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German Pages 332 [334] Year 2003
Lateinamerika Jahrbuch 2003
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Lateinamerika Jahrbuch • Band 12
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
LATEINAMERIKA JAHRBUCH 2003 Herausgegeben von Klaus Bodemer, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2003
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
IIK Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-89354-431-3 ISSN 0943-0318 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2003 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
INHALT Seiten
Teil I: Aufsätze Hartmut Sangmeister „Seid realistisch, versucht das Unmögliche!" Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik zwischen den Imperativen von Effizienz und sozialer Gerechtigkeit
g
Hans-Jürgen Burchardt Der 'Post Washington Consensus': Wege vom Neo- zum Sozialliberalismus
31
Sebastian Dullien Währungsregime in Lateinamerika Die jüngsten Krisen als Bankrotterklärung der orthodoxen Politikempfehlungen
47
Daniel Flemes Zur theoretischen Konzeptualisierung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen den ABC-Staaten. Eine Forschungsskizze
63
Teil II: Entwicklungen in Ländern und Regionen Basisdaten - Kennziffern - Chronologien 2002 Cono Sur
86
Mercosur Argentinien Chile Paraguay Uruguay
87 95 109 123 131
Brasilien
144
Andenregion
160
Bolivien Ekuador Kolumbien Peru Venezuela
161 171 179 189 203
Mexiko Zentralamerika
220 236
Costa Rica El Salvador Guatemala Honduras Nikaragua Panama
237 245 253 263 269 277
Karibischer Raum
283
Dominikanische Republik Haiti Kuba
284 289 299
Kennziffern zu den Klein- und Kleinststaaten im Karibischen Raum
309
Lateinamerika allgemein
323
Kennziffern zur demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Gesamtwirtschaftliche Eckdaten 2002 Außenwirtschaftliche Eckdaten 2002
323 326 327
Technische Erläuterungen zu der Datenbank IBEROSTAT
328
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
332
Teil I Aufsätze
Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
Hartmut Sangmeister
„Seid realistisch, versucht das Unmögliche!" Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik zwischen den Imperativen von Effizienz und sozialer Gerechtigkeit 1.
Das beredte Schweigen der neoliberalen Modelltechnokraten: Wirtschaftspolitische Ratlosigkeit in Lateinamerika
Ach, Lateinamerika! Nach der década perdida, dem verlorenen Jahrzehnt der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, werden die 90er Jahre als década frustrada in die Wirtschaftsgeschichte der Region eingehen, und die Zukunftsperspektiven lassen wenig Raum für Hoffnungen auf eine baldige und nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Lateinamerika. Der Versuch, mit wirtschaftspolitischen Reformen neoliberaler Prägung einen neuen Entwicklungspfad einzuschlagen, ist in den meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften offensichtlich an Grenzen gestoßen. Augenfälligstes Beispiel hierfür ist Argentinien, das mit der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit gegenüber privaten Auslandsgläubigern zum Jahreswechsel 2001/02 von einem zeitweiligen Musterschüler neoliberaler Wirtschaftsreformen zu einem (fast) hoffnungslosen Sanierungsfall wurde. Aber auch in anderen lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind die Symptome struktureller Wirtschaftskrisen unübersehbar, und selbst in Ländern wie beispielsweise Bolivien, deren Wirtschaften - wenn auch auf niedrigem Niveau - bislang als relativ stabil galten, häufen sich die Krisensignale. Lateinamerika als Wirtschaftsregion erlebte in den Jahren 2001/02 eine der ausgeprägtesten Rezessionen innerhalb der letzten beiden Dekaden und die kurz- bis mittelfristigen Aussichten für einen Wiederaufschwung bleiben unsicher. Zwar wird in Lateinamerika pro Kopf der Bevölkerung noch immer ein höheres Bruttonationaleinkommen (BNE) erzielt als in anderen Entwick-
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Lateinamerika-Jahrbuch 2003
lungsländerregionen, aber bei den gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten ist Lateinamerika als Wirtschaftsraum im internationalen Vergleich ein underperformer(v gl. Abbildung 1). Abbildung 1: Lateinamerikas gesamtwirtschaftliches Wachstum im internationalen Vergleich, 1985-1994 und 1995-2004 Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts in Prozent
Quelle: IMF 2 0 0 3 : 1 7 1 .
Um die mittelfristigen Wachstumsperspektiven zu verbessern und die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Krisen zu mindern, empfiehlt der Internationale Währungsfonds (IWF) den Regierungen der krisengeplagten lateinamerikanischen Länder das, was er ihnen schon immer empfohlen hat: Abbau der Staatsverschuldung, eine an dem Ziel der Preisstabilität orientierte Geldpolitik, Außenhandelsliberalisierung, Arbeitsmarktreformen und Reformen der sozialen Sicherungssysteme (IMF 2003: 32). Damit unterscheidet sich der aktuelle IWFKatalog wirtschaftspolitischer Empfehlungen für Lateinamerika nicht wesentlich von dem .Washington Consensus", der die wirtschaftspolitischen Reformen maßgeblich geprägt hat, die seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre in vielen lateinamerikanischen Ländern in Gang gesetzt worden waren.1 Aber diese Reformen haben zu keiner nachhaltigen, sich selbst tragenden gesamtwirt1
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Gegenüber früheren IWF-Empfehlungen, sich bei der Wahl des Währungsregimes für eine der beiden .Randlösungen"- völlig feste oder völlig flexible Wechselkurse - zu entscheiden, lautet die Empfehlung für Lateinamerika jetzt eindeutig exchange rate flexibility, außerdem sollte der Abbau der Korruption zu den politischen Prioritäten gehören, durch die die öffentliche Unterstützung für die wirtschaftspolitischen Maßnahmen gefördert werde und damit die Nachhaltigkeit der empfohlenen Reformen (IMF 2003: 32). Zur Frage der Währungsregime in Lateinamerika siehe auch den Beitrag von S. Dullien in diesem Jahrbuch.
Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
schaftlichen Wachstumsdynamik geführt. Während der 90er Jahre ist das Wachstum der lateinamerikanischen Volkswirtschaften deutlich hinter den Zuwachsraten zurück geblieben, die in den 60er und 70er Jahre registriert worden waren, und der Region ist es nicht gelungen, wieder die weltwirtschaftliche Bedeutung zu erlangen, die sie zu Beginn der 80er Jahre besessen hatte (vgl. Tabelle 1).
Tabelle 1: Lateinamerikas weltwirtschaftliche Bedeutung 1980,1990,2001 Der Anteil Lateinamerikas* •
betrug im Jahr 1980
1990
2001
an der Weltbevölkerung
8,1%
8,2%
8,5%
•
an der globalen Wertschöpfung"
7,4%
4,6%
6,2%
•
an den weltweiten Exporten
5,5%
3,9%
5,6%
•
an den ausländischen (Netto-)Direktinvestitionen
12,1%
4,2%
6,4%
* Lateinamerika und Karibik gemäß der regionalen Abgrenzung der Weltbank. b Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen in US-Dollar. Quelle: World Bank, World Development Indicators Online (www.worldbank.org).
Bei wichtigen sozialen Indikatoren, wie sie in dem Human Development Index Berücksichtigung finden2, konnten während der beiden zurückliegenden Entwicklungsdekaden (fast) überall in Lateinamerika Verbesserungen registriert werden, jedoch blieb die monetäre Einkommensentwicklung teilweise sehr verhalten oder war sogar rückläufig (vgl. Tabelle 2). Im lateinamerikanischen Durchschnitt erreichte im Jahr 2000 das BNE pro Kopf der Bevölkerung US$ 3720 und damit US$ 1640 mehr als 20 Jahre zuvor, aber in mehreren Volkswirtschaften der Region lag das Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 2000 nicht wesentlich über dem Stand von 1980 oder sogar noch darunter (vgl. Tabelle 2). Sofern die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten über den demographischen Wachstumsraten lagen, so dass sich das Pro-Kopf-Einkommen erhöhte, verteilten sich die rechnerischen Zuwächse des durchschnittlichen Einkommens meist sehr ungleich: Die Einkommenszuwächse kamen überwiegend den 20-40% der Haushalte an der Spitze der Einkommenspyramide zugute. In kaum einer anderen Weltregion ist die personelle Einkommensverteilung so ungleich und die Vermögenskonzentration in den Händen weniger so ausgeprägt wie in Lateinamerika.
2
In die Berechnung des Human Development Index gehen u.a. die Lebenserwartung bei der Geburt, die Alphabetisierungsquoten und die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs ein (vgl. UNDP 2002: 252f).
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Lateinamerika-Jahrbuch 2003
Tabelle 2: Human Development Index und Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika 1980,1990 und 2000 Human Development Index* 1980 1990 2000 Antigua und Barbuda 0,800 Argentinien 0,799 0,808 0,844 Bahamas 0,805 0,822 0,826 Barbados 0,871 Belize 0,710 0,750 0,784 Bolivien 0,548 0,597 0,653 Brasilien 0,679 0,713 0,757 Chile 0,737 0,782 0,831 Costa Rica 0,769 0,787 0,820 Dominica 0,779 Dominikanische Republik 0,646 0,677 0,727 Ekuador 0,673 0,705 0,737 El Salvador 0,586 0,644 0,706 Grenada 0,747 Guatemala 0,543 0,579 0,631 Guyana 0,679 0,680 0,708 Haiti 0,430 0,447 0,471 Honduras 0,566 0,615 0,638 Jamaika 0,690 0,720 0,742 Kolumbien 0,724 0,690 0,772 Mexiko 0,734 0,761 0,796 Nikaragua 0,576 0,592 0,635 Panama 0,731 0,747 0,787 Paraguay 0,699 0,717 0,740 Peru 0,669 0,704 0,747 St. Kitts und Nevis 0,814 St. Lucia 0,772 St.Vincent u. Grenadinen 0,733 Surinam 0,756 Trinidad u. Tobago 0,755 0,781 0,805 Uruguay 0,777 0,801 0,831 Venezuela 0,757 0,770 0,731 Lateinamerika u. Karibik Land
BNE° pro Kopf (in US$) 1980 1990 2000 1.860 5.550 9.090 2.940 3.200 7.450 6.180 11.730 14.860 3.280 6.600 9.460 1.410 2.190 2.880 550 750 990 2.190 2.780 3.630 2.250 2.190 4.810 2.040 1.790 3.820 800 2.260 3.250 1.170 2.120 880 1.400 9.50 1.070 760 940 2.000 2.310 3.720 1.220 970 1.690 780 380 860 270 410 500 710 860 700 1.820 1.220 2.820 1.180 1.190 2.020 2.830 5.100 2.540 670 340 370' 1.620 2.220 3.250 1.470 1.190 1.460 1.050 2.060 780 1.120 6.590 3.610 2.810 4.070 640 1.740 2.750 2.590 1.330 2.060 5.090 3.700 5.250 2.860 2.870 6.150 4.350 2.650 4.310 2.080 2.280 3.720
* Weltweit lagen die Werte des Human Development Index im Jahr 1980 zwischen 0,886 (Schweiz) und 0,253 (Guinea-Bissau), 1990 zwischen 0,926 (Kanada) und 0,256 (Niger), 2000 zwischen 0,942 (Norwegen) und 0,275 (Sierra Leone). b Bruttonationaleinkommen (früher: Bruttosozialprodukt). c 1998. .. Nicht verfügbar. Quelle: UNDP 2002:153-156; World Bank, World Development Indicators Online (www.worldbank.org).
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Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
Zu den gravierendsten Beispielen lateinamerikanischer Einkommenskonzentration gehört Brasilien, wo auf die 10% der Haushalte an der Spitze der Einkommenspyramide fast die Hälfte des gesamten Einkommens entfällt, während den ärmsten 10% weniger als 1% des Gesamteinkommens zufließt (World Bank 2003: 236). Die Ungleichheit der Einkommensverteilung in Brasilien ist einer der schockierendsten Fälle, aber keineswegs ein extremer Ausnahmefall innerhalb Lateinamerikas; auch in Chile, Guatemala, Kolumbien und Nikaragua lag der Anteil der 10% der Reichsten am Gesamteinkommen in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts über 45%. In den meisten lateinamerikanischen Ländern entfallen auf die 10% der Ärmsten am Boden der Einkommenspyramide nur zwischen 1 und 2% der nationalen Einkommen, in Brasilien, Honduras, Nikaragua, Paraguay und Venezuela sogar noch weniger. An dem Ausmaß der Einkommensungleichheit in Lateinamerika, die sich schon während der 80er Jahre verschärfte, hat sich zwischenzeitlich kaum etwas verändert. Auch deswegen sind viele Menschen in den Ländern des iberoamerikanischen Subkontinents enttäuscht über die aus ihrer Sicht mageren Resultate der wirtschaftspolitischen Reformen ä la .Washington Consensus". Noch immer leben in Lateinamerika Millionen Menschen in absoluter Armut und bleiben von der Teilhabe an den Vorteilen einer marktwirtschaftlich verfassten Wettbewerbsgesellschaft ausgeschlossen.3 Abbildung 2: Stand der Strukturreformen 1999 und Wirtschaftswachstum 1999-2003 Trinidad & Tobago Costa Rica. Mexiko f Brasilien/Chile • . . • Bolivien '
f * «Honduras »Honduras Ekuador''
5
• Kolumbien Vi O) QJ sz xy
Structural Reform Index 1999 0,1 0,2 0,3
•
0,5 Paraguay 0,6
0,4
Jamaika 0,7
y
• Argentinien
8 áy
•
JZ
Uruguay • Venezuela
Quellen: I M F 2 0 0 3 ; Lora 2 0 0 1 .
3
Schätzungen der Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL) zufolge reichten 1999 die Einkommen von fast 44% der Einwohner Lateinamerikas nicht zur Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse aus (CEPAL 2001:14); zwar ist der Anteil der extrem Armen an der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas in den 90er Jahren von knapp 17% (1990) auf 15,1% (1999) gesunken, aber die absolute Zahl der Menschen, die mit weniger als US$ 1 pro Tag auskommen müssen, ist in diesem Zeitraum von 74 Millionen auf 77 Millionen angestiegen (UNDP 2002: 18).
