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German Pages 260 [264] Year 1995
Jutta Müller-Tamm Kunst als Gipfel der Wissenschaft
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
l (235)
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1995
Kunst als Gipfel der Wissenschaft Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus
von
Jutta Müller-Tamm
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1995
D 30
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
MüUer-Tamm, Jutta: Kunst als Gipfel der Wissenschaft : ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus / von Jutta Müller-Tamm. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1995 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; l - (235)) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014618-5 NE: GT
ISSN 0946-9419 © Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhalt Einleitung I.
»n. "Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" Carl Gustav Carus und sein Programm 1. Naturphilosophie und Naturwissenschaft zwischen 1790und 1830 2. Poesie und Wissenschaft in der geschichtsphilosophischen Deutung 3. Die morphologisch-genetische Methode 4. Naturgenuß und Naturerkenntnis 5. Die Subjektivität des Forschers
II. Die "Kunde vom Menschen" 1. Psychologie in der anthropologischen Tradition 2. Methodenfragen und Epochengrenzen 3. Spekulative Physiologie: Von der Lebenskraft zum Unbewußten 4. Gangliensystem und Gemeingefühl: Zur Topographie seelischer Provinzen 5. Psychiatrische Ansichten 6. Physiognomik als ästhetische Anthropologie III. "Wissenschaft in poetischer Verklärung" 1. Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts 2. Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst 3. "Zwölf Briefe über das Erdleben" als Versuch einer wissenschaftlichen Naturdichtung 4. Poesie und Prosa, Fiktion und Realität: "Erdlebenkunst" im Gattungskontext 5. Dichter, Dilettanten, Literaten: Zum Sozialbild des Künstlers
l 9 9 20 29 38 44 51 51 61 68 83 97 115 138 138 154 169 179 183
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Inhalt
IV. "Die Welt als Natur": Normative Erweiterungen der poetischen Wissenschaft 1. Natur und Geschichte 2. Lebenskunst und Seelengesundheit 3. Physiologie und Politik
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V. Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens bei Carl Gustav Carus
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Siglenverzeichnis
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Literaturverzeichnis Primärliteratur von Carl Gustav Carus Sekundärliteratur und zitierte Werke
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Register
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Einleitung Die fortschreitende Differenzierung und Auffächerung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche gilt gemeinhin als Spezifikum der Moderne. Dieser Prozeß zeigt sich besonders im Verhältnis von Naturwissenschaft und Kunst: Seit der Aufklärung geraten beide Bereiche hinsichtlich ihrer Beziehung zur Natur, ihres Selbstverständnisses und ihrer gesellschaftlichen Funktion in entschiedenen Gegensatz. Während die Wissenschaft durch instrumentenvermittelte Beobachtung, experimentelle Verfahrensweisen und theoretische Konstruktion nach objektiver Naturerkenntnis strebt, wird die Kunst als eigengesetzlich begriffen und aus ihrer religiösen, gesellschaftlichen und beschreibend-didaktischen Funktionsbindung entlassen. Mit der Spaltung von exaktem Wissen und lebensweltlicher Erfahrung, von Rationalität und freiem Schöpfertum, von objektiver Naturerkenntnis und ganzheitlichem Naturerleben treten Wissenschaft und Kunst als autonome Sphären auseinander. Trotz der epochalen Bedeutung dieses Emanzipationsschubs stehen jedoch Naturwissenschaft und Kunst bis ins 20. Jahrhundert in einer spannungsvollen, überaus variablen Wechselbeziehung. Immer wieder wird die augenfällige historische Divergenzbewegung durch Annäherungs- und Synthesebestrebungen, durch unmittelbare Konkurrenz und faktische Parallelität im Verhältnis beider Diskurse unterlaufen. Die zunehmende Geltung der Naturwissenschaften und die Veränderung der Lebenswelt durch die technisch-industrielle Verwertung ihrer Erkenntnisse zwingen die Literatur, auf den Gang der Naturwissenschaften zu reagieren. Formen der direkten, aktiven Bezugnahme - wie das Aufgreifen wissenschaftlicher Themen, die bewußte Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse oder ihre Verwertung in der dichterischen Metaphorik - stehen neben subtileren Weisen der Integration wissenschaftlicher Entwicklungen auf der Ebene literarischer Formen und Strukturen. Eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen beiden Diskursen läßt sich an Phänomenen der Aufbewahrung und Weitergabe von Theorien beobachten: Ideen, von einer wissenschaftlichen Disziplin verabschiedet, werden in der Literatur tradiert, von wo aus sie gegebenenfalls in den wissenschaftlichen Diskurs zurückkehren. Wechselwirkung zeigt sich ebenfalls in Phasen der Verwissenschaft-
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Einleitung
lichung von ursprünglich literarischen Gegenstandsbereichen: So etablierten sich Anthropologie, Psychiatrie und Soziologie auch durch die Auseinandersetzung mit der dichterischen Erschließung menschlicher Lebens- und Verhaltensformen, die ihrerseits von der wissenschaftlichen Behandlung dieser Themen nicht unbeeinflußt blieb. Grundsätzlich treffen im historischen Wandel der Konstellationen spezifische Modelle von Wissenschaft - oder auch von einzelnen Disziplinen - auf unterschiedliche normative Konzepte von Kunst. Reichen die literaturtheoretischen Reaktionsweisen auf die Wissenschaft von emphatischer Autonomsetzung über eine bewußte oder unbewußte Anpassung bis zur programmatischen Unterordnung der Literatur unter das geltende Modell der Naturwissenschaften, so lassen sich umgekehrt wissenschaftliche Diskurse nach ihren Abgrenzungen, Eingriffen und Übergängen von und in Literatur unterscheiden. Richtet man sein Augenmerk auf die sprachliche Verfaßtheit der Wissenschaft, etwa auf die Bedeutung von Metaphern für spezifische Theoriebildungen oder auf den Zusammenhang von lebensweltlichem Orientierungsanspruch und populärer Vermittlung in der Wissenschaft, dann zeigt sich mit der Einbettung des wissenschaftlichen Diskurses in den kulturellen Kontext auch der direkte oder indirekte Zusammenhang zur Literatur. Die angedeutete Vielfalt unterschwelliger, bewußter oder programmatischer Begegnungsweisen beider Diskurse straft jenes oben skizzierte Polaritätsmodell in seiner Ausschließlichkeit Lügen. Vielmehr wechseln in der Geschichte dieses Bezugsverhältnisses, das sich für einzelne Disziplinen und Kunstformen durchaus unterschiedlich darstellen kann, Phasen größerer Nähe mit Perioden der Distanznahme; beides jedenfalls Auseinanderdriften wie Zusammengehen der Diskurse - sind interpretierbare Phänomene, deren Funktion im kulturellen Haushalt einer Epoche zu bestimmen ist. Hat man den historischen Wandel literarisch-szientifischer Konstellationen seit der Aufklärung im Blick, so hebt sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Phase intensivierter Wechselbeziehung hervor: Mit der Ausrichtung auf Physiognomik und genetische Morphologie gewinnt die Wissenschaft ästhetische und subjektive Züge; die Literatur ihrerseits stellt sich zunehmend den Forderungen der Empirie. In seiner programmatischen Ausformulierung verbindet sich dieser Konvergenzprozeß vor allem mit den Namen Goethe, Alexander von Humboldt und Carl Gustav Carus. In einem nicht allzu strengen Sinn ließe sich die infragestehende Periode durch zwei Werke von seinerzeit außerordentlichem Erfolg begrenzen: Humboldts Ansichten der Natur von 1807 - ein erster Versuch, die "Verbindung eines literarischen und eines rein szientifischen Zweckes"1 zu realisieren - und sein Kosmos aus den
Einleitung
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Jahren 1845-49. Letzterer markiert zugleich Höhe- und Endpunkt einer wissenschaftsgeschichtlichen Epoche, die das szientifische Erkenntnisinteresse mit einer ganzheitlichen Naturauffassung zu versöhnen trachtete - ein Anspruch, der letztlich nur ästhetisch, nur literarisch einzulösen war. Geprägt von der romantischen Naturphilosophie mit ihrem Projekt einer spekulativen Synthese aller Wissenschaften und Künste und dennoch deutlich von ihr geschieden, entspringt dieser Versuch, Kunst und Naturforschung in emphatischem Sinn zu verschränken, zunächst einem bestimmten wissenschaftlichen Selbstverständnis; erst in zweiter Linie kann er - auch wenn diesem Aspekt besonders bei Cams große Bedeutung zukommt - als ästhetisches Programm gelten. Carl Gustav Carus (1789-1869) gehört zu den universal gebildeten und vielseitig tätigen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Seine Bibliographie umfaßt annähernd 70 selbständige Titel: naturwissenschaftliche und medizinische Lehrbücher in den Fächern Gynäkologie, Anatomie und Physiologie, psychologische und naturphilosophische Werke, ästhetische Schriften u.a. über Landschaftsmalerei und Goethes Dichtung, autobiographische Werke wie die umfangreichen Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten sowie Reisebeschreibungen von Italien, Frankreich und England. Als künstlerischer Dilettant ersten Ranges schuf Carus zahlreiche Landschaftsgemälde, die in ihren besten Leistungen denen eines Caspar David Friedrich nahekommen. Der wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Tätigkeit stand eine nicht minder ausgedehnte berufliche Praxis zur Seite, zunächst als Universitätslehrer für Anatomie, Armenarzt und Leiter eines französischen Lazaretts in Leipzig, dann - mit der Übersiedlung nach Dresden als Direktor des Entbindungsinstituts der Akademie für Chirurgie und Medizin, schließlich, für die letzten 42 Jahre seines Lebens, als Leibarzt des sächsischen Königs. - "Fürwahr!", so schreibt Goethe an Carus, "Sie vereinigen soviel Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren innigst lebendige Verbindung teilnehmendes Bewundern erregt."2 Die "lebendige Verbindung" seiner scheinbar disparaten Fähigkeiten und Interessen hat Carus in den Status eines umfassenden, geschichtsphilosophisch begründeten und weltanschaulich ausgelegten Programms erhoben. Für Carus gewährt die wissenschaftliche Arbeitsweise noch ein harmonisches Verhältnis des ganzen Menschen zur Natur, und die Kunst ist das Medium, sich dessen zu vergewissern: Sie erscheint daher als
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Humboldt 1969, 7. Brief vom 18. Februar 1822, abgedruckt in G II, 31.
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Einleitung
"Gipfel der Wissenschaft"3. In grundlegender Weise entwirft Carus die Zielvorstellung einer Konvergenz beider Diskurse: Muß die Wissenschaft, um nicht bloße Faktensammlung zu bleiben, ästhetische und subjektive Momente in sich aufnehmen, so kann umgekehrt die Kunst nur durch ihre wissenschaftliche Fundierung den Ansprüchen der Gegenwart standhalten. Dem hochgestimmten Naturdenken von Carus und seinem Projekt einer literarisch-wissenschaftlichen Synthese gilt das Interesse der vorliegenden Arbeit: Historisch gesehen tritt hier mit besonderer Konsequenz die spätromantisch-biedermeierliche Annäherung von Wissenschaft und Dichtung zutage. Die Literaturwissenschaft hat solche - durchaus nicht randständigen Grenzfragen lange Zeit vernachlässigt. Abgesehen von den Debatten der sechziger Jahre, die sich an C.P. Snows These von den "zwei Kulturen" entzündeten, wurde das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur zumeist nur punktuell beleuchtet: Albrecht von Haller, Goethe, Georg Büchner und Gottfried Benn sind einige der prominentesten Fälle, bei denen die Personalunion von Arzt bzw. Naturforscher und Dichter eine entsprechend erweiterte literaturwissenschaftliche Perspektive nahegelegt hat. Gegen die nur biographisch motivierte Erfassung des Zusammenhangs von Naturwissenschaft und Dichtung läßt sich mit Karl Richter einwenden, daß in solchen Einzelfällen "epochale Konstellationen"4 zutage treten, die sich keineswegs auf den naturforschenden Dichter beschränken lassen. Als Ausgangspunkt einer weitgehend noch zu leistenden historisch-systematischen Erfassung der Beziehung von Naturwissenschaft und Dichtung hat Richter die grundlegende These formuliert, "daß eine Verbindung zwischen den revolutionierenden Vorgängen in den Naturwissenschaften und den Umbrüchen in der Geschichte der Literatur besteht"5. Die Forderung nach einer umfassenden Untersuchung des literarischwissenschaftlichen Verhältnisses hat auch heute - 20 Jahre später - an Aktualität nichts verloren, wenngleich das Interesse an dieser interdisziplinären Fragestellung vor allem durch die Rezeption des französischen Poststrukturalismus deutlich gestiegen ist. Die Auflösung der gängigen Annahme eines kontinuierlichen, rationalen Wissenschaftsfortschritts durch neuere wissenschaftstheoretische und diskursanalytische Ansätze mit Namen wie Thomas Kühn, Paul Feyerabend oder Michel Foucault verbunden - hat ein neues Licht auch auf das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur geworfen: In dem Maße, in dem die erkenntnis3 4 5
BLM, 106. Richter 1972, 18. Richter 1972, 18. Vgl. auch Sengle 1971-80/11, 279 und Nettesheim 1975, 9-23.
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theoretische Autorität der Wissenschaft, ihr Objektivitätsanspruch und ihr Status als führende Denkform untergraben werden, greifen auch die klassischen Entgegensetzungen - Wissenschaft gegen Literatur, Objektivität gegen Subjektivität, Wirklichkeit gegen Fiktion, Erkenntnis gegen Gefühl, Rationalität gegen Phantasie - nicht mehr. Literatur und Wissenschaft erscheinen nunmehr als historisch gewordene, prinzipiell gleichrangige und nach bestimmten Regeln funktionierende Diskursformen, deren Grenze sich nicht ein für allemal - etwa unter Zuordnung spezifischer Vermögen - festlegen läßt. In mehrfacher Hinsicht schließt die vorliegende Arbeit an diese neueren Ansätze an. Es gilt dies zunächst in dem grundlegenden Sinn, daß nicht die positivistische Fortschrittsperspektive der vermeintlich "richtigen" Wissenschaft eingenommen wird, an der die ästhetisch geprägte Wissenschaft eines Carus zu messen wäre: Die traditionelle szientistische Ausgrenzung der naturphilosophisch inspirierten Wissenschaft wird den tatsächlichen wissenschaftshistorischen Bezügen dieser Richtung nicht gerecht. Derselbe Vorbehalt läßt sich gegenüber der gängigen Zuordnung dieser Wissenschaftsform zu Epochen oder Schulen der Literatur- und Ideengeschichte - gegenüber ihrer geisteswissenschaftlichen Vereinnahmung also - geltend machen. Im Unterschied zu diesen Darstellungsweisen richtet die vorliegende Arbeit ihr Interesse darauf, Carus1 Denken gerade in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Dimension zu rekonstruieren. Die eingehendere Analyse einzelner Theoriebildungen, wie sie etwa für Carus1 anthropologisches Denken durchgeführt wird, konzentriert sich dabei auf die Frage nach Entstehungsbedingungen und Voraussetzungen, nach Motivation und disziplinärer Verankerung der jeweiligen Theoreme - auch hierin ist die Arbeit den Ansätzen der neueren, epistemologisch ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte verpflichtet. Über Carus hinausgehend zielt die Untersuchung darauf, die "romantisch-biedermeierliche" Variante der Wissenschaft als eigenständige historische Formation herauszuarbeiten. Es wird sich das Bild einer keineswegs einheitlichen, umso mehr aber um Einheit bemühten und von Ganzheitshoffnungen getragenen Wissenschaft abzeichnen, die ihre Identität aus sich überlagernden Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen bezieht. Die Spannung zwischen empirisch-analytischen und spekulativen Momenten, zwischen idealistischen und latent materialistischen Tendenzen, zwischen der Auszeichnung des Menschen als freiem Subjekt und seiner Auffassung als Gegenstand medizinisch-biologischer Forschung, zwischen überschwenglicher Beschwörung der 'ganzen1 Natur und ihrer Objektivierung nach Maßgabe moderner Erkenntnismethoden diese Spannung charakterisiert Carus1 Wissenschaftsentwurf und den zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs gleichermaßen.
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Einleitung
Vor dem angedeuteten Hintergrund zeittypischer Ambivalenzen ist auch Carus1 programmatische Ästhetisierung der Wissenschaft zu beurteilen: Sie dient der Integration historisch ungleichzeitiger und widersprüchlicher Wissensbestände sowie der Bestätigung und Vermittlung außerwissenschaftlicher Normen und Werte. Die "poetische" Umgestaltung der Wissenschaft umfaßt dabei unterschiedlichste Phänomene: die Überlagerung der anschaulichen, auch der technisch fundierten Empirie mit ästhetisch-bildhaften und literarischen Mustern, den methodischen Rekurs auf eine am Sichtbaren orientierte Phantasie, die Forderung nach literarischer Durcharbeitung wissenschaftlicher Werke - um nur einige Gesichtspunkte hier zu erwähnen. Diesen programmatischen und methodisch-deskriptiven, aber auch den geschichtsphilosophischen, ethischen und psychologischen Aspekten der Carus'schen Wissenschaftstheorie widmet sich das erste Kapitel der folgenden Studie. Um die widersprüchliche Verfassung der Wissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts nachvollziehbar als Grund ihrer poetischen Umformung hervortreten zu lassen, galt es über Carus1 methodisch-theoretische Reflexionen hinaus auch seine praktisch-wissenschaftliche Arbeit eingehender in Augenschein zu nehmen. Am Beispiel der Anthropologie wird im zweiten Kapitel gezeigt, daß Idee und Praxis einer ästhetisch geprägten, ganzheitlichen Wissenschaft nicht als entlegener und anachronistischer Seitenzweig der romantischen Naturphilosophie entstand, sondern aus der unmittelbaren Konfrontation mit neuen wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen hervorging. Zu diesem Zweck folgt die Studie den mäandrierenden Denkbewegungen der Carus'schen Psychophysiologie: Gerade die "romantische" Konzeption des Unbewußten, üblicherweise allein auf ihren spekulativen naturphilosophischen Gehalt festgelegt, präsentiert sich dabei als Frucht des Versuches, die Psychologie durch Einbindung in eine ganzheitliche Anthropologie sowie durch neurophysiologische und vergleichendanatomische Fundierung zu verwissenschaftlichen. Zentrale psychologische, physiologische und psychiatrische Theoreme werden in dieser Weise auf ihren inneren Zwiespalt hin analysiert, hier der nivellierende Impuls quantifizierender Verfahren, dort die normativ-hierarchische Struktur überlieferter Ordnungssysteme, hier die empirisch-exakte Sammlung und Bearbeitung des vorgefundenen Materials, dort kühne Hypothesenbildung, rasante Analogisierung und eine - wie auch immer gebrochene, empirischer Bestätigung bedürfende - naturphilosophische Heilsgewißheit. Vor diesem Hintergrund profiliert sich die ästhetisch geprägte Physiognomik als anthropologische Schlüsseldisziplin, der die Aufgabe einer Versöhnung der auseinanderdriftenden Bereiche zukommt.
Einleitung
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An Carus' symbolischer Ausdruckslehre läßt sich im einzelnen zeigen, wie diese ästhetische Konzeption den sich spezialisierenden Wissenschaftsdiskurs auch traditionellen kulturellen Wissensbeständen und normativen Inhalten gegenüber offenhält. In vergleichbarer Weise fragt die vorliegende Untersuchung nach Bedingungen, Gestalt und Funktion des ästhetischen Programms einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Carus' Synthesedenken bringt dies belegt das dritte Kapitel - beide Diskurse in ein genaues Wechselverhältnis: Wird der ästhetische Ansatz aufgerufen als Remedium gegen die Zersplitterung des Wissens und die Auflösung stabiler Ordnungssysteme, so hängt umgekehrt die Versöhnungskraft des Ästhetischen davon ab, inwieweit das Empirisch-Wissenschaftliche darin zur Geltung kommt. Gegen die zunehmende Subjektivierung der Kunst und gegen ihre programmatische Bindung an die Vergangenheit postuliert Carus eine Erneuerung der Kunst aus dem Geist der Wissenschaft; dergestalt, so die dahinterstehende Hoffnung, bleibt sie auch "in diesem Verstandeszeitalter"6 repräsentatives Organ der Wirklichkeitserschließung. Unterhalb der Ebene geschichtsphilosophischer Betrachtungen erweist sich das Projekt einer wissenschaftlichen Durchdringung der Kunst zugleich als Versuch, den praktizierten Idealrealismus der Biedermeierzeit in ein ausgearbeitetes Programm umzusetzen. Wenn auch nicht frei von epigonalen Kompromißformeln, so zehrt Carus' Kunsttheorie doch nicht allein von der Höhe frühromantischer Spekulation und der Geschlossenheit klassizistischer Ästhetik, sondern behauptet eine gewisse Eigenständigkeit im Verhältnis zu diesen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein maßgeblichen Bezugsgrößen der ästhetischen Reflexion. Faßt man Carus' Leitgedanken einer Synthese ästhetischer und wissenschaftlicher Naturbetrachtung mithin als Ganzes ins Auge, so erstaunt seine enorme Bewältigungsleistung: Die - Wissenschaft und Kunst übergreifende - Perspektive ist darauf ausgerichtet, grundlegende epochale Problemkonstellationen aufzulösen. Die Sehnsucht nach einer substantiellen Ordnung der Natur, der Anspruch auf Teilhabe am Fortschritt der modernen Wissenschaften, das Bedürfnis nach lebensweltlicher Orientierung und der Wunsch nach Einklang mit der ästhetisch erfahrenen Natur werden hier zu einem vorübergehenden Ausgleich gebracht. Diese weltanschauliche Dimension des Carus'schen Naturverhältnisses galt es gesondert zu betrachten; das vierte Kapitel befaßt sich daher mit den massiven pädagogischen, gesellschaftstheoretischen und politischen Auslegungen der Naturwissenschaften bei Carus. Das Programm einer poetischen Wissenschaft erweist sich aus dieser 6
BLM, 104.
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Einleitung
Perspektive als höchst zeitgebundener Versuch, die ideellen Verluste im Prozeß der Moderne zu kompensieren. Gleichwohl scheint Carus1 Projekt eines anderen, ästhetischwissenschaftlichen Umgangs mit Natur gerade heute - im Zeichen der manifesten Umweltkrise - erneut beachtenswert. Die nicht mehr zu umgehende Einsicht in die katastrophalen Konsequenzen einer allein rational-instrumentellen Einstellung zur Natur hat in den letzten Jahren wiederholt zur programmatischen Wendung in die Geschichte geführt: Im Eingedenken an ältere, verdrängte Naturkonzepte - seien sie aristotelischer, mystisch-hermetischer oder romantischer Provenienz - soll die anstehende Revision des menschlichen Naturverhältnisses gelingen. Zu fragen war also in einem abschließenden Kapitel nach der Bedeutung des Carus'schen Denkens für die aktuellen Diskussionen um das Naturschöne wie für die gegenwärtige Forderung nach einer neuen Wissenschaftsethik.
I. "Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung": Carl Gustav Carus und sein Programm l. Naturphilosophie und Naturwissenschaft zwischen 1790 und 1830 Das Carus'sche Konzept der Verbindung von Kunst und Wissenschaft ist Teil der Programmatik romantischer Naturforschung, die sich als Korrektiv der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung versteht. Die kopernikanische Wende, Keplers Begründung der Himmelsmechanik, Bacons instrumentalistisches Naturverständnis, die cartesianische Mathematisierung des Weltbildes, Galileis Sicherung der experimentellinduktiven Methode und Newtons Aufstellung eines geschlossenen Systems der Mechanik unter Berufung auf den Atomismus markieren die entscheidenden Schritte dieses Prozesses. In dessen Verlauf etabliert sich der spezifisch naturwissenschaftliche Erkenntnistypus mit dem leitenden Ideal der Objektivität und Exaktheit. Durch Instrumente vermittelte Beobachtung, Isolierung des zu analysierenden Phänomens von seiner natürlichen Umgebung und von den Bedingungen subjektiver Wahrnehmung sowie experimentelle Verfahrensweisen gelten als Grundlagen wissenschaftlicher Theoriebildung. Indem jede Naturerscheinung als gesetzmäßig, d.h. als rational erklärbar und berechenbar verstanden wird, setzt sich das Prinzip der kausalen Naturerklärung gegenüber einem nach Sinn und Zweck fragenden Naturbegriff durch. Die Mechanisierung des Naturbildes geht einher mit seiner umfassenden Mathematisierung. Alle qualitativen Unterschiede der Naturdinge, ihre Eigenschaften und dynamisch-gestalthaften Bestimmtheiten, werden auf quantitative Verhältnisse zurückgeführt. Im Zuge der Aufklärung erlangen der naturwissenschaftliche Erkenntnistypus und das mechanistische Weltbild umfassende Geltung. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Kantische Bestimmung der Natur als Inbegriff aller gesetzmäßigen Erscheinungen und die daraus folgende Verpflichtung der Naturwissenschaften auf eine allein empirische Basis. In Übereinstimmung mit zahlreichen Zeitgenossen formuliert Carus sein Unbehagen an der rationalistischen Philosophie und den Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts, "für welche der roheste Dogmatismus
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
fast überall das bestimmende Prinzip abgab"1. Die mathematische Ausrichtung der Astronomie als paradigmatischem Gegenstandsbereich neuzeitlicher Naturwissenschaft hat nach Cams dazu gerührt, daß der menschliche Körper wie die Natur insgesamt als "zusammengeseztes mechanisches Kunstwerk"2 aufgefaßt worden sei. Das "halb nebelhaft rohe, halb ausgetrocknet Abstrakte damaliger Physiologie" habe "nie ein lebendiges Bild der Sachen"3 entstehen lassen. Die Natur sei in künstliche, den inneren Zusammenhang der Naturerscheinungen verleugnende Systeme gepreßt worden.4 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts habe ein grundlegender Umschwung in den Wissenschaften stattgefunden, indem "der bereits von vielen Philosophen des Alterthums geahnte Gedanke von der innern nothwendigen und unerläßlichen Verbindung des Weltgebäudes zu einem einzigen unendlichen organischen Ganzen, mit einem Worte der Gedanke von der Weltseele, durch Schelling's damals groß und lichtvoll hervortretenden Geist zuerst wieder in die Wissenschaft eindrang. Auf merkwürdige Weise klang dieser Gedanke gleichzeitig in vielen Geistern wieder (...) und so fehlte es denn durchaus nicht, daß sehr bald die Folgen desselben in der Behandlung der Naturwissenschaften sich geltend machten."5 In der Tat läßt sich die Periode zwischen 1790 und 1830 als eigenständige Phase wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklung begreifen, die durch einen intensiven und fruchtbaren Austausch zwischen metaphysischer Naturphilosophie und empirischer Forschung gekennzeichnet ist.6 Naturphilosophen rezipieren wissenschaftliche Entdeckungen und Theorien oder beobachten selbst. Unter diesen naturwissenschaftlich gebildeten Philosophen sind für Carus neben Schelling auch Troxler, Schubert und Steffens von Bedeutung.7 Vor allem aber beruft er sich auf Lorenz Oken, der "jene gewisse ideale Richtung des Geistes" verfolge und zugleich - so lobt Carus - "eine große Kenntnis des Speciellen der Naturwissenschaft"8 vorweisen könne. Carus selbst ist primär 1 2 3 4
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G III, 16. BEL, 50. LuD I, 67. Vgl. Carus' Kritik an Linnes System der Botanik: Es sei zwar ein entscheidender Fortschritt in den Naturwissenschaften gewesen, aber "weit entfernt davon, in sich selbst als ein belebendes und belebtes Ganzes zu erscheinen" (LuD I, 70). LuD I, 70 f. Zum Verhältnis von Naturphilosophie und Naturwissenschaft um und nach 1800 vgl. Engelhardt 1976a, 5-30; Engelhardt 1979, 103-158; Hörz u.a. 1969; Jahn u.a. 1982, 305-325. Vgl. LuD I, 126; AuP I, 26 (Troxler); BEL, 109 ff. (Schubert); NR, 26 (Steffens). LuD II, 182 f.
Naturphilosophie und Naturwissenschaft zwischen 1790 und 1830
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Naturwissenschaftler; er gehört überdies - wie etwa Treviranus oder Oersted9 - zu denjenigen Forschern, die ausgiebig naturphilosophische Entwürfe studieren und auch selber philosophieren. Daneben gibt es Naturwissenschaftler, die allererst durch ihre philosophische Rezeptionsgeschichte in das Umfeld metaphysischer Naturphilosophie gezogen werden, so der Physiologe und Chemiker Kielmeyer oder Blumenbach, Cams' Lehrer in vergleichender Anatomie. Nicht zuletzt gibt es jene große Gruppe von Naturforschern, die sich - ohne selbst zu philosophieren - zu einer philosophischen Grundlegung ihrer Disziplin bekennen. In unterschiedlichem Maß und mit unterschiedlichen methodischen Vorgaben wird hier die empirische Einzelforschung in den Dienst einer umfassenden Anschauung des organischen Naturganzen gestellt. Allen voran ist Goethe zu nennen, dessen Wissenschaftslehre und Naturauffassung für Carus von nicht zu überschätzender Bedeutung sind. Im Bereich der Botanik findet Carus außer bei Goethe vor allem bei Alexander von Humboldt, Carl Philipp von Martius, Nees von Esenbeck und Schwägrichen verwandte Bestrebungen.10 Seine Forschungen in Physiologie und vergleichender Anatomie stehen in Übereinstimmung mit den Ansätzen und Ergebnissen von Oken, Autenrieth, Reil, Meckel, Soemmering, Burdach, Geoffroy de Saint-Hilaire, Döllinger und D'Alton.11 Im Bereich von Geologie und Geographie, denen er vor allem im Zusammenhang mit dem Konzept einer Verbindung von Landschaftskunst und Wissenschaft gesteigerte Aufmerksamkeit widmet, verweist er neben Alexander von Humboldt auf Carl Ritter, Leopold von Buch, Franz Joseph Hugi, Ludwig Hausmann 12 Diese wenigen Namen stehen hier für ein ausgedehntes wissenschaftliches Umfeld, in dem sich Carus mit seinen Interessen, methodischen Ansätzen und Forschungsresultaten aufgehoben sieht. Der Grundgedanke, der diese Forscher untereinander und mit der romantischen Naturphilosophie verbindet, ist die Auffassung der Natur
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Vgl. Nerv, 58; NR, 27; AuP I, 4, 78; AuP III, 42; SdPh I, III (Treviranus); G II, 128; Bei, 285 (Oerstedt). Zwischen Carus und Alexander von Humboldt bestand ein jahrzehntelanger wissenschaftlicher und persönlicher Austausch. Mit Carl Philipp von Martius verband ihn eine etwas sentimentale Altersfreundschaft, getragen von dem beiderseitigen Bewußtsein, daß die naturwissenschaftliche Entwicklung über sie hinweggegangen war (vgl. CM). Vgl. BLM, 117 ff. (Nees von Esenbeck); LuD I, 37 f. (Schwägrichen). Vgl. Nerv, 34; Ur, VIII; LuD II, 153 (Autenrieth); Nerv, 3, 58; VüPs, 262, 363; RefMed, 181; Nul, 56 (Reil); LuD I, 229; AuP I, 41; GIII-D, 100 (Meckel); AuP I, 73 (Soemmering); AuP III, 42; LuD I, 65 (Burdach); LuD II, 314 f. (Saint-Hilaire); LuD II, 162 f. (Döllinger); LuD I, 153 (D'Alton). Vgl. BEL, 148; G III (D), 70f.; LuD II, 23; LuD III, 160 (Ritter); LuD I, 173; BEL, 153; LuD III, 72 (Buch); BEL, 7, 22 (Hugi); BEL, 7 (Hausmann).
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
als eines lebendigen Ganzen, dessen Kräfte und Erscheinungen in einem notwendigen inneren Zusammenhang stehen. Die Natur, inwiefern sie rastlos neue Erscheinungen ihres Innern Lebens hervorruft, ist der Organismus schlechthin (Makrokosmus). Jedes einzelne sich aus sich selbst einwickelnde Naturwesen, inwiefern es nur im allgemeinen Organismus der Natur bestehen kann, sein Leben nur Ausfluß höhern Urlebens ist, heißt Teil-Organismus (endlich-individueller Organismus, Mikrokosmus) und seine Entfaltung ist nur unter Einwirkung des allgemeinen Naturlebens möglich.13
Das im organismischen Naturdenken betonte Lebensprinzip wird seinerseits metaphysisch interpretiert als "stätiges Einleiben des Urbildes in das Werdende oder der Idee in die Natur"14. Der Begriff der Natur wird - durchaus im Hegeischen Sinn - "als ein Concretes"15, d.h. in sich Vermitteltes, festgehalten. Aus dieser Perspektive deckt sich der höchste Anspruch der Naturforschung, die Erkenntnis der Einheit der Natur in der Idee, mit philosophischen Zielsetzungen; die spekulativ abgeleiteten Gnindzüge allgemeiner Naturbetrachtung16 bilden zugleich den methodischen Orientierungsrahmen der einzelwissenschaftlichen Betätigung. Auch in dieser Phase einer weitgehenden Annäherung bilden Naturphilosophie und Naturwissenschaft jedoch keine unterschiedslose Einheit. Vielmehr ist von einer komplexen Situation der wechselseitigen Verpflichtung und Abgrenzung auszugehen, in der Naturwissenschaftler und Naturphilosophen ihren jeweiligen Standort relativ bestimmen. So sind für Carus die von Schelling und Oken ausgehenden Anregungen wichtiger als die im einzelnen auch kritisierten Inhalte ihrer Systementwürfe. Deutlich setzt er sein eigenes Verfahren gegen eine bloß spekulative Naturbetrachtung ab: Will man dem Bildungsgange des Geistes in meinen Werken folgen, so wird man finden, wie angestrengt ich mit dem Material unserer Wissenschaft gekämpft habe, wie fest ich das Concrete überall suchte ins Auge. zu fassen, bevor ich mir erlaubte mich zum Abstracten zu wenden. Will doch die Natur durchaus zuerst in allen Tiefen durchdrungen sein, ehe sie dem allgemeinen Überblicke sich darbietet; denn keine Lücken werden auf dieser Stufenleiter geduldet...17
Bei aller Abwehr eines rohen Empirismus und positivistischer Faktenhuberei betont Carus immer wieder den Wert der Anschauung und des intensiven, genauen Studiums der Naturphänomene. Die spekulative
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Grund, 18. BEL, 18. BEL, 12. So der programmatisch zu verstehende Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1823. LuD III, 289 f.
Naturphilosophie und Naturwissenschaft zwischen 1790 und 1830
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Unbesonnenheit, die "gewisse phantastische Naturphilosophen"18 an den Tag legen, ist Cams' Sache nicht. Vielmehr warnt er vor wissenschaftlichen Konstruktionen, in denen mangelndes Tatsachenwissen durch Phantasietätigkeit ersetzt wird.19 Ihn selbst habe "ein richtiges Gefühl, und vielleicht zugleich ein damals namentlich durch E. Plainer angeregter und vertheidigter Skepticismus" davor bewahrt, "in jene Überschwenglichkeiten zu verfallen, von denen selbst Oken, trotz seines scharfen, mit reichem Material genährten Geistes sich nicht frei machen konnte, während dergleichen bei vielen seiner Nachtreter freilich zu den absurdesten Mißgriffen führte"20. Gewagte Allegorien und Analogien, diese "seltsamsten Überstürzungen der Naturphilosophie"21, weist Carus weit von sich. Carus' theoretische und praktische Anstrengungen zielen auf einen Kompromiß zwischen der Forderung nach einzelwissenschaftlicher Realitätserkenntnis, nach Beweisbarkeit und empirischer Kontrolle einerseits und dem Bedürfnis nach einer das Ganze des Seins erfassenden Weltkonstruktion andererseits. Diese suchende, um Vermittlung des Entgegengesetzten bemühte Haltung spiegelt sich in den spannungsreichen, ja bisweilen widersprüchlichen Ausführungen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Auf der einen Seite setzt Carus die Naturphilosophie in Abhängigkeit von der empirischen Forschung: "Die Wissenschaft, welche Aristoteles mit dem Namen der Physik, die Späteren mit dem Namen der Naturphilosophie bezeichneten (...), hat von jeher nur die Bestimmung haben können, das geistige Element und höchste Ergebniß jeder exacten sinnlichen Erforschung allgemeinen Werdens in sich zu einem Ganzen zu vereinigen."22 Der Spielraum spekulativen Denkens wird demnach durch die empirische Wissenschaft vorgegeben. Deren historische Entwicklung erzwingt auch einen Wandel der Naturphilosophie, die im Geiste der induktiven Metaphysik als "Gesammt-Ueberblick der Welt"23 konzipiert wird.24 Der Auffassung, daß sich die Naturphilosophie an den Ergebnissen der 18 19 20 21 22 23 24
Nul, IV. PS, 183. Nul, V. G III, 20. Nul, III. Nul, 80. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Carus gerade solchen Forschern große Verdienste um die philosophisch aufgefaßte Anatomie zuspricht, die der romantischganzheitlichen Naturbetrachtung eher fernstehen: Meckel und Cuvier werden mindestens ebenso intensiv gewürdigt wie Oken und Geoffroy de Saint-Hilaire, die dezidierten Vertreter einer naturpilosophisch überhöhten Anatomie (vgl. Ur, VIII-X).
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Tatsachenforschung orientieren müsse, entspricht eine sensualistisch gefärbte Erkenntnislehre. "Daß im Individuum die Totalität der Welt in der Idee reproducirt werden könne, ist die Erkenntnis des Aeussern erste Bedingung; diese selbst aber ist nur möglich durch Sensation",25 so heißt es im neurophysiologischen Erstlingswerk von 1814. "Also überall beruht auch die höchste Erscheinung der Seelenkraft nur auf Combination sinnlicher Vorstellungen..."26 Andererseits betont Carus die Autonomie und Überzeitlichkeit einer Naturphilosophie, die "dem Allgemeinen aller Naturerscheinung deßhalb sich zuwendet und nachstrebt, um das eigenthümlich Göttliche derselben immer vollständiger zu erkennen und nachzuweisen"27. In der Wendung zur "ungetrübten Anschauung der ewigen Harmonie der Welt" begegne der zeitgenössische Forscher "den Philosophen grauer Vorzeit".28 Aus dieser Perspektive bedarf die empirische Forschung der naturphilosophischen Leitung, um die chaotische Fülle des Tatsachenmaterials systematisieren zu können; die spezielle Naturwissenschaft hat die Vorgaben des deduktiven Denkens zu erfüllen.29 Dieser Haltung entspricht ein erkenntnistheoretischer Platonismus, demzufolge alles Erkennen ein Wiedererinnern der Seele an bereits geschaute Ideen ist.30 Eine Idee ist nach Carus "ein Ursprüngliches, Ewiges, Göttliches, und kann als solches nie ganz vollständig vom Vorstellungsleben der Seele umfaßt oder begriffen, sondern nur erfaßt oder vernommen werden. "31 Die Naturphilosophie zielt somit auf die Erfassung des Urbildlichen, Typischen durch unmittelbare, nicht durch Erfahrung oder Reflexion gewonnene Einsicht in das Wesen der Dinge. Allerdings wird das leitende Konzept einer universellen Naturforschung bei Carus - wie bei anderen philosophisch orientierten Wissenschaftlern32 - durch das Wissen um die faktische Unmöglichkeit einer umfassenden Anschauung des Naturganzen begrenzt. Die
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31 32
Nerv, 102. Nerv, 303; vgl. z.B. auch Nul, 19. Nul, 13 (Hervorhebung getilgt, JMT). In diesem Sinn kann Carus - Lorenz Oken folgend - die Naturphilosophie als "Theosophie" bezeichnen (vgl. Nul, 1-14; Oken 180911/1, VII, 16). Nerv, 1. Vgl. Nul, 219. Vgl. PS, 20. Es finden sich bei Carus auch erkenntnistheoretische Kompromißformeln: "Die Möglichkeit aller Erkenntniß", so heißt es ebenfalls in der Psyche, "ruht theils auf äußerm, theils auf innerm Grunde. Der innere ist die Idee selbst, das Göttliche in uns"; dagegen sei "der zweite Grund aller Erkenntniß (...) in den Sinnen gegeben" (Ps, 360 f). PS, 184. Vgl. z.B. Humboldt 1945-65/1, 65 ff.
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ideell-vernunftgemäße Erkenntnis der Natur bleibt ein Ziel, dem man sich auf dem Wege empirischer Forschung immer nur annähern kann: So gewiß wir indeß, zurückgehalten in der Beschränktheit menschlicher Erkenntniß, auf die wahrhafte Erreichung jenes hohen Endzwecks, auf die vollkommne Befriedigung jenes tiefbegründeten Triebes Verzicht leisten müssen, so kann es doch keinem Zweifel unterworfen bleiben, daß eine jede wissenschaftliche Bahn, je weniger sie von der Willkühr umherschweifender Phantasie vorgezeichnet wird, je mehr sie einer reinen, mit philosophischem Geiste gesammelten Erfahrung sich anschließt, je bestimmter sie subjective Erkenntnis mit objectiver Anschauung, das Allgemeine mit dem Besondem zu verknüpfen bemüht ist, um so sicherer und früher, wenn auch nicht zu einem vollständigen Erklären der Natur, doch zum Vertrautwerden mit derselben uns hinzuführen geeignet sey.33
Dieser erkenntnistheoretische Vorbehalt bezeichnet eine prinzipielle Differenz zwischen der romantischen Naturforschung und der idealistisch-spekulativen Naturphilosophie. Schellings Auffassung, die Vernunft könne das Göttliche, Absolute begreifen, beruht auf der Annahme einer wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Objekt, Idealem und Realem, Natur und Geist. Carus dagegen verwirft die identitätsphilosophische Spekulation Schellings und schränkt damit die Möglichkeit der Erkenntnis von Natur - in der sich das Geistige eben nicht restlos zeigt - ein: "So war mir auch jene Vorstellung, welche Natur und Gott vollkommen identificirt und das eine gleichsam nur als Kehrseite des anderen betrachtet, ebenso wenig genügend und störte mich in den Schriften der neueren Naturphilosophen vielfältig."34 Gegen den Schellingschen Pantheismus setzt Carus den Entheismus: Sinnliches und Übersinnliches begreift er als "zwei ganz verschiedene Welten", die "ewig sich in- und durcheinanderbewegen"35. Das Göttlich-Absolute schließt die Natur in sich und übersteigt sie zugleich. Nicht zu Unrecht beruft sich Carus mit dieser Haltung auf Goethe, wenngleich dieser dem spinozistischen Pantheismus näherstand.36 "Kein organisches Wesen", sagt Goethe, "ist ganz der Idee, die zu Grunde liegt, entsprechend; hinter jedem steckt die höhere Idee; das ist mein Gott, das ist der Gott, den wir alle ewig suchen und zu erschauen hoffen, aber wir können ihn nur ahnen, nicht schauen."37 Goethe und Carus betonen, daß sich die 33 34 35 36
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Zoo, 3 f. LuD I, 127. Zugleich wendet sich Carus gegen den "personificirenden Monotheismus" (ebd.). LuD II, 181. Carus charakterisiert den Goetheschen Pantheismus als Haltung, die weniger '"alles als Gottheit1, sondern vielmehr 'alles als in Gott seiend"1 (G II, 125) begreife. Zu Carus Opposition gegen die "materialistische" Spinoza-Deutung vgl. LuD III, 134 f. Müller/Goethe 1982, 192. Zu Goethes Pantheismus und seiner Beurteilung der Erkennbarkeit des 'Inneren' der Natur vgl. Schmidt 1984, 47-54, 134 ff.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Naturforschung vor einem "Mysterium"38, vor einem "Unerforschlichen"39 bescheiden müsse. Der Naturerkenntnis soll damit jedoch nicht - wie etwa Kant dies tut - eine strenge Grenze gesetzt werden. Naturforschung im Goethe-Carus'schen Sinn beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung, um durch den beobachtbaren Gestaltwandel alles Natürlichen auf das Urphänomen als ideale Grundform zu schließen. Im Zeichen einer solchen sich prozessual ihrem höchsten Ziel annähernden Forschung wendet sich Carus insbesondere gegen den systematischen Charakter naturphilosophischer Entwürfe, "denn die meisten Systeme gleichen ja dem Kristall, dem man zwar wohl ein organisches Leben zusprechen muß, solange er sich bildet, der aber, indem er fertig ist, auch erstarrt, erstorben vor uns liegt".40 Der werdenden, in dauernder Bildung und Umbildung begriffenen Natur muß ein bewegliches, sich beständig am Empirischen korrigierendes Denken entsprechen. Carus nimmt also für sich in Anspruch, die "unselige Trennung gesunder Naturanschauung und reiner Speculation"41 überwunden zu haben. Ein Blick auf das Urteil zeitgenössischer Wissenschaftler relativiert diese Selbsteinschätzung. Alexander von Humboldt, dessen Forschungen letztlich einem Carus entsprechenden ideellen Hintergrund verpflichtet sind und der Carus1 wissenschaftlichen Werken vielfach Lob zollt, meldet dennoch gelegentlich Bedenken gegen dessen naturphilosophisches Credo an.42 Zu polemischer Schärfe sieht er sich veranlaßt, wenn Carus Gegenstände wie den "Lebensmagnetismus" bearbeitet.43 Umgekehrt allerdings wurde Carus1 Tatsachenforschung auch von materialistischer Seite beifällig aufgenommen. Der Botaniker Schieiden etwa meint, die metaphysischen Ansätze eines Carus oder Martius seien 38 39 40 41 42 43
BEL, 46; vgl. BLM, 17. HA XIII, 34. LuD I, 278 f.; zu Carus' Vorbehalten gegenüber philosophischen Systemen vgl. BLM, 91 f. und den Aufsatz Philosophische Systematik in M, 9-17. BLM, 59. Vgl. LuD IV, 97; LuD V, 80. In einem Brief an den preußischen König kommentiert Humboldt das 1857 erschienene Buch Über Lebensmagnetismus und über die magischen Wirkungen überhaupt mit folgenden Worten: "Von dem geistreichen Carus habe ich heute wieder eine wunderbare Schrift erhalten über Lebensmagnetismus, die Nachtseite des seelischen Lebens, die sympathischen Wirkungen des Mondes, der Planeten, und gewisser Pflanzen, das Versehen der Schwangeren, die Macht der Katzenaugen und den Zauber, der in der Ausdünstung der Meerschweinchen waltet, das Tischrücken und Geisterklopfen, den bösen Blick, die magischen Heilungen durch farbige Steine und Amulette, ahnende Träume, Besprechen und Verschreiben, zweites Gesicht, Verzückung, religiöse Heilungen, Verwünschungen und Segnungen..." (zit. nach LuD V, 176).
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als "unschuldige Spielerei oder als Zierrath der Darstellung neben ihren gediegenen empirischen Leistungen"44 zu betrachten. Dort, wo Carus' Wissenschaftslehre selbst zur Diskussion steht, urteilt Schieiden dennoch schärfer: Wenn wir die sogenannte philosophische Einleitung zu Carus' Physiologie lesen, so finden wir darin von Wissenschaft keine Spur und ich spreche es dreist aus, daß Alles, man mag sagen was man will, was hier im Geiste der Schelling'schen Schule vorgebracht wird, nichts ist und bleibt, als Spielerei einer herrenlosen Phantasie, die sich für Philosophie ausgeben möchte.43
Schleidens Verdikt ist repräsentativ für den sich im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert durchsetzenden Positivismus. Carus selbst sah nur allzu deutlich die Kluft, die ihn in der zweiten Hälfte seines Forscherlebens vom wissenschaftlichen main stream trennte; er hatte nach eigenem Zeugnis "allerdings Ursache", sich "sehr isoliert"46 zu fühlen und "genug Gelegenheit", sich "in der Resignation zu üben"47. Zudem verläuft Carus1 Werdegang reziprok zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung. Während die zeitgenössische Wissenschaft von der Spekulation zur Empirie schreitet, verabschiedet Carus die empirische Forschung, um sich in den vierziger Jahren ausschließlich "ideellen Forschungen"48 zuzuwenden. Seine naturphilosophische Tendenz begreift er nun als "Gegengewicht gegen die blos mikrolog-analytische berliner Schule" und als "wahres Zeitbedürfnis".49 Die resignierende und bewahrende Haltung des späten Carus darf jedoch nicht dazu verführen, ihm ein grundsätzlich rückwärtsgewandtes wissenschaftliches Selbstverständnis beizulegen. In bezug auf Goethe findet sich verschiedentlich diese Fehleinschätzung - gespeist aus der heutigen Erkenntnis, daß dessen Wissenschaftsentwurf historisch gescheitert ist: Auch Goethe selbst - so meint etwa Kreutzer50 - habe sein Unternehmen als hilfloses Rückzugsgefecht vormodernen Naturdenkens begriffen. Die gesteigerte Variante dieser Auffassung findet sich in der vernunftkritisch motivierten Deutung Hartmut Böhmes: Die historische Marginalität seiner Position ist Goethe völlig durchsichtig. So sehr, daß man den Hermetismus seines Altersstils verstehen könnte als eine Schreibweise, die die innersten Überzeugungen seines Naturdenkens aufgrund der Einsicht in ihre historisch exzentrische Positionalität ins Verborgene rückt. (...) Der Hermetismus ist die Sprachform
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Schieiden 1844, 82. Schieiden 1842/1, 74 f. LuD IV, 28. LuD II, 315; vgl. LuD I, 248; LuD III, 89, 122. LuD III, 227. LuD III, 132. Kreutzer 1980, 35.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" einer von Goethe bewußt gewählten Strategie, in die Erinnerung einzuschreiben, was dem Zeitbewußtsein entgeht (...). Und da in seinen Augen die Romantiker außer dem zwischenzeitlich hochgeschätzten Schelling dies nicht taten, verlangte Goethe sich einen Gegendiskurs ab, der die Last bewahrender Erinnerung, trauernder Verabschiedung und utopischen Offenhaltens zu tragen vermochte.51
Abgesehen davon, daß Goethe in geradezu jubilierenden Tönen den Triumph der 'richtigen1 Naturansicht bei einer jüngeren Forschergeneration feiert,52 muß allgemein betont werden, daß es bis 1830 zumindest als offene Frage galt, welche Wissenschaftsrichtung sich durchzusetzen vermöge. Der Optimismus eines Goethe oder Carus bezüglich der Geltung der eigenen Naturauffassung verdankt sich der Überzeugung, daß gerade die Erkenntnisfortschritte der Wissenschaft die ganzheitliche Naturbetrachtung begründen sollen. Carus sieht sich nicht als Restaurator paracelsischer oder Böhmescher Mystik, sondern als Vertreter einer neuen Naturauffassung, in der wissenschaftliche Einzelentdeckungen von Galvanis tierischer Elektrizität bis zur eigenen Entdeckung des Blutkreislaufs der Insekten - und philosophische Ideen - etwa Kants dynamischer Materiebegriff- zusammenwirken. Gerade die Überfülle neuer Naturerkenntnisse habe zur Überwindung der statisch-mechanischen Denkweise geführt und die entwicklungsgeschichtliche Naturbetrachtung nahegelegt; das "immer wachsende Reale" ist demnach "zu mächtig und zu reich (...), als daß es in alte formale Schalen sich einschließen Hesse".53 Carus' Deutung der zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklung entspricht in gewissem Sinn der heutigen Interpretation der krisenhaften wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse des ausgehenden 18. und frühen 51 52
53
Böhme 1988, 146 f. So bedankt sich Goethe für die Übersendung von Carus' Lehrbuch für Zootomie im Jahre 1818 mit folgenden Worten: "Ich nehme nun mit desto mehr Zuversicht meine alten Papiere vor, da ich sehe, daß alles, was ich in meiner stillen Forschergrotte für recht und wahr hielt, ohne mein Zutun nunmehr ans Tageslicht gelangt. Das Alter kann kein größeres Glück empfinden, als daß es sich in die Jugend hineingewachsen fühlt und mit ihr nun fortwächst. Die Jahre meines Lebens, die ich, der Naturwissenschaft ergeben, einsam zubringen mußte, weil ich mit dem Augenblick in Widerwärtigkeit stand, kommen mir nun höchlich zugute, da ich mich jetzt mit der Gegenwart in Einstimmung fühle, auf einer Altersstufe, wo man sonst nur die vergangene Zeit zu loben pflegt." (G II, 16 f.) "Die wahre Naturansicht verbreitet sich (...) immer mehr" (G II, 28), betont Goethe 1822 und vier Jahre später resümiert er begeistert; "Wenn ich das neuste Vorschreiten der Naturwissenschaften betrachte, so komm ich mir vor wie ein Wanderer, der in der Morgendämmerung gegen Osten ging, das heranwachsende Licht mit Freuden anschaute und die Erscheinung des großen Feuerballs mit Sehnsucht erwartete, aber doch bei dem Hervortreten desselben die Augen wegwenden mußte, welche den gewünschten gehofften Glanz nicht ertragen konnten." (G II, 53). RefMed, 161; vgl. LuD I, 68 ff.; G III, 20; G IV, 71; SdPh I, VII f.
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19. Jahrhunderts. Lepenies hat in seiner Untersuchung über Das Ende der Naturgeschichte die Etablierung des historischen Denkens als wichtigsten Einschnitt dieser Phase herausgestrichen. Der sich beschleunigende Zuwachs an Wissen löst die statischen Klassifikationssysteme der Naturgeschichte auf und erzwingt eine Neuordnung des Wissens in seiner zeitlichen Folge. "Erfahrungsdruck und Empirisierungszwang"54 führen letztlich zur Evolutionslehre Darwins. Zunächst jedoch weichen die alten, naturgeschichtlichen Klassifikationssysteme einem primär idealgenetischen Modell, das den Wandel der Naturerscheinungen an die ideelle Einheit der produktiven Natur rückbindet. Etwa auf dieser Stufe sind die Arbeiten von Carus und Goethe anzusiedeln.55 Carus1 Naturauffassung und Wissenschaftslehre fügt sich damit in den umfassenden Kontext der sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Wandlungsprozesse um und nach 1800. Carus selbst stellt diesen Zusammenhang wie folgt her: Wenden wir uns nun zu dieser neuen Zeit, zu dem 19. Jahrhundert, bis in dessen Mitte wir uns selbst vorgerückt finden, und überblicken wir jetzt auch dessen Charakter im allgemeinen, so können wir nicht verkennen, daß ebenso wie dem vorhergegangenen das Prinzip der Stabilität und des Pedantismus, so diesem das der Bewegung und Emanzipation durchaus bezeichnend sei. Seit J.J. Rousseau mit großen gewaltigen Zügen der mehr und mehr in die Fessel übertriebener Künstlichkeit gedrängten Menschheit den Spiegel eines ursprünglichen Naturzustandes wieder vorgehalten hatte, ging eine große zuckende Bewegung durch ganz Europa, deren fortgesetzte Schwingungen wir noch immer heftig empfinden (...) Nicht minder als im Staatsleben wogte aber das Prinzip der Revolution auch in der Wissenschaft; links und rechts stürzten vor einer überall scharf eindringenden Kritik die Schranken des Dogmatismus; das ungeheure Fortschreiten der Naturwissenschaften bahnte den Weg zu ganz neuen Anschauungen alles Lebendigen (...) Auf dieselbe Weise aber, wie in den Wissenschaften überall die alten Formen weichen mußten, während allerdings dort auch vielfach dafür unermeßlicher Reichtum an neuem Stoff herbeigeführt wurde, machten entschiedene Umstürzungen ebenso in der Poesie sich kund... 56
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56
Lepenies 1976, 18. Zimmermann charakterisiert in seiner grundlegenden Arbeit zur Problemgeschichte der Evolutionstheorie Carus' Standort folgendermaßen: "Bezeichnend ist die Verflechtung der realhistorischen Ontogenie sowie der halbidealistisch und halbphylogenetisch formulierten Zusammenhänge zwischen den Organismen" (Zimmermann 1953, 375). Carus' Auseinandersetzung mit Darwin wird in Kap. II.6. ausfuhrlicher besprochen. Zu Goethes Verhältnis zur modernen Abstammungslehre vgl. Wenzel 1983. G III, 19 f.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
2. Poesie und Wissenschaft in der geschichtsphilosophischen Deutung Cams' Wissenschaftslehre wurde als Versuch charakterisiert, empirische und spekulative Gesichtspunkte in der Naturbetrachtung zu verbinden. Diese Spannung zwischen einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse und der Sehnsucht nach ganzheitlicher Naturerfahrung wird in dem Entwurf einer ästhetisch geprägten Wissenschaft aufgehoben. Im Wissen um die Grenzen der rein empirisch-analytischen Naturerkenntnis plädiert Carus für die ästhetische Aneignung der Natur: Zuerst möchte ich hier bemerken, daß (...) in Alexander von Humboldt und ähnlichen Geistern, die neben ernsten, streng wissenschaftlichen Bestrebungen durchgehende poetische Tendenz gewiß von der tiefsten Bedeutung sei. Es ist allerdings merkwürdig, wie der Mensch, der, wenn er tüchtig ist, nothwendig immer zum Ganzen streben muß, gerade eben durch diese Bestrebung selbst, auch zur Poesie sich gedrängt fühlt; denn ist am Ende nicht Alles, was er durch Forschung ergreifen, was er im Leben durch Handlung ausprägen kann, nur Stückwerk und Fragment eines als Ganzes unmöglich Erreichbaren und sollte er nun, da er doch in sich ein Göttliches, Ewiges, Schaffendes empfindet, nicht da, wo ihn die Außenwelt unbefriedigt läßt, sich gegen sein Inneres wenden? aus ihm das Lückenhafte der Wirklichkeit des Daseins ergänzen, und erst so sich das Genügen eines Lebens im Vollen und Ganzen zu verschaffen?37
Das Postulat der Verbindung poetischer und wissenschaftlicher Bestrebungen verdankt sich also dem Bedürfnis nach Ganzheit. Die Einheit der Natur ist empirisch wie theoretisch unableitbar. Angesichts einer Stückwerk bleibenden Forschung soll das Subjekt und Objekt umfassende Ganze der Natur ästhetisch eingeholt werden. Generell deutet Carus die Geschichte der Wissenschaft am Leitfaden des idealistischen Versöhnungsgedankens. Die Naturwissenschaft habe zu dem Zeitpunkt begonnen, als der Mensch "vom Hingegebensein an die Außenwelt"58 erwacht sei. Seitdem verspüre der Mensch das Bedürfnis, die Natur und seine Beziehung zu ihr zu erklären, weil "ohne diese Erklärung die Natur und das menschliche Ich als zwei ewig getrennte Wesen bestehen müßten"59. Die vergangene, unmittelbar sinnliche Einheit mit der Natur soll "im Bewußtsein"60 wiedergewonnen werden. Die Wissenschaftsgeschichte stellt sich somit als Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt dar: "Von hier aus wird uns denn der Grund der Forschung deutlich, welche so viele Jahrhunderte hindurch, bald mehr, bald weniger rein und frei auf das Bestimmen des Verhältnis57 58 59 60
BEL, 117. NR, 5. Ebd. NR, 6.
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ses zwischen den Erscheinungen der Natur und den Gesetzen der Vernunft gerichtet waren..."61 Die Wissenschaftsentwicklung - verstanden als Menschheitsgeschichte - deutet Carus also nach dem dialektischen Denkmuster von Einheit, Entzweiung und neuer Einheit. In dieses geschichtsphilosophische Modell ist auch das Verhältnis von Wissenschaft und Poesie eingebunden. Die Wissenschaft wird zurückgeführt auf ihren Ursprung als unmittelbar-sinnliche, poetisch-ganzheitliche Naturanschauung. Carus begreift die mythischen und dichterischen Schriften des Altertums als erste Ansätze einer theoretischen Naturerfassung, deren Gültigkeit er wiederholt verficht.62 Vieles sei späteren Naturforschern verborgen geblieben, "was in dem kindlichen und reinen Gefühl des echten Naturmenschen beinahe hüllenlos sich offenbarte".63 Allerdings ist Carus auch Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts und weiß, daß Forschung und Mythos kollidieren (können). Entsprechend sucht er den Kompromiß zwischen aufgeklärter Vorurteilsfreiheit und poetischer Integration des Mythos. Anläßlich der bis zur Durchsetzung des Darwinismus virulenten Frage, ob die Menschheit - der mosaischen Anthropogenic gemäß - von einem einzigen Paar abstamme, schreibt Carus: Wer freierer Gesinnung ist, weiß indessen leicht überhaupt zu trennen das, was Analogie und Induction aus unwiderleglichen Thatsachen der Wissenschaft über große Naturvorgänge uns erschließt, von dem, was in ehrwürdigen Schriften aus der Urzeit der Völker uns in unbestimmten Ausdrücken als Ahnungen der Menschheit bewahrt wurde; Ahnungen, welche dann doch ebenso wenig umhin können, mit den Resultaten der Wissenschaft vielfach zu coincidiren, als es gewiß ist, daß ein höheres Schauen des wahren Dichters immer im Wesentlichen zusammentreffen wird mit den letzten Resultaten des forschenden Weisen.64
Carus distanziert sich von der mit der biblischen Schöpfungsgeschichte übereinstimmenden Theorie der Monogenisten, ohne darum seine Überzeugung von der prinzipiellen Vereinbarkeit von Wissenschaft und Mythos aufzugeben. Der Naturwissenschaft wird damit ein metaphysischer Ursprung zuerkannt. Grundlegend ist die Auffassung, daß die "innere göttliche Idee des Menschen, eben als solche, zu jeder Zeit eigentlich ein Wissen aller Weltvorgänge besitzt (...) ohne sich dessen bewußt zu sein, und daß sie nur allmälig ein helleres Wissen hievon durch eigene Läuterung und
61 62 63 64
Ebd. Vgl. BEL 39, 83, 101, 126 f., 199. NR, 6. Anth, 68.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Thätigkeit"65 erlange. Es gebe "große ausgezeichnete Geister, (...) Genies, (...) Urgeister", die einen "vielumfassenden Blick für das Wesen so mancher Naturerscheinung (...) ohne (...) besondere Studien"66 besäßen. Auch rein poetische Visionen können an das Unvahre der Natur heranreichen.67 Angesichts dieser Haltung erstaunt es nicht, daß Cams der klassischen deutschen Poesie eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der idealgenetischen Betrachtungsweise zuschreibt. Im Hinblick auf Naturwissenschaft und Medizin um 1800 ist Carus der Überzeugung, daß "zwei Ursachen wesentlich einwirkten den bis gegen diese Zeit eigenthümlich trocken und pedantisch beschränkten Gang beider auf eigne merkwürdige Weise zu beleben und in neue Bahnen überzuführen. Die eine dieser Ursachen war gegeben in der politischen Umwälzung, welche damals das Leben der Völker so mächtig aufrüttelte, es mit neuen guten, aber auch mit manchen schlimmen Momenten durchdrang, und noch jetzt in ihren Folgen immer fort nachzittert; die andre bot sich dar in dem plötzlichen Erwachen einer neuen deutschen Poesie, welche auf einmal, vorbereitet von Lessing, durch Schiller und Goethe unser Volk mit einem besondern Frühlingsgefühle durchdrang, und, indem sie nicht verfehlte den ganzen Menschen zu erwärmen, ihren belebenden Hauch nothwendig jetzt auch über die Pflege der Wissenschaften verbreiten musste."68 Wenn die Visionen des Dichters das 'Innere' der Natur erfassen können, dann ist die Poesie auch ein legitimes Movens der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Die neue Einheit von Mensch und Natur denkt Carus daher als Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Unter Einbeziehung aller menschlichen Vermögen - Vernunft, Verstand, Gefühl, Empfindung, Einbildungskraft oder auch Ahnung und Vorgefühl69 - soll das Ganze der Natur evoziert werden. Gegen die neuzeitliche Entwicklung zu einem exklusiven, rationalistisch verengten Wissenschaftsbegriff behauptet Carus daher: "Wissenschaft und Poesie, weit entfernt einander feindlich gegenüber zu stehen, haben vielmehr den Beruf mit Stetigkeit belebend und erfrischend aufeinander einzuwirken."70 Prinzipiell entspricht dieser geschichtsphilosophische Ansatz dem von Schelling wie von Goethe vertretenen Denkmodell. Auch Goethe 65 66 67
68 69 70
BEL, 127. BEL, 175. Vgl. BEL, 118; vgl. das Kapitel Magisches Wirken in der Wissenschaft 232-235). Kieser, 37. Vgl. BEL, 127. BEL, 244.
(Lmag,
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bindet die im Hinblick auf eine ganzheitliche Naturerfassung geforderte Synthese von Kunst und Wissenschaft71 historisch ein: "Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle gar wohl wieder begegnen könnten."72 Und Schelling hofft darauf, "daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebensoviel einzelne Ströme in den allgemeinen Ozean der Poesie zurückfließen"73. Dennoch unterscheidet sich Cams' Ansatz grundlegend von der romantischen Vorstellung einer "Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie"74. Dem Novalis'schen Diktum, daß der Poet die Natur besser verstehe als der wissenschaftliche Kopf,75 hätte Carus so nicht zugestimmt. Weit davon entfernt, die "kindliche naive Auffassung"76 der Natur bei den Griechen als Ideal aufzustellen, betont er vielmehr die Überlegenheit der modernen Naturerkenntnis. In Anlehnung an den aufklärerischen Gedanken einer linearen Progression des Wissens grenzt er die eigene Epoche von den "dunkeln Zeiten" ab, in denen alchemistischer und astrologischer "Aberglauben" herrschte.77 Carus erhebt die Entwicklung der Naturwissenschaften zum Paradigma des geschichtlichen Fortschritts der Neuzeit insgesamt. Es bedürfe "nur einer aufmerksamen Vergleichung des Alterthums mit der neuern Zeit (...), um darzuthun, daß gerade Naturstudium ganz eigentlich eine Hauptaufgabe der Neuern ausmacht, und zwar eine solche, aus deren Erfüllung dieser Zeit allerdings ein wesentliches Heil erwachsen muß, und in deren Richtung sie sich auch bereits weit mehr über das Alterthum erhoben hat, als es vielleicht in der anderen, der Zeitfolge nach ihr nicht minder eigenthümlichen, d.i. der religiös sittlichen Richtung, bisher hat gelingen
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"...da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten." (HA XI V, 41). H A XIII, 107. Schelling 1858, 629. Ebd. Novalis 1960 ff./III, 468. BEL, 199. Lmag, 89.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
wollen."78 Mit ungeteilt positiver Wertung bezieht sich Carus hier auf die Erkenntnisfortschritte in den Einzeldisziplinen: Bedenken wir demnach, welche außerordentliche Ausbeute Astronomie, Physik, Chemie, Atmosphärologi'e, Geologie, Mineralogie, Botanik, Zoologie und Anthropologie in ihrem ganzen Umfange und mit ihrem ganzen Gefolge bereits dem menschlichen Geschlecht in neuerer Zeit gegeben haben, (...) so wird man deutlich erkennen, daß die Erreichung des Ziels einer wahrhaft gesunden und schönen menschlichen Existenz eines Teils ganz wesentlich durch die Beförderung des gesamten Kreises der Naturwissenschaften bedingt sei.• 79
Schon in Cams' Überzeugung, daß wissenschaftliche Lehrbücher veralten und bestimmte Entdeckungen und Erkenntnisse historisch nicht hintergangen werden können, zeigt sich eine eher fortschrittsorientierte und normative Auffassung der Wissenschaftsgeschichte.80 Carus1 spätromantisches Konzept der Verbindung von Kunst und Wissenschaft unterscheidet sich daher sowohl durch die geschichtsphilosophische Fundierung als auch durch den programmatischen Inhalt von seinen frühromantischen Vorläufern. Schelling hatte die neu zu erstellende Synthese von Wissenschaft und Poesie nach dem Muster der ursprünglichen Einheit bestimmt; im Rahmen einer "neuen Mythologie"81 sollte Wissenschaft in Poesie aufgehoben werden. Carus dagegen verbindet idealistischen Versöhnungsanspruch und Progressionsdenken. Die Einheit des Menschen mit sich und der Natur soll durch den Fortschritt der Wissenschaften hergestellt werden. Dieser Prozeß umfaßt auch die geforderte Verbindung von Wissenschaft und Poesie, die hier als eigenständige Integration und wechselseitige Ergänzung beider Bereiche gedacht wird. Die "weitere und tiefere Ausbildung der Naturwissenschaften"82 in der Neuzeit stellt - im Gegensatz zu der weitgehenden Preisgabe empirisch-a? ^lyrischer Erkenntnisweisen in der Frühromantik die Voraussetzung für Carus' Programm dar.83 Während die Konvergenz 78 79 80 81 82 83
BEL, 3. Rez, 497. Vgl. LuD II, 221; G II, 128 f.; BEL, 81. Schelling 1858, 629. Rez, 496. Dementsprechend tritt Carus für eine Verwissenschaftlichung von Bereichen ein, die noch primär unter künstlerischem oder mystisch-spekulativem Zugriff stehen. So beklagt er im Fall der Psychopathologie, daß diese "nur von Nichtärzten" betrieben, in "novellistischer Weise" bearbeitet werde und "Gegenstand einer Art von Unterhaltungsliteratur" sei (LuD I, 282). Dagegen fordert Carus "wirkliche Aufzeichnungen solcher Art nach der Natur" (ebd.). Diesem Plädoyer für eine empirische Erfassung psychischer Krankheitsphänomene korreliert die Tendenz zur Entmystifizierung. So wendet er sich entschieden gegen die "supernaturalistischen" (LuD I, 228) Erklärungen des Mediziners und Psychiaters Heinroth, der jede Krankheit religiös deutet als sündige Abwendung von Gott.
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von Kunst und Wissenschaft bei Schelling und Novalis daher - um mit Werner Busch zu sprechen - "auf rein literarischer Ebene"84 verblieb, gewinnt sie bei Carus - wie auch bei seinen hier maßgeblichen Vorbildern Goethe und Humboldt - eine konkret-praktische Dimension. Ihre Anstrengung gilt dem ästhetisch-wissenschaftlichen Naturstudium selbst und einer darin begründeten Kunst. Im Hinblick darauf ist auch Joachim Ritters grundlegendes Erklärungsmodell zur Entwicklung der ästhetischen Naturauffassung zu modifizieren. Ritter deutet die neuzeitliche Entdeckung ästhetischer Natur in Gestalt der Landschaft aus der Dialektik von wissenschaftlicher Objektivierung und ästhetischer Subjektivierung des Naturbezugs. Der alte Kosmos, vormals in der 'theoria', der nach innen gerichteten anschauenden Betrachtung, philosophisch begriffen, zerfällt in einem Zeitalter, in dem Natur zum Objekt der analysierenden Forschung und der zielgerichteten Ausbeutung degradiert wird. Die Versachlichung der Natur durch die Erfahrungswissenschaften erzwingt als Ersatzbildung die subjektiv-gefühlsmäßige Auffassung der Natur, in der die 'ganze' Natur als substantielle Ordnung gegenwärtig gehalten wird. Insbesondere betont Ritter, daß die Hinwendung zur Landschaft an den lebensweltlichen Verlust und die gesellschaftliche Aneignung der Natur - ihrerseits Bedingung der Freiheit des Subjekts - gebunden sei: "Die Landschaft gehört so geschichtlich und sachlich als die sichtbare Natur des ptolemeischen Erdenlebens zur Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft."85 Das Vermögen, die Natur in Beziehung zum Menschen aufzufassen, verlagert sich - so Ritter - notwendigerweise ins Ästhetische. Alexander von Humboldt und auch Carus gelten Ritter als Kronzeugen seiner Kompensationstheorie: Beide verweisen angesichts der Gefahr einer wissenschaftlichen 'Entseelung' oder 'Entqualifizierung' der Natur auf die Notwendigkeit gefühlsmäßigen Erlebens und künstlerischer Vermittlung von Natur. Allerdings verläuft diese "Transformation des metaphysischen in den ästhetischen Naturbegriff'86 weniger direkt und eindimensional, als Ritters Entwurf dies suggeriert. So wurde in Auseinandersetzung mit Ritter verschiedentlich darauf hingewiesen, daß nicht erst auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft, sondern bereits seit der frühen
84 85 86
Ergänzend tritt bei Carus die Vorstellung hinzu, Irrenanstalten sollten "nach höhern wissenschaftlichen Ansichten eingerichtet" (LuD I, 283) werden (vgl. hierzu auch Kap. H.5.). Busch 1985, 205. Ritter 1963, 30. Zimmermann 1982, 130.
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Neuzeit die Natur als Landschaft wahrgenommen wurde.87 Allerdings erlaubte es das rationalistische Postulat einer harmonischen Ordnung der Welt durchaus, Metaphysik, Kunst und Wissenschaft zusammenzudenken. In weiten Bereichen der Malerei und Poesie des 17. und 18. Jahrhunderts verweist die Hinwendung zur konkreten Natur daher weniger auf ein Bedürfnis nach Kompensation, denn auf ein "illustrierendes Interesse"88: Die klassischen Landschaftsgemälde eines Lorrain oder Poussin sind nicht Ausdruck unmittelbar gefühlsmäßigen Naturerlebens, sondern Sinnbild einer vorgewußten göttlichen Ordnung, Darstellung einer überzeitlichen, rational erfaßbaren Welt. Generell dies läßt sich gegen Ritter einwenden - muß innerhalb der Neuzeit und auch innerhalb der Moderne nach Art und Funktion ästhetischer Naturvermittlung unterschieden werden. Für die Romantik ist Ritters. Erklärungsmuster weitgehend unbestritten.89 Im Gegenzug gegen den wissenschaftlichen Naturbegriff hat - so resümiert Zimmermann - "die Romantik versucht, die Momente der Qualität, des Sinnes und des Zwecks, die den Kern des alten metaphysischen Naturbegriffs ausmachen, als objektives Korrelat ästhetischer Erfahrung zu erweisen. (...) Was diese [die Metaphysik, JMT] - in Konkurrenz mit der Naturwissenschaft - kaum noch glaubwürdig im Medium des Begriffs behaupten kann, soll zumindest im Medium der Anschauung seine Evidenz behalten: daß die Natur in eins Subjekt und Objekt ist, äußerlich erscheinende Innerlichkeit, daß sie zu uns 'spricht' und wesentlich 'lebendig' ist."90 In diesem Sinn unternimmt es Odo Marquard, die in Schelling gipfelnde "Wende zur Naturphilosophie" insgesamt als "Wende zur Ästhetik" darzulegen.91 Schellings Naturphilosophie sei eine Philosophie der "Romantiknatur"92, einer "ästhetisch-verzauberten (...), organischheiteren und ursprünglich-vernünftigen"93 Natur. Drei Aspekte hebt Marquard hervor, die den ästhetischen Charakter von Schellings Naturphilosophie ausmachen94: Erstens ist nach Schelling das "spekulative Organ" der Naturphilosophie ein 'ästhetisches' Organ, 87 88 89 90 91 92 93 94
Vgl. Hardtwig 1979, 47 f.; Zimmermann 1982, 130; Sieferle 1986, 241 f.; Groh/Groh 1989, bes. 62-65. Sieferle 1986, 242. Vgl. Zimmermann 1982, 134 f.; Waldenfels 1986, 30 ff.; Wedewer 1986, 125-128; Sieferle 1986, 246 f.; Groh/Groh 1989, 63. Zimmermann 1982, 134 f. Marquard 1987, 135 ff. Marquard 1987, 166; vgl. auch 57. Marquard 1987, 178. Vgl. Marquard 1987, 180-182.
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nämlich die "ästhetische Anschauung" als "objektiv gewordene intellektuelle"95; bewußte Erkenntnis der Natur weicht divinatorischem Sehen. Damit hängt zweitens zusammen, daß die Kunst "Vorbild"96 und Zielpunkt der Naturphilosphie darstellt. Es ist dies der bereits benannte Gesichtspunkt, nämlich die Forderung einer Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie. Drittens hat die Naturphilosophie - so Marquard - inventive Bedeutung für eine 'neue Mythologie1, für eine neue ästhetischsymbolische Ansicht der Natur also. Zusammengenommen führen diese Positionen zu einer Ermächtigung der Ästhetik als Grundphilosophie: "Gerade für die Naturphilosophie und im Zusammenhang mit ihrer Ausbildung wird die 'Philosophie der Kunst1 'das allgemeine Organon der Philosophie'".97 Demgegenüber tritt - so die These der vorliegenden Arbeit - das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst bei Carus, Alexander von Humboldt und in gewisser Weise auch bei Goethe in eine andere Phase. Wissenschaftliches und ästhetisches Naturverhältnis werden hier nicht gegeneinander ausgespielt. Die Trennung und kompensatorische Aufeinanderbezogenheit von objektiv-exakter und ästhetisch-gefühlshafter Naturpräsenz, die Ritter für Carus und Alexander von Humboldt annimmt, soll nach der Auffassung beider gerade überwunden werden. Wenn Carus zwischen Wissenschaft und Kunst unterscheidet - jene führe "zunächst zur Ertödtung, d.i. zur Zerlegung"98 der Natur, diese sei "freie Pro- und Reproduktion"99 der lebendigen Natur aus der Einheit des Subjekts - so nur, um zu betonen: "Der Mensch nämlich wird auch in dieser Hinsicht sich nur als ein Ganzes erweisen, und Kunst und Wissenschaft, obwol im Verstande geschieden, können es doch nie in der Wirklichkeit vollkommen sein."100 Dieses Einheitspathos, dieser Glaube an die Möglichkeit der Versöhnung von Kunst und Wissenschaft muß zunächst einmal wenigstens - beim Wort genommen werden. So postuliert Carus einerseits einen Wissenschaftsbegriff, der empirisch-analytische, spekulative und subjektiv-ästhetische Momente auf sich vereint. Die Funktion, sinnhafte Ganzheit zu wahren und die Beziehung von Mensch und Natur wiederherzustellen, weist Carus gerade einer solchen Naturwissenschaft und nicht einem ausgegrenzten Bereich des Ästhetischen zu: 95 96 97 98 99 100
Schelling 1858, 625. Schelling 1858, 623. Marquard 1987, 182. BLM, 17. Ebd. BLM, 36.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" Von hier aus leuchtet daher auch gar wohl ein, wie groß eigentlich die Bedeutung des Naturstudiums sei und warum zu einer Zeit, wo der Mensch im Ganzen und Äußerlichen immer mehr aus dem reinen Verhältnis zur Natur herausgedrängt wird und immer mehr den Einflüssen einer eigenen künstlichen unersprießlichen Natur anheimzufallen droht, gerade auf dem Studium der Naturwissenschaft ein so mächtiger Trost, eine so große Hoffnung beruhen muß.101
Gegenüber der Ritterschen Deutung ist also eine Akzentverlagerung vorzunehmen. Der spätromantische Kampf gegen die Entzweiung von Mensch und Natur wird nicht von der Enklave ästhetischer Subjektivität aus, sondern auf dem Feld der Naturwissenschaft selbst geführt. Komplementär dazu entwickelt Carus eine Kunstauffassung, die eine bloße "Gefühlspräsenz der Romantiknatur"102 programmatisch überschreitet. Carus bewundert Goethe als Dichter gerade deshalb, weil "das Studium der Naturwissenschaften ein wahres Bedürfnis" für ihn gewesen sei, weil er sich" nicht bloß auf ein gefühlvolles Anschauen der Natur beschränken konnte, sondern (...) es ihn treiben mußte, auch tiefer in das Wesen der Erscheinung einzudringen"103. Die Kunst muß, um authentisch zu bleiben, auf den Bedeutungszuwachs der Wissenschaft reagieren: In einem Zeitalter, das sich durch den "immer allgemeiner hervortretenden Drang nach scharfer, ja stets weiter strebender Erkenntniß"104 auszeichnet, fordert Carus daher die "Hervorbildung neuerer Kunst aus Wissenschaft"105. Deutlich zeigt sich der partiell antiromantische Impetus dieses Programms, wenn Carus gegen jene polemisiert, "welche nur auf dem Dunkel der Unkenntniß den Regenbogen der Kunst und Poesie leuchtend glauben"106. Immer wieder verweist Carus in diesem Zusammenhang auf die geschichtsphilosophische Dimension seiner programmatischen Anstrengungen: Ist es doch im Allgemeinen auszusprechen, die Kunst dieser Zeit kann und darf nicht mehr eine blos dunkeln Gefühlen und halb unbewußten Perceptionen nachgehende, nicht mehr eine in Auffassung und Deutung ihrer Aufgaben blos durch das kindliche Gemüth geleitete sein, unsere Zeit, die die Mission hat. die Intelligenz überall und allmälig immer mehr zur Geltung zu bringen, worin ihr ganz vergeblich, und höchstens nur etwas retardirend von obscuren Geistern entgegengewirkt wird, sie fordert auch in den Regionen der Poesie und Kunst eine Basis im Bewußtsein, und weit entfernt, daß dadurch ihr die Flügel gelähmt und die Wirkungssphäre beengt werden sollte, so ist vielmehr gerade darin ihr die Möglichkeit geboten, eine neue größere Aera zu begründen ...l07
101 102 103 104 105 106 107
PS, 438. Marquard 1987, 167. G II, 137 f. Vgl. G I, 23. LuD I, XIII. BLM, 165. LuD 1,38. S, 386.
Die morphologisch-genetische Methode
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Die universale Geltung, die nach Ritter die ästhetische Auffassung der Natur als Landschaft gewinnt,108 konzediert Carus für die eigene Zeit nur einer zugleich wissenschaftlichen und ästhetischen Naturerfahrung. Insofern erscheint es berechtigt, wenn Odo Marquard im Anschluß an seine Untersuchung der Carus'schen Psychologie die Frage aufwirft: Was bedeutet die 'Wende zur Naturphilosophie' unter der Bedingung eines fortschreitenden Mißtrauens in die Vergegenwärtigungskraft des Ästhetischen? (...) Die 'naturphilosophische' Psychologie von Carus hat Bedeutung für diese Frage. Denn im Blick auf die Naturphilosophie hat das Mißtrauen ins Ästhetische (...) zunächst die bescheidende und nüchterne Form, von der 'spekulativen' Naturphilosophie die Probe der Empirie zu verlangen. Carus - obwohl er, der Goethe-Verehrer und Maler-Philosoph, von diesem Mißtrauen weitgehend unberührt geblieben scheint - gehört in diese Bewegung Von der Spekulation zur Empirie'.109
Das Ästhetische wird somit auf die von Ritter behauptete und von Marquard bei Schelling aufgezeigte Funktion festgelegt, Statthalter philosophisch-spekulativer Naturerfassung zu sein. Marquard deutet daher den Versuch, die romantische Naturphilosophie mit der Erfahrung zu versöhnen, als Beleg für ein zunehmendes Mißtrauen in die Vergegenwärtigungskraft des Ästhetischen. Bedenkt man jedoch die enorme Bedeutung, die das Ästhetische für Carus1 Wissenschaftsentwurf besitzt, so drängt sich eine andere Perspektive auf: Das Ästhetische ist hier im Spannungsfeld zwischen Empirie und Spekulation angesiedelt, und seine Funktion ist die einer Vermittlung beider Bereiche. Was damit abstrakt behauptet wird, soll im folgenden konkret gezeigt werden: daß der Bereich des Ästhetischen integratives Moment einer Wissenschaft darstellt, die von der empirischen Analyse des Einzelgegenstandes zur Ableitung der Einheit der Natur in der Idee strebt.
3. Die morphologisch-genetische Methode Die ästhetische Dimension von Carus1 Wissenschaftslehre zeigt sich zunächst in dem spezifischen Empirieprinzip, das er seiner Forschung zugrundelegt. Gegen die spekulative Reduktion der Natur auf die Idee, gegen die Abwertung der konkreten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen als bloßes Abbild eines Geistigen reklamiert Carus die ästhetische Würdigung der sinnlich erfahrbaren Gestaltungen. In deutlicher Anlehnung an Goethes Vorstellung einer "zarten Empirie"110 erinnert 108 Vgl. Ritter 1963, 17. 109 Marquard 1987, 176 f. 110 HA VIII, 302.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Carus an "jenes zarte Verhältniß" zur Natur, "welches vielleicht auch nur dem, der durch eigene naturforschende Arbeiten der Natur sehr nahe gekommen ist, recht klar werden kann. Ein Verhältniß, bei welchem nicht die Vergänglichkeit der Naturformen als Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit gerechnet wird, sodaß sie deshalb etwa blos als Mittel zum Zweck besonderer Vernunftdarbildung betrachtet werden müßten, sondern wobei gerade diese Flüchtigkeit der Erscheinungen es bedingt, daß mit desto innigerer Liebe und Sehnsucht ihnen nachgetrachtet wird." 111 Diese Würdigung des Transitorischen gründet in der Überzeugung, daß gerade hierin sich das Wesen der Natur zeige. Die Natur ist für Carus "das Lebendige schlechthin"112, ein in dauernder Bildung und Umbildung begriffenes Ganzes. Die Wissenschaft ist gehalten, dem organischen Werden der Natur mithilfe der "genetischen Methode" nachzuspüren, "einer Methode, welche ihr Ziel darein setzt, die Natur nicht als ein Beharrendes, Erstarrtes und folglich Totes, sondern als das, was sie ihrem Namen und Wesen nach ist, nämlich als ein stets Werdendes zu erfassen und zu erforschen".113 Die genetische Methode in diesem Sinn setzt die Idee einer Einheit der ganzen Natur voraus. Die Entwicklung individueller Organismen deutet Carus mit Schelling und Goethe nach den Prinzipien der Polarität und Steigerung. Durch das Widerspiel lebendiger Kräfte teilt sich die ursprüngliche Einheit in die Vielheit, geht aus dem Unbestimmten das materiell und gestalthaft Bestimmte hervor. Jede Bildung ist zugleich in sich zielgerichtet, sie steigt auf von der einfachen zur komplexen Organisation. "Jegliche höhere Entfaltung und Ausbildung eines Organismus wird nur erreicht durch die mannigfaltigste Wiederholung des ursprünglichen Bildungstypus, und zwar in immer anderen und höhern Potenzen."114 Die genetische Methode verfolgt diesen Weg zurück: Sie beginnt mit der Beobachtung der gestalteten Naturerscheinungen und ihrer inneren Struktur, untersucht den Wandel der Gegenstände und schließt durch Abstraktion, Vergleichung und Kombination auf das zugrundeliegende einfache Urphänomen. In der Erforschung aller Bereiche des Wirklichen, von der Geologie bis zur Psychologie, soll die genetische Methode angewandt werden. In der Zootomie, Carus1 zentralem Forschungsgebiet, wird die genetische Methode durch vier aufeinander aufbauende Stufen der wissenschaftlichen Tätigkeit repräsentiert: Die deskriptive Anatomie 111 112 113 114
LuD 1,297. Grund, 16. Rez, 497. Grund, 24.
Die morphologisch-genetische Methode
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beschreibt Form und Aufbau ausgebildeter tierischer Lebewesen. Die genetische Anatomie erfaßt den Gesamtorganismus und den Zustand jedes besonderen Organs nach der Geschichte der einzelnen Lebensstadien. Beide Betrachtungsweisen münden in die komparative Anatomie, die durch Vergleichung der Ähnlichkeiten einzelner Bildungen das gesamte Tierreich in natürliche Reihen ordnet. Ergänzt durch "eigene philosophische Erkenntniß"115, werden die empirisch-analytisch gewonnenen Daten synthetisiert in der philosophischen Anatomie; hier erfolgt "die Darlegung des innern Gesetzes der verschiedenen Bildungen, die Nachweisung der verschiedenen Dignität der Formen- und Zahlenverhältnisse in ihnen, wie sie aus einer gerade ihre besondere Erscheinung bedingenden Grund-Idee hervorgehen"116. Die genetische Methode führt damit zuletzt zu der "wichtigen Erkenntnis, daß das Thierreich nur die in Raum und Zeit auseinandergelegte Idee der Thierheit sey, so daß in jeder einzelnen Gattung, ja Art des Thierreichs eine gewisse Seite (...) der Thierheit mit besonderer Entschiedenheit hervortritt"117. Indem die genetische Methode den Zusammenhang der Naturerscheinungen und die Gesetzlichkeit des Gestaltwandels aufweist, belegt sie für Carus die ideale Einheit und Harmonie des Wirklichen. Mit diesem Verfahren bekennt sich Carus zu der morphologischen Betrachtungsweise der Natur, wie sie von Goethe ausgebildet wurde; "in dessen Bestrebungen, die Metamorphose der Pflanzen zu durchdringen und das Geheimnis mancher Skelettbildung zu entziffern" sei ihm "die in der Wissenschaft seitdem mit Riesenschritten weitergediehene genetische Methode zuerst schöner und deutlicher erschienen"118. Goethe stellt auch - für Carus richtungsweisend - den Zusammenhang von genetischmorphologischer Naturforschung und künstlerischer Produktivität her: Es hat sich (...) in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden. Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten."9
Zoo, 5. Ebd. Zoo, 6. GII, 14. Zu Goethes Metamorphosebegriff vgl. Lichtenstern 1990, 1-5; zu Carus' philosophischer Auseinandersetzung mit Goethes Metamorphose vgl. ebd., 13 f. 119 HA XIII, 55. 115 116 117 118
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Wie Goethe rekurriert auch Carus auf die Anschaulichkeit der Erscheinungen. Die genetische Methode setzt ein mit der Betrachtung der individuell-organischen Gestalt. Die Neigung zu dem wissenschaftlichen Verfahren, einen Naturkörper zuerst in seiner Gesamtheit aufzufassen, begründet Carus mit dem ihm eigenen "Trieb, Gegenstände erst ihren Umrissen und endlich ihrer ganzen Gestalt nach künstlerisch nachzubilden"120. Die künstlerische Betätigung selbst - so betont Carus wiederholt bringe der morphologischen Wissenschaft vielfachen Nutzen. Von Beginn an habe er die Kunst mit den "naturwissenschaftlichen Studien (...) Hand in Hand"121 betrieben; das Zeichnen übe den Sinn für Formen und versetze den Forscher in die Lage, Gestaltungsverhältnisse und Metamorphosen festzuhalten. Das Interesse an der Gesamtform individueller Phänomene gründet in einer physiognomischen Deutung der Naturerscheinungen. An der Gestalt zeigt sich - so Carus - die innere Struktur eines Naturkörpers und seine gesetzliche Entwicklung zu einer in sich beschlossenen Einheit; "das Äußere gibt uns die anschauliche Idee des Ganzen"122. Im Hinblick auf diese Bedeutsamkeit der Naturgestalten fordert Carus die "Verbindung von Kunst und Wissenschaft, Behufs der Naturerkenntniß"123. Am Beispiel der Physiognomik der Gebirge führt er aus: Etwas aber findet sich hierbei, was durch Beschreibung gar nicht wiedergegeben werden kann: es ist der Gesammtemdruck, welchen die Form eines Gebirges macht, die eigene Art der Linien, welche seine Umrisse bilden, das Verschmelzende oder Rauhe seiner Erhebungen u.s.w. Hier muß, wie dem Zoologen oder Botaniker zum Behuf der Darstellung des allgemeinen Habitus eines Thieres oder einer Pflanze, die Zeichenkunst zu Hülfe kommen. Wie indeß zur richtigen Auffassung des eigentlichen Charakters eines Thieres nicht eine todte Abformung seiner Umrisse, sondern die lebendige Auffassung eines künstlerischen Auges gehört, so scheint es nur möglich, den eigentlichen Typus und die wahre Eigentümlichkeit eines Gebirges durch eine eigentliche künstlerische Darstellung, mit Einem Worte: durch eine wahrhaft geognostische Landschaft wiederzugeben.124
Die ästhetisch-ganzheitliche Auffassung der Naturgestalt leistet also schon auf der Ebene der Anschauung als erster Stufe der genetischen Methode die für die höchste Ebene angestrebte Synthese von Empirie und Idee. Das künstlerisch ausgebildete Auge abstrahiert bereits in der Betrachtung auf das Wesentliche, Typische, Idealbildliche.
120 121 122 123 124
BLM, 171 f. LuDI, 41;vgl. I, 175. BLM, 174. BLM, 173. BLM, 176.
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Für die Wissenschaft stellt die physiognomische Auffassung eines Naturkörpers, in der ästhetische und wissenschaftliche Interessen gleichermaßen aufgehoben sind, nur den Grundstein dar; sie muß durch immer weitergehende Zerlegung der Phänomene, auch unter Zuhilfenahme technischer Instrumente, zu einer deutlichen Erkenntnis der inneren Struktur wie der Einzelteile fortschreiten. Dieser Punkt markiert eine gewisse Differenz zwischen Goethe und seinen wissenschaftlichen Verehrern im 19. Jahrhundert. Goethes Morphologie basiert auf einer emphatischen Auszeichung der Anschauung. Das Vertrauen auf die Wahrheit der unmittelbaren Sinneserfahrung kennzeichnet Goethes Realismus, der zugleich das Eigenrecht des Empirischen und den menschlichen Standpunkt in der Forschung wahren will. Insofern die Sinnesausstattung des Menschen auf die Wahrnehmung der Natur hm organisiert ist, hat sich die Wissenschaft nach Goethe an den Grenzen des natürlichen Sehens zu bescheiden. Die morphologische Erfassung der Struktur von Phänomenen beschränkt sich auf die Teilung in anschaulich wahrnehmbare untergeordnete Einheiten; die Naturforschung ist damit auch durchgängig ästhetisch ausgezeichnet. Carus dagegen ist - wie auch Alexander von Humboldt125 - insofern Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, als Mikroskop und Teleskop für ihn selbstverständliche Hilfsmittel einer fortgeschrittenen Naturforschung darstellen. Dennoch versteht und teilt er Goethes 'menschliche' Perspektivierung der Forschung, die es allerdings mit dem historischen Stand der technischen Entwicklung und der wissenschaftlichen Erkenntnis zu vermitteln gilt. In diesem Sinn kommentiert er mehrfach Goethes Ablehnung einer instrumentellen Beobachtung: Wir selbst, wie alle Theile des Weltbaues, sind nun einmal in steter Bewegung, fort und fort treibt uns die Zeit und die weiterschreitende Entwicklung des Menschheitslebens, und so können wir vieles nicht ablehnen, was noch minder, als dieses [durch wissenschaftliche Hilfsmittel, JMT] gesteigerte Schauen des Unendlichen, der innern Harmonie des Lebens gemäß ist, und sollen es nicht, weil wir somit auch in dieser Richtung zu immer höherer Anschauung entwickelt werden.126
Indem sich Goethe als dilettierender Forscher von den Methoden der exakten Wissenschaft weitgehend distanziert habe, "so erhielt seine Art der Naturforschung etwas vom Sinne des Altertums und lag schon eben dadurch einer poetischen Anschauung der Natur näher."127 Für Carus
125 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Wissenschaftslehren Goethes und Humboldts vgl. Linden 1942, Schneider-Carius 1959. 126 BEL, 66. 127 G II, 125.
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geht es darum, eine solche poetische Anschauung der Natur im Durchgang durch detaillierte und exakte Naturerkenntnis zu gewinnen.128 Die Art und Weise, in der Carus die modernen experimentellen und instrumenteilen Verfahrensweisen mit dem menschlichen Standpunkt in der Naturforschung verbindet, ist bezeichnend: durch deren ästhetischgefühlsmäßige Auffassung. Die technisch fundierte Empirie, mit einer distanzierten und objektivierenden Naturauffassung verbunden, wird hier ästhetisch ausgezeichnet und nicht zuletzt dadurch einer spekulativen Deutung verfügbar gemacht. So beschreibt Carus das Experiment zur Herstellung von Elektrizität im luftleeren Raum als "zierlichen leuchtenden Versuch", dessen Erscheinung "einem kleinen Wasserfall zarten luftig blauen Feuers vergleichbar"129 sei. Der Blick durch das Teleskop vermittelt einen ästhetischen Genuß. Wir sehen "nicht etwa nur monotone gleichmäßige Wiederholungen einer und derselben Sternform, (...) sondern (...) eine große Mannichfaltigkeit von mehr und weniger entwickelten Gebilden"130. Erst die teleskopische Beobachtung bezeugt, "daß jenes durch die ganze Natur überall sich bestätigende Gesetz, daß einförmige Regelmäßigkeit der primitiven geometrischen Formen immer bis auf einen gewissen Grad vernichtet werden müsse, wenn höhere Schönheit hervorgehen solle, insbesondere auch von den Verhältnissen der Weltkörper gelte"131. Wir beobachten die "ausschweifenden Bahnen" von Kometen und die "kosmischen Massen leuchtender ätherischer Nebel"132; wir unterscheiden die Physiognomien der Mondgebirge mit der "sonderbaren, kegelförmigen Gestalt ihrer Bergspitzen"133 und gewinnen so das "Bild des reichsten organischen Lebens"134. Durch die ästhetische Überhöhung des technisch entgrenzten Blicks wird die spekulativ gewonnene Idee des Naturorganismus bestätigt. Die Apparate des Sehens distanzieren nicht etwa den Beobachter vom Objekt, sondern nötigen zu einer Haltung enthusiastischen Ergriffenseins, zu überschwenglichem Staunen. Insbesondere das Mikroskop erschließt eine Welt verborgener Schönheiten: Es ist Jedem, der die Natur mit geisteslebendiger Anschauung aufzufassen gewohnt ist, in vollem Maaße zu gönnen, daß er einmal dazu gelange, dies wunderbare Geschöpf 128 Umgekehrt beruft sich Carus daher gegen die zunehmende Verabsolutierung mikroskopischer Detailanalysen auf Goethes ganzheitliche Gestaltschau (vgl. LuD III, 132 f.). 129 BEL, 287. 130 BEL, 67. 131 BEL,98. 132 Nul, 24. 133 BLM, 177. 134 BEL, 113.
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(Volvox globator) mittels eines guten Mikroskops genau zu beobachten. Der Anblick dieser im Wasser oscillirend und rotirend dahinziehenden grünen Hohl-Sphäre, in welcher eine oder zwei künftige Generationen schon erblickt werden, behält auch für den kältesten Beobachter etwas, das an den Anblick des gestirnten Himmels mit seinen dahinrollenden leuchtenden Sphären erinnert.133
Die Zusammenschau des Großen und Kleinen, der visuell stimulierte Vergleich des Universums mit der mikroskopischen Welt der Infusionstierchen evoziert die Vorstellung kosmischer Einheit. Immer wieder werden so künstlich erzeugte Phänomene und instrumenteil vermittelte Bilder durch die ästhetische Auffassung in eine ganzheitlich-spekulative Naturbetrachtung integriert. Prinzipiell ist dieses Verfahren aus der Physikotheologie des 18. Jahrhunderts und der von ihr inspirierten Naturpoesie der Frühaufklärung bekannt. Barthold Heinrich Brockes und Albrecht von Haller etwa hatten technisch-empirische Erkenntnis und ästhetische Aneignung der Natur aufeinander bezogen und mit einer letztlich religiösen Sinngebung der Wissenschaft verbunden. Carus behält - mutatis mutandis - diese Strategie bei. Wohl distanziert er sich vom traditionellen monotheistischen Glauben und von der streng theologischen Deutung der Natur; dennoch bedient er sich des Mediums ästhetischer Wahrnehmung und literarischer Darstellung von Natur, um die Spannung zwischen instrumentenvermittelter Empirie und einer ideell fundierten Naturauffassung aufzulösen. Tatsächlich greift Carus hierzu auch konkret auf Sprache und Motivwelt der Physikotheologie zurück. Die Faszination durch das Mikroskop, die besondere Aufmerksamkeit für das Kleine und Geringe, Staunen und Begeisterung angesichts der bislang unbekannten Welten, der Anspruch auf Entdeckung kosmischer Gesetzmäßigkeiten im Kleinen, die Rückversicherung der wissenschaftlichen Empirie im Glauben und der Lobgesang auf Schöpfer und Schöpfung in feierlichgehobenem Tonfall: All dies sind Merkmale des physikotheologischen Schrifttums, die bei Carus auftauchen. Gelegentlich - wie im folgenden Zitat - erscheinen sie miteinander vereint: Ich studierte neulich ein schönes Werk über 'Die Radiolarien' von Dr. Haeckel, worin die wunderbarsten und prächtigsten, aber freilich nur mikroskopisch sichtbaren Organisationen beschrieben und abgebildet sind. Herrlich gegliederte, aus Kiesel-Kristallbildungen merkwürdig aufgebaute Skelette erscheinen hier neben zartester Beweglichkeit und Empfindlichkeit feinster Weichgebilde, und alle diese Wunderwesen erfüllen das Meer um Messina in solcher unermeßlicher Menge, daß die Hand des Forschers nur etwas von dem Wasser zu schöpfen braucht, in welchem eine scheinbar formlose Gallerte an der Oberfläche schwimmt, und sofort wird das Mikroskop darin Millionen von Geschöpfen nachweisen können, welche früher noch nie von Menschen erblickt wurden, obwohl
135 Nul, 227.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" Tausende und Abertausende seit Jahrhunderten diese Meere befahren haben. - Waren nun etwa diese Prachtgebilde deshalb an sich weniger wert und weniger wunderbar, weil bis dahin niemand sie kannte und niemand sie beachtete? Mir sind solche Dinge nach dem alten biblischen Ausdrucke stets ein besonderer Finger des Herrn. Denn wenn in einem Schleim des Meeres, tief mikroskopisch verborgen, solche Schönheit und Weisheit millionenfach verstreut, ja, gewissermaßen verschwendet ist und doch auch da alles prachtvoll nach Gesetz und Ordnung sich bildet und lebt, wie sollte, wie könnte es dann an einer Weltregierung fehlen, welche ebenso das Leben aller Menschen durch und durch nach göttlichem Recht herrlich leitet und treulichst überwacht?136
Die Pikanterie dieser Notiz beruht darauf, daß es sich bei der Schrift, die Cams' physikotheologisch inspirierte Hymne auf die Wunderwelt der Mikroskopie auslöst, um das Erstlingswerk des nachmals berühmten Radikal-Darwinianers Ernst Haeckel handelt. Die Monographie über die meerbewohnenden Strahlentierchen, mit der sich der junge Haeckel in der zoologischen Fachwelt einen Namen machte, enthält zugleich dessen frühestes Bekenntnis zur Evolutionslehre.137 Ob Carus das weitgehend in einer Anmerkung versteckte Plädoyer für "Darwins geniale Theorie"138 überlesen hat, oder ob er mit seinem Kommentar bewußt darauf reagiert, mag dahingestellt bleiben. In jedem Fall ist die zitierte Stelle bezeichnend: In ihr verdichtet sich der Zwiespalt von Carus' wissenschaftlichem Denken, das fortgeschrittene Empirie und Tradition zu vermitteln sucht. Die Kluft zwischen ganzheitlicher, letztlich religiöser Naturauffassung und der technisch bestimmten Wissenschaft mitsamt ihren atheistischen Konsequenzen war nur literarisch, hier durch die rhetorischen Formeln der Physikotheologie, zu schließen. Der Rückgriff auf Motivwelt und Sprache der Physikotheologie markiert den Versuch, die technischoptische Kultur der autonomen Wissenschaft ästhetisch zu überhöhen und dadurch einer naturphilosophischen Orientierung zuzuführen. Was am Anfang des Kapitels als Grundzug von Cams' Wissenschaftsentwurf herausgestellt wurde, gilt also insbesondere für seine Haltung zu instrumenteilen Verfahrensweisen: Auch dem 'bewaffneten' Auge dient die ästhetische Erschließung der Natur als Brücke zwischen Physik und Metaphysik. Carus1 Wissenschaftslehre basiert auf der Überzeugung, daß die Vermittlung konträrer Ansätze und Methoden nicht nur möglich, sondern notwendig sei.139 Die wissenschaftlichen Operationen der Isolierung und 136 137 138 139
LuD V, 61 f. Haeckel 1862,231-233. Haeckel 1862, 232 (Anm.). Noch seine späten, im engeren Sinn naturphilosophischen Schriften begreift Carus nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung der fortgeschrittenen exakten Naturwissenschaft. In der Einleitung zu "Natur und Idee" von 1861 schreibt er: "Mögen denn auch diese meine Bestrebungen eine günstige Aufnahme finden, und beitragen, den Blick eben so für die
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Zerlegung des Einzelgegenstandes, der Vergleichung, Reihung und Ordnung der Phänomene, auch messende, experimentelle und statistische Verfahrensweisen sind in der genetischen Methode aufgehoben. Die empirisch-analytisch gewonnenen Befunde bedürfen einer philosophischen Synthese, und diese ist wiederum ästhetisch ausgezeichnet. Schon die Schaffung eines wissenschaftlichen Lehrgebäudes fällt für Carus in den Bereich der Kunst.140 Selbstverständlich legt Carus seiner Methodenlehre einen erweiterten Begriff von Kunst und Kreativität zugrunde; "auch in der scheinbar trockensten und schärfsten Construction des Verstandes und der Vernunft", so heißt es in der "Psyche", wirke "ein künstlerisches schaffendes Princip".141 Die philosophischästhetische Integration wissenschaftlicher Einzelbefunde bezeichnet den Punkt, an dem "anhaltende Receptivität" umschlägt in "Productivität"142. Die Bedeutung der Gesamtform natürlicher Körper wird nun auf höherer Ebene aufgegriffen. Die gesuchte ideale Einheit erscheint als Typus anschaulich sichtbar. Im Hinblick darauf stellt Carus den Zusammenhang zwischen seinen anatomischen Forschungen und der plastischen Produktion der Antike her: "Die Freiheit und die Abstraction in diesen Werken"143 entspricht seinem wissenschaftlichen Bestreben, das Typische der Naturgestalten als allgemeinen Ausdruck ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen. "Am meisten war mir wissenschaftlich der strenge einfache Kanon, gleichsam nur das Schema der Menschengestalt (...) merkwürdig."144 Die ästhetische Qualität dieser morphologisch-idealgenetischen Erkenntnismethode zeigt sich weiterhin - mit Goethes Worten - in der Tätigkeit der "exakte(n) sinnliche(n) Phantasie"145, die jene "gewisse Kluft"146 zwischen Idee und Erfahrung, zwischen urbildlicher Konstruktion und der beobachtbaren, sich wandelnden Einzelgestalt überbrückt. Eine solche an den sichtbaren Phänomenen orientierte Einbildungskraft hat auch Carus im Sinn: Gewiß war es sehr natürlich, daß nun auf solche trennende analytische Tendenz die nachfolgende einigende synthetische nicht ausblieb, und nur daß diese Einigung in rechter Weise aufgefaßt werde. Das war es, was nicht blos einen umsichtigen Verstand forderte.
140 141 142 143 144 145 146
ideelle Beziehung der natürlichen Dinge zu schärfen, wie Mikroskopie und Mikrochemie ihn neuerlich für deren materielle Seite aufgeschlossen haben." (Nul, VI). Vgl. BLM, 36. PS, 364. LuDI, 113. LuDI, 221. LuDI, 229. HA XIII, 42. HA XIII, 31.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" sondern nur durch die Kraft einer thätigen, aber gesund und rein fortbildenden, nicht regellos umherschweifenden Phantasie bewerkstelligt werden konnte.147
Nur durch eine "gewisse Biegsamkeit der Phantasie"148 können wir die sukzessive Realentwicklung der Naturkörper als gleichzeitige ideale Einheit begreifen. Dabei verlangt Carus einen reflektierten Gebrauch der Phantasie - im Wissen um den "Bruch"149, der in jeder wissenschaftlichen Konstruktion zuletzt übrig bleibt. Das empirische Material muß die subjektive Produktivität beschränken und leiten. Mit der Rückbeziehung der sinnlich wahrzunehmenden Mannigfaltigkeit auf den Typus gewinnt die Wissenschaft die Höhe der Kunst. "Jenes Wiedererschaffen, jenes Nachahmen einer ewig fortwährenden Weltschöpfung, jene freie Pro- und Reproduktion des Kunstgenius"150 wird analog in der Wissenschaft vollzogen: "Wir lernen der Natur in ihrem Gange, den wir sinnlich wahrnehmen, auch geistig nachfolgen"151. Wie die Kunst, so bezieht sich die höchste, spekulative Wissenschaft auf die schaffende Natur; aus der erschlossenen Einheit kann sie die Welt geistig neu entstehen lassen.
4. Naturgenuß und Naturerkenntnis Die Ausrichtung auf die physiognomische Erscheinungsweise der Naturgegenstände, die als Grundlage der morphologisch-genetischen Methode bestimmt wurde, impliziert auch die eigentlich ästhetische Wirkung der Natur als Landschaft. Carus stellt diesen Zusammenhang wie folgt her: ...ich verstand nun noch bestimmter als früher, warum dann, wenn ich z.B. das Wesen der Pflanze im einzelnen und in ihren verschiedenartigsten Gattungen zu erforschen bemüht gewesen, der Anblick von Wiesen und Wäldern - als massenhafteste Zusammenstellung unzähliger einzelner Pflanzen - gerade mit umso tieferm poetischen Gefühl mich durchdrang. Geschah es doch unbedingt aus keinem ändern Grund, als weil dasselbe, was dort zuerst nur in einzelnen Tönen vernehmbar geworden, hier sofort in weitgreifenden Akkorden und in allumfassenden Harmonien mir entgegenrauschte.132
Die Landschaft wird begriffen als bedeutsames, stimmiges, in sich strukturiertes Ensemble, das auf das Ganze der Natur verweist. Diese physiognomisch-kosmologische Landschaftsauffassung bildet die Grundlage der 147 148 149 150 151 152
G IV, 71 f. (Hervorhebung getilgt, JMT); vgl. BEL, 118, 155, 157; SdPh I, 69. BEL, 119. PS, 15. BLM, 17. Anf, 8. LuDI, 182.
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'klassischen deutschen Geographie1, wie sie von Alexander von Humboldt, Carl Ritter und Georg Ludwig Kriegk vertreten wurde. Mit dem leitenden Erkenntnisziel, eine gegebene Landschaftsphysiognomie als Substrat der ganzen Natur zu erfassen, wird die ästhetische Landschaftserfahrung, der "Totaleindruck" einer Gegend, zum wichtigen Bestandteil der erdkundlichen Forschung.153 Auch für Carus konvergieren Landschaftserleben und höchstes wissenschaftlich-philosophisches Erkenntnisinteresse: In der sinnlichemotionalen Zuwendung zur Natur ist das, "was sonst nur geistig erschaut wird, (...) beinahe dem körperlichen Auge erreichbar (...), nämlich die Überzeugung der Einheit in der Unendlichkeit des Alls"154. Die kosmologische Anschauung des Naturganzen aktualisiert sich in der ästhetischen Betrachtung: Erst wenn man in der weiten, großen Natur der Oberfläche des Planeten das lebendige geistige Princip erkannt oder mindestens geahnt hat, bekommt ja alle Scenerie der Landschaft einen hohem und mächtigeren Sinn; erst von da aus verstehen und empfinden wir das geistige Band, welches die Regungen und Umgestaltungen des äußern Naturlebens an die Gefühlsschwankungen unseres Inneren fesselt (...). War mir doch selbst erst bei Betrachtungen dieser Art klar geworden, warum in mir naturwissenschaftliche Studien und jene künstlerischen Bestrebungen so eng Hand in Hand verflochten waren...135
Die Empfindung der landschaftlichen Schönheit ist so die subjektive (nach Carus gleichwohl gültige) Beglaubigung des wissenschaftlichen Bestrebens, die erfahrene und analysierte Realität auf ihre ideale Einheit zurückzuführen. Die ästhetisch-erlebnishafte Zuwendung zur Landschaft erfaßt die gegenständliche Natur als sinnhaft und harmonisch; sie bestätigt umgekehrt die spekulativ angenommene Einheit an der konkreten Natur. Sie wird damit zum konstitutiven Bestandteil einer Wissenschaft, die auch in der trennenden und zerlegenden Analyse "das Bild des Ganzen (...) gegenwärtig "156 halten will. Daher vertritt Carus die Auffassung, daß Naturgenuß und Naturerkenntnis nicht nur vereinbar sind, sondern sich wechselseitig bedingen. Wie irrig es sei, daß das schärfere Wissen die poetische Wirkung im Ganzen störe, erfuhr ich schon damals [zu Studienzeiten, JMT]. Nach Meinung derer, welche nur auf dem Dunkel der Unkenntnis den Regenbogen der Kunst und Poesie leuchtend glauben, hätte 153 Mit dieser landschaftsphysiognomischen Ausrichtung wird die Geographie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur bevorzugten Disziplin, in der ästhetische Auffassung und wissenschaftliche Erkenntnis der Natur einander durchdringen und auch programmatisch zusammengeführt werden. Vgl. hierzu Müller-Tamm 1991, 95-110; Hard 1964. Zum Landschaftsbegriff der klassischen deutschen Geographie vgl. auch Hardl969b, Hard 1970. 154 BLM, 37. 155 LuDI, 181 f. 156 BLM, 171.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" mir sollen Flur und Hain verleidet werden, nachdem ich gelernt hatte, in welche Klasse die Gräser und Büsche und Bäume gehörten und wie ihre Blüten gebaut waren, und wie sie keimten und reiften, sie, die ich sonst nur massenweise aufgefaßt hatte; aber es war keineswegs so: sie behielten nicht nur die Wirkung ihrer gesamten Schönheit, sondern die Bewunderung der Gesetzmäßigkeit ihrer Gliederung und der Reihenfolge ihrer Entwicklung ließ mich sie nun auch im Ganzen noch weit schöner und anziehender finden als vorher.157
Der Naturgenuß wird - so Carus - durch wissenschaftliche Kenntnis gesteigert. Und vice versa: Jede echte Naturforschung gründet in der Empfindung der Naturschönheit. Jedenfalls das glücklichste Organ für allgemeine Auffassung der tiefern Bedeutung der Naturerscheinungen bringt Derjenige mit, der gesunden und offenen Sinnes von Jugend auf sich gern in frischer Welt bewegt und, indem er lebendig den Reiz der Schönheit der Natur empfand, den Sinn für irgend eine andere Seite ernster Wissenschaft und zugleich innige Freude an dem Schönen der Kunst, in sich sorgsam und treu gehegt hat.158
In der Geschichte seiner naturwissenschaftlichen Interessen und Bestrebungen, die Carus in den Lebenserinnerungen skizziert, weist er dem frühen Naturerleben im "wilden Rosenthal" bei Leipzig eine grundlegende Rolle zu.159 Zeit seines Lebens gewährt ihm der Aufenthalt und das Zeichnen in der Natur "Erquickung und neue Lust auch zu (...) wissenschaftlichen Arbeiten"160. Der Genuß ästhetischer Natur motiviert das Interesse an ihrer wissenschaftlichen Erforschung. Vom Naturwissenschaftler wie vom Landschaftsmaler fordert Carus die vorurteilslose und unbeschränkte Zuwendung zur ästhetischen Natur; "denn wer sich gewöhnt, die Natur durch fremde Gläser zu betrachten, dem wird sie nie in ihrem eigensten Gewände erscheinen, und am wenigsten wird sie ihm den Schleier lüften, daß er eindringe in ihre Geheimnisse"161. Allerdings - dies sei am Rande bemerkt - ist Carus1 Naturerfahrung so unmittelbar und so unvoreingenommen nicht.162 Auch 157 LuD 1,38; vgl. BEL, 165. 158 BEL, 6 f. Vgl. BEL, 244: "...so mag (...) das Bewundern der uns vor Augen gelegenen Schönheiten und Merkwürdigkeiten uns nach und nach zu immer tiefern Bedenken und Erkennen der Erscheinungen fuhren!" 159 LuD 1,20 f., 146 f. 160 LuDI, 161. 161 BLM, 135. Der Ausdruck "die Natur durch fremde Gläser betrachten" - hier allgemein auf eine durch vorgängige Kunsterfahrung geprägte Naturwahrnehmung bezogen - ist eine Anspielung auf die im 18. Jahrhundert verbreiteten "Claude-Gläser": kleine, konvexe Spiegel mit getöntem Grund und einem Rahmen, auf denen sich die natürliche Landschaft als Lorrain'sches Gemälde abbildete. 162 Dies deutet bereits v. Sydow an: "Seine voraussetzungsvolle Weltanschauung ließ ihn eine Auswahl treffen, wie sie ihrem System gemäß war. Die Szenerie, wie sie dergestalt vor uns sich aufbaut, sucht die bedeutenden Gesichtspunkte auf, von denen aus gesehen die Natur einen machtvollen Eindruck abgibt." (Sydow o.J., 21).
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seine Wahrnehmungserlebnisse erscheinen vorgeformt durch bildkünstlerische und literarische Muster. Auf seiner ersten Italienreise ruft Carus vor Genua aus: "Endlich öffnet den erstaunten Blicken sich wirklich die niegesehene Scene! Die schönsten Bergformen in Duft gehüllt und doch in den Umrissen klar durchschimmernd; das Meer gleich einer fernen blaulichen Wolke hinter den Bergen schwebend!"163 Diese Szene hatte Carus zwar nie gesehen, wohl aber war sie ihm bekannt. Es ist die "dunstige Klarheit"164, die "duftige Durchsichtigkeit"165 aus Goethes Italienischer Reise, die Carus hier wiederfindet. Ähnlich läßt sich die 'Entdeckung der Linie1 während seines ersten Aufenthalts an der Nordsee als Stilisierung nach Goetheschem Vorbild begreifen. Hatte Goethe auf der Überfahrt von Neapel nach Palermo berichtet, daß ihm "als Landschaftsmaler (...) diese große, simple Linie ganz neue Gedanken gegeben"166 habe, so gewinnt Carus angesichts des Meerhorizonts "das vollkommenere Verständnis dessen, was man in der Zeichnung die Linie nennt"167. Wiederholt zeigt sich, daß Carus das Schema klassischer Landschaftsmalerei an die Natur anlegt. So weist er selbstverständlich jenen durch die Landschaftskunst vorrangig nobilitierten Gegenden um Rom Campagna, Nemisee, Albanersee und -gebirge - einen alles überragenden Stellenwert zu: "An eigentlich im höchsten Sinne malerischer Schönheit landschaftlicher Natur möchte ich wohl diese Gegend (...) für das erste von allem, was ich gesehen, erklären."168 Dort, wo die Kluft zwischen ästhetischem Formideal und realer Landschaft zu groß ist, fühlt sich der reisende Carus unbefriedigt. Was mich betraf, so fühlte ich mich im Innersten schwermüthig gestimmt. Es war so vieles da und fehlte doch so vieles! Die Gegend so hübsch sie ist hat durchaus die Bedeutung einer Uebergangsgegend. Laibach ist die am südlichsten gelegene Stadt, wo noch deutsch gesprochen wird; ihrem Breitengrade nach (...) sollte das Klima völlig italienisch sein, aber ihre beträchtliche Höhe (...) wirkt wieder störend ein und bedingt die vorherrschende Nadelwaldung. So ist denn die südliche Sonne da, aber Pinien, Feigen, Cypressen und Wein suchst du vergebens (...) Selbst die hohen Alpenzüge in der Nähe, so schön ihr Farbenschimmer - ihre Zeichnung stimmt nicht zu den Formen, die uns im
163 LuDII, 93. 164 HA XI, 231. 165 H A XI, 384. Goethes Entdeckung der "dunstigen Klarheit" als Charakteristikum der italienischen Landschaft geht ihrerseits zurück auf die Kenntnis der Landschaften Claude Lorrains und ihrer zeitgenössischen Auffassung in Gemäldebeschreibungen (vgl. Hard 1969a). 166 HA XI, 231. 167 LuD 1,268. 168 Italien I, 286.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung" Nahen umgeben - kurz ich fühlte mich einsam, unbefriedigt, keine Stimmung, so wenig als irgendeine Lust zum Zeichnen dieser Formen wollte kommen.169
Hier - wie andernorts auch - sucht Carus die Blickpunkte, von denen aus sich die Landschaft als Bild darstellt: "Die Aussicht vom Burgberge über Stadt und Umgegend könnte man schön nennen (...). Dagegen sind die Linienverhältnisse all dieser Umgebungen auch von hier aus gesehen nicht so rein und schön, wie sie einem Bilde eignen."170 Mit anderen Worten: Der durch die Standards italienischer Ideallandschaften vorgegebene Erwartungshorizont wird hier nicht erfüllt. Allerdings erschöpfen sich Carus1 Naturerlebnisse und deren Wiedergabe - trotz der merklichen Prägung durch vorgängige Kunsterfahrung nicht in bloßer Konventionalität. In den Schilderungen etwa von Natureindrücken aus den ihm vertrauten Gegenden um Leipzig und Dresden dominiert ein an die unmittelbare Wahrnehmung anknüpfendes Farbensehen und eine in den aktuellen sinnlichen Empfindungen verwurzelte Stimmungshaftigkeit. Carus selbst kommt verschiedentlich auf die Bedeutung von Kunsterfahrung für die ästhetische Auffassung der Natur zu sprechen. Kunst erschließe den "Sinn für die Natur"171; die Landschaftsmalerei lehre, "die Natur an sich als ein Bild"172 zu erfassen. Selbstverständlich geht es Carus hier nicht um die Übernahme vorgeprägter Wahrnehmungsmuster und normierter Wertungen. Vielmehr will er den Anteil des Subjekts an der Konstitution des Gegenstandes Landschaft bestimmen: Erst dem ästhetisch eingestellten Auge fügt sich Natur zur Landschaft. Der Landschaft wird also einerseits ein objektiv-geistiger Charakter zugesprochen; jegliche Naturschönheit bestimmt Carus ontologisch als Erscheinung göttlichen Wesens. Zugleich bedarf die sinnliche Konkretion ästhetischer Natur als Landschaft der einheitsstiftenden Phantasie des Betrachters. Die ästhetische Einstellung zur Natur erfordert ihrerseits eine weitere Voraussetzung, nämlich eine zweckfreie, nicht auf Verwertbarkeit ausgerichtete Naturbeziehung. Es liegt eine gewisse Abstraction und Selbstaufopferung darin, die Außenwelt, früher nur das Element für unsere Thätigkeit, auch an und für sich als etwas Schönes und Erhabenes gelten zu lassen; es liegt ein gewisser Grad philosophischer Ausbildung darin, einzusehen, oder wenigstens zu ahnen, daß die gesamte Erscheinung der Natur die Offenbarung einer durchaus nicht menschlich zu vereinzelnden, sondern vielmehr den Sinnen unzugänglichen, unendlich erhabenen alleinigen Gottheit sei, demnach aber auch in dem Weltganzen überhaupt und in den uns wahrnehmbaren Theilen desselben insbesondere die 169 170 171 172
LuD III, 27. LuD III, 32. BLM, 63. LuD II, 249.
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hohe Schönheit an und für sich anzuerkennen und zum Ziele künstlerischer Nachbildung zu wählen. Kurz es wird hier gefordert, daß der Mensch die egoistische Beziehung der ganzen Natur auf sich völlig aufgebe und eine reine Anschauung der Schönheit des Weltganzen in sich aufnehme.173
Wenn Carus für die Forschung eine solche ästhetisch-kontemplative Haltung vor der Natur fordert, so zielt dies in letzter Hinsicht auf ein Wissenschaftsethos, das die Natur als Subjekt gelten läßt. Entschieden wendet er sich gegen die "analytisch inquisitorische"174 Unterwerfung der Natur, gegen eine auf Beherrschung und technische Verwertbarkeit ausgerichtete Wissenschaft. Der Naturforscher im Carus'schen Sinn begegnet der lebendigen Totalität der Natur mit "Ehrfurcht"175 und "Andacht"176. Mir scheint (...) die eigentliche Achtung gegen die Natur keineswegs blos in sinnlicher Neigung zu der Lust, die sie uns bietet zu bestehen, sondern vielmehr in jener heiligen Scheu, jenem innern geheimen Schauer, mit welchem wir, dafem wir ihrer würdig sind, alles und jedes reine Wirken der Natur auffassen: jenes Wirken, in dem nichts so klein, gering oder gemein ist, daß es uns nicht mit wahren Achtung, ja Bewunderung erfüllen sollte...177
Die Natur wird so zum Gegenüber, mit dem der Forscher in Dialog tritt. Einem solchen 'kommunikativen1 Zugang entdeckt sich die Natur von selbst; die "poetisch-lebendige Auffassung"178, so betont Carus am Beispiel von Kepler, gewinnt Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Natur: Wer von einer lebenvollen, reinen und gesunden Naturauffassung überhaupt ausgeht, dem werden wenn er diese Auffassung wieder auf neue Weise anwendet, ungesucht, gleich Jemandem, der ein reines und gutes Fernglas im Kreise um sich herbewegt, immer neue und unerwartete Gegenstände erscheinen, so auch stets unerwartete, neue und schöne Resultate sich darstellen, während dem, der von einer ertödtenden und stückweisen Naturbetrachung anhebt, nur Lückenhaftes, Unzulängliches und Unfaßliches entgegentreten wird.179
Carus plädiert für eine Wissenschaft, die der in romantischem Sinne als lebendig und sprechend aufgefaßten Natur gewissermaßen "zum Ausdruck verhilft' und nicht über sie verfügt. Dieses ethische Moment ist der Kernpunkt der als Zusammenführung von Poesie und Naturforschung konzipierten Wissenschaftslehre.
173 174 175 176 177 178 179
BLM, 83 f. Ph, 1. BEL, 46. BLM, 143. LuDII, 297. BEL, 93. BEL, 276.
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5. Die Subjektivität des Forschers Carus1 Wissenschaftsethos beinhaltet eine psychologische Bestimmung des Forschertypus, die sich von dem neuzeitlichen Bild des Wissenschaftlers radikal unterscheidet. Grundlegende Bedingung des modernen wissenschaftlichen Bestrebens, die Natur im mathematisch-logischen Kalkül zu erfassen, ist die vollständige Trennung von Beobachter und Beobachtetem, von forschendem Subjekt und Natur-Objekt. Die "Bildung des wissenschaftlichen Geistes" setzt - um mit Gaston Bachelard zu reden - eine "intellektuelle und effektive Katharsis"180 voraus. Die konkrete, natürliche, unmittelbar erlebte Erfahrung einer vorgegebenen Natur weicht der instrumentenvermittelten und experimentellen Erfahrung, die ihren Gegenstand bewußt auswählt bzw. allererst konstruiert. Wissenschaftliche Erkenntnis in diesem Sinn setzt die Absage an das Alltagswissen voraus. Damit wird das Subjekt wissenschaftlichen Handelns vom Subjekt der Lebenswelt getrennt. Die Wissenschaft appelliert allein an die rationale Intelligenz; alle anderen Vermögen und Kräfte des Menschen werden als Störfaktor im Erkenntnisprozeß begriffen. Bachelard beschreibt den Wandel vom vorwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen Geist psychologisch als Übergang vom "kindlichen" zum "professoralen Gemüt"181, von naiver Neugier, Staunen und Passivität zu abstrakter Erkenntnis, Aktivität und Distanz im Verhältnis zur Natur. Der neutrale unpersönliche Beobachter wird zum Idealbild des Wissenschaftlers. Carus' Programm einer ästhetisch geprägten Naturforschung bezieht dagegen, wie wir gesehen haben, die Dimension des Subjektiven bewußt mit ein. Gefühl und produktive Einbildungskraft, ästhetisches Forminteresse, Schaulust und Naturerleben, Leidenschaft für das wissenschaftliche Arbeiten und das ethische Moment der Achtung vor der Natur - all dies sind zentrale Bestandteile der Carus'schen Wissenschaftskonzeption. Keineswegs jedoch will Carus damit einer subjektivistischen Naturforschung das Wort reden: So (...) ist in unserer Zeit ein bedeutendes Werk, eine wissenschaftliche Arbeit etwa dann gerade am reinsten und vollendetsten, wenn sie von der individuellen Stimmung des Geistes, aus dem sie hervorging, am meisten sich freihält, wenn sie vielmehr rein und großartig allein den Geist der Wissenschaft selbst athmet.182
Objektivität ist ein Leitwert auch der Carus'schen Wissenschaftslehre. Die Farbentheorie Goethes gilt Carus als Beispiel dafür, wie das 180 Bachelard 1984, 53. 181 Bachelard 1984, 42 f. 182 M, XI.
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Vorherrschen der Individualität zu Einseitigkeit und Irrtum in der Forschung fuhrt. 183 Er hält dem die Notwendigkeit einer öffentlichen Diskussion und des wechselseitigen Eingehens auf verschiedene Methoden und Ergebnisse der Forschung entgegen. Wissenschaftliches Handeln ist für Carus von vornherein auf Intersubjektivität angelegt und angewiesen: "In wissenschaftlichen Dingen ist eine klare, ruhig durchgeführte Polemik bekanntlich nur zu oft das Mittel, der Erkenntnis des Wahren näher zu rücken"184. In diesem Sinn spricht er auch von einem "höhern und rechtmäßigen Socialismus der Wissenschaft"185. Es liegt Carus also fern, die Wissenschaft in singuläre Erfahrungen und individuelle Ansichten auflösen zu wollen. Wenn er für eine ästhetisch-subjektiv geprägte Wissenschaft plädiert, so richtet sich dies gegen die Trennung des Menschen von der Natur im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß, oder anders formuliert: gegen das psychologische Profil des Forschers, das die moderne Wissenschaftslehre vorschreibt. In Opposition zum Bild des distanzierten Beobachters, zu einer Wissenschaft im "ernsten und trockenen Gewand"186 setzt Carus das Ideal des naturliebenden, begeisterten Forschers, der nach Vertrautheit mit der Natur strebt. Seine Vorstellung von Objektivität zielt nicht auf emotionale Abstinenz, sondern auf eine Art Läuterung der Persönlichkeit; sie beinhaltet die Forderung, daß der Forscher "sich frei mache von dem, was an ihm blos zufällig und nicht rein menschlich, was blos seine Meinung, seine Neigung ist"187. Das Gebot, den Standpunkt unmittelbarer Alltagserfahrung mit seinen partikularen Interessen zu überwinden, fügt sich zunächst in die allgemeine seelendiätetische Forderung nach Bändigung des Subjektiven und Extremen. Der Wissenschaftler soll darüberhinaus im Bewußtsein, Teil der Natur zu sein, forschen; er soll die Natur in Beziehung zu sich auffassen, ohne darum seine Individualität ins Zentrum zu stellen.
183 "Bei Goethe ist diese Neigung das seiner Natur Zuwiderlaufende soviel möglich unbedingt abzulehnen, auch die Erklärung davon, daß er in Polemik sich nie eingelassen hat." Nach Carus hätte es "Goethe selbst gewiß, zumal in seiner Farbentheorie, vor mancher Einseitigkeit und manchem Irrtum der Auffassung und Erklärung der Phänomene bewahrt, wenn er auf Entgegnungen und Widerspruch hier und da wirklich eingegangen wäre; allein in ihm war das Bedürfnis des Ausbaues seiner eigensten Individualität zu mächtig, und wiederum war diese Individualität selbst so bedeutend und außerordentlich, daß ganz mit Recht er alles ablehnen durfte, was ihrer Entwicklung insbesondere minder angemessen erschien." (G II, 107 f.) Vgl. auch G IV, 74. 184 G II, 107. 185 LuDII, 183. 186 LuDI, 197. 187 BLM, 91.
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Soweit findet sich in Cams' Psychologie der Wissenschaft mehr Programm denn Theorie. Über das Postulat des idealen Forschertypus hinaus besitzt der psychologische Ansatz für Carus aber auch theoretisch erklärenden Wert. Die Konzeption einer Teilhabe des 'ganzen* Subjekts an der Forschung ermöglicht es Carus nämlich, die unbewußten und vorrationalen Grundlagen wissenschaftlichen Handelns einzubeziehen. In deutlichem Gegensatz zum Selbstverständnis der positivistischen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts enthalten für Carus wissenschaftliche Erkenntnisse und methodische Vorgaben eine psychologisch zu begründende Komponente. Wiederholt weist er seine wissenschaftliche Richtung als die ihm entsprechende aus. Jeder Entscheidung für eine wissenschaftliche Vorgehensweise liege ein "Bedürfniß"188 zugrunde. Das Erkenntnisinteresse, so bemerkt schon Carus, bestimmt den Gegenstand und die Methoden der Erkenntnis. Generell differenziert Carus zwischen zwei legitimen Wegen in der Wissenschaft: ...indem einmal alles das, was die concreteste sinnliche Erscheinung an Meßbarem, Wägbarem und überhaupt physisch Nachweisbarem darbieten konnte, auf möglichst exacte Weise aufgesucht und wissenschaftlich zusammengestellt wurde; ein andermal aber man das Wagniß bestand, durch lebhafteste und tiefsinnigste Anschauung der Idee, der Erscheinung selbst sich zu bemächtigen...189.
Jene Forscher der ersten Kategorie "bedürfen eben nichts als dies Greifbare"190; für sie ist "'das Reale1 das wahrhaft Anziehende"191. Unabhängig von ihrer psychologischen Begründung ist eine solche Haltung für Carus einem technisch-pragmatischen Denken verpflichtet und durch ihren Nutzen legitimiert: "damit durch sie eine Menge der mehr im Materiellen liegenden und doch nothwendigen Zwecke der Menschheit erfüllt werden"192. Seine eigene Distanznahme von einer nur empirischen, instrumentell bestimmten Naturwissenschaft begründet er mit einem psychologisch motivierten Erkenntnisinteresse an den 'wahren' Zusammenhängen der 'ganzen' Natur.193 Vor dem Hintergrund subjektiver Befindlichkeiten und Vorgaben diskutiert Carus auch die Stellungnahme von Forschern zu instrumentenvermittelten und experimentellen Verfahrensweisen.194
188 189 190 191 192 193 194
LuD 1,69. LuD 1,249. LuD 1,73. LuD III, 112. Ebd. Vgl. Ur, XI. Vgl. BEL, 66; G II, 125; LuD III, 132 f.
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Das im 18. Jahrhundert verbreitete akkumulative Verfahren in der Naturgeschichte führt Carus psychologisch auf "Sammlerlust"195 zurück. Er charakterisiert diesen Forschertypus folgendermaßen: Es gibt nämlich wohl Seelen und Geister, denen es wenig Bedürfniß zu sein scheint, von Erfassung irgend einer Einheit, eines Centralpunktes besondere Notiz zu nehmen; alles Leben fließt an ihnen vorüber, wie die Wolken am Himmel dahintreiben, wie Herbstblätter auf einem Strome fortgezogen werden, ohne daß irgend ein Brennpunkt, irgend ein vor allem einschlagender unwandelbar feststehender Gedanke diesem ununterbrochenen Wechsel zum Grunde gelegt werden müßte. Wenn Menschen dieser Art, der Betrachtung und Erforschung der Natur sich widmen, so sammeln sie ein unendlich buntes Material, häufen Masse auf Masse (...) rein aus Sammlerlust (...). Ich habe mich dessen niemals überhoben, aber es war mir geradezu gegen die Natur; und nehmen wir es ganz einfach, so ist auch jedes solches Aufhäufen ohne einen besondern geistigen höhern Zweck (...) immer nicht viel mehr als ein etwas höherer thierischer Trieb...196
Dagegen fühlt sich Carus erst dann "wahrhaft befriedigt"197, wenn er dem idealen inneren Grund der Phänomene Verständnis abgewinnt. Die "große organische Anschauung des Naturganzen" ist die ihm "allein homogene".198 Auch der Gegensatz von künstlichem System - bekanntlich ist dies die von Linne paradigmatisch verwirklichte wissenschaftliche Repräsentationsform des 18. Jahrhunderts - und genetischem System wird von Carus historisch-psychologisch interpretiert: In der Wissenschaftsgeschichte allgemein wie im Ausbildungsgang des einzelnen Forschers entspricht das künstliche System einem frühen Entwicklungsstand und hat als Durchgangsstadium und Hilfsmittel der Ausbildung seine Berechtigung.199 Auf diese Weise werden nicht nur verschiedene Methoden und historische Phasen der Wissenschaft psychologisch aufgeschlüsselt, sondern auch Theoreme der Forschung im Rückgang auf die Psychologie ihrer Urheber hinterfragt. Theologische Rücksichten und Vorurteile, emotionale Bindungen, Sicherheitsbedürfnisse und Geschmacksfragen können hier eine Rolle spielen.200 Perspektivismus in der Wissenschaft ist für Carus ein Faktum. Die Relevanz des psychologischen Ansatzes für Carus1 Wissenschaftstheorie zeigt sich auch dort, wo er vom Zweck des Naturstudiums spricht. Der praktische Wert der Wissenschaft besteht für Carus in ihrer individuellen Bildungsfunktion, "in Veredelung und Erhebung des 195 196 197 198 199 200
LuDI, 69. Lud 1,69 f. LuD I, 249. LuD II, 336; vgl. LuD III, 227. Vgl. Nerv, 123 f. Vgl. z.B. PS, 5 f., 453; G II, 107; BEL, 153 f.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Menschengeistes"201. Vorrangig zählt die pädagogische und therapeutische Wirkung der Beschäftigung mit Natur: Die Wissenschaft stärke gegen die "Pfeile des gewöhnlichen Lebens"202 und söhne mit den "Schattenseiten des Lebens"203 aus. Carus bestimmt den Zweck der Wissenschaft nicht zuletzt vom Standpunkt des Psychologen aus. Theorie und Person, wissenschaftlicher Beobachter und Alltagsindividuum sind für Carus demnach nicht zu trennen. Die Tätigkeit des Forschens muß als Mitvollzug des zu analysierenden Lebensganges begriffen werden. Der Wissenschaftler sieht sich daher aufgefordert, seine Denkungsart, seine Betrachtungsweise der Natur aus ihrem Zusammenhang zur persönlichen Entwicklung heraus darzulegen. Carus deutet seine autobiographischen Schriften demgemäß als Erläuterung der wissenschaftlichen Arbeiten. Im Vorwort zur Mnemosyne, einer Sammlung von Reiseaufzeichungen, Jugenderinnerungen und Reflexionen über Kunst und Kultur, heißt es: In den meisten dieser Blätter erkannte ich ebenfalls Ergebnisse einer im Ganzen mehr subjektiven Art (...) aber in Allem lag mir auch deutlich ein Schlüssel verborgen, Entstehung, Fortbildung und Vollendung so mancher meiner objectiven wissenschaftlichen Arbeiten richtig zu deuten und zu wahrem Verständniß zu bringen. In so fern also hier wirklich so Manches gegeben war, was ich als unerläßliche Ergänzung zu vielfältigen Arbeiten der objectiven Richtung betrachten durfte, schien es mir ganz angemessen, nun auch diesen, vielleicht mehr eigentümlichen Intuitionen das Recht der Öffentlichkeit nicht zu versagen, ja es sogar zu erwarten, daß namentlich Denen, welchen jene objectiven Bestrebungen irgend wichtig geworden sind, auch diese mehr subjectiven Mittheilungen wohl einige Theilnahme abgewinnen könnten.204
Wenn auch Carus solcherart vor allem die individuell-psychischen Grundlagen wissenschaftlichen Handelns hervorhebt, so läßt sich doch der generellen Prämisse, daß keine Wissenschaftsform voraussetzungslos ist, gerade aus heutiger Perspektive zustimmen. Jüngere soziologische und psychoanalytische Untersuchungen haben die außerwissenschaftlichen und vorrationalen Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung ins Blickfeld gerückt. Die positivistische Auffassung der Wissenschaftsgeschichte- vom 19. Jahrhundert an vorherrschend- war von einem kontinuierlichen und reinen, d.h. nur wissenschaftlich bedingten Erkenntnisfortschritt ausgegangen. Demgegenüber stellt sich aus heutiger kritischer Perspektive - bei Foucault, Lepenies, Hartmut und 201 202 203 204
NR, 78. BEL, 46. BEL, 233. M, XIV f. Auch bei Goethe besteht ein enger, ebenso begründeter Zusammenhang zwischen Autobiographik und Wissenschaft; vgl. Koranyi 1984. Zu Cams als Autobiographen vgl. auch Pfotenhauer 1987, 180-184.
Die Subjektivität des Forschers
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Gernot Böhme etwa - die Wissenschaftsentwicklung als diskontinuierlicher Prozeß der Etablierung strukturell verschiedener Wissensformen dar. Wissenschaftsgeschichte wird nicht mehr als autonome Entwicklung, als Befreiung reiner Rationalität, als Durchsetzung der kognitiv höherstehenden Wissensform begriffen, sondern in ein komplexes Gefüge politischer, sozialer und psychischer Motivationen eingebettet. So setzt sich nach Lepenies die "positive Wissenschaft" im 17. Jahrhundert nicht deshalb durch, "weil sie Alternativen wie der hermetischen Tradition oder dem Baconismus überlegen ist, sondern weil ihre programmatische Ausblendung aller Fragen sozialer und politischer Emanzipation sich am besten mit der absolutistischen Herrschaft vereinbaren läßt"205. Nach Foucault formieren sich die modernen Wissenschaften als kanonisiertes Wissen durch Kontroll- und Ausschließungsfunktionen: "das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille zur Wahrheit"206. Die Überwindung des Mythos muß - so Gernot und Hartmut Böhme - auch als Verdrängungsprozeß begriffen werden: Verdrängung des Leibes, des sympathetischen Natur-Gefühls und nicht-rationaler Erkenntnismöglichkeiten. Die "objektive Erkenntnis" setzt die "Selbstdressur"207 des Subjekts voraus. Mit Lepenies' Worten: "Der Sieg einer 'distanzierten' über eine 'enthusiastische1 wissenschaftliche Einstellung spiegelt das allgemeine Vordringen einer verinnerlichten Affektkontrolle wider."208 Die Entwicklung moderner wissenschaftlicher Theorien, Methoden und Techniken läßt sich daher auch als "Versuch zur Neutralisierung angsterregenden Materials"209 interpretieren. Laut Morris Berman liegt jeder methodologischen Entscheidung in den Wissenschaften ein "nicht-rationales Bekenntnis", eine "Glaubenshandlung"210 zugrunde. Solche neueren psychoanalytisch und soziologisch orientierten Einsichten zeigen, daß sich Carus mit dem Konzept der poetischen Wissenschaft und dessen Begründung auf einem - verglichen mit dem zeitgenössischen Positivismus - hohen Niveau der wissenschaftlichen Selbstreflexion bewegt. Ein Grund für die historisch-psychologische Relativierung jedweder Wissenschaftsform mag darin zu suchen sein, daß Carus mit seiner idealistischen Naturinterpretation und Wissenschaftsauffassung historisch in der Defensive war. Die Naturphilosophie ließ sich nicht durch ihre materialen Erkenntniserfolge und nicht durch ihre technische 205 206 207 208 209 210
Lepenies 1976, 204. Foucault 1974, 14. Böhme 1980, 63; vgl. Böhme 1988, passim. Lepenies 1976, 205. Lepenies 1976, 208. Berman 1983, 120.
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"Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung"
Verwertbarkeit, sondern eben nur psychologisch legitimieren, dies am besten im Namen eines seinerseits erkenntnistheoretisch begründeten methodischen Pluralismus: Gegen den naiv-realistischen Erkenntnisoptimismus und das lineare Fortschrittsdenken, wie es sich nicht selten in der zeitgenössischen Wissenschaft zeigte, setzt Carus die Überzeugung, "daß selten oder nie Etwas in der wirklichen Welt eine absolute Geltung habe"211. Die Tatsache, daß es keine vollständige und definitive Erkenntnis der Wahrheit geben kann, begründet für Carus die Legitimität des Subjektiven und die Notwendigkeit verschiedener Methoden in der Wissenschaft: Ueberhaupt, so wie der menschliche Leib sich auferbaut aus Millionen Zell-Monaden, so erbaut sich jene Erkenntniß der Menschheit, welche wir die wahre 'Wissenschaft' nennen, aus unendlich vielen besondern Geistern; Geister, die alle, und zwar um so sicherer, je mehr jeder er selbst ist und bleibt, durch eine besondere Facette des einen großen Menschheit-Krystalles das ewige Ur-Licht zurückspiegeln und so die allgemeine Erleuchtung vollenden helfen.212
Auch unabhängig von der historischen Nötigung zur Selbstlegitimation erstaunt der psychologische Ansatz in Carus' Wissenschaftstheorie kaum, bedenkt man, daß sich Carus in der zweiten Hälfte seines Lebens mehr und mehr dem anthropologischen und seelenkundlichen Gebiet zuwandte.
211 S, 402 (Hervorhebung getilgt, JMT). 212 Rhapsodische Gedanken- Aus einem Briefe über meine Art -wissenschaftliche Gegenstände zu behandeln (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. h 28m. Mappe VI).
II. Die "Kunde vom Menschen" l. Psychologie in der anthropologischen Tradition Die Nachwelt hat Carl Gustav Carus vor allem als Psychologen gewürdigt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der universale Denker in Vergessenheit geraten, um dann 50 Jahre nach seinem Tod durch den Charakterologen Ludwig Klages wiederentdeckt zu werden: Mit wiederholten Hinweisen auf Carus1 seelenkundliche Erkenntnisse sowie einer Neuveröffentlichung der Psyche im Jahre 1926 leitete Klages die sog. "Carus-Renaissance" ein, die sich vorrangig auf den Psychologen bezog und zunächst ganz in den Bahnen der lebensphilosophischen (Um-)Interpretation von Carus' Werk verlief.1 Klages und seine Schüler, besonders Hans Kern und Christoph Bernoulli, sahen in Carus den Vorläufer ihrer Lehre vom "Geist als Widersacher der Seele",2 eine Deutung, die dessen Konzeption eines einheitlichen und geistgeprägten Seelenlebens strikt zuwiderläuft. Weniger gewaltsam, aber ähnlich distanzlos verfuhren die Interpreten, die Carus als Ahnherrn der modernen Tiefenpsychologie beanspruchten.3 Jener vielzitierte Eingangssatz der Psyche - "Der Schlüssel zur Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins" - belegt zur Genüge, welche Bedeutung Carus dem Unbewußten beimaß. Gleichwohl läßt sich Carus1 schillernder, mit Widersprüchen behafteter und metaphysisch geprägter Begriff des Unbewußten nicht unmittelbar mit der Freudschen Psychoanalyse kurzschließen. Dagegen besteht eine augenfällige inhaltliche Verwandtschaft mit der Tiefenpsychologie C.G. Jungs. Allerdings blieb Carus die Vereinnahmung für eine "deutsche Psychologie mit Seele" durch diese Schule in der Nazizeit nicht erspart. Carl Haeberlin äußerte sich dahingehend: Das gewaltige Werk dieses wahrhaft tiefschauenden deutschen Arztes, Naturforschers und Denkers (...) verdient es, in die Erkenntnisgrundlagen aller Seelenkunde überzugehen und 1 2 3
Vgl. Klages 1910, 9; Klages 1926, 39-53. Vgl. Bernoulli 1925, 60-67; Kern 1926 a, 129-133; Kern 1926 b, 36, 38; Klink 1933, 510,67-69. Vgl. z.B. Graber 1926.
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Die "Kunde vom Menschen" die aus undeutschem, zerlösendem, analysierendem, mechanistisch-materialistischem Denken stammenden Begriffe zu ersetzen, von denen aus Generationen ihre zerstückende sog. Psychologie, die so vielfach ohne Seele war, getrieben haben.4
Ob es sich nun um die anthroposophische,5 personalistische,6 tiefenpsychologische, lebensphilosophische, psychoanalytische oder überzeugt deutsche Lesart der Carus'schen Schriften handelt: In der Literatur über den philosophischen Psychologen zeigt sich ein auffälliger Mangel an historischem Bewußtsein und interpretatorischer Vorsicht. Selbst dort, wo Carus stärker im Zeitkontext gesehen wird, herrscht eine gewisse Einseitigkeit vor. Sein Werk wird dann zumeist als Gipfel und Abschluß der "romantischen" Psychologie gedeutet; Carus erscheint als einer, der sich - wie Novalis, Schubert, Troxler, Ritter, Ennemoser, Baader, Eschenmeyer u.a. - vor allem der "Nachtseite" der Seele und psychischen Grenzphänomenen - Schlaf, Traum, Hellsehen, Magnetismus, Wahnsinn - gewidmet habe. Da Carus in der Zusammenschau mit den eben Genannten sich vergleichsweise nüchtern ausnimmt, so lautet in der Regel das geistesgeschichtlich-literarisch orientierte Fazit, er sei eben auch als Psychologe eine Synthesefigur zwischen Klassik und Romantik gewesen.7 Im Unterschied zu diesen Deutungen soll Carus hier in einem prägnanten - und noch zu klärenden - Sinn als Anthropologe vorgestellt werden.8 Auch seine psychologischen Werke - so die These der vorliegenden Arbeit - stehen im Kontext jener Disziplin, die in der Aufklärung als "Emanzipationswissenschaft"9 entstand und die von etwa 1770 bis 1850 florierte: Die Anthropologie als geschichtliche Wissenschaftsformation umfaßt auch Carus' ganzheitlich ausgerichtete Lehre vom Menschen.
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Haeberlin 193S, 285. In der jüngsten Dissertation über Cams' Psychologie aus dem Jahre 1970 wird die zitierte Bemerkung kommentiert: "Was C. Haeberlin schon im Jahre 1935 über Carus schrieb, verdient auch heute noch unsere uneingeschränkte Zustimmung." (Abeln 1970, 8). Die Carus-Rezeption hat, so scheint es, erstaunliche Kontinuitäten aufzuweisen. Spiegel 1928, 737-44, 752. Frühmann 1955, bes. 252, 254. Vgl. Beguin 1972, 155-181; Wäsche 1933, 75-100; Hauptmann 1953, 30-33; Gode-von Aesch 1966, 166. Dort, wo Carus in der Forschung als Anthropologe behandelt wird, geschieht dies in einem unspezifischen und ahistorischen Sinn (vgl. z.B. Arnold 1951, Arnold 1964). Eine Ausnahme stellt Odo Marquard dar; seine knappe Andeutung - "Carus' Psychologie berührt sich mit der Anthropologie" (Marquard 1982, 206, Anm.137) - weist in die hier verfolgte Richtung. Schings 1977, 25.
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Noch im Vorfeld der beabsichtigten historisch-spezifischen Betrachtungsweise mag ein kurzer Blick auf Carus' Schrifttum bestätigen, daß alle Themen und Gebiete der zeitgenössischen Anthropologie vertreten sind. Schon seine erste selbständige wissenschaftliche Veröffentlichung eine vergleichend-anatomische Arbeit über Nervensystem und Gehirn berührt das zentrale Thema der zeitgenössischen Anthropologie: die Frage nämlich nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen Leib und Seele, nach dem Verhältnis von Hirn und psychischer Tätigkeit, nach dem Sitz der Seele. Im Jahre 1820 veröffentlicht Carus dann sein Lehrbuch der Gynäkologie, das früheste systematisch-wissenschaftliche Kompendium zu diesem Gebiet; er hat damit - wie Claudia Honegger betont - "nicht nur als erster im deutschen Sprachraum in der neueren Zeit den Terminus Gynäkologie verwendet, sondern er war auch der erste, der im Einklang mit den philosophisch-physiologischen Bestrebungen der zeitgenössischen Anthropologie eine integrierte Wissenschaft vom Weibe skizzierte und so entscheidend dazu beitrug, diesem 'Gegenstandsbereich' zu einer lang andauernden wissenschaftlichen Eigenwürde zu verhelfen."10 Bei dieser "weiblichen Sonderanthropologie" (Honegger) sollte es nicht bleiben. Für eben den Zeitraum des Erscheinens der Gynäkologie - die beginnenden zwanziger Jahre vermerkt Carus in den Lebenserinnerungen eine generelle Verschiebung seines Interesses von der Anatomie zur "Kunde vom Menschen"11. Wohl bleiben Physiologie und vergleichende Anatomie noch für annähernd zwei Jahrzehnte in seinem Forschen und Schaffen dominant; ihre Bedeutung aber reduziert sich zunehmend: sie erscheinen ihm nurmehr als "unerläßliche Voraussetzung"12 der anthropologischen Wissenschaft. Dabei ist die medizinisch-physiologische Herkunft - dies gilt es festzuhalten - durchaus prägend für Carus' anthropologischen und psychologischen Ansatz: Die Überzeugung, daß die Seelenkunde nur als physiologisch fundierte Lehre von der Gesamtnatur des Menschen betrieben werden könne, sowie die komparatistische Methode im Verein mit dem romantischen Analogieschluß bleiben durchweg bedeutsam. Im übrigen ist Carus' gesteigertes Interesse an der Wissenschaft vom Menschen nicht zufällig: Es setzt ein in einer Phase der allgemeinen Hochkonjunktur der Anthropologie. Konnte ein zeitgenössischer Kenner der wissenschaftlichen Szene zu Beginn der zwanziger Jahre behaupten, man befinde sich in einer Periode, "wo die Anthropologie ein Lieblings-
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Honegger 1991,203. LuD 1,290. Ebd.
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gegenstand der Forscher zu werden scheint"13, so galt dies auch für Carus' nähere Umgebung: Im Jahre 1822 veröffentlichte Johann Christian Heinroth, Cams' Lehrer und Freund aus Leipziger Studienjahren, von dem auch obiges Zitat stammt, sein viel beachtetes Lehrbuch der Anthropologie; im gleichen Jahr, in dem zwei andere ähnlich universal angelegte Anthropologien - von Joseph Hillebrand und Henrik Steffens erschienen. Die Arbeit des "geistreichen Steffens"14 - jenes norwegischen Naturphilosophen, dem Cams späterhin "abstrusen Pietismus"15 vorwerfen sollte - kannte er; bis auf ein Apergu, das er mehrfach und schließlich ohne Nennung des Autors zitiert, scheint sie ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben.16 Ergiebiger war da die Zeitschrift für die Anthropologie, die Cams' Jugendfreund Friedrich Nasse von 1823-26 herausgab. Carus studierte die psychiatrisch orientierte Zeitschrift intensiv; sie informierte ihn nicht nur über die neuesten Entwicklungen der Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie; sie versorgte ihn auch mit empirischem Belegmaterial für seine eigenen Arbeiten. Ebenfalls in den zwanziger Jahren veröffentlichte Karl Christian Krause, vor seiner Übersiedelung nach Göttingen philosophischer Gesprächspartner aus Carus' engerem Dresdner Freundeskreis, eine Anthropologie; der Dresdner Kollege Choulant verfaßte Vorlesungen über Anthropologie; der Physiologe Burdach, einer von Carus' Lehrern aus der Leipziger Studienzeit, bekundete psychologisch-anthropologisches Interesse. In seiner Rede Über Psychologie als Naturwissenschaft - gehalten vor der Berliner Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im Jahre 1828 - drang Burdach darauf, die komparative Methode in die Psychologie einzuführen, ein Standpunkt, der für Carus bedeutsam werden sollte. Einige Jahre später veröffentlichte Burdach ebenfalls eine Anthropologie. - Im Zuge dieser anthropologischen Modewelle gibt auch Carus "im Winter 1827/28 in einigen zwanzig Vorlesungen vor einem Kreise von Gelehrten, Künstlern und Staatsbeamten einen Überblick der Anthropologie"17. Im Herbst 1829 sieht sich Carus "zu ähnlichen Vorträgen über Psychologie freundlich und dringend aufgefordert"18. Die überarbeiteten Vorlesungen - von Lorenz Oken als "Fötus der Psychologie"19 gefeiert- erscheinen 1831; Carus unterstellt sie dem anthropologischen Standardmotto aus Alexander Popes "Essay on Man": "Das 13 14 15 16 17 18 19
Heinroth 1822, IV. VüPs, 54. LuDIII, 109. Vgl. Steffens 1822/1, 16; Steffens 1822/11, 352; VüPs, 54; S, 218; Vgl PS, 315; Nul, 218. VüPs, XXVIII. Ebd. Vgl. LuD II, 306.
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eigentliche Studium des Menschen ist der Mensch."20 Fünfzehn Jahre später tritt Carus erneut mit einem seelenkundlichen Werk, der Psyche, an die Öffentlichkeit; 1851 folgt die Physis, eine - so der Untertitel Geschichte des leiblichen Lebens. Es kennzeichnet Carus1 anthropologischen Ansatz, daß er beide Werke aufeinander bezieht und als wechselseitig notwendige Komplemente verstanden wissen will. Zum Kernbestand der zeitgenössischen Anthropologie gehören auch Kranioskopie und Physiognomik, denen sich Carus in zahlreichen Einzelveröffentlichungen bis hin zur umfassenden Symbolik der menschlichen Gestalt (1853) widmet. Diese Disziplinen treffen insofern das Zentrum des anthropologischen Denkens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ihr Gegenstand zugleich das genuine Thema der Anthropologie ist, das Verhältnis nämlich von Physis und Psyche, von Außen und Innen, von anatomischer Gestalt und seelischer Funktion. Carus' Symbolik handelt von dem, "was die Natur aus dem Menschen macht"21, von Konstitution, Temperament und geistigen Anlagen. Nicht zuletzt hat sich Carus jenem Bereich zugewandt, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den bevorzugten bis alleinigen Gegenstand der wissenschaftlichen Anthropologie in Deutschland ausmachen sollte: Rassenkunde und Abstammungslehre. In seinen physiologischen, symbolischen und naturphilosophischen Werken sowie in diversen Aufsätzen hat er sich - nicht gerade zu seiner Ehre - mit der "Frage nach Entstehung und Gliederung der Menschheit"22, mit dem physiologisch-psychologischen Vergleich verschiedener Rassen, der Stellung des Menschen zum Tierreich und mit der Evolutionstheorie beschäftigt. Daß Carus zu den prominenten Kritikern des Darwinismus zählt, erscheint vor dem Hintergrund seines idealistischen Menschenbildes unmittelbar als plausibel. Weniger konsequent mag auf den ersten Blick seine Einteilung der Menschheit in Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker mit vermeintlich ungleicher intellektueller Befähigung wirken. Carus' Biograph Genschorek sieht jedenfalls in dessen GoetheDenkschrift - hier wird die Theorie der geistig minderbemittelten schwarzen Nachtrasse breit ausgeführt - eine "Ausnahmeerscheinung" und eine "einmalige Entgleisung".23 Dieser Auffassung ist nun unbedingt zu widersprechen: nicht nur, weil Carus immer wieder - beginnend mit dem System der Physiologie von 1838/40 - um Anerkennung seiner 20 21
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VüPs, XXI. So Kants Definition der physiologischen Anthropologie im Gegensatz zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die auf das zielt, was der Mensch, "als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll" (Kant 1991, 399). So der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1858. Genschorek 1978, 205 f.
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Theorie wirbt. "Die meisten meiner spätem Arbeiten", so betont Cams selbst, "gehen dann ebenfalls ausführlich auf dieses neue Theilungsprincip ein"24. Entscheidend ist vielmehr, daß diese häufig vertretene Grundüberzeugung und ihre Herleitung methodisch wie inhaltlich integraler Bestandteil von Carus1 anthropologischem Ansatz sind. Ausgehend von vergleichender Anatomie - etwa Schädelmessungen - und vermittelt durch romantischen Analogieschluß gelangt Carus zu einer Psychophysiologie der Völker, die letztlich kulturelle Normen und Vorurteile wissenschaftlich bestätigt. Seine Rassentheorie steht durchaus in Einklang mit seiner bei allem Idealismus doch massiv deterministischen Perspektive auf den Menschen; hiervon wird später noch zu reden sein. Allgemein gilt es, den integrativen Charakter von Carus' Ansatz hervorzuheben. Carus hat nicht nur alle Sparten und Themen der zeitgenössischen Anthropologie in seiner Forschung abgedeckt; er hat sie auch alle als Elemente der einen Wissenschaft vom Menschen präsentiert, nach einheitlichen Methoden und theoretischen Prämissen behandelt und ihren Zusammenhang explizit betont. Insbesondere geht es ihm um Schaffung einer integrierten Psychophysiologie; die Physis führt Carus als Werk ein, das die Psyche "durch und durch (...) vervollständigt und ergänzt" - "zum vollständigem, lebendigem und schönern Erkenntniß menschlichen Wesens"25: Die anthropologische Tradition bildet das Fundament, auf dem Cams' ganzheitlich orientierte Wissenschaft vom Menschen ruht. Deren Geschichte soll daher wenigstens in groben Zügen skizziert werden. Die Anthropologie ist bekanntlich "eine ganz und gar nur 'neuzeitliche1 Angelegenheit"26. Sie etablierte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Kontext einer in der Literatur wiederholt beschriebenen "epistemologischen" Wende.27 Die Abwendung von traditionellen metaphysisch-theologischen Erklärungen des Menschen und die Loslösung vom Modell der mathematisch-physikalischen Wissenschaft waren für die Verselbständigung der Anthropologie ebenso bedeutsam wie die neue Wertschätzung von Erfahrung, Beobachtung und empirischer Beschreibung, die Auflösung der Naturgeschichte und der Durchbruch des genetischen Denkens oder die Entwicklung von Methoden wie Analogiebildung und vergleichender Betrachtung. Die 24 25 26 27
Nul, 466; vgl. SdPh I, 146 ff; G III-D, passim; Ph, 175-180; Anth, 85; S, XXII, 104, 401. PS, XIX f. Marquard 1982, 124. Vgl. Foucault 1989, bes. 17-28, 367-412; Moravia 1980; Lepenies 1980a; Marquard 1982, 122-130.
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Konstituierung der Anthropologie als Wissenschaft ging einher mit der Entstehung eines neuen Selbstverständnisses des Menschen als erkennendes Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis zugleich. Die Anthropologie gewann - so kann man mit Schings formulieren - den "Rang einer, wenn nicht der führenden Aufklärungswissenschaft überhaupt"28. In einem ersten Zugriff stellt sich das neue anthropologische Denken als vitalistisch getönte Opposition gegen die cartesianische Spaltung des Menschen dar. Descartes hatte Denken und Ausdehnung als zwei strikt voneinander geschiedene Seinsbereiche bestimmt. Die Trennung von Geistwelt und Naturwelt bestimmte auch seinen Subjektbegriff: Als Seele ist der Mensch demnach reines Bewußtsein, als Körper dagegen ist er Maschine und gehorcht mathematisch-mechanischen Erklärungsprinzipien. Im Gegensatz zum cartesianischen Dualismus richteten die Anthropologen des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts ihr Interesse vorrangig auf den Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele; zudem sollte nicht nur die Körperwelt, sondern auch der Bereich des Geistig-Seelischen der empirischen Erkenntnis unterworfen werden. Die epochemachende Definition der neuen Wissenschaft sowie ihre Bezeichnung als "Anthropologie" stammen von Ernst Plainer, einem der friihesten Lehrer von Cams in Leipzig. Seine Anthropologie für Ärzte und Weltweise aus dem Jahre 1772 markiert einen vorläufigen Höhepunkt in der Geschichte dieser Disziplin und beendet die Phase ihrer Konstituierung als integrativer Wissenschaft vom ganzen Menschen. Plainer beschreibt die anlhropologische Wende als nolwendige philosophische Durchdringung der Medizin. Die Philosophie definiert er als "Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben"; unter dieser Voraussetzung erscheint die Medizin als genuiner "Theil der Philosophie"29. Platners Programm zielt daher auf die (Wieder-)Verbindung von "Arzneykunst" einerseits und philosophischer Psychologie - Logik, Ästhetik und Moralphilosophie - andererseits. Entsprechend bestimmt Plainer die Anthropologie als diejenige Disziplin, die nicht Körper oder Seele allein, sondern das Wechselverhältnis beider untersuche: "Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne."30 Die philosophische 28 29 30
Schings 1977, 13. Plainer 1772, U l f . Plainer 1772, XVI f.
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Problematik der Leib-Seele-Gemeinschaft wird damit der Zuständigkeit des Arztes überstellt. Gegenüber den früheren metaphysisch-theologischen Deutungen soll der psychophysische Zusammenhang nun empirisch untersucht werden; es ist Platners erklärtes Ziel, "mehr Fakta als Spekulationen"31 zu liefern. Trotz der Emphase, mit der hier der ganze Mensch zum Gegenstand der neuen Wissenschaft erklärt wird, hält Plainer - und mit ihm die meisten Anthropologen - am dualistischen Ansatz der cartesianischen Zwei-Substanzen-Lehre fest. Die Konzeption der Doppelnatur des Menschen bildet das weitgehend unangefochtene Fundament, das die anthropologische Bewegung des 18. Jahrhunderts bei all ihrer Vielgestaltigkeit und ideologischen Heterogenität eint und insgesamt von der des 19. Jahrhunderts trennt. Jener psychophysiologische Strang der Anthropologie, den Plainer repräsentiert, bevorzugte zur Lösung des Leib-Seele-Problems die Influxuslheorie, derzufolge ein realer Einfluß des Körpers auf die immaterielle Seele besteht Im Gegensalz zu den überkommenen Allernaliven - den Systemen des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie - erschien die Theorie des inßuxus physicus ihren Verteidigern als empirisch verbürgte Lehre. Die Behauptung, daß das psychische Geschehen durch die Körperwelt (mit-)bedingl werde, selzle die Anlhropologie wiederholt dem Materialismusverdachl aus, eine Tendenz, die sich bis weil ins 19. Jahrhundert hinein verlängern sollte. Obwohl Plainer - hierin ebenfalls repräsenlaliv - den Materialismus wortreich zu widerlegen suchte,32 war dieser Vorwurf angesichts der physiologischen Fundierung der Seelenlehre nicht aus der Welt zu schaffen. Carus besuchte in seiner Leipziger Sludienzeil Plalners Vorlesungen über Physiologie; er hal sie nichl gerade geschälzl. Wohl aufgrund ihrer dualistischen Prämissen und ihrer noch mechanislischen Theorien über organische Vorgänge33 galten sie ihm als die "trostlosesten"34 Vorträge überhaupt Diese Krilik sollte allerdings nichl überbewerlel werden. Zum einen hal Carus auch gegenteilig geurteill: Im Vorwort von Natur und Idee beruft er sich auf den Platnerschen "Skeplicismus"35, der - so Carus als Regulativ seiner naturphilosophischen Tendenzen gewirkt und ihn vor spekulalivem Überschwang bewahrt habe. Zum anderen befand sich Plainer mil seiner Neuen Anthropologie aus dem Jahre 1791 - und sie 31 32 33 34 35
Plainer 1772, XVIII. Vgl. Plainer 1791, 54-57. Über die "materiellen Ideen" beispielsweise, die als "Bewegfertigkeiten der Gehirnfibern" (Plainer 1791, 151) betrachtet wurden. LuD I, 64. Nul, V; vgl. Organen, V.
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dürfte in etwa dem entsprechen, was Carus bei ihm hörte - durchaus wiederum auf der Höhe der Zeit und in einigem Abstand zur Anthropologie der siebziger Jahre.36 Zunächst fallt auf, daß die formale Vorgehensweise sich geändert hat; statt aphoristischer Knappheit - Indiz für einen spätaufklärerisch beschränkten Systemanspruch37 - wählt Plainer nun den "systematischen Weg"38. Wohl will er nach wie vor von "speculativer Metaphysik"39 nichts wissen; jedoch wird - wie schon in der ersten Anthropologie - dieses Abstinenzversprechen im Folgenden preisgegeben. Nicht allein das stärker systematische Verfahren und die beharrlich vorgetragene Frage nach der "Grundursache der thierischen Bewegungen"40 weisen in die Richtung der sogenannten "romantischen Physiologie", der es um Erklärung der Lebensphänomene in ihrer Totalität und aus ihrer letzten Ursache ging. Auch inhaltlich bewegt sich seine Psychophysiologie auf das Identitätstheorem der naturphilosophisch geprägten Anthropologie zu: Dies zeigen unter anderem seine Sympathien für das "Stahlische System"41, demzufolge die Seele das Leben bewirkt und die organischen Funktionen leitet. Plainer zieht Stahls animistische Theorie der Sensibilitäts- und Irritabilitälslehre Albrechl von Hallers vor, weil ihm diese zu mechanisch erscheinl. So belont Plainer, "daß alles Zusammengesezle gegründel sey in einfachen, lebendigen, und gewissermaßen empfindenden, seelenarligen Wesen"42. Lebenskraft und Seele werden tendenziell in eins gesetzt "Die Wirklichkeil unbeseelter Thiere", so heißl es gegen Descartes' mechanislische Theorie gerichtet, "isl noch lange nicht bewiesen."43 Und: "Daß in einem thierischen Körper die geringste lebendige Bewegung, ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden sollte: das isl ganz entgegen dem Grundbegriffe der thierischen Natur."44 Mit dem nach Maßgabe von Leibniz' Kritik modifizierten Stahlschen Animismus hält die Seele, und mit ihr das Unbewußte, Einzug in die Physiologie. Hallers Einwand gegen Slahls Auffassung des physischen Geschehens als 36
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Plainer selbst betonte im Vorwort zur Neuen Anthropologie, diese sei ein von der ersten Anthropologie "ganz unterschiedenes, ganz unabhängiges Buch, welches mit jenem nichts gemein hat, als den Verfasser, und nichts ähnliches als den Titel" (Plainer 1791, Vorrede). Mareta Linden hal die nichl unerheblichen Übereinslimmungen beider Versionen wie auch ihre Differenzen herausgearbeitet (Linden 1976, 54-61). Plainer 1772, XIV f., XVIII f.; vgl. hierzu auch Bezold 1984, 107 ff. Plainer 1791, Vorrede. Ebd. Plainer 1791,97. Ebd. Plainer 1791, 54. Plainer 1791, 102. Ebd.
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Seelenwirkung, daß sich nämlich die organischen Vorgänge unwillkürlich vollzögen, läßt Plainer nicht gelten: "Daß in der Seele leidentliche und thätige Veränderungen ohne Bewußtsein entstehen können, das bedarf keines Beweises. "45 Ein anderes Element, mit dem Plainer die Überwindung des cartesianischen Dualismus anbahnt, ohne ihn selbst doch zu verabschieden, besteht in der Unterscheidung zwischen einem tierischen und einem geistigen Seelenorgan. Das geistige Seelenorgan ist das "wesentlichere und edlere, welches in der Seele diejenigen Weltvorstellungen erweckt, die sich unmittelbar beziehen auf den geistigen Trieb nach Gedankenbeschäftigung, und also auf das eigentliche geistige Leben und Daseyn der Seele"46. Das niedrigere tierische Seelenorgan hingegen "erweckt in der Seele jene verworrenen, aus einer zahlenlosen Vielheit undeutlicher Gefühle zusammengesezten Vorstellungen von dem Zustande, theils des thierisehen Körpers überhaupt, theils seiner einzelnen Werkzeuge, und die von diesen Ideen abhangenden angenehmen, oder unangenehmen Empfindung"47. Das tierische Seelenorgan entspricht genau dem, was späterhin "Gemeingefühl" genannt werden sollte: jenes Sensorium der Selbstwahrnehmung, das nach Auffassung der "romantischen" Physiologen die Kluft zwischen Leib und Seele, Unbewußtem und Bewußtem überbrückt. In der Konzeption eines zweifachen Seelenorgans kündigt sich die Polarität von vegetativer und animalischer, von reproduktiver und sensibler Sphäre, von Ganglien- und Cerebralsystem, von unbewußter Seelentätigkeit und Bewußtsein an. Mit diesen Hinweisen zur Bedeutung Platners geht es weniger um die Behauptung eines direkten Einflusses von diesem auf Carus. Vielmehr läßt sich die These vertreten, daß das Schlüsselkonzept der Carus'schen Psychologie - die Idee des Unbewußten - der Tradition der medizinischen Anthropologie entstammt und nur vor diesem Hintergrund adäquat verstanden werden kann. Es wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein, die physiologisch-anthropologische Vorgeschichte der Idee des Unbewußten im einzelnen zu verfolgen und zu belegen, daß sämtliche Argumente, mit denen Cams seine Psychologie des Unbewußten untermauert, dem Arsenal der anthropologischen Tradition entnommen sind. Plainer gilt uns dabei weniger als Lehrer von Carus, sondern eher als Indikator für den Stand, den die psychophysiologische Theorie gegen 1800 erreicht halle. Daß Carus darüberhinaus Plalners Anthropologie für seinen Ansalz ausmünzen konnle, zeigl sich elwa im physiologischen 45 46 47
Platner 1791, 102; vgl. 117, wo Platner doch "Beweise" anfuhrt. Platner 1791,71. Platner 1791,72.
Methodenfragen und Epochengrenzen
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Erstlingswerk über Nervensystem und Gehirn im tierischen Organismus: Unter Berufung auf diejenigen Physiologen, die eine zwiefache Seele im Menschen annehmen, entwickelt Cams hier bereits im Ansatz die Idee noch nicht den Begriff - des Unbewußten.48 Die medizinische Anthropologie des früheren 19. Jahrhunderts - Reil, Burdach, Autenrieth, Kieser, Nasse, um nur einige der hier relevanten Namen zu nennen - wird häufig als bloßer Appendix der Schellingschen Naturphilosophie behandelt. Das läßt sich in dieser Form nicht halten: Die "romantische" Wissenschaft vom Menschen ist- so lautet die ergänzende These zur oben skizzierten - zunächst Bestandteil und Fortsetzung der Anthropologie, wie sie sich als eigenständige und neue Wissenschaft im 18. Jahrhundert etabliert hatte. Sie ist zwar von der Schellingschen Polaritäts- und Identitätslehre inspiriert, erschöpft sich aber nicht in ihrer Anwendung und Weiterführung. Vielmehr ist davon auszugehen, daß der anthropologische Gedanke einer physiologischen Psychologie, wie er in Folge des empirischen Anspruchs sich herausbildete, und das naturphilosophische Interesse an der Einheit von Leiblichem und Geistigem sich wechselseitig bestätigten und verstärkten.
2. Methodenfragen und Epochengrenzen Das Verhältnis des Psychologen und Naturphilosophen Cams zur anthropologischen Tradition zeigt sich besonders deutlich an dessen Ausführungen zur geeigneten psychologischen Methode. Carus unterscheidet - analog zur Naturwissenschaft - vier Methoden: die deskriptive, die analytische, die Ideologische und die genetische. Jede dieser Methoden repräsentiert zugleich eine bestimmte historische Phase der Psychologie und die ihr zugrundeliegenden ideologischen Prämissen. Die descriptive Methode besteht Carus zufolge in dem empirischen Verfahren einer "Aufzählung der verschiedenen Äußerungen jeder besonderen Seelentätigkeit, in irgend einer willkürlichen Folge geordnet": "Psychologen dieser Art gingen am aufrichtigsten zu Werke, wenn sie geradezu bloß Fakta sammelten, wenn sie merkwürdige Seelenstimmungen, psychologisch merkwürdige Gesinnungen und Handlungen aufzeichneten und zusammenstellten"'19. Dieser Methode ordnet Carus als historische Formation die Erfahrungsseelenkunde des 18. Jahrhunderts zu; er erwähnt "psychologische Magazine (...), wie wir z.B. an Moriz (!)
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Vgl. Nerv, 22. VüPs, 22.
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Magazin für Erfahrungsseelenlehre, und Mauchart (!) allgemeinem Repertorium für empirische Psychologie erhalten haben", sowie "einzelne beschreibende Lehrbücher der Seelenkunde"50. Mit der Erfahrungsseelenlehre ist ein anderer Strang der anthropologischen Tradition benannt, den Carus rezipiert hat. Sie ist in gewisser Weise eine Gegenbewegung zur physiologisch orientierten Ärzte-Anthropologie, wie sie oben skizziert wurde.51 Insbesondere im Kreis um Moses Mendelssohn, bei Marcus Herz, Karl Philipp Moritz und Salomon Maimon, formierte sich in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts die Tendenz zur Entsomatisierung der Seelenlehre. Gegen die dominante Influxustheorie wurde die Wechselseitigkeit des psychophysischen Einflusses und vor allem die Bedeutung der Seele bei Entstehung und Heilung von Krankheiten betont. Carus hat sich bevorzugt mit Karl Philipp Moritz auseinandergesetzt. In den Vorlesungen über Psychologie zitiert er ausgiebig aus dessen Magazin, das in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts - schenkt man Carus Glauben - nahezu vergessen war.52 Unter den zahlreichen Elementen der Carus'schen Psychologie, die direkt oder indirekt auf Moritz zurückverweisen, seien nur einige hervorgehoben. So übernimmt Carus das Prinzip der genetischen Herleitung von Seelenstörungen aus der Individualgeschichte. Wie schon Moritz mit seinem autobiographischen Anton Reiser-Roman, so weist auch Carus auf die Bedeutung der Kindheit hin und betont, daß "irgend eine verkehrte Richtung, welche späterhin das psychische Leben eines Menschen ganz verunstaltet, ihren ersten Keim, ihre erste Begründung größtenteils in dieser Periode", der Periode kindlicher und jugendlicher Unreife, "nachweisen lassen wird"53. Entsprechend orientiert sich Carus auch an Moritz' Prinzipien der Selbstbeobachtung. Im Anschluß an einen Auszug aus dem "wirklich sehr interessanten Aufsatz von Moriz über Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit"54 erklärt Carus dessen Methode der Aufhellung von Kindheitsspuren für vorbildlich: "Ich für meinen Teil gestehe, daß ich für eine kleine Anzahl solcher treu und einfach aufgefaßter Selbstbeobachtungen, wie sie Moriz hier gegeben hat, gern eine Menge der Memoiren, womit neuerlich unsere Literatur überschwemmt worden ist, missen würde!"55
50 Ebd. 51 Diese "konkurrierende Form der Anthropologie" beschreiben Schings 1977, 28 ff. und Bezold 1984, 121-140. 52 VüPs, 165. 53 VüPs, 199. 54 VüPs, 165. Der Aufsatz befindet sich im ersten Band des Magazins. 55 VüPs, 169.
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Mit Moritz und den Anthropologen des Mendelssohn-Kreises generell teilt Carus die individualisierende Betrachtungsweise des Menschen. Seine Bestimmung der Gesundheit als "Harmonie aller Funktionen eines organischen Ganzen innerhalb der Einheit seiner ihm gemäßen Entwicklung"56 greift nahezu wörtlich die Definition von Herz und Moritz auf.57 Hatte Moritz die Existenz einer allgemeinen Norm der Seelengesundheit geleugnet, so unterstreicht auch Carus, "daß die Seelengesundheit natürlich unter verschiedenen Gestalten erscheinen müsse, je nachdem sie vorkomme in verschiedenen Entwicklungszuständen und an verschiedenen Individualitäten"58. Carus plädiert ebenfalls für individuelle Kuren und weist auf die Rolle der Psyche bei Krankheiten hin. Was Carus an der Erfahrungsseelenlehre insbesondere schätzt und hervorhebt, ist zugleich das, was sie als Teil der anthropologischen Bewegung auszeichnet, ihr empirischer und anti-metaphysischer Impetus. "Fakta, und kein moralisches Geschwätz"59: Moritz1 Losung ist repräsentativ für den anthropologischen Standpunkt; und eben hierin - in der "Bereicherung der Erfahrung und Beobachtung"60 - sieht auch Carus das Hauptverdienst von deskriptiver Methode und Erfahrungsseelenkunde. Diesem empirischen Standpunkt - das wird die Diskussion der favorisierten genetischen Methode zeigen - verschreibt sich auch Carus. Allerdings betont er, daß die deskriptive Methode, das Verfahren der Sammlung und Beschreibung allein, "höheren wissenschaftlichen und philosophischen Anforderungen"61 nicht genügen könne. Die analytische Methode - der Versuch, "die menschliche Seele in eine Menge von einzelnen Seelenkräften zu scheiden"62 - entspricht der schulphilosophischen Vermögenspsychologie. Obwohl Carus auch dieser Richtung einige Verdienste zugesteht - "manches merkwürdige Verhältnis zwischen den verschiedenen Geistesrichtungen"63 sei aufgedeckt, die Wirkungsweise einzelner Seelenkräfte schärfer bestimmt 56 57
58 59 60 61 62 63
VüPs, 201. Vgl. Moritz 1986/1, 28: "Mangel der verhältnismäßigen Übereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit." Moritz selbst verweist an dieser Stelle auf Marcus Herz' Bestimmung des Gesundheitsbegriffs als Vorlage. Vgl. hierzu auch Müller 1987, 81 f. VüPs, 217. Vgl. auch PS, 470, wo Carus bemerkt, daß "alle Gesundheit nur individuell sein kann". Moritz 1986/1, 8. VüPs, 22. VüPs, 23. Ebd. Ebd.
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worden -, so dominiert hier doch die Kritik: Carus beanstandet vor allem die Hypostasierung einzelner Seelenrichtungen, wodurch "nach und nach ein Art von Vielgötterei in die Psychologie 64 eingeführt worden sei, sowie die Verbindung der rationalistischen Seelenlehre mit einer mechanistischen Körperlehre durch naive Lokalisationstheorien. Was nun die Ideologische Methode anbelangt, so ist sie nach Carus geradezu unsinnig: Wir mögen nämlich das Wechselverhältnis der einzelnen psychischen Tätigkeiten betrachten, oder das, welches verschiedene psychische Naturen an einander knüpft; immer werden wir die Zweckmäßigkeit derselben nur erst dann klar verstehen, wenn wir überhaupt über die gesamte Eigentümlichkeit dieser Vermögen uns durch anderweitige Betrachtungen vollkommen im Klaren finden: haben wir aber erst diese Einsicht erlangt, so muß sich auch die Zweckmäßigkeit an und für sich so klar darstellen, daß es einer besonderen Nachweisung in dieser Beziehung nicht mehr bedürfen wird.65
Am ehesten noch dürfte diesem Verfahren Herbarts Statik und Mechanik des Geistes und seine Lehre von den Vorstellungen als Selbsterhaltungen der Seele entsprechen. Mit dem "Compendium der Psychologie eines Herbart" und den "neueren Psychologen aus (...) Herbart's Schule"66 konnte Carus jedenfalls nicht viel anfangen. Während man Carus zufolge im 18. Jahrhundert - einer Zeit, "wo man die Psychologie als ein Ganzes zusammenzustellen unternahm"67 fast nur von der deskriptiven und analytischen Methode Gebrauch machte, ist die genetische Methode "einzig und allein das Eigentum der neuern Zeit"68. Sie stellt sich die Aufgabe, "den Anfang wirklich am Anfange zu machen, zuerst die ersten dunklen, dumpfen, unbestimmten Regungen der Geisteswelt in unserem Innern aufzusuchen, mit größter Treue und Sorgfalt dann nachzugehen, wie aus diesem ersten schlummernden Keime nach und nach verschiedenartige Richtungen sich hervortun"69. Die genetische Methode ist in mehrfacher Hinsicht der empirisch-psychologischen Tradition der Anthropologie verpflichtet, gelegentlich durchaus im Widerspruch zur naturphilosophischen Psychologie-Konzeption etwa Schellings. Da wäre zunächst der antimetaphysische Anspruch zu nennen. Carus erklärt, daß er keineswegs "vom Ur-Anfange der Seele selbst" zu sprechen gedenke: "...wir wollen eben so nur den möglichst frühen Zustand der bereits gewordenen Seele erwägen, wie wir im Naturwissenschaftlichen etwa den frühesten Zustand 64 65 66 67 68 69
Ebd. VüPs, 24. PS, XVI. VüPs, 25. Ebd. VüPS, 24.
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des Pflanzenkeims untersuchen und daraus und aus der Beobachtung seiner fortschreitenden Entfaltung die ersprießlichsten Resultate über Erkenntnis des Pflanzenlebens im Allgemeinen ziehen!"70 Deutlich nimmt Cams Abstand von einer metaphysischen, einer "künstlichen Definition"71 der Seele; das Wesen der Seele sei nur aus ihrer Geschichte, aus der Zusammenstellung aller Entwicklungsmomente zu eruieren. Schelling dagegen hatte in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums die Auffassung vertreten, daß die "wahre Wissenschaft des Menschen (...) nur in der wesentlichen und absoluten Einheit der Seele und des Leibes, d.h. in der Idee des Menschen (...) gesucht werden"72 könne. Von daher kam er zu einer scharfen Kritik der empirischen Psychologie, die "die Seele nicht in der Idee, sondern der Erscheinungsweise nach" kenne und dazu neige, "alles Hohe und Ungemeine herabzuwürdigen"73. Nach Carus führen zwei Wege zur Erkenntnis jenes einfachsten, frühesten Zustandes des Seelenlebens: "1. Das möglichst tiefe Zurückgehen in unser eigenes Bewußtsein, und 2. wo dies nicht mehr ausreicht, der Schluß von den in noch sehr unvollkommenen Organisationen wahrnehmbaren Äußerungen des Seelenlebens auf ein solches einfaches und unvollkommenes Seelenleben selbst."74 Den ersten Weg, den der Erinnerung und Selbstbefragung, hält Carus für problematisch: Das Rückerinnern bleibe "schwankend und unbestimmt"75 und erreiche nie das angestrebte früheste Entwicklungsstadium der Seele. Wenn auch Carus hier vor allem mit praktischen Argumenten das Verfahren der Selbstbefragung in Zweifel zieht, so kann doch als Horizont dieser Erwägungen die wiederholt vorgetragene Warnung vor narzistischer Fixierung und überzogener Selbstversenkung gelten. Zwar schätzt Carus dies wurde oben gezeigt - Moritz1 Prinzipien der Erinnerung und der Innenschau; Selbstbeobachtung sowie deren Beschreibung und Analyse sind gerade für Carus zentrale Verfahren. Ebenso häufig finden sich aber auch Gesten der Distanznahme und Grenzziehung: der Widerstand gegen "stetes Grübeln über das eigne Selbst"76, die Kritik an Rousseaus eitler Selbstbespiegelung,77 die Abwehr von pietistischer Frömmelei und 70 71 72 73 74 75 76 77
VüPs, 29; vgl. PS, 35, wo Carus ebenfalls betont, daß das Verhältnis von Urbild und Abbild, von Idee und Erscheinung die Psychologie nichts angehe. VüPs, 25. Schelling 1859, 270. Schelling 1859, 271. VüPs, 30. Ebd. Lebk, 18. Vgl. LuDI, 317.
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schwärmerischer Realitätsflucht, von Melancholie und Hypochondrie78. Bekanntlich handelt es sich hierbei durchweg um gängige Kritik-Motive aus dem Repertoire der Aufklärungswissenschaft Anthropologie.79 Von dem zweiten Weg, dem vergleichend-psychologischen Vorgehen, verspricht sich Carus mehr. Er entwirft die Konzeption der Psychologie als Naturwissenschaft im Anschluß an Burdachs gleichnamige Rede: Aus der Untersuchung des psychischen Lebens von niederen Organismen soll die Entwicklung der menschlichen Seele hergeleitet werden. Diese genetisch-komparative Methode verdankt sich gleichermaßen naturphilosophischen und traditionell anthropologischen Prinzipien. Sie setzt einerseits die identitätsphilosophische Annahme, daß allem Dasein ein seelisch-geistiges Prinzip zugrunde liegt, voraus. Andererseits finden sich in diesem Entwurf der genetischen Methode eine Reihe anthropologischer Lehrstücke: Die vergleichende Anatomie - anthropologische Basis- und Modelldisziplin - wird zum Vorbild auch der Psychologie; von der physischen Organisation wird auf das Seelenleben geschlossen; eine "wohlbegründete Naturerkenntnis"80 gilt als unerläßliche Voraussetzung der Psychologie. Indem der Seelenforscher die Genese des Bewußtseins bis zu den ersten unbewußten und körperlichen Anfängen zuriickverfolgt, wird die Physiologie in die Psychologie einbezogen.81 Diese Konzeption einer integrierten Psychophysiologie setzt sich bei Carus im Laufe der Zeit immer stärker durch. Während er in den Vorlesungen noch vehement davor warnt, "anstatt das Geistige immer auf geistige Weise und rein zu erfassen, den Begriff desselben (...) mit grob materiellen Vorstellungen"82 zu verunreinigen, gilt seine Polemik späterhin jenen, die ohne Kenntnis der materiellen Bedingungen über das Bewußtsein spekulieren. Ohne physiologische Grundlage und naturphilosophische Durchdringung bleibe "notwendig alles Denken vom Denken, oder über das Denken, gerade in der wichtigsten Beziehung, nur eben so unklar und irrig (...), als irgend eine Theorie der Musik es allemal sein würde, welche von den Tonschwingungen, deren Natur, Zahlenverhältniß, und ihrer Beziehung 78 79
80 81
82
Vgl. z.B. Epi, 24; VüPs, 235f; PS, 334f, 454. Es mag genügen, auf Kants Warnung vor den Gefahren der Selbstanalyse, die "leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn" (Kant 1991, 414) führe, hinzuweisen. Das entschieden anti-melancholische Interesse der aufgeklärten Anthropologen an der Melancholie ist ein Aspekt der von Hans-Jürgen Schings herausgearbeiteten Pathologieträchtigkeit der Anthropologie (vgl. Schings 1977, bes. 37-40). VüPs, 41. Schon im Versuch einer Darstellung des Nervensystems von 1814 hatte Carus die Auffassung vertreten, daß die Untersuchungen der Anatomen und Physiologen den Psychologen als "Leitstern" (Nerv, 301) dienen sollten. VüPs, 27.
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auf das schwingende Material, nicht den geringsten Begriff hätte. Anstatt nämlich in gleicher Weise, wie jede ächte Theorie der Musik stets von der Akustik ausgehen wird, eben so hier von dem Wesen der Innervation und seiner Beziehung auf Nervenbildung sich zuerst die vollkommen klare Vorstellung zu verschaffen, dann aber (...) nach und nach zu schärferer Einsicht sich durchzuarbeiten, versuchte man von jeher hier, gleich Gullivers Gelehrten von Logado, den Hausbau vom Dache anzufangen und (um im Gleichnisse zu bleiben) vom Gipfelpunkte der Dachfirste - d.i. vom Ich - ausgehend, so nach abwärts bis zur Grundlage hinunter, das philosophische System zu construiren, als wobei man dann freilich häufig in die größten Naturwidrigkeiten verfallen mußte!-"83 Diese Kritik trifft nicht nur die cartesianische Bewußtseinsphilosophie und Fichtes subjektiven Idealismus, sondern jede philosophische Psychologie, die das Bewußtsein voraussetzt, anstatt es aus seinen physiologischen Bedingungen herzuleiten. Konsequenterweise wird in der Psyche die genetische Methode explizit als der "physiologisch-psychologische Weg"84 ausgezeichnet. Dementsprechend rücken nun auch andere Verfahren in den Vordergrund: Neben Introspektion, Fremdbeobachtung und vergleichende Psychologie treten Kranioskopie, Physiognomik, Tierexperiment und Pathologie als Mittel der psychologischen Erkenntnis. Mit dem naturphilosophisch geprägten Programm der Psychophysiologie und dessen inhaltlicher Ausgestaltung fügt sich Carus nicht nur in die anthropologische Tradition ein, sondern rückt bisweilen auch in überraschende Nähe zu Theoremen des von ihm bekämpften Materialismus.85 Es ist ein durchgängiges Anliegen der folgenden Kapitel zu belegen, daß Carus keineswegs nur der "Testamentsvollstrecker der romantischen Philosophie"86 - wie Albert Beguin vermeinte - war. Charakteristisch für Carus ist vielmehr die Amalgamierung von überkommenen Sinnsystemen mit spezifisch modernen Verfahren und
83 84 85
86
Nul, 456. PS, 210. Die latent materialistischen Züge der Carus'schen Psychologie blieben in der Forschung durchgängig unbeachtet; einzige Ausnahme bilden die gelegentlichen Hinweise in der Dissertation über den "psychologischen Begriff des Unbewußten in der Schelling'schen Schule" von Johannes Orth. Er sieht bei Carus "die Anfänge der modernen physiologischen Psychologie" gegeben: "Darin lag aber zugleich die Gefahr, das Wesen der Bewußtseinsphänomene in diesen organischen Funktionen zu erblicken, und es bedurfte nur eines Aufgebens der metaphysischen Voraussetzungen, um zu einer materialistischen Seelenlehre überzugehen." (Orth 1914, 40; vgl. 43,89). Beguin 1972, 161.
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Ansätzen. In diesem Mischungsverhältnis bekundet sich die Zeitverflochtenheit seiner Anthropologie, die es herauszuarbeiten gilt.
3. Spekulative Physiologie: Von der Lebenskraft zum Unbewußten Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz der Wissenschaftsgeschichte, daß die psychoanalytische Konzeption des Unbewußten philosophische Vorläufer besitzt. Odo Marquard hat die Begriffsgeschichte des Unbewußten bis zu Schelling und Carus verfolgt, ausgehend von der These, "daß bestimmte Kategorien der Psychoanalyse - Unbewußtes, Verdrängung, Wiederkehr des Verdrängten, Ersatzbildung, Kompromißbildung, Sublimierung, Kompensation, Regression, Fixierung, Abwehr, Widerstand, Aufhebung der Amnesien usf. - 'in gewisser Hinsicht philosophische Kategorien1 sind."87 Psychoanalytische Begriffe gehören nach Marquard in die Philosophiegeschichte; insbesondere wer nach der philosophischen Bedeutung der Theorie des Unbewußten frage, müsse nicht bei Freud, sondern früher, "etwa in der Romantik und ihrer Philosophie"88, auf die Suche gehen. Auch Ludger Lütkehaus läßt seine Textsammlung zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud an jenem Punkt beginnen, "an dem zum ersten Mal eine explizit und systematisch entwickelte Theorie des Unbewußten in den Mittelpunkt eines philosophischen Werkes rückt"89: bei Schellings System des transcendentalen Idealismus von 1800. Im Vorwort spannt er die Tradition des Unbewußten von Leibniz über Wolff, Crusius, Sulzer, Plainer, Kant, Fichte bis hin zu Lichtenberg, Jean Paul und Karl Philipp Moritz. Im Gegensatz zu Marquard betont Lütkehaus neben der historisch-vergleichenden auch die kontrastive Absicht seiner Sammlung: "Selbstverständlich stehen die Entwürfe der Philosophie und der Psychoanalyse in keineswegs deckungsgleichen Traditionszusammenhängen"90. Lütkehaus vergißt nicht, auf die "Vielzahl der wissenschaftlichen Disziplinen"91 hinzuweisen, die an der Entdeckung des Unbewußten beteiligt sind. Gleichwohl legt auch er den Akzent auf die Philosophie; die - erklärtermaßen pointierte - These auch seines
87 88 89 90 91
Marquard 1987, Marquard 1968, Lütkehaus 1989, Lütkehaus 1989, Lütkehaus 1989,
1. 379. 25. 13. 11.
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Ansatzes lautet: "Die Tiefenpsychologie beginnt als Tiefenphilosophie."92 Vergleichbares liest man in den Standardwerken zur Geschichte des Unbewußten, bei Lancelot Law Whyte oder Henry F. Ellenberger etwa.93 Zumindest soweit sich die Genannten auf den Beitrag der Romantik beziehen, konzentriert sich ihre Darlegung auf einen deduktiven Begriff des vitalen Unbewußten, der mit Schelling erklärt wird. Nun ist Carus' Begriff des Unbewußten in extremer Weise inkonsistent94 und widersetzt sich schon deshalb einer geradlinigen oder monodisziplinären Ableitung. So lassen sich beispielsweise Konzeptionen des Unbewußten unterscheiden, die in erkenntnistheoretischer Hinsicht je anders akzentuiert sind und erheblich voneinander abweichen: Der Begriff des Unbewußten kann das bezeichnen, was sich menschlicher Erkenntnis prinzipiell entzieht - das Göttliche also, das an und für sich mit dem höchsten Bewußtsein identisch ist, aber für uns unbewußt bleibt.95 Er kann sich auch auf das beziehen, was (aktuell) nicht gewußt wird, grundsätzlich aber bewußtseinsfähig ist.96 Schließlich gibt es eine dritte Variante des Unbewußten: das "Bewußtlose"97, dasjenige, dem selbst kein Bewußtsein zukommt. Die Unstimmigkeit von Carus' Begriff des Unbewußten liegt besonders in seiner unterschiedlichen disziplinären Zugehörigkeit begründet. Das Unbewußte ist der - ohnehin problematischen - Ideenlehre ebenso verbunden wie der Psychologie, der Medizin und der Physiologie. Um die Vielfalt dieser disziplinär bedingten inhaltlichen Ausrichtungen kurz Revue passieren zu lassen: Das Unbewußte erscheint philosophisch als das Absolute, Göttliche ; "überall", so heißt es beispielsweise, "ist das Unbewußtsein der primitive Zustand aller besonderen Idee und alles Ideenhaften."98 Im Kontext der spekulativen Physiologie taucht das Unbewußte als Lebenskraft und organisches Bildungsgesetz auf. Schon zwischen diesen beiden metaphysisch begründeten Begriffen des Unbewußten zeigt sich ein Widerspruch: Die unbewußte Idee erscheint einmal als platonisches Urbild des Seins "vor dem Sein"99, als das ewige und "reine An-sich-sein der Seele"100. Zugleich versteht Carus die unbewußte Idee als individualisierendes Seinsprinzip, das von den lebendig92 93 94 95 96 97 98 99 100
Lütkehaus 1989, 9. Whyte 1978, 124-126, 131-142, 147-150; Ellenberger 1973, 286-304. Dies betont auch Lütkehaus 1988, 35. Vgl. PS, 442. Vgl. PS, l f. Vgl. z.B. PS, 522. PS, 229. VüPs, 259. PS, 543.
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realen Gebilden nicht zu trennen ist; es ist in die Dynamik der natürlichen Welt eingelassen und wandelt sich mit ihr.101 - Dem romantischen Tiefenpsychologen Carus gilt das Unbewußte als Chiffre für das Undefinierbare und "Geheimnisvolle"102 der Seele. Der anthropologische Blick erfaßt das Unbewußte als Bedingtes, als erscheinende Wirklichkeit, die mit dem Lebendig-Körperlichen gleichzusetzen ist. Im Zusammenhang psychosomatisch-medizinischen Denkens wird mit dem Konzept des Unbewußten das Körperliche als seelische "Provinz"103 ausgezeichnet. Im Bereich der empirischen Psychologie gibt es zumindest zwei ganz unterschiedliche Begriffe des Unbewußten: einen kognitiv ausgerichteten, der die vergessenen Vorstellungen und unterschwelligen Wahrnehmungen umfaßt, und einen anderen, der sich auf die Region der leibnahen psychischen Erscheinungen, der Triebe, Instinkte, Affekte und Temperamente, bezieht. Schon dieser knappe Überblick legt die Vermutung nahe, daß Sinn und Zweck von Carus1 Begriff des Unbewußten gerade in seinem synthetischen Charakter liegt: Er gewährleistet eine ganzheitliche und ideell fundierte Auffassung der menschlichen Natur. Die Problematik seiner Seelenlehre sucht Carus dadurch aufzufangen, daß er den Begriff des Unbewußten auffächert. Er unterscheidet drei Formen des Unbewußten: Das "absolut Unbewußte" - es kann allgemein oder partiell sein - bezeichnet denjenigen Bereich des Seelischen, der unter keinen Umständen je zum Bewußtsein kommt. Das allgemeine absolut Unbewußte, das "noch ausschließend in der Bildung Waltende der Idee"104, findet Carus im embryonischen Dasein; hier beschränkt sich das gesamte Seelenleben auf die unbewußten Gestaltungsvorgänge. Auch dort aber, wo sich schon irgendeine Art von Bewußtsein entwickelt hat, wo "die Idee (...) wirklich Seele geworden"105 ist, verlaufen die organischen Prozesse ohne Teilnahme des Bewußtseins und bilden die Region des partiellen absolut Unbewußten. Von diesem absoluten Unbewußten grenzt Carus das "relativ Unbewußte" ab, "d.h. jener Bereich eines wirklich schon zum Bewußtsein gekommenen Seelenlebens, welcher jedoch für irgend eine Zeit jetzt wieder unbewußt geworden ist, immer jedoch auch wieder ins Bewußtsein zurückkehrt, ein Bereich, welcher immerfort selbst in der ganz gereiften Seele den größten Theil der Welt des Geistes umfassen wird, weil wir in jedem Augenblick doch immer nur einen 101 102 103 104 105
Vgl. PS, 248 ff. PS, XV. Vgl. PS, 47; Ph, 480 f. PS, 71. Ebd.
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verhältnißmäßig kleinen Theil von der ganzen Welt unserer Vorstellungen wirklich erfassen und gegenwärtig halten können."106 Dies ist die einzige eigentlich psychologische Bestimmung des Unbewußten, die Carus vornimmt. Das "absolut Unbewußte", dem Cams' vorrangiges Interesse gilt, ist dagegen ein schillernder, mal stärker metaphysisch, mal stärker physiologisch gefärbter Begriff. Er entstammt der spekulativen Lebenskräftebiologie des ausgehenden 18. und früheren 19. Jahrhunderts und den anthropologischen Debatten um das Verhältnis von Leib und Seele. Die anthropologische Bewegung, dies wurde oben beschrieben, setzte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüber dem herrschenden cartesianischen Dualismus durch und löste die biomechanistischen Denkweisen sukzessive ab. In diesem Zusammenhang entwickelte sich die Frage nach den Ursachen der tierischen Bewegungen und - allgemeiner nach dem Wesen des Lebendigen zum dringlichen und vieldiskutierten Thema der Physiologie. Einen entscheidenden Impuls für die vitalistischen Systeme der Folgezeit lieferte Georg Ernst Stahl mit seiner "Theoria medica vera" aus dem Jahre 1708. Die Natur der Kräfte, die den Körper bilden, erhalten und heilen, wie auch zahlreiche organische Funktionen lassen sich, so beobachtete Stahl, nicht als Ergebnis mechanischer Bewegungen erklären. Stahl interpretierte daher die Lebensvorgänge als Wirkung eines immateriellen Prinzips, das er mit der Seele gleichsetzte. Dabei übernahm er, trotz der prinzipiellen Opposition gegen den Mechanizismus, den cartesianischen Begriff des Körpers als bloßer Ausdehnung sowie Elemente der iatromechanischen Physiologie und verband sie mit einer spekulativen Leib-Seele-Konstruktion.107 Ohne mich durch die vielen Faseleien älterer und neuerer Zeit irremachen zu lassen, bin ich nach allen bisherigen Untersuchungen berechtigt, dasjenige, welches nicht nur mit Bewußtsein anschaut. Begriffe bildet, urteilt und schließt, sondern auch das, was bewußtlos erfolgt, indem es den Körper dem Willen gemäß bewegt, vernünftige Seele zu nennen und ihm das Vermögen beizulegen, die Muskelbewegungen sowohl anzufangen als auch zu lenken. Es ist also unmittelbar die Seele, welche die Bewegung des Körpers hervorbringen, anfangen und verursachen kann.108
Die Konzeption einer einheitlichen Kraft, die zugleich die geistige Tätigkeit und die körperlichen Funktionen lenkt, führte direkt, so zeigt sich, zur Annahme einer bewußtlosen Seelentätigkeit. Stahls Vorstellung, daß die mechanische Konstitution des Körpers im Dienste der autonomen und aktiven Seele stehe, mutet eher anachroni106 Ebd. 107 Vgl. Mocek 1981,27. 108 Stahl, zit. nach Rothschuh 1958, 2963.
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stisch an und bildete - nach Meinung Georges Canguilhems - ein Hemmnis für die Entwicklung der experimentellen Forschung in der Physiologie.109 Gleichwohl kommt Stahl das Verdienst zu, die Spezifik der Wissenschaft vom Leben betont und Ansätze einer nicht reduktionistischen biologischen Begrifflichkeit entwickelt zu haben.110 Allerdings blieb Stahls physiologisches System nicht unangefochten. Vom metaphysischen Standpunkt aus monierte Leibniz, daß die immaterielle Seele grundsätzlich nicht körperliche Vorgänge in Bewegung setzen könne. Die alternative nicht-mechanistische Lehre der Physiologie stellte Albrecht von Haller auf. Er führte zahlreiche Experimente durch, in denen er lebendige Organe und Gewebe einer mechanischen oder chemischen Reizung aussetzte. Seine systematische Forschung am tierischen Körper ergab die Unterscheidung von zwei Grundkräften des Lebendigen: Irritabilität und Sensibilität. Jene Teile, die auf einen Reiz mit Kontraktion und Bewegung reagierten, - die Muskelfasern - bezeichnete Haller als irritabel. Sensibilität dagegen kam nur den Nerven zu: Ihre Reizung löste Schmerz aus. Haller glaubte, spezifische Eigenschaften des Lebendigen im Unterschied zu Wirkungen mechanischer Ursachen oder psychischer Herkunft nachgewiesen zu haben. Beide Theoretiker waren im 18. Jahrhundert außerordentlich einflußreich; sie wurden weitgehend alternativ diskutiert, so etwa bei Plainer, zum Teil auch wirkten sie zusammen, wie im Fall der Schule von Montpellier. Bei den gemäßigten Adepten Stahls dominierte allerdings eine vitalistische Haltung, die den Lebensphänomenen nicht mehr Seelenkräfte, sondern organische Bildungs- und Lenkungsprinzipien "force vitale", "Lebenskraft" oder "vis essentialis" genannt - unterlegten. Zumeist wurde gegenüber Hallers Lehre die Differenz der Grundkräfte des Lebendigen aufgehoben und die Irritabilität tendenziell der Sensibilität untergeordnet. Das Problem der Lebenskraft beschäftigte im ausgehenden 18. Jahrhundert nahezu alle Physiologen und Anthropologen. Dabei war das Spektrum der angebotenen Lösungen weit gefächert. Unter denjenigen, die überhaupt die Lebenskraft als spezifisch organisches und nicht psychisches Vermögen ansahen, gab es zunächst die Fraktion der kritischen, an Kant geschulten Theoretiker, die der teleologischen Behauptung einer Lebenskraft rein heuristischen Wert zumaßen. Die von Johann Friedrich Blumenbach entwickelte Theorie des Bildungstriebs insbesondere in ihrer zweiten, an Kants Rezeption der Blumenbachschen 109 Vgl. Canguilhem 1979b, 97. 110 Vgl. Canguilhem 1979a, 71 f.; Mocek 1981, 29 f.
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Lehre orientierten Fassung von 1789 - gehört in diesen Kontext: Der Begriff des Bildungstriebes - "die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction"111 - verweist nach Blumenbach auf eine Kraft, die wir lediglich aus ihren Wirkungen kennen, deren Ursache uns aber verborgen bleibt. Ebenso führte Karl Friedrich von Kielmeyer seine Unterscheidung von Irritabilität, Sensibilität und Reproduktionskraft hinzu kamen noch Sekretionskraft und Propulsionskraft - als behelfsmäßiges Modell ein.112 Eine ähnliche Auffassung vertrat auch Johann Christian Reil in seinem berühmten Aufsatz "Von der Lebenskraft", mit dem er im Jahre 1795 das "Archiv für die Physiologie" eröffnete. Kraft sei ein subjektiver Begriff, so stellte Reil fest, "die Form, nach welcher wir uns die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung denken"113. Carus kannte Reils Abhandlung, wie auch spätere Schriften des als "trefflich", "scharfsinnig", ja "genial" verehrten Physiologen und Arztes.114 Zur Abwehr einer ontologisch interpretierten und von der Seelentätigkeit abgelöst gedachten Lebenskraft berief sich Carus gerade auf die zitierte erkenntniskritische Anmerkung Reils. Insgesamt übte Reil einen enormen - bislang übersehenen bzw. in der Forschung nicht kommentierten - Einfluß auf Carus aus. In bezug auf den Umgang mit teleologischen Prinzipien blieben seine Vorbehalte freilich ohne weiterreichende Wirkung auf ihn. Allerdings lassen die späteren Schriften Reils häufig solche methodische Besonnenheit ebenfalls vermissen. Reils Bestimmung der Lebenskraft läßt sich zugleich für eine andere theoretische Gruppierung veranschlagen. Eine Trennlinie in der zeitgenössischen Diskussion verlief nämlich zwischen den Theoretikern, die wie Blumenbach oder der junge Alexander von Humboldt davon ausgingen, daß durch die Lebenskraft die Gesetze chemischer Fermentation aufgehoben würden, und den eigentlich chemisch orientierten Physiologen, die behaupteten, daß auch in lebenden Organismen die in der Chemie gültigen Gesetze herrschten. Reil vertrat in seinem Aufsatz die letztgenannte Lehre. Lebenskraft ist für ihn "etwas von der Materie Unzertrennliches, eine Eigenschaft derselben, durch welche sie Erscheinungen hervorbringt"; die Erscheinungen der Körperwelt ihrerseits sind "Resultate einer bestimmten Form und Mischung der Materie"115. Daher erwartete Reil von den Fortschritten der 111 112 113 114 115
Blumenbach 1789,25. Vgl. Rothschuh 1968, 173. Reil 1910,23. Vgl. Nerv, VII, 3, 21, 58, 61, 64, 304 f.; VüPs, 262, 363; RefMed, 181; LuD I, 191. Reil 1910,23.
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Chemie, die den Grundstoffen der organischen Materie und ihren Eigenschaften nachforscht, Aufschluß auch über die Lebenskraft. Insofern ist es irreführend, wenn Reil - wie dies häufig geschehen ist - als vitalistischer Theoretiker der Lebenskraft apostrophiert wird. Von einer solchen Auffassung, nach der die organischen Kräfte sich als Folge von Stoff und Organisation darstellen, setzten sich wiederum jene Physiologen ab, die eine einheitliche Lebenskraft annahmen und diese als allgemeines und unsichtbares Agens der Natur konzipierten. Demnach war die Lebenskraft - ein nunmehr ontologisch verstandener Begriff- für die Bildung des Körpers und die Steuerung der Lebensfunktionen verantwortlich. Uneinig war man, ob es hierbei, wie etwa Johann Ferdinand Autenrieth und Christoph Wilhelm Hufeland meinten,116 um einen nach Analogie des galvanischen Fluidums oder der magnetischen Materie zu denkenden "imponderablen Stoff ging, ob die Lebenskraft mit der Elektrizität oder dem Sauerstoff gleichzusetzen sei,117 oder ob es sich - dies legen die Ausführungen von Christoph Bernoulli nahe118 - um ein immaterielles Lebensprinzip handelte, über das weiter nichts auszusagen war. Sie alle teilten jedoch die Auffassung, daß Seele und Lebenskraft nicht miteinander identifiziert werden dürfen. Entscheidend in dieser Diskussion um das Wesen der Lebenskraft war die jeweilige Bestimmung der Seele: Identifizierte man diese - wie Autenrieth oder Bernoulli 119 - mit Bewußtsein, Denken, Erkenntnis und Willkür, so ergab die belegbare Selbständigkeit der organischen Verrichtungen und das Faktum der physiologischen Erregbarkeit der Nerven, daß Seele und Lebenskraft als inkommensurable Größen betrachtet werden müssen. An eben diesem Punkt nun setzt Cams' Kritik an. Für Carus ist die Konzeption einer von der Seele unterschiedenen Lebenskraft Bestandteil der zu überwindenden dualistischen Metaphysik. Bereits im neurophysiologischen Erstlingswerk von 1814 wendet er sich gegen die anthropologische Auffassung des Leib-Seele-Problems im 18. Jahrhundert: "Selbst die künstlichsten Hypothesen vermochten nicht die mit Fleiss immer vergrößerte Kluft zwischen Körper und Geist auszufüllen"120. Schon hier setzt Carus dem die Vorstellung entgegen, die Seele sei "die höchste, vollendetste Erscheinung der Sensibilität"121, nichts anderes also als die 116 Autenrieth 1801, 70; zu Hufeland vgl. Rothschuh 1968, 173-175; Gode-von Aesch 1966, 199 f. 117 Vgl. Tiedemann 1830, 658. 118 Bernoulli 1804/1, l Off. 119 Autenrieth 1801, 50-57; Bernoulli 1804/I, 16 ff. 120 Nerv, 5. 121 Ebd.
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Steigerung einer Form der allgemeinen Lebenskraft. In den Vorlesungen über Psychologie erscheint diese Identitätslehre aus gegenläufiger Perspektive und mit stärkerer Ausrichtung auf den Gedanken eines unbewußten Seelenlebens dargestellt: Die Seele gilt als formendes und steuerndes Prinzip des Lebens und ist daher mit dem Leib gleichzusetzen. Carus spricht von der "dreifaltigen Erscheinungsform der Seele (...), der bewußtlosen, bildenden, der weltbewußten und vorzugsweise empfindenden, und der selbstbewußten, die Freiheit des Gedankens und der Tat erreichenden"122. Ironisch wendet sich Carus gegen die "wunderliche Vorstellung (...), als würde die Organisation, wie etwa eine vorausbestellte Wohnung, von einem ändern Principe (Lebenskraft, Bildungstrieb u.s.w. genannt) eingerichtet, um nachher von der in die fertige Wohnung einziehenden Seele bezogen zu werden, wobei sie sich dann freilich überall in ihrer Behausung geniert fühlen müsse; eine freilich außerordentlich verbreitete schiefe Ansicht, welche noch jetzt die Köpfe der meisten Physiologen und Psychologen verfinstert."123 Alle Vorgänge der Bildung und Regeneration, Blutlauf, Atmung, Ernährung und Absonderung ordnet Carus einem "nicht zum Bewußtsein kommenden Wirken der Seele"124 zu. Obwohl Cams' Vorstellung, die Seele durchdringe die Organisation und bedinge als Prototyp deren Entfaltung, wie eine Aktualisierung des Stahlschen Animismus anmuten könnte, distanziert er sich von Stahl und dessen Nachfolgern im 19. Jahrhundert, z.B. Carl August Eschenmayer. Neben Stahls Tendenz zur Vergegenständlichung der Seele stört Carus vor allem der mechanische Körperbegriff, über den eine spekulative LeibSeele-Konstruktion gelegt wird - als baue die Seele "aus der toten Materie den Körper zusammen, wie ein geschickter Mechanikus ein Uhrwerk"125. Späterhin, in der Psyche, äußert sich Carus allerdings auch zustimmend: Stahl habe nämlich - hieran ist Carus besonders gelegen - den Unterschied des bewußten und unbewußten Seelenlebens bereits erkannt und darum den Gedanken an eine "zweite Entelechie"126, an eine nichtseelische Kraft der Bewegung im Organismus, aufgegeben. Insgesamt ist die Psyche ganz auf die Lehre vom Unbewußten hin orientiert, und deutlich zeigt sich hier, wie die metaphysische Konzeption des vitalen Unbewußten aus der spekulativen Lebenskräftephysiologie hervorgeht. Immer wieder geißelt Carus die Behauptung einer "eigenthümlichen 122 123 124 125 126
VüPs, XXXIV. VüPs, 259 f. VüPs, 142. VüPs, 73; vgl. auch VüPs, 144; PS, 22. PS, 22.
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unbekannten Potenz, einer sogenannten Lebenskraft"127 und hält dem den Gedanken der Einheit des Organischen, die nur die Unterscheidung von Unbewußtem und Bewußtsein erlaube, entgegen: Die Lebenskraft, man mag sie sich noch so subtil oder noch so massiv denken als man will, wird immer ein sich aus sich selbst Bewegendes, ein Individuelles, ein nur vom Hauche des Göttlichen Getriebenes, mit einem Wort eine Art von Seele bleiben; die Seele, man mag sie nun in Gedanken noch so sehr vorn palpabeln Organismus absondern, und von Dem, was man organisches Leben nennt, unterscheiden: sie wird sich immer in unserem Bewußtsein auf das Genaueste mit allen Formen unseres Lebens verknüpft zeigen und wirklich sind ja auch daher einige Physiologen schon zu der sehr natürlichen Annahme gekommen: die Seele wäre am Ende nur eine gesteigerte, in ihrer höchsten Wirksamkeit erscheinende Lebenskraft, wogegen sogar nichts zu sagen wäre, sobald man einsieht, daß außer dem Schaffen des Lebens durch die göttliche Idee selbst es überhaupt keine Lebenskraft gibt und geben kann.128
Die Lebenskraft sei eben "jenes erste Unbewußte"129, und alles, was man dem Körper zurechne, sei "nichts als die an der Substanz zu Stande gekommene Offenbarung und Erscheinung einer unbewußten Psyche, d.i. der zuerst nur unbewußt waltenden Grundidee unserer Existenz"130. Das, was Carus das absolut Unbewußte nennt, ist also Abkömmling der Lebenskraft, ist das einheitliche Prinzip, das allem Lebendigen zugrundeliegt. Diese Integration der vitalen Funktionen in den Bereich der Seele gewann im Zuge der anthropologischen und naturphilosophischen Überwindung des cartesianischen Dualismus nach 1800 an Boden. Der Bildungstrieb sei "dem Wesen nach nicht verschieden von der Seele"131, so heißt es in Reils Allgemeiner Pathologie. Vegetative und animalische Seele wurden ineinsgesetzt: Erschien daher das Denken selbst nur als "der höchste Ausdruck"132 des Bildungstriebes, so wurde umgekehrt allen Gestaltungsvorgängen "ein Intelligentes, wiewohl bewußtlos wirkendes"133 zugrundegelegt. In vergleichbarer Manier betonte Karl Friedrich Burdach, "daß Lebensprinzip und Seele nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrer Erscheinungsweise und Entwicklungsstufe von einander verschieden sind"134. Das leibliche Leben sei seiner Natur nach geistig, "ohne zu einem innern Sein, zu individuellem
127 128 129 130 131 132 133 134
PS, 7; ebenso 5-9, 17, 119, 221. PS, 8. PS, 17. PS, 119. Reil 1815/1, 57. Reil 1815/1, 59. Reil 1815/1,67. Burdach 1837, 130.
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Bewußtsein, zu gelangen"135. Zunehmend wurden Seele und Lebenskraft im Zeichen des Unbewußten miteinander identifiziert. Mit seiner vehementen Kritik am Postulat der Lebenskraft befand sich Carus zudem in - wenn auch eher vordergründiger - Übereinstimmung mit materialistischen Physiologen und naturwissenschaftlichen Medizinern der Jahrhundertmitte. Bekannt ist Hermann Lotzes Verdikt über diesen "aus der hohlen, nebulosen Emphase der Phantasie"136 geborenen Begriff im Handwörterbuch der Physiologie. Aktueller Anlaß einer erneuten Debatte über die Existenz einer Lebenskraft wurde in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die spekulativ-physikalische OdLehre des Wiener Industriellen von Reichenbach. Aus Licht-, Wärmeund Kälteerscheinungen, die nur für gewisse Personen wahrnehmbar waren, leitete Reichenbach die Existenz eines neuen imponderablen Stoffes, des Ods, ab; die spezifische Fähigkeit lebender Organismen, das Öd wahrzunehmen, bezeichnete Reichenbach als Sensitivität. Unter allen Imponderabilien sollte das Öd dasjenige "Dynamid" sein, "welches dem seelischen Principe im Menschen am nächsten steht"137; gleichwohl insistierte Reichenbach darauf, daß es sich um einen rein physikalischen und empirisch bestätigten Stoff handelte. In einem Artikel über Lebensmagnetismus - Magie für das zeitgeschichtliche Werk Die Gegenwart kritisierte Carus, daß die sensitiven und odischen Erscheinungen Reichenbachs alle aus bekannten physiologischen Quellen und aus längst angenommenen physikalischen Stoffen zu erklären seien.138 Wie schon vor ihm Karl Vogt und Justus von Liebig, wies auch Carus die Lehre vom Öd als spekulativ zurück und verdankte es diesem Umstand, in einer Verteidigungsschrift Reichenbachs mit dem Titel Odische Erwiederungen (!) an die Herren Professoren Fortlage, Schieiden, Fechner und Hof rath Carus direkt angesprochen zu werden. Nun war sich Reichenbach keineswegs im Unklaren, daß es sich hierbei um eine durchaus heterogene Gruppe von Gegnern handelte; Carus wird deutlich als naturphilosophisch orientierter Physiologe gekennzeichnet und von den anderen Genannten unterschieden.139 Dennoch mag die Tatsache, daß Carus in einem Atemzug mit dem Begründer der experimentellen Psychologie - Fechner - und dem Urheber der biologischen Zellenlehre Schieiden - genannt wird, zum Anlaß genommen werden, auf ein verborgenes Charakteristikum seiner Lehre vom Unbewußten hinzuwei135 136 137 138
Burdach 1837, 120. Lotze 1842, XIX. Reichenbach 1856, 56. Auszüge aus Carus' Artikel sind abgedruckt in: Reichenbach 1856, 64-66. Vgl. hierzu auch Lmag, 163. 139 Reichenbach 1856, 64-71.
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sen. Cams' anthropologischer Monismus ist nämlich durch eine spezifische Ambivalenz bestimmt: Die Gleichsetzung von Seele und Leib bzw. Lebenskraft - das mag in den obigen Zitaten bereits angeklungen sein - bringt beide in ein zirkuläres Begründungsverhältnis und umfaßt sowohl eine immanent-deterministische wie eine animistische Betrachtungsweise. Diese besondere Problematik der Lehre vom Unbewußten hängt mit der Widersprüchlichkeit des metaphysisch und phänomenal verstandenen - Seelenbegriffs zusammen. Im Kontext seiner Ideenlehre gilt Carus die Seele als das Bedingende, Ursächliche und Erste; sie ist ideales Urbild, das allem Erscheinenden zugrundeliegende immaterielle Prinzip. Geistiges Wesen und körperliche Gestalt gehen nach Carus "aus derselben Wesenheit der Idee hervor (...), welche nur im organisch Leiblichen als ein schlechthin Unbewußtes sich bethätigt, während sie im Geistigen als ein Selbstbewußtes waltet"140. Andererseits - im Kontext seiner Psychophysiologie - ist die Seele das im Schopenhauerschen Sinne "tertiäre"141: sie setzt den Organismus, dieser wiederum die Idee voraus. Das Bewußtsein ist, so stellt Carus wiederholt heraus, somalisch bedingt. Es beruht auf physischen Prozessen und erlischt mit deren Ende; über das "Zeitliche und Vergängliche aller Innervation, und somit auch alles sensibeln und überhaupt psychischen Wirkens und Lebens"142 macht sich Carus keine Illusionen. Das Faktum der physiologischen Bedingtheit der Seelentätigkeit firmiert bei Carus unter dem Titel der Abhängigkeit des Bewußtseins vom Unbewußten. Das Unbewußte ist hier gleichgesetzt mit dem, was sonst "unter dem Namen des Leiblichen"143 läuft. In diesen Zusammenhang gehört auch der vielzitierte und zumeist mißverstandene Satz, das Unbewußte sei "nur der subjective Ausdruck für Das, was objectiv wir als 'Natur1 anzuerkennen
140 PS, 269. 141 "Dieses erkennende und bewußte Ich verhält sich zum Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben ist, wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes, nur eine bedingte, ja eigentlich bloß scheinbare Realität. Weit entfernt, das schlechthin Erste zu seyn (wie z.B. Fichte lehrte), ist es im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen." (Schopenhauer, zit. nach Schmidt 1988, 87). Diese Stelle findet eine genaue Parallele in Cams' Organen der Erkenntnis der Natur und des Geistes, wo das selbstbewußte Ich als das aus der "Erscheinung (...) zurückgeworfene Bild jenes geheimnißvollen Ur-Ich", als "das Dritte" gekennzeichnet wird (Organen, 250). Zu der - Carus' Vorstellungen recht ähnlichen - Theorie Schopenhauers über den "physischen Intellekt" vgl. die Ausführungen Alfred Schmidts (Schmidt 1988, 79-93). 142 Nul, 373. 143 PS, 221.
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haben"144. Er indiziert nicht den kosmologisch-metaphysischen Charakter des Unbewußten, sondern ordnet dieses der Erscheinungswelt zu. Das Unbewußte ist Phänomen der Idee, und als solches selbst nicht metaphysisch.145 In der Tat setzt sich das Kernstück der Carus'schen Psychologie, die Lehre "von dem fortwährenden Bedingtsein des bewußten durch das unbewußte Seelenleben"146, letztlich aus lauter gängigen Motiven der Anthropologie zusammen. Carus geht es darum, "scharf im Einzelnen nachzuweisen, durch welche Vorgänge auf der unbewußten Seite des Lebens die besonderen Vorgänge des Bewußtseins sich namentlich bedingt finden, oder mit anderen Worten, welche physische Prozesse jenen psychischen Strahlungen (...) zum Grunde liegen"147. Die Abkunft dieser Theorie über die Bedeutsamkeit des Unbewußten von der anthropologischen Influxustheorie bekundet sich schon darin, daß Carus immer wieder von dem Einfluß oder der Wirkung des Unbewußten auf das Bewußtsein, vom Bedingtsein und der Abhängigkeit des bewußten Seelenlebens spricht. Der identitätstheoretische Ansatz verbietet strenggenommen ein solche kausale Ableitung. Hatten die Anthropologen des 18. Jahrhunderts ihre auf dualistischen Prämissen beruhende Influxustheorie für eine allein aus der Erfahrung abgeleitete Lehre ausgegeben, so präsentiert in der Nachfolge auch Carus seine identitätstheoretische Lehre von den verschiedenen seelischorganischen "Provinzen"148 als nichtmetaphysisch. Er bedient sich derselben Erfahrungssätze und Belegbeispiele wie jene und will seine Psychologie als eine verstanden wissen, die sich an die Wirklichkeit des Lebendigen hält. "In allem Lebendigen ist aber Idee und ätherische Substanz als ein actu überhaupt ewig Untrennbares immer nur in ungetrennter Einheit zu erfassen."149 Erst die Scheidung eines Ursachlich-Ideellen von dem Materiellen, woran das Ideelle zur Erscheinung kommt, bezeichne den Punkt, "wo die Physik des Organismus in die Metaphysik übergeht, dieweil hier eine Trennung gedacht werden muß, welche außerhalb und über der Wirklichkeit liegt"150. Insofern Carus von der Realitätsnähe seines Ansatzes ausgeht, beschränkt sich seine Argumentation zugunsten des Unbewußten auf 144 145 146 147 148 149 150
Nul, 12. Vgl. PS, 221 f. PS, 189. PS, 189 (Hervorhebung von JMT). PS, 48. PS, 35. PS, 44 (Hervorhebung getilgt, JMT).
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ostensive Gesten. Mustert man die empirischen Beispiele, mithilfe derer Carus in der Psyche Existenz und Macht des Unbewußten belegen will, so begegnet allenthalben Bekanntes aus der anthropologischen Literatur: Beispiele für den Einfluß des Körpers auf die Seele, von Carus mit dem suggestiven Zusatz versehen, daß man hieraus die Entwicklung des Bewußten aus dem Unbewußten ersehen könne. Aus der Fülle der übernommenen Beobachtungen seien einige zitiert: Bei freier Tätigkeit des Atmungssystems erscheint nach Carus "Muth, Thatkraft, Freudigkeit, Leichtigkeit der Bewegung"151, während aus beengter Atmung Furcht und Zaghaftigkeit entstehe. Ein verstopftes Pfortadersystem ziehe Monomanien nach sich.152 Das Blutleben, "der unbewußte Herd freudiger und trauriger Gefühlswelt"153, bedinge die wechselnden Zustände des Gemüths. Intelligenz setze "eine große Masse (...) normal gebildeter Ursubstanz des Hirns"154 voraus. Die Integrität des Denkens und des gesamten geistigen Daseins hänge an der Durchblutung des Gehirns.155 Das vorherrschende Leben der Verdauung störe die Leichtigkeit des Vorstellungslebens.156 Eine kranke Leber bewirke Bitterkeit und Haß.157 Die Liste der Exempel ließe sich beliebig verlängern - allesamt jedoch münden sie in dasselbe Fazit: Dergleichen Betrachtungen - so heißt es immer wieder - seien "recht geeignet, das Hervorbilden des Bewußten aus dem Unbewußten (...) deutlicher zu machen, und namentlich auch immer deutlicher einsehen zu lehren, was es mit Dem zu bedeuten habe, das man insgemein als Einfluß des Leibes auf die Seele und der Seele auf den Leib bezeichnet; denn man erkennt hieran, daß damit gewöhnlich nur ausgedrückt werden soll der Einfluß eines organischen Systems auf das andere, und namentlich die Einwirkung dunkler Erfühlungen auf das bewußte Gefühl und die erkennende Seele , und umgekehrt."158 Das, "was man gewöhnlich und (...) mit Unrecht die Lehre von Wechselwirkung zwischen Leib und Seele genannt hat"159, ersetzt Carus psychologisch durch die Theorie von den verschiedenen Seelenkreisen oder "Regionen des Seelenlebens"160, nämlich Unbewußtem und Bewußtsein mit ihren jeweiligen Untergliederungen. 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160
PS, 53. PS, 385. PS, 302. PS, 118. PS, 221. PS, 73. PS, 385. PS, 54. PS, 47. PS, 34.
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So rechnete man z.B. es als eine Beziehung zwischen Leib und Seele, wenn man das Verhältniß darstellte, welches besteht zwischen den zum Bewußtsein kommenden Denkfunctionen des Gehirns und den bewußtlosen Verdauungsfunctionen des Magens; man sagte: das Denken der Seele werde influenzirt von dem Ernährungsleben, der Geist von dem Blutleben des Leibes u.s.w., und bedachte nicht, daß man hier und in allen ähnlichen Fällen gar keinen Gegensatz von Seele und Leib, sondern nur einen Gegensatz zwischen bald bewußten, bald unbewußten Regionen der sich darlebenden Seele, oder eines zeitlich und organisch sich darlebenden göttlichen Urbildes, vor sich hatte.161
Aus physiologischer Perspektive stellt sich der identitätstheoretisch gefaßte Einfluß des Körpers auf die Seele als Wirkung verschiedener organischer "Provinzen"162 aufeinander dar. Um eine entsprechend modifizierte Erklärung des eben angeführten psychophysiologischen Faktums zu zitieren: Die Beeinträchtigung der seelisch-geistigen Tätigkeit durch übermäßige Nahrungsaufnahme werde oftmals falsch erklärt, indem "man dabei nur vom Bedrücktseyn des Geistes durch das Körperliche zu sprechen pflegt, während es doch wirklich hier durchaus nur von Wechselwirkung zweier organischer Systeme, dem des vegetativen und dem des sensibeln Lebens, sich handelt, allwo es denn leicht zu begreifen ist, dass, wenn der eine Factor sich hebt, der andre sinken muss."163 Cams' Lehre von der Bedingtheit des Bewußten durch das Unbewußte erweist sich über weite Strecken als Reformulierung der - mittlerweile althergebrachten - Bestände der Anthropologie. Dieselben Argumente hatten Ernst Plainer dazu gedient, die Influxus-Theorie zu stützen; ebendiese Argumente hatten schon als Beleg des materialistischen Monismus eines Lamettrie herhalten müssen.164 Tatsächlich eignet dieser Identifikation von Seele und Leib im Begriif des Unbewußten ein durchaus aufklärerischer und, wenn man so will, kryptomaterialistischer Zug. Nach Carus wurde das dualistische Menschenbild mitsamt seiner psychophysiologischen Widersprüche herbeigeführt "durch übelverstandene Ideen über Freiheit der Seele, Unsterblichkeit u.s.w. - Diese Heiligthümer der Menschheit glaubte man gefährdet, sobald man die Seele auf irgend eine Weise mit dem sterblichen, irdischen Körper in genauere Verbindung brachte. Also immer weiter und weiter riss man den Körper von der Seele los, und natürlich immer dunkler und unerklärlicher wurde die Möglichkeit unmittelbarer Einwirkung des einen auf das andre."165 Noch in der Psyche führt Carus die Trennung 161 162 163 164 165
PS, 34. PS, 48. Vgl PS, 238. Vgl. auch PS, 54. Zu Lamettrie vgl. Schings 1977, 13 f. Nerv, 6.
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von Seele und Lebenskraft zum Teil auf "eine mißverstandene theologische Richtung"166 zurück, die in der Annahme einer einheitlichen, für Bildung, Ernährung und Denken gleichermaßen verantwortlichen Seelenkraft eine Gefahr für die Unsterblichkeitslehre erblickte. Daß diese Theorie einer die Lebensphänomene bedingenden Seelenkraft ihrem materialistischen Gegenteil immer wieder nahekam, zeigt sich nicht zuletzt an der Tendenz zur Verquickung des Organischen mit dem Mechanischen. Besonders deutlich tritt diese Neigung in einem Aufsatz Über das Maschinenwesen im Lichte der Physiologie zutage, in dem Carus die These aufstellt, daß "Hunderte von Einrichtungen mechanischer Apparate (...) ursprünglich Nachbildungen gewisser Vorrichtungen thierischer Organisation gewesen sind"167, eine These, die es ihm umgekehrt ermöglicht, "unsern gesammten Muskelbau unter dem Bilde einer Maschine"168 sich vorzustellen. Ob nun der Körper als Apparat oder die Maschine als Organismus imaginiert wird, macht letzlich keinen Unterschied. Die Verbindung von materialistisch gefärbtem Monismus in LeibSeele-Fragen mit einer Metaphysik, die alles Natürliche auf ein ideelles Prinzip ursächlich zurückführt, ist charakteristisch für den Strang der medizinischen Anthropologie des früheren 19. Jahrhunderts, dem Carus zuzurechnen ist. Für Karl Friedrich Burdach steht es außer Zweifel, "daß das leibliche Leben auf einem geistigen Grunde beruht"169. Diese Auffassung hindert ihn indes nicht daran, die materielle Bedingtheit des Bewußtseins herauszustreichen. "Die Seele als Lebenserscheinung und das Gehirn als organisches Gebilde, verhalten sich zu einander wie Function und Organ; sie werden also auch in ihren Momenten mit ändern analogen Lebenserscheinungen übereinstimmen."170 Ähnlich setzt auch Johann Christian Reil die "letzte Ursache" aller Gebilde in "ein Intelligentes"171, begreift aber dennoch die Vorstellungen in materialistischem Sinn als "Hirnwirkung"172 und die Seelentätigkeit insgesamt als organisches Produkt. Der paradoxe Status der Seele - als Bedingendes und Bedingtes zugleich - spiegelt sich in Reils Definition: "Die Centricität (die Seele) in dem Gebilde ist das Bestimmende des Bestimmbaren, also einerlei mit dem Bildenden (der anima vegetativa, formativa),
166 167 168 169 170 171 172
PS, 5. Masch, 597. Masch, 603. Burdach 1837,130. Burdach 1819-1826/111,267. Reil 1815/1,67. Reil 1799-1805/IV, 32.
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das Posterius des schon Gebildeten, aber das Prius des noch zu Bildenden."173 Man hat dieses Konzept des vitalen Unbewußten - unter Vernachlässigung seiner spezifischen Zwiespältigkeit - als den romantischen Begriff des Unbewußten schlechthin gekennzeichnet und den Fokus der Interpretation auf dessen naturphilosophisch-kosmologische Bezüge gerichtet. Carus sehe, so schreibt Brinkmann, "im unbewußten Alleben eine geheimnisvolle, magische Macht, die gleichbedeutend ist mit dem metaphysischen Urgrund des Kosmos"174; die Romantiker, so heißt es bei Whyte,175 brauchten das Unbewußte als Verbindung mit universalen Kräften; nach Ellenberger war das Unbewußte für die Romantiker "das Fundament des im unsichtbaren Leben des Universums verwurzelten Menschen, und daher das eigentliche Band, das den Menschen mit der Natur verknüpfte"176; in eben diesem Sinn spricht Beguin von dem "im universellen Leben aufgehenden Unbewußten"177. Nun ist dieser Bezug auf ein kosmisches Alleben zwar vorhanden, keineswegs aber so dominant, wie die Zitate dies suggerieren. Obgleich Carus in seinen Ausführungen zum Unbewußten vielfach spekulativ verfährt, bewegt er sich doch - dies gilt es festzuhalten - weitgehend im anthropologischen Raum. Nur gelegentlich finden sich naturphilosophische Weiterungen in dem von der Forschung betonten Sinn. Relevanter und aufschlußreicher als kosmologische Deduktionen sind daher, so hat sich gezeigt, die anthropologischen Debatten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
4. Gangliensystem und Gemeingefühl: Zur Topographie seelischer Provinzen Der Begriff des Unbewußten, wie er sich bei Carus und anderen Medizinern des früheren 19. Jahrhunderts findet, ist zunächst - dies wurde im letzten Kapitel deutlich - in der anthropologischen Grauzone zwischen Philosophie und Physiologie zu situieren. Man ist versucht, gerade in dem interdisziplinären Status des romantischen Unbewußten
173 174 175 176 177
Reil 1815/1,61 (Anm.). Brinkmann 1943, 42. Whyte 1978, 65. Ellenberger 1973, 288. Beguin 1972, 102.
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eine Hauptgemeinsamkeit mit dem psychoanalytischen Unbewußten zu entdecken.178 Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Genese der Idee des Unbewußten im Einzelnen verfolgt: Weit davon entfernt, ein allein philosophisches Konzept zu sein, erweist sich der romantische Begriff des Unbewußten als eminent geprägt durch Medizin und Biologie. Unterhalb der dargelegten Ebene allgemeiner Spekulationen über das Phänomen des Lebendigen und in beständigem Austausch mit ihr, entwickelt sich die Idee des Unbewußten im Zusammenspiel vergleichend anatomischer Forschungen und neurophysiologischer Erkenntnisse. So wie Freud zu Beginn eine anatomische Verräumlichung des Unbewußten anstrebte - um dann zu einer metaphorischen Topik der Psyche überzugehen -, setzten auch die Anthropologen um und nach 1800 bei der neurologischen Lokalisierung seelischer Funktionen an. Carus verortet das Unbewußte, so wird sich zeigen, in einer komplexen Topographie der Seele. Als Aufriß mag ein Abschnitt aus dem neurophysiologischen Erstlingswerk von 1814 dienen, in dem Carus die Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem vorformuliert: Nicht durchgängig also ist der psychische Organismus Manifestation des sich selbst bewußten Ich, sondern wie der somalische eine innige Vereinigung des centralen und des Ganglien-Systems darstellt, so ist auch die Gesammterscheinung psychischer Thätigkeit zwar zum Theil und vorzüglich in der mit Bewußtsein wirkenden Seele, ändern Theils aber im Gemeingefühl begründet; eine Combination, aus welcher besonders die Mannichfaltigkeit der Affecte, Temperamente u.s.w. hervorgeht und welche von denjenigen Physiologen, deren Meinung zufolge im Menschen ein zwiefache Seele existirte, eine niedrigere, auf die vegetativen Processe des Organismus sich beziehende, und eine edlere, im höhern, geistigen Leben sich manifestirende, bereits vorgeahndet worden ist, nur daß sie sich nicht überwinden konnten, diese beiden Seelen geradezu als die dynamischen Seiten jener beiden Nervensysteme zu betrachten.179
Deutlich zeigt sich, daß die psychologische Trennung von Bewußtem und Unbewußtem auf der physiologischen Unterscheidung des Nervensystems in Cerebral- und Gangliensystem und dem Begriff des Gemeingefühls ruht. Beide Aspekte - die Differenzierung des Nervensystems sowie Idee und Begriff des Gemeingefühls - hat Cams zweifelsohne von Johann Christian Reil übernommen. Die Frage nach dem individuellen Einfluß soll hier jedoch weniger interessieren; wichtiger ist das wissenschaftliche Diskussionsfeld, dem beide angehören: Reils Theorien sind nämlich ihrerseits Bestandteil der physiologischen Debatten, die die anatomia animata des 18. Jahrhunderts auflösen. 178 Zum Verhältnis der Psychoanalyse zu ihren Nachbardisziplinen - Neurophysiologie, Soziologie und Psychologie - vgl. Lorenzer 1986, 11-19. 179 Nerv, 22.
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Die Physiologie des 18. Jahrhunderts, beispielhaft repräsentiert in Hallers Lehre von Irritabilität und Sensibilität, läßt sich als wissenschaftliche Konstruktion begreifen, in der verborgene philosophischtheologische Annahmen und Ansprüche wirksam blieben und die Deutung der experimentellen Fakten mitbestimmten.180 Der Gedanke von der Einheit des Bewußtseins prägte das Programm der physiologischen Analyse im 18. Jahrhundert und führte zu der Suche nach dem sensorium commune als einfachem und einheitlichen Organ der Seele. "Man bestimmte", so resümiert Carus kritisch das nervenphysiologische Modell des 18. Jahrhunderts, "irgend einen Punkt im Centrum des sensibeln Systems, im Gehirn, welcher als Sitz der Seele oder Seelenorgan betrachtet wurde. Hier, glaubte man, flössen die Nerveneindrücke von allen Enden des Körpers zusammen, hier würden sie der Seele übergeben, und so entständen Vorstellungen. Diese Sinnesvorstellungen regten in der Seele die Willensvorstellungen auf, diese wirkten als ein Reitz auf das Seelenorgan, dieser Reitz werde fortgepflanzt durch die Nerven zu den Muskeln, und bringe dort die Bewegung hervor. (...) Es erschienen demnach die Nerven im Ganzen als völlig seelenlose Leitungsorgane, die Sinneswerkzeuge aber als receptive Maschinen, welche in sich der wahren Sinnesempfindung völlig unfähig, einzig bestimmt wären, äussere Eindrücke aufzunehmen, und sie durch ihre Nerven zum Seelenorgan zu senden".181 Hallers Lehre unterstützte dieses Modell der Nervenfunktion, demzufolge Abdrücke von äußeren Gegenständen auf die Nerven sich in denselben fortpflanzten bis ins Hirn und weiter in die Seele, die hierbei völlig passiv sein sollte. Hallers Sensibilitätstheorie lieferte physiologische Argumente für das sensorium commune; sie bestätigte die funktionale Homogenität des Nervensystems und damit die Einheit der immateriellen Seele.182 In dieser Zusammenfügung von philosophischem Seelenbegriff und anatomischen Daten, Wahrnehmungstheorie und physiologisch-experimentellen Fakten war ersichtlich kein Raum für die Annahme eines physiologischen Unbewußten. Carus moniert denn auch, daß mit dieser neurophysiologischen Theorie "so viele Erscheinungen des Nervenlebens, z.B. die deutlichen Spuren von Empfindung und dadurch erregter Bewegung, bey Hirn-und Rückenmarkslosen Mißgeburten, die sämmtlich unwillkürlichen Bewegungen, die Bildung des Nervensystems in den niedern Thierklassen, wo ein
180 Dies beanstandeten schon Kritiker wie Franz Josef Gall um 1800 (vgl. Gall/Spurzheim 1810, 49). Zur Nervenphysiologie des 18. Jahrhunderts vgl. Figlio 1975. 181 Nerv, 5. 182 Vgl. Figlio 1975, 185; Neuburger 1897, 128-136.
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wahres Centrum der Sensibilität sich häufig gar nicht nachweisen läßt u.s.w., in offenbarem Widerspruch"183 stünden. Die physiologische Konzeption des Unbewußten wurde erst möglich, als man auf experimentellem Wege, durch begriffliche Klärung und nicht zuletzt unter Einbeziehung vergleichend-anatomischer Erkenntnisse zur funktionalen Differenzierung des Nervensystems und zur Annahme untergeordneter Zentren in demselben gelangte. Ausgangspunkt war die Kritik an Hallers Begrifflichkeit: Haller hatte, indem er die Schmerzäußerung des Tieres zum Kriterium der (nicht-psychisch verstandenen) Sensibilität erhob, bewußte Empfmdungsfähigkeit und physiologische Erregbarkeit der Nerven vermischt.184 Überdies hatte er die Sensibilität scharf von der Irritabilität, die als spezifische Kraft der Muskelfaser für alle tierischen Bewegungen verantwortlich sein sollte, getrennt. Damit wurde die Wirksamkeit des Nervensystems auf dem Gebiet der vegetativen Tätigkeiten stark eingeschränkt; insbesondere ging es Haller darum, die Unabhängigkeit der Herzaktion von nervöser Leitung zu beweisen. Hallers Kritiker behaupteten dagegen anhand von Beobachtungen - etwa über den Einfluß der Leidenschaften auf den Puls oder die Existenz der Herznerven - die Abhängigkeit der Muskelkontraktion von der Nerventätigkeit. Versuche u.a. mit Opiuminjektionen an Fröschen bewiesen, daß mit herabgestimmter Sensibilität auch die Anzahl der Pulsschläge vermindert wird, daß also die Bewegung des Herzmuskels mit der Aktivität der Nerven parallel läuft.185 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte sich die antiHallersche Position mehr und mehr durch. Die Unterordnung der Irritabilität unter die Sensibilität ging nicht nur mit der wissenschaftlichen Aufwertung des Nervensystems einher, sondern erzwang auch die Unterscheidung von bewußter und bewußtloser Nerventätigkeit. Sollte das Nervensystem Basis aller organischen Funktionen und unwillkürlichen Bewegungen sein, dann mußte es einen unbewußten Reaktionsmechanismus der Nervenfaser geben. Unter den zahlreichen von Stahl inspirierten Kritikern Hallers, die in dieser Richtung forschten, kommt Johann August Unzer eine besondere Bedeutung zu. In der Schrift Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper aus dem Jahre 1771 trennte Unzer das Gefühl von der Empfindung: Ersteres verstand er als als Eindruck der Außenwelt auf die Nerven, letztere dagegen als
183 Nerv, 5 f. 184 Vgl. Rothschuh 1958, 2965. 185 Vgl. Neuburger 1897, 162, 176 f.
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Vorstellung des Nerveneindrucks in der Seele.186 Während die Empfindung mit Bewußtsein verbunden ist und "blos zur Seele gehört"187, besitzen die Nerven eine besondere, von der Sensibilität zu unterscheidende Reizbarkeit, ein unbewußtes Gefühlsvermögen. Diese Trennung von bewußt-seelischer Affektion und unbewußt-physiologischer Reizbarkeit der Nerven tauchte gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Schriften von Anthropologen und Physiologen wie Karl Franz von Irwing,188 Christoph Ludwig Hoffmann189 oder Georg Prochaska190 auf. In vergleichbarer Manier unterschied der französische Vitalist FrangoisXavier Bichat, dessen Anatomie generate (1801) auch in Deutschland intensiv rezipiert wurde, als Grundleistungen im Organismus: die animalische Sensibilität, eine bewußte Empfindungsfähigkeit, die organische Sensibilität, eine unbewußte Eindrucksfähigkeit, ferner animalische und organische Kontraktilität, d.h. willkürliche und unwillkürliche Bewegungsfähigkeit.] 91 Auch Carus unterscheidet in seinem System der Physiologie zwischen "Erfühlung" und "Empfindung", Perzeption und Sensation, zwischen unbewußter und bewußter Sensibilität.192 Allerdings bezieht er sich unter Umgehung der ausgedehnten physiologischen Debatten über dieses Thema auf Bacon und Glisson, einen dynamistischen Physiologen des 17. Jahrhunderts. In der Psyche greift Carus auf die Trennung von Erfühlung und Empfindung zurück und erklärt sie zur Grundlage seiner Differenzierung zwischen Unbewußtem und Bewußtem.193 Insofern sich also die Nervenphysiologie um und nach 1800 bevorzugt mit der Erforschung und begrifflichen Bestimmung der Reflexmechanismen und vegetativen Vorgänge beschäftigte, war das Phänomen des Bewußtlosen in den wissenschaftlichen Diskussionen allenthalben präsent. Dabei wurde im Gegensatz zum physiologischen Modell des früheren 18. Jahrhunderts, das nur die passive Reizleitung bis zum Gehirn kannte, den Nerven des Gangliensystems und dem Rückenmark eine gewisse - eben unbewußte - Eigenaktivität und Selbständigkeit zugesprochen. Die neue Auffassung des Nervensystems entstand insbesondere unter dem Eindruck der vergleichenden Anatomie. Diese lehrte, daß in verschiedenen Tierarten die Teile des Nervensystems 186 187 188 189 190 191 192 193
Vgl. Unzer 1771, 47-52, 399-401. Unzer 1771, 401. Irwing 1777-85/1, 43 f. Hoffmann 1779, 5-8. Vgl. Rothschuh 1958, 2967. Vgl. Bichat 1802 b, 7-11. SdPh III, 4 ff. PS, 50 f.
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nach Maßgabe der Entwicklung des Gehirnes mehr oder weniger eigenständig wirken können. In der Stufenleiter der Lebewesen sollte das Gehirn immer mehr zum "Centralorgan des sensibeln Lebens"194 werden und die Autonomie der untergeordneten Teile des Nervensystems abnehmen. So bewiesen nach Carus "die Beobachtungen vom langen Fortleben mehrerer Thiere, denen man das Gehirn ausgeschnitten hatte (...), dass in solchen niedriger stehenden Thiergattungen (..) das Hirn selbst noch nicht jenes Centralorgan darstelle, welches es in den höhern Gattungen wirklich wird"195. Die psychophysiologische Anwendung der vergleichend anatomischen Theorie einer zunehmenden Zentralisierung führte zur Unterteilung des Nervensystems in untergeordnete Einheiten mit spezifischen Funktionen. Wie die Verschiedenheiten der Organisation des Nervensystems bei verschiedenen Tieren zu Zeichen der jeweils in ihnen vorhandenen Vermögen wurden,196 so wurde die organisatorische Verschiedenheit und graduelle Zentralisierung im menschlichen Nervensystem selbst zum Zeichen verschiedener psychischer "Regionen", die genetisch-hierarchisch gedeutet wurden. Die unbewußte Umschaltung von Nervenreizung in Bewegung suchte man durch die im Zitat aus Carus' neurophysiologischem Frühwerk bereits angeführte Trennung in Central- und Gangliennervensystem zu erklären: Das, was sich physiologisch gesehen in den Nerven und Ganglien des Rumpfes abspielte, sollte psychologisch gesehen unbewußt bleiben. Man tendierte dazu, nicht mehr nur das Gehirn oder einen bestimmten Punkt in demselben als Sitz der Seele zu bestimmen, sondern das gesamte Nervensystem als Organ des animalischen (oder sensiblen) Lebens, dessen höchste Erscheinung die Seele sein sollte, zu betrachten. Es dominierte ein, wie man sagen könnte, Modell der "Centricität", demzufolge sich die bewußtlose Empfindsamkeit der Nerven im Gehirn zu Bewußtsein steigert. Die Unterteilung in zentrales und sympathisches Nervensystem letzteres wurde auch accentrisches, automatisches oder vegetatives, Ganglien- oder Rumpfnervensystem genannt - gehörte seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu den gängigen Lehrstücken der Neurophysiologie. Als erster hatte Bichat in seinen berühmten Recherches physiologiques sur la vie et la mort (1800) die Theorie formuliert, daß der sympathische Nerv ein eigenes, von Gehirn und Rückenmark unabhängiges System bilde, in welchem jedes Ganglion einen isoliert wirksamen Herd darstelle. Bichat ordnete das sympathische Nervensystem dem organischen im Gegensatz 194 Nerv, 304. 195 Nerv, 304. 196 Vgl. Vgl PS, 72.
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zum animalischen Leben zu und verband es dadurch mit der Polarität von Bewußtsein und unbewußter Tätigkeit. Wie schon Johann August Unzer, Georg Prochaska und andere vor ihm,197 beschrieb Bichat die Nervenknoten des vegetativen Systems als untergeordnete Sensorien oder Zentren, die die Reizfortleitung erschweren, sowie Eindrücke von den peripherischen Enden reflektieren und dadurch unbewußte Reaktionen und unwillkürliche Tätigkeiten auslösen.198 In Deutschland setzte sich diese Lehre vor allem mit Reils Aufsatz Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältniß zum Cerebralsysteme (1807) im "Archiv für die Physiologie" durch. Wohl unter dem Eindruck von Bichats Auffassungen erweiterte Reil seine bereits über zehn Jahre alte Theorie vom Gemeingefühl, auf die noch eingegangen werden soll, zu einem umfassenden psychophysiologischen Modell. Das selbständige Gangliensystem gehört nach Reil ausschließlich dem Apparat der Bildung und Reproduktion des körperlichen Organismus an. Es verbindet die isolierten Organe des Körpers zu einer Ganzheit und gibt ihnen seine Vitalität. Zwischen Ganglien- und Cerebralsystem liegt ein "Apparat der Halbleitung, der unter gewissen Umständen der Vermittler ihrer Trennung, unter anderen der Vermittler ihrer Gemeinschaft seyn kann"199. Mit der Theorie, daß die unter normalen Umständen isolierenden Halbleiter zu Konduktoren werden können, versuchte Reil, Phänomene wie Schlaf, tierischen Magnetismus, Seelenkrankheiten und Somnambulismus zu erklären.200 - Stärker als Bichat hob Reil auf das Unbewußte ab. "Perception hat allerdings das GanglienSystem, es nimmt Eindrücke auf und wirkt ihnen entgegen, aber eine solche, die nicht vorgestellt wird, wegen Mangel eines dominirenden
197 Vgl. Unzer 1771, 66 f. Ein historischer Abriß der Theorien über Bau und Zweck der Ganglien findet sich bei Burdach 1819-26/1, 187 (Anm. 34); vgl. hierzu auch Neuburger 1897, 187-191. 198 Vgl. Bichat 1802 a, 76-88. 199 Reil 1807,210. 200 Gegen die gängige Abqualifizierung der Reilschen Theorie des Gangliensystems als naturphilosophische Spekulation behauptet Heinz Schott, dieses Polaritätsmodell sei die wissenschaftshistorisch bedeutsamste Leistung Reils (vgl. Schott 1988, 202 ff). Es habe der aufkeimenden Tiefenpsychologie der Romantik ein physiologisches Erklärungsmodell geliefert, mit dem erstmals psychologische, pathologische und übernatürliche Phänomene psychodynamisch erklärt werden konnten. Reils Annahme von zwei seelischen Bereichen sieht Schott als Ausgangspunkt der modernen medizinischen Psychologie und Psychotherapie. Bei dieser - gelegentlich etwas kurzschlüssigen - Apologie übersieht Schott allerdings, daß Reil keineswegs der Urheber der Theorie des Gangliensystems war und daß auch deren psychologische Auslegung im Hinblick auf das Unbewußte bereits in der zeitgenössischen Nervenphysiologie angelegt war.
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Centrums in ihm und seiner Abgeschiedenheit vom Cerebral-System."201 Das Ganglien-System "wirkt bewußtlos, in jedem Punkt mit gleicher Intensität, nach blinder Nothwendigkeit."202 Dagegen erscheint das Cerebral-System als "die höhere Potenz"203 des Ganglien-Systems; hier steigert sich die Idee zu Bewußtsein. "Das Ganglien-System ist in der vegetativen Sphäre der Repräsentant einer bewußtlosen, wie das Gehirn in der animalischen Sphäre der Repräsentant einer sich bewußten Spontaneität."204 Charakteristisch für diese Konzeption des Unbewußten ist die Vermischung kognitiver und vitaler Aspekte: Das GanglienSystem bildet den Bereich der normalerweise nicht zum Bewußtsein kommenden Wahrnehmungen und zugleich die Quelle der Lebenskraft. In Hinsicht auf die vitalen Funktionen des Gangliensystems argumentiert Reil sowohl physiologisch - die Nerven stiften die Verbindung zwischen den Organen und reizen sie zu ihrer spezifischen Tätigkeit - als auch naturphilosophisch: Im Gangliensystem wirkt die "bewußtlose Idee"205. Auch für Carus kommt die unbewußte Sensibilität allem OrganischLebendigen zu, während die bewußte Empfindung nur unter Voraussetzung eines höher entwickelten Nervensystems entstehen kann.206 Bei niederen Tieren, d.h. solchen mit einfachem Nervensystem ohne Gehirn, gibt es nur bewußtlose Erfühlungen. Im Nervensystem der höheren Tiere und des Menschen unterscheidet Carus ebenfalls sympathisches und zentrales Nervensystem. Das sympathische System ist "in die bewußtlosen Regionen des Bildungs-und Ernährungslebens (...) versenkt"207 und umfaßt die Stämme des sympathischen Nerven, die Ganglien und Geflechte im Rumpf sowie deren Verbindungsnerven. Das zentrale Nervensystem setzt sich aus Rückenmark, Hirn und Sinnesorganen zusammen. Aus den "morphologischen Eigenthümlichkeiten beider Hälften des Nervensystems" zieht Carus folgende Schlüsse "hinsichtlich der biologischen Verschiedenheiten": 1) Nur das centrale System, und nur wenn die Leitung seiner Primitivfasern wirklich entwickelt ist, wird sich dazu eignen seine peripherischen Erregungen durch gemeinsame Leitung auf centrale Bläschensubstanz (Hirn) zu übertragen und sie somit in Form bewußter Empfindungen der Seele vorzustellen. 2) Dem sympathischen System ist es zwar vermöge der Concentration auch seiner Primitivfasern im Hirn ebenfalls möglich, bewußte Empfindungen zu erregen, hingegen werden in der Regel seine peripherischen
201 202 203 204 205 206 207
Reil 1807,231. Reil 1807, 230. Reil 1807,210. Reil 1807, 216 f. Reil 1807,212. SdPh III, 5 f. SdPhlll, 41.
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Erregungen, theils wegen seiner gleichsam unentwickelt gebliebenen grauen Fasern, theils wegen so vielfaltiger Durchgangspunkte seiner Primitivfasern durch untergeordnete Bläschenmassen (Ganglien) auf der Stufe unbewußter Empfindungen, d.i. der Erfuhlungen stehen bleiben. 3) Aus dem endlichen Zusammenstreben aller Primitivfasern des centralen und sympathischen Systems im Hirn ist endlich zu verstehen, wie die bewußten und unbewußten Erfühlungen vom eignen jedesmaligen Zustande aller Systeme und Gebilde unsres Organismus sich durch das, was wir Gemeingefühl (coenaesthesis) nennen, stetig in der Seele vorstellig machen können.208
Das sympathische System verbleibt also in den Schranken des "unbewußten Nervenlebens"209, während das zentrale System dazu bestimmt ist, ein bewußtes Leben zu entwickeln. Vom neurophysiologischen Frühwerk bis zu den anthropologischen Schriften der Jahrhundertmitte setzt Cams dieses nach Maßgabe der jüngsten neurophysiologischen Entdeckungen jeweils modifizierte Modell voraus, demzufolge das Nervensystem in sich strukturell und funktional differenziert ist. Früh schon eignete er sich die Entdeckung des sensibel-motorischen Nervenkreises an, die über mehrere Etappen in den zwanziger und dreißiger Jahren v.a. durch Charles Bell, Magendie, Johannes Müller und Marshall Hall erfolgte.210 In der Physis greift er auf deren Forschungen zum Reflexmechanismus zurück und und begründet damit physiologisch sein Konzept des Unbewußten: Das Nervensystem bedingt die vitalen Funktionen, indem der durch die sensiblen Nerven geleitete Reiz in den Nervenknoten bzw. im Rückenmark "sofort auf Fasern der gegenwirkenden (motorischen, JMT) Ordnung überspringt und hiedurch unmittelbar eine Gegenwirkung auf den empfangenen Reiz anregt, ohne daß das Hirn - d.h. also auch ohne daß unser Bewußtsein - davon Kenntniß erhält."211 Das Unbewußte wird somit in den Nerven und Ganglien des Rumpfes verortet. Die verschiedenen Teile des Nervensystems bilden - so das zeitgemäße anthropologische Credo von Carus - das anatomische Substrat für die psychologisch zu unterscheidenden Regionen des Seelenlebens. In diesem Zusammenhang kommt dem bereits mehrfach erwähnten "Gemeingefühl" zentrale Bedeutung zu. Es bildet das fehlende Zwischenglied in einer genetischen Deutung des Seelenlebens, die auf die unbewußt-körperlichen Ursprünge rekurrierte. In einem Aufsatz Ueber das Gemeingefühl aus dem Jahre 1794 beschrieb Reil dieses als Sensorium, "durch welches der Seele der Zustand ihres Körpers vorgestellt wird, und zwar vermittelst der Nerven, die allgemein durch 208 209 210 211
SdPh III, 55. SdPhlH, 39. Vgl. Ur, 21. Ph, 333.
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den Körper verbreitet sind"212. Die rein körperlichen Zustände werden durch die Nerven des Gangliensystems - die ins organische Leben versenkte Seelentätigkeit - dem Bewußtsein zugeführt und geben sich als Lust- bzw. Unlustgefühl, Hunger, Durst, Müdigkeit, Ekel, sexueller Trieb usw. kund. Das Gemeingefühl ist psychophysische Vermittlungsinstanz, höchste Steigerung des organischen Lebens und erste Erscheinung des Seelischen: Die Sensation (Nerven-Action) wird ein Empfundenes, jetzt eigentlich erst Gefühl, d.h. Wahrnehmung des Körperlichen in uns, vermittelst eines Sinnes, den ich Gemeingefühl genannt. In diesem Verhältnisse grenzen Vernunft und Gefühl, das Sinnliche und Uebersinnliche, Geist und Natur im Gehirne zusammen. Für die höheren Seelenkräfte ist es das Organ, auf welches diese Kräfte beschränkt sind, für die Sinne und Gefühle der Spiegel, in dem alle Thätigkeit und Metamorphose des ganzen Organismus aufgesammlet wird.213
Das Gemeingefühl ist "verworren" bzw. "dunkel"214; es umfaßt den Bereich der leibnahen bzw. körperlich bedingten psychischen Erscheinungen, das Temperament, die Triebe und Instinkte, Leidenschaften und Affekte. Der Sache nach war das Gemeingefühl keineswegs eine Entdeckung Reils. Schon Plainer hatte sein "zweites Seelenorgan" mit dem vegetativen Nervensystem in Verbindung gebracht und dem Bereich des niederen Seelenlebens zugeordnet. Unter verschiedenen Namen "äußeres Gefühl", "innerer Sinn des eigenen Körpers", "Selbstgefühl" oder "Geschmackssinn" - hatten Ärzte und Anthropologen wie Irwing, Kern, Leidenfrost oder van Hoven dieses Sensorium bereits konzipiert.215
212 213 214 215
Reil 1817,38. Reil 1807,240. Reil 1817,97, 109. Reil selber nennt Karl Franz von Irwing und Johannes Kern als Vorläufer seiner Theorie vom Gemeingefuhl (Reil 1817, 39). Vergleicht man Reils Aufsatz mit dem entsprechenden Abschnitt "Von den äußren Gefühlen" aus Irwings anthropologischem Werk, so zeigt sich, daß Reil zahlreiche Elemente - beispielsweise die Unterscheidung äußerer Gefühle von den Sinnesempfindungen oder die Bestimmung der zu den äußeren Gefühlen zu rechnenden psychophysischen Erscheinungen - von Irwing übernimmt (vgl. Irwing 1777-85/1, 256-305). - Reil erwähnt auch den Frankfurter Arzt und nachmaligen Erregungstheoretiker van Hoven mit seinem Versuch über die Wechselfieber von 1789/90. Van Hoven nahm einen über den ganzen Körper verteilten "Geschmackssinn" an, der sich sowohl auf die von den Haller-Kritikern herausgestellten unbewußten Nervenreaktionen, als auch auf die dadurch bewirkte Mitteilung körperlicher Zustände an das Bewußtsein bezog (vgl. Reil 1817, 39). Nach Karl Asmund Rudolphi hat der Anthropologe Leidenfrost das Reilsche Gemeingefühl unter der Benennung "Lebensgefühl" im Detail vorweggenommen (vgl. Rudolphi 1821-28/1, 55, 58). Auch der Rezensent des Reilschen Aufsatzes nahm für sich in Anspruch, die Idee des
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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war also die Idee des Gemeingefühls als psychophysi scher Vermittlungsinstanz und primitiver Seelenregion durchaus im Schwange. Dies nimmt kaum Wunder, wenn man bedenkt, daß es sich hierbei um die nervenphysiologische Ausformulierung der anthropologischen Influxustheorie handelte. Reils Aufsatz schaffte allerdings terminologische Klarheit und wirkte verstärkt durch die Theorie vom Ganglien-System - als Katalysator. Fortan gehörte das Gemeingefühl zur nahezu selbstverständlichen theoretischen Ausstattung der Anthropologen, Psychologen und Physiologen verschiedenster Couleur. Das Spektrum reichte dabei von nüchtern-wissenschaftlicher Adaption, wie sie etwa bei Christoph Bernoulli zu finden ist,216 bis zur theologisch-mystisch inspirierten Überhöhung bei Gotthilf Heinrich Schubert. Das Gemeingefühl ist für Schubert "das Medium, wodurch Seele zu Seele spricht"217, ein Phänomen, "das dem Einzelleben zugleich mit dem Gesammtleben der äußeren Natur zukommt"218 und das "durch einen Strahl des Geistigen und Göttlichen zum Gewissen und zur Sprache des Gewissens verklärt"219 wird. In Anlehnung an Reil ist für Carus das Gemeingefühl Vermittlungsinstanz zwischen Physis und Psyche; es bildet, wie bisher deutlich wurde, den Gegensatz zu der mit Bewußtsein wirkenden Seele und stiftet den Übergang von unbewußter Erfühlung zu bewußter Empfindung. Ausgehend von einem dialektischen Modell der Seelenentwicklung, in der jede Stufe durch die nächsthöhere überwunden und bewahrt wird, betont Carus in den psychologischen Vorlesungen, daß auch die vollkommenste Reife der Seele "nicht hindern könne, daß gleichzeitig auf der ändern Seite ein bewußtloses Wirken derselben fortdauere, und in der Seite unseres Daseins, die, wie alles bloß bildende Leben, nur als Gemeingefuhl zur Empfindung kommt, sich unausgesetzt betätige."220 In der Psyche heißt es dazu: ...alle die unzähligen Empfindungen und Gefühle von den verschiedenen Zuständen und Stimmungen, von Lust und Unlust unseres gesammten Daseins, entstehen auf die Weise, daß Zustände des Unbewußten vom Nervensystem aufgenommen und so erst zu einem gewissen Bewußtsein gebracht werden.221
216 217 218 219 220 221
Gemeingefühls unter dem Titel "innerer Sinn des eigenen Körpers" bereits dargestellt zu haben (vgl. Reil 1817, 110). Vgl. Bernoulli 1804/I, 69 ff. Schubert 1830,513. Ebd. Schubert 1830,517. VüPs, 143. PS, 209 (Hervorhebung im Text).
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Cams' Lehre vom Gemeingefühl - so zeigt sich - stellt eine Verbindung her zwischen dem Organisch-Bewußtlosen - ihm entspricht der substantivierte Begriff "des Unbewußten" -, dem psychologisch Unbewußten - das sind die "unbewußten Erfühlungen" des accentrischen Nervensystems - und den affektiven und triebhaften Seiten des Seelenlebens, die als Wirkungen beider Formen des Unbewußten auf das Bewußtsein verstanden werden. Zugleich gewährleistet die Theorie des Gemeingefühls Kontinuität in der genetischen Herleitung der Psyche: Das Gemeingefühl ist "die erste Selbstoffenbarung"222, "Anfangspunkt des Bewußtseins"223, "jenes Mittlere", das zwischen Reiz und Reaktion tritt, "welches indeß immer noch ein ganz nothwendiges, ein Trieb und kein freier Wille ist"224. Die Lehre vom Gemeingefühl bezieht sich auf die Gesamtheit der körperlichen Einflüsse in die Seele, ist mithin eine Variation auf das psychophysiologische Grundthema der Anthropologie, das Carus in eine Theorie des Unbewußten überführt. Dabei zeichnet sich eine Topographie des Seelenlebens ab, welche die "verschiedenen Provinzen der Physis in Bezug auf das bald nähere, bald entferntere Verhältniß zu den höchsten Vorgängen geistigen Lebens"225 beurteilt. In einem ganz konkreten Sinn versucht Carus, "die Organe des bewußten Lebens" von denen "des unbewußten"226 zu unterscheiden und die hierarchisch aufgefaßten psychischen Vermögen zu lokalisieren. Entscheidend ist hierbei die wechselnde Grenzziehung zwischen Unbewußtem und Bewußtem: Je nach Standpunkt wird das Unbewußte in den Organen des vegetativen Lebens, im Gangliensystem oder in einem bestimmten Bereich des Hirns situiert. So hat sich gezeigt, daß die Lehre vom Gemeingefühl zunächst auf dem substantivierten Begriff des Unbewußten ruht: Dieser verweist weniger auf einen psychischen Modus, als vielmehr auf einen dem Seelenleben und seinem organischen Pendant, dem Nervensystem, gegenübergestellten Bereich des Seins. Die organischen Systeme, so erläutert Carus bezeichnenderweise, sind "in sich unbewußt", gehen aber in ihren verschiedenen Zuständen "dadurch in das Seelenleben und selbst in das Bewußtsein" ein, "daß jenes eigentlich seelische System, das Nervensystem, sie mit seinen Leitungsfasern durchdringt und somit ihr besonderes Leben mit in den höchsten Lebenkreis, d.h. in das bewußte 222 223 224 225 226
PS, 107. PS, 127. PS, 133 f. Vgl. Vgl PS, 9. Ph, 480. S, 74.
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Erkennen des Individuums, einführt."227 Während aus dieser Perspektive jegliche Nervenaktivität in den Bereich des (potentiell) Bewußten fallt, bilden die übrigen organischen "Provinzen"228 die "Region des unbewußten Lebens"229. Daher kann Carus - mit einem Nachklang an humoralpathologische Denkweisen - auch behaupten, daß "das bewußtlose Seelenleben (...) wesentlich dem Blute angehöre"230. Stufenweise geht es aufwärts in der Folge der funktionalen Teile und der zugeordneten seelischen "Provinzen". Wird das Unbewußte als psychisches Phänomen im engeren Sinn betrachtet, muß ihm das Nervensystem - das einzige "eigentlich rein seelische System"231 - als anatomisches Pendant zugeordnet werden. In diesem Zusammenhang unterscheidet Carus die "untergeordneten Provinzen der Innervation"232 von den "bewußten Regionen des Hirnlebens"233 und situiert das Unbewußte in den Ganglien und Nerven des Rumpfes. Gleichzeitig verwendet Carus einen stärker psychologisch ausgerichteten Begriff des Unbewußten, wenn er über die "Stimmungen der unbewußten Seele, die Gemüthsstimmungen"234 spricht. Auch hier sucht Carus nach einem organischen Substrat des Unbewußten: "die Bedeutung des ersten, unbewußten seelischen Daseyns", so heißt es, ruhe "wesentlich auf dem Mittelhirn"235. Die Vierhügelpartie des Gehirns ist Region des Gemeingefühls, Schaltstelle zwischen den körpereigenen Reizen und dem Bewußtsein und Bereich der affektiven seelischen Erscheinungen. Das Mittelhirn gilt als "Träger"236 oder "Centralgebilde unbewußten Seelenlebens"237, während das Kleinhirn Zentrum des Willens ist und die vordere Hirnmasse schließlich die höchste Form des Bewußtseins, die Erkenntnis, repräsentiert.238 In dieser Verquickung metaphysischer, physiologischer und psychologischer Ansätze durch den Begriff des Unbewußten liegt dessen eigentliche Bedeutung: Das Unbewußte wird zum synthetischen Schlüsselkonzept, das die Gültigkeit der naturphilosophischen Prinzipien 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238
PS, 210. PS, 47. Ph, 470. VüPs, 283. PS, 56. Ph, 472. Ph, 470. Ph, 329. Ph, 328. S, 208. S, 145. Zu Carus' Theorie der zerebralen Lokalisation siehe auch Kap. II.6.
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der Polarität und der Steigerung gewährleistet - das Bewußtsein erscheint als höhere Potenz des Unbewußten - und das die Identität von Leiblichem und Seelischem - gleichgesetzt im Begriff des Unbewußten - verbürgt. Es geht Carus um die Rettung eines ganzheitlichen Ansatzes unter Einbeziehung neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Im Vergleich zu anderen Theoretikern des Unbewußten - etwa Reil - zeigt sich dieser synkretistische Charakter bei Carus noch deutlicher, insofern mit zunehmender neurophysiologischer Kenntnis der zu überbrückende Abstand zum metaphysischen Überbau größer wurde. Erklärtermaßen handelt es sich bei Carus1 Lehre vom Unbewußten um eine Theorie, die mithilfe der nervenphysiologischen Konzeption des Gemeingefühls die dualistisch begründete Influxus-Theorie ablöst. In der Kluft zwischen dem Körperlich-Bewußtlosen und dem PsychischUnbewußten bleibt jedoch der Dualismus des 18. Jahrhunderts latent bestehen. Auch die kausale Ableitung des Bewußtseins aus dem Unbewußten ist dualistischem Denken verhaftet. Das anthropologische Kardinalproblem erscheint somit lediglich ins Unbewußte verlagert: In gewisser Weise erinnert Cams' Stufenlehre des Unbewußten an die anthropolgischen Versuche des 18. Jahrhunderts, die Influxionstheorie plausibel zu machen.239 Sollte dort die Unerklärlichkeit des Übergangs von Körper zu Seele im Rahmen der Zwei-Substanzen-Lehre durch die Annahme unzähliger Mittelglieder und Zwischensubstanzen gemildert werden, so versucht Carus, durch eine Hierarchie von Formen des Unbewußten mit dem Leib-Seele-Problem fertigzuwerden. Dessenungeachtet läßt sich aber auch behaupten, daß die Vorstellung einer Stufenfolge psychischer Aktionen und die im Begriff des Gemeingefühls angelegte Idee einer psychischen Repräsentanz somalischer Erregungsvorgänge auf Freuds Modell des psychischen Apparats vorausweisen. Die zugleich anatomische und metaphorische Unterscheidung von psychischen "Regionen" oder "Provinzen", wie sie sich bei Carus und anderen Anthropologen des frühen 19. Jahrhunderts findet, kann als Grundlage auch des psychosomatischen und -therapeutischen Denkens im 20. Jahrhundert gelten: Jenseits aller spekulativen Vorgaben wird es bei Carus zur Frage der Perspektive, ob eine Erscheinung in den Bereich des Körperlichen oder Seelischen fällt. Nicht zuletzt lieferte die psychophysiologische Lehre des Unbewußten einen tragfähigen Ansatz im zeitgenössischen Grundlagenstreit der Psychiatrie.
239 Zum Problem der Vermittlung zwischen Leib und Seele in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts vgl. Bezold 1984, 145-149.
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5. Psychiatrische Ansichten Es wurde oben beschrieben, wie sich im späten 18. Jahrhundert das anthropologische Denken gegen den starren Dualismus des cartesianischen Weltbildes durchsetzte. An diesem Prozeß hatte die Medizin entscheidenden Anteil; sie definierte sich als Fundament der neuen Disziplin, die die menschliche Natur als Ganzes wissenschaftlich erfassen sollte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernahm es die sich etablierende Psychiatrie, dem anthropologischen Diskurs wesentliche Impulse zu vermitteln. Der Anspruch, Psychologie und Physiologie im Sinne einer anthropologischen Einheitswissenschaft zu verbinden, war in dieser Phase an die Herausbildung der Psychiatrie als medizinischer Disziplin und die in ihr ausgetragene Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern gebunden. Gerade die Psychiatrie wurde zu einem bevorzugten Diskussionsfeld naturphilosophischer und anthropologischer Fragen. Im Spektrum von Carus1 wissenschaftlichen und medizinischen Tätigkeitsgebieten fällt die Psychopathologie eher in den Randbereich; gleichwohl beteuert Carus sein grundsätzliches und dauerndes "Interesse für ungewöhnliche psychische Zustände"240 und erörtert in seinen psychologischen und medizinischen Werken das Thema der Seelenkrankheiten ausführlich. Er bezieht - das sei hier schon vorweggenommen - im zeitgenössischen Kampf um die Frage, ob das Irresein seelisch oder körperlich bedingt sei, entschieden Position für die somalische Theorie: "Alles, was bisher unter dem Namen von Geisteskrankheit in den Schriften der Aerzte aufgeführt worden war", müsse "im strengern Sinne durchaus unter die Rubrik der Hirnkrankheiten gerechnet werden"241. Insofern sich die sogenannte "somalische Schule" als psychiatrische Variante jener allgemeinen Wissenschaftsrichtung erweisen läßt, die romantisch geprägt und doch nicht mehr romanlisch ist, wirft Carus' Parteinahme auch ein Lichl auf seine Stellung in der Wissenschaftsenlwicklung der ersten Jahrhunderthälfte. Cams' praklische Erfahrungen mil Irren waren äußerst beschränkl; hierin allerdings unlerscheidel er sich kaum von zahlreichen psychialrischen Theorelikern seiner Zeit Immerhin konnte er als praklizierender Arzl, nachdem er seine akademische Lehrtäligkeil aufgegeben halle, "mehr von den seltsamen oft in die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Seelenlebens deutenden Erfahrungen sammeln"242. Gemeinl sind 240 LuD 1,283. 241 Erfres, 100 (Hervorhebung im Text). 242 LuD 1,281.
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hier nicht nur jene sanften Seelenstörungen mit "Bürgerrecht", die "nervous disorders" und hypochondrischen Zustände. Gemeint sind wohl auch die dem Arzt vertrauten psychischen Begleiterscheinungen körperlicher Veränderungen, wie Fieberdelirien, Rauschzustände, Arznei- und Giftwirkungen. Gerade diese Phänomene wurden von den Somatikern und auch von Carus als Argument für den körperlichen Ursprung der Seelenerkrankungen ins Feld geführt.243 Indes hat Carus auch einige Fälle von psychischer Erkrankung selber behandelt; in den Erfahrungsresultaten aus ärztlichen Studien beschreibt er mehrere solcher Krankengeschichten und berichtet über seine Heilmethode, gelegentlich auch über ärztliche Hilflosigkeit und die nachfolgende Leichensektion. Solche aus der eigenen beruflichen Praxis gewonnenen Erfahrungen ergänzte Carus durch zum Teil wiederholte Besuche der Irrenhäuser in Leipzig, Halle, Pirna, Würzburg, Berlin, London, Florenz und Paris. Darüber hinaus war Carus mit seinerzeit namhaften Irrenärzten wie Heinroth, Pienitz, Nasse, Kieser oder Hörn bekannt. Über das Wesen des Wahnsinns diskutierte er vor allem mit Johann Christian Heinroth, Lehrer und Freund aus Leipziger Studienjahren, Professor für psychische Heilkunde und Arzt am Waisen-, Zucht- und Versorgungshause zu St. Georgen, das auch Irre beherbergte. Berühmt wurde Heinroth unter anderem durch sein Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens von 1818, das - so ein Kritiker 20 Jahre nach Erscheinen des Werks - "lange Zeit als das wissenschaftlichste und umfassendste der psychischen Medizin gegolten"2'14 hat. Heinroths vom Standpunkt des extremen Psychikers aus entwickelte Theorie fußt auf einer moraltheologisch ausgerichteten Variante der Vermögenspsychologie. Gemüt, Geist und Wille machen nach Heinroth den Begriff der Seele aus. Das Spezifische am Menschen ist das Bewußtsein, das sich in drei Stufen - Weltbewußtsein, Selbstbewußtsein und Gewissen als "Keim eines höchsten Bewußtseyns"245 entfaltet. Die aktive Ausrichtung der Seele auf das Göttliche gilt Heinroth als Bedingung der leiblich-seelischen Gesundheit: "Der Mensch ist, ohne es zu wissen, der Gottheit geweiht, so wie er die Welt betritt, und das Bewußtseyn, die Vernunft, will ihn zur Gottheit fuhren. Daß dies so selten geschieht, ist seine Schuld; und aus der Schuld entspringen alle seine Uebel, auch die Störungen des Seelenlebens."246 Das Streben nach
243 244 245 246
PS, 488; Erfres, 101; vgl. Nasse 1818c, 452 f.; Francke 1824, 277. Möller 1838, V. Heinroth 1818,9. Heinroth 1818, 179.
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Haben und Sein, die Fixierung auf Welt und Selbst, "alle Leidenschaft"247 und "jedes, nicht in Gewissen oder Vernunft aufgenommene Bewußtseyn"248 ist krankhafter, d.h. beschränkter und unfreier Zustand. Seelenkrankheit bedeutet nichts anderes als die sündige Abwendung von Gott. Gemäß der dreigliedrigen Hierarchie der Seelenvermögen und Bewußtseinsstufen unterscheidet Heinroth die Grade der Seelenkrankheit: Leidenschaft, Wahn und Laster als aufeinanderfolgende Zustände steigender Unfreiheit. Von dieser "Elementarlehre" leitet Heinroth ein komplettes, 36 Formen umfassendes System der Seelenstörungen ab. Heinroths Sündenkonzeption, die therapeutisch auf Zwang und moralische Rigorosität gegenüber den Irren, forensisch auf die prinzipielle Zurechnungsfähigkeit der Verbrecher drang, war Hauptangriffsziel der frühen Somatiker. Anläßlich eines Besuchs in Leipzig im Jahre 1817 schreibt Carus: Am meisten wurde ich mit Heinroth in Disputationen verwickelt, denn unsere Ansichten waren in drei Jahren meilenweit auseinander gerückt. In ihm waren seitdem gewisse pietistische Ansichten von der Sündhaftigkeit des Menschen als nächstem Grunde von Krankheit und namentlich psychischen Krankheitszuständen aufgetaucht, welche ich keineswegs theilen konnte und welche auch in ihm zuletzt nur auf unvollkommenen physiologischen Ansichten ruhten. (...) Da aber die Natur selbst in ihren großen Metamorphosen und wahren innern Productivität ihm nie recht lebendig aufgegangen war, so suchte er gern nach gewissen facticen Erklärungen und supernaturalistischen Gründen für Erscheinungen, die mir und meinen Glaubensgenossen auf einem weit einfachem und ebenern Wege entgegenkamen.249
Einer der somalisch-naturwissenschaftlichen "Glaubensgenossen" war Carus' Freund Friedrich Nasse, der von 1815 bis 1819 eine private Irrenanstalt in Halle leitete, danach als Professor für innere Medizin in Bonn lehrte.250 Bekannt wurde Nasse vor allem durch seine zahlreichen publizistischen Aktivitäten, deren erste die Gründung der Zeitschrift für psychische Ärzte im Jahre 1818 war, von 1823 bis zu ihrem Ende 1826 unter dem Titel Zeitschrift für die Anthropologie geführt. Konzipiert als rein ärztliches Organ, sollte die Zeitschrift entschieden auf Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Psychiatrie hinarbeiten. Die empirische Erforschung psychophysiologischer Zusammenhänge und deren spekulative Ausdeutung standen dabei im Zentrum des Interesses, auch sollten Anstaltsstatistiken und ausländische Schriften mitgeteilt, 247 248 249 250
Heinroth 1818,26. Heinroth 1818,23. LuD 1,228. In Hinsicht auf Carus' Verhältnis zu Nasse vgl. LuD I, 231, und das Gedicht Zuruf an N. in der Handschrift Poetische Lebens-Spiegelungen (Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. App. 1664).
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vergleichend-psychologische, therapeutische und forensische Fragen erörtert werden; nicht zuletzt ging es darum, auf die mangelhafte bis katastrophale Situation der öffentlichen Irrenpflege hinzuweisen.251 Es ist bezeichnend für den damaligen Stand der theoretischen Psychiatrie, daß die angestrebte Breite und wissenschaftliche Vorurteilsfreiheit in der literarischen Praxis zur bunten Vielfalt der Themen und methodischen Ansätze führte: Außer den eingeforderten Krankengeschichten und Anstaltsberichten, Sektionsbefunden und medizinisch-anthropologischen Untersuchungen finden sich auch Kuriositäten wie die Beobachtung eines Falles, wo eine Frau auf einen heftigen Verdruß in einer Nacht schwarz wurde oder die Darstellung, wie Ein ganzes Batallion auf einmal vom Alp befallen wurde; naiv empirische Berichte - Speichelfluß hebt Schwermuth, Würmer in der Leber eines Wahnsinnigen - stehen neben rein metaphysischen Erörterungen über die Unsterblichkeit der Seele und Beiträgen über Geistererscheinungen, Pendelschwingen und die Geschichte der Wünschelrute. Unter den zahlreichen Mitherausgebern von Nasses Zeitschrift wird auch Ernst Hörn genannt, Leiter der Irrenabteilung der Berliner Charite, den Carus bei einem Besuch dort im Jahr 1817 kennenlernte. Hörn erlangte traurige Berühmtheit durch einen Fall, den Carus in seinen Lebenserinnerungen schildert: Eine tobende Kranke wurde auf seine Anweisung in einen Sack geschnürt, ein von Hörn erfundenes und gerühmtes Mittel der Zwangsisolierung; sie verstarb darin am Schlagfluß. Dieser Zwischenfall trug Hörn einen Prozeß wegen fahrlässiger Tötung ein und führte schließlich zu seiner Amtsniederlegung im Jahre 1818.252 Horns Name stand seinerzeit für die sogenannte "indirekt psychische Heilmethode", die - von Johann Christian Reil begründet, von etlichen Psychiatern, auch Heinroth, propagiert - durch Ekelkuren, militärischen Drill und elaborierte Zwangsmittel auf das gestörte Gemeingefühl der Irren einwirken wollte. Paradoxerweise berief man sich zur Begründung dieser Therapie auf ethische Argumente: Die brutalen mechanischen Behandlungsmethoden sollten die Irren zum bürgerlichen Pflicht- und Ordnungsdenken zurückführen. Klaus Dörner hat in seiner umfassenden historischen Rekonstruktion diesen "therapeutischen Idealismus"253 als Charakteristikum der deutschen, besonders der preußischen Psychiatrie der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beschrieben: Während in England und Frankreich mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Institutionen der politischen Öffentlichkeit die Voraussetzungen für eine 251 Vgl. Nasse 1818a. 252 Vgl. LuD I, 234 f.; Kirchhoff 1921, 78 ff. 253 Dörner 1984, 236.
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"sozial-orientierte Therapie der Irren"254 vorlag, blieb in Deutschland die Befreiung der Irren von Ketten eine pädagogisch-militärische "Reform von oben". Die "indirekt psychische Heilmethode" selbst wurde allerdings auch schon von den Zeitgenossen heftig angegriffen: Die meisten Somatiker sahen in ihr "nichts Anderes als (etwa zeitgemäße) Surrogate für Ketten und Peitsche, und (...) nur eine medicinisch verfeinerte Prügelcur"255. Zu den Auseinandersetzungen um die praktische Irrenreform schreibt Cams rückblickend: Man stritt damals in medicinischen Blättern viel darüber, ob Zwangsbeschäftigungen dieser Art einen großen Nutzen zur Heilung der Wahnsinnigen gewähren könnten, und wenn man allerdings weiterhin sah, mit welchen Zwangsmitteln außerdem noch Widerstrebende genöthigt wurden, sich diesen Anordnungen zu fugen, Zwangsmittel, zu denen Hörn namentlich die Drehmaschine und den Drehstuhl rechnete, auf welchen der Kranke ein paar Mal im Kreise herumgewirbelt wurde, bis er blindlings befolgte, was ihm aufgegeben war, so drängten sich freilich manche gerechte Zweifel ein, ob nicht des Guten hierbei etwas zu viel geschehen möchte. So viel ist wenigstens gewiß, daß mit Hörn dieses System der Behandlung dort aufgehört hat und auch in keiner ändern Anstalt mit dieser Consequenz wieder durchgeführt worden ist; einiges davon möchte indeß sicher mit Nutzen der Vergangenheit entrissen bleiben.256
Obgleich Cams eher zurückhaltend für eine liberalere Irrenbehandlung plädiert, ist sein humanitäres Ethos bestimmend für die Beurteilung von Irrenanstalten. Bei einem Besuch des Florentiner Ospizio S. Bonifazio etwa bemerkt Carus, daß zwar Ketten und körperliche Züchtigung verbannt seien; dennoch kritisiert er scharf die Gesamtsituation der Insassen, denen es nicht nur an adäquater Beschäftigung fehle: "Kurz die Kranken sind wirklich in diesen Zellen mehr gleich wilden Tieren oder Verbrechern, als gleich Personen, die unsers Mitleids im höchsten Grade bedürfen, eingesperrt."257 Als Somatiker baut Carus auf die "rein medicinische (...) Behandlung wie in allen anderen Krankheiten"258: Aufgabe des psychischen Arztes sei es, den körperlich-organischen Ursprung der Seelenerkrankung zu ermitteln und durch Medikamente sowie diätetische Vorschriften zu beheben. Die ärztlichen Verordnungen können allerdings die dem Organismus innewohnende Heilkraft nurmehr unterstützen. Weitaus häufiger, so betont Carus, werden Genesungen "durch die Natur allein, d.h. nur durch das heilsame, immer still zur Norm hinweisende Streben
254 255 256 257 258
Domer 1984, 235. Buzorini 1832, 107. LuD 1,237. Ana, 62. PS, 506.
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des Unbewußten, als durch die Kunst bewirkt"259. Mit diesem Vertrauen auf die hippokratische vis medicatrix naturae erweist sich Carus wiederum als romantischer Arzt, der die Selbstherrschaft der beseelten Natur würdigt. Darüber hinaus akzeptiert Carus die dritte zu jener Zeit diskutierte Behandlungsart, die aus England und Frankreich importierte "psychische Heilmethode", als begleitende Maßnahme. Die erste deutsche Anstalt, die nach dem Vorbild des französischen traitement moral geführt wurde, war die 1811 gegründete Heilanstalt Sonnenstein bei Pirna, die Carus wiederholt aufsuchte und als "die erste in Deutschland, welche nach höhern wissenschaftlichen Ansichten eingerichtet worden war"260 anerkannte. Die psychische Kur, wie sie dort praktiziert wurde, beruhte im wesentlichen auf dem Prinzip, die Irren durch Arbeit und Einbindung in familiäre Strukturen zu bürgerlicher Ordnung und Moral zu erziehen. Mit Foucaults Studie über Wahnsinn und Gesellschaft wurde erstmals das Augenmerk darauf gelenkt, daß diese traditionell als philanthropisch gerühmte Befreiung der Irren von Ketten und äußerem Zwang zugleich die ausgrenzende Vergegenständlichung des Wahnsinns und die Unterwerfung der Irren unter den umfassenden, verinnerlichten Zwang zu Identität und Selbstmächtigkeit mit sich brachte. Die Verpflichtung auf bürgerliche Normen machte sich auch bei den deutschen Somatikern geltend: Strenge Hausordnung und geregelter Tagesablauf, ärztliche Autorität und Beherrschung von Temperament und Phantasie des Kranken, Wiederherstellung des Sinnes für Gehorsam und Reinlichkeit, für Ordnung, Maß und Takt durch Belohnungen und väterliche Strafen wurden allenthalben - und so auch von Carus - empfohlen.261 Wie sich in Fragen des praktischen Umgangs mit Irren zwischen Psychikern und Somatikern nurmehr graduelle Unterschiede zeigen, so lassen sich auch im Bereich der theoretischen Psychiatrie die ideologi259 PS, 506, 508. Auch andere Somatiker, so etwa Maximilian Jacobi, führten "autokratische Bewegungen im Organismus" als Ursache der Heilung an (Jacobi, zit. nach Kirchhoff 1921, 89). 260 LuD I, 283. 261 Vgl. LuDI, 235, 237; VüPs, 254; PS, 508; Jacobi 1822, 98-104; Roller 1831, 156; Buzorini 1832, 101-107. - Ein gewisses Gegengewicht bildet bei Carus die stark individualisierende Betrachtungsweise des Kranken. So kommentiert er die Situation in der Londoner Irrenanstalt unter Conolly folgendermaßen: "Die Reinlichkeit, Ordnung und Aufsicht, so wie die Ernährungsweise und Sorge für Spiel- und Arbeitsplätze der Kranken sind sehr zu loben. (...) Die Behandlung aller dieser Unglücklichen darf man hier mehr eine Bewahrung, eine Nöthigung zu gewissen gordneten Lebensweisen, eine verständige Massenweise (!) Erziehung nennen, als daß eben ein Eingehen auf das Eigentümliche der einzelnen Fälle angestrebt, ja auch nur versucht wird - und wo ist es im besten Falle viel anders in solchen Anstalten?" (England, 138).
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sehen Fronten nicht definitiv festlegen. Während die Psychiker gemeinhin als "der reinste Ausdruck der romantischen Psychiatrie"262 interpretiert werden, entzieht sich die Gruppe der Somatiker einer entsprechend eindeutigen Zuordnung. So sehr diese nämlich auf Verwissenschaftlichung und Empirisierung der Psychiatrie drang, die Behauptung einer durchgängig somalischen Ätiologie der Seelenkrankheiten blieb doch bloßes Postulat und wurde zunächst aus einer spekulativen Seelenkonzeption abgeleitet: Die Seele als Göttliches im Menschen, so lautete das grundlegende Argument, könne überhaupt nicht erkranken; rein seelische Ursachen des Wahnsinns seien darum nicht anzunehmen, weil die Freiheit durch den Gebrauch der Freiheit nicht gebunden werden könne. Auch Carus beginnt die Darlegung seiner Wahnsinnsauffassung in den Vorlesungen über Psychologie mit einer metaphysischen Erörterung; eine Stelle übrigens, die belegt, wie eng sich Carus zustimmend und ablehnend - an Heinroths Lehrbuch orientierte: Er weitet hier das von Heinroth mehrfach verwendete Bild des Gewissens als auf das Göttliche weisenden "Kompaß"263 zu einem umfassenden Gleichnis aus, mit dem er - implizit auch gegen Heinroth - seine Seelenlehre erläutert. Carus unterscheidet zwei Begriffe von Freiheit, ein passives Freisein des "psychischen Magneten"264 von jedem seine "höhere Richtung"265 beeinträchtigenden Einfluß und die aktive Freiheit der Seele als Vermögen, "sich entweder nach dem magnetischen Meridian richten zu können, oder nicht"266. Diese letzte Art der Freiheit existiere nicht; die Seele sei ein Göttliches und habe daher nicht die Freiheit, sich als solches zu erweisen oder nicht.267 Nur jener Begriff der Freiheit als Fehlen "von außen" oder aus der "leiblichen Organisation"268 kommender Störungen hat Bestand. Während Carus in den Vorlesungen über Psychologie noch eher vorsichtig gegen Heinroth argumentiert,269 im übrigen kantischidealistisch auf die "Kraft des freien Willens" als "Festhalten des Gesetzes"270 baut, wehrt er in der Psyche die Vermischung moralischer und medizinischer Kategorien entschieden ab. Die These vom körperlichen Ursprung psychopathologischer Zustände wird hier in der von prominenten Somatikern wie Maximilian Jacobi oder Johannes 262 263 264 265 266 267 268 269 270
Ackerknecht 1957, 56. Vgl. Heinroth 1818, 9 ff. VüPs, 228. VüPs, 231. VüPs, 230. VüPs, 231. Ebd. Vgl. VüPs, 241 f., 253. VüPs, 232.
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Baptista Friedreich geprägten Formulierung vertreten: Seelenstörungen seien nicht "als eigentliche Krankheit des Geistes, sondern als Krankheitserscheinung am Geiste"271, als "Symptome"272 somalischer Veränderungen zu betrachten. Der allen Somatikern gemeinsame Impuls, an dem sich auch ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zuvörderst profiliert, besteht in der Abweisung ethischer Ansätze in der psychiatrischen Theorie. Der Wahnsinn sollte als medizinisches Phänomen, der Irre als schuldlos Erkrankter anerkannt werden. Im Sinne des ärztlichen Standpunktes der Somatiker betont Carus, "daß man durchaus vom Begriff der eigentlichen Krankheit zu trennen habe, was als abnorme Zustände rein im bewußten Leben sich erzeugt, nämlich die Zustände des Irrthums, der Fühllosigkeit und des Lasters, und daß höchstens diese Zustände im figürlichen Sinne als 'moralische Krankheiten1 angesehen werden dürfen".273 Dem Vorgehen der Psychiker, die Klassifikation der Seelenkrankheiten aus der normalen Psychologie abzuleiten, begegneten die Somatiker mit der Forderung, die Psychiatrie als medizinische Teildisziplin zu behandeln. "Der Arzt und der Psychologe stehen auf gänzlich gesonderten Feldern"274, so lautet ein repräsentatives Diktum Maximilian Jacobis. Schon in den frühen Vorlesungen betont auch Carus, daß psychopathologische und -therapeutische Fragen mehr die Heilkunde als die Psychologie beträfen.275 Später, in den vierziger bis sechziger Jahren, polemisiert er noch schärfer gegen die "gewaltsame und unphysiologische Scheidewand (...), durch welche insgemein die sogenannten Geisteskrankheiten von Körperleiden getrennt zu werden pflegen"276. Ausgangspunkt psychiatrischer Nosologie sei nicht die philosophischpsychologische Zergliederung der Seelenvermögen, sondern allein "die allerfeinste Anatomie, Physiologie und Pathologie des Hirns": Wer nur irgend diese Aufgaben unpartheiisch betrachtet, der muss auch von jetzt an zugeben, dass ohne solch tieferes Eingehen und ohne solche Schärfe die ganze bisherige Lehre von Seelenkrankheiten ebenso blos in's Blaue hinein aufgebaut bleibt, als etwa zu Hippokrates und Galenus Zeiten die Lehre von Schwindsucht es war, ohne diejenige Kenntniss ursachlicher Strukturveränderungen in den Lungen, wie sie uns die gegenwärtigen Forschungen neuster pathologischer Anatomen dargeboten haben.277
271 272 273 274 275 276 277
PS, 480. PS, 478, 476. PS, 477. Jacobi 1830, 3. VüPs, 234, 253. Kieser, 39. Ebd.
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In diesem Punkt also befindet sich Carus durchaus in Übereinstimmung mit der physiologischen Medizin der Jahrhundertmitte; deren Methoden und Ergebnisse erklärt er zur unerläßlichen Voraussetzung psychopathologischer Theorie. Carus1 Systematisierung der Seelenkrankheiten zeigt allerdings, daß die Subordination der Psychiatrie unter die Medizin ihrerseits spekulativem Denken Vorschub leisten konnte. Carus übernimmt ähnlich wie Nasse oder Vering278 - die traditionelle Dreiteilung in Manie, Wahnsinn (die Monomanien, die Narrheit und die Melancholie) und Blödsinn. Während Nasse diese alte Einteilung als heuristisches und nur vorläufiges Prinzip anerkannte, fixiert Carus die Krankheitsformen durch spekulative Parallelisierung mit einem allgemein-pathologischen System: Die Manie oder das Rasen entspricht als "Urkrankheitserscheinung" dem Fieber und geht in der Regel mit diesem einher; der Wahnsinn ähnelt dem partiellen Krankheitszustand der Entzündung; diese "Sekundärkrankheitserscheinungen" verbinden sich oft mit einer akuten oder chronischen Entzündung des Gehirns; die "Tertiarkrankheit", nämlich "Entmischung und Verbildung", wird repräsentiert durch den Blödsinn, der sich ausnahmslos an eine manifeste Veränderung des Gehirns anschließt.279 Die oben beschriebene Trennung von (philosophischer) Psychologie und Psychiatrie, von Moral und Medizin markiert zugleich eine Zäsur in der Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Psychopathologie. Die vormals enge Wechselbeziehung beider löste sich mit der Abkehr von moralistischen und psychogenetischen Wahnsinnsauffassungen zusehends auf.280 Die Somatiker suchten die Psychiatrie als medizinische Disziplin zu etablieren, indem sie sich von der vorwissenschaftlich-literarischen Phase der Psychopathologie und dem poetischen Diskurs über den Wahnsinn distanzierten. Friedrich Bird etwa verfaßte eine Schrift über die "Belletristik in ihren schädlichen Einflüssen auf die Psychiatrie"281 und Nasse betonte, daß "für den Zweck des psychischen Arztes (...) etwas Anderes als Träumen und poetische Betrachtung"282 zähle. In zunehmendem Maße erschienen dichterische Wahnsinnsdarstellungen als
278 Vgl. Nasse 1818b, 34; Leibbrand/Wettley 1961, 482. 279 PS, 487 f. 280 Zum "Dialogabbruch"' zwischen Literatur und Psychopathologie nach Aufklärung und Romantik vgl. Reuchlein 1986, 366-373; Anz 1989, 7-13. 281 Der volle Titel der 1839 erschienen Schrift lautet Mesmensmus und Belletristik in ihren schädlichen Einflüssen auf die Psychiatrie. 282 Nasse 1818a, 15. Die Textstelle bezieht sich implizit auf G.H.Schuberts Symbolik des Traumes.
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wahrheitswidrig oder zumindest einseitig, weil sie die organischen Grundlagen der Seelenstörungen übergingen. Nun erstaunt es kaum, daß Carus, der sich ja gerade als Arzt für den ganzen Menschen verantwortlich fühlt, den Wert literarischer Seelendarstellung für die Medizin bestätigt: Man sagt von Sydenham, dem berühmten weitsehenden englischen Arzte, er habe einem jungen angehenden Medicus, der sich mit der Frage an ihn wendete, welches Buch er wohl lesen solle, um in seiner Wissenschaft und Kunst recht tüchtig zu werden, den Don Quixote empfohlen; und ich bin weit davon, das für ein Paradoxon oder eine Art von Abweisung zu halten. Der Arzt soll vor allen Dingen den Menschen kennen, er soll ihn kennen nicht nur physiologisch und anatomisch und pathologisch, sondern er soll ihn kennen in allen seinen Lebensverhältnissen, seinen Schwächen und Stärken, in seiner Weisheit und seiner Thorheit; und es ist keinem Zweifel unterworfen, daß mehr als durch anthropologische Bücher wir hierin gefordert können durch die Werke solcher Dichter, die mit wahrhaftem Seherblick in die Tiefen menschlicher Natur eindrangen, ja die im eigentlichen Sinne schöpferisch sich zu verhalten im Stande waren.283
Gleichwohl wendet sich Carus gegen die Literarisierung von Krankengeschichten, wie sie im Umfeld der Erfahrungsseelenkunde, in Moritz1 Magazin oder den unterhaltend aufklärenden Darstellungen von Irrenhausbesuchen bei Claudius, Engel, Spieß oder Thümmel zu finden ist.284 In einem Passus der Lebenserinnerungen, der sich auf die Zeit vor 1820 bezieht, moniert er, daß die Wiedergabe psychopathologischer Fallgeschichten "immer nur von Nichtärzten versucht" und "in novellistischer Weise" betrieben werde: der Wahnsinn sei "Gegenstand einer Art von Unterhaltungsliteratur" geworden.285 Prototyp dieses Genres waren die Biographien der Wahnsinnigen (1795/96) von Christian Heinrich Spieß, dem Verfasser überaus erfolgreicher Schauerromane. In stilisierter und bisweilen märchenhafter Form erzählte Spieß mehr oder weniger authentische Lebensläufe nach. Mit der für die empfindsame Spätaufklärung typischen Mischung von mitleidiger Anteilnahme und moralischer Distanzierung von der selbstverschuldeten Unvernunft betonte Spieß seine pädagogische Absicht. 283 Tieck, 198 f. 284 Zur literarischen Darstellung von Irrenhausbesuchen im späten 18. Jahrhundert vgl. Osinski 1983, 59-66; Reuchlein 1986, 68-78. 285 LuD I, 282. Carus Abkehr von der Transformation authentischer Leidensgeschichten in amüsant-sensationelle Erzählungen trifft sich mit der Kritik, die Moritz in der Revision im vierten Band des Magazins formuliert. Moritz beklagt das Oberwiegen von Beiträgen zur Seelenkrankheitskunde und erklärt diese Dominanz folgendermaßen: "Es scheinet, als ob die Krankheiten der Seele schon an und für sich selbst, so wie alles Fürchterliche und Grauenvolle, am meisten die Aufmerksamkeit erregen, und sogar bei dem Schauder, den sie oft erwecken, ein gewisses geheimes Vergnügen mit einfließen lassen, das in dem Wunsche, heftig erschüttert zu werden, seinen Grund hat." (Moritz 1986/IV, 7).
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Wenn ich Ihnen die Biographien dieser Unglücklichen erzähle, so will ich nicht allein Ihr Mitleid wecken, sondern Ihnen vorzüglich beweisen, daß jeder derselben der Urheber seines Unglücks war, daß es folglich in unsrer Macht steht, ähnliches Unglück zu verhindern.286
Spieß ging es weniger um den Wahnsinn als psychopathologisches Phänomen, als vielmehr um die wirkungsästhetischen und moraldidaktischen Qualitäten dieses Motivs.287 Eine solche Sichtweise wurde von den Somatikern des 19. Jahrhunderts bekämpft. Für Carus fehlt den literarisierten Krankengeschichten "gewöhnlich (...) die rechte Physiognomie der Wahrheit, und damit zugleich das Siegel eines höhern" - sprich wissenschaftlichen - "Interesses"288. Wie Nasse oder Jacobi, so fordert auch Carus "wirkliche Aufzeichnungen solcher Art nach der Natur"289: Die empirische und medizinisch fundierte Erfassung psychopathologischer Fallgeschichten gilt als Grundlage der um Wissenschaftlichkeit bemühten Psychiatrie. Daß sich der Versuch, den Wahnsinn neutraler Forschung zugänglich zu machen, nur unter Zugrundelegung einer ausschließlich somalischen Ätiologie vollziehen konnte, liegt zum Teil an der semantischen Vermischung der Begriffe "moralisch" und "psychisch". Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und auch bei den Somatikern wurde eine Trennung beider Begriffe nicht vorgenommen; "moralisch" bedeutete nicht nur "sittlich", sondern zugleich "geistig", "psychisch" und "psychologisch".290 Unter dieser Voraussetzung war die Annahme einer Psychogenese der Seelenstörungen gekoppelt mit der moralischen These von der selbstverschuldeten Unvernunft. "Wäre Irreseyn Krankheit der Seele", sagt Nasse, " so würde es unmöglich seyn, einen befriedigenden Unterschied aufzuweisen zwischen ihm und der Sünde."291 Die Radikalität, mit der die Somatiker gegen die Psychiker den durchweg körperlichen Ursprung der Seelenkrankheiten behaupteten, wird nur verständlich aus dieser semantischen Konfusion. Um zwischen sittlicher Verfehlung und psychopathologischem Zustand zu differenzieren, mußte die Existenz genuin seelischer Erkrankung überhaupt geleugnet werden eine Voraussetzung, die, wie gesagt, bloße Behauptung blieb und mit metaphysischen Argumenten gestützt wurde.
286 287 288 289 290
Spieß 1966, 7. Vgl. Reuchlein 1986, 118. LuD 1,282. Ebd. Zur Synonymic der Begriffe "moralisch" und "psychisch" um und nach 1800 vgl. Schrenk 1973, 119; Osinski 1983, 82; Reuchlein 1986, 206; Anz 1989, 9. 291 Nasse 1818c, 452.
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Der spekulative Zug nahezu aller Somatiker hat in der Psychiatriegeschichtsschreibung verschiedentlich zu der Einschätzung geführt, daß der Gegensatz beider Schulen eher formaler Art sei.292 In dem Bemühen, das Gegeneinander der Psychiker und Somatiker zu profilieren und politisch wie institutionell zu verorten, hat Dörner die Kontroverse auf die Zeit des Vormärz datiert - sie folgt der romantisch-theologischen Phase der Restaurationspsychiatrie - und als Konflikt zwischen idealistisch theoretisierenden Professoren einerseits und den von ihren Erfahrungen ausgehenden Anstaltspraktikern andererseits dargestellt.293 Beide Schulen kennzeichne das Bemühen um wissenschaftliche Verselbständigung ihres Fachs: Die durch Ideler294 repräsentierten Psychiker suchten "von der Naturphilosophie abgehend die Psychiatrie auf eine eigenständige Psychologie zu gründen (...), während die Somatiker sozusagen zur anderen Seite von der Naturphilosophie abfielen und der Psychiatrie eine rein somatisch-medizinische Basis zu geben beabsichtigen."295 Nach Dörner zeigt sich im Widerstreit beider Schulen der allgemeinere, das 19. Jahrhundert kennzeichnende Gegensatz zwischen konservativ-staatsloyalen geisteswissenschaftlichen Idealisten auf der einen Seite und gesellschaftspolitisch engagierten und liberalen naturwissenschaftlichen Materialisten auf der anderen Seite. Zwar blieben die Somatiker - so betont auch Dörner - "der Naturphilosophie verhaftet"296; dennoch sei die Entwicklung zu einer psychiatrischen Wissenschaft nur über sie möglich gewesen. Angesichts dieser Deutung der somalischen Schule mag es erstaunen, daß Carus ihr angehören soll. In der Tat situieren jene Historiker, die den exakt-wissenschaftlichen Charakter der Somatiker herausstreichen, Carus am anderen Ende des zeitgenössischen Spektrums: Dörner etwa rückt ihn in die Reihen der naturphilosophisch und theologisch ausgerichteten Systemdenker; Karl Rothschuh sieht in Carus den Hauptvertreter der psychodynamischen Krankheitsauffassung im 19. Jahrhundert, die er anhand der medizinischen Konzepte der Psychiker exponiert; Ehrig 292 Vgl. Bodamer 1948, 304 ff.; Ackerknecht 1957, 58; Leibbrand/Wettley fassen Somatiker und Psychiker in den Kapiteln Spekulative Psychopathologie und Kontrastierende Leib-Seele-Auffassungen zusammen (Leibbrand/Wettley 1961, 465-498). 293 Vgl. Dörner 1984, 262 ff.; ebenso Jaeger/Staeuble 1978, 247 ff. 294 Im Gegensatz zur naturphilosophisch-theologischen Psychiatrie der Heinroth, Eschenmayer, Leupoldt oder Neumann vertrat Karl Ideler in seinem Grundriß der Seelenheilkunde (1838) eine im engeren Sinne ethische, triebpsychologisch fundierte und "soziologisch" ausgerichtete Psychiatrie (vgl. Dörner 1984, 266-273; Jaeger/Staeuble 1978, 250-254). 295 Dörner 1984, 266. 296 Dörner 1984, 276.
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Lange betont vor allem den Einfluß Heinroths.297 Aus dem bisher Gesagten geht jedoch hervor, daß Carus grundlegende Positionen der somalischen Psychiatrie teilte. Umgekehrt wird die Darstellung der somalischen Schule als Mittelglied einer kontinuierlichen Entwicklung zum naturwissenschaftlichen Materialismus der Jahrhundertmitte der Eigenart dieser psychiatrischen Richtung nicht gerecht. Die somalische Schule gehört genelisch und slrukturell jener Phase der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung in Deutschland an, in der Naturwissenschaftler und Ärzte - von naturphilosophischen Ideen angeregt - für die Verselbständigung der Einzeldisziplinen und gegen überbordende Systemspekulation eintraten, ohne den Anspruch auf philosophische Erklärung der Lebenserscheinungen in ihrem Zusammenhang aufzugeben. So verpflichteten auch die Somatiker das psychialrische Denken und Handeln auf ein anlhropologisches Fundament. Die Anlhropologie erfüllle dabei eine doppelle Funklion: Sie inlegrierle die Psychialrie in eine ganzheilliche Wissenschaft vom Menschen und lieferte zugleich den normativen Bezugspunkt, an dem sich die Psychopalhologie ausrichten konnle. Insofern die somalische Theorie wie zu zeigen sein wird - Elemenle einer spekulativen Psychophysiologie inlegrierle und Raum ließ für unlerschiedlichsle philosophische Oplionen, kann auch Carus ihr zugeordnel werden. Die Konjunklur des anlhropologischen Ansalzes im Denken der Somaliker zeigl sich schon in der allenlhalben geäußerten Auffassung, daß die Klärung des Leib-Seele-Verhältnisses der psychopathologisehen Theorie vorausgehen müsse.298 Besonders in Nasses Ansalz verdichlen sich die Tendenzen der zeilgenössischen Anlhropologie: die emphalische Forderung nach einer "Lehre von dem ganzen Seyn und Leben des Menschen"299, ihre Siluierung im Schnittpunkt bereils ausdifferenzierter Fachgebiele, die Suche nach einer einheilssliftenden Perspektive als Regulativ übermäßiger Spezialisierung und nichl zulelzt die Angliederung der Psychologie an die physiologische Forschung kennzeichnen 297 Dörner 1984, 251; Rothschuh 1978, 310-317; Lange 1989, 22, 26. Ähnlich wie Lange beurteilt schon Erhard Funk Carus1 Auffassung der psychischen Krankheiten (Funk 1969, 45 ff.). 298 Vgl. z.B. Francke 1824, 272; Amelung 1826, 151 ff.; Jacobi 1830, 6. Albert Matthias Vering leitete sein Hauptwerk, die 1817-21 erschienene Psychatrische Heilkunde, mit einem Band Über die Wechselwirkung zwischen Seele und Körper im Menschen ein; Jacobi ließ den Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irreseyn verbundenen Krankheiten (1830) ein Werk vorausgehen, in dem er vor allem die Beziehungen der psychischen Erscheinungen zum Organismus im gesunden Zustand darlegt. 299 Nasse 1823,6.
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Nasses anthropologisches Programm.300 Mit jenem oben herausgestellten quasi-materialistischen Grundsatz - daß nämlich "alles, was wir psychische Thätigkeit nennen, immer nichts desto weniger nur durch feinste somalische Bildung (...) bedingt wird"301 - fügt sich Carus1 Anthropologie durchaus in diesen Kontext. Die meisten Somatiker verbinden die idealistische Konzeption einer zwischen Geist und Körper vermittelnden Seele mit dem steten Hinweis auf die Naturbestimmtheit des Menschen, die es empirisch zu erforschen gelte. Es ist insgesamt bezeichnend für den wissenschaftsgeschichtlichen Ort der somalischen Theorie, daß hier zwar die philosophische Zuständigkeil für psychologische Fragen besinnen wird, das Leib-Seele-Problem selbsl aber nach wie vor in einen philosophischen Konlext gestelll bleibt Spekulalive Erörterungen über den Ursprung des Geisligen, den Silz der Seele, die Exislenz der Lebenskraft, über Vereinlsein oder Identitäl von Leib und Seele sind an der Tagesordnung. Auch Carus siehl sich im enlsprechenden Abschnill der Vorlesungen über Psychologie genöligt, jene bereits abgehandelten Fragen der spekulativen Psychophysiologie erneut aufzugreifen. In diesem Punkt nun isl das Elikell der "somalischen Schule" von irreführender Eindeuligkeil, keineswegs nämlich lassen sich ihre Vertreter ideologisch übereinbringen: Das Spektrum der Ansalze reichl von der plalonischen Annahme angeborener Ideen bei Friedrich Groos bis zur sensualislischen Ableilung der Ideen aus Empfindungen bei Carl Friedrich Flemming, von Nasses vorsichligem Dualismus "in dem Geschaffenen"302, über die naturphilosophische Gleichselzung von Seele und Lebenskraft bei Carus und den Vilalismus Friedreichs bis hin zur exzessiven Identiläls- und Polarilätsspekulalion bei Guslav Blumröder. Nur in Anbelrachl dieser Heterogeniläl der somalischen Schule läßl sich Carus ihr überhaupl zurechnen: Für den Nalurphilosophen ist "im höchsten Sinne all' unser Leben ein Seelenleben" und daher "in diesem Sinne keine andere Krankheit in uns denkbar als Seelenkrankheit"303. Auf der untergeordnelen Ebene der relaliven Unterscheidung zwischen Körper und Seele, zwischen Unbewußtem und Bewußtem, opponiert Carus dennoch gegen die psychogene Auffassung des Wahnsinns. Die These vom körperlichen Ursprung der Geisteskrankheiten wurde - so gill es feslzuhallen - in unterschiedlichste philosophische Rahmenmodelle integriert.
300 301 302 303
Vgl. Nasse 1822 und 1823. Kieser, 39. Nasse, 1820, 12. PS, 460 (Hervorhebung im Text).
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Uneinig war man auch in der Frage nach dem Sitz der Seele, die mit dem allgemeinen Bemühen um Lokalisierung der psychischen Krankheiten interessant wurde. Somatiker wie Nasse, Jacobi oder Buzorini lehnten es ab, die Seele im Organismus örtlich zu beschränken, und plädierten für die "psychische Unmittelbarkeit des ganzen Körpers"304. Nasse wies die Suche nach dem Seelenorgan mit dem Argument zurück, daß der lebendige Körper und die Seele jeweils eine Einheit bilden; er berief sich dabei auch auf Cams' Ansicht, "daß das ganze Nervensystem der psychischen Thätigkeit ohne Vermittlung des Gehirns angehöre"305. Die von den meisten zeitgenössischen Physiologen vertretene Auffassung, nach der alle psychischen Prozesse an die Gehirntätigkeit gebunden seien, wurde auf den rationalistischen Primat des Denkens zurückgeführt. Nach Jacobi bringt nur das Zusammenwirken miteinander in Verbindung stehender Organe die psychischen Erscheinungen hervor. Anders als Nasse setzt sich Jacobi ausführlich mit Carus' Versuch einer Darstellung des Nervensystems auseinander und kommt zu einer kritischen Wertung: Aus den hier angeführten Stellen dieses in so vieler Hinsicht wichtigen und ausgezeichneten Werkes, erhellt, daß der Verfasser (...) die Nerven als Centrum des thienschen Organismus und diejenigen Thätigkeiten, die unter dem Namen der psychischen begriffen werden, als eigentliches Product des Nervenlebens ansieht. Zugleich aber ergiebt sich daraus, wie sehr auch dieser Gelehrte, dessen seltenen Gaben für reine Naturbeobachtung die Wissenschaft schon so viel verdankt, hier den sonst so glücklich verfolgten Weg ebenfalls verläßt, um durch zwar geniale aber darum nicht tiefer begründete hypothetische Darstellungen, vorgefaßte Lieblings-Ideen zu unterstützen.306
In der Begründung seiner "Lieblings-Ideen" verfuhr Jacobi allerdings nicht minder spekulativ. Er entwickelt eine Temperamentenlehre, die auf der Annahme einer komplexen wechselseitigen Beziehung der Gemütstätigkeiten und aller organischen Systeme beruht; die nächste somalische Bedingung selbst der Verstandestätigkeit liegt demnach "keineswegs ausschließlich in der Gehirnorganisation, sondern (...) zugleich in der Organisation vieler anderer Gebilde"307, etwa des Magens. Seelenstörungen sind Verrückungen der Temperamentsharmonie, die durch beliebige körperliche Erkrankungen verursacht werden können. Jacobi geht soweit, die Pathogenese auf bloß hypothetische Krankheitszustände und beiläufige körperliche Veränderungen wie Hautausschläge, Geschwüre oder Fußschweiß zu beziehen.
304 305 306 307
Nasse 1818b, 36. Nasse 1818b, 37. Jacobi 1825, 192. Jacobi 1822, 60.
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Carus dagegen betont, daß alle somalischen Veränderungen, die Seelenstörungen auslösen, "entweder direct oder indirect auf Bildung und Leben des Gehirns Bezug haben müssen"308. Zwar erkennt er Galls Hirnorganenlehre nur beschränkt an und polemisiert gegen die Tendenz der Physiologen, der Seele ein "Chambre garnie"309 im Gehirn einzurichten. Dennoch sind für Carus - das wurde bereits im letzten Kapitel deutlich alle bewußt-seelischen Funktionen an das Hirnleben gebunden. Nur dadurch, daß jene eigentümliche zarteste Nervensubstanz des Hirns in primitiver Zellmasse und Primitivfasern sich entwickelt hat, ist eine wesentliche Bedingung des Bewußtseins gegeben, und kein Gedanke, kein Gefühl, keine Willensregung kann im Geiste sich begeben, die nicht mit irgendwie feinen Unstimmungen in der Spannung der Innervationsströmungen dieser Substanzen verknüpft wäre.310
Wohl weist auch Carus auf die Bedeutung des Temperaments hin und erinnert an die "verschiedene psychische Signatur"311 anderer Organe. Die Ursache der Seelenstörungen kann auch in Defekten der Leber und der Galle, der Geschlechts-, Verdauungs- und Drüsenorgane oder im Mischungsverhältnis des Bluts liegen. Immer aber ist der eigentliche Sitz der Seelenerkrankung das Gehirn: Indem das Hirn nämlich die Bedeutung hat, den Herd zu bilden, wo alle primitiven Nervenfasern zuhöchst zusammen kommen, so machen sich nothwendig Erschütterungen auch entferntester Organe, oder, wie man besser sagen darf, untergeordneter Lebenskreise, in jenem Herde sofort und überall fühlbar.312
Carus' Lokalisierung der Seelenkrankheiten entspricht im wesentlichen der Ansicht von Somatikern wie Friedreich, Bergmann oder Vering, die sich den französischen Zerebristen anschlössen und deren physiologische und hirnanatomische Forschungen - zumeist allerdings in naturphilosophischer Einkleidung - rezipierten. Es zeigt sich, daß die für die romantisch-biedermeierliche Wissenschaft charakteristische Zwiespältigkeit auf allen Ebenen der somalischen Theorie zum Tragen kommt: Wie die medizinische Orientierung der Psychiatrie mit metaphysischen Argumenten gestülzl wurde, wie das Drängen auf empirische Erforschung psychopalhologischer Phänomene Raum ließ für anlhropologische Spekulation, so wirklen auch in dem Bekennlnis zu wertfreier Wissenschafllichkeil normalive Ansprüche weiter. Zwar bemühten sich die Somatiker, den medizinischen Diskurs von moralischen Implikationen zu reinigen. Die Psychialrie - so 308 309 310 311 312
PS, 498. VüPs, 272. PS, 492. PS, 499. PS, 498 f.
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heißt es bei Carus - müsse "den Begriff der eigentlichen Krankheit"313 festhalten; jede moralisierende Verwendungsweise des Krankheitsbegriffs wird dagegen als unwissenschaftliches "Analogon"314 ausgegrenzt. Zugleich aber wuchs damit dem Krankheitsbegriff erneut ein qualitativer Sinn zu: Zwischen Normalem und Pathologischem, Vernunft und Unvernunft wurde eine rigorose Trennungslinie gezogen, um den idealistischen Begriff der sittlichen Freiheit nicht preisgeben zu müssen. Man suchte die psychogenetisch-moralische Auffassung des Wahnsinns durch einen ontologisch aufgeladenen Krankheitsbegriff zu widerlegen: Die seelischen Affektionen wurden als bloße Funktionsstörungen von der substantiellen Wirklichkeit der Krankheit strikt getrennt. "Eine Verhinderung der Wirksamkeit eines Dinges", so betonte Nasse, "eine Beschränkung oder Mißleitung seiner Tätigkeitsäußerung durch etwas Aeußeres ist noch keine Krankheit des Dinges."315 Besonders Maximilian Jacobi hob das Fremdartige des Krankheitsgeschehens hervor.316 Dem Heinrothschen Anathema über unschuldig Krankgewordene begegneten die Somatiker mit dem Hinweis auf das Eigenständige und Objektive der Krankheit, die den Irren beherrscht. Ebendiese Funktion erfüllt das bei den Somatikern unübliche romantische Bild der "Zeugung"317, mit dem Carus die Pathogenese erklärt. Der Begriff der Krankheit bezeichnet demnach ein fremdes, parasitäres Wesen, das den Menschen befällt: "Krankheit ist also ein gewiß Neues, ein Etwas, das entsteht und sich nach eigenen Gesetzen organisch darlebt, als ein Erzeugniß solcher Conflikte des Eigenlebens mit dem fremden Leben der Welt..."318 Auch Heinroth hatte die Entstehung psychischer Störungen - als Zusammentreffen einer sündhaften Seelenstimmung mit einem äußeren Reiz - dem Zeugungsakt gleichgesetzt.319 Heinroths Theorie einer Begattung der Seele mit dem Bösen von dem Somatiker Friedreich als "Beischlafslehre" ironisiert320 unterscheidet sich allerdings wesentlich von Cams' Auffassung: Mit der naturphilosophischen Analogie will Carus gerade auf das Äußerliche und Unverfügbare des Krankheitsgeschehens hinweisen. "Ebenso muß daher auch in diesen Fällen alles Apostrophieren des Gewissens vergebens bleiben", so heißt es gegen Heinroth gerichtet, "weil eben wirklich ein 313 314 315 316 317 318 319 320
PS, 477. PS, 478. Nasse, 1818b, 21. Vgl. Leibbrand/Wettley 1961, 497 f.; Dörner 1984, 278 f. PS, 475. PS, 480. Heinroth 1818, 193 ff. Vgl. Leibbrand 1956, 300.
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Fremdartiges (...) den Geist gefesselt hält und ihn in eine andere Richtung gewaltsam drängt."321 Gerade das aufgeklärt-wissenschaftliche Ansinnen, den Begriff der Seelenkrankheit zu entmoralisieren, führte also zu einer ontologischen Reformulierung des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem. Die qualitative Krankheitsauffassung war denn auch ein entscheidender Punkt, der die somalische Psychiatrie des früheren 19. Jahrhunderts von der physiologischen Medizin der Jahrhundertmitte trennte; dort nämlich wurden die pathologischen Phänomene als natürliche Variationen des Gesundheitszustandes, als bloße Funktionsstörungen begriffen. Als sich Wilhelm Griesinger in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts anschickte, den Begriff der psychischen Krankheit seiner absoluten Bedeutung zu entheben und den Streit zwischen Psychikern und Somatikern durch Integration der Psychiatrie in die naturwissenschaftliche Medizin zu überwinden, geschah dies bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als "eine wirkliche Polemik gegen die moralistischen Auffassungen der Geisteskrankheiten (...) nicht mehr nöthig"322 zu sein schien. Wie sehr der medizinische Diskurs der Somatiker von normativen Ansprüchen durchsetzt war, zeigt sich an dem moralischen "Mehrwert" des Gesundheitsbegriffs. Nicht anders als die Psychiker definierten die somalischen Ärzte Gesundheit als leib-seelische Harmonie, in der das Gemüt die körperlichen Vorgänge beherrscht. Die "höhere Macht des Geistes"323 - so Carus - , die "Aufsicht [der Seele] über den mit Lebenskraft durchdrungenen Leib"324, die "psychische Herrschaft über das Temperament"325 - so Bird und Jacobi - kennzeichnen den Zustand der Gesundheit. Der Auffassung von Krankheit als einer fremden Instanz, die den Menschen hemmt und verdinglicht, entspricht ein teleologischer Gesundheitsbegriff, der die "Zwecke" des menschlichen "Naturlebens im weiteren Sinne"326 aufnimmt: Im Laufe der individuellen Entwicklung wird - so sagt Carus - "das Vorherrschen des bewußten Geistes über alles Unbewußte in uns immer mehr und mehr ganz eigentlich zur Aufgabe des Daseins"327. Carus geht so weit, die Möglichkeit psychischer Erkrankung von der Entwicklungshöhe und Energie des Bewußtseins abhängig zu 321 PS, 507 (Hervorhebung von JMT). 322 Griesinger 1845, 9. Zu Griesingers Kritik an Jacobi und dessen radikaler Trennung von Gesundheit und Krankheit vgl. Bodamer 1948, 306. 323 PS, 471. 324 Friedrich Bird, zit. nach Leibbrand/Wettley 1961, 486. 325 Jacobi 1821, 78. 326 Jacobi 1825,418. 327 PS, 471.
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machen: "Der helle Geist eines Aristoteles, Kant, Leibnitz (!) und Aehnlicher wird daher nicht die Möglichkeit von Krankheit aufheben, aber Bürge sein, daß Erscheinungen von Geisteskrankheiten in ihm gewiß nicht vorkommen."328 Carus nähert sich damit der stoizistischen Auffassung der Psychiker, daß der Seelenstarke überhaupt nicht erkranken könne, ohne deswegen die These von der Selbstverantwortlichkeit der Irren zu übernehmen. Der die somalische Schule charakterisierende Versuch, deterministische und idealistische Momente, Naturbestimmtheit und sittliche Freiheit des Menschen zusammenzudenken, kristallisiert sich um die Bestimmung des Verhältnisses von Gesundheit und Krankheit. An die Stelle der explizit moralischen Ausgrenzung des Wahnsinns trat die wissenschaftliche Distanzierung vom medizinischen Phänomen, die ihrerseits auf einer ähnlich radikalen Verabsolutierung der Vernunft beruhte. In dem allgemeinen Bemühen, die Psychiatrie physiologisch zu fundieren, ohne den anthropologischen Grundsatz der Einheit von Leib, Seele und Geist aufzugeben, erweisen sich die Somatiker als Teil der romantisch-biedermeierlichen Wissenschaftsformation. Carus freilich gehört mit seinem dezidiert naturphilosophischen Ansatz dem romantischen Randbereich dieser psychiatrischen Richtung an. Gleichwohl ist er ihr zuzuordnen: seine Opposition gegen moraltheologische und psychogenetische Wahnsinnsauffassungen, seine Bevorzugung der somatisch-medizinischen Therapie, das Eintreten für eine liberalere Irrenbehandlung sowie die Auffassung der Psychiatrie als medizinische Disziplin und ihre Abgrenzung gegenüber der literarisch-moralistischen Psychopathologie der Aufklärung belegen dies.
6. Physiognomik als ästhetische Anthropologie Es hat sich gezeigt, daß Carus' anthropologische Lehre durch die Somatisierung psychologischer Phänomene und eine animistische Deutung physiologischer Prozesse gekennzeichnet ist. Der emphatischen Auszeichnung des Menschen als freiem geistgeprägten Individuum steht seine Auffassung als Objekt medizinisch-biologischer Forschung gegenüber. Diese Spannung zwischen spekulativen und empirischanalytischen Momenten wird nun im Rahmen einer symbolischen Gestaltlehre ästhetisch aufgelöst. Was als allgemeines Kennzeichen von Carus1 Wissenschaftsentwurf festgehalten wurde - der ästhetische
328 PS, 483.
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Ausgleich methodischer und ideologischer Widersprüche -, zeigt sich also auch und besonders in der Anthropologie - mit dem Unterschied, daß der Bereich des Ästhetischen sich hier disziplinär formt: Die Physiognomik bildet das integrative Moment einer Wissenschaft, die den Menschen als Naturwesen empirisch erforscht, ohne auf die Ideologische Dimension verzichten zu wollen. Ausdrücklich stellt Carus daