen Einhegung zwischenstaatlicher Konflikte in der Region unterbrochen wird, der auch zum Zurückdrängen des Einflusses der Militärs beigetragen hat. Der peruanisch-ekuadoranische Grenzkonflikt von Anfang 1995 ist ein Beispiel für derartige Gefahren, zumal es an einem übergreifenden System der Rüstungsbegrenzung und der Institutionalisierung von vertrauensbildenden Maßnahmen in Lateinamerika fehlt. Zugleich dokumentieren Meinungsumfragen immer noch ein beachtliches Mißtrauen in wechselseitiger Wahrnehmung der Bürger benachbarter Staaten. Im Hinblick auf die dauerhafte Konsolidierung der Demokratie benötigt Lateinamerika ein Wirtschaftsmodell, das Stabilität mit Wachstum und einer breiten Streuung der Früchte des Wachstums verbindet und auf diese Weise auch die vorhandenen positiven Tendenzen zur wirtschaftlichen und möglicherweise langfristig auch politischen Integration verstärkt. Dieses Ziel wird nicht automatisch - durch die „unsichtbare Hand" - erreicht werden, sondern setzt politischen Willen und politische Entscheidungen voraus. Insofern ist auch hier dem Urteil von Touraine (1996) zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die wirt"

Als Beispiel für die Risiken einer sozial unausgewogenen Politik kann Argentinien herangezogen werden. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von US$ 8.700 lag das Land nach Angaben der Weltbank 1995 weltweit an 24. Stelle und deutlich über dem lateinamerikanischen Durchschnitt. Im Stadtgürtel um Buenos Aires (conurbano) leben gleichwohl 84.000 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren (8% dieser Altersgruppe) - 66.000 unter 20 Jahren - , die weder arbeiten noch zur Schule gehen und die aufgrund ihres Ausbildungsniveaus auf dem argentinischen Arbeitsmarkt auf Dauer nicht vermittelbar sind. Über die Hälfte dieser Gruppe hat nur die Grundschule besucht, der Rest ein oder zwei Jahre die Sekundarstufe und ist dann ohne Abschluß abgegangen (Daten des Statistischen Amtes, die im Oktober 1996 erhoben wurden; Clarín. Segunda Sección, 11.5.1997: 3-6). Theoretisch können sich nach Ansicht argentinischer Experten aus diesem Bevölkerungssegment bis zu 10.000 Jugendbanden rekrutieren. Anzumerken bleibt, daß im Zeitraum zwischen 1994 und 1996 die Zahl der Delikte im Großraum Buenos Aires um mehr als 40% zugenommen hat (von 72.000 auf 102.000): die Zahl der Morde um 23% (von 958 auf 1.179), der überfalle um 62% (von 18.574 auf 30.149), der Diebstahle um 30% (von 27.028 auf 35.149) und der Autodiebstahle um 45% (von 21.807 auf 31.712.) (Clarín 11.5.1997: 56).

15

Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre kamen auf 100.000 Einwohner an Morden (in Klammem jeweils die Vergleichswerte Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre): Kolumbien 89,5 (20,5), Jamaika 70,0, Brasilien 19,7 (11,5), Mexiko 17,8 (18,2), Venezuela 15,2 (11,7), Trinidad u. Tobago 12,6 (2,1), Peru 11,5 (2,4), Panama 10,9 (2,1), Ekuador 10,3 (6,4), USA 10,1 (10,7), Argentinien 4,8 (3,9), Uruguay 4,4 (2,6), Costa Rica 4,1 (5,7), Paraguay 4,0 (5,1), Chile 3,0 (2,6) (Latin American Weekly Report WR-97-10: 100; Página 12, 3.5.1997:11).

54

Nolte: Der verunsicherte Jaguar schaftliche Weiterentwicklung Lateinamerikas hängt vor allem von seiner Fähigkeit ab, den Zusammenbruch des traditionellen Modells staatlicher Intervention zu überwinden, von seiner Fähigkeit, sich an die globalen Veränderungen in der Weltwirtschaft anzupassen, und auch und vielleicht vor allem davon, neue Modelle sozialer und politischer Kontrolle der Wirtschaft zu schaffen, um die Öffnung und auch die Modernisierung der Wirtschaft in soziale Entwicklung umzusetzen" (Übers. D.N.).

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Peter Birle / Peter Imbusch / Christoph Wagner

Unternehmer und Politik im Cono Sur Eine vergleichende Analyse

Einleitung Die lateinamerikanischen Unternehmer und ihre Interessenorganisationen haben in der sozialwissenschaftlichen Forschung lange Zeit nur wenig Beachtung gefunden. Die Prioritäten wissenschaftlicher Analyse richteten sich auf Akteure wie die politischen Parteien, die Gewerkschaften oder die Streitkräfte. Ein Grund für die geringe Aufmerksamkeit, die den Unternehmern in der Forschung entgegengebracht wurde, mag darin bestehen, daß „die Unternehmer" sich einer quantitativen und qualitativen Konturierung weitgehend entziehen und für empirische Studien ein schwieriges Objekt sind. Ihr politisches Verhalten spielt sich häufig hinter verschlossenen Türen ab und ist der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Die Rekonstruktion ihrer Interessen und ihrer Einflußmöglichkeiten auf politische Entscheidungsprozesse ist aufwendig. Daneben sind aber auch wissenschaftsimmanente Ursachen dafür verantwortlich, daß vergleichsweise wenige Untersuchungen zu den lateinamerikanischen Unternehmern vorliegen. Während in den 50er und 60er Jahren entstandene Studien die Unternehmer noch ganz im Rahmen der Modernisierungstheorie als Teil der aufstrebenden Mittelklassen und als Träger von Modernisierungsprozessen betrachteten, versuchten in den 70er Jahren dependenztheoretische Ansätze, deren politisches Verhalten aus ökonomischen und/oder strukturellen Gegebenheiten 'abzuleiten', ohne sie - wie im übrigen die früheren Arbeiten auch - einer empirischen Untersuchung zu unterziehen1. Erst in den 80er Jahren sind die Unternehmer und ihre Verbände als zentrale gesellschaftspolitische Akteure der Länder Lateinamerikas ins Blickfeld geraten (Birle/Mols 1994; Imbusch 1997a). Dies lag zum einen an der Rückkehr zur Demokratie, für deren Konsolidierung dem Verhalten der Unternehmer nach vielfältigen antidemokratischen Erfahrungen der Vergangenheit eine Schlüsselrolle

' Zum Stellenwert der Unternehmer als politische Akteure in verschiedenen theoretischen Ansätzen siehe Birle/Imbusch/Wagner 1992.

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Birle / Innbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

zugeschrieben wurde (Borón 1992; Bos 1994; O'Donnell 1992), zum anderen aber auch an den wirtschaftspolitischen Umorientierungen hin zu einer neoliberalen Entwicklungsstrategie, die mit den oben genannten Prozessen Hand in Hand ging und die Bedeutung unternehmerischen Handelns entsprechend hervorhob. Schließlich gelangten die Unternehmer vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des realen Sozialismus in eine Position, die ihnen eine weitaus größere Legitimation und ein höheres Ansehen als gesellschaftlicher, aber auch politischer Akteur zukommen ließ, als in der Vergangenheit. Diese Entwicklungen und der damit einhergehende „neue unternehmerische Protagonismus" (Luna/Valdés 1990: 15) haben die Unternehmer und ihre Interessenorganisationen in ganz Lateinamerika zu einem interessanten Untersuchungsobjekt werden lassen. Daß Unternehmer und die Mehrzahl der Unternehmerverbände neben ihrem ureigenen Betätigungsfeld der Wirtschaft immer auch „politische Akteure" waren (Acuña 1988), ist häufig in den Hintergrund getreten, obwohl Unternehmer(verbände) durchgängig bestrebt waren, Einfluß auf einschlägige politische Entscheidungen zu gewinnen und ihre sich aus dem Firmenbesitz bzw. der exponierten Stellung in der Wirtschaft, ihrer Verbandszugehörigkeit oder ihrem „sozialen Kapital" ergebende Machtposition zur Interessendurchsetzung in der Politik zu nutzen. Das Ausmaß dieser politischen Aktivitäten war aber historisch variabel. Ob, wann und unter welchen Umständen Unternehmer und ihre Verbände zu politischen Akteuren werden, hängt zum einen von den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab, zum anderen vom Grad der Homogenität ihrer Interessen, den jeweils aktuellen Bedrohungsperzeptionen sowie der Konsensualität der von ihnen angestrebten Ziele innerhalb der Unternehmerschaft, aber auch in der Gesellschaft. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Unternehmerschaft eines Landes zwar über vielfältige interne „Bindungen" verfügen kann, daraus aber nicht notwendigerweise eine größere Homogenität resultieren muß. Nicht nur aufgrund von Faktoren wie den Charakteristika, der Struktur und dem Betätigungsfeld eines Unternehmens können sich Interessengegensätze und Konflikte ergeben, sondern auch konjunkturelle Faktoren und unterschiedliche Einschätzungen von politischen Ereignissen bzw. Entscheidungen führen zu Interessendivergenzen, so daß die Unternehmer sowohl bezüglich ihrer Struktur wie auch ihrer Interessen als heterogene gesellschaftliche Gruppe betrachtet werden müssen. Im folgenden werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Unternehmer und der sie vertretenden Interessengruppen in Argentinien, Chile und Uruguay herausgearbeitet2. In einer historisch-vergleichenden Längsschnittanalyse werden für drei Zeitabschnitte jeweils die sozio-ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, die sozialstrukturellen Merkmale und Organisationsstrukturen der Privatwirtschaft sowie das konkrete politische Verhalten der Unternehmerverbände untersucht. Die erste Phase umfaßt die Entwicklungen bis zur Etablierung der autoritären Regime in den 70er Jahren, die zweite Phase die Zeit der Militärdiktaturen, die dritte Phase die Jahre seit der Redemokratisierung. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, inwieweit angesichts der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen auch in Zukunft mit einer loyalen Haltung der Privatwirtschaft gegenüber der Demokratie gerechnet werden darf.

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Die hier in vergleichender Perspektive dargestellten Erkenntnisse basieren auf drei detaillierten Studien der Autoren zu Argentinien, Chile und Uruguay, die im Rahmen eines am Mainzer Institut für Politikwissenschaft angesiedelten DFG-Forschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Manfred Mols angefertigt wurden (Birle 1995a; Imbusch 1995; Wagner 1997).

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1.

Von der Unabhängigkeit bis zu den Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre

1.1.

Die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen

Die Volkswirtschaften Argentiniens, Chiles und Uruguays waren während des 19. Jahrhunderts weitgehend agrarisch geprägt. Wachstumsimpulse gingen seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts von der durch die europäischen Industrialisierungsprozesse ausgelösten Ausweitung der Rohstoff- und Nahrungsmittelnachfrage auf dem Weltmarkt aus. Es kam zu einer Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt auf der Grundlage von außenorientierten Entwicklungsstrategien. Der massive Anstieg der Exporte von mineralischen (Chile: Kupfer, Salpeter) bzw. agrarischen Rohstoffen (Argentinien und Uruguay: Rindfleisch, Getreide) ermöglichte im Gegenzug den Import von Fertigwaren aus den Industrieländern. Bis zur Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre galt diese Entwicklungsstrategie als sehr erfolgreich und wurde in keinem der Länder grundsätzlich in Frage gestellt. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung ergaben sich auch relativ früh erste Anreize für die Entstehung einer gewerblich-industriellen Entwicklung, aber bis in die 30er Jahre blieb die Landwirtschaft in allen drei Ländern der mit Abstand wichtigste Wirtschaftssektor (Cardoso/Faletto 1976). Der Staat beschränkte seine wirtschaftliche Rolle zunächst im wesentlichen auf die Schaffung der Rahmenbedingungen für das Import-Export-System. Während diese Haltung in Argentinien und Chile bis in die 30er Jahre aufrechterhalten wurde, begann in Uruguay schon kurz nach der Jahrhundertwende unter den beiden Präsidentschaften von José Batlle y Ordóftez ein aktiverer staatlicher Interventionismus in wirtschafts- und sozialpolitischen Bereichen, der durchaus wohlfahrtsstaatliche Züge aufwies und für die damalige Zeit schon beinahe revolutionären Charakter hatte (Nahum 1988: 39). In allen drei Ländern kam ausländischem Kapital große Bedeutung für die Herausbildung der Exportwirtschaft zu, wobei allerdings länderspezifische Besonderheiten existierten. In Chile wies die Salpeter- und Kupferproduktion weitgehend einen Enklavencharakter auf. Der chilenische Staat partizipierte an den in der Regel in ausländischem Besitz befindlichen Unternehmen nur in Form von Exportsteuern. Auch in Argentinien spielte ausländisches Kapital eine wichtige Rolle, vor allem bei der Weiterverarbeitung und beim Transport von Rindfleisch. Der größte Teil der landwirtschaftlichen Produktion lag dort jedoch in den Händen einer einheimischen Oberschicht aus Großgrundbesitzern, Handels- und Finanzoligarchie. In Uruguay wiederum waren Ende des 19. Jahrhunderts 80% des lmport-/Exportbereichs, der Industrie und des Bankenwesens sowie etwa die Hälfte des Landbesitzes in ausländischen Händen (Barrän/Nahum 1982: 50; Cariola/Sunkel 1991; Sàbato 1988). Im Zuge der Weltwirtschaftskrise trat die Verwundbarkeit der außenorientierten Entwicklungsstrategie deutlich zu Tage, weshalb es seit den 30er Jahren zu verstärkten In dustrialisierungsbemühungen im Rahmen binnenmarktorientierter, auf Importsubstitution abzielender Entwicklungsstrategien kam. Dabei übernahm der Staat eine zentrale Rolle im Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Er schuf u.a. Anreizstrukturen und Förderungsmöglichkeiten für die Industrie, trat selbst verstärkt durch unternehmeriische Tätigkeit hervor, intervenierte im Bereich der Arbeitsgesetzgebung und sorgte füir die Herausbildung einer gewissen 'Sozialstaatllichkeit'. Die Bemühungen um den Aufbau von nationalen Industrien waren zunächst recht erfolgreich, sie blieben aber von den durch Agrar- bzw. Rohstoffexporte erwirtschafteten Deviseneinkünften abhängig. Etwa 60

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ab Mitte der 50er Jahre zeichnete sich eine Erschöpfung der binnenmarktorientierten Industrialisierungsstrategie ab, ohne daß dies zu einem grundlegenden entwicklungsstrategischen Wandel geführt hätte. Die fehlenden internen Impulse für eine dynamische Industrialisierung sollten durch ausländisches Kapital kompensiert werden, gleichzeitig aber wurde die Abschottung der Industrieproduktion gegenüber dem Weltmarkt aufrechterhalten. Der Zufluß ausländischer Direktinvestitionen verstärkte die Konzentrationstendenzen, insbesondere in den dynamischsten Industriesektoren. Während die konjunkturelle Entwicklung in Uruguay relativ kontinuierlich verlief, zeichnete sich die argentinische Wirtschaft seit den 50er Jahren durch eine zyklische Entwicklung aus, in deren Verlauf sich Expansionsphasen, Zahlungsbilanzkrisen und wiederholte Versuche einer grundlegenden wirtschaftspolitischen Kurskorrektur abwechselten. In Chile gipfelte die langjährige Stagnationsphase Ende der 60er Jahre in einem umfassenden sozialökonomischen Reformprozeß, der in der Zeit der Unidad Populär mit dem Versuch einer Systemtransformation seinen Höhepunkt erreichte (Hirschman 1987). 1.2.

Die politischen Rahmenbedingungen

Während bezüglich der entwicklungsstrategischen Tendenzen weitreichende Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Ländern bestanden, können hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen deutliche Unterschiede zwischen Chile und Uruguay einerseits und Argentinien andererseits ausgemacht werden. Sie beziehen sich auf die Stabilität der politischen Entwicklung und auf die Bedeutung parteipolitischer und parlamentarischer Kanäle zur Bewältigung von Konflikten. In Chile wurde bereits kurz nach der Unabhängigkeit ein parlamentarisch-ndemokratisches" System im Rahmen einer oligarchischen Ordnung etabliert. Dieses unterlag im Verlauf der Entwicklung einem dynamischen sozio-politischen Wandel, wozu u.a. die allmähliche Ausweitung des Wahlrechts, seit der Jahrhundertwende die Integration der Mittelschichten und später auch der Arbeiterbewegung in das politische System gehörte. Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems und die Herausbildung von drei ungefähr gleich großen politischen Lagern ermöglichte eine von relativer Kontinuität und Stabilität geprägte politische Entwicklung, wobei die Parteien zu zentralen Akteuren und das Parlament zur wichtigsten Arena der gesellschaftlichen Konfliktbearbeitung wurden. Erst im Zuge der Linksverschiebung des politischen Spektrums seit den 60er Jahren kam es zu einer starken Polarisierung innerhalb des politischen Systems. Einer Reformbewegung mit systemtransformierenden Zielsetzungen standen die konservativen Kräfte gegenüber. Die politischen Reformbestrebungen der Regierung Allende und die daraus erwachsenden Bedrohungen für die traditionellen gesellschaftlichen Machtfaktoren des Landes bildeten den unmittelbaren Anlaß für den Militärputsch im Jahr 1973 (Nohlen 1973; Petras 1972; Boris/Boris/Ehrhardt 1971). Auch die politische Entwicklung Uruguays im 20. Jahrhundert war lange Zeit von Kontinuität geprägt. Nach der Befriedung der zuvor von Gewalt und Chaos geprägten politischen Situation zu Anfang des Jahrhunderts gelang es früher als in Argentinien und Chile, auch die Unterschichten in das politische System zu integrieren (De Riz 1992: 880ff.). Zu den dauerhaften Merkmalen der politischen Kultur zählte die Entwicklung einer stabilen politischen Klasse, deren Mitglieder sich durch einen hohen Professionalisierungsgrad auszeichneten (Landinelli/Löpez Chirico 1990: 217; Gillespie 1992: 181), sowie die Tatsache, daß staatliche Instanzen die politischen Parteien als Gesprächs- und Verhandlungspartner bevorzugten und ihnen einen gegenüber Unternehmerverbänden

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und arideren korporativen Akteuren klar privilegierten Status einräumten (Caetano 1992: 18f.). Zusätzlich trug eine originelle Wahlgesetzgebung dazu bei, ein Zweiparteiensystem zu konsolidieren, das über Jahrzehnte Bestand haben sollte (Wagner 1993: 126ff.). Politische Stabilität war - abgesehen von einem zivil-autoritären Intermezzo in den Jahren 1933-38 - eng verknüpft mit demokratischen Regierungsformen, wobei vorübergehend von 1952-66 auch ein kollegiales Regierungssystem mit einem Staatsrat als Exekutivorgan installiert wurde. Auch in Argentinien konnten sich nach dem Ende der „oligarchischen Republik" zunächst demokratische Verhältnisse etablieren. Die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts im Jahr 1912 führte zu einer partiellen Öffnung des politischen Systems und ermöglichte in den Jahren 1916 bis 1930 zivil-demokratische Regierungen. Aber nach einem ersten Militärputsch (1930), den Fassadendemokratien der 30er Jahre und den durch den Peronismus ausgelösten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen zeichnete sich die Entwicklung nach 1955 durch wachsende Instabilität und wiederholte Regimewechsel aus. Anders als in Chile und Uruguay spielten Parteien und Parlament auch in Phasen ziviler Herrschaft keine dominierende Rolle bei der Lösung gesamtgesellschaftlicher Konflikte. Die fehlende Repräsentativst des Parteiensystems infolge der Ausgrenzung des Peronismus und der Nichtexistenz einer konservativen Partei mit Chancen auf einen Wahlsieg sowie die zunehmende Politisierung der Streitkräfte führten dazu, daß sich parallel zu den formalen politischen Institutionen eine informelle, von einer korporativen Logik geprägte Arena politischer Auseinandersetzungen herausbildete, in deren Rahmen Streitkräfte, Unternehmerverbände und Gewerkschaften die zentralen Akteure waren (Birle 1995a: 59ff.; O'Donnell 1977).

1.3.

Die Unternehmer: sozialstrukturelle Charakteristika und Organisationsstrukturen

In der argentinischen Privatwirtschaft dominierte bis Anfang der 40er Jahre die im Exportgeschäft tätige Agrar-, Handels- und Finanzgroßbourgeoisie. Die aus ihren Reihen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründeten Verbände, allen voran die Sociedad Rural Argentina (SRA), aber auch die Cámara Argentina de Comercio (CAC) und die Bolsa de Comercio de Buenos Aires (BOLSA), zeichneten sich durch zahlreiche überlappende Mitgliedschaften, eine weitreichende Interessenhomogenität und - bis Anfang der 40er Jahre - durch ein grundsätzlich harmonisches Verhältnis zu den Entscheidungsträgern des politischen Systems aus. Auch die in der Unión Industrial Argentina (UIA) organisierten Industriellen, deren Interessen eng mit dem Agrarexportmodell verknüpft waren, akzeptierten grundsätzlich die vorherrschende Entwicklungsstrategie (Schvarzer 1990). In allen Wirtschaftssektoren entstanden im 20. Jahrhundert konkurrierende Verbände. So kam es beispielsweise im Industriesektor seit den 30er Jahren zu Versuchen, die Monopolstellung der UIA zu überwinden. Die UIA beanspruchte zwar für sich, die Interessen des gesamten Sektors zu repräsentieren, aber für die binnenmarktorientierte Klein- und Mittelindustrie und für die im Landesinneren angesiedelten Betriebe bot sie kaum Repräsentationsmöglichkeiten. Es gelang dieser Gruppe jedoch erst 1953 mit Unterstützung der peronistischen Regierung, einen nationalen Industrieverband (die Confederación General de la Industria - CGI) und einen Dachverband (die Confederación General Económica - CGE) zu etablieren, die in Konkurrenz zu den traditionellen Unternehmerverbänden traten. Nach 1955 führte die heterogene Interessenlage innerhalb der Privatwirtschaft zur Bildung von zwei Lagern. Die wirtschaftsliberal und anti-

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peronistisch orientierten Verbände (SRA, UIA, CAC, BOLSA, etc.) schlössen sich 1958 zur Asociación Coordinadora de Instituciones Empresarias Libres (ACIEL) zusammen, die sich als Gegenorganisation zur CGE verstand. Die beiden Lager lieferten sich bis in die 70er Jahre heftige Auseinandersetzungen, wobei die Verfechter einer liberalen und gegenüber dem Weltmarkt geöffneten Volkswirtschaft (ACIEL) den Anhängern einer binnenmarktorientierten, auf staatliche Interventionen vertrauenden Strategie (CGE/CGI) gegenüberstanden. Hinzu kam, daß sich die ideologische Polarisierung der argentinischen Gesellschaft in Peronisten und Antiperonisten auch innerhalb der Privatwirtschaft niederschlug, wodurch die Gräben zwischen den beiden Lagern zusätzlich wuchsen. Die Etablierung eines von der gesamten Privatwirtschaft anerkannten Dachverbandes war angesichts solcher Konflikte ein unmögliches Unterfangen (Birle 1995a: 11 Off.). In Chile war die Agraroligarchie bis in die 20er Jahre die dominante Gruppierung innerhalb der Unternehmerschaft. Aus ihr gingen durch Ausdifferenzierung andere Fraktionen der Privatwirtschaft hervor. Im Zuge der Importsubstitution setzte sich die Industriebourgeoisie seit den 30er Jahren schrittweise als wichtigste Fraktion durch, ohne daß die Großagrarier dadurch ihre Macht eingebüßt hätten. Aufgrund der engen Bindungen zwischen beiden Gruppen brachen Konflikte selten offen aus. Die Zustimmung zur Industrialisierung seitens der Agrarier konnte durch die Respektierung der „Unantastbarkeit" ihrer Eigentumsrechte im landwirtschaftlichen Bereich (Latifundium) gewährleistet werden (Muftoz/Arriagada 1977). Im Rahmen der Opposition gegen die Reformpolitik der 20er und 30er Jahre entstand ein Dachverband (Confederación de la Producción y del Comercio - COPROCO), in dem sich die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Verbände der Agrarier (Sociedad Nacional de Agricultura - SNA), der Minenbesitzer (Sociedad Nacional de Minería - SONAMI), Händler (Cámara Nacional de Comercio - CANACO) und Industriellen (Sociedad de Fomento Fabril - SOFOFA) zur Verteidigung ihrer grundlegenden Interessen zusammenschlössen. Trotz der Entstehung von Verbänden der Klein- und Mittelunternehmer seit den 60er Jahren und der Existenz von widerstreitenden Positionen (wirtschaftsliberale versus stärker staatsorientierte Gruppen) kam es aufgrund der eindeutigen Dominanz der großen Verbände nie zu einer vergleichbaren Polarisierung innerhalb der Privatwirtschaft wie in Argentinien. Die wachsenden Bedrohungsperzeptionen infolge des Bedeutungszuwachses der reformorientierten und sozialistischen Kräfte, die das Privateigentum zunehmend in Frage stellten, führten Anfang der 70er Jahre unter der Allende-Regierung zum Zusammenschluß aller Fraktionen der Unternehmerschaft und zur zeitweiligen Oberwindung ihrer Differenzen (Imbusch 1995: 213-259). Von den untersuchten Ländern wiesen die Unternehmer Uruguays den geringsten Politisierungsgrad auf. Die großen Verteilungsspielräume in der „Schweiz Lateinamerikas" trugen lange Zeit dazu bei, daß gesellschaftliche Konflikte sich auf einem relativ niedrigen Niveau abspielten. Prägend für die politische Kultur war das Streben nach Konsens, das auf der gesellschaftspolitischen Leitidee von der Versöhnung zwischen den Klassen basierte (Nahum u.a. 1988: 100). Die wirtschaftliche Vormachtstellung der Agrarbourgeoisie wurde auch durch deren phasenweise politische Ausgrenzung und durch die Herausbildung einer nationalen Industrieunternehmerschaft kaum ernsthaft gefährdet. Die gegen die Agrarinteressen gerichtete Politik von Batlle y Ordóftez beispielsweise beschränkte sich im wesentlichen auf verbale Attacken und auf die selektive Erhöhung von Steuern und Abgaben (Nahum 1988: 77). Die .großen, alten" Unternehmerverbände des Landes, Asociación Rural del Uruguay, Cámara de Industrias del Uruguay, Cámara Nacional de Comercio und Cámara Mercantil de Productos del País, die ähnlich wie das Gros der Unternehmerverbände in Chile und Argentinien bereits in der 63

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren, verstanden sich in erster Linie als Dienstleistungsorganisationen, weniger als Interessengruppen mit politischen Zielsetzungen. Als erste politisch ausgerichtete Interessenvertretung und damit als neues Modell verbandspolitischer Aktion wurde 1915 die Federación Rural gegründet (Caetano 1992: 29). Repräsentiert waren in diesen Verbänden vor allem die Großunternehmer, wogegen den Klein- und Mittelunternehmern nur eine marginale Bedeutung zukam. Wie in Argentinien kam es nicht zur Bildung eines sektorübergreifenden Dachverbandes. Darüber hinaus wirkten die ausgeprägten individualistischen Orientierungen der Unternehmer und deren vorrangige gegenseitige Wahrnehmung als Konkurrenten nicht sonderlich kohäsionsstiftend. Im Hinblick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Organisation und das Handeln der Unternehmerverbände ist anzumerken, daß in keinem der drei Länder weitreichende Regelungen existierten. Anders als in Mexiko oder Brasilien, wo die Verbände in staatskorporatistische Regelungsmuster eingebunden und entsprechend kontrolliert wurden, agierten die Unternehmerverbände Argentiniens, Chiles und Uruguays auf der Grundlage der von der Verfassung garantierten Vereinigungsfreiheit. Nur in Argentinien kam es unter Perón zu Bestrebungen, staatskorporatistische Regelungsmuster durchzusetzen. Sie scheiterten jedoch am Widerstand der wirtschaftsliberal orientierten Verbände (Bartell/Payne 1995; Estrada/Masi 1983). 1.4.

Das politische Handeln der Unternehmer

Bis in die 20er Jahre existierten zwischen Argentinien und Chile weitreichende Parallelen hinsichtlich der politischen Rolle der Unternehmer. Im Rahmen der oligarchischen Republiken konnte die Agrar-, Handels- und Finanzbourgeoisie den Staat anders als in Uruguay durch die Besetzung von Schlüsselpositionen weitgehend für ihre Zwecke instrumentalisieren. Auch durch die partielle Öffnung der politischen Systeme und die Einbindung der Mittelschichten wurde diese Vormachtstellung zunächst nicht gefährdet. Die chilenischen Unternehmer hielten sich trotz ihres Widerstandes gegen die seit den 20er Jahren durchgeführten sozialpolitischen Reformen bis in die 60er Jahre an die schrittweise und ohne große Brüche etablierten Spielregeln des demokratischen politischen Systems. Ihre Präsenz in zahlreichen staatlichen Kommissionen und die Möglichkeit, über konservative Parteien Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen, dürften dafür ein entscheidender Faktor gewesen sein. Zudem blieb die politische Linke durch eine restriktive Wahlgesetzgebung lange Zeit vom politischen Prozeß ausgeschlossen, so daß die Unternehmer ihre grundlegenden Werte und Interessen nicht bedroht sahen. Dies änderte sich erst im Zuge der Reformpolitik der 60er Jahre, d.h. mit der beginnenden Agrarreform, der 'Chilenisierung' des Kupfers und der von den Christdemokraten propagierten 'Revolution in Freiheit' und verstärkt unter Allende. Seine Regierung strebte u.a. eine weitreichende Agrarreform mit der Abschaffung des Großgrundbesitzes, die 'Nationalisierung' der Kupferminen sowie die Verstaatlichung großer Monopole im Industrie- und Bankensektor an (de Vylder 1976). Die Unternehmer reagierten auf ihren zunehmenden Einflußverlust und auf den Bedeutungsgewinn der sozialistischen Opposition in Form sozialistischer und kommunistischer Parteien in der Regierung, sozialistischer bzw. stark reformorientierter Gewerkschaften und gemeinsamer Handlungsstrategien von Gewerkschaften und Linksparteien mit einer immer kritischeren Haltung gegenüber dem als „Massendemokratie" abqualifizierten politischen System und beteiligten sich aktiv an der Vorbereitung und Durchführung des Putsches von 1973 gegen die gewählte Regierung Allende (Nolte 1987; Valdés 1989; CEP 1992). 64

Birie / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

In Argentinien war die Agrar-, Handels- und Finanzbourgeoisie bereits 1930 erstmals am Putsch gegen eine zivile Regierung beteiligt. Unter den Fassadendemokratien der 30er Jahre gelang es ihr noch einmal, den Staatsapparat mehr oder weniger direkt zu kontrollieren und für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Seit Mitte der 40er Jahre entwickelten sich bei dieser Gruppe wachsende Bedrohungsperzeptionen gegenüber dem Peronismus und den ihn tragenden gesellschaftlichen Kräften, der Justizialistischen Partei, dem Gewerkschaftsdachverband Confederación General del Trabajo (CGT) und der CGE. Dies erklärt die Unterstützung der traditionellen Unternehmerverbände für den Putsch gegen Perón im Jahr 1955. Seit dieser Zeit existierten in der Privatwirtschaft zwei Lager, deren politische Einflußmöglichkeiten und Verhaltensweisen sich deutlich voneinander unterschieden. Die in der CGE zusammengeschlossenen Verbände verfügten bis Anfang der 70er Jahre nur über geringen politischen Einfluß. Allenfalls gemeinsam mit der CGT konnten sie als ernstzunehmender Machtfaktor auftreten. Mit der erneuten Machtübernahme durch eine peronistische Regierung 1973 erlangte die CGE zwar stärkeren Einfluß auf die Politik, dieser ließ jedoch nach dem Tod Peróns 1974 rapide nach. Die in ACIEL und in der 1975 gegründeten Nachfolgeorganisation Asamblea Permanente de Entidades Gremiales Empresarias (APEGE) zusammengeschlossenen wirtschaftsliberalen Verbände verfügten über gute Beziehungen zu den Militärregierungen, in deren Verlauf sie mehrfach Schlüsselpositionen besetzten. Dagegen war ihr Verhältnis zu den zivilen Regierungen gespannt, da deren entwicklungsstrategische Orientierungen nicht ihren Interessen entsprachen. Die Klagen über fehlende Einflußmöglichkeiten auf politische Entscheidungsprozesse verbanden sich mit der Tatsache, daß in Argentinien keine erfolgreiche konservative .Unternehmerpartei" existierte, die dieser Klientel eine Möglichkeit geboten hätte, über Wahlen bestimmenden Einfluß auf die Politik zu nehmen. Dies führte dazu, daß die Demokratie als Herrschaftsform und die Legitimität der zivilen Regierungen von großen Teilen der Privatwirtschaft mit wachsender Skepsis betrachtet wurden. Die in ACIEL und später in APEGE zusammengeschlossenen Verbände waren an der Destabilisierung aller zivilen Regierungen und der Etablierung der Militärdiktaturen beteiligt (Di Telia 1971; Sábato/Schvarzer 1988). In Uruguay verfügte der Staat durchgehend über eine relativ große Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Machtgruppen, auch gegenüber den Unternehmern. Insofern kann dort von einer sehr viel stärkeren Trennung zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht gesprochen werden. Die Machtressourcen der Unternehmer waren auch deswegen eingeschränkt, weil sich durch die verfolgte Entwicklungsstrategie ein relativ großes Abhängigkeitsverhältnis vieler Unternehmer vom Staat als Wirtschaftsakteur ergab. Das weitgehend unpolitische Selbstverständnis der Unternehmerverbände, die früh etablierte demokratische politische Kultur, die Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte durch Parteien, die als die wichtigsten Kanäle der Interessenartikulation und politischen Partizipation fungierten, sowie nicht zuletzt die vorhandenen Verteilungsspielräume trugen dazu bei, daß die Unternehmer als politischer Akteur keine große Rolle spielten. Erst die Regierung Pacheco durchbrach ab Ende der 60er Jahre mit dem sogenannten Kabinett der Großunternehmer (De Sierra 1988: 172) die Dominanz des politischen Prozesses durch die Parteien. Es wurden verstärkt Unternehmer in die Regierungsverantwortung eingebunden und von der Exekutive die Unternehmerverbände anstelle der Parteien als Ansprechpartner gesucht (Zubillaga/Pérez 1988: 4). Pacheco verfolgte darüber hinaus eine Politik, die dem Streben nach Konsens als traditionellem Element der politischen Kultur entgegenstand, und ging vor allem gegenüber der organisierten Arbeiterschaft auf Konfrontationskurs (Cancela/Melgar 1986: 40; Finch 1981:145).

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2.

Unternehmer und Autoritarismus

2.1.

Der Anteil der Privatwirtschaft an der Etablierung der autoritären Systeme

Die Unternehmer Argentiniens, Chiles und Uruguays waren ¡n unterschiedlichem Ausmaß an der Etablierung der Militärdiktaturen der 70er Jahre beteiligt. Am geringsten ist die Bedeutung ihres politischen Handelns für die Machtübernahme durch die Streitkräfte in Uruguay einzuschätzen. Dort waren die Unternehmer zwar an der Regierung Pacheco, die als „Wegbereiter der Diktatur" gilt, beteiligt, eindeutige Belege aber, daß Unternehmer unmittelbar in den Prozeß der Installierung der Militärdiktatur involviert waren, liegen nicht vor. Jedoch kann das überwiegende Schweigen der Unternehmer zu dem institutionellen Bruch mit der Demokratie im Jahr 1973 angesichts der gesamtgesellschaftlichen Polarisierung als Zustimmung zum Vorgehen der Streitkräfte interpretiert werden (Lerin/Torres 1987: 95). Wenngleich nur wenige Unternehmer die Militärdiktatur explizit unterstützten, wie dies z.B. aus den Reihen der Cámara Nacional de Comercio geschah (Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1991: 24f.), so begegneten doch viele der Militärregierung mit großem Wohlwollen (Handelman 1981: 250) und sahen sich als die eigentlichen Nutznießer dieser Entwicklung. Denn immerhin schalteten die Militärs ihre lästigen Widersacher, die Gewerkschaften, aus. In Argentinien spielte der Widerstand der in APEGE zusammengeschlossenen Unternehmerverbände gegen die peronistische Regierung eine wichtige Rolle für deren Destabilisierung. Der von APEGE kurz vor dem Putsch organisierte „Unternehmerstreik" wurde wiederholt als Startsignal für eine Machtübernahme durch die Streitkräfte bezeichnet. Es wäre jedoch falsch, den Großunternehmern ausschließlich die Schuld für den Putsch zuzuweisen. Die zunehmend chaotische politische, wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Situation, die sich nach dem Tod Peróns und der durch interne Konflikte ausgelösten Handlungsunfähigkeit der peronistischen Regierung herausgebildet hatte, ließ große Teile der argentinischen Gesellschaft zunächst aufatmen, als die Streitkräfte die Macht übernahmen und versprachen, „Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen (Birle 1995a: 135ff.). In Chile dagegen können die Unternehmer als zentrale und treibende Kraft bei der Destabilisierung der Regierung Allende und der Machtübernahme durch das Militär betrachtet werden. In keinem der beiden anderen Länder perzipierten die Unternehmer eine derart grundlegende Bedrohung ihrer Interessen wie in Chile (umfassende Nationalisierungen in der Industrie, „Entmachtung" der Großagrarier, Umbruch traditioneller Machtstrukturen). Dies mag erklären, warum die chilenischen Unternehmer gegenüber der Regierung Allende die Haltung einer Fundamentalopposition einnahmen. Nachdem sie bereits vergeblich über die konservativen Parteien versucht hatten, die Amtsübernahme von Allende zu verhindern, heizten sie die konfliktive gesellschaftliche Situation durch wiederholte „Unternehmerstreiks" zusätzlich auf und bemühten sich - erfolgreich - darum, die Streitkräfte von der Notwendigkeit eines Putsches zu überzeugen (Nolte 1984 und 1985; Cavallo/Salazar/Sepülveda 1988). 2.2.

Machtstrukturen und po//cy-Ergebnisse der Diktaturen

Alle drei Militärdiktaturen zeichneten sich durch ein außerordentlich repressives Vorgehen gegenüber oppositionellen Kräften aus. Davon betroffen waren nicht nur die Gue-

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Birle / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

rillagruppen und die radikalen Sektoren der Opposition. Auch gemäßigtere Politiker, Gewerkschafter und Intellektuelle mußten um ihr Leben fürchten und sahen zu Tausenden angesichts des Terrors und der Verfolgung keine andere Möglichkeit, als ins Exil zu flüchten. Die Etablierung der Diktatur fand in Uruguay nicht in Form eines einmaligen Putsches, sondern in Etappen statt. Der Wechsel von der Demokratie zur Diktatur war spätestens Mitte 1973 vollzogen, als Präsident Bordaberry die Auflösung des Parlaments anordnete (autogolpe). In der Folgezeit übernahmen die Militärs erstmals in diesem Jahrhundert eindeutig die politische Macht, was 1976 zur Absetzung eines machtlosen Bordaberry führte. Zwar wurde erst 1981 ein Angehöriger der Streitkräfte selbst Präsident, die Amtsinhaber zuvor dienten aber lediglich als zivile Marionetten einer von den Streitkräften geführten Regierung. In Argentinien teilte sich eine aus den Führern der drei Waffengattungen zusammengesetzte Junta die Macht. Dies führte von Anfang an zu internen Konflikten über den einzuschlagenden politischen und entwicklungsstrategischen Kurs. Vor allem nach 1981 traten diese Divergenzen offen zutage. In Chile wies das Militärregime nach kurzer Zeit Züge einer personalistischen Diktatur mit Parallelen zur Franco-Herrschaft in Spanien auf. Die starke Ausrichtung auf Pinochet sowie die langjährige Institutionalisierung des autoritären Systems (1973-1990; Verfassung von 1980) markierten einen deutlichen Unterschied zu Argentinien (1976-1983) und Uruguay (1973-1985). Im Hinblick auf die Legitimationsideologien der Diktaturen bestanden weitreichende Übereinstimmungen zwischen den drei untersuchten Ländern: Anti-Etatismus, Wirtschaftsliberalismus, der Kampf gegen die „Subversion", die .Bewahrung christlicher und abendländischer Werte" und die Ideologie der „nationalen Sicherheit" prägten die Diskursmuster der Militärdiktaturen im gesamten Cono Sur. Dagegen treten bei einem Blick auf die po//cy-Ergebnisse der autoritären Regime zahlreiche Unterschiede hervor. In Chile kam es zu einer radikalen Abkehr von den bislang gültigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Strukturmustern. Eckpfeiler dieser Politik waren die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt, die Liberalisierung der Finanzmärkte, die Atomisierung der Arbeiterbewegung sowie die Reformen der Arbeitsgesetzgebung, des Sozialversicherungssystems und des Erziehungswesens (die sog. 'sieben Modernisierungen'). Insgesamt kann man von einem vollständigen Bruch mit der früheren Entwicklungsstrategie und der Hinwendung zu einem neoliberalen Modell von Gesellschaft und Wirtschaft sprechen (Vergara 1985). In Argentinien blieben die unternehmerischen Funktionen des Staates dagegen trotz einer anderslautenden Rhetorik von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Wirtschaft. Die angekündigte Privatisierung von Staatsunternehmen fand nicht statt, die umfassende Industrie- und Regionalförderungspolitik wurde weitergeführt und zugunsten einer kleinen Gruppe von Großunternehmen sogar noch ausgedehnt. Die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre durchgeführte Finanzreform und die gegen Ende des Jahrzehnts überstürzt eingeleitete Öffnung gegenüber dem Weltmarkt wurden im Zuge des Krieges mit Großbritannien rückgängig gemacht. Im Sozialversicherungssystem erfolgten zahlreiche Kürzungen, aber keine grundsätzlichen Korrekturen. Ähnliches galt für das Arbeits- und Tarifrecht, wo die existierenden Regelungsmuster für die Dauer der Diktatur außer Kraft gesetzt, aber nicht grundlegend reformiert wurden. Nach 1983 kehrte man daher zunächst zum status quo ante zurück (Barsky/Bocco 1991; Birle 1995a:149ff; Schvarzer 1986). Ebenso kraß wie in Argentinien war der Widerspruch zwischen liberalem Diskurs und interventionistischen Praktiken in Uruguay (Rama 1987: 182; Wagner 1997: 162ff.). Dort schreckten die Militärs vor einer Durchsetzung der angekündigten neoliberalen Reformen fast vollständig 67

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zurück. Der Staat blieb ein zentraler Wirtschaftsakteur (Notaro 1984: 68). Unpopuläre Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen wurden zwar Mitte der 70er Jahre vom damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Alejandro Végh Villegas angestrebt, scheiterten aber am Widerstand der Militärs. Lediglich mit Blick auf den Finanzsektor ließen sie Végh Villegas nahezu uneingeschränkt nach dessen Vorstellungen agieren (Handelman 1981: 253f.). So konnte dieser in den Jahren 1974 bis 1976 die Grundlage für eine monetaristisch ausgerichtete Wirtschaftspolitik legen, in deren Mittelpunkt die Bekämpfung der Inflation und die Liberalisierung des Kapitalverkehrs standen. Doch trotz anfänglichem Wachstum gelang es nicht, die strukturellen Gründe der wirtschaftlichen Krisensymptome zu überwinden. Im Gegenteil brachten ungünstige externe Rahmenbedingungen Anfang der 80er Jahre die weiterhin stark außenabhängige Volkswirtschaft Uruguays in eine tiefe Rezession (Weinstein 1988: 61 ff.). 2.3.

Die politische Rolle der Unternehmer

In Chile fungierten die Unternehmer als zentrale soziale Basis des Militärregimes. Doch waren es in den unterschiedlichen Phasen der Diktatur jeweils unterschiedliche Unternehmerkoalitionen, die einen bestimmenden Einfluß auf die Politik des Regimes hatten bzw. von seiner Politik profitierten, während andere im Konflikt mit der von den Chicago Boys durchgesetzten wirtschaftspolitischen Ausrichtung lagen (Campero 1984; Silva 1991 und 1993). Dies schloß allerdings die generelle politische Unterstützung der Diktatur keinesfalls aus. In politischer Hinsicht wurde diese Unterstützungshaltung von der gesamten Unternehmerschaft so lange beibehalten, bis eine Redemokratisierung gegen Ende der 80er Jahre nicht mehr zu verhindern war. Dazu gehörte die Zustimmung zu allen sozial- und gesellschaftspolitischen Reformen und zur autoritären Verfassung von 1980. Abgesehen von einigen Splittergruppen leisteten die Unternehmer keinen Beitrag zur Redemokratisierung, sondern erklärten im Gegenteil anläßlich des Plebiszits 1988 ihre explizite Zustimmung zu einem Verbleib Pinochets an der Macht. Im Präsidentschaftswahlkampf 1989 unterstützten sie den von der Diktatur aufgestellten Kandidaten Hernán Büchi (Campero 1992 und 1989; Silva 1992). Trotz der autoritären Spielregeln des politischen Systems behielten die Unternehmerverbände während der Diktatur weitreichende Handlungsfreiheit. Einzelne Unternehmer der Wirtschaftsgruppen (grupos económicos) und Vertreter der großen Verbände übernahmen in unterschiedlichen Phasen des autoritären Regimes Schlüsselpositionen in Staat und Regierung, so daß von einer engen Verquickung von Unternehmern und Politik gesprochen werden kann, die in wirtschaftspolitischer Hinsicht bezüglich der Haltung der Unternehmer nach verschiedenen Phasen differenziert werden muß (Delano/Traslaviña 1989). Während der Phase der Schockpolitik (1975-1981) nahmen die großen Finanzkonglomerate eine dominierende Position ein. Ihnen nahestehende Persönlichkeiten hatten die wichtigsten Ministerposten inne. Die Großverbände SOFOFA, SNA und ABIF befürworteten ebenfalls diese Politik, während von Seiten der kleinen und mittleren Unternehmer deutliche Kritik geäußert und gegen die Umsetzung der Wirtschaftspolitik zunehmend protestiert wurde. Nach dem Zusammenbruch der Finanzkonglomerate und der schweren Wirtschaftskrise in den Jahren 1981-1983 kam es zu einer stärkeren Verselbständigung der Politik gegenüber den Interessengruppen der Unternehmer, bevor sich ab 1984 die Verbände der COPROCO als dominierender Akteur mit präferentiellem Zugang zur Politik durchsetzen konnten. Im Zuge einer pragmatischer ausgerichteten Politik gelang es in den folgenden Jahren auch, die kleinen und mittleren Verbände wieder stärker in die Regimekoalition einzubeziehen

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Birte / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

(Imbusch 1995: 452f). Die Motive für diese unterschiedlichen Maltungen werden verständlich, wenn man einen Blick auf die Interessen der einzelnen Verbände sowie die Auswirkungen der von der Diktatur betriebenen Wirtschaftspolitik auf unterschiedliche Gruppen von Unternehmern wirft. In der Phase der Schockpolitik gehörten vor allem die Finanzkonglomerate sowie der Handels- und Dienstleistungsbereich zu den Gewinnern, während Teile der Industrie und der Landwirtschaft unter den Folgen dieser Politik zu leiden hatten. Die Krisenperiode Anfang der 80er Jahre wirkte sich tendenziell auf alle Unternehmenssegmente negativ aus, während später, im Zuge der pragmatischeren Ausrichtung der neoliberalen Strategie, für die gesamte Unternehmerschaft Vorteile spürbar wurden. In dieser Phase kamen auch die in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre ausgetragenen Konflikte innerhalb der Privatwirtschaft weitgehend zum Erliegen. Sowohl zwischen den verschiedenen Verbänden als auch zwischen Verbänden und Regierung herrschte nun ein weitreichender entwicklungsstrategischer Konsens (Imbusch 1995: 260-390). Die argentinischen Unternehmer waren sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht sehr unterschiedlich von der Diktatur betroffen. Die Klein- und Mittelunternehmer wurden durch die Auflösung der CGE und ihrer Mitgliedsverbände stark in ihren politischen Artikulationsmöglichkeiten eingeschränkt. In abgestuftem Maße galt dies auch für die UIA, die bis 1981 unter militärischer Verwaltung stand. Die Verbände des Agrar-, Handels- und Finanzsektors konnten dagegen trotz des formal für alle Akteure geltenden Verbots politischer Aktivitäten relativ unbehindert von staatlicher Gängelung agieren. Die Unternehmer dieser Sektoren waren es auch, die sich am deutlichsten für die von der Militärjunta angekündigten neoliberalen Reformen aussprachen. Mitglieder dieser Gruppe besetzten phasenweise Schlüsselpositionen innerhalb der Regierung. Insgesamt ist jedoch zu betonen, daß die Einflußmöglichkeiten der Unternehmer - und insbesondere die ihrer Verbände - auf politische Entscheidungsprozesse geringer waren als unter früheren Diktaturen. Anders als in Chile kam es nicht zu einer Institutionalisierung des Verbandseinflusses. Wichtige Entscheidungen fielen in der Regel im engen Umfeld des Wirtschaftsministeriums. Dies erklärt, warum es in den letzten Jahren der Diktatur häufiger zu Kritik an der Wirtschaftspolitik kam. Dabei kann zwischen Kritikern unterschieden werden, die unter den Folgen der überstürzten Marktöffnungspolitik zu leiden hatten und das neoliberale Modell grundsätzlich in Frage stellten (große Teile des Industriesektors), und denjenigen, die eine mangelhafte Umsetzung des „Programms von 1976" beklagten (Agrar-, Handels- und Finanzsektor). Gewinner der Wirtschaftspolitik waren die Unternehmen des Handels- und Finanzsektors sowie eine kleine Anzahl von diversifizierten Wirtschaftsgruppen nationalen Kapitals. Insbesondere die Wirtschaftsgruppen profitierten von den Spekulationsmöglichkeiten, die sich durch Marktöffnung, Finanzreform sowie durch den Mißbrauch der Industrie- und Regionalförderung boten. Zur Redemokratisierung leisteten auch die argentinischen Unternehmer keinen aktiven Beitrag. Im Unterschied zur chilenischen Privatwirtschaft sprachen sie sich aber nach der Niederlage im Krieg gegen Großbritannien und angesichts der tiefgreifenden Wirtschaftskrise in den letzten Jahren der Diktatur auch nicht für eine Aufrechterhaltung der Militärherrschaft aus (Birle 1995a: 162ff.; Fernández 1985; Schvarzer 1990). Wie in Argentinien stellten die Unternehmer auch in Uruguay einen wichtigen Teil der sozialen Basis der Diktatur, waren als „Drahtzieher" aber nicht eindeutig zu identifizieren. Die Verbände der Privatwirtschaft konnten relativ ungehindert agieren, sie spielten aber überwiegend keine wichtige Rolle für politische Entscheidungsprozesse (Filgueira 1990: 493). Vor allem die Finanzbourgeoisie, teilweise aber auch die Unternehmen aus Großindustrie und Handel, erklärten offen ihre Unterstützung für die Militärs. Opposition war in 69

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den 70er Jahren lediglich aus den Reihen des Agrarsektors zu hören, dessen Unternehmen zu den Verlierern der Wirtschaftspolitik gehörten. Aber erst nach 1980 äußerte sich die längst zum wichtigsten Sprachrohr des Sektors avancierte Federación Rural nicht mehr nur kritisch gegenüber der Wirtschaftspolitik, sondern auch gegenüber dem autoritären politischen System (Piñeiro 1984: 178). Grundsätzlich ist für die 80er Jahre festzustellen, daß mit Ausnahme des Finanzsektors - wie in Argentinien waren hier die großen Gewinner der Diktatur angesiedelt - immer mehr Unternehmer dem System kritischer gegenüberstanden (Caetano/Rilla 1987). Es hatte nicht wie erhofft zu einer Stärkung ihres Einflusses beigetragen, sondern eher das Gegenteil bewirkt. Dies galt um so mehr, als die traditionell als Instrument der Interessenartikulation genutzten Kanäle (Parteien) verboten waren. Diese Faktoren führten zwar in der Regel nicht zu einer offenen Opposition von Seiten der Unternehmer, sie verdeutlichten den Streitkräften aber ihre wachsende gesamtgesellschaftliche Isolierung. Von einer konstruktiven Rolle der Unternehmer während der schrittweisen Rückkehr zur Demokratie kann allerdings auch in Uruguay nicht die Rede sein (Wagner 1997:176ff.).

3.

Die Rolle der Unternehmer seit der Redemokratisierung

3.1.

Die ökonomischen Rahmenbedingungen

In Chile ist es seit der Rückkehr zur Demokratie nicht zu grundlegenden Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen gekommen. Die während der Diktatur etablierte neue Entwicklungsstrategie (Weltmarktintegration auf neoliberaler Grundlage) wird heute auch von der früheren Opposition gewürdigt und anerkannt, nachdem die Akzeptanz des sozioökonomischen Modells in dem von oben bestimmten Transitionsprozeß eine Vorbedingung für den Übergang zur Demokratie war. Die Regierungen Aylwin und Frei bemühten bzw. bemühen sich lediglich um eine Vertiefung dieser Strategie (2. Phase aktiver Weltmarktintegration) sowie um eine stärkere Akzentuierung sozialpolitischer Elemente. Im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung beschränkt der Staat seine Rolle heute weitgehend auf die Wahrnehmung ordnungspolitischer Funktionen (Garretón 1986 und 1989; Muñoz 1990; Muñoz/Celedón 1993). In Argentinien strebte die demokratische Regierung unter Präsident Alfonsin zunächst die Neuauflage einer binnenmarktorientierten Entwicklungsstrategie an, in deren Rahmen der Staat eine zentrale Rolle spielen sollte. Sie unterschätzte jedoch die strukturellen Ursachen der Krise und sah sich angesichts der galoppierenden Inflation und der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Staates ab 1985 zu einer Reihe heterodoxer Stabilisierungspolitiken gezwungen. Nachdem auch mittels dieser Maßnahmen lediglich eine kurzfristige Beruhigung der Situation erreicht werden konnte, bemühte man sich ab 1987 um die Durchsetzung struktureller Reformen, scheiterte damit jedoch am Widerstand der peronistischen Opposition in Form des Partido Justicialista (PJ) und der Gewerkschaften sowie am Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit. Zu einer radikalen entwicklungsstrategischen Wende kam es erst unter der Regierung Menem. Sie setzte ab Mitte des Jahres 1989 einen Großteil derjenigen Reformen um, die die Streitkräfte 1976 angekündigt, aber nicht realisiert hatten, und die in Chile unter Pinochet bereits vorexerziert worden waren: Privatisierung, Marktöffnung, Deregulierung, Reform des Gesundheits- und Rentenwesens sowie der Arbeitsgesetzgebung. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es im Zuge dieser „neoliberalen Revolution" seit Mitte des Jahres 1991, zu makroöko-

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Birle / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

nomischer Stabilität zurückzukehren (Messner 1996). Anders als noch in den 80er Jahren konnten somit Mitte der 90er Jahre weitreichende entwicklungsstrategische Parallelen zwischen Argentinien und Chile konstatiert werden. Im Unterschied zu diesen beiden Ländern ist es in Uruguay in den Jahren nach der Rückkehr zur Demokratie nicht zu grundlegenden wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen gekommen. Der heute erneut amtierende Präsident Sanguinetti blieb diesbezüglich während seiner ersten Amtszeit von 1985 bis 1990 weitgehend passiv. Demgegenüber zeigte sich sein Nachfolger Lacalle (1990-1995) durchaus bestrebt, einen ähnlichen Weg wie in Chile und Argentinien einzuschlagen, scheiterte damit aber weitgehend am Widerstand der oppositionellen gesellschaftlichen Kräfte. Symptomatisch hierfür ist die klare Ablehnung seines Privatisierungsprojektes per Volksentscheid Ende 1992, das ein Kernstück der in seinem Regierungsprogramm angekündigten Reformen darstellte (Bodemer 1993: 49ff.). 3.2.

Die politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen

Sowohl in Argentinien als auch in Uruguay kam es im Zuge der Redemokratisierung zu einer Wiederherstellung der „alten", traditionellen politischen Institutionen. Die in Argentinien 1994 durchgeführte Verfassungsreform führte nicht zu einer grundlegenden Veränderung der politischen Rahmenbedingungen, sieht man von der seitdem existierenden Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl des Staatspräsidenten und der Verkürzung der Amtsperiode der Exekutive von sechs auf vier Jahre ab (Ferreira Rubio/Goretti 1994). Für Uruguay gilt das Phänomen, daß nach der autoritären Herrschaft kaum Einstellungsund Mentalitätsveränderungen im Vergleich zu den Jahrzehnten unter demokratischen Verhältnissen zu beobachten waren (Snoeck/SutzA/igorito 1994: 207). Man konnte an eine ausgeprägte demokratische Tradition anknüpfen, so daß Redemokratisierung gleichbedeutend war mit einer Rückkehr zu den in der politischen Kultur verankerten zentralen demokratischen Werten. Die Militärdiktatur wurde im Prinzip als ein Unfall verstanden, den es durch die historische demokratische Verankerung des politischen Systems zu überwinden galt (Rial 1989: 9). Die Wiederherstellung der Demokratie bezog sich auf das gesamte politische System mit seinen Parteien und den gewohnten Verfahrensregeln für den politischen Prozeß aus der vordiktatorialen Zeit, einschließlich der Verfassung von 1967 und der alten Wahlgesetzgebung. In Chile dagegen ist heute eine weitreichende Veränderung der Werte-, Einstellungs- und Mentalitätsmuster der Bevölkerung festzustellen, die sich als Verinnerlichung von marktradikalen Konzepten für Staat und Gesellschaft sowie von Egoismusprinzipien in den Köpfen der gesellschaftlichen Akteure beschreiben läßt (Messner/Scholz 1996). Hinzu kommt als Hinterlassenschaft der Diktatur eine „geschützte" Demokratie mit autoritären Elementen. Die während der Diktatur erlassene neue Verfassung wurde im Zuge des Transitionsprozesses nur geringfügig modifiziert. Zwar konnten so einige undemokratische Elemente beseitigt werden, umgekehrt gilt aber weiterhin das Militär als „Hüter der Verfassung", und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament werden durch noch während der Diktatur (auf Lebenszeit) ernannte Senatoren entscheidend verändert. Korrekturen der Verfassung sind aufgrund der komplizierten Mehrheitsregelungen fast unmöglich (Nolte 1991; Petras/Leiva 1994). Die unterschiedlichen Resultate der Diktaturen hatten auch Auswirkungen auf die Einschätzung der Rolle des Militärs in den drei Ländern. In Argentinien und Uruguay führten die massiven Menschenrechtsverletzungen und das von den autoritären Regimes hinterlassene ökonomische Desaster zu einem starken Legitimationsverlust der

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Streitkräfte, und zwar sowohl in ethisch-moralischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die „Modernisierungskapazitäten" eines autoritären Systems. In Chile wurde zwar ebenfalls Kritik an den massiven Menschenrechtsverletzungen laut, und es wurde eine Sühnung der Verbrechen der Streitkräfte und des Geheimdienstes gefordert, aber die Streitkräfte mußten sich nicht als 'Verlierer" in die Kasernen zurückziehen, da ihnen in ökonomischer Hinsicht eine positive Leistungsbilanz attestiert wurde. Die Redemokratisierung fand denn auch entsprechend dem von der Militärregierung festgelegten Kurs statt, und Teilen der chilenischen Gesellschaft gelten die Streitkräfte bis heute als „Quelle der ökonomischen, gesellschaftlichen und moralischen Erneuerung" des Landes. Pinochet fungiert nach wie vor als Oberbefehlshaber des Heeres. Die zivile Suprematie über die Streitkräfte konnte bis heute nicht wieder hergestellt werden. Eine Annäherung zwischen den untersuchten Ländern kann im Hinblick auf die politische Kultur konstatiert werden. Dies gilt insbesondere für die Einstellungen gegenüber der Demokratie. Nach den Erfahrungen der Diktatur haben frühere Unterscheidungen zwischen „formaler" und „substantieller" Demokratie an Bedeutung verloren. Die Demokratie scheint heute eher als Wert an sich betrachtet zu werden, was insbesondere für Argentinien, wo sich seit Mitte des Jahrhunderts eine starke Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen und Verfahrensweisen herausgebildet hatte, einen großen Fortschritt darstellt. Frühere gesellschaftliche Polarisierungen haben im gesamten Cono Sur an Bedeutung verloren. Im Hinblick auf die Austragung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte sind aber Unterschiede festzustellen. In bezug auf Uruguay könnte man von einer „demokratischen Streitkultur" sprechen, was allerdings mit dazu beiträgt, daß grundlegende Reformen verzögert oder ganz verhindert werden. In der stark elitenorientierten chilenischen Demokratie wird Konsenselementen heute eine sehr große Bedeutung zugemessen. Dies führt aber zu der Gefahr, daß politische und soziale Konflikte „pathologisiert" und dringend notwendige Reformen aufgrund der durch das PinochetRegime noch erlassenen 'Fesselungsgesetze' von den Oppositionsparteien blockiert werden (Garcia/Rivera/Vega 1994: 148-203). Auch in Argentinien hat man sich - zumindest auf rhetorischer Ebene - seit 1983 um stärker konsensorientierte Verfahren bemüht, sie führten in der Praxis jedoch nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen. Im Gegensatz zu früheren Jahren besteht heute in allen untersuchten Ländern ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Konsens bezüglich Vorstellungen, die von Seiten der Unternehmer als elementar betrachtet werden. Die Existenzberechtigung und zentrale wirtschaftliche Rolle eines privaten, freien Unternehmertums wird nicht mehr in Frage gestellt. Mögliche Alternativmodelle zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung haben spätestens seit dem Zusammenbruch der Systeme des realen Sozialismus ihre Attraktivität eingebüßt. Das gesellschaftliche Image der Unternehmer hat sich nicht zuletzt aufgrund massiver öffentlicher Selbstdarstellungskampagnen gegenüber früheren Zeiten deutlich verbessert. Gleichzeitig büßten die Gewerkschaften und Linksparteien als traditionelle Gegenmacht zu den Privatunternehmern an Bedeutung ein. In Chile wurde die Arbeiterbewegung während der Diktatur durch Unterdrückung, Verfolgung und Verbot ihrer Organisationen stark geschwächt. Die neoliberale Ideologie und die mit ihr verbundenen Umstrukturierungen in der Wirtschaft des Landes sowie auf dem Arbeitsmarkt taten ein übriges. Die Ende der 70er Jahre erlassene und nach der Redemokratisierung nur geringfügig modifizierte Gewerkschaftsgesetzgebung schränkt diese Akteure in ihrem Handlungsspielraum erheblich ein (Imbusch 1997b; Campero/Flisfish/Tironi/Tokman 1993). Auch in Argentinien, wo die Gewerkschaften seit Mitte des Jahrhunderts zu einem zentralen politischen Machtfaktor geworden waren, fand eine ähnliche Entwicklung statt. Die massive 72

Birle / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

Repression der letzten Militärdiktatur gegen die gewerkschaftliche Basis, die wirtschaftliche und soziale Krise der 80er Jahre, die zunehmende Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Arbeitsplatzunsicherheit, der allgemeine Ansehensverlust einer oft mit antiquiert wirkenden Konfrontationsstrategien und geringer technischer Expertise operierenden Führungsspitze, interne Konflikte und nicht zuletzt der „Menem-Schock" waren Faktoren, die zu einer deutlichen Schwächung der Gewerkschaften führten (Moreno 1990; Palomino 1995). Ähnliche Tendenzen können auch für Uruguay festgestellt werden. Zwar hatten dort die Gewerkschaften in der Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie eine wichtige Rolle gespielt, besonders aber Anfang der 90er Jahre erlitten sie sowohl durch interne Konflikte als auch durch veränderte externe Rahmenbedingungen, wie den Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus, einen erheblichen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust. Dieser äußerte sich nicht zuletzt in einem eklatanten Mitgliederschwund (Búsqueda N° 662 vom 29.10.1992). Die politischen Orientierungen innerhalb der Parteiensysteme haben sich klar verändert. In Chile spielen die (extremen) Links-Parteien im Gegensatz zu früher heute nur noch eine marginale Rolle. Das gesamte Parteienspektrum hat eine eindeutige Verschiebung nach rechts erfahren. So vertritt die Sozialistische Partei (PS) beispielsweise heute gemäßigt sozialdemokratische Positionen im politischen und klar neoliberale Positionen im ökonomischen Bereich. Auch die Christdemokratische Partei (PDC) bekennt sich zu wirtschaftsliberalen Positionen. Auf die extrem konservativen Parteien des Pinochet-Regimes (UDI, RN) entfallen in Wahlen beträchtliche Stimmanteile (Nolte 1994). In Argentinien besteht seit Ende der 80er Jahre ebenfalls ein „neoliberaler Konsens" zwischen den großen Parteien, während die extreme Linke in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Die Unión Cívica Radical (UCR) hatte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre als erste Partei für marktwirtschaftliches Gedankengut geöffnet. Die bis Ende der 80er Jahre pro-etatistische peronistische Partei wurde durch die Politik von Präsident Menem ebenfalls zu einem Überdenken früherer Positionen gezwungen. Auch das Mitte der 90er Jahre erstarkte Mitte-Links-Bündnis Frente País Solidario (FREPASO) bekannte sich grundsätzlich zu Marktwirtschaft und freiem Unternehmertum. Obwohl die in den 80er Jahren aufgeblühte, wirtschaftsliberal-konservative Unión del Centro Democrático (UCeDé) inzwischen wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist, boten sich den argentinischen Unternehmern damit erstmals seit vielen Jahrzehnten wieder Möglichkeiten, ihre Interessen über parteipolitische Kanäle in das politische System einzubringen (Carreras 1996; Gibson 1990). In Uruguay ist dies durch die Existenz der beiden traditionellen Parteien garantiert. Allerdings entwickelte sich dort das bereits vor der Militärdiktatur als dritte parteipolitische Kraft in Erscheinung getretene Linksbündnis Frente Amplio in den letzten Jahren immer mehr zu einem Akteur, der den traditionellen Parteien ernsthaft Konkurrenz machte. Bei den Wahlen 1989 durchbrach der Frente Amplio erstmals die Vormachtstellung von Partido Colorado und Partido Nacional und konnte die Stadtregierung von Montevideo übernehmen. Es kann hier also anders als in Argentinien und Chile nicht davon gesprochen werden, daß linke parteipolitische Gruppierungen an Bedeutung eingebüßt haben. Mit dem Frente Amplio übernahm ein Parteienbündnis - wenn auch nicht auf nationaler Ebene, so doch immerhin in der Hauptstadt - Regierungsverantwortung, das unmittelbar nach der Diktatur von vielen Unternehmern noch als klarer Bedrohungsfaktor wahrgenommen worden war. Doch es sollte sich in den Jahren nach 1989 zeigen, daß eine linke Stadtregierung mit einem sozialistischen Bürgermeister an der Spitze nicht als Gegenmacht der Privatunternehmer in dem Sinne fungierte, daß von ihr eine substantielle Gefährdung unternehmerischer Interessen ausging.

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

3.3.

Entwicklungsstrategische Vorstellungen der wichtigsten Akteure

Die seit den 30er Jahren verfolgte binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategie gilt heute in ganz Lateinamerika als gescheitert. Zumindest auf verbaler Ebene existiert innerhalb der Unternehmerschaft ein Konsens hinsichtlich der grundsätzlichen Angemessenheit einer zum Weltmarkt geöffneten Marktwirtschaft. Dies hat dazu geführt, daß die teilweise extremen Polarisierungen früherer Jahre zwischen „liberalen" und „etatistischen" Fraktionen der Privatwirtschaft verschwunden sind. Die Unternehmer sind sich weitgehend einig darüber, daß Weltmarktkonkurrenz sinnvoll ist und daß die dringend notwendige Modernisierung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften durch den Zufluß ausländischen Kapitals beschleunigt werden kann. Umgekehrt zeichnen sie sich aber durch einen eklatanten Mangel an sozialpolitischer Sensibilität aus, so daß die großen sozialen Ungleichheiten und distributiven Verzerrungen von ihnen nur ungenügend wahrgenommen oder sogar bewußt gerechtfertigt werden. Eine grundsätzliche Akzeptanz marktwirtschaftlicher Verhältnisse impliziert zudem nicht, daß die einzelnen Wirtschaftsakteure auch dazu in der Lage sind, sich - oft innerhalb kürzester Zeit - auf entsprechende Bedingungen einzustellen. Für Unternehmen, deren betriebswirtschaftliche Logik sich über Jahrzehnte am Binnenmarkt orientiert und an den weitgehenden Schutz vor ausländischer Konkurrenz gewöhnt hatte, entstehen dadurch größere Herausforderungen. Die Modernisierung der Betriebe, die Innovation von Produkten und die Bemühungen um neue Marktsegmente erfordern Anstrengungen, durch die gerade kleine und mittlere Unternehmen oft überfordert sind. Dies erklärt, warum die tatsächlichen Erwartungen und Ansprüche der Unternehmer gegenüber dem Staat weit weniger einheitlich ausfallen als der rhetorische Konsens hinsichtlich der Angemessenheit marktwirtschaftlicher Verhältnisse. Vor allem in Chile, das in Lateinamerika Vorreiter der neoliberalen Entwicklungsstrategie war, da sie dort seit fast zwei Jahrzehnten propagiert und mit großer Kohärenz unter Außerkraftsetzung jedweder Opposition umgesetzt wurde, hatte sich das Gros der Unternehmer spätestens seit Mitte der 80er Jahre auf die neuen Verhältnisse eingestellt. Für Argentinien und erst recht für Uruguay gilt dies nur eingeschränkt. Zwar fanden bereits während der Militärdiktaturen in allen drei Ländern wichtige Umstrukturierungsprozesse innerhalb der Privatwirtschaft statt, wozu der Bedeutungsgewinn des Finanzkapitals, der Bankrott kleiner, mittlerer und teilweise auch großer Unternehmen sowie Konzentrationsprozesse v.a. in der Industrie gehörten, aber die nachhaltigsten Auswirkungen hinterließ die Diktatur in Chile. Diejenigen Unternehmen, welche die dort durchgeführte „neoliberale Roßkur" mit kurzfristiger radikaler Strukturanpassung und nachfolgendem Wirtschaftsdesaster überstanden, avancierten zu Verteidigern der neuen ökonomischen Rahmenbedingungen. Dies erklärt, warum in Chile seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein „neoliberaler Konsens" bis hinein in die Reihen der Klein- und Mittelunternehmer existiert (Campero 1989 und 1992). In Argentinien war es während der Militärdiktatur zu einer Welle von Unternehmenszusammenbrüchen gekommen, aber die spätere Rückkehr zu einem weitgehend geschützten Binnenmarkt ließ in den 80er Jahren auch überkommene mikroökonomische Rationalitäten wieder aufleben. Die durch die neoliberale Politik der Menem-Administration und durch den Integrationsprozeß im Rahmen des MERCOSUR ausgelösten Umstrukturierungsprozesse zwangen die Privatwirtschaft dann erneut - und diesmal dauerhafter - zur Einstellung auf neue Rahmenbedingungen. Auf dem Weg zu einem „neuen Typ" von Unternehmern konnten zwar bis Mitte der 90er Jahre einige Fortschritte verzeichnet werden, sie waren jedoch allenfalls der Beginn eines dringend notwendigen 74

Birle / Imbusch / Wagner: Unternehmer und Politik im Cono Sur

Einstellungs- und Verhaltenswandels der Privatwirtschaft (Birle/Wagner 1993; Eßer 1996). In Uruguay fand auf Seiten der Privatwirtschaft bislang der geringste Einstellungswandel von allen untersuchten Ländern statt. In diesem Zusammenhang ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: In Chile konnte die „neoliberale Revolution" durch die von der Diktatur geschaffenen autoritären Rahmenbedingungen und die wirtschaftspolitisch extrem technokratische Orientierung der Machthaber unter Inkaufnahme hoher sozialer Kosten umgesetzt werden. In Argentinien, wo entsprechende Schritte während der Diktatur „verpaßt" wurden, wuchsen die Reformbereitschaft der Gesellschaft und damit auch die Handlungsspielräume der Regierung infolge der extremen Wirtschaftskrise und der Hyperinflation in den Jahren 1988-1990. In Uruguay, wo weder die Streitkräfte noch die nachfolgenden demokratischen Regierungen grundlegende Reformen durchsetzen konnten - und wo auch in den Reihen der Unternehmerschaft nach wie vor erheblicher Widerstand dagegen vorhanden ist - , bemühte sich die Regierung Lacalle darum, durch den Verweis auf extern bedingte Sachzwänge (MERCOSUR) ihre Möglichkeiten zur Implementierung marktliberaler Reformen zu verbessern (Caetano 1992: 41). 3.4.

Die Unternehmerverbände

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Aktivitäten der Unternehmer und ihrer Interessenverbände haben sich in den untersuchten Ländern gegenüber den Zuständen vor den Diktaturen nicht verändert. Grundlage für die Tätigkeit der Verbände ist nach wie vor die verfassungsrechtlich garantierte Vereinigungs- und Organisationsfreiheit. Veränderungen gegenüber früher können im Hinblick auf das Selbstverständnis der Unternehmerverbände sowie hinsichtlich der Beziehungsmuster zwischen den Verbänden konstatiert werden. In Argentinien waren vor allem die UIA und die CGE/CGI einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Seit einer 1981 durchgeführten Statutenreform ist die UIA wesentlich demokratischer und repräsentativer als früher. Gleichzeitig nahm aber auch die innerverbandliche Heterogenität zu, was nicht nur das Handeln des Verbandes beeinflußt, sondern auch wiederholt zu Ausweichstrategien von Großunternehmern geführt hat (Schvarzer 1991). Die während der Diktatur aufgelösten CGE/CGI konnten nach ihrer Wiederzulassung in den 80er Jahren keine vergleichbare Repräsentativität mehr wie in früheren Jahren erlangen und näherten sich in entwicklungsstrategischer Hinsicht an die UIA an. Die langjährige Polarisierung zwischen wirtschaftsliberalen Verbänden (SRA, UIA, CAC) und Koordinationsgremien (ACIEL/APEGE) einerseits und etatistisch orientierten 'peronistischen' Verbänden (CGE/CGI) andererseits ist einer pragmatischen Zusammenarbeit gewichen. Neben den Verbänden spielte für die Interessenartikulation der Unternehmer in den 80er Jahren auch eine Reihe von informellen Zusammenschlüssen eine wichtige Rolle (Birle 1995a: 199ff.). In Chile kam es im Zuge der Diktatur zu einer weitreichenden Veränderung im Selbstverständnis der Unternehmerverbände. Zum einen bauten die großen Interessenverbände der Wirtschaft zumindest einen Teil ihrer ausgeprägt oligarchischen und wenig demokratischen internen Strukturen ab und repräsentieren heute zum Teil auch kleine und mittlere Unternehmer, so daß hier frühere Konflikte an Bedeutung verloren haben (Montero 1992, 1993). Zum anderen spiegelt sich im Handeln der Verbände das neue Selbstbewußtsein der Unternehmer als zentrale und legitime Akteure der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wider, welches sie nicht nur in Auseinandersetzung mit der Regierung Allende, sondern insbesondere mit der Diktatur gewonnen haben. Neben den

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Führungsgremien der nationalen Sektorverbände und dem Dachverband COPROCO kommt einzelnen Unternehmerpersönlichkeiten und den Managern der großen Unternehmenskonglomerate ein großes Gewicht bei politischen Entscheidungsprozessen zu. In Uruguay übernahm nach dem Ende der Militärdiktatur die Cámara de Industrias die Meinungsführerschaft im Unternehmerlager (Wagner 1997: 236ff.). Mit einer in finanzieller, personeller und technischer Hinsicht sehr viel besseren Ausstattung als z.B. die Agrarverbände war sie in der Lage, professioneller zu arbeiten und sich entsprechend öffentlich zu artikulieren (OIT 1987: 61). Nach der Redemokratisierung kehrten die Unternehmerverbände wieder zu ihrer in der politischen Kultur des Landes verwurzelten Rolle als Akteur zurück, die von dem Selbstverständnis geprägt war, sich den Parteien und staatlichen Entscheidungsträgern unterzuordnen. Später aber deutete sich ein Wandel im Selbstverständnis der Unternehmerverbände an. Sie zeigten Ansätze, nicht nur als Dienstleistungsorganisationen, sondern auch stärker als politische Interessenvertretungen zu agieren. Ausgelöst wurden solche Verhaltensänderungen hauptsächlich durch den regionalen Integrationsprozeß MERCOSUR. Die neuen Herausforderungen gerade für den Junior-Partner Uruguay verstärkten die Bereitschaft, als kollektiver Akteur aufzutreten, um den eigenen Interessen im Rahmen politischer Entscheidungsprozesse Gehör zu verschaffen. Daß die Mehrzahl der Unternehmer trotzdem weiterhin staats- und rentenorientiert ist (Messner 1993: 78) und sich nicht in die Politik einmischen will (Schonebohm 1994: 69), hängt auch mit dem Phänomen zusammen, daß sich die uruguayische Gesellschaft insgesamt gegenüber Veränderungen jeglicher Art erstaunlich resistent zeigt.

3.5.

Politische Macht und Einflußmöglichkeiten der Unternehmer

Für das wechselseitige Verhältnis zwischen politischen Entscheidungsträgern und gesellschaftlichen Gruppen spielt nicht nur die Frage eine Rolle, was ein Akteur auf Verlangen des anderen jeweils tut oder nicht tut. Ebenso wichtig können solche Handlungen sein, die ein Akteur aufgrund internalisierter Werthaltungen und ohne externen Impuls durchführt. Damit ist im Grunde die Frage nach der politischen Macht bzw. dem Einfluß der Unternehmer gestellt. Macht kann dabei in Anlehnung an Max Weber definiert werden als Jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen", gleichgültig worauf diese Chance beruht (Weber 1976: 28). Einfluß liegt vor, wenn ein Akteur in einer bestimmten Situation eine Entscheidung trifft oder revidiert, die er ohne den Impuls eines anderen Akteurs so nicht gefällt hätte. Eine solche Verhaltensänderung kann durch Einflußnahme auf Fakten, d.h. auf die Ziele, die Zielverwirklichung oder die zur Verwirklichung eines Ziels notwendigen Rahmenbedingungen ausgelöst werden, aber auch durch Einfluß auf Präferenzen, d.h. auf die Vorstellungen, Werthaltungen, Interessen und Ziele eines Akteurs. Nicht immer bedarf es dabei einer expliziten Handlung, um Interessen durchzusetzen - beispielsweise wenn die Präferenzen einer Regierung oder die gegebenen Fakten ohnehin denen des betreffenden Akteurs entsprechen (Zimmerling 1991). Ausgehend von dieser Terminologie kann gezeigt werden, daß die strukturelle Absicherung unternehmerischer Interessen in den drei untersuchten Ländern heute wesentlich gefestigter ist als früher. Sowohl die Fakten, d.h. insbesondere die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen und die Schwächung der gesellschaftlichen Gegenmacht, als auch die Präferenzen der politischen Entscheidungsträger, d.h. die neoliberalen Entwicklungsstrategien entsprechen weitgehend den Interessen der Unternehmer.

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Hinzu kommt, daß sich auch die Möglichkeiten einer aktiven Einflußnahme im Rahmen demokratischer politischer Spielregeln deutlich verbessert haben, und zwar nicht nur wegen der bereits erwähnten größeren Offenheit der Gesellschaften und Parteien für neoliberales Gedankengut, sondern auch, weil die Regierungen sich ihrerseits um eine stärkere Einbeziehung der Unternehmer in politische Entscheidungsprozesse bemühen. In Chile existiert aufgrund einer weitreichenden Übereinstimmung der Positionen von Regierung und Unternehmern in grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Fragen ein weitgehend harmonisches, durch Kooperation geprägtes Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Akteuren. V.a. im Hinblick auf die Reform der autoritären Arbeitsgesetzgebung, die Erhöhung der Sozialausgaben mittels einer auch die Unternehmer belastenden Steuerreform und möglichen weiteren, von der Regierung mit Zurückhaltung betrachteten Privatisierungen (CODELCO - Corporación del Cobre) ist es Anfang der 90er Jahre zu partiellen Konflikten gekommen. Die ursprünglich angestrebten Reformmaßnahmen konnten die Unternehmer in beträchtlichem Umfang modifizieren (Imbusch 1995: 391445). In Argentinien verliefen die Beziehungen zwischen der ersten demokratischen Regierung (Alfonsfn) und der Privatwirtschaft sehr wechselhaft. Das zunächst konfliktive Verhältnis besserte sich im Zuge des Plan Austral ab 1985 zunächst, verschlechterte sich dann aber seit 1987 zusehends. Ab Mitte des Jahres 1988 unterstützten nur noch zwei Verbände (UIA, CAC) die Wirtschaftspolitik der Regierung, und auch sie kündigten später die Zusammenarbeit auf. In der Anfangsphase der Regierung Menem besetzten zunächst Vertreter der Wirtschaftsgruppen Schlüsselpositionen innerhalb der Administration. Ab 1990 wurden dann die Großverbände zu den wichtigsten Ansprechpartnern. Im Zuge der „neoliberalen Revolution" stellte sich trotz partieller Konflikte ein ähnlich harmonisches Verhältnis zwischen Unternehmern und Regierung ein wie in Chile (Birle 1995a: 189-351). In Uruguay konstituierten sich die Unternehmerverbände nach der Rückkehr zur Demokratie nicht als verläßliche Ansprechpartner mit einem klar umrissenen Interessenprofil, sondern als Akteure mit je nach Situation unterschiedlichen Partikularinteressen. Sie beschränkten ihre Forderungen auf sie unmittelbar betreffende, spezifische Aspekte (wie steuerpolitische Fragen) bzw. verloren sich in Allgemeinplätzen, indem sie etwa eine langfristig stabile Wirtschaftspolitik einforderten (Cancela/Notaro 1989: 20). Die Regierung Sanguinetti ihrerseits zeigte sich nach ihrem Amtsantritt 1985 nicht besonders daran interessiert, die Privatwirtschaft in den politischen Prozeß einzubeziehen (Filgueira 1990: 462f.). Eine wichtige Ausnahme bildete der Bereich der Lohnpolitik, wo von der zu Zeiten der Militärdiktatur praktizierten staatlichen Festsetzung der Löhne Abstand genommen wurde und statt dessen die aus der vordiktatorialen Zeit gewohnten Consejos de Salarios mit Repräsentanten von Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften eingerichtet wurden. Erst die Regierung Lacalle forderte die Unternehmer zu einer aktiven Beteiligung an der Implementierung der Wirtschaftspolitik auf und drängte sie zu einem verstärkten Engagement im Integrationsprozeß. Die oberflächlich übereinstimmenden entwicklungsstrategischen Vorstellungen zwischen Regierung und Privatwirtschaft waren allerdings häufig nur verbaler Natur, so daß es wiederholt zu Auseinandersetzungen kam (Wagner 1997: 261 ff.). Im Hinblick auf die Adressaten und Methoden der Einflußnahme von Seiten der Unternehmer können für alle drei Länder weitreichende Parallelen konstatiert werden. Wichtigster Ansprechpartner ist die jeweilige Exekutive (Präsident, Ministerien), was angesichts der zentralen Rolle dieser Institutionen in den politischen Systemen nicht überrascht. Dabei herrschen in der Regel informelle, persönliche Kontakte gegenüber formalen oder gar institutionalisierten Kanälen vor. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellten die in Chile während und kurz nach dem Transitionsprozeß etablierten Konzertierungs77

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prozesse dar, durch die in einer Art Selbstverpflichtung der Handlungsrahmen für Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften abgesteckt wurde (Arriagada 1988; Birle/Mols 1994). In Argentinien und Uruguay waren solche Bemühungen nur wenig erfolgreich. Neben der Exekutive haben auch die Parlamente als Adressaten unternehmerischer Einflußversuche an Bedeutung gewonnen, vor allem wenn es darum geht, unliebsame Gesetzesvorlagen zu Fall zu bringen. Auch die Bedeutung der Unternehmerverbände für die Herausbildung der öffentlichen Meinung ist nicht zu unterschätzen. Regelmäßige Stellungnahmen und Kommentare der Unternehmer in den Massenmedien sind in allen drei Ländern (und ganz besonders in Chile) in einem Ausmaß zum Bestandteil des gesellschaftlichen Alltags geworden, wie es vor allem in Uruguay und Chile früher kaum vorstellbar gewesen wäre.

4.

Becoming Democrats? Unternehmer und Demokratie heute

Eine dauerhafte Konsolidierung der Demokratie in Lateinamerika ist nur zu erwarten, wenn die relevanten gesellschaftlichen Akteure die grundlegenden Spielregeln demokratischer Politik akzeptieren, und zwar auch dann noch, wenn die Entscheidungen demokratisch gewählter Regierungen nicht den eigenen Interessen entsprechen. Dem steht aber eine langjährige Praxis gegenüber, die Manfred Mols folgendermaßen beschrieben hat: „Den meisten Unternehmern dürfte es gleichgültig sein, unter welchem Regime sie leben. Der Staat hat für i»law and order«, hier zu übersetzen mit optimalen wirtschaftlichen Entfaltungsbedingungen, zu sorgen. [...] Als Demokratiepotential, auch als Entwicklungsagent mit einer über Eigeninteressen hinausgehenden sozioökonomischen und politischen Gemeinschaftsverpflichtung, ist der größere Teil der lateinamerikanischen Unternehmerschaft eine negative Größe" (Mols 1985: 104f.). Das Zitat ist Ausdruck dafür, wie wenig selbstverständlich eine solche Akzeptanz demokratischer Regime für die lateinamerikanischen Unternehmer in der Vergangenheit war. Um so mehr stellt sich die Frage, ob die Unternehmer Argentiniens, Chiles und Uruguays die Demokratie inzwischen als Wert an sich betrachten und zu der Überzeugung gelangt sind, daß dieser Regimetyp auch mittel- und langfristig die beste Option für sie darstellt, oder ob es sich bei den seit den Transitionsprozessen an den Tag gelegten Bekenntnissen zur Demokratie lediglich um temporäre „Anpassungsmanöver an den demokratischen Zeitgeist" handelt. Eine Antwort auf diese Frage muß mindestens vier Faktoren berücksichtigen: die Erfahrungen der Vergangenheit, die gegenwärtige politische Situation, die vorherrschenden Entwicklungsstrategien sowie die auf die Zukunft gerichteten Diskurse der politischen Entscheidungsträger (O'Donnell 1992: 43). Zunächst ist festzustellen, daß sich für die argentinische und uruguayische Privatwirtschaft mit den autoritären Regimen rückblickend einige unangenehme Erfahrungen verbinden. Die Streitkräfte, deren Machtübernahme die Privatwirtschaft begrüßt hatte, erwiesen sich als unzuverlässige und schwer kalkulierbare Bündnispartner: „One way or another, the main lesson for the bourgeoisie from the last wave of authoritarian regimes seems to have beert that the military may save them from leftist and radical populist threats, but once in government, they are a rather unreliable patron" (O'Donnell 1992: 44). Die Unternehmer gehörten zwar nicht zu jenen sozialen Gruppen, die um ihr Leben fürchten mußten, aber ihr Einfluß blieb doch geringer, als sie gehofft hatten. Dies gilt für Uruguay und für Argentinien, wo die Militärregierung nicht nur ökonomisch scheiterte, sondern darüber hinaus auch noch einen Krieg provozierte, durch den das internationale

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Ansehen des Landes schwer beschädigt wurde3. Dagegen war in Chile der Einfluß jeweils wechselnder Unternehmerkoalitionen auf das Militärregime groß, und durch eine Reihe von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturreformen wurden wesentliche Interessen der Unternehmer berücksichtigt und ihre Handlungs- und Machtpotentiale gestärkt. Die Hoffnungen der Privatwirtschaft auf einen raschen Einflußgewinn unter demokratischer Herrschaft erwiesen sich in Argentinien und Uruguay zunächst ebenfalls als trügerisch. Die ersten demokratischen Regierungen bekannten sich zwar verbal zu einer Zusammenarbeit mit den Unternehmern, de facto bemühten sie sich jedoch um weitgehende Unabhängigkeit. Dies veranlaßte die Privatwirtschaft nicht nur zu Protesten - in Argentinien schlössen die Unternehmerverbände sogar ein gemeinsames Bündnis mit den Gewerkschaften gegen die Regierung ab - , sondern auch zu einer Modernisierung ihrer Organisationsstrukturen. Dazu gehörte die institutionelle und personelle Stärkung der traditionell nur schlecht ausgestatteten Verbände. Auf dieser Grundlage bemühten sich die Unternehmer dann auch um eine stärkere Zusammenarbeit mit den politischen Parteien - die sich ihrerseits gegenüber den Interessen der Privatwirtschaft öffneten und mischten sich offener als früher in politische Auseinandersetzungen ein. Hinzu kam der bereits angesprochene „Kampf um die Köpfe": Intensiver und professioneller als je zuvor bemühte sich die Privatwirtschaft darum, das ideologische Klima in ihrem Sinne zu beeinflussen, das traditionell schlechte gesellschaftliche Image der Unternehmer zu verbessern und die Öffentlichkeit für Ideen wie die des „freien Unternehmertums als Stützpfeiler jeder funktionierenden Demokratie" zu gewinnen. Dazu wurden auch professionelle public relations-Agenturen eingeschaltet. Die Überzeugungsarbeit vieler Verbände richtete sich im übrigen nicht nur an die öffentliche Meinung, sondern oft auch an die eigenen Mitglieder. Solche Anstrengungen haben mit dazu beigetragen, daß die .kulturelle Hegemonie" in den untersuchten Ländern, darüber hinaus aber auch im übrigen Südamerika der 90er Jahre, eindeutig dem neoliberalen, anti-etatistischen Gedankengut gehörte (was selbstverständlich keinen Unternehmer davon abhielt, eigene Pfründe und Privilegien so gut wie möglich zu verteidigen). Tatsächlich hat sich auch das Image der Privatwirtschaft in vielen Ländern stark verbessert. Die Existenzberechtigung des Unternehmertums wird anders als in früheren Jahren - nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Die traditionelle Geringschätzung wich einer unternehmerfreundlicheren Haltung. Parteien und Regierungen werben offensiv um eine Mitarbeit der Privatwirtschaft (Birle 1997a; Imbusch 1997a). Die Demokratie stellt somit für die Unternehmer heute keine Bedrohung mehr dar, wie dies für die argentinischen Unternehmer seit den 40er Jahren und für die chilenischen Unternehmer seit den späten 50er Jahren zunehmend der Fall war. Die Schwächung der Gewerkschaften, der - mit Ausnahme des uruguayischen Frente Amplio Bedeutungsverlust von Parteien mit kapitalismuskritischen oder gar sozialistischen Zielsetzungen sowie die größere Offenheit der Parteien und der Gesellschaften insgesamt für eine der Privatwirtschaft entgegenkommende Entwicklungsstrategie machen es den Unternehmern leicht, die Demokratie zu akzeptieren, zumal die heutigen ökonomischen '

Ahnlich unzufrieden mit der Politik und insbesondere mit dem politischen Stil der seit den 60er Jahren etablierten Militärdiktaturen waren die Unternehmer auch in anderen südamerikanischen Staaten. In einigen Ländern (v.a. in Bolivien und Brasilien, ansatzweise aber auch in Ekuador und Peru) sahen sich die Verbände der Privatwirtschaft in der Endphase der Militärregime vor diesem Hintergrund dazu veranlaßt, eine aktive Rolle bei der Forderung nach einer Rückkehr zur Demokratie zu übernehmen (Bartell/Payne 1995; Birle 1997a; Conaghan 1990).

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Rahmenbedingungen, zumindest in Argentinien und Chile, den Vorstellungen auch derjenigen Unternehmer entsprechen, die zur Etablierung der letzten Militärdiktaturen beigetragen hatten. Die „Verlierer der neoliberalen Revolution" innerhalb der Unternehmerschaft könnten heute die Stabilität der demokratischen politischen Systeme nicht ernsthaft gefährden. Mit welchen Reaktionen der Unternehmer ist aber zu rechnen, wenn die gegenwärtig dominierenden anti-etatistischen und an freier Marktwirtschaft orientierten Entwicklungsstrategien von zukünftigen Regierungen erneut radikal in Frage gestellt werden sollten? Wird dies lediglich zur Kritik an der Wirtschaftspolitik führen oder sind erneut illoyale Einstellungen der Unternehmer gegenüber der Demokratie zu befürchten? Die Frage ist insofern hypothetisch, als bislang keine entsprechenden „Testfälle" zur Verfügung stehen. Zudem agieren die Unternehmer nicht in einem Vakuum, sondern ihre Einstellungen und ihr Verhalten sind genauso wie das aller anderen gesellschaftlichen Akteure auch von anderen Variablen abhängig. Dazu gehören neben den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen u.a. der gesellschaftliche Status der Unternehmerverbände sowie die internationale Situation. Wissenschaftler wie Borön (1992), Conaghan (1990) und O'Donnell (1992) betrachten die Bekenntnisse der Unternehmer zur Demokratie mit großer Skepsis. Zweifellos sind die gegenwärtigen politischen und ökonomischen settings für die südamerikanische Privatwirtschaft so günstig wie selten zuvor: Die Parteien und die Gesellschaften insgesamt zeigen mehr Offenheit als früher für liberal-konservatives Gedankengut; viele der traditionellen anti-etatistischen Forderungen der Unternehmer wurden im Zuge der neoliberalen Reformen erfüllt, nicht zuletzt im Bereich der Arbeitsbeziehungen konnten sie sich mit ihren Vorstellungen vielerorts durchsetzen; die organisierte gesellschaftliche Gegenmacht (Gewerkschaften) büßte in allen Ländern deutlich an Verhandlungsmacht ein (Birle 1997b). Zudem waren die Unternehmer selbst gut gerüstet für ein erfolgreiches Engagement im Rahmen demokratischer Politik: Aufgrund gewachsener Organisationskapazitäten standen ihnen gute Instrumente zur Verfügung, um Regierungspolitiken in ihrem Sinne zu beeinflussen. Trotzdem bleiben viele Unternehmer skeptisch hinsichtlich der Fähigkeit von Politikern und Verwaltungsapparaten, ein stabiles Investitionsklima und verläßliche Politiken zu garantieren. Sie zeigen auch nur wenig Bereitschaft, sich auf das einzulassen, was Przeworski (1985) als „Klassenkompromiß" zwischen Staat, Arbeit und Kapital bezeichnet hat und dem er eine grundlegende Bedeutung für die Stabilität der europäischen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg zuwies: ein Entgegenkommen gegenüber der Arbeiterbewegung im Sinne materieller Verbesserungen und eines Mindestmaßes an sozialer Gerechtigkeit als Gegenleistung für deren inzwischen größtenteils erfolgte Anerkennung des kapitalistischen Systems. Gerade vor diesem Hintergrund ist es eher unwahrscheinlich, daß die Unternehmer auch dann noch für die Demokratie optieren würden, wenn grundlegende Parameter der kapitalistischen Gesellschaft von relevanten Akteuren mit Aussicht auf Erfolg erneut in Frage gestellt werden sollten.

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

Heinrich-W. Krumwiede

Die Parlamente in den Präsidialdemokratien Lateinamerikas Ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen In einem 1995 erschienenen Buch, das sich mit den lateinamerikanischen Parlamenten befaßt, heißt es: „Not very long ago a book about Latin American legislatures would have been dismissed as a pointless venture into the trivial" (Close 1995, 1). Die stiefmütterliche Behandlung der lateinamerikanischen Parlamente in der Forschung hängt zum einen damit zusammen, daß der politische Entwicklungsprozeß in den meisten lateinamerikanischen Ländern zyklisch, das heißt in Form eines Wechsels zwischen Autoritarismus und Demokratie verlief, und die Parlamente gewöhnlich während der autoritären Phasen geschlossen blieben. Zum anderen erklärt sich die Vernachlässigung der lateinamerikanischen Parlamente damit, daß sie auch während demokratischer Entwicklungsphasen als weitgehend machtlose politische Institutionen galten und ein negatives Image als Akklamationsorgan, als „rubber stamp" der Exekutive hatten. Angesichts der Tatsache, daß Lateinamerika heute die am stärksten demokratisierte aller Entwicklungsregionen ist1 und Indizien dafür sprechen, daß das bisherige Wechselspiel des zyklischen Entwicklungsverlaufs zwischen Demokratie und Autoritarismus außer Kraft gesetzt ist, verdient die Frage Interesse, inwieweit die Parlamente zum Erhalt und Ausbau der Demokratie beitragen könnten. Bei der Untersuchung der für die Konsolidierungsaussichten der lateinamerikanischen Demokratien maßgeblichen politisch-institutionellen Faktoren hat sich die Aufmerksamkeit in den letzten Jahren vornehmlich auf die Frage konzentriert, ob die im gesamten Lateinamerika vorherrschenden präsidentiellen Regierungssysteme die Konsolidierungschancen von Demokratie negativ beeinflussen und im Interesse der Stabilisierung von 1

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Zur Demokratieproblematik in Lateinamerika vgl. Mols 1985. Zum jüngsten Transitionsprozeß zur Demokratie vgl. Nohlen/Thibaut 1994.

Kmmwiede: Verfassungsrechtliche Kompetenzen der Parlamente in Lateinamerika

Demokratie parlamentarischen Regierungssystemen der Vorzug gebühre2. Spätestens seit dem brasilianischen Plebiszit von 1993, in dem sich die Bevölkerung für die Beibehaltung der traditionellen Präsidialdemokratie entschied, kann diese Debatte als vorwiegend akademisch bezeichnet werden. Sie interessiert zwar nach wie vor die Politologen, aber nicht mehr die lateinamerikanischen Politiker und die Öffentlichkeit. Man sollte es als Faktum hinnehmen, daß die lateinamerikanischen Demokratien in Form von Präsidialsystemen organisiert bleiben werden. Hauptziel des Aufsatzes ist es zu untersuchen, inwieweit die lateinamerikanischen Parlamente von den Verfassungen ausreichend mit formellen Kompetenzen ausgestattet sind, um ihre Hauptfunktionen angemessen erfüllen zu können. Gegen eine solche, hauptsächlich auf verfassungsrechtliche Aspekte abhebende Untersuchung könnte man einwenden, daß in Lateinamerika die .lebende Verfassung"3 auch während demokratischer Entwicklungsphasen in weitaus stärkerem Maße von der geschriebenen abweicht, als es zum Beispiel in Westeuropa in der Regel der Fall ist. Man könnte deshalb argumentieren, daß eine verfassungsrechtliche Analyse von relativ geringem politikwissenschaftlichem Nutzen ist und im Zweifelsfall auf sie verzichtet werden kann. Verweisen könnte man dabei auch auf die Kurzlebigkeit von Verfassungen in vielen lateinamerikanischen Ländern und die verbreitete Tendenz zu häufigen Verfassungsänderungen. So wurden in 12 der 18 hier behandelten lateinamerikanischen Länder die gegenwärtig gültigen Verfassungen nach 1980 erlassen. Nur Costa Rica (1949) und Mexiko (1917; aber mehrfach stark revidiert) verfügen über Verfassungen, die über 30 Jahre alt sind. Nicht zu Unrecht verwenden Analytiker den Terminus der „Verfassungslyrik", denn zum Beispiel die Grundrechtsteile mancher lateinamerikanischer Verfassungen beziehen sich in auffälliger und wortstarker Weise eher auf das Wünschbare als auf das Mögliche. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn man die Unterschiede zwischen geschriebener und „lebender" Verfassung jeweils exakt herausarbeiten könnte. Besonders notwendig wäre dies etwa im Falle Chiles. Denn dieses Land hat zwar eine extrem präsidentialistische Verfassung, die dem Parlament wenig Kompetenzen zuerkennt, de facto hat sich aber ein politisches System herausgebildet, das gewisse Ähnlichkeiten mit einer parlamentarischen Demokratie aufweist. Die Literaturlage - es gibt nur wenige Untersuchungen zur Parlamentswirklichkeit in den lateinamerikanischen Ländern4 - erlaubt keine empirisch fundierten Aussagen über die Parlamentspraxis in Lateinamerika. Solange nicht genügend empirische Studien vorliegen, gilt es auch der „konventionellen Weisheit" zu mißtrauen, die besagt, daß die lateinamerikanischen Parlamente generell als bloße Akklamationsorgane bzw. .rubber stamps" der Präsidialregierungen fungieren. Um ein 2

1

'

Vgl. z.B. Mainwaring 1990 und 1993; Nohlen/Femández 1991; Nohlen 1992 und 1994; Shugart/Carey 1992; Thibaut 1992; Thibaut/Skach 1994; Jackisch 1994 und 1995; Nino 1991 und 1995; Linz 1994; Valenzuela 1993. Der Begriff wurde von Dolf Sternberger geprägt. Einen Eindruck über die laufende Forschung vermitteln; Close 1995; CaballeroA/ial 1994; ein demnächst erscheinender Sammelband über lateinamerikanische Parlamente, den Santiago Escobar herausgibt. Dieser Sammelband ist aus einem Parlamentarismusprojekt der chilenischen Forschungseinrichtung .Corporación Tiempo 2000" hervorgegangen, die mit dem PAL (Programa de Asesoría Legislativa) über eine Abteilung für Parlamentsberatung verfugt. Derjenige, der sich um eine vergleichende Erforschung der lateinamerikanischen Parlamente bemüht, kann einen gewissen Neid nicht unterdrücken, wenn er feststellt, auf welchen Fundus an empirischen Informationen sich die westeuropäische vergleichende Parlamentarismusforschung beziehen kann. Vgl. Döring 1995 und 1996 sowie 1991. Immer noch eine unverzichtbare Informationsquelle: von Beyme 1973.

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Lateinamerika Jahrbuch 1997

Beispiel zu erwähnen: Argentinien gilt als besonders präsidentialistisch, weil die präsidiale Dekretherrschaft inzwischen unter Menem (zum Teil schon unter seinem Vorgänger Alfonsin) zur normalen Herrschaftspraxis geworden ist (Ferreira/Goretti 1994). Andererseits führt eine empirische Studie der Parlamentspraxis in Argentinien überzeugende Argumente dafür an, daß das argentinische Parlament nicht als bloße Akklamationsmaschine unter Menem fungiert hat (Molinelli 1995). Es ist auch zu bedenken, daß für viele „sweeping statements', die ein Pauschalurteil über „Lateinamerika" abgeben, häufig nur einige wenige Länder, manchmal auch nur eines, den Erfahrungshintergrund bilden. Zwar kann man verfassungsrechtlichen Analysen eine gewisse „Trockenheit" nicht absprechen, sie dürften aber aus zwei Gründen für die Erforschung des lateinamerikanischen Parlamentarismus unerläßlich sein: • Gerade die Passagen der Verfassung, die sich auf die Kompetenzaufteilung zwischen Präsident und Parlament beziehen, dürften nicht zu den „lyrischen", sondern den „harten", „prosaischen" Verfassungsteilen gehören. Der Fall Mexiko etwa macht deutlich, daß Informationen über die formellen Kompetenzen der Verfassungsorgane zumindest auf MachPotentiale der Parlamente hinweisen. So sind nach der Niederlage der „ewigen" Regierungspartei PRI bei den Wahlen im Juli 1997 zum Beispiel folgende Informationen von Interesse: Der Präsident verfügt über keine Dekretrechte; er wird mit relativer Mehrheit gewählt; für die Ernennung der Kandidaten zum Obersten Bundesgericht benötigt er nur die Zustimmung des Senates (sie gilt auch dann als erteilt, wenn der Senat sich nicht innerhalb von 10 Tagen zum Kandidatenvorschlag des Präsidenten äußert). • Die verfassungsrechtliche Analyse demonstriert, in welch vielfältiger Weise sich die Präsidialdemokratien der lateinamerikanischen Länder voneinander unterscheiden. Eine Analyse der Parlamentspraxis würde vermutlich weitere Unterschiede zutage fördern. Für die Parlamentspraxis maßgebliche Faktoren, wie die Art des Parteiensystems, der politischen Kultur und des Verhaltens der (partei-)politischen Eliten variieren von Land zu Land. Gleichzeitig lassen sich natürlich die allen lateinamerikanischen Präsidialdemokratien gemeinsamen Spezifika aufzeigen, die die lateinamerikanischen Präsidialdemokratien von denen anderer Länder, zum Beispiel der USA, unterscheiden.

1. Spezifika der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien Lateinamerika ist die Region der präsidentiellen Regierungssysteme. Gegenwärtig sind in Lateinamerika alle Regierungssysteme als Präsidialdemokratien zu klassifizieren, und auch in der Vergangenheit haben parlamentarische Demokratien nicht Fuß fassen können. Eine Besonderheit Lateinamerikas ist das Prinzip der no reelección, das Verbot also der zumindest unmittelbaren Wiederwahl des Präsidenten (vgl. Schaubild 1). Gegenwärtig ist die unmittelbare Wiederwahl eines Präsidenten nur in Argentinien und Peru sowie seit neuestem in Brasilien erlaubt. Während die Möglichkeit hierzu in diesen drei Ländern durch Verfassungsänderungen eingeräumt wurde, ist sie in Paraguay und Nikaragua wieder abgeschafft worden. In immerhin sieben lateinamerikanischen Staaten

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Krumwiede: Verfassungsrechtliche Kompetenzen der Parlamente in Lateinamerika

kann der Präsident überhaupt nicht wiedergewählt werden5. Das Verbot der - zumindest unmittelbaren - Wiederwahl des Präsidenten gilt in Lateinamerika traditionell als demokratisches Prinzip. Es wurde von der mexikanischen Revolution gegen Porfirio Diaz Schaubild 1 Wiederwahlmöglichkeiten der lateinamerikanischen Präsidenten keine

nach Ablauf einer Legislaturperiode

Kolumbien

Bolivien"

Costa Rica

nach Abiauf von rwei Legislaturperioden

unmittelbare Wiederwahl

Panama

Argentinien6

Venezuela

Brasilien"

Ekuador

Chile

Dominikanische Republik'

Guatemala

El Salvador

Peru

Honduras

Nikaragua *

Mexiko

Uruguay

Paraguay a

Einmalige Wiederwahl erlaubt.

b

Einmalige unmittelbare Wiederwahl und erneute Wiederwahl nach Ablauf einer Legislaturperiode ertaubt,

c

Wiederwahlmöglichkeit 1996 außer Kraft gesetzt.

d

Seit neuestem ist - juristisch umstritten - die nochmalige Wahl des Präsidenten Fujimori ertaubt. Im Falle eines Wahlsieges würde ihm damit eine dritte Amtszeit ermöglicht.

Schaubild 2 Mehrheitsanforderungen bei den Präsidentschaftswahlen in Lateinamerika absolute Mehrheit relative Mehrheit

qualifizierte Mehrheit (bei Nfchterreichen: Stichwahl)

Dominikanische Rep. Honduras Mexiko Panama

bei Ntchterreichen Stichwahl

bei Ntettterrefchen Wahl durch das Parlament

Argentinien *

Brasilien

Bolivien '

Costa R i c a '

Chile

Nikaragua c

Kolumbien Ekuador

Paraguay

El Salvador

Uruguay

Guatemala

Venezuela

Peru

a

Entweder 45% der gültigen Stimmen oder mindestens 40% mit einem Mindestabstand von 10% zum Zweitplazierten, b 40% der gültigen Stimmen, c 45% der gültigen Stimmen. d

Unter den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen (vor 1994: unter den drei Kandidaten mit den meisten Stimmen).

5

Als Kuriosum sei erwähnt, daß die unmittelbare Wiedenwahl der Parlamentarier in Costa Rica und Mexiko und für einen Teil der Parlamentarier Ekuadors verboten ist.

89

Lateinamerika Jahrtuch 1997

durchgesetzt, der mit Hilfe der Wiederwahlmöglichkeit eine jahrzehntelange Diktatur errichten konnte. Wie Schaubild 2 zeigt, geben sich nur sieben lateinamerikanische Länder mit der relativen Stimmenmehrheit bei der Präsidentschaftswahl zufrieden, während zumeist die absolute, zumindest aber eine qualifizierte Mehrheit gefordert wird. Bei Nichterreichen dieser Mehrheit entscheiden Stichwahlen. Unter den lateinamerikanischen Staaten bildet Bolivien eine Ausnahme, weil dort das Parlament beim Nichterreichen der absoluten Mehrheit unter den beiden Bestplazierten (bis 1994 unter den drei Bestplazierten) eine Auswahl trifft. Schon zweimal wählte das bolivianische Parlament nicht denjenigen Kandidaten, der die meisten Stimmen erhalten hatte, zum Präsidenten - ausschlaggebend waren dabei Koalitionsgesichtspunkte der Parlamentsfraktionen. Die Parlamente werden in Lateinamerika ganz überwiegend nach verschiedenen Varianten des Verhältniswahlrechtes besetzt, nur in Chile gibt es ein Mehrheitswahlrecht (binominale Wahlkreise) und in Mexiko und Panama dominiert das Mehrheitswahlrecht (Molina/Hernández 1995). In den meisten lateinamerikanischen Staaten existieren zwei Parlamentskammern (Abgeordnetenhaus und Senat). Nur in sechs Staaten gibt es Einkammerparlamente (Costa Rica, Ekuador, El Salvador, Honduras, Nikaragua und Peru). In dieser Arbeit werden Unterschiede zwischen Ein- und Zweikammerparlamenten nicht berücksichtigt, sondern es wird generell der Terminus „Parlament" verwandt. Er kann - je nach Land oder Thematik - Abgeordnetenhaus, Senat oder Kongreß meinen.

2. Hauptfunktionen des Parlaments in der lateinamerikanischen Präsidialdemokratie Es gibt eine Fülle von Versuchen, einen Katalog der Hauptfunktionen von Parlamenten zu erstellen. Loewenberg und Patterson haben sicherlich Recht, wenn sie feststellen: Jike all classifications its merits depend on its purposes" (Loewenberg/Patterson 1979)6. Hier ist es das Ziel der Klassifikation, in einem normativen Sinn die Hauptfunktionen zu bestimmen, mit denen lateinamerikanische Parlamente zum Erhalt und Ausbau der Demokratie beitragen sollten. Es wird dabei angenommen, daß nur Demokratien, die diesen Namen verdienen7, langfristig stabil sind. Deswegen ist auch vom .Ausbau" der Demokratie die Rede. Bei diesem Versuch interessiert nicht das Wünschbare, sondern das Mögliche. Als Prämisse der Analyse dient die Maxime „Sollen impliziert Können"8. Der folgende Funktionskatalog ist natürlich in Kenntnis der Charakteristika lateinamerikanischer Regierungssysteme und ihrer Unterschiede untereinander verfaßt. Für die Funktionsbestimmung spielt nicht nur die Problematik der Realisierung demokratischer Werte und Ziele, sondern auch die Frage der Bewältigung zentraler politischer, ökonomischer und sozialer Herausforderungen des Alltags eine Rolle.

7

'

90

Zu einem neueren Versuch, die Hauptfunktionen von Parlamenten zu bestimmen, vgl. Patzelt 1995. Die Merkmale einer solchen Demokratie, die sich u.a. auch durch soziale Gerechtigkeit auszeichnet, hat Senghaas 1995 beschrieben. Derartige Demokratien bieten in sozial mobilisierten und politisierten Gesellschaften, wie es die lateinamerikanischen sind, die Gewahr dafür, daß Konflikte nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen münden, sondern dauerhaft friedlich bearbeitet werden. Vgl. zu dieser methodologischen Maxime Albert 1995 und 1978.

Krumwiede: Verfassungsrechtliche Kompetenzen der Parlamente in Lateinamerika

Wenn gefragt wird, welche Hauptfunktionen die lateinamerikanischen Parlamente im demokratischen Prozeß zu erfüllen haben, sind zunächst mehrere grundsätzliche Abgrenzungen und Probleme zu beachten: •









Es ist zu überlegen, ob Parlamente in Präsidialdemokratien nicht andere Hauptfunktionen zu erfüllen haben als in parlamentarisch verfaßten Demokratien. So ist es zum Beispiel augenfällig, daß den Parlamenten in präsidentiellen Regierungssystemen eine wesentlich geringere Bedeutung bei der Rekrutierung politischen Führungspersonals zukommt als in parlamentarischen Demokratien. Entsprechend wäre es unsinnig, Parlamenten in Präsidialdemokratien die Rekrutierung politischen Führungspersonals als eine Hauptfunktion zuzuweisen. Es wäre unzulässig, das US-amerikanische Regierungssystem als Prototyp eines präsidentiellen Regierungssystems zu sehen, der einen geeigneten Maßstab für die Beurteilung lateinamerikanischer Demokratien abgibt. Obwohl in der Literatur häufig eine Gleichsetzung von amerikanischem Regierungssystem und Präsidialdemokratie schlechthin erfolgt, so etwa bei Steffani (1979 und 1983) oder im Lexikon .Staat und Politik" (Fraenkel 1957), sollte man sich deutlich machen, daß das amerikanische nur eines unter vielen präsidentiellen Regierungssystemen ist. Im Aufsatz wird eingehend dokumentiert, daß in Lateinamerika unterschiedliche Typen von Präsidialdemokratien existieren. Beim Fehlen von Fraktionsdisziplin und ausgesprochener legislativer Stärke des Kongresses beispielsweise handelt es sich um amerikanische Spezifika, die keineswegs typisch für alle präsidentiellen Regierungssysteme sind. Wenn gefragt wird, inwieweit die lateinamerikanischen Parlamente die Konsolidierung von Demokratie zu fördern vermögen, muß berücksichtigt werden, daß neben den Parlamenten auch andere Institutionen einen Beitrag zur Erfüllung vitaler Funktionen eines demokratischen Systems leisten. Der Beitrag der Parlamente ist also immer im Zusammenhang mit dem anderer Institutionen zu sehen, bzw. es ist zu fragen, in welchem Ausmaß andere Institutionen an den gewöhnlich Parlamenten zugeschriebenen Funktionen teilnehmen. Da es in Lateinamerika auch Präsidialdemokratien gibt, die Elemente der parlamentarischen Demokratie aufweisen, etwa die Einhaltung von Fraktionsdisziplin, muß auch die Diskussion, die sich auf parlamentarische Regierungssysteme bezieht, ausdrücklich zur Kenntnis genommen werden. Aus dieser Literatur ist bekannt, daß das Gesamfparlament in seiner oligarchischen Entwicklungsphase die größte Bedeutung hatte und daß das Parlament als Ganzes mit der Entstehung der modernen Massenparteien und der Zunahme an Fraktionsdisziplin erheblich an Bedeutung als politischer Akteur eingebüßt hat. Die Gewaltenteilungslehre wurde der neuen politischen Realität in der parlamentarischen Demokratie entsprechend umformuliert. Sie trägt der Erkenntnis Rechnung, daß die Regierungsfraktionen gewissermaßen mitregieren und die Aufgaben bzw. Funktionen der Kritik und Kontrolle der Regierung wie auch der Formulierung einer politischen Alternative auf die parlamentarische Opposition übergegangen sind. Es gilt als wirklichkeitsfremd, die heutige Parlamentspraxis an Kriterien der Vergangenheit, als es weder Parteien (im heutigen Sinne des Wortes) noch ein allgemeines Wahlrecht gab und Parlamente die Domäne der Oberschicht waren, messen zu wollen. Vor diesem Hintergrund wirft der Typus der Präsidialdemokratie mit Fraktionsdisziplin, wie er in Lateinamerika zum Teil existierte, für eine normativ orientierte Demokratietheorie nicht unerhebliche Probleme auf. Es ist sicherlich gerechtfertigt, die wichtigste Funktion des Parlaments darin zu sehen, die demokratische Legitimation des Regierungssystems sicherzustellen. Es gibt 91

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Autoren, die diese Legitimierungsaufgabe des Parlaments als eigenständige Parlamentsfunktion ausweisen (z.B. Copeland/Patterson 1994, 154). Hier wird sie demgegenüber als Gesamfresultat der Erfüllung aller dem Parlament zugedachten Hauptfunktionen begriffen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsatzprobleme werden drei Hauptfunktionen unterschieden, bei denen der Beitrag der lateinamerikanischen Parlamente zum Erhalt und Ausbau von Demokratie besonders wichtig ist: • Einschränkung und Kontrolle der Macht der Exekutive, • Mitwirkung an der Politikgestaltung bzw. „M/fregierung", Repräsentation. •

3. Die verfassungsrechtliche Kompetenzaufteilung zwischen Präsident und Parlament in den präsidentiellen Regierungssystemen Lateinamerikas Die folgende, vornehmlich verfassungsrechtliche Analyse der Kompetenzaufteilung zwischen Präsident und Parlament soll Aufschluß darüber liefern, in welchem Ausmaß die Parlamente der lateinamerikanischen Länder die rechtliche Möglichkeit haben, die zentralen Funktionen der Machtbegrenzung und -kontrolle der Exekutive sowie der „Mitregierung" wirksam auszuüben. Gegenstand der Analyse sind alle iberoamerikanischen Staaten mit Ausnahme des kommunistischen Kuba (18 Länder)9. Ziel der folgenden Verfassungsanalyse ist es, anhand von Kompetenzindikatoren die Machtbefugnisse der Parlamente gegenüber der Exekutive einzuschätzen. Es werden drei große Bereiche unterschieden: Erstens Wahlrechte, zweitens legislative Kompetenzen und drittens schließlich Kritik- und Kontrollmöglichkeiten. Bezüglich der Wahlrechte (erster Bereich) gilt das Interesse der Frage, ob die Verfassungen für bestimmte Situationen dem Parlament Einflußmöglichkeiten auf die Präsidentenwahl einräumen und ob es an der Auswahl von wichtigen Amtspersonen (Oberste Richter und hohe Offiziere) beteiligt ist. Dementsprechend wird der erste Bereich durch drei Indikatoren repräsentiert. Für die Untersuchung der legislativen Kompetenzen der Parlamente (zweiter Bereich) werden sechs Indikatoren gewählt: Mehrheitserfordernisse bei der Zurückweisung des präsidentiellen Vetos (pauschales Veto und partielles Veto), haushaltsrechtliche Befugnisse, Einschränkungen der legislativen Kompetenzen des Parlaments (durch legislative Kompetenzen des Präsidenten oder durch seine Notstandsvollmachten; durch Referenda, die nicht vom Parlament initiiert werden). Über die parlamentarischen Befugnisse zur Kritik und Kontrolle (dritter Bereich) sollen die Indikatoren Zensur und Entlassung von Ministern aus politischen Gründen informieren. Als zusätzlicher, gewissermaßen negativer Indikator, der die Grenzen der Kritik- und Kontrollmöglichkeiten des Parlaments beschreibt, gilt hier das Recht des Präsidenten zur Parlamentsauflösung. Der Erörterung bedürfte die Frage, ob alle wichtigen Indikatoren in die Auswahl gelangten, vor allem aber, ob der Verfasser korrekte Bewertungen vorgenommen hat. So 9

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Hier wird nur auf die nationalen Parlamente einzelner lateinamerikanischer Staaten, nicht auf Parlamentszusammenschlüsse und Regionalpariamente eingegangen. Zum Lateinamerikanischen Parlament (Parlamento Latinoamericano - PARLATINO) vgl. Instituto de Relaciones Europeo-Latinoamericanas (IRELA) 1995. Zum Zentralamerikanischen Parlament vgl. Maihold 1993.

Krumwiede: Verfassungsrechtliche Kompetenzen der Parlamente in Lateinamerika

fragt man sich etwa, ob es sinnvoll war, allen Indikatoren prinzipiell die gleiche Wertigkeit zuzuerkennen (bei maximaler Ausprägung wird der Wert Vier, bei minimaler der Wert Null vergeben), ob also etwa das Recht des Parlaments, in eigener Regie oberste Richter zu bestimmen, so hoch zu veranschlagen ist wie die Tatsache, daß der Präsident über keinerlei legislative Dekretvollmachten verfügt (Bewertung jeweils mit vier Punkten). Der Diskussion bedürfte es auch, ob sinnvoll kategorisiert und im Einzelfall korrekt bewertet wurde. Um ein - zugegebenermaßen besonders krasses - Beispiel zu erwähnen: Die einschlägigen Artikel der ekuadorianischen Verfassung über die Rechte des Parlamentes zur Zensur und Entlassung von Ministern sind nicht eindeutig formuliert. Man könnte sie einerseits in dem Sinne interpretieren, daß sie dem Parlament dieses Recht nur bei strafrechtlichen Verfehlungen von Ministern einräumen, andererseits schon bei einer dem Parlament unliebsamen Politik. Je nach Interpretation könnte man Null oder Vier als Punktzahl vergeben und auch für die Gesamtpunktzahl (und damit Gesamtbewertung) Ekuadors hätte dies erhebliche Konsequenzen. Der Verfasser hat sich hier für die Punktzahl Drei entschieden, da ihm bekannt ist, daß die Verfassung sich zwar nicht eindeutig äußert, andererseits in der Praxis aber das Parlament diese Rechte durchaus auch in einem politischen Sinne interpretiert und wahrnimmt. Als mehrfach sich stellendes, aber „harmloseres" Bewertungsproblem sei erwähnt, daß zwei Drittel oder drei Fünftel der Anwesenden mit der absoluten Mehrheit aller Mitglieder eines Parlaments punktmäßig gleichgesetzt wurden. Der Verfasser wurde zu diesem Versuch, die Machtbefugnisse der lateinamerikanischen Parlamente auf der Grundlage verfassungsbedingter Kompetenzen quantitativ einzuschätzen, durch die Lektüre des Buches von Shugart und Carey (1992) angeregt. Die beiden Autoren haben in innovativer Weise in einer vergleichenden verfassungsrechtlichen Analyse die legislativen Stärken der lateinamerikanischen Präsidenten zu bestimmen versucht. Es gelang ihnen auf diese Weise, die Vielgestaltigkeit lateinamerikanischer Präsidialdemokratien hervortreten zu lassen. In ähnlicher Weise dürfte der Versuch, die relative Stärke der lateinamerikanischen Parlamente zu bestimmen, die reale Vielgestaltigkeit des vermeintlich uniformen Typus .lateinamerikanisches präsidentielles Regierungssystem" deutlich machen. Im folgenden findet sich zunächst der Indikatorenkatalog und dann die Tabelle zur quantitativen Erfassung der Kompetenzaufteilung zwischen Parlament und Präsident in den lateinamerikanischen Staaten.

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Lateinamerika Jahrtuch 1997

Indikatorenkatalog: Zu den verfassungsmäßigen Rechten der Parlamente in den präsidentieiien Regierungssystemen Lateinamerikas Indikatoren I. Zu den Wahlrechten des Parlaments 1. Wahl des Präsidenten durch das Parlament Keine Parlamentskompetenzen Nur in bestimmten Fällen bei Vakanz im Präsidentenamt Bei Verfehlen der Mehrheitsanforderung in der Präsidentenwahl 2. Oberste Richter Keine Parlamentskompetenzen Nur auf Vorschlag des Präsidenten Auf Vorschlag eines anderen Organs Alleinige Entscheidung des Parlaments 3. Hohe Offiziere Keine Parlamentskompetenzen Nur auf Vorschlag des Präsidenten Auf Vorschlag eines anderen Organs Alleinige Entscheidung des Parlaments II. Zu den legislativen Kompetenzen des Parlaments I. Zurückweisung des generellen Vetos des Präsidenten Zurückweisung des Vetos nicht möglich Zurückweisung mit mehr als 2/3 aller Parlamentarier Zurückweisung mit 2/3-Mehrheit aller Parlamentarier Zurückweisung mit absoluter Mehrheit aller Parlamentarier * Kein generelles Vetorecht oder Zurückweisung mit einfacher Mehrheit 2. Zurückweisung des partiellen Vetos des Präsidenten Zurückweisung des Vetos nicht möglich Zurückweisung mit qualifizierter Mehrheit oberhalb der absoluten Mehrheit aller Parlamentarier Zurückweisung mit absoluter Mehrheit aller Parlamentarier * Zurückweisung mit einfacher Mehrheit der Parlamentarier Kein partielles Vetorecht 3. Beschränkung des Gesetzgebungsrechtes durch legislative Kompetenzen des Präsidenten (Legislative Dekretvollmachtenl In bestimmten Bereichen keine Einflußmöglichkeiten des Parlaments Dekretvollmacht des Präsidenten, die das Parlament entziehen oder modifizieren kann Verfassungsbeschränkung auf die Delegation von Legislativkompetenzen an den Präsidenten Keine oder nur für unwichtige Fälle vom Parlament zugestandene legislative Kompetenzen 4. Erklärung des Ausnahmezustandes und Suspendierung von Grundrechten Durch den Präsidenten ohne Zustimmung des Parlaments Durch den Präsidenten bei späterer Zustimmung bzw. Nichtablehnung des Parlaments und/oder Zustimmungserfordemis des Parlaments lediglich zu bestimmten Maßnahmen Durch den Präsidenten mit Zustimmung des Parlaments oder durch das Parlament allein 5. Haushaltsrecht Präsident setzt Ausgabengrenze Unbeschränktes Haushaltsrecht bei Vetomöglichkeit des Präsidenten Unbeschränktes Haushaltsrecht ohne Vetomöglichkeit des Präsidenten 6. Referenda Präsident allein kann bindendes Referendum über Gesetze verlangen Parlament, Präsident und/oder andere können Referendum initiieren Kein Referendum, außer bei Verfassungsänderung oder Änderung der Staatlichkeit * * Parlament allein kann bindendes Referendum über Gesetze verlangen

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Krumwiede: Verfassungsrechtliche Kompetenzen der Parlamente in Lateinamerika

Indikatoren III. Zu den Kritik- und Kontrollrechten des Parlaments 1. Zensur von Ministem Keine Parlamentskompetenzen Möglichkeit zur Zensur erschwert durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheit Uneingeschränkte Möglichkeit zur Zensur mit einfacher Mehrheit 2. Absetzung von Ministem und/oder hohen Beamten aus politischen Grilnden Keine Parlamentskompetenzen Absetzungsempfehlung Möglichkeit zur Absetzung erschwert durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheit Uneingeschränkte Möglichkeit zur Absetzung mit einfacher Mehrheit V Parlamentsauflösung durch den Präsidenten Uneingeschränktes Recht des Präsidenten Eingeschränktes Recht des Präsidenten Stark eingeschränktes Recht des Präsidenten Nicht möglich

Funkle

A U J•J

A H

fi u Z j

4 o j z 4

HÖCHSTPUNKTZAHL: 48 * Für die Vorschrift, daß 2/3 oder 3/5 der anwesenden Parlamentarier zustimmen müssen, wird die gleiche Wertung gewählt wie für die Vorschrift, daß die Zustimmung der Hälfte aller Parlamentarier (absolute Mehrheit) notwendig ist. " Mit .Änderung der Staatlichkeit" ist die in Verfassungen der zentralamerikanischen Länder enthaltene Bestimmung erfaßt, daß die Bevölkerung per Plebiszit der Errichtung eines Staates Zentralamerika zustimmen kann.

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Der Verfasser dankt Herrn Carsten Lenz sehr herzlich für seine engagierte Mitarbeit an dieser Tabelle und Herrn Manfred WOhlcke für die Einordnung des brasilianischen Falles. Anmerkungen zur Tabelle: a) b) c) d) e) f) g)

h) i) j)

k) I) m)

n) o) p)

Der Präsident ernennt die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes mit Zustimmung des Senates (Art. 99,4). Weitere Bundesrichter sollen nach dem gleichen Modus aus der Vorschlagsliste eines pluralistisch zusammengesetzten Consejo de la Magistradura bestellt werden. Das Notstandsrecht ist normalerweise Parlamentsrecht (Art. 75,29). Wahrend der sitzungsfreien Zeit geht dieses Recht auf den Präsidenten über, seine Maßnahmen bedürfen aber der parlamentarischen Sanktionierung, sobald das Parlament wieder zusammentritt. Nach Art. 40 hat der Präsident im Gegensatz zum Kongreß nur das Recht, ein nichtbindendes Plebiszit (consulta popular nonvinculante) zu einem Gesetzesentwurf zu verlangen. Nach Art. 100 sind Zensur und Absetzungsbeschluß des Parlamentes (mit absoluter Mehrheit) nur im Falle des Kabinettschefs statthaft. Der Kongreß wählt die Verfassungsrichter (Art. 119) und die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes aus einer Vorschlagsliste des Consejo de la Judicatura aus (Art. 117), der seinerseits vom Parlament gewählt ist (Art. 122). Nach Art. 59,17 besteht eine Ausgabengrenze für den Öffentlichen Dienst. Wenn der Kongreß über den Haushaltsentwurf der Exekutive nicht innerhalb von 60 Tagen befindet, tritt dieser in Kraft (Art. 147). Die Mitglieder des Obersten Bundesgerichtes werden vom Präsidenten mit Zustimmung des Senates ernannt (Art. 101). Die Bestellung der Mitglieder des Superior Tribunal de Justicia erfolgt nach dem gleichen Verfahren; neben dem Präsidenten haben aber auch andere Organe ein Vorschlags- und Auswahlrecht (Art. 104). Die Gesetzen entsprechenden Dekrete des Präsidenten werden ungültig, wenn sie nicht innerhalb von 30 Tagen vom Kongreß ausdrücklich als Gesetze sanktioniert werden (Art. 62). Das Parlament wählt nur einen der sieben Verfassungsrichter (Art. 81). Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes werden vom Präsidenten aus einer Vorschlagsliste des Obersten Gerichtshofes ausgewählt. Beim inneren Notstand (estado de sitio) benötigt der Präsident innerhalb von 10 Tagen die Zustimmung des Kongresses. Nichtäußerung gilt dabei als Zustimmung (vgl. Art. 40,2). Bei anderen, weniger intensiven Formen des Notstandes (estado de emergencia, estado de catástrofe), die dem Präsidenten ebenfalls die Einschränkung gewisser Grundrechte (u.a. Versammlungs- und Meinungsfreiheit) ermöglichen, benötigt er nur die Zustimmung des Sicherheitsrates und hat gegenüber dem Parlament lediglich eine Införmationspflicht. Der Präsident kann ein Plebiszit über eine vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung verlangen (Art. 117). Die obersten Richter werden vom Parlament aus Vorschlagslisten gewählt, auf die der Präsident nur partiellen Einfluß hat (vgl. Art. 239, 231 und 254). Nach Art. 215 kann der Präsident eine Art ökonomischen Notstand erklären und Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die eine Dauer von maximal 90 Tagen im Kalenderjahr haben. Gegenüber dem Kongreß besteht dabei eine Informationspflicht. Erst im nächsten Jahr kann der Kongreß die Dekrete modifizieren oder ablehnen, die .gewöhnlich' Gegenstand der Gesetzesinitiative der Exekutive sind. Gegenstand präsidentieller Notstandsdekrete kann auch die Modifizierung bestehender oder der Erlaß neuer Steuern sein (diese Steuerdekrete bleiben bis zum nächsten Haushaltsjahr in Kraft). Vgl. Punkt m. Im Falle eines inneren Notstandes (estado de conmoción interior) ist erst nach 180 Tagen eine parlamentarische Zustimmung zu seiner weiteren Verlängerung (um 90 Tage) vorgeschrieben (vgl. Art. 213). Nach Art. 115 existiert de facto eine Ausgabengrenze, da Ausgabenbeschlüsse eine Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier erfordern. Während der kurzen Sitzungszeit (nach Art. 33 sind nur 90 Tage im Jahr für reguläre Sitzungen vorgesehen) verfügt das Parlament über das Notstandsrecht, in der sitzungsfreien Zeit aber der Präsident, der gegenüber dem Parlament lediglich zur Information verpflichtet ist (Art. 37,8 und 55,8).

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q) r)

s)

t) u) v)

w) x) y) z) z1) z2)

Wenn der Präsident sein generelles Veto gegen ein Gesetz einlegt, kann sich der Kongreß erst ein Jahr später erneut mit dem Gesetz befassen (Art. 69), er kann aber den Präsidenten um ein Plebiszit über das fragliche Gesetz ersuchen. Vgl. S. 36, wo festgestellt wird, daß Art. 59f die Interpretation nahelegt, Zensur und Amtsenthebung seien nur bei strafrechtlichen Verfehlungen statthaft; in der Praxis scheinen aber politische Gesichtspunkte von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Für Zensur und Ablehnungsbeschluß wird lediglich eine einfache Mehrheit gefordert, Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes werden vom Parlament aus einer Vorschlagsliste des Consejo Nacional de la Judicatura ausgewählt (Art. 186), der seinerseits vom Parlament gewählt ist (Art. 187). Nach Art. 227 kann das Parlament zwar von der Exekutive vorgeschlagene Kreditsummen verringern oder ablehnen, es ist ihm aber untersagt, sie zu erhöhen. Nach Art. 131,37 kann das Parlament generell eine Absetzung nur empfehlen, im Falle der Vorsitzenden der Sicherheitsorgane aber wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen erzwingen. Ernennung des Oberkommandierenden der Streitkräfte durch den Kongreß aus einer Vorschlagsliste des .Obersten Rates der Streitkräfte" (Art. 279). Beförderung der Offiziere vom Major bis zum General auf Vorschlag des Oberkommandierenden der Streitkräfte .durch Initiative (por iniciativa) des Präsidenten der Republik" (Art. 205,24). Wenn sich der Senat nicht innerhalb von 10 Tagen äußert, gilt der Kandidat des Präsidenten für das Oberste Bundesgericht als „gebilligt" (aprobado; Art. 96). Das Parlament trifft eine Auswahl zwischen eigenen Vorschlägen und Vorschlagen des Präsidenten. Der Präsident ist bei der Einreichung seiner Vorschläge an eine Frist von 15 Tagen gebunden (Art. 138,7). Nach Art. 153,16 kann das Parlament dem Präsidenten eine Dekretvollmacht nur für die Zeit erteilen, in der es nicht tagt. Der pluralistisch zusammengesetzte Consejo de la Magistradura schlägt Kandidaten vor, der Senat hat das Auswahlrecht, die Exekutive muß zustimmen (Art. 264). Die Verfassungsrichter werden vom Parlament gewählt (Art. 201), alle anderen Richter vom pluralistisch zusammengesetzten Consejo Nacional de Magistradura (Art. 150, Art. 151). Die uruguayische Verfassung verleiht dem Präsidenten kein legislatives Dekretrecht, aber Art. 168,7 sieht vor, daß der Präsident für von ihm eingebrachte Gesetze die Eilbefassung durch das Parlament verlangen kann. Wenn das Parlament nicht mit einer Dreifünftelmehrheit der Anwesenden eine Eilbefassung ablehnt und zu dem Gesetz innerhalb von 45 Tagen keine Entscheidung trifft, tritt es in Kraft. In dem Zeitraum, in dem der Präsident für ein Gesetz die Eilbefassung verlangt, ist es ihm untersagt, für weitere Gesetze gleiches zu fordern.

Wahlrechte Wie oben bemerkt, hat das Parlament nur in Bolivien größere Möglichkeiten, auf die Präsidentenwahl Einfluß zu nehmen. Laut Verfassung ist es seine Aufgabe, den Präsidenten nach Ausbleiben einer absoluten Mehrheit in den Wahlen - was normalerweise der Fall ist - zu wählen. Es wurde darauf hingewiesen, daß das bolivianische Parlament mehrfach nicht denjenigen Kandidaten, der die meisten Stimmen erhalten hatte, zum Präsidenten bestimmte, sondern daß Koalitionsgesichtspunkte dominierten. Aufgrund dieser Verfassungsbestimmung und dieser Verfassungspraxis ist es gerechtfertigt, Bolivien den recht stark parlamentarisch geprägten präsidentiellen Regierungssystemen zuzurechnen (Nohlen 1994). Ansonsten sehen die lateinamerikanischen Verfassungen die Wahl des Präsidenten durch das Parlament nur dann vor, wenn nach dem Präsidenten auch der Vizepräsident - etwa durch Tod - ausfällt. Gerade, weil das übliche Lateinamerika-Klischee von der Vorstellung geprägt ist, der Präsident besitze die rechtlichen Möglichkeiten, sich eine ihm ergebene Judikative zu schaffen, verdient hervorgehoben zu werden, daß es nur in zwei lateinamerikanischen

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Ländern Verfassungsbestimmungen gibt, wie man sie sich vorstellt: Der Präsident wählt die obersten Richter aus und benötigt zu ihrer Ernennung lediglich die Zustimmung der einfachen Mehrheit des Parlaments (bzw., wenn es sich um ein Zweikammersystem handelt, des Senates) - Panama ist das eine Land, Mexiko das andere. Die Macht des Präsidenten über die Judikative wird in Mexiko noch zusätzlich dadurch gestärkt, daß die vom Präsidenten vorgeschlagenen obersten Richter als ernannt gelten, wenn der Senat sich innerhalb von zehn Tagen nicht geäußert hat (zustimmend oder ablehnend). In immerhin sechs lateinamerikanischen Ländern bestimmt aber das Parlament die obersten Richter in eigener Regie (Costa Rica, Dominikanische Republik, Ekuador, Honduras, Uruguay und Venezuela). In zwei weiteren Ländern wählt das Parlament sie aus der Vorschlagsliste eines pluralistisch zusammengesetzten Gremiums aus, das es selbst gewählt hat (Bolivien und El Salvador). In Peru werden die Verfassungsrichter vom Parlament gewählt, alle anderen Richter von einem pluralistisch zusammengesetzten Justizrat; der Präsident hat nach der Verfassung keinen direkten Einfluß auf die Richterauswahl (vgl. aber Fußnote 14). In Nikaragua trifft das Parlament eine Auswahl zwischen eigenen und Vorschlägen des Präsidenten; hierbei ist der Präsident an eine Frist von 15 Tagen gebunden. In Paraguay hat der Senat ein Auswahlrecht (aus einer Vorschlagsliste des pluralistisch zusammengesetzten Justizrates), seine Entscheidung bedarf aber der Zustimmung des Präsidenten. Ähnliche Bestimmungen herrschen in Guatemala; im Gegensatz zu Paraguay ist aber keine Zustimmung des Präsidenten vorgeschrieben. Der argentinische Präsident ernennt die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes mit Zustimmung des Senates; seine Möglichkeiten, ihm genehme Kandidaten zu ernennen, sind aber dadurch eingeschränkt, daß die Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Parlamentarier vorgeschrieben ist. Bei der Ernennung der übrigen hohen Bundesrichter ist kein derartiges Quorum vorgeschrieben; der Präsident kann aber nur aus einer verbindlichen Vorschlagsliste eines pluralistisch zusammengesetzten Justizrates auswählen (bislang hat sich der Justizrat allerdings noch nicht konstituiert). Auch in Kolumbien ist die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive in erheblichem Umfang gesichert. Die obersten Richter werden vom Parlament aus Vorschlagslisten gewählt, auf die der Präsident nur partiellen Einfluß hat. Chile ist das Land, in dem die Einflußmöglichkeiten des Parlaments auf die Richterwahl am geringsten sind. Der Präsident wählt die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes aus einer Vorschlagsliste aus, die dieser selbst erstellt hat. Der Oberste Gerichtshof hat auch das Recht, drei der sieben Mitglieder des Verfassungsgerichtes zu wählen; zwei werden durch den Nationalen Sicherheitsrat bestimmt, einer durch den Präsidenten und nur einer durch den Senat (mit absoluter Mehrheit). Chile ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Präsident über seine Amtszeit hinaus die Judikative prägt. Denn Pinochet hat als Präsident die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes und die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates ernannt, die die Vorschlagslisten erarbeiten. Auch in Argentinien wird sich noch für mehrere Jahre auswirken, daß Menem sich einen Obersten Gerichtshof nach seinem Gusto zusammengestellt hat. Für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz ist es nicht nur wichtig, daß die Auswahl- und Ernennungsmöglichkeiten des Präsidenten auf die obere Richterschaft begrenzt sind, sondern von Bedeutung ist es auch zu verhindern, daß einfache parlamentarische Mehrheiten ihnen genehme Richter wählen können. In Parlamenten, in denen eine Partei oder eine feste Parteienkoalition die parlamentarische Mehrheit stellt und Fraktionsdisziplin übt, ist die Unabhängigkeit der Judikative gefährdet, wenn nicht auch die Opposition der Richterwahl zustimmen muß. Auf das Spezialproblem, ob und in wel-

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chem Ausmaß parlamentarische Minoritätsrechte bei der Richterwahl berücksichtigt werden, wird später eingegangen. Die Ernennung der hohen Offiziere ist in den lateinamerikanischen Staaten ein Privileg des Präsidenten. In den meisten, das heißt elf Ländern, bedarf er hierbei nicht einmal der Zustimmung des Parlaments (Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ekuador, El Salvador, Guatemala, Mexiko, Nikaragua, Panama und Peru). Eine Ausnahme stellt Honduras dar. Hier ernennt der Kongreß den Oberkommandierenden der Streitkräfte aus einer Vorschlagsliste des „Obersten Rates der Streitkräfte" und verleiht die Offiziersränge vom Major aufwärts auf Vorschlag des Oberkommandierenden der Streitkräfte „durch Initiative des Präsidenten der Republik". Diese Bestimmungen sind keineswegs als Indiz für die Macht des Parlaments über das Militär zu interpretieren, sondern weisen vielmehr darauf hin, daß der Primat der Politik, der Vorrang des Zivilen also gegenüber dem Militär, gerade in Honduras nur in unvollkommener Weise durchgesetzt ist. Unter dem gegenwärtigen Präsidenten Reina hat es aber bemerkenswerte Anstrengungen gegeben, diesem Primat Geltung zu verschaffen. Stepan (1988) wies vor Jahren darauf hin, daß der Primat der Politik in den jungen Demokratien Lateinamerikas schon insofern unvollkommen durchgesetzt sei, als eine parlamentarische Kontrolle des Militärhaushaltes in der Regel nicht stattfinde und im allgemeinen ohne jede Aussprache pauschal verabschiedet werde. Interviews, die der Verfasser in Chile und Argentinien 1995 führte, deuten darauf hin, daß sich an diesem Zustand inzwischen einiges geändert hat, es im Parlament und sogar außerhalb dieses Gremiums so etwas wie zivile Sicherheitsexperten gibt und daß die Militärbudgets inzwischen recht kritisch im betreffenden Parlamentsausschuß diskutiert werden. Legislative K o m p e t e n z e n Im Gegensatz zu den USA, wo ein Veto des Präsidenten nur durch eine Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier zurückgewiesen werden kann, ist in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten (zehn) die absolute Mehrheit der Parlamentarier ausreichend (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Honduras, Nikaragua, Paraguay, Peru und Uruguay). Nur sechs Staaten schreiben eine Zweidrittelmehrheit vor (Costa Rica, Dominikanische Republik, El Salvador, Guatemala, Mexiko und Panama). Einen Sonderfall bildet Ekuador. Dort kann sich der Kongreß erst ein Jahr später erneut mit einem Gesetz befassen, gegen das der Präsident ein generelles Veto eingelegt hat. Der Kongreß hat lediglich das Recht, den Präsidenten um die Abhaltung eines Plebiszits über das fragliche Gesetz zu ersuchen. Ganz aus dem Rahmen fällt Venezuela. Hier kann das Parlament mit einfacher Mehrheit ein präsidentielles Veto überstimmen. Allerdings haben die lateinamerikanischen Präsidenten mit Ausnahme von drei Staaten (Costa Rica, Guatemala und Honduras) ein partielles Vetorecht, das ihnen eine besondere Macht verleiht 10 . Denn hierdurch werden sie überhaupt nicht mit dem Problem konfrontiert, einzelne, ihnen nicht genehme Gesetzesbestimmungen tolerieren zu müs10

Traditionell hat der nordamerikanische Präsident nur ein generelles Veto. Seit dem 1.1.1997 verfügt er aber, dank einer Initiative der republikanischen Kongreßmehrtieit, über die Kompetenz zum partiellen

Veto (,line-item veto"). Es ist ungewiß, ob der Supmme Court die prasidentielle Kompetenz zum .lineitem veto" als verfassungskonform gelten lassen wird.

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sen, wenn sie gegen ein Gesetz kein generelles Veto einlegen wollen. In zwei Staaten (Uruguay und Venezuela) kann das Parlament mit einfacher Mehrheit ein partielles Veto des Präsidenten überstimmen. In immerhin fünf von 18 iberoamerikanischen Staaten gibt es also entweder kein partielles Veto, oder es kann leicht überstimmt werden. In vier Staaten verfügt der Präsident über eine besonders große Machtfülle, weil sein partielles Veto nur mit einer Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier überstimmt werden kann (Dominikanische Republik, Ekuador, Mexiko und Panama). In den übrigen Fällen reicht eine absolute Mehrheit oder eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden aus (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, El Salvador, Nikaragua, Paraguay und Peru). Wenn man generelles und partielles Veto zusammen betrachtet und von der Annahme ausgeht, daß bei einem partiellen Veto das Ablehnungserfordernis der absoluten Mehrheit der Zweidrittelmehrheit aller Parlamentarier bei einem generellen Veto gleichwertig ist, dann könnte man in Lateinamerika vier Ländergruppen nach den jeweiligen Parlamentskompetenzen gegenüber präsidentieller Verhinderungs- bzw. Vetomacht unterscheiden: erstens starke Parlamentskompetenzen (Venezuela, Honduras und Uruguay), zweitens relativ starke Parlamentskompetenzen (Costa Rica und Guatemala), drittens die Normalfälle (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Nikaragua, Paraguay und Peru) und schließlich viertens sehr geringe Parlamentskompetenzen (Ekuador, Mexiko, Panama und Dominikanische Republik). Dem Klischee von „lateinamerikanischer Politik" entspricht die Vorstellung, daß der Präsident mit Hilfe von Dekreten am Parlament vorbeiregiert (mit „Dekreten" sind hier keine Verwaltungsvorschriften gemeint, sondern Regelungen, die Gesetzen vergleichbar sind). Es geht also um das Problem, inwieweit der Präsident als legislativer Konkurrent des Parlaments auftreten kann. Ein Verfassungsvergleich demonstriert, daß diese Klischeevorstellung nicht der Realität entspricht. Denn in 10 von 18 iberoamerikanischen Staaten verfügt der Präsident über keine Dekretrechte (Bolivien, Costa Rica, Dominikanische Republik, El Salvador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Nikaragua, Paraguay und Uruguay)". Drei Staaten erkennen dem Präsidenten nur dann eine Dekretvollmacht zu, wenn sie ihm vom Parlament explizit verliehen wird (Chile, Panama und Venezuela). Zu bemerken ist dabei, daß das Parlament in Panama dem Präsidenten diese Vollmacht nur für die sitzungsfreie Zeit verleiht. In fünf Staaten verfügt der Präsident über eine eigenständige Dekretvollmacht, kann also auf eigene Initiative hin aktiv werden (Argentinien, Brasilien, Ekuador, Kolumbien und Peru)12. In Argentinien und Brasilien muß er allerdings innerhalb eines kurzen Zeitraums um die explizite Zustimmung des Parlaments nachsuchen. So muß ein präsidentielles Dekret in Argentinien, über das nicht „unmittelbar" befunden wird, spätestens nach 20 Tagen im Plenum des Parlaments behandelt werden. In Brasilien verlieren Dekrete des Präsidenten an Gesetzeskraft, wenn sie nicht spätestens innerhalb von 30 Tagen vom Kongreß gebilligt worden sind. In Kolumbien, Ekuador und Peru ist keine explizite Zustimmung erforderlich. In Kolumbien dürfte die Dekretvollmacht des Präsidenten am größten sein, denn von ihm im Notstandsfall erlassene Dekrete können hier erst im nächsten Jahr vom Parlament modifiziert oder abgelehnt werden. '' 12

Uruguay wird aus den in Punkt z2 der Tabelle erwähnten Gründen zu dieser Landergruppe gerechnet. In Argentinien, Kolumbien und Ekuador existiert zusatzlich die Möglichkeit der Dekretdelegation durch das Parlament.

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Insbesondere beim Dekretrecht scheint die Verfassungspraxis dem Verfassungsrecht häufig nicht zu entsprechen. S o gibt es Untersuchungen über mißbräuchliche Praktiken in Ekuador und Peru (Bernales 1984 und 1989 sowie 1990; Roldös Aguilera 1986); und über Brasilien ist geschrieben worden, daß die Exekutive nicht selten im Widerspruch zum .Geist" der Verfassung alle 30 Tage dasselbe Dekret erneut einbringt, um den Kongreß umgehen zu können (Financial Times 1996). (Auf Argentinien wurde oben eingegangen.) Auch die Dekretdelegation ist ihrerseits natürlich bedenklich, da sie das Parlament in Versuchung bringt, sich aus der Verantwortung zu stehlen und dem Präsidenten unliebsame Entscheidungen zu überlassen. Außerdem eröffnet sie aktivistischen Präsidenten Mißbrauchsmöglichkeiten (Coppedge 1994). Nur in der bolivianischen Verfassung (Art. 115) wird die Gesetzesdelegation an den Präsidenten durch das Parlament (bzw. seine Dekretbevollmächtigung) ausdrücklich verboten. Die Möglichkeiten des Präsidenten, mit Hilfe von Notstandsrechten das Parlament zu umgehen, sind in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder sehr begrenzt. S o kann der Präsident in acht der 18 Staaten nur mit Zustimmung des Parlaments den Notstand verkünden bzw. das Parlament allein hat dieses Recht (Brasilien, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Paraguay und Uruguay). Zu dieser Kategorie von Ländern werden auch diejenigen gezählt, in denen das Parlament Notstand und Notstandsmaßnahmen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums (z.B. 48 Stunden in Paraguay) zustimmen muß. In fünf lateinamerikanischen Ländern ist eine parlamentarische Zustimmung erst nach mehreren Tagen (z.B. nach 10 Tagen in Panama) notwendig, es sei denn, die Parlamente heben die Notstandsbeschlüsse auf (Bolivien, Ekuador, Nikaragua, Panama und Venezuela). In Argentinien ist das Notstandsrecht normalerweise Parlamentsrecht, während der sitzungsfreien Zeit geht es aber auf den Präsidenten über, dessen Beschlüsse jedoch einer parlamentarischen Sanktionierung bedürfen, sobald das Parlament wieder zusammentritt. In der Dominikanischen Republik verfügt das Parlament lediglich während der kurzen Sitzungszeit über das Notstandsrecht; während der langen sitzungsfreien Zeit hat der Präsident bei der Erklärung des Notstandes nur die Verpflichtung zur Information gegenüber dem Parlament. In Chile (vgl. Tabelle, Punkt j) sind die Möglichkeiten des Parlaments, die Ausrufung des Notstandes zu verhindern, relativ gering. In Kolumbien (vgl. Tabelle, Punkt m) gibt der Notstand dem Präsidenten Dekretvollmachten, die das Parlament, wie bemerkt, erst im nächsten Jahr modifizieren oder beseitigen kann. In Peru schließlich ist der Präsident uneingeschränkter Herr des Notstandes und kann sich, wenn er will, in eine Art Diktator verwandeln. Unter Berufung auf Generalklauseln (.Erschütterung des Friedens") kann er den Notstand ausrufen und unbegrenzt verlängern, wobei gegenüber dem Parlament lediglich eine Informationspflicht besteht. Im deutschen Grundgesetz ist eine Ausgabenbegrenzung für das Parlament festgelegt (vgl. Artikel 113 GG). E s verdient daher Erwähnung, daß immerhin drei lateinamerikanische Länder (Costa Rica, Ekuador und Honduras) die Budgetrechte des Parlaments ausdrücklich vom präsidentiellen Veto ausnehmen. In der Hälfte der Länder (neun) ist eine Ausgabenbegrenzung durch die Exekutive vorgesehen (Bolivien, Chile, Kolumbien, Dominikanische Republik, El Salvador, Panama, Peru, Uruguay und Venezuela) 13 . In sechs Ländern unterliegt das Haushaltsrecht des Parlaments keinen Einschränkungen, 13

Zu den Spezialfällen Bolivien, Kolumbien und El Salvador vgl. die Punkte f, o und t zur Tabelle.

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aber es besteht natürlich die Vetomöglichkeit des Präsidenten (Argentinien, Brasilien, Guatemala, Mexiko, Nikaragua und Paraguay). Bei einer Erörterung der Referendumsmöglichkeiten kommt es zunächst darauf an, ob Exekutive und Legislative diese gegeneinander ausnutzen können. Diametral entgegengesetzte Fälle stellen hier auf der einen Seite Ekuador und Chile, auf der anderen Argentinien dar. Artikel 78,7 verleiht dem ekuadorianischen Präsidenten die Kompetenz, die Bevölkerung zum Plebiszit über wichtige Fragen, insbesondere über Verfassungsänderungen, aufzurufen. Mit anderen Worten: Mit Hilfe des Plebiszits könnte er das Parlament ausspielen. Die chilenische Verfassung räumt dem Präsidenten das Recht ein, gegen Verfassungsänderungen, die das Parlament beschlossen hat, ein Plebiszit zu veranstalten. Demgegenüber kann in Argentinien (Art. 40) nur der Kongreß, nicht aber der Präsident, ein bindendes Plebiszit über einen Gesetzesentwurf verlangen. Hier könnte also das Parlament mit Hilfe des Plebiszits den Präsidenten ausspielen. In der Hälfte der Länder (neun) sehen die Verfassungen keine Plebiszite vor (Bolivien, Costa Rica, Dominikanische Republik, El Salvador, Honduras, Mexiko, Nikaragua, Panama und Venezuela). In den restlichen sechs Ländern besteht weder für den Präsidenten noch für das Parlament die Möglichkeit, den Widerpart via Plebiszit auszuspielen (Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Paraguay, Peru und Uruguay). Genuin plebiszitäre Komponenten enthalten die Verfassungen von Kolumbien und Uruguay, indem sie Volksinitiativen vorsehen, mit deren Hilfe Gesetze abgelehnt oder gebilligt werden können. Plebiszitäre Regelungen, die noch im einzelnen beschlossen werden müssen, kündigen die Verfassungen von Peru, Paraguay und Brasilien an. Kritik- und Kontrollkompetenzen In idealtypischer Hinsicht widerspricht es einer Präsidialdemokratie, daß Minister vom Parlament formell zensiert oder gar entlassen werden können. Gleichwohl ist dies in mehreren lateinamerikanischen Staaten der Fall. Eine Zensur mit einfacher Mehrheit ist nur in den Verfassungen El Salvadors und Venezuelas vorgesehen, aber in neun Ländern können Minister mit qualifizierter parlamentarischer Mehrheit zensiert werden (Bolivien, Kolumbien, Costa Rica, Ekuador, Guatemala, Panama, Paraguay, Peru und Uruguay) (zur Wertung von Ekuador vgl. S. 8), und in Argentinien ist dies für den Kabinettschef der Fall. Nur in sechs der lateinamerikanischen Staaten gibt es keine förmliche Möglichkeit zur Ministerzensur (Brasilien, Chile, Dominikanische Republik, Honduras, Mexiko und Nikaragua). Zwar kann kein lateinamerikanisches Parlament die Absetzung eines Ministers mit einfacher Mehrheit durchsetzen, aber immerhin ist dies in sechs Ländern mit qualifizierter Mehrheit möglich (Kolumbien, Ekuador, Guatemala, Paraguay, Uruguay und Venezuela). In Argentinien ist dies nur für den Kabinettschef statthaft, in El Salvador nur für die Vorsitzenden der Sicherheitsorgane im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen. Ansonsten kann das Parlament Absetzungsempfehlungen aussprechen. Derartige Empfehlungsrechte besitzen auch die Parlamente von Bolivien und Paraguay. In knapp der Hälfte der Länder können die Parlamente eine Ministerentlassung weder durchsetzen noch empfehlen (Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Honduras, Mexiko, Nikaragua und Panama).

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Den Prinzipien einer Präsidialdemokratie entsprechend ist eine Parlamentsauflösung generell nicht vorgesehen. Ausnahmen bilden lediglich Peru und Uruguay. In Peru kann der Präsident nach Artikel 134 das Parlament auflösen, wenn das Parlament zweimal die Kabinettsmitglieder zensiert hat - was mit einem Absetzungsbeschluß identisch ist - und der Präsident gleichwohl an den Ministern festhält. In Uruguay kann sich laut Artikel 148 der Präsident dem mit absoluter Mehrheit der Parlamentarier gefaßten Beschluß zur Absetzung eines Ministers (mehrerer Minister) widersetzen. Halten in der daraufhin einberufenen Parlamentssitzung weniger als drei Fünftel aller Parlamentarier am Absetzungsbeschluß fest, hat der Präsident das Recht zur Parlamentsauflösung (einmal in der Legislaturperiode). Einen Fall, bei dem dieser Verfassungsartikel zur Anwendung kam, hat es bislang nicht gegeben. Das im folgenden wiedergegebene Balkendiagramm gibt einen visuellen Eindruck von der verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzausstattung der Parlamente in den lateinamerikanischen Ländern. Es überrascht nicht, daß Bolivien, wo das Parlament besondere Rechte bei der Präsidentenwahl hat, eine Spitzenposition einnimmt. Und es entspricht den Erwartungen, daß relativ etablierte Demokratien wie Venezuela und Costa Rica vordere Rangplätze einnehmen. Überraschend aber ist doch, daß zentralamerikanische Demokratien wie Honduras, Guatemala und El Salvador sowie das lange diktatorisch beherrschte südamerikanische Paraguay nach dieser auf verfassungsrechtliche Bestimmungen abhebenden Skala bessere Werte erzielen als die etablierte Demokratie Uruguay. Es verwundert nicht, daß Chile dank der von Pinochet 1980 erlassenen (wenn Rangordnung der Parlamente In Lateinamerika nach Ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzausstattung (Punktzahlen nach der Tabelle auf S. 96)

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auch inzwischen partiell revidierten) Verfassung das Schlußlicht bildet. Es erstaunt, daß die kolumbianische Verfassung von 1991, die mit der ehemaligen Guerillabewegung M19 in der Verfassunggebenden Versammlung ausgehandelt wurde, doch recht „präsidentialistisch" ausgefallen ist. Angesichts des Balkendiagramms beeindruckt die gängige Argumentation, daß die neue Verfassung Brasiliens die Rechte des Parlaments sehr stärkt - wie manche meinen, allzusehr stärkt - , in einer komparativen Perspektive nicht sonderlich. In der Kritik an angeblich überzogenen Parlamentsrechten klingt hier wohl die Sehnsucht nach einem noch stärkeren Präsidenten an. Bei der Bewertung des Wahlrechts der Parlamente hinsichtlich der obersten Richter spielte es vor allem eine Rolle, über welche Kompetenzen die Parlamente im Vergleich zum Präsidenten verfügen. Mit dieser Tabellenspalte wird natürlich das Problem der Unabhängigkeit der Justiz nicht in angemessener Weise erfaßt. So sei darauf hingewiesen, daß vier derjenigen Länder, in denen die obersten Richter durch das Parlament bestellt werden, kein Quorum für die Richterwahl vorsehen (Costa Rica, Dominikanische Republik, Honduras und Venezuela). Demgegenüber schreiben die Verfassungen Uruguays und El Salvadors vor, daß zwei Drittel aller Parlamentarier der Richterernennung zustimmen müssen. Mit diesem hohen Quorum ist gewährleistet, daß auch die Auswahlkriterien der parlamentarischen Opposition Berücksichtigung finden. Ähnlich dürfte es in Nikaragua sein, wo immerhin 60% aller Parlamentarier der Richterwahl zustimmen müssen. In Peru, wo das Parlament die Verfassungsrichter (nicht die übrigen Richter) wählt, wird die Zustimmung von zwei Dritteln aller Parlamentarier verlangt14. Ein anderes Mittel, um die Unabhängigkeit der Justiz institutionell zu sichern, ist die Einrichtung eines pluralistisch zusammengesetzten Justizrates, der Vorschlagslisten erarbeitet, aus denen dann ausgewählt werden muß. Die Einrichtung eines derartigen Justizrates sieht Venezuela vor. In perfekter Weise ist die Unabhängigkeit der Justiz in El Salvador gesichert. Es ist nicht nur vorgeschrieben, daß zwei Drittel aller Mitglieder des Parlaments die obersten Richter wählen, sondern diese Richter sind zudem aus Listen auszuwählen, die von einem Justizrat vorgeschlagen werden, dessen Mitglieder von zwei Dritteln aller Parlamentsmitglieder zu wählen sind. Außerdem schreibt die Verfassung (Art. 186) vor, daß die Hälfte der Mitglieder des Justizrates von den Anwaltskammern vorgeschlagen sein muß und das Gremium die relevanten Strömungen des Rechtsdenkens zu repräsentieren habe. Eine originelle Lösung für das Problem der Garantie der Unabhängigkeit der dritten Gewalt ist in Peru gefunden worden. Ein Justizrat (Consejo Nacional de Magistradura) ernennt mit Zweitdrittelmehrheit seiner Mitglieder alle Richter außer den Verfassungsrichtern. Dieser Justizrat besteht aus sieben Mitgliedern, die von folgenden Gremien gewählt werden: Ein Mitglied durch den Obersten Gerichtshof, ein Mitglied durch die Vereinigung der Generalstaatsanwälte, ein Mitglied durch die Anwaltskammern, zwei Mitglieder durch die weiteren Berufskammern des Landes, ein Mitglied durch die Rektoren der nationalen Universitäten und ein Mitglied durch die Rektoren der privaten Universitäten. Wenn man die lateinamerikanischen Länder mittels der beiden genannten Kriterien (Quorum, Vorschlag durch unabhängige Gremien) danach gruppieren sollte, inwieweit 14

Daß selbst diese Vorschrift nicht ausreicht, um die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes zu sichern, wurde im Frühjahr 1997 deutlich. Der Regierungsfraktion (sie stellt die Mehrheit, aber natürlich nicht die 2/3-Mehrtieit) gelang es, nicht regierungskonforme Richter aus dem Verfassungsgericht zu .entfernen", indem sie sie einem „/mpeac/imen/"-Verfahren unterzogen.

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die Verfassungen institutionelle Sicherungen zur Unabhängigkeit der Justiz vorsehen, dann gelangte man (auf eine Eingruppierung des Sonderfalls Chiles wird hierbei verzichtet) zu folgender Aufteilung: Niedrig (Panama und Mexiko), mittel (Argentinien, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ekuador, Honduras, Kolumbien, Paraguay, Venezuela und Brasilien), hoch (Uruguay, Peru 15 , Nikaragua und Guatemala) und sehr hoch (El Salvador und Bolivien).

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15

Vgl. aber die vorhergehende Fußnote.

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107

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Carsten Frank / Stephen Wehner

Grundbedürfnisbefriedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen in Lateinamerika 1. Einführung Für die meisten Länder Lateinamerikas zeigen sich seit den siebziger Jahren relative Fortschritte bei den nationalen Durchschnittswerten wichtiger sozialer Indikatoren zur Messung der materiellen Grundbedürfnisbefriedigung (Sangmeister 1993). Allerdings erreicht das absolute Ausmaß von Armut und Defiziten der Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika nach wie vor alarmierende Größenordnungen. Zudem werden bei einer länderdifferenzierenden Analyse grundbedürfnisrelevanter Indikatoren erhebliche Unterschiede erkennbar. So reichte beispielsweise die Spannweite der Säuglingssterblichkeit Mitte der neunziger Jahre von 9,1 Sterbefällen je 1.000 Neugeborenen vor Vollendung des ersten Lebensjahres in Haiti bis zu 69 gestorbenen Säuglingen je 1.000 Neugeborenen in Bolivien (World Bank 1997). Wir sind der Auffassung, daß solche länderspezifischen Unterschiede in der Merkmalsausprägung sozialer Indikatoren auch damit zu tun haben, welche Rolle die Frauen in den jeweiligen Gesellschaften spielen können bzw. aufweiche Rollen sie beschränkt werden. Die zentrale Fragestellung, die in dem folgenden Beitrag untersucht wird, lautet, inwieweit sich die (Aus-)Bildung von Frauen in Lateinamerika positiv auf die Grundbedürfnisbefriedigung auswirkt. Nach einer überblicksartigen Beschäftigung mit der grundsätzlichen Bedeutung von Frauen im Entwicklungsprozeß werden die Ergebnisse einer empirischen Analyse vorgestellt, die auf Zusammenhänge zwischen Frauenförderung und Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika hinweisen.

108

Frank / Wehner: GrundbedOrfnisbefriedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen

2. Die Bedeutung von Frauen im Entwicklungsprozeß 2.1. Das „Frauenthema" in der Entwicklungspolitik In dem „Bericht über die menschliche Entwicklung 1995" des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) heißt es einleitend: „Menschliche Entwicklung ohne Gleichstellung der Geschlechter ist nicht möglich" (UNDP 1995: 1). In dieser Aussage spiegelt sich die mittlerweile auch auf internationaler Ebene zunehmende Einsicht in die zentrale Bedeutung der Frauen im Entwicklungsprozeß wider (vgl. auch OECD 1992; World Bank 1995). Die Thematisierung der Frauen als unverzichtbare Akteurinnen von Entwicklung in der entwicklungspolitischen Diskussion (und Praxis) begann Mitte der siebziger Jahre, als man nach zwei Dekaden des „Entwicklungsoptimismus" das Scheitern der bislang verfolgten Modernisierungs- und Wachstumsstrategien eingestehen mußte. Unter dem Eindruck der enttäuschten Erwartungen, der zunehmenden Ungleichheit und wachsenden Verarmung breiter Bevölkerungsteile in der sogenannten „Dritten Welt" begann eine Neuorientierung der weltweiten entwicklungspolitischen Strategiediskussion. Statt der ausschließlichen Orientierung an gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten wurden Zielgruppenorientierung und Grundbedürfnisbefriedigung konzeptionelle Kernelemente internationaler entwicklungspolitischer Strategieempfehlungen. In diesem Zusammenhang stand die (überfällige) „Entdeckung" der Hälfte der Bevölkerung, nämlich der Frauen, und zwar in zweifacher Hinsicht: 1. Frauen als „vulnerable group", also eine soziale Gruppe, die unter dem Elend und den Auswirkungen des Entwicklungs- und Modernisierungsprozesses besonders zu leiden hat (vgl. Boserup 1982, Klemp 1993). Die Betonung dieses Aspektes führt zu Bemühungen, das Leid der Frauen gezielt zu verringern, sie besser zu versorgen sowie Programme und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Auswirkungen auf Frauen unter dem Gesichtspunkt der „Frauenverträglichkeit" zu prüfen. 2. Frauen als Akteurinnen von Entwicklung, also handlungsfähige Menschen, die eine bedeutsame Rolle im Entwicklungsprozeß spielen: Als produktive Kraft, als Einkommensbezieherinnen, als Handelnde im „Gesamtkomplex der sozialen Beziehungen zwischen Frauen und Männern" (UNDP 1995: 114), insbesondere auch, wenn es um das Überleben und die Grundbedürfnisbefriedigung der ärmsten Bevölkerungsteile geht. Setzt man an dieser Stelle an, so geht es darum, grundsätzlich handlungsfähigen Menschen die Möglichkeiten zum Handeln zu schaffen bzw. bestehende Handlungsräume zu nutzen und zu erweitern1. Diese zweifache Bedeutung der Frauen im Kontext von Entwicklungsprozessen kommt in Titeln wie „Frauen im Entwicklungs- und Verelendungsprozeß" (Klemp 1993) oder in Formulierungen wie „Das ärmste Geschlecht: Die Frauen - besitzlos, unbeachtet und überarbeitet" (Harrison 1982: 266f.) griffig zum Ausdruck.

Diese Vorstellung steht im wesentlichen hinter dem vom UNDP verwendeten Begriff der .Fähigkeiten" (capabilities) und .Ermächtigung" (empowerment) als Schaffung von Fähigkeiten. So heißt es im Bericht 1995: „Ziel der Entwicklung ist die Erweiterung aller menschlicher Wahlmöglichkeiten, nicht nur die Steigerung des Einkommens." (UNDP 1995: 13); und später: „Die Ermächtigung der Menschen - vor allem der Frauen - ist ein sicherer Weg zur Verbindung von Wirtschaftswachstum mit menschlicher Entwicklung" (UNDP 1995:139).

109

Lateinamerika Jahrbuch 1997

Während in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf der akademischen Ebene entwicklungstheoretischer Paradigmenbildung eine „Krise der Großtheorien" diagnostiziert werden konnte (Menzel 1992), war auf der Ebene der praktischen Entwicklungszusammenarbeit eine gewisse Pragmatisierung zu beobachten: Ansätze geringerer entwicklungstheoretischer Reichweite und eine Portion „best practica' boten den operationalen Rahmen für eine gesteigerte Berücksichtigung von Frauen und geschlechtsspezifischen Aspekten in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Es zeigte sich, daß auf Frauen ausgerichtete Projekte oft besonders erfolgreich waren, oder anders ausgedrückt: „Investitionen in Frauen" wurden von den Entwicklungsökonomen als gesellschaftlich renditeträchtig erkannt (vgl. z.B. UNDP 1995, World Bank 1995). Sehr deutlich äußert sich die gewachsene Anerkennung der Bedeutung des Themas „Frauen im Entwicklungsprozeß" beispielsweise in der Konstruktion geschlechter- bzw. frauenspezifischer Entwicklungsmaße durch UNDP. Mit dem Gender-related Development Index (GDI) und dem Gender Empowerment Measure (GEM) wurden erstmals explizit Indikatoren für die Berücksichtigung der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen geschaffen (vgl. Box: Definitionen der verwendeten Indikatoren, am Ende dieses Aufsatzes). 2.2. Die Bedeutung der Frauen für die Grundbedürfnisbefriedigung Wenn man von der besonderen Rolle von Frauen im Entwicklungsprozeß spricht oder ihnen eine spezielle Bedeutung für die Grundbedürfnisbefriedigung zumißt, so grenzt man Frauen gegenüber Männern ab. Man muß also zwingend eine Hypothese darüber formulieren, welche entwicklungsstrategisch bedeutsamen Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen, und das wiederum setzt eine Annahme über das Warum dieser Unterschiede voraus. Wenn hier von Unterschieden zwischen Männern und Frauen die Rede ist, geht es um Unterschiede, die über die biologischen und individuellen Differenzen hinausgehen. Es geht also darum, welche Eigenschaften Frauen außerdem mit anderen Frauen gemein haben und welche sie zugleich von Männern unterscheiden. Grob formuliert kann man die beobachtbaren Unterschiede durch geschlechtsbedingte Veranlagung oder aber durch die Sozialisation begründen. Entsprechend lassen sich zwei theoretische Grundpositionen unterscheiden, die (a) als Gleichheitstheorien und (b) als Differenztheorien bezeichnet werden (Cordes 1995). Gleichheitstheorien postulieren gleiche Eigenschaften und Fähigkeiten bei Männern und Frauen im Sinne identischer Potentiale. Die dennoch faktisch beobachtbaren Unterschiede sind demgemäß kulturell bedingt und leiten sich aus den gesellschaftsspezifischen Geschlechterrollen ab. Die hierbei kaum zu überschätzende Bedeutung der Sozialisation zeigt sich plakativ in der bekannten Äußerung von Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es" (de Beauvoir 1968: 265). Demgegenüber stehen die Differenztheorien, d.h. die Vorstellung, daß Frauen von Männern grundsätzlich verschieden sind, also ein anderes Wesen, andere Eigenschaften und andere Potentiale haben. Es gebe nun mal zwei Geschlechter, und schon allein die biologische Differenz begründe Erfahrungen, die bedeutende Unterschiede zwischen den Geschlechtern bewirken. So sei z.B. die Erfahrung des Gebären-Könnens etwas, was das Wesen eines Menschen / einer Frau tief präge. In diesem Zusammenhang spielt die Frage nach Weiblichkeit und „typisch weiblichen" Eigenschaften eine bedeutende Rolle. Meist werden hier Fähigkeiten wie Wärme, soziale Kompetenz, Beziehungsfähigkeit und Fürsorglichkeit mit „weiblich" assoziiert (Cordes 1995).

110

Frank / WehnerGrundbedürfnisbefríedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen

Diese verschiedenen Positionen sind vor allem auch im Hinblick auf die daraus abgeleiteten Konsequenzen und Forderungen von Bedeutung: Gleichheitstheorien üben Patriarchatskritik und münden in der Forderung nach gleichen Rechten, während Differenztheorien die Entfaltung der eigenen Besonderheiten, der Weiblichkeit und deren gesellschaftliche Anerkennung als zentrales Ziel betrachten. Demnach liegt das Problem nicht in der Ungleichbehandlung, da ja die Geschlechter ungleich sind, sondern in der Geringschätzung der gleich- oder sogar höherwertigen weiblichen Fähigkeiten. In der entwicklungspolitischen Diskussion wurde Frauen wiederholt eine besondere Bedeutung für die Versorgung der Menschen mit den Gütern des Grundbedarfs zugesprochen. Wenn nicht in allen Ländern der Welt, so doch in sehr vielen, sind Frauen für die Versorgung von Familien zuständig: .Obwohl erhebliche landerspezifische Unterschiede und in einzelnen Gesellschaften große Statusunterschiede unter Frauen existieren, sind vergleichbare Entwicklungen feststellbar. Überall unterscheidet sich die Situation von Frauen strukturell von der der Männer. Weltweit sind Frauen für Kinder, Ernährung, Wasser, Energie, Gesundheit und altere und kranke Familienmitglieder zustandig" (Klemp 1993: 289).

Ob es sich um das Pflegen der Alten, das Ernähren der Kinder oder um Subsistenzlandwirtschaft handelt: Alles, was im weitesten Sinne mit Haus und Haushalt verbunden wird und das grundsätzliche Prinzip des Sorgens wird mit Frauen in Verbindung gebracht. In der Diskussion um die Grundbedürfnisversorgung in Entwicklungsländern ist die Bedeutung von Frauen als ver- und vorsorgender sozialer Knotenpunkt entscheidend. Da in der entwicklungspolitischen Diskussion immer wieder die Forderung nach Gleichstellung erhoben wird, kann man hierbei von Vorstellungen ausgehen, die eher auf Gleichheitstheorien fußen und in denen die Patriarchatskritik dominiert (vgl. z.B. Mies 1980, v. Werlhof et al. 1983). Im Sinne von Differenztheorien läßt sich die o.g. sorgende Bedeutung von Frauen aber auch mit „natürlichen weiblichen Eigenschaften" begründen. Trotz ihrer erheblichen Unterschiede lassen also beide Ansätze eine Feststellung der sozialen Bedeutung der Frau zu, obwohl die Bewertung dieser Rolle von Frauen im Entwicklungsprozeß je nach theoretischem Standpunkt sehr unterschiedlich erfolgen wird, solange man nicht die groben dualen Konstruktionen aufbricht und von einem Recht auf Gleichheit und Differenz ausgeht (Rott 1992: 8). Jedoch läßt sich eine (explizite) wertende Stellungnahme in der Diskussion um Gleichheit oder Differenz umgehen, wenn man sich auf eine empirische Beobachtung dieser Frauenrolle beschränkt. Bei unseren weiteren Überlegungen gehen wir von der These aus, daß den Frauen in Lateinamerika eine große Bedeutung für die Versorgung zukommt, daß sie also eine Rolle spielen, die sich stark von derjenigen der Männer unterscheidet, sei es wegen der kulturellen Prägung der Region seit der Kolonialzeit oder aus anderen Gründen. Als ein Beispiel für eine eher kulturell begründende Argumentation der besonderen Rolle der Frauen in Lateinamerika schreibt Ester Boserup, lateinamerikanische Länder hätten ebenso wie Länder unter arabischem Einfluß - .eine kulturelle Tradition, die die Beschränkung der Frau auf den häuslichen Bereich begünstigt" (Boserup 1982: 175). Und in dem „Bericht über die menschliche Entwicklung 1995" des UNDP heißt es: „In den meisten Ländern Afrikas südlich der Sahara ist die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen weniger ausgeprägt als in Lateinamerika" (UNDP 1995: 86). Wegen universell gültiger weiblicher Eigenschaften oder aber aus kulturspezifischen Gründen gehen wir davon aus, daß Frauen in Lateinamerika eine nicht zu überschätzende Bedeutung für die Grundbedürfnisbefriedigung zukommt. Folglich wäre eine Entwick-

111

Lateinamerika Jahrbuch 1997

lungsstrategie der Grundbedürfnisbefriedigung, die bei Frauen ansetzt, im Vergleich zu anderen Strategien potentiell als erfolgreicher zu bewerten. Ob sich diese Annahmen auch empirisch untermauern lassen, wird durch eine Untersuchung des (statistischen) Zusammenhangs zwischen grundbedürfnisrelevanten Indikatoren erkennbar. Da als ein besonders wichtiger Ansatzpunkt grundbedürfnisorientierter Entwicklungsstrategien die (Aus-)Bildung der Frauen gilt, wird im folgenden der Zusammenhang zwischen Bildungsstand der Mütter und anderen Sozialindikatoren untersucht. Anschließend befassen wir uns mit der Frage, ob wirtschaftliche Macht von Frauen, d.h. relativ höhere Fraueneinkommen, in einem Zusammenhang mit einer besseren sozialen Versorgung steht. Da für die meisten grundbedürfnisrelevanten Indikatoren keine zuverlässigen Zeitreihen zur Verfügung stehen, lassen sich ursächliche Zusammenhänge zwischen Veränderungen der Indikatorenwerte über die Zeit innerhalb bestimmter Länder statistisch kaum nachweisen; wir haben daher unsere empirische Untersuchung als Querschnittsanalyse für einen bestimmten Zeitpunkt (das Jahr 1993) zwischen verschiedenen lateinamerikanischen Staaten durchgeführt. Die verwendeten Daten sind in Tabelle 1 zusammengestellt.

Tabelle 1: Indikatoren der Grundbedürfnisbefriedigung in lateinamerikanischen Ländern 1993 Land/Index

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Argentinien Bolivien Brasilien Chile Kolumbien Costa Rica Kuba Ekuador El Salvador Guatemala Guyana Honduras Mexiko Nikaragua Panama Paraguay Peru Uruguay Venezuela

20,3 26,3 28,6 20,7 32,1 26,1 29,7 17,3 26,5 18,9 25,4 22,6 23,8 29,5 26,5 22,4 21,6 32,5 25,6

95,9 73,9 82,0 94,5 90,6 94,6 94,6 87,5 68,5 47,6 97,0 71,2 86,4 65,9 89,5 89,9 81,6 97,4 89,9

96,0 89,4 82,6 95,0 90,7 94,4 95,7 91,4 72,5 61,7 98,4 71,5 91,1 64,0 90,6 93,1 93,9 96,6 91,4

72,7 59,7 66,5 73,9 69,4 76,4 75,4 69,0 66,8 59,7 65,4 67,9 71,0 76,1 72,9 70,1 66,3 72,6 71,8

96,0 81,5 82,4 94,7 90,6 94,5 95,2 89,0 70,4 81,5 97,7 71,4 89,0 65,0 90,0 91,5 87,8 97,0 90,6

80,0 68,0 72,0 71,0 68,0 68, 65,0 72,0 54,0 68,0 70,0 61,0 65,0 61,0 69,0 62,0 80,0 76,0 69,0

24,0 74,0 57,0 15,0 37,0 13,0 12,0 49,0 44,0 48,0 47,0 42,0 35,0 50,0 25,0 38,0 64,0 20,0 23,0

2,8 4,8 2,9 2,5 2,7 3,1 1.8 3.5 4,0 5.6 2,6 4,9 3.2 5,0 2.9 4.3 3,4 2,3 3,3

100 650 220 65 100 60 95 150 300 200

1,5 2,3 2,4 1,8 2,3 3,0 1,4 2,8 2,3 2.9 1,1 3,2 2.7 3,1 2,5 3,0 2,6 0,7 3,1

2,2 35,7 24,4 21,7 23,8 26,0 16,8 28,0 33,4 38,5 25,0 37,0 27,5 40,2 24,7 32,7 27,2 17,0 27,1

1 2 3 4 5 6

Einkommensanteil weiblich (%) Alphabetisierungsrate weiblich (%) Alphabetisierungsrate männlich (%) Lebenserwartung bei der Geburt (Jahre) Alphabetisierungsrate gesamt (%) Kombinierte Brutto-Einschulungsrate (%)

Quelle:

112

UNDP 1996: 168-208.

7 8 9 10 11

220 110 160 55 160 280 85 120

Säuglingssterblichkeit (je 1 000 Lebendgeburten) Gesamte Fertilitätsrate Müttersterblichkeitsrate (je 100.000 Lebendgeburten) Jährliche Bevölkerungswachstumsrate (%) (1960-93) Geburtenrate

Frank / Wehner: Grundbedürfnisbefriedigung und die entwicklungsstrategische Rolle der Frauen

3. Frauen und Grundbedürfnisbefriedigung in Lateinamerika: Empirische Ergebnisse 3.1. Skizze der Situation der Frauen in Lateinamerika Ein Blick auf die GDI-Ränge, die 1993 von 19 lateinamerikanischen Ländern erzielt wurden, gibt einen ersten Eindruck von der Situation der Frauen in Lateinamerika (Tab. 2). Der GDI orientiert sich an dem Human Development Index (HDI), der heute in der Fachliteratur als Indikator für menschliche Entwicklung weitgehend anerkannt wird. Außer den Index-Komponenten des HDI (Einkommen, Bildung und Lebenserwartung) berücksichtigt der GDI zusätzlich bestehende Disparitäten zwischen den Geschlechtern bei diesen Indexwerten. Der GDI ist insofern also ein um geschlechterspezifische Ungleichheiten korrigierter HDI (vgl. Kasten). Tabelle 2: Geschlechterspezifische Ungleichheit in Lateinamerika: Rangplätze für GDI- und HDI-Werte 1993 Nr. Land

GDIRang

HDIRang

Differenz

Nr. Land

GDIRang

HDIRang

Differenz

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

26 32 38 39 41 44 45 46 59 49

28 27 43 38 39 29 26 42 64 52

+2 -5 +5 -1 -2 -15 -19 -4 +5 +3

11 12 13 14 15 16 17 18 19

66 67 72 78 86 88 89 90 94

56 67 71 81 87 91 92 90 88

-10 0 -1 +3 +1 +3 +3 0 -6

Uruguay Costa Rica Kolumbien Panama Venezuela Chile Argentinien Mexiko Kuba Brasilien

Ekuador Paraguay Peru Guyana Bolivien El Salvador Nikaragua Honduras Guatemala

Abweichung von der durchschnittlichen Benachteiligung (Gesamt): Abweichung von der durchschnittlichen Benachteiligung (je Land):

-38 -2,39

Neuberechnete Ränge aus der Grundgesamtheit von 137 Landern. Wegen der Besonderheiten der karibischen Länder wurden diese Staaten - mit Ausnahme Kubas - nicht berücksichtigt. Quelle: UNDP 1996: 33.

Zunächst zeigt sich, daß sich die in Lateinamerika erreichten GDI-Rangplätze in einer ebenso weiten Bandbreite bewegen wie für den HDI, was die grundsätzlichen Unterschiede in der Region wiedergibt. Ebenso ist erkennbar, daß in Ländern, in denen es den Männern schlecht geht, auch die Frauen leiden. Darüber hinaus aber fällt auf, daß die GDI-Ränge zum Teil deutlich von den HDI-Rängen verschieden sind. So liegt Kolumbien z.B. nach der GDI-Rangordnung fünf Plätze höher als beim HDI. Zwar werden in Kolumbien Frauen auch benachteiligt, aber weniger als im Weltdurchschnitt. Auf der anderen Seite verliert Chile 15, Argentinien sogar 19 Rangplätze gegenüber seinen HDI-Werten. Die Benachteiligung von Frauen in Bezug auf Lebenserwartung, Einkommen und Bildung ist in diesen Ländern also deutlich stärker als im weltweiten Durchschnitt. Zum Vergleich: Eine ähnlich große Abweichung vom HDI-Rang zeigt sich z.B. im Iran (-18), in Bahrain (-17) oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (-19). Im Durchschnitt zeigt sich für die hier

113

Lateinamerika Jahrbuch 1 9 9 7

KASTEN : DEFINITIONEN DER VERWENDETEN INDIKATOREN Human Development Index (HDI): Der HDI setzt sich aus drei jeweils gleich gewichteten Komponenten zusammen: Lebenserwartung, Einkommen und Bildungsstand. Letztere Komponente wiederum besteht zu 1/3 aus der Einschulungsrate und zu 2/3 aus der Alphabetisierungsquote. Alle drei Komponenten werden auf das Intervall zwischen dem maximal und dem minimal erreichten Ländenwert zum Betrachtungszeitpunkt skaliert. Bei der Ermittlung der Einkommenskomponente wird das BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten-US$ umgerechnet und durch die Atkinson-Formel bereinigt, um dem abnehmenden Grenznutzen des Einkommens Rechnung zu tragen (vgl. UNDP 1996:105). Gender-related Development Index (GDI): Der GDI hat dieselben Aussagevariablen wie der HDI. Der GDI relativiert den HDI durch gleichzeitige Berücksichtigung der Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen. Die herangezogenen Gewichtungsfaktoren bringen eine leichte Aversion gegen Ungleichheit zum Ausdruck. Die rechnerische Ermittlung ist relativ aufwendig (vgl. UNDP 1996: 107f.). Alphabetisierungsquote Frauen: Anteil alphabetisierter Frauen an der Menge H

t-

aller Frauen

a

Bw,

Aw =

alphabetisiert

^

Bw

• 100

Relative Unteralphabetisierung von Frauen (RUF):

R U F = - - 1

Nimmt

Am

der Indikator einen Wert < 0 an, so liegt eine relative Unteralphabetisierung von Frauen vor. Einschulungsrate (brutto):

Zahl der Einschulungen (primär, sekundär und

tertiär) als Anteil an der Gesamtbevölkerung ER =

^p

Säuglingssterblichkeit: Zahl der innerhalb des ersten Lebensjahres gestorbenen je tausend Lebendgeburten SRsaugiinge

= Ssaugimg^T)

^

^QQQ

G(T)

Muttersterblichkeit: Anteil gestorbener Mütter an der weiblichen Gesamtbevölkerung SRMOtter = ( ) .100 S m t t s r

T

Bw(T)

Bevölkerungswachstumsrate:

wb =

J^

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