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Lateinamerika-Jahrbuch 2003
Diejenigen Länder, welche die Reformmaßnahmen entsprechend dem .Washington Consensus" am schnellsten und weitestgehenden umgesetzt haben, konnten keineswegs durchweg die höchsten gesamtwirtschaftlichen Zuwachsraten erzielen (vgl. Abbildung 2). Gemessen an dem Structural Reform Index4 (SRI) war Bolivien zwischen 1985 und 1999 mit seinen Strukturreformen am erfolgreichsten. Das Land erreichte 1999 den höchsten SRI-Wert von 19 lateinamerikanischen und karibischen Volkswirtschaften (0,690 gegenüber 0,583 im lateinamerikanischen Durchschnitt), dennoch unterschied sich die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des in Bolivien erwirtschafteten realen Bruttoinlandsprodukt (BIP) in dem Zeitraum 1999-2003 mit 1,9% nicht auffällig von dem lateinamerikanischen Durchschnittswert in Höhe von 1,2% für das gesamtwirtschaftliche Wachstum dieser Periode (Lora 2001: 30). Argentinien konnte entsprechend seinem SRI-Wert des Jahres 1999 (0,616) ebenfalls zu den erfolgreicheren Reformländern in Lateinamerika gerechnet werden, geriet aber dennoch ab 1999 in eine anhaltende Wirtschaftskrise, während beispielsweise die weniger reformfreudigen Länder Costa Rica (SRI 1999 0,557) oder Mexiko (SRI 1999 0,511) in den Jahren 1999-2003 beachtliche jährliche Zuwachsraten ihrer gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von durchschnittlich 3,2% bzw. 2,6% erzielten. Zu Recht wird in Lateinamerika die Frage gestellt, ob und wann sich die erwarteten wirtschaftlichen Erfolge des neoliberalen Reformkurses einstellen, ob dieser Kurs möglichenweise noch strikter verfolgt oder aber aufgegeben werden sollte. Die Enttäuschung über die wirtschaftlichen Ergebnisse der „Reformdekade" schlägt sich vielerorts in Lateinamerika in Protestbewegungen nieder, wenn auch nicht überall in so lautstarken Äußerungen von Wut und Zorn wie zeitweilig in Argentinien, wo der Mythos besonders gepflegt worden war, durch verstärkte Einbindung in die Weltwirtschaft zu einem Land der Ersten Welt zu werden. Zunehmend breitet sich die Überzeugung aus, allein auf der Grundlage neoliberal inspirierter wirtschaftspolitischer Lehrsätze keine hinreichenden Antworten für die (über-)lebenswichtigen Fragen der lateinamerikanischen Gesellschaften finden zu können und der Neoliberalismus gilt nicht (mehr) als einzig mögliche Option für die Konzeptualisierung der Wirtschaftspolitik (Barrios 1999: 105f.). Man mag dem Neoliberalismus anglo-amerikanischer Prägung, der staatliche Aktivitäten grundsätzlich in Frage stellt, gegenüber anderen Varianten marktwirtschaftlich orientierter Wirtschaftssysteme Überlegenheit attestieren, sofern man die Effizienz eines ökonomischen Systems allein an der Höhe der durchschnittlich erzielten Kapitalrenditen misst und die Armut von Menschen nur als ein sekundäres, statistisches Detail betrachtet. Berücksichtigt man jedoch bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wirtschaftssystemen auch den Lebensstandard der Mehrheit derer, die in dem System 4
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Der auf das Intervall [0,1] normierte Structural Refom Index wird als arithmetischer Mittelwert aus fünf Einzelindizes ermittelt und kann im besten Fall den Wert 1 erreichen; bei der Berechnung der Einzelindizes werden marktorientierte Maßnahmen zur Liberalisierung des Außenhandels berücksichtigt, Reformen des Finanzsektors, des Steuersystems, des Arbeitsmarktes sowie Fortschritte bei der Privatisierung (vgl. Lora 2001: 28f ).
Sangmeister Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
leben, sowie die Reichweite sozialer Sicherungssysteme und die Zufriedenheit des Medianwählers mit den staatlichen Leistungen, dann fällt das Urteil anders aus: Besser schneiden Modellvarianten ab, bei denen zwar auch marktwirtschaftliche Lenkungsinstrumente im Mittelpunkt stehen, der Staat aber einen wichtigen Beitrag zu einer produktiven und humanen Gesellschaft leistet.
2.
Die falschen Töne lateinamerikanischer Dissoziationsrhetorik
In Lateinamerika sind nicht nur von Demonstranten immer häufiger Parolen gegen eine stärkere Einbindung in die internationale Arbeitsteilung zu hören (vgl. Sangmeister 2003). Der argentinische Präsident Eduardo Duhalde, der zum Jahresbeginn 2002 - nach drei Übergangspräsidenten innerhalb weniger Tage - das Amt übernommen hatte, bezeichnete in den präsidialen Diskursen über die schwierige Suche nach einem Ausweg aus der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Notlage seines Landes das neoliberale Wirtschaftsmodell als .erschöpft" und „pervers". In Venezuela verspracht Hugo Chävez mit seiner „boliviarianischen Revolution" die marktwirtschaftliche Ordnung durch eine staatlich geförderte .demokratisch geplante" Produktions- und Verteilungsstruktur zu ergänzen - ein nicht einlösbares Versprechen, mit dem das Land in eine tiefe Krise geriet. In Brasilien konnte José Dirceu - der Vorsitzende der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) - Wähler mobilisieren, indem er von der Gefahr einer drohenden Denationalisierung der brasilianischen Wirtschaft sprach, und davon, dass sein Land die politische Agenda internationaler Organisationen wie WTO, IWF und Weltbank nicht akzeptieren dürfe, da sie lediglich den hegemonialen Interessen des Finanzkapitals und der USA dienten. In Bolivien kündigte Evo Morales, führender Oppositionspolitiker des indigenen Lagers, während des Präsidentschaftswahlkampfes des Jahres 2002 an, im Falle seines Wahlsieges Teile der Industrie verstaatlichen zu wollen, die Bedienung der Auslandsschulden auszusetzen und die zentralen Maßnahmen der seit 1985 praktizierten neoliberalen Politik wieder rückgängig zu machen. In weiten Teilen Lateinamerikas gehört es inzwischen zum Standardrepertoire politischer Führungsfiguren, die Schuld an der eigenen Misere dem IWF, den Banken, multinationalen Großkonzemen, dem Neoliberalismus - oder ganz allgemein: der Globalisierung - zuzuweisen. Lateinamerika ist ein guter Resonanzboden für Kritik an der Globalisierung, und mit dem Versprechen, die Schattenseiten der marktwirtschaftlichen Reformen zurückliegender Jahre zu korrigieren, lassen sich Wählerstimmen gewinnen, auch wenn keine konkreten wirtschaftspolitischen Alternativen vorgelegt werden. Tatsächlich ist die Nutzung von Globalisierungschancen in Lateinamerika bisher nur teilweise gelungen, während die Schattenseiten des globalisierungsbedingten Strukturwandels unübersehbar sind. Sozialer Unterbietungswettbewerb geht mit fortschreitender Segregation in den lateinamerikanischen Gesellschaften einher. Die abhängig Beschäftigten Lateinamerikas mussten mit Arbeitnehmern in anderen Teilen der Welt die bittere Erfahrung teilen, dass es mit zunehmender Weltmarktintegration einer Volkswirtschaft zunächst zu 15
Lateinamerika-Jahrbuch 2003
erheblichen (Real-)Lohneinbußen kommt, bei gleichzeitig stärkerer Einkommensdifferenzierung zu Gunsten der besser qualifizierten Arbeitskräfte (World Bank 2002: 104f). Aber auch die Mittelschichten sind inzwischen von Informalisierung ihrer Erwerbstätigkeit und sozialem Abstieg bedroht, so dass zu der .typischen" lateinamerikanischen Armut - die sich aus analphabetischen campes/nos-Familien und semialphabetisierten, städtischen favelados rekrutierte die „neuen Armen" hinzu kommen: Absteiger aus der Urbanen Mittelschicht, die mit dem Abbau des Staatsapparates und der Modernisierung des Industriesektors ihre materielle Basis verloren haben (Krumwiede 2002:19). Die soziale Deklassierung der Mittelschicht schwächt eine der klassischen Trägerschichten der Demokratie und die Pauperisierung großer Bevölkerungsteile macht diese anfällig für autoritäre Heilsversprechungen (Nolte 1999: 57). Von denjenigen, für die nicht erkennbar ist, welche neuen Arbeitsplätze und ökonomischen Perspektiven sich ihnen in einer internationalisierten Wirtschaft eröffnen, wird die Dynamik der Globalisierung als amoralisch wahrgenommen. Es sind sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, von denen Widerstand gegen eine Wirtschaftspolitik artikuliert wird, welche die Einbindung in die internationale Arbeitsteilung und in den Prozess der Globalisierung fördert (vgl. Sangmeister 2000a: 25). Allerdings melden sich in der lateinamerikanischen Debatte über wirtschaftspolitische Strategien auch viele Heuchler zu Wort. Die einen wiederholen papageienhaft die Schlüsselwörter der neoliberalen Orthodoxie und fordern Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, solange ihre eigenen Privilegien davon nicht betroffen sind. Andere Heuchler machen für die wirtschaftlichen und sozialen Übel in den lateinamerikanischen Staaten die „Achse des Bösen" aus IWF, W T O und der Gruppe der reichen Industrieländer (G7) - unter der hegemonialen Führung der USA - verantwortlich, während sie geflissentlich die eigenen Versäumnisse übersehen. Aus lateinamerikanischer Perspektive mag der Terminus „Globalisierung" durchaus irreführend erscheinen, solange für Produkte aus Lateinamerika die Liberalisierung des Handels durch die Zoll- und Subventionsschranken der westlichen Industrieländer begrenzt bleibt und der nordwärts gerichteten Mobilität lateinamerikanischer Arbeitskräfte an den Grenzzäunen des Rio Grande gewaltsam Einhalt geboten wird. Tatsächlich sind die lateinamerikanischen Volkswirtschaften in der Weltwirtschaft nur sekundäre Akteure, deren Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der „Spielregeln" des internationalen Wirtschaftssystems gegen Null tendieren (Ferrer 1997: 183). Dennoch ist Lateinamerika als weltwirtschaftlicher rule taker gezwungen, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die den Voraussetzungen und Folgen der Globalisierung gleichermaßen gerecht zu werden hat - ein Kunststück, das bisher kaum gelungen ist. Und dieses Kunststück kann auch nicht gelingen, ohne ein verändertes Grundverständnis von Staat und Gesellschaft, ohne eine Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Bürgerrechten im Sinne eines Rechts auf gleiche Chancen und Optionen. In diesem Sinne muss sich die Wirtschaftspolitik in Lateinamerika den Herausforderungen einer grundlegenden „Reform der Re-
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Sangmeister Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
formen" (Ffrench-Davis 2000) stellen, bei der es um mehr geht als um einen „Washington Consensus Plus".
3.
Internationale Wettbewerbsfähigkeit erfordert mehr als punktuelle Reformen
Das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotenzial weltmarktorientierter Wirtschaftsreformen konnte in Lateinamerika nicht oder nur teilweise mobilisiert werden, sofern die Reformmaßnahmen ordnungspolitisch inkonsistent waren und von begrenzter Reichweite blieben (vgl. Femändez-Arias/Montiel 2001). Zwar hat sich auch in Lateinamerika die Wirtschaftspolitik zunehmend von der Erwartung leiten lassen, mit stärkerer Wettbewerbsorientierung und Öffnung zum Weltmarkt die Effizienz der Binnenwirtschaft steigern zu können; aber die „Wende zur Marktwirtschaft", die (fast) überall in der Region vollzogen wurde, hat lediglich zu einer Entstaatlichung der Wirtschaft geführt, nicht jedoch zur Verbesserung staatlicher Handlungskompetenz bei der Etablierung einer Ordnungspolitik, ohne die eine Marktwirtschaft auf Dauer nicht auskommt (Sautter 2000: 38). Im Ergebnis führen der Rückzug des Staates und eine Politik „sorgloser Untersteuerung" dazu, dass sich bei einem Zusammentreffen von Marktversagen und Staatsversagen deren negative Auswirkungen kumulieren. Entsprechend den Mantras neoliberaler Politikempfehlungen wurden überall in Lateinamerika staatliche Dienstleistungen privatisiert, ohne die dabei entstandenen privaten Monopole und Oligopole Preis-, Effizienz- und Investitionskontrollen zu unterwerfen. Institutionen wurden aufgehoben, ohne im Bedarfsfalle an ihrer Stelle neue, effiziente Institutionen zu schaffen. Märkte wurden dereguliert, eine staatliche Wettbewerbspolitik zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit von Märkten und zum Abbau von Markteintrittsbameren wurde jedoch nicht oder nur rudimentär implementiert. Auch wenn sich der Staat aus seiner Rolle als aktiver Marktteilnehmer verabschiedet, die er in der langen Phase lateinamerikanischer Importsubstitutionspolitik innehatte, bleibt staatlicher Regulierungsbedarf bestehen, sofern die Gefahr missbräuchlicher Ausnutzung von Marktmacht besteht (z.B. bei „natürlichen Monopolen" leitungsgebundener Energien wie Strom und Gas). Unabdingbare Voraussetzungen für eine funktionierende Regulierung sind Glaubwürdigkeit, Transparenz und verbindliche Normen. Damit staatliche Regulierungsbehörden ihre Aufgaben erfüllen können, sollten sie von der Regierung unabhängig sein was in der von Klientelismus und Renf-See/c/ng-Verhalten geprägten politischen Kultur vieler lateinamerikanischer Staaten nur schwer zu verwirklichen ist. Dass eine inkonsistente Regulierung von Angebots- und Nachfrageseite zu schwerwiegenden Marktstörungen führen kann, hat 2001 beispielhaft die Krise des brasilianischen Elektrizitätssektors gezeigt. Um durch verstärkte Einbindung in die internationale Arbeitsteilung zusätzliche Wachstumschancen nutzen zu können, müssen die lateinamerikanischen Volkswirtschaften auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein. Jedoch nehmen die meisten lateinamerikanischen Staaten in dem Ranking der internationalen 17
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Wettbewerbsfähigkeit bislang nur hintere Plätze ein. In einem Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Wachstumschancen und der Wettbewerbsfähigkeit von 80 Ländern, den das World Economic Forum (WEF) veröffentlicht hat, rangierten in der Gruppe der zehn Letztplazierten sechs Länder in Lateinamerika und der Karibik - neben Ländern wie Bangladesh und Simbabwe; und selbst Chile, das bestplazierte lateinamerikanische Land, das innerhalb der Region als Vorreiter bei marktorientierten wirtschaftspolitischen Reformen gilt, gelangte nur auf Platz 20 (vgl. Tabelle 3)5. Sofern internationale Wettbewerbsfähigkeit der Motor wirtschaftlichen Wachstums ist, sind die Zukunftsperspektiven für viele lateinamerikanische Volkswirtschaften nicht sonderlich günstig (vgl. IDB 2001). Internationale Wettbewerbsfähigkeit lässt sich in der Regel nur durch eine Kombination aus natürlichen Standortvorteilen, Lohnkostenvorteilen, volumenbedingter Kostendegression, modernen technischen Produktionsanlagen und günstigen Rahmenbedingungen erreichen. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften können eine erfolgreiche Eingliederung in den Weltmarkt nur selektiv ansteuern, d.h. nur in denjenigen Bereichen, in denen es ihnen gelingt, auf der Basis des gegebenen Komplexes von natürlichen Ressourcen, Humankapital sowie Sach- und Finanzkapital eine international konkurrenzfähige industrielle Fertigungs- und Vermarktungskompetenz zu entwickeln. Allerdings: Nicht Staaten oder Volkswirtschaften stehen auf dem Weltmarkt miteinander in Wettbewerb, sondern es sind Unternehmen, die in verschiedenen Segmenten des Weltmarktes um Nachfrager konkurrieren. Um international wettbewerbsfähig agieren zu können, müssen Rahmenbedingungen vorhanden sein, welche die Attraktivität der Unternehmen als Anbieter im Leistungswettbewerb begünstigen. Neben einem Klima gesamtwirtschaftlicher Stabilität und außenwirtschaftlicher Offenheit gehören zu diesen Rahmenbedingungen die Qualität der öffentlichen Institutionen, technologische Kompetenz und die Akzeptanz von Innovationen in einer Gesellschaft. Wettbewerbsfähigkeit lässt sich heute nicht mehr auf der Nutzung natürlicher Ressourcen aufbauen, über die Lateinamerika reichlich verfügt; und Wettbewerbsfähigkeit entsteht auch nicht allein durch die Verfügbarkeit über Kapital, das man sich weltweit borgen kann. In einer globalisierten Wirtschaftswelt, deren Produktions- und Wertschöpfungsprozesse immer stärker auf Wissen basieren, setzt Wettbewerbsfähigkeit qualifiziertes Humankapital und komplementäres Innovationskapital voraus, d.h. personen- und organisationsgebundenes Wissen, das auf in der
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Auch in dem Ranking des International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne schneiden lateinamerikanische Volkswirtschaften schlecht ab. Bei dem Vergleich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von 30 Ländern und Wirtschaftsregionen mit mehr als 20 Millionen Einwohnern gehören Brasilien (Rang 21), Mexiko (Rang 24), Argentinien (Rang 29) und Venezuela (Rang 30) zu den zehn Letztplazierten, noch hinter China, Südafrika und Indien; immerhin wird dem brasilianischen Bundesstaat Sáo Paulo in dem \MD-Ranking mit Platz 13 eine höhere Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt als Italien (Rang 17). Bei dem Vergleich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von 29 Ländern und Wirtschaftsregionen mit weniger als 20 Millionen Einwohnern kommt Chile als einzige dabei berücksichtige lateinamerikanische Volkswirtschaft auf Rang 16 (IMD 2003: 4f).
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Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
Vergangenheit erlangten Erfahrungen aufbaut und in unternehmerischen Innovationsprozessen eingesetzt wird.
Tabelle 3: Wachstumschancen und Wettbewerbsfähigkeit lateinamerikanischer Volkswirtschaften 2002 im internationalen Vergleich WEF Growth Competitiveness Index Land
2002 1 2 14 20 37 42 43 45 46 50 52 54 56 57 60 63 68 70 72 73 75 76 78 80
2002
2001
Rangplatz (von 80) Rangplatz (von 75) Zum Vergleich: USA Finnland Deutschland Chile Trinidad und Tobago Uruguay Costa Rica Mexiko Brasilien Panama Dominikan. Republik Peru Kolumbien El Salvador Jamaika Argentinien Venezuela Guatemala Paraguay Ekuador Nikaragua Honduras Bolivien Haiti
WEF Microeconomic Competitiveness Index Rangplatz (von 80)
2 1 17 27 38 46 35 42 44 53 50 55 65 58 52 49 62 66 72 68 73 70 67 •
1 2 4 31 44 62 39 55 33 50 41 66 56 63 59 65 72 73 76 77 75 78 79 80
* Haiti ist in dem Global Competitiveness Report 2001 nicht enthalten. Quelle: WEF 2003: 5. Im internationalen Vergleich ist Lateinamerika kein Wirtschaftsraum mit komparativen Vorteilen bei der Nutzung unqualifizierter Arbeit; die Bildung von Produktionsschwerpunkten mit der Nutzung völlig unqualifizierter Arbeit - die 19
Lateinamerika-Jahrbuch 2003
es in anderen Weltregionen im Überfluss gibt - stellt daher für Lateinamerika keinen Wettbewerbsvorteil dar (IDB 2001: 107f). Nicht die Quantität von Arbeitskräften ist in den zukunftsfähigen, wissensbasierten Produktionsprozessen von Bedeutung, sondern deren Qualität. Um für die Weltmarktintegration gerüstet zu sein, sind in Lateinamerika zielgerichtete Investitionen in die Humankapitalbildung dringend notwendig. Die Beherrschung der neuen technologischen Systeme - eine der wesentlichen Voraussetzungen internationaler Wettbewerbsfähigkeit - setzt mehr besser ausgebildete Arbeitskräfte voraus. Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, sind die lateinamerikanischen Gesellschaften auf die Fähigkeiten für neue technologische Entwicklungen, für Innovationen und für die Assimilation neuer Technologien angewiesen. Eigenständige, innovative Forschungs- und Entwicklungsleistungen hängen allerdings auch von hinreichenden Vorleistungen für die Schaffung von Humanressourcen ab. Die mittelfristigen Entwicklungschancen bleiben daher begrenzt, wenn die lateinamerikanischen Gesellschaften für die Qualifikation ihrer Bevölkerungen, für Forschung und Entwicklung, für Investitionen in technologische Innovationen nur relativ geringe Mittel aufwenden (vgl. Arocena/Sutz 1998). Im internationalen Vergleich der Innovations- und Technologieneigung von Ländern mit Hilfe des Technology Achievement Index (TAI) liegen lateinamerikanische Staaten lediglich im Mittelfeld oder auf hinteren Rängen (UNDP 2001: 59f)6. Kein lateinamerikanisches Land gehört zu der Gruppe der 18 Volkswirtschaften, die bei dem technologischen Fortschritt international führend sind. Immerhin werden Mexiko, Argentinien, Costa Rica und Chile zu den Ländern gerechnet, die bei dem technischen Fortschritt potenziell führend sein können und für einige andere Länder in Lateinamerika (z.B. Uruguay, Panama, Brasilien und Kolumbien) wird eine dynamische Nutzung des technischen Fortschritts konstatiert. Länder wie Nikaragua, deren Bevölkerung für die Nutzung neuer Technologien kaum qualifiziert ist und wo selbst ältere Technologien (wie z.B. Elektrizität und Telefon) bei weiten Teilen der Bevölkerung noch nicht verbreitet sind, gelten im Hinblick auf den technischen Fortschritt als marginalisiert. In der Weltkarte des technologischen Fortschritts sind weite Teile Lateinamerikas weiße Flecken. Von weltweit 46 technologischen Innovationszentren liegen lediglich zwei in Lateinamerika: Säo Paulo sowie Campinas, ebenfalls im brasilianischen Bundesstaat Säo Paulo (UNDP 2001: 56)7. Neben diesen *
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Der Technology Achievement Index (TAI) soll messen, wie gut ein Land Technologie entwickelt und verbreitet und wie die Einwohner dieses Landes für die Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien qualifiziert sind; dabei werden vier Dimensionen der Kapazität eines Landes berücksichtigt, an den technologischen Innovationen zu partizipieren: (i) Entwicklung von Technologie; (ii) Verbreitung von Innovationen; (iii) Verbreitung älterer Innovationen; (iv) Qualifikation der Bevölkerung. Der TAI misst nicht, ob ein Land in der weltweiten technologischen Entwicklung führend ist, sondern wie gut dieses Land an der Entwicklung und Anwendung von Technologie partizipiert. Als technologische Innovationszentren werden Standorte klassifiziert, die vier Kriterien erfüllen: (i) das Vorhandensein von Hochschulen und Forschungseinrichtungen zur Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte oder zur Entwicklung neuer Technologien; (ii) die Präsenz etablierter Unternehmen
Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
bedeutenden Zentren haben sich in verschiedenen Ländern Lateinamerikas aus Netzwerken von Hochschulen, Niederlassungen multinationaler Technologiekonzerne sowie lokalen Unternehmen Innovationssysteme mit begrenzter Reichweite gebildet, denen durch Anpassungsentwicklungen externer Innovationen und die Bildung von Akteursverbünden die Erschließung überregionaler Absatzmärkte gelingt. So ist beispielsweise im Umkreis des Instituto Tecnológico de Costa Rica (ITCR) und der costaricanischen Niederlassung des Intel-Konzems ein Software-Cluster entstanden, das erfolgreich Segmente des internationalen Technologiemarktes bedient; der Pro-Kopf-Wert der von Costa Rica exportierten Software ist höher als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Abgesehen von solchen vereinzelten Erfolgsbeispielen ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass Lateinamerika den Anschluss an die Wissensgesellschaft verpassen könnte (vgl. Stamm 2002). Die höchsten Wohlstandsgewinne werden zukünftig vermutlich diejenigen Gesellschaften erzielen können, denen es gelingt, sich im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung auf Bereiche mit hohen technologischen Anforderungen zu spezialisieren. Ob es gelingt, technologische Kapazitäten aufzubauen, ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern hängt auch davon ab, wie Menschen in einem von Kreativität geprägtem Umfeld agieren. In Lateinamerika gibt es zu wenig innovative Netzwerke und der institutionelle Rahmen für nationale Innovationssysteme ist nicht hinreichend ausdifferenziert (Altenburg 2002: 211). Insbesondere die vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Lateinamerika sind für den wachsenden Innovationsdruck bei immer kürzeren Produktlebenszyklen schlecht gerüstet, da sie über keine oder nur begrenzte Forschungs- und Entwicklungskapazitäten verfügen und ihre Kontakte zu Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gering ausgeprägt sind. Wertschöpfungspotenziale von KMU lassen sich jedoch mit deren Einbindung in regionale Kompetenz- und Innovationszentren mobilisieren, die durch Vernetzung möglichst vieler Kompetenzträger (Großunternehmen, Hochschulen und Forschungsreinrichtungen, Verbände, Kommunen etc.) entstehen. Technische Entwicklungen von Innovationen führen in der Regel erst dann auch zu Exporterfolgen, wenn der heimische Markt Innovationen nachfragt und die Innovation auf dem Binnenmarkt aufgrund der Nachfragestruktur breite Anwendung findet, die sich später weltweit durchsetzt; auf solchen lead markets gewinnen Unternehmen einen zeitlichen Vorsprung bei der Adoption und Adaptation von Innovationen und damit tendenziell auch einen Wettbewerbsvorsprung auf dem Weltmarkt.8 Aber nicht nur technologische Kompe-
'
oder multinationaler Großunternehmen zur Gewährleistung von technologischem Know-how und wirtschaftlicher Stabiiitat; (iii) die Bereitschaft zur Gründung neuer Unternehmen; (iv) die Verfügbarkeit von Wagniskapital für die Umsetzung von Erfindungen und Geschäftsideen in marktfähige Produkte. In Lateinamerika sind lead markets - führende Absatzmärkte - eher die Ausnahme; zu den lead market-Markt-Eigenschaften gehören u.a. Preisvorteile (d.h. der Preis einer Innovation ist so niedrig, dass andere Länder sie gegenüber konkurrierenden Innovationen bevorzugen), Marktstruktur-
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Lateinamerika-Jahrbuch 2003
tenz und Innovationsbereitschaft auf der Mikroebene sind erforderlich, damit lateinamerikanische Unternehmen in wachstumsträchtigen Märkten mit höherer Wertschöpfung erfolgreich sein können. Benötigt werden auch funktionsfähige Finanzmärkte, die Wagniskapital bereitstellen, sowie eine gut ausgebaute materielle Infrastruktur. Erforderlich ist die Reorganisation und Verzahnung der Beziehungen zwischen öffentlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren auf allen Ebenen zwecks Mobilisierung der Problemlösungskapazitäten möglichst vieler gesellschaftlicher Akteure, um damit eine der zentralen Ursachen für die geringe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft zu überwinden: ihre unzureichende systemische Integration (Altenburg 2001: 125). Solange nicht an die Stelle der tradierten korporatistischen Arrangements Modemisierungskoalitionen für eine institutionelle gesellschaftliche Erneuerung und für eine Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit treten, droht lateinamerikanischen Volkswirtschaften die Gefahr, immer mehr an weltwirtschaftlicher Bedeutung zu verlieren. Reformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Mikro- und Mesoebene bleiben Stückwerk, wenn sie nicht durch Maßnahmen zur Effizienzsteigerung und Stabilisierung der staatlichen Budgetsysteme ergänzt werden sowie durch Reformen des öffentlichen Dienstes, die sich an dem Leitbild des aktivierenden Staates orientieren. Verwaltungsreformen mit dem Ziel transparenter, effektiver und effizienter Dienstleistungsstrukturen unter zunehmender Beteiligung der lokalen Bevölkerung stellen für die personell überbesetzten lateinamerikanischen Staatsbürokratien eine besondere Herausforderung dar; denn der öffentliche Dienst mit seinen Privilegien diente den sich auf den Staat berufenden lateinamerikanischen Eliten traditionell hauptsächlich als Instrument zur Selbstbedienung und zum Kauf politischer Loyalitäten. Berechnungen der Inter-American Development Bank (IDB) zufolge lassen sich knapp 60% der Differenz des lateinamerikanischen Pro-Kopf-Einkommens gegenüber dem durchschnittlichen Einkommensniveau in den Industrieländern darauf zurückführen, dass in Lateinamerika die öffentlichen Institutionen korrupter sind als in Westeuropa und Nordamerika, dass sie weniger effektiv sind und weniger regelkonform handeln (IDB 2000: 28). Die Reformresistenz der öffentlichen Verwaltungen ist fast überall in Lateinamerika erheblich und es tauchen in dem Meer bürokratischer Ineffizienz nur vereinzelte Inseln erfolgreich modernisierter öffentlicher Verwaltungen auf. Die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Institutionen ist jedoch eine der maßgeblichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung wirtschaftspolitischer Reformen, und zwar nicht nur auf der exekutiven Ebene von Regierung und Verwaltung, sondern auch auf der Ebene von Legislative und Judikative. Die .Herrschaft des Gesetzes", Rechtssicherheit und Durchsetzbarkeit von Rechtsansprüchen sind für eine primär von dem privaten Sektor getragene Wirtschaftsvorteile (d.h. intensiver Wettbewerb treibt lokale Unternehmen zur Erschließung neuer Markte und zur Entwicklung von Innovationen) sowie Nachfragevorteile (d.h. das Land steht an der Spitze eines internationalen Trends, der die Entwicklung neuer Produkte herausfordert); vgl. Beise 2001.
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Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
entwicklung essentiell und sie haben zudem eine darüber hinausreichende eminent gesellschaftspolitische Bedeutung. Bei der ihnen übertragenen Aufgabe, Gerechtigkeit mittels Recht und Gesetz umzusetzen, versagen staatliche Institutionen in Lateinamerika noch immer allzu häufig, indem Machtausübung und Gewalt an die Stelle von Recht treten. Wirtschaftlicher Wandel ist mit Veränderungen der verhaltensregulierenden und Erwartungen erzeugenden sozialen Regelsysteme verbunden, d.h. mit einem Wandel von Institutionen, die das Verhalten von Organisationen und Individuen bestimmen. Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Institutionen für wirtschaftlichen Wandel genügt es nicht, nur den äußeren Anschein des Institutionengefüges zu betrachten, sondern entscheidend sind die de facto gültigen Handlungsgebote und -verböte, die beispielsweise vielerorts in Lateinamerika noch immer dazu führen, dass öffentliche Mandatsträger bei Amtspflichtverletzungen straffrei bleiben, obwohl das kodifizierte Recht für solche Delikte eindeutige Strafandrohung enthält. Das Beharrungsvermögen mentaler Modelle sowie tradierte Denk- und Handlungsschemata in den lateinamerikanischen Gesellschaften resultieren in einer Inflexibilität von Institutionen, welche die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erschwert oder sogar blockiert. Ohne Anpassung der Institutionen auf der Ebene des Marktes und in der Politik bleiben wirtschaftliche Reformpläne erfolglos (vgl. Burki/Perry 1998; Bates 2001).
4.
Zur Einbindung in die Weltwirtschaft gibt es keine Alternative aber eine andere Wirtschaftspolitik ist möglich
Enttäuschte Erwartungen lassen überall in Lateinamerika die Bereitschaft zu einer Abkehr von weltmarktorienter Wirtschaftspolitik tendenziell steigen. Von einer Rückkehr zu den staatsinterventionistischen Politikmustem lateinamerikanischer Importsubstitutionsstrategien vergangener Dekaden mit ihren korporativistischen Verteilungskartellen lassen sich allerdings keine Lösungen für die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme Lateinamerikas erwarten. Ohnehin erübrigt sich die Kontroverse über die Vorteilhaftigkeit binnenmarktorientierter Entwicklungsstrategien gegenüber weltmarktorientierten Strategien ebenso wie die grundsätzlichere Kontroverse über die Leistungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Ordnungsmodelle im Vergleich zu zentralverwaltungswirtschaftlicher Lenkung. Diese Kontroversen sind durch die ökonomischen (Miss-)Erfolgsbilanzen vieler Länder innerhalb und außerhalb Lateinamerikas während der zurückliegenden Dekaden entschieden. Jedoch bestehen Wahlmöglichkeiten zwischen Varianten des marktwirtschaftlichen Modells, die sich vor allem durch die Rolle des Staates bei der Abminderung von Marktversagen sowie bei der Wahrnehmung der sozialen Sicherungs- und Augleichsfunktion voneinander unterscheiden. Zu dem Marktfundamentalismus ä la „Washington Consensus" gibt es durchaus marktwirtschaftlich orientierte Alternativen, die sich bewährt haben und die Möglichkeit einer systemkonformen Demokratisierung der Marktwirtschaft belegen. Für die lateinamerikanische Su23
Lateinamerika-Jahrbuch 2003
che nach alternativen Leitbildern können die deutschen Erfahrungen mit dem „rheinischen Kapitalismus" einer .sozialen Marktwirtschaft" ebenso lehrreich sein, wie die Lehren aus dem schwedischen Modell oder aus asiatischen Varianten des Kapitalismus (vgl. Sakakibara 1995). Es gibt für die theoretische Fundierung marktwirtschaftlicher Wirtschaftspolitik durchaus Alternativen zu der neoklassischen Theorie, deren Deöreu-Welt zwar durch formal-analytische Brillanz bestechen mag, deren walrasianischer Gleichgewichtsansatz aber inoperabel ist. Es gibt auch Alternativen zu dem anglo-amerikanischen Wirtschaftssystem, in dem der Sozialbindung des Privateigentums und staatlich organisierter Umverteilung keine vergleichbaren Funktionen zukommen, wie sie beispielsweise aus dem Gesellschaftsvertrag (kontinental-)europäischer Tradition abgeleitet werden. 9 Es gibt allerdings keine magische Formel für erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Wirtschaftspolitische Erfolge mit marktwirtschaftlichen Varianten in einem Land, die unter bestimmten historischen Konstellationen zustande kamen, lassen sich nicht ohne weiteres in anderen Ländern kopieren. In Lateinamerika hat die CEPAL auf der Grundlage der eigenen Ideengeschichte die Konturen eines neuen entwicklungsstrategischen Leitbildes unter dem programmatischen Titel „Equidad, desarrollo y ciudadania" skizziert (CEPAL 2000) 10 . In dem Konzept des neocepalismo werden soziale und kulturelle Rechte in eine Wirtschaftspolitik eingebettet, die nicht nur auf makroökonomische Stabilität zielt, sondern auch auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Reduzierung der strukturellen Heterogenität zwischen den produzierenden Sektoren der lateinamerikanischen Volkswirtschaften, bei gleichzeitiger Stärkung der Bürgerrechte, vor allem für die armen und diskriminierten Bevölkerungsgruppen, die sich von passiven Wählern zu aktiven Mitgestaltern öffentlicher Politiken emanzipieren müssen (Freiberg-Strauss 2002). Denn durch die Wahrnehmung von Bürgerrechten und die Einforderung ihrer Einhaltung bekommen kollektive soziale und kulturelle Zielsetzungen in der öffentlichen Politik ihren eigenständigen Wert, der sie über den Status von komplementären Nebenzielen im Rahmen wirtschaftspolitischer Strategien hinaus hebt. Die lateinamerikanische Debatte über alternative Entwicklungsstrategien, die angesichts der weltweiten Hegemonie neoliberaler Diskurse eine Zeitlang kaum wahrnehmbar zu sein schien, zeigt inzwischen wieder inhaltlich deutlichere 9
10
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Für Hutton (2002) ergeben sich die Hauptunterschiede zwischen den Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen Europas und der USA aus abweichenden Inhalten des Eigentumsbegriffs und des Gesellschaftsvertrages sowie aus einem differierenden Verständnis der res publica: .The European belief that the wealthy and propertied have reciprocal obligations to the society of which they are part and which cannot be discharged by charity alone goes back to early Christendom - as does the associated notion that a settled people must form a social contract to entrench their association. This in tum demands a public realm that permits the articulation and expression of what we hold in common. It is these propositions that, when turned into structures and policies, produce the high-quality social outcomes that distinguish Europe from the US" (Hutton 2002: 357). Das .neue" CEPAL-Konzept steht durchaus in einer gewissen Kontinuität mit früheren cepalinischen Vorstellungen zu wirtschaftlichem Strukturwandel mit sozialem Ausgleich; vgl. CEPAL 1992; Ocampo 1998.
Sangmeister: Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
Konturen. In dieser Diskussion wird sowohl auf keynesianische, strukturalistische und dependenztheoretische Ansätze zurückgegriffen, als auch an Überlegungen angeknüpft, wie sie zu good governance, zu systemischer Wettbewerbsfähigkeit und zivilgesellschaftlicher Netzwerkbildung in den westlichen Industrieländern angestellt werden. 11 Allein im Vertrauen auf die „unsichtbare Hand" des Marktmechanismus ist das Dilemma zwischen Effizienz und sozialer Gerechtigkeit nicht zu lösen, in das Wirtschaftspolitik in Lateinamerika geraten zu sein scheint. Zur Bewältigung der Herausforderungen, denen sich die lateinamerikanischen Volkswirtschaften stellen müssen, ist eine aktive Rolle des Staates erforderlich, aber mit einem gegenüber dem traditionellen Verständnis von nationalstaatlichem Regierungshandeln völlig verändertem Regulierungsmandat. Lateinamerika braucht nicht nur eine ökonomisch leistungsfähige, sondern auch eine sozialverträgliche, menschenwürdige Wirtschaftsordnung. Notwendig ist eine Synthese zwischen möglichst großen individuellen Freiheitsspielräumen und den sozialen Bindungen und Bedingtheiten menschlicher Verhaltensweisen. Eine Marktwirtschaft, die nicht als Laissez-faire-System (miss-)verstanden wird, sondern als umfassendere Ordnungskonzeption für die Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens, bedarf zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit zwingend aktiver staatlicher Ordnungspolitik. Dabei kann sich staatliches Handeln nicht auf die Schaffung der rechtlich-institutionellen Voraussetzungen marktwirtschaftlichen Leistungswettbewerbs beschränken, sondern muss diese auch sichern, indem die Einhaltung der „Spielregeln" überwacht wird und Regelverstöße mit Sanktionen bestraft werden. Zudem bedarf es staatlicher Ausgleichs- und Sicherungsmaßnahmen, wenn das Ziel eines geregelten gesellschaftlichen Neben- und Miteinander in Konflikt gerät mit einem Ausmaß an materieller und sozialer Ungleichheit, das eine demokratisch verfasste Gesellschaft auf Dauer nicht zu akzeptieren bereit ist. Für innergesellschaftliche Umverteilungsmaßnahmen bleiben auch dann Spielräume, wenn durch wirtschaftspolitische Reformen marktorientierte Lenkungsinstrumente gestärkt werden. Eine markt- und wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik erzwingt keine sozialpolitische Abstinenz, wohl aber das Ende einer Sozialpolitik, wie sie in Lateinamerika seit Dekaden zur exklusiven Privilegierung bestimmter Bevölkerungsgruppen betrieben wurde (vgl. Sangmeister 2000b: 261 f). Auch in der orthodoxen (ordo-)liberalen Konzeption einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung als einer privilegienfreien Ordnung ist Raum für Sozialpolitik und staatliche Umverteilung, sofern als primärer Bewertungsmaßstab für solche Regelungen das Kriterium der Privilegienfreiheit gilt; marktkonform ist dementsprechend die sozialpolitische Garantie eines Existenzminimums, die diskriminierungsfrei allen zuteil wird, während eine privilegienverteilende Sozi11
Einen guten Überblick über viele Facetten dieser neueren entwicklungsstrategischen Diskussion, wie sie auch außerhalb Lateinamerikas wahrgenommen wird, bieten Jonas/McCaughan 1994; Kaller-Dietrich 1998; Hengstenberg/Kohut/Maihold 1999; Boeckh 2000; IDB 2000.
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Lateinamerika-Jahrbuch 2003
alpolitik im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen vorteilhaft und mithin nicht für alle zustimmungsfähig ist (vgl. Vanberg 2002: 246f). Grundsätzlich stellt die Forderung nach Effizienz und sozialem Ausgleich im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung keine wirtschaftspolitische Aporie dar. Denn welchen Aufwand für soziale Absicherung, zur Vorsorge für materielle Risiken und für die Solidarität mit den sozial Schwachen eine Gesellschaft zu leisten bereit ist, ist nicht allein eine Frage der Belastbarkeit der Märkte mit Sozialabgaben, sondern zudem eine Frage gesellschaftlicher Präferenzen, und das heißt auch: wie viel Ungleichheit die Gesellschaft aushalten kann. Der Wirtschaftspolitik stellt sich die Aufgabe, jede sozialstaatliche Absicherungs- und Ausgleichsregel auf ihre marktwirtschaftliche Anreizkompatibilität hin zu überprüfen, aber der Test auf Systemkonformität (d.h. auf Marktkonformität) ist dem Test auf Zielkonformität nachgelagert, d.h. der Überprüfung der Frage nach der Eignung sozialstaatlicher Maßnahmen zur Erreichung vorgegebener Ziele. 12 Für einen staatlich organisierten intragesellschaftlichen Solidarausgleich bedarf es mithin eines Konsens' über die funktionale Bedeutung von Sozialpolitik für die wirtschaftliche Entwicklung und die demokratische Ordnung. Eine solche Konsensbildung steht in den stark fragmentierten und segmentierten lateinamerikanischen Gesellschaften aber noch aus. In vielen Ländern Lateinamerikas sieht sich staatliche Wirtschaftspolitik mit dem Dilemma konfrontiert, den makroökonomischen performance-Kriterien der ausländischen Kapitalgeber entsprechen zu müssen und gleichzeitig den Erwartungen der eigenen Zivilgesellschaft Rechnung zu tragen, welche die unmittelbaren Folgen wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu spüren bekommt; und zudem müsste sich die Wirtschaftspolitik - mit einem sehr viel weiteren Zeithorizont - an einem Leitbild zukunftsfähiger Entwicklung orientieren. Ein solches Leitbild des Regierungshandelns ist in Lateinamerika derzeit nicht zu erkennen. Wirtschaftspolitik in Lateinamerika mag sich einem „peripheren Realismus" verpflichtet wissen und sie verfügt in der Tat nur über begrenzte Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten; aber visionäre Leitbilder und kontextuelle Rationalität wirtschaftspolitischer Entscheidungen schließen einander nicht aus. Es bedarf eines solchen Leitbildes zukunftsfähiger Entwicklung, in dem Effizienz, Suffizienz und sozialer Ausgleich integrale Bestandteile sind, um die dauerhafte Funktionsfähigkeit des Systems zu gewährleisten. Wirtschaftspolitik, die sich an einem solchen Leitbild nachhaltiger, zukunftsfähiger Entwicklung orientiert, setzt Politikkohärenz voraus, d.h. einen ganzheitlichen Entwicklungsansatz, der die Bedeutung grundlegender makroökonomischer Zusammenhänge anerkennt, aber gleiches Gewicht den institutionellen, strukturellen und sozialen Voraussetzungen stabiler, demokratischer Gesellschaf-
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Marktfundamentalisten vergessen, dass die Wirtschaftsordnung, an der sich rationale, widerspruchsfreie Wirtschaftspolitik orientiert, keine eigenständige Zielkategorie darstellt, sondern lediglich Instrumentalcharakter in Bezug auf die vorgegebene gesamtgesellschaftliche Zielfunktion besitzt (vgl. Hemmer 1990: 110f ).
Sangmeister Lateinamerikanische Wirtschaftspolitik
ten zumisst. Eine Marktwirtschaft kann nur dann effektiv funktionieren, wenn sie in ein Geflecht sozialer Institutionen eingebettet ist und zivilgesellschaftlich getragen wird. Auch für Lateinamerika gilt, dass die ausschließliche Ökonomisierung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse unter Effizienz- und Renditegesichtspunkten bei gleichzeitiger Vernachlässigung sozialer Wertmaßstäbe und menschlicher Dimensionen von Entwicklung in eine Sackgasse zu führen droht.
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WORLD ECONOMIC FORUM [ W E F ]
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Burchardt: Oer 'Post Washington Consensus'
Hans-Jürgen Burchardt
Der 'Post Washington Consensus': Wege vom Neo- zum Sozialliberalismus Die Asienkrise kündigte es an, und nach dem Zusammenbruch Argentiniens weiß es eigentlich jeder: Der Neoliberalismus ist in der Krise. Was die Analyse von Hartmut Sangmeister in diesem Band für Lateinamerika eindrucksvoll nachzeichnet, lässt sich auch in anderen Regionen beobachten. In fast keinem der einstigen sozialistischen Länder gelang es bis heute, wenigstens an die frühere ökonomische Leistungsfähigkeit heranzukommen. Was in den dortigen Umbruchsgesellschaften oft am stärksten wächst, ist die Armut. Auch aus den meisten Teilen Afrikas sind keine besseren Nachrichten zu hören. Und die Wirtschaftswunder Südostasiens sowie China zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die neoliberalen Rezepte missachteten. Insgesamt halbierte sich die jährliche Wachstumsrate der Entwicklungsländer zwischen 1980 und 1999 von 3% auf 1,5%. Und wenn in den letzten zwei Jahrzehnten die chinesische, die indische und einige südostasiatische Volkswirtschaften nicht so rasch gewachsen wären, würde dieser Wert noch deutlich niedriger liegen. Die Krise des Neoliberalismus bleibt auch seinen Protagonisten nicht verborgen. Zwar gibt es immer noch Unverbesserliche, die politisch oder wissenschaftlich an den alten Konzepten festhalten - oder die bisherigen Misserfolge auf eine fehlende Umsetzung des neoliberalen Paradigmas schieben (Kuczynski/Williamson 2003). Wie wenig originell solche Erklärungsversuche wirklich sind, wusste schon der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi, als er mit Blick auf eine wesentlich frühere Debatte über liberale Wirtschaftskonzepte konstatierte: Seine Apologeten wiederholen in zahlreichen Varianten, dass, ohne die Anwendung der von seinen Kritikern befürworteten Methoden, der Liberalismus seine Aufgaben sehr wohl erfüllt hätte, dass nicht das Wettbewerbssystem und der selbstregulierte Markt, sondern vielmehr die Eingriffe in dieses System und die Interventionen auf
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diesem Markt die Schuld an unseren Missständen trügen [...] (Polanyi 1978:198). Nebenbei erinnern solche Zitate daran, dass sich an einigen liberalen Positionen offensichtlich seit rund 60 Jahren nicht viel geändert hat. Vielleicht gerade deshalb schweigt die Mehrzahl der einstigen Verfechter des Neoliberalismus heute eher verunsichert und orientierungslos. Oder ist wie der US-Ökonom Dani Rodrik - der lange den Freihandel propagierte - bereit, dessen Scheitern schnörkellos anzuerkennen: The main strike against neoliberalism is not that it has produced growth at the cost of greater poverty, heightened inequality, and environmental degradation, but that it has actually failed to deliver the economic growth that the world needs to better equipped to deal with these other challenges (Rodrik 2002: 3). Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben diese Zeichen der Zeit schon relativ früh erkannt. Gehörten sie einst zu den bedeutendsten Vertretern neoliberaler Ansichten, sind sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dazu übergegangen, die damit verbundenen Glaubenssätze aufzuweichen und - nach eigenen Angaben - in ein neues Entwicklungsparadigma umzuwandeln, welches sie heute 'Post Washington Consensus' nennen. Und in neueren Veröffentlichungen über die Weltbank gilt der frühere 'Washington Consensus' - wie die neoliberale Politik ab den 1980er Jahren auch betitelt wurde - wie zuvor die Phasen der wachstumsorientierten Infrastrukturprojekte und danach der Grundbedürfnisstrategie als ein Zeitabschnitt, der Mitte der 1990er Jahre endete (GilberWines 2000: 17). Der Neoliberalismus ist also nicht nur in der Krise, er ist auch schon Geschichte.
1. Der ,Post Washington Consensus' - oder: Totgesagte leben länger Mit dem 'Post Washington Consensus' wird eine neue programmatische Ausrichtung der Weltbank beschrieben, die auf der Erkenntnis beruht, dass das Paradigma einer Antinomie Markt versus Staat sich als kontraproduktiv erwiesen hat, um die Herausforderungen des präferierten marktorientierten Strukturwandels zu bewältigen. Personell lässt sich dieser Politikwechsel an der Ernennung von James Wolfensohn zum Weltbank-Präsidenten im Jahr 1995 und von Joseph Stiglitz zum Chefökonomen der Weltbank 1997 festmachen. Wolfensohn begann, die Dialogkultur der Weltbank zu verändern, und initiierte eine intensive Debatte mit Kritikern und zivilen entwicklungspolitischen Akteuren. Zusätzlich propagierte er ein neues Entwicklungsverständnis: .The two parts, namely macroeconomic aspects on the one side and the social, structural and human on the other, must be considered together" (Wolfensohn 1999). Stiglitz sollte diese neue Marschlinie konzeptionell ausgestalten. Er hatte in der wirtschaftstheoretischen Debatte die Ansätze der Economics of Informati32
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on und der New Development Economics mitentwickelt und sah makroökonomische Stabilität als ein Mittel und nicht als das primäre Ziel von Entwicklung an. Andere Entwicklungsbereiche wie Sozial- oder Bildungspolitik müssen danach zu ihrer vollen Entfaltung institutionell abgesichert werden, und jenes wiederum kann am besten der Staat garantieren. Nach diesem neoinstitutionalistisch inspirierten Verständnis erhält der Staat eine strategisch wichtige Rolle im Entwicklungsprozess. Zur empirischen Untermauerung seiner Thesen zog Stiglitz die Länder Thailand, Malaysia, Indonesien und China als Fallbeispiele heran, die ja gerade mit dem Staat als wichtigem Entwicklungsagenten und unter Umgehung zentraler Punkte des neoliberalen Paradigmas enorme Entwicklungserfolge erzielt hatten (Stiglitz 1998). Im Weltentwicklungsbericht The State in a Changing World von 1997 reflektierte sich dieses neue Denken zum ersten Mal: Dem Staat wurden erneut wichtige Aufgaben im Entwicklungsprozess zugesprochen, wobei Wirtschaftsund Sozialreformen anhaltendes Wirtschaftswachstum sichern sollen: „To make development stable and sustainable, the state has to keep its eye on the social fundamentals" (World Bank 1997: 4). Der Weltbank-Präsident Wolfensohn (1999) nahm die neue Stoßrichtung dann selbstkritisch für die Weltbank auf: Too often in the past, we have gone after the easy targets, saying that we would attack the more difficult (often institutional) issues later on. In doing so, we have failed to recognize the essential complementarities. Stiglitz selbst war nach massiven Ausfällen gegen den IWF, dessen Politik er in der Asienkrise von 1998 als dümmlich und dessen Arbeitsweisen als undemokratisch, arrogant, lernresistent und realitätsfem bezeichnet hatte (Stiglitz 2000), für die Weltbank nicht mehr tragbar. Doch seine Einsicht, dass Marktrationalität nicht alle sozialen Bereiche regeln kann und gleichzeitig Regeln bedarf, wirkte weiter. Sie mündete in die Formulierung des sogenannten 'Post Washington Consensus', der den Markt nicht ersetzen, sondern steuern will. In einer neuen programmatischen Ausrichtung sollen der neoliberalen Wirtschaftspolitik eine .zweite Generation' von Reformen, nämlich institutionelle, Sozial-, Rechts-, Finanz- und Bildungsreformen folgen. Der Neoinstitutionalismus wurde hierbei zu einem der wichtigsten konzeptionellen Pfeiler des 'Post Washington Consensus'; allein der Titel des Weltentwicklungsberichts von 2002 Building Institutions for Markets unterstreicht dies deutlich (World Bank 2001). Die effiziente Ausgestaltung staatlicher Institutionen wird hierin zur Kernaufgabe von Entwicklung. Allerdings bleibt der Neoinstitutionalismus der Weltbank sehr vage bei der Definition dessen, was er eigentlich präzise unter Institutionen versteht. Als Gemeinplatz identifiziert er sie als Entwicklungsmotor, weiß aber keine Antwort darauf, ob und welchen eigenen Entwicklungslogiken Institutionen unterliegen. Im Detail reduzieren sich Institutionen dann häufig auf Eigentumsrechte 33
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und vernachlässigen die Komplexität des Institutionengeflechtes, das für gesellschaftliche und staatliche Entwicklung relevant ist (Leys 1996). Im Bericht von 2002 wird besonders dem Rechtssystem, das die formalen Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Aktivitäten sichern und Eigentumsrechte garantieren muss, große Bedeutung zugesprochen. Im Grunde wird der Neoinstitutionalismus damit wieder auf seinen neoklassischen Kern zurückgeführt und gibt auf diese Weise eine Steilvorlage für weitergehende Privatisierungen. Darüber hinaus wird weiter einer maßlosen Überschätzung privatwirtschaftlicher Kapazitäten gefrönt, die von neueren Forschungserkenntnissen zunehmend hinterfragt wird: Tiefergehende Untersuchungen belegen vielmehr, dass Privatisierungen besonders dort rasch vorangehen, wo sie nicht mit den Interessen der traditionellen lokalen Eliten kollidieren. Dabei gelingt es diesen bei der Umwandlung öffentlicher in private Unternehmen nicht selten, ihre Rentseefeng-lnteressen zu wahren und gelegentlich sogar ihre ökonomische und politische Machtbasis auszubauen (Glade 1991; Faust 2000). Denn oft stehen die strategisch wichtigen Binnenbetriebe und ihr Management in enger Verbindung zur politischen Elite oder sind sogar mit ihr identisch. Waren Nepotismus und Klientelismus zu Zeiten des lateinamerikanischen Entwicklungsstaates entscheidende Faktoren bei der Vergabe von Subventionen, sind sie es heute bei den Zuschlägen für Privatisierungen. Damit wird klar, dass der Wechsel des Eigentümers per se keineswegs zu effizienterer Untemehmenspolitik führen muss: .The privatisation process in many countries reinforced patterns of patron-client relations which the exercise itself was supposed to eliminate" (Tangri 1999: 149). Die Wiederentdeckung des Staates durch den Neoinstitutionalismus des 'Post Washington Consensus' sollte deshalb nicht mit einer Renaissance des Entwicktungsstaates im Sinne des Keynesianismus verwechselt werden. Die Weltbank selbst lies daran schon in ihrem Bericht von 1997 keinen Zweifel: Many said much the same thing fifty years ago, but then they tended to mean that development had to be state-provided. The message of experience since then is rather different: that the state is central to economic and social development, not as a direct provider of growth but as a partner, catalyst, and facilitator (World Bank 1997: 1). In diesem Sinne stellt der 'Post Washington Consensus' auch heute nicht eine Abkehr vom Neoliberalismus dar, sondern kann vielmehr als eine renovation of neo-liberalism (Berger 1999: 239) verstanden werden.
2. Nachhaltige Sozial- und Wirtschaftsentwicklung durch Arm utsbekäm pf u ng? Der 'Post Washington Consensus' hat sich eine nachhaltige Sozial- und Wirtschaftsentwicklung auf die Fahne geschrieben. Als der zentrale Hebel zum Erreichen dieses Zieles wurde gegen Ende der 1990er Jahre die internationale
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Armutsbekämpfung zum wichtigsten Pfeiler der neuen Politik. Eine neue inhaltliche Ausrichtung sowie weitreichende Innovationen in der operativen Umsetzung sollen seither den postulierten Perspektivenwechsel in Theorie und Praxis unter Beweis stellen. Konzeptionell wurde dabei der World Development Report von 2000/2001, der sich unter dem Titel Attacking Poverty ganz der Armutsbekämpfung widmete, zum wichtigsten Meilenstein (World Bank 2000a). Die Vorbereitungen des Berichtes standen ganz im Zeichen der neuen Dialogkuitur: 60.000 Arme in knapp 60 Ländern wurden nach ihrem Selbstverständnis von Armut befragt, und Teile des Berichts wurden im Vorfeld und unter sehr breiter Teilnahme auch weltbankkritischer Organisationen diskutiert. Die Ergebnisse dieser Debatte verstärkten den Eindruck, dass ein politischer Wandel stattgefunden hat: Anstelle der früheren ökonomistischen Erklärungsansätze wurde im ersten Entwurf des Berichtes von Januar 2000 eine mehrdimensionale Armutsdefinition vorgestellt, die außer Wirtschaftswachstum und Einkommen die Bereiche Bildung, Gesundheit, Verwundbarkeit und Machtlosigkeit als weitere Armutsgründe nennt. Folgerichtig nennt der erste Entwurf partizipative Selbstorganisation (empowerment), Sicherheit (security) und als letztes ökonomische Integration (opportunities) - in genau dieser Reihenfolge - als die drei zentralen Hebel der Armutsbekämpfung. Zusätzlich wird einer gerechteren Einkommensverteilung eine höhere Priorität als dem Wirtschaftswachstum zugebilligt und eine ausführliche Diskussion über liberalisierte Kapitalmärkte geführt, wobei die malaysischen und chilenischen Modelle der Kapitalverkehrskontrolle positive Erwähnung fanden (Wade 2001). Wachsende Kritik verschiedener einflussreicher Institutionen und Personen führte dann allerdings zu einer deutlichen Überarbeitung des Endberichtes. Dabei unterstreicht die Schlussfassung für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung wieder stärker die Bedeutung von neoliberal ausgerichteter Wirtschaftsstabilisierung und berücksichtigt in ihren Empfehlungen die nicht-ökonomischen Dimensionen von Armut in geringerem Maße (Chambers 2001; Maxwell 2001). Schon seit 1999 werden diese neuen Ideen von der Weltbank auch in der Praxis erprobt. Als Auftakt stellte der Weltbank-Präsident James Wolfensohn im Januar 1999 sein neues Konzept eines Comprehensive Development Framework (CDF) vor, welches gleichzeitig in einer zweijährigen Pilotphase in 13 Ländern umgesetzt wurde. Neben makroökonomischer Stabilisierung und Weltmarktintegration sollen hierbei als Good Governance die Politikfelder Rechtsstaatlichkeit und Sozialprogramme bearbeitet werden. Weitere Aufgabenfelder sind Bildungs-, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, die Bereitstellung von Energie, Infrastruktur, Wasser und Abwasser sowie die Sicherung von ökologischer Nachhaltigkeit und lokaler Kultur (Wolfensohn 1999). Konzeptionell ist das Comprehensive Development Framework (CDF) als partizipative Mehrebenenpolitik angelegt, in der eine partnerschaftliche Kooperation der Regierungen, der Zivilgesellschaft, der internationalen Organisationen, der privatwirtschaftlichen Akteure und der direkt Betroffenen verfolgt wird.
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Ziel ist es, über eine solche Entwicklungsmatrix die Koordination, Transparenz und gegenseitige Information aller Akteure zu verbessern. Sollen hierüber im internationalen Umfeld die Abstimmungsprozesse optimiert und auf der nationalen Ebene der Staat modernisiert werden, will man auf der lokalen Ebene durch die Stärkung von Selbsthilfekapazitäten verarmten Bevölkerungsgruppen eine stärkere Teilhabe an sozialen und politischen Entscheidungsprozessen ermöglichen. Gleichzeitig wird die systematische Bedeutung sozialer Netze für die soziale Sicherung der Ärmsten anerkannt und ein democratic deepening für die oft noch jungen Demokratien angestrebt. Gegen Ende des gleichen Jahres führten die Bretton-Woods-Institutionen die bisher aktuellste Maßnahme zur Armutsreduzierung ein, die Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs). Diese Initiative verknüpft Kreditvergaben sowie die Qualifikation für einen Schuldenerlass mit der nationalen Umsetzung von Armutsreduzierungsprogrammen, wobei Armutsbekämpfung als eine Querschnittsaufgabe aller Politikfelder angesehen wird (World Bank 2000a). Auch hier steht das Leitbild Partizipation im Vordergrund: Über das Prinzip der nationalen Verantwortung, das sogenannte ownership, soll die neue Sozialpolitik nicht mehr als top-down-Politik von IWF und Weltbank, sondern vom jeweiligen Land selbst entworfen werden (World Bank 2001). Mit dieser Maßnahme reagierte die Weltbank auf die zentrale Kritik, dass eine fehlende nationale und lokale Beteiligung oft ein wesentlicher Grund für das Scheitern entwicklungspolitischer Strategien gewesen sei. Zurzeit befinden sich die PRSPs in mehr als 60 Ländern in Erprobung. Nach ersten Evaluierungen ergänzen sie bis heute hauptsächlich die makroökonomischen Strukturanpassungsmaßnahmen durch eine stärkere Förderung von Sozialsektoren wie Gesundheit und Bildung (Oxfam 2001; Walther 2002). Hierbei ist zu unterstreichen, dass die dabei neu eingesetzten Instrumente der Selektion und Fokussierung von Zielgruppen und Projekten prinzipiell ein effektives Mittel zu sein scheinen, die Armen mit sozialer Infrastruktur zu versorgen. Auch das ownership und die Konditionalität der PRSP-Programme, die die nationalen Regierungen zu mehr Eigenverantwortung in der Armutsreduzierung anhalten, relativieren im Grunde eine Fundamentalkritik an der früheren internationalen Armutspolitik, nämlich dass die eingesetzten Ressourcen die Armen nicht im gewünschten Umfang erreichten, da armutsorientierte Projekte nicht an „[...] den etablierten Interessen der Staatsklasse und der sie unterstützenden strategischen Gruppen vorbei lanciert werden können" (Tetzlaff 1996: 159). Aus diesen Gründen ziehen nicht wenige Experten die Instrumente der neuen Armutsbekämpfung wegen ihrer relativ hohen Zieleffizienz, einer breiten Diffusion und simplen Projektrealisierung gegenüber komplexen Programmen und traditioneller Armutspolitik vor, und sehen sie als wichtige Innovation der neuen Sozialpolitik an. Insbesondere die Bereitstellung von sozialer Infrastruktur und darunter in gewichtigem Umfang von Grundschulen, die die in Lateinamerika oft wenig breitenwirksamen und ungenügend qualifizierenden
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Schulsysteme verbessern helfen, muss als ein konstruktiver Beitrag zur Armutsbekämpfung angesehen werden. Wird Armutsbekämpfung mit Arbeitsbeschaffung und Einkommensverbesserungen gleichgesetzt, scheinen die neuen Programme schon weniger geeignet zu sein. Denn auch der 'Post Washington Consensus' setzt gezielt auf eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und Deregulierung von Sozialleistungen, um für die Privatwirtschaft und insbesondere ausländische Direktinterventionen gute Standortbedingungen zu garantieren. Ergebnisse dieser Politik waren bisher meist drastische Lohnsenkungen und eine stark gewachsene Informalisierung von Arbeitsbeziehungen. Da Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik im neoliberalen Sozialpolitikverständnis grundsätzlich als allokationsverzerrend angesehen und meist ganz gestrichen werden, gibt es zu diesen Tendenzen keine Kompensationsmechanismen. Dass solche Politiken eher neue Armut provozieren als alte verringern, wird in Lateinamerika besonders deutlich. Als zentrale Gründe für neue Armut werden in der Region genannt: Erstens offene Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und informelle sowie wenig produktive Arbeit, zweitens eine negative Reallohnentwicklung und ein rapider Rückgang der Mindestlöhne sowie drittens Ausgabenkürzungen bei den Sozialleistungen (BID/CEPAL/PNUD 1995; OIT 2001). Doch die stärksten Probleme weist die zentrale Zielvorgabe Partizipationsförderung auf: So hat die Evaluierung bisheriger PRSP-Prozesse ergeben, dass Partizipation auf nationaler Ebene nicht selten nur als eine weitere Konditionalität zur Gewährung der begehrten internationalen Kredite angesehen und von den Regierungen halbherzig verfolgt wird. Die Entwürfe der PRSPs werden dann oft ohne zivilgesellschaftliche Beteiligung erarbeitet, bzw. ihre Vertreter werden nur mangelhaft und zu kurzfristig informiert. Zwischenergebnisse werden nicht weitergegeben, Rückmeldungen auf Kritik finden nicht statt und scheinen auf Entscheidungen keinen oder nur wenig Einfluss zu haben. Findet dennoch ein ziviler Konsultationsprozess statt, ist dieser oft zusammenhanglos, wenig strukturiert und erlaubt nicht die Formulierung konsistenter Strategien. Unzureichende Ressourcen, Kenntnisse und fehlendes Wissen erschweren die Mitbestimmung von zivilen Gruppen zusätzlich (Marshall/Woodroffe 2001; Oxfam 2001; Südwind 2001). Weiterhin beziehen sich ownership und Partizipation der PRSP-Prozesse nicht auf die makroökonomischen Kernfelder der Strukturanpassungspolitik, die bei der Armutsbekämpfung weiter auf die alte exportorientierte Wachstumspolitik, Privatisierungen und Geldwertstabilität setzt. In Nikaragua z.B. verlangte der IWF nach einer Bankenkrise im Jahr 2001, dass für PRSPPolitiken vorgesehene Privatisierungserlöse aus den Strom- und Telekommunikationsmärkten stattdessen für die Stabilisierung der Geldreserven und die Vermeidung eines Haushaltsdefizits umgewidmet werden sollten (Oxfam 2001). Mit dieser Nichtberücksichtigung von relevanten Themen wird Partizipation von vornherein stark begrenzt und reduziert sich nicht selten auf eine reine Informationsweitergabe und auf unverbindliche Konsultationen. Die be-
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absichtigte demokratische Politikentscheidung aller Involvierten wird somit nicht selten verhindert. Neben diesen als anfängliche, prozessuale oder technische Probleme zu bezeichnenden Partizipationshemmnissen gibt es auch strukturelle Barrieren, die aus Anfangsproblemen resistente Blockaden machen können. Zum einen gehören dazu die lokalen und nationalen Machtkonstellationen. Denn Partizipation bedeutet immer (Neu-)Verteilung von Macht und Ressourcen. Dies lässt sie zu einem hoch konfliktiven und politischen Prozess werden, bei dem die lokalen Eliten eine entscheidende Rolle spielen. Dennoch verharrt die Weltbank auf einem sehr formalen und technischen Verständnis von Partizipation. So werden die zugunsten der Reichsten in den letzten Jahrzehnten permanent gestiegenen Einkommensdisparitäten zwar als Armutsursache thematisch gestreift (World Bank 2000b), Rezepte zur Verringerung von Verteilungsungleichheit aber nicht zum Gegenstand des 'Post Washington Consensus' gemacht. Weiterhin wird durch das ownership der binnenpolitische Kontext eines Staates zu einem zentralen Referenzpunkt der internationalen Armutsbekämpfung. Da in nicht wenigen lateinamerikanischen Staaten demokratische Rechtsstaatlichkeit und zivilgesellschaftliche Partizipation - als Einbindung ziviler Organisationen wie Gewerkschaften, Untemehmensverbände oder Kirchen im westlichen Sinne - nicht die Regel sind, stößt die Partizipationsförderung der Weltbank somit auf zahlreiche konzeptionelle Hemmnisse. Vor allem in den ärmsten Ländern - also eigentlich der prädestinierten Zielgruppe der PRSPs - sind zivilgesellschaftliche Organisationen kaum vorhanden oder von professionellen NGOs des Nordens abhängig. Dachorganisationen oder Netzwerke, die ansatzweise einem repräsentativen Anspruch gerecht werden könnten, sind die Ausnahme. Die existierenden Organisationen verfügen kaum über Kapazitäten für eine profundere Analyse und Bewertung der PRSPVorschläge sowie für einen professionellen Dialog mit ihren Regierungen dies betrifft vor allem makroökonomische Fragen (Knoke/Morazan 2002; McGee et al. 2002). Die Regierungen selbst gehen bei der Auswahl ihrer zivilen Gesprächspartner ebenfalls selektiv vor und beschränken sich aus operativen Gründen oft auf professionalisierte NGOs und/oder aus politischen Erwägungen auf regierungsfreundliche Akteure. Schon alleine über die Definition, wer als Zivilgesellschaft gilt, lässt sich der partizipative Prozess steuern. Solange Organisationsund damit Diskurs- und Konfliktfähigkeit die zentrale Voraussetzung von ziviler Partizipation bleibt, ist außerdem zu befürchten, dass die Annen, also die eigentliche Zielgruppe, von den neuen Armutsbekämpfungsstrategien systematisch ausgeschlossen werden. Denn ein prägnantes Merkmal von Armut ist mangelnde Organisationsfähigkeit. Doch auch ein breiter Auf- und Ausbau zivilgesellschaftlicher Strukturen garantiert prinzipiell keine Konsolidierung von Demokratie. Denn die Frage der demokratischen Legitimation von Zivilgesellschaft ist generell ungeklärt und
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fragwürdig: Werden öffentliche Aufgaben von NGOs wahrgenommen, ist weder deren Kontinuität gesichert, noch eine Rechenschaftspflicht gewährleistet, noch können Rechte eingeklagt werden. Und die Annahme, dass z.B. NGOs die Beteiligung von Armen garantieren, erweist sich meist als Trugschluss, denn statt Selbstorganisation oder politische Aktivitäten sind die häufigsten Formen der Interessenvertretung von Armen informelle Politiken über paternalistische oder klientelistische Beziehungen. Statt zu empowerment könnte die Fokussierung auf Zivilgesellschaft deshalb im schlimmsten Falle zu politischer Demobilisierung führen (Kothari 2001). Wie abstrus der Weltbankimperativ der Partizipation teilweise selbst dort gehandhabt wird, wo Organisationsfähigkeit existiert, zeigt das Beispiel Bolivien, wo über 100 zivilgesellschaftliche Organisationen die Weltbank und den IWF in einer Resolution aufforderten, den PRSP-Vorschlag der bolivianischen Regierung abzulehnen, weil er ohne zivile Partizipation zustande kam. Die Weltbank zeigte sich unbeeindruckt von dieser Kritik, und Bolivien ist heute eines der Modelländer der neuen Armutsbekämpfungsprogramme (Christian Aid 2001). Zum anderen gewinnen die internationalen Finanzorganisationen mit ihren neuen Armutsbekämpfungsstrategien an Bedeutung für die nationalen Politiken, und zwar nicht nur im Sozialsektor, wo in Ländern wie Peru die internationalen Geber mehr als 50% der sozialpolitischen Haushaltsmittel abdecken (Goodman et al. 1997). Denn da die PRSPs Armutsreduktion als Querschnittsaufgabe aller Politikfelder und von vielfältigen Akteuren verstehen, nimmt die Bedeutung der nationalen politischen Rahmenbedingungen bei der internationalen Kooperation zu und wird durch Forderungen wie Transparenz, accountability, Good Govemance, rule oflaw, etc. drastisch beeinflusst. Das Stimmengewicht in Weltbank und IWF hängt aber von der Höhe des eingezahlten Kapitalanteils ab - von einer formalen demokratischen Legitimation ist also nicht zu sprechen. Insofern diese internationalen Organisationen also nationale Politiken massiv mitgestalten, muss eigentlich von einer Entdemokratisierung von nationaler Politik gesprochen werden - selbst wenn diese sogar eine Partizipationsförderung anstrebt. Anders formuliert: Die internationalen Geberorganisationen beschränken sich in ihrer Selbstwahmehmung zwar auf beratende Tätigkeiten. Letztlich sind sie aber die Instanzen, die über die Armutsbekämpfungsprogramme entscheiden und die dafür nötigen Ressourcen bereitstellen. Die jeweiligen Regierungen sitzen somit zwar „in the driver's seat", um es mit den Worten des Weltbank-Präsidenten auszudrücken (Wolfensohn 1999). Es ist aber nicht selten der Fall, dass die „driver's route" schon vorher von den internationalen Finanzinstitutionen festgelegt wurde (Eurodad 2000). Insofern reflektieren also auch die PRSPs ein zentrales Strukturgebrechen globaler Politik: deren erhebliches Demokratiedefizit.
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Die neue Partizipationsförderung könnte sich durchaus in einen positiven Beitrag verwandeln - je nachdem, wie weit sie diese beschriebenen konzeptionellen Dilemmata überwindet: What is perhaps most significant, though, is that civil society participation in PRSP processes in all countries is leading to a broadening and diversification of the actors who engage in poverty discourse and policy process. The traditional dominance of technocrats and their expert knowledge is being challenged and enhanced by a range of different kinds of poverty knowledge, including experiential knowledge (McGee et al. 2002: viii). Doch gelingt dies nicht, und wird Partizipation zu einem unerfüllten Versprechen auf ein besseres Leben, kann dies die Demokratieverdrossenheit begünstigen, die teilweise heute schon in Lateinamerika zu beobachten ist (Nolte 2002). Als Resümee bleibt also festzuhalten, dass die neue Armutsbekämpfung des 'Post Washington Consensus' teilweise die wirklich Armen erreicht, und dass für diese Bildung und ansatzweise auch lokale Partizipation gefördert werden. Die PRSPs wirken hierbei aber eher im karitativen Sinne und machen Armut bestenfalls erträglicher, anstatt sie strukturell zu bekämpfen. Denn die Programme liefern in ihrer bisherigen Form noch keinen nachhaltigen Beitrag zur Armutsreduktion; und ihre durchaus vorhandenen positiven Effekte können schlimmstenfalls sogar durch andere Auswirkungen neoliberaler Politik aufgehoben werden. Dementsprechend ist auch der 'Post Washington Consensus' noch keinesfalls Ausdruck eines mittlerweile so oft proklamierten Paradigmenwandels. Hierbei scheint es sich eher um einen 'Washington Consensus Plus' zu handeln, also um eine Strategie, das Primat des Marktes über Institutionen und Sozialpolitik besser und effizienter umzusetzen. Um es in der Logik der Weltbank zu sagen: Der 'Washington Consensus' existiert weiter, aber nicht mehr als primäres Entwicklungsziel, sondern eher als Geschäftsgrundlage. Die scheinbar neue Idee des beginnenden 21. Jahrhunderts, wirtschaftliche Entwicklung sozial abzufedern und den Staat dafür als effizienten Moderator einzusetzen, ist dabei weniger originell als sie anfangs vielleicht wirkte. Denn sie basiert als „inklusiver Liberalismus" (Craig/Porter 2003) weiterhin auf einem liberalen Wirtschaftskonzept. Sie wird damit zu einer alten Idee, nämlich der des Sozialliberalismus. Ob sich dieser einer ökonomisierung besser erwehren kann als vor 20 Jahren, ob also der Attributswechsel vom neo zum sozialen erfolgversprechend ist, scheint nach bisherigen Erfahrungen zweifelhaft.
3. Suchprozesse nach Alternativen zwischen Post- und NeoRezepturen Da sich Neoinstitutionalismus und 'Post Washington Consensus' mit ihrer Liberalisierungsdoktrin bei der Entwicklung einer integrativen Sozial- und Wirt-
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schaftspolitik offensichtlich selbst im Wege stehen, ist es höchste Zeit, Uber wirkliche Alternativen zum momentanen Paradigma nachzudenken. Die letzten Entwicklungsdekaden haben hierbei klar gemacht, dass Entwicklungs- und Wirtschaftspolitiken nicht wie bisher auf der internationalen Ebene als blue prints entworfen werden dürfen, die dann allen Ländern gleichermaßen als Generalstrategie verordnet werden. Lateinamerika ist hier .als Friedhof für gescheiterte Entwicklungsstrategien" (Boeckh 2002a: 515) ein mahnendes Beispiel. Vielmehr müssen neue Konzepte an die Bedingungen der einzelnen Länder angepasst werden; unterschiedliche Voraussetzungen erfordern auch verschiedene Entwicklungswege. So sollten makroökonomische Gleichgewichte und besonders die Geldwertstabilität auch in Zukunft wichtige Zielgrößen wirtschafts- und sozialpolitischer Konzeptionen sein. Inflationsbekämpfung ist auch Armutsbekämpfung - dies erklärt, neben anderem, warum gerade viele Arme immer wieder für neoliberale Stabilitätspolitik stimm(t)en (Boris 2001). Wenn Geldwertstabilität aber wie im Neoliberalismus zum alleinigen Glaubenssatz wird, kann sie eben auch zur Stabilitätsfalle werden, die mit hohen Zinsen das Wirtschaftswachstum abwürgt und zu sinkenden Investitionsquoten, Deindustrialisierung sowie letztendlich zu weiterer Verschuldung und Verarmung führt. Auch Handelsliberalisierungen können durchaus wachstumsfördernd sein. Aber Exporterfolge hängen weniger von Rohstoffvorräten als von Produktionsstrukturen und vom Marktzugang ab. Ein Heranreifen der dafür nötigen Potenziale wird durch die importierte Konkurrenz aus den Industrienationen und eine Vermachtung von deren Märkten nicht selten völlig verhindert. Statt neoliberaler Liberalisierung empfiehlt sich deshalb eine selektive Industrie- und Handelspolitik (Rodrik 1999). ökonomisches Wachstum ist zwar eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung für eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung. Es kann seine Wirkung nur dann umfassend entfalten, wenn es mit Binnenentwicklung, Umverteilung und Gleichheit verkoppelt wird. Besonders die Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum, Einkommensverteilung und Armutsreduzierung wurde empirisch nachgewiesen: In Ostasien, das ein vergleichsweise geringeres Maß an Einkommensdisparitäten besitzt, besteht ein Verhältnis von Wirtschaftswachstum zur Reduzierung der Armenquote von 1 zu 0,3%. Das heißt, bei einem Prozent Wachstum sinkt der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung um 0,3%. In dem von Einkommensdisparitäten zersplitterten Lateinamerika dagegen würde dieser Anteil nur um 0,08% sinken, also fast viermal langsamer (Oxfam 2000). Nötig ist also eine aktive Arbeits-, Struktur-, Beschäftigungs- und nicht zuletzt eine neue Verteilungspolitik. Damit solche Programme nicht wieder in eine zu starke Staatsbelastung und -Verschuldung münden, ist der Aufbau eines effizienten Steuersystems strategisch entscheidend; dessen Erfolg wiederum von der gesellschaftlichen Legitimität der staatlichen Institutionen und Leistungen abhängt. Boeckh (2002b) unterstreicht völlig zu Recht, dass Armutsabbau
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nicht nur von bestimmten Wirtschaftsmodellen oder -Politiken abhängt, sondern auch und gerade von der Bereitschaft lokaler Eliten, die alten Verteilungsmuster zu durchbrechen und mehr soziale Verantwortung zu übernehmen. Nötig sind deshalb lokale Debatten über Einkommens- und geographische Disparitäten, über Steuer- und Landreformen, sowie über Geschlechterungleichheit, politische Exklusion und Korruption. Denn letztendlich wird der Erfolg von Armutsbekämpfung in entscheidendem Umfang davon abhängen, inwieweit es gelingt, dass solche und andere Themen von unterprivilegierten Gruppen aufgegriffen und eingefordert werden können. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre es, die relevanten lokalen Akteure langfristig mit den dafür erforderlichen Kapazitäten auszustatten. Doch Partizipationsförderung sollte sich nicht wie bisher auf die Zivilgesellschaft konzentrieren. Denn in der Regel sind heute Regierungen demokratischer legitimiert als Nichtregierungs- oder zivilgesellschaftliche Organisationen. Es ist deshalb venwunderlich, dass statt der - übrigens von den internationalen Organisationen und ihren Kritikern oft geteilten - Empathie gegenüber der Zivilgesellschaft nicht eine stärker institutionalisierte Form politischer Partizipation - wie z.B. durch Wahlen oder den Ausbau von Staatskapazitäten - in den Mittelpunkt von Förderung gestellt wird. Zwar sind die nationalen Regierungen und ihre Parlamente in Lateinamerika oft traditionell kompetenzschwach und werden ebenfalls durch Klientelismus beeinträchtigt (Nolte/Krumwiede 2000). Doch Ersteres ist die Zivilgesellschaft auch; und für das Zweite ist sie bei der fehlenden demokratischen Legitimierung langfristig noch viel anfälliger. Die Stärkung von Kompetenzen der Staatsadministration, der Aufbau demokratischer staatlicher Institutionen, oder konkreter, eine verstärkte Ausrichtung auf das capacity building von Gemeinde-, Provinz- und Länderparlamenten sollte deshalb stärker in den Fokus von Reformen rücken. Hier sind Konzepte des Good Governance durchaus anschlussfähig - allerdings müssen sie ihren instrumenteilen Charakter aufgeben und Sensibilität für Akteure und soziale Beziehungen entwickeln. Ohne Regierungen und lokale Eliten aus ihrer Verantwortung zu entlassen, benötigt die konzeptionelle Entwicklung neuer Reformen auch internationale Antworten. Statt wie bisher Finanzkrisen mit Naturkatastrophen gleichzusetzen, könnten Weltbank und IWF z.B. ebenso gut Vorschläge zur globalen Regulierung der Finanzmärkte entwickeln. Um die OECD-Länder stärker in die Armutsbekämpfung einzubinden, könnten die Finanzorganisationen sich z.B. der 20/20-lnitiative des Kopenhagener Weltsozialgipfels anschließen. Danach sollten sich Geber- und Empfängerländer verpflichten, 20% der Entwicklungshilfe, respektive 20% des nationalen Staatshaushaltes, allein für soziale Grunddienste auszugeben. Zum Vergleich: Zur Jahrhundertwende wurden für soziale Grunddienste an OECD-Entwicklungshilfe rund 10% und von DritteWelt-Staaten höchstens 14% ausgegeben - einzige Ausnahme in Lateinamerika ist Kuba (Widderich 2002). Mit der Unterstützung dieser Initiative könnte
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die Weltbank ein deutliches Signal setzen, dass es ihr um eine globale, also auch den Norden einbindende Strategie der Armutsbekämpfung geht. Um die internationale Entwicklungspolitik stärker zu demokratisieren, könnte die Bewertung von PRSP-Landesstrategien auf einen breiteren Sockel gestellt werden, z.B. durch die Einbeziehung von ILO, UNICEF, UNTCAD, UNDP etc. Und mit Blick auf die Korrelation zwischen Entwicklung und Beschäftigung hat eine Auseinandersetzung mit den Standards der Internationalen Arbeitsorganisation ILO stattzufinden, und es muss diskutiert werden, ob und wie das Recht auf kollektive Lohnverhandlungen, andere Basisarbeitsrechte und die Frage internationaler „Sozialklauseln" in die PRSP-Prozesse aufgenommen werden. Dies sind nur einige erste Ansätze, die zur Weiterentwickelung einer nachhaltigen Sozial- und Wirtschaftspolitik für Lateinamerika einladen. Wirtschaftstheoretisch fundieren lassen sie sich einmal durch die in diesem Band von Hartmut Sangmeister vorgestellten neueren theoretischen Konzepte wie die endogene Wachstumstheorie, die die Bedeutung von Institutionen und Sozialkapital für Wachstumsprozesse hervorhebt, die neue geographische Ökonomie, die auf wichtige C/usfer-Effekte aufmerksam macht, oder die systemische Wettbewerbsfähigkeit, die versucht, Innovationsregime als Mehrebenensysteme zu beschreiben. Diese Denkansätze reichen zwar über den Neoliberalismus hinaus, basieren in ihren methodischen Annahmen aber weiter auf den neoklassischen Annahmen der Angebotspolitik. Doch in Zeiten des Wandels bietet es sich an, weiter zu blicken. Bleiben wir in der Wirtschaftstheorie und Entwicklungsökonomik, scheinen hier besonders Überlegungen fruchtbar, die den Keynesianismus weiterentwickeln wollen (Elsenhans 2000; Huffschmid 2002). Die neue Auseinandersetzung mit einer Politik nach dem Neoliberalismus, die im deutschsprachigen Raum noch am Anfang steht (Burchardt 2003), sollte sich deshalb die Kritik von Dani Rodrik am 'Post Washington Consensus' zu Eigen machen: „What the world needs right now is less consensus and more experimentation" (Rodrik 2002: 8).
Literaturverzeichnis BERGER, Mark (1999): „Bringing History Back In: The Making and Unmaking of the East Asían Miracle", in: Internationale Politik und Gesellschaft 3, S. 237-252. BID/CEPAL/PNUD (1995): Informe de la Comisión Latinoamericana y del Caribe sobre el desarrollo social, Santiago de Chile: CEPAL. BOECKH, Andreas (2002a): „Die Ursachen der Entwicklungsblockaden in Lateinamerika: Einige entwicklungstheoretische Mutmaßungen", in: Leviathan (30) 4, S. 509-529. — (2002b): .Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika", in: BENDEL, Petra/KRENNERICH, Michael (Hrsg.): Soziale Ungleichheit. Analysen zu Lateinamerika. Frankfurt/M.: Vervuert, S. 137-153. BORIS, Dieter (2001): Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas. Der Kontinent in der Weltwirtschaft des 20. Jahrhunderts, Hamburg: VSA.
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Dulden: Währungsregime in Lateinamerika
Sebastian Dullien
Währungsregime in Lateinamerika Die jüngsten Krisen als Bankrotterklärung der orthodoxen Politikempfehlungen Einleitung: 2002 als Krisenjahr Südamerikas Währungskrisen sind keine neue Erfahrung für Lateinamerika. Alleine die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts brachten den größeren Ländern Lateinamerikas ein rundes Dutzend von Währungskrisen.1 Die mexikanische Tequila-Krise von 1994/95, die auch auf Argentinien und Venezuela übergriff, wie die Brasilienkrise, die 1999 zur Abwertung des brasilianischen Real führten, sind nur die bekanntesten Beispiele. Nichtsdestotrotz war das Jahr 2002 auch für lateinamerikanische Verhältnisse ein verheerendes Jahr: Die Krise in Argentinien kumulierte in ein nahezu haltloses Abstürzen der Ökonomie, in dessen Verlauf die Industrieproduktion um rund 20% und das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in 2002 um fast 11 % einbrachen. Als Folge der Währungskrise in Argentinien geriet auch die Wirtschaft Uruguays in eine Abwärtsspirale und musste 2002 im vierten aufeinanderfolgenden Jahr eine Schrumpfung hinnehmen. Die Schockwellen der Argentinien-Krise lassen sich sogar an den volkswirtschaftlichen Daten der ganzen Region ablesen. Der Internationaler Währungsfonds IWF schätzt, dass das BIP Lateinamerikas 2002 leicht geschrumpft ist (Internationaler Währungsfonds 2003). Brasilien konnte sich zwar einer echten Rezession entziehen, doch infolge höherer Zinsen sind die Staatsausgaben für den Schuldendienst gestiegen. Da zudem die brasilianischen Staatsschuldtitel zu einem großen Teil entweder an den ülbernachtzins der Zentralbank oder an den Wechselkurs gekoppelt sind, erhöhte die Krise den Schuldenstand des Landes im Verhältnis zum BIP. '
Vgl. Eichengreen/Bordo (2002), die Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien. Ekuador, Mexiko, Peru und Venezuela betrachten.
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Lateinamerika Jahrbuch 2003
Fiskalisch hat das Land damit nun einem verringerten Spielraum für öffentliche Investitionen, Bildung und Armutsbekämpfung. Gleichzeitig ist mit der Schuldenlast die Anfälligkeit für künftige Krisen - etwa bei steigender Risikoaversion der Investoren gegenüber Emerging-Market-An\e\her\ - erhöht, da ein Anstieg des Risiko-Spread den Schuldendienst im Verhältnis zum BIP umso stärker erhöht, je größer die Schuldenquote in der Ausgangssituation ist. Doch nicht nur die Schärfe der jüngsten Finanz- und Währungskrisen verdient Aufmerksamkeit, sondern auch deren Implikationen für die künftige Debatte über Politikoptionen, vor allem über die Entwicklungsstrategie von Schwellen- und Entwicklungsländern, und dabei wieder insbesondere die Frage nach der Wahl des Währungsregimes. Denn eines unterscheidet die jüngsten Krisen der Jahre 2001 und 2002 von den Währungskrisen der vorangegangenen Jahrzehnte: Sie traten in Ländern auf, die aufgrund ihres Währungsregimes (beides waren sogenannte Randlösungen: .ganz flexibel" im Fall Brasiliens und .ganz fest" im Fall Argentiniens) nach der gängigen Lehrmeinung eigentlich gegen Währungskrisen hätten immun sein sollen. Diese Erfahrung dürfte auch die Debatte um Währungsregime in Lateinamerika nachhaltig ändern. Vor allem dürfte wohl die Option einer Dollarisierung in künftigen Diskussionen eine weniger prominente Rolle spielen.
Die alte Debatte und das Paradigma der Randlösungen Zu den Lehrbuchweisheiten der Volkswirtschaftslehre gehört die impossible trinity, die Erkenntnis, dass nicht gleichzeitig die drei Ziele freier Kapitalverkehr, ein fester Wechselkurs und eine eigenständige Geldpolitik zu erreichen sind. Die Erklärung hierfür ist intuitiv einfach: Ist der Wechselkurs (glaubwürdig) an eine Ankerwährung fixiert und der Kapitalverkehr liberalisiert, wäre der inländische Zins automatisch durch den Zins der Ankerwährung gegeben. Versuchte die Zentralbank, einen höheren Zins auf dem inländischen Geldmarkt zu etablieren, würde sofort Auslandskapital in das Land strömen, und zwar solange, bis das inländische Zinsniveau auf das Niveau der Ankerwährung herunter konkurriert ist. Ist dagegen der Wechselkurs flexibel, würde der Zustrom von Kapital durch eine Aufwertung der Währung aufgefangen. Gäbe es Kapitalverkehrskontrollen, so könnte kein Kapital zufließen, und die Zentralbank wäre in der Lage, ihren eigenen Zins im Inland durchzusetzen. Weltbank und IWF haben lange Zeit argumentiert, die ärmeren Länder seien unterentwickelt, weil sie nicht genug Kapital hätten. Durch Privatisierung, Liberalisierung und makroökonomische Stabilität sollte ein Umfeld geschaffen werden, das zusätzliche Investitionen und die Schaffung eines größeren Kapitalstocks anregt. Sollte die inländische Ersparnis zur Finanzierung der nötigen Investitionen nicht ausreichen, müsse auf ausländische Ersparnis zurückgegriffen werden. Die weniger entwickelten Länder sollten deshalb das zur Entwicklung nötige Kapital aus den reicheren Ländern bzw. von dem internationalen Kapitalmarkt importieren. Mit ausländischen Direktinvestitionen sollte zu-
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Dullien: Währungsregime in Lateinamerika
dem das Know-how für bestimmte Sektoren in das Land geholt werden. Um dieser als dem „Washington Consensus" bekannten Entwicklungsstrategie zu folgen, ist allerdings freier Kapitalverkehr wenn nicht unbedingt unerlässlich, so doch naheliegend. 2 Zudem wurde argumentiert, Kapitalverkehrskontrollen seien bestenfalls in einer Übergangsphase effektiv. Mit der Zeit würden die Anleger und Bürger der betroffenen Länder Möglichkeiten finden, die Kontrollen zu umgehen. Auf Grund solcher Überlegungen blieben eigentlich nur zwei Politikoptionen im Dreieck der impossible trinity möglich: Ein fester Wechselkurs bei Abwesenheit jeglicher geldpolitischer Freiheit, oder ein flexibler Wechselkurs bei autonomer Geldpolitik, jeweils unter iiberalisiertem Kapitalverkehr. Erfahrungen aus früheren Krisen, aber auch die Entwicklung von Modellen spekulativer Währungsattacken deuteten allerdings darauf hin, dass ein fester Wechselkurs anfällig für spekulative Attacken sein kann. Modelle spekulativer Attacken der ersten Generation, wie etwa Krugman (1979), wiesen darauf hin, dass ein fester Wechselkurs bei einer inländischen Geldpolitik, die langfristig nicht mit den Begebenheiten im Ankenwährungsland konsistent ist (also eine Politikkombination, die der impossible trinity widerspricht), eine spekulative Attacke anzieht, noch bevor die Währungsreserven der Zentralbank durch Stützungskäufe der heimischen Währung beim .normalen" Gang der Dinge erschöpft wären. Die Modelle spekulativer Attacken der zweiten Generation, wie etwa von Obstfeld (1996), wiesen darauf hin, dass selbst in Fällen, in denen die inländische Wirtschaftspolitik nicht grundsätzlich eine Abwertung notwendig machte, erfolgreiche spekulative Attacken möglich sein könnten, und zwar dann, wenn die Kosten der Aufrechterhaltung der Wechselkursanbindung für die betroffene Regierung groß genug würden. Krisen wie die Asienkrise 1997, die Russlandkrise 1998 oder die Krise des Europäischen Währungssystems (EWS) 1992 waren Situationen, die mit den Modellen spekulativer Währungsattacken beschrieben werden können. Während in der Asienkrise die inländische Inflationsentwicklung eindeutig mit dem Wechselkursziel nicht kompatibel war (und deshalb eine Abwertung unumgänglich war), standen im EWS die Wechselkurse nicht grundsätzlich in Widerspruch zu den volkswirtschaftlichen Fundamentaldaten. Abhilfe gegen die Krisenanfälligkeit sollte nach den Ideen vieler Ökonomen eine „unwiderrufliche Fixierung" bringen, die den betroffenen Ländern das In2
3
Williamson (2002a) beharrt darauf, dass der .Washington Consensus' nie explizit die Kapitalbilanzliberalisierung verlangt habe. Allerdings enthält seine Liste der zentralen Elemente des .Washington Consensus' die Liberalisierung der Finanzmarkte und die Öffnung für ausländische Direktinvestitionen. Um diese Elemente ohne Kapitalbilanzliberalisierung umzusetzen, sind komplizierte Regulierungen notwendig. Wie Williamson selber einräumt, enthielten die Ratschläge des .Washington Consensus* auch keinerlei Warnung über die Risiken einer zu schnellen Liberalisierung der Kapitalbilanz. Ein Beispiel ist etwa das britische Pfund: Es wäre für die britische Regierung im Zweifel möglich gewesen, den Wechselkurs durch massive Zinserhöhungen zu halten. Allein, dass das Pfund später wieder deutlich über seine Vorkrisen-Parität aufwertete, ist ein Indiz gegen eine fundamentale Überbewertung 1992. Allerdings hätte eine länger andauernde Hochzins-Politik derart hohe Kosten für die Binnenwirtschaft bedeutet, dass sich die britische Regierung stattdessen entschloss, aus dem EWS auszusteigen.
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strument einer Abwertung aus der Hand nimmt und so selbsterfüllende Krisen ausschließt, da diese ja gerade darauf angewiesen sind, dass die Politik endogen auf das Verhalten der Marktteilnehmer reagiert. Als Möglichkeiten einer solchen dauerhaften Festschreibung des Wechselkurses wurden dabei gemeinhin drei Regime diskutiert: Eine Währungsunion, eine einseitige Übernahme einer ausländischen Währung (Dollarisierung) oder ein Currency Board. Bei einem Currency Board wird inländische Währung von der Zentralbank nur im Tausch gegen ausländische Devisen der Ankerwährung ausgegeben. Die gesamte umlaufende Geldbasis ist dabei durch Devisen gedeckt. Der Vorteil eines Currency Board war in den Augen der Befürworter nicht nur der Import von Glaubwürdigkeit für die Geldpolitik oder Planungssicherheit für Exporteure und Investoren, sondern auch, dass in einem Currency Board nach traditionellem Verständnis eigentlich keine Währungsattacken möglich sein sollten, da - anders als in herkömmlichen Festkurssystemen - die gesamte Geldbasis durch Devisen gedeckt ist. Die Währungsreserven können in solch einem Arrangement logischerweise eigentlich erst in dem Moment erschöpft sein, in dem kein inländisches Geld mehr existiert, das noch in Devisen getauscht werden kann. Gegenüber einer Politik der offiziellen Dollarisierung4, einer anderen Möglichkeit, die häufig zur .unwiderruflich" festen Anbindung des Wechselkurses empfohlen wurde (Dombusch 2001), galt die Einführung eines Currency Board insofern als vorteilhafter, als die Regierung nicht vollkommen auf Einnahmen aus der Geldschöpfung (Se/'gnorage-Gewinn) verzichten muss. Zwar ist es in einem System des Currency Board nicht mehr möglich, staatliche Budgetdefizite mit der Notenpresse zu finanzieren; da aber die Devisenreserven üblicherweise in Form liquider Staatspapiere des Ankerwährungslandes gehalten werden, entstehen dadurch Zinseinnahmen, die der Staatshaushalt als Einnahmen verbuchen kann. Angesichts der Schlussfolgerungen aus der impossible trinity, dem .Washington Consensus" und den Erkenntnissen über selbsterfüllende Währungsattacken lautete die gängige Politikempfehlung des IWF während der 90er Jahre (auch bekannt als corner Solution paradigma oder bi-polar view): Langfristig stabil können nur ganz flexible oder ganz feste Wechselkurse sein. Welche der beiden Randlösungen ein Land wählen soll, hängt von den Charakteristika wie Offenheitsgrad und Asymmetrie der auftretenden Schocks sowie der inflationären Erfahrung des betroffenen Landes ab. Länder, die enge Handelsverknüpfungen mit einem einzelnen anderen (Hartwährungs-)Land haben und zu einem hohen Maße in den Weltmarkt integriert sind, sollten danach einen unwiderruflich fixen Wechselkurs wählen, um ihren Exporteuren und Investoren Planungssicheriieit zu geben, ebenso wie Länder, in denen aus ihrer bisherigen Erfahrung mit Hyperinflationen die Glaubwürdigkeit der geldpoliti*
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.Offizielle Dollarisierung' unterscheidet sich von der in Lateinamerika häufig auftretenden De-factoDollarisierung dadurch, dass die Regierung den Dollar zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklärt und die nationale Währung abschafft. Zu den Ursachen der Oe-facfo-Dollarisierung siehe Roy (2000).
Dullien: Währungsregime in Lateinamerika
sehen Institutionen derart gering ist, dass ein solcher Wechselkurs zur Stabilisierung der Inflationserwartungen notwendig ist. Für die anderen Länder erscheint ein flexibler Wechselkurs die bessere Wahl, weil er die Möglichkeit zur geldpolitischen Stabilisierung von Konjunkturschwankungen bietet (Fischer 2001). Wie Tabelle 1 zeigt, waren es vor allem die wichtigen lateinamerikanischen Ökonomien, die in den 90er Jahren durch Dollarisierung oder einen flexiblen Wechselkurs (sowohl mit als auch ohne häufige Zentralbankinterventionen) dieser Empfehlung folgten. Auch Argentinien und Brasilien, die beiden Krisenländer der Jahre 2001/2002, folgten der Empfehlung. Argentinien führte 1991 ein Currency Board ein, Brasilien sah sich nach der Währungskrise 1998/99 gezwungen, den Wechselkurs des Real freizugeben der bis dahin über ein kontinuierlich abwertendes Wechselkursband an den US-Dollar gekoppelt war.
Die Krisen 2002 oder das Ende der Randlösungen Beide Randlösungen, die einer kompletten Fixierung des Wechselkurses im Fall Argentiniens, wie auch die eines vollständig flexiblen Wechselkurses im Fall Brasiliens, führten 2001/2002 trotz des Versprechens der Krisensicherheit die beiden größten Ökonomien Südamerikas in schwere Finanzkrisen. Der Fall Argentinien Die Wurzeln für Argentiniens Krise waren bereits in den ersten Jahren des Currency Board gelegt: Da die Inflation in Argentinien zunächst noch deutlich über der Inflation in dem Ankerwährungsland USA lag, wertete der Peso bei festem nominalen Wechselkurs real auf. In den ersten Jahren wurde die reale Aufwertung noch dadurch kompensiert, dass der US-Dollar gegenüber den europäischen Währungen kräftig abwertete und so der argentinische reale handelsgewichtete Wechselkurs weitgehend konstant blieb.5 Als jedoch Mitte der 90er Jahre der Dollar seine Talfahrt beendete, wertete der Peso real auf (vgl. Abbildung 1). Die argentinische Industrie verlor rapide an Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig häufte der argentinische Staat einen enormen Schuldenberg auf, den die internationalen Anleger wegen der vermeintlich sicheren Wechselkursanbindung und dem Vertrauen in die Wirtschaftspolitik des Landes bereitwillig finanzierten. Durch den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit setzte ein beispielloser Prozess der Deindustrialisierung ein. Der Anteil der argentinischen Industrie am BIP sank während der 90er Jahre von 36% auf 27,6% (Fritz 2002).
5
In die Berechnung eines realen handelsgewichteten Wechselkurses gehen die Preissteigerung sowohl im Inland wie auch die Entwicklung der Wechselkurse und Preise der Handelspartner ein, jeweils gewichtet mit ihrem relativen Gewicht im Außenhandel des betrachteten Landes.
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Lateinamerika Jahrfauch 2003
Tabelle 1: Währungsregime und ihre Entwicklung in Lateinamerika Land
2002
1997
1992
East Caribbean Festkurs zum Dollar Central Bank States*
Festkurs zum Dollar
Festkurs zum Dollar
Argentinien
Managed Float
Currency Board
Currency Board
Bolivien
De facto Crawling Peg zum Dollar
De facto Crawling Peg zum Dollar
De facto Crawling Peg zum Dollar
Brasilien
Managed Float
Pie-Announced Crawling Band zum Dollar
Free Float
Chile
Managed Float
De facto Crawling zum Dollar
Band
De facto Crawling Band zum Dollar
Kolumbien
Managed Float
De facto Crawling zum Dollar
Band
De facto Crawling Band zum Dollar
Costa Rica
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Dom. Republik
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Managed Float
Ekuador
Dollarisierung
De facto Crawling Band zum Dollar
Managed Float
Guatemala
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Honduras
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Jamaica
De facto Crawling Peg zum Dollar
De facto Crawling Peg zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Mexiko
Managed Float
Managed Float
De facto Festkurs zum Dollar
Nikaragua
Crawling peg zum Dollar
Crawling peg zum Dollar
Festkurs zum Dollar
Panama
Dollarisierung
Dollarisierung
Dollarisierung
Paraguay
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Peg zum Dollar
De facto Crawling Peg zum Dollar
Peru
De facto Festkurs zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Free Float
Suriname
Festkurs zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Managed Float
El Salvador
Dollarisierung
De facto Festkurs zum Dollar
De facto Festkurs zum Dollar
Uruguay
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
De facto Crawling Band zum Dollar
Crawling Band bezeichnet einen Wechselkurs, der sich innerhalb eines kontinuierlich auf- oder abwertenden Bandes bewegt, Crawling Peg ist ein Festkurs, der kontinuierlich auf- oder abwertet, Free Float bezeichnet einen flexiblen Wechselkurs ohne Zentralbankeingriffe, Managed Float einen flexiblen Wechselkurs, bei dem die Notenbank häufig im Devisenmarkt interveniert. * Anguilla, Antigua und Barbuda, Dominica. Grenada, Montserrat, St. Kitts and Nevis. Saint Lucia, S t Vincent und die Grenadinen. Quelle: Reinhart/Rogoff (2002)
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Dullien: Währungsregime in Lateinamerika
Abbildung 1: Die Entwicklung des realen Wechselkurses Argentiniens 1991-2002 140 130 120 110 100 90 80
r*
70 60
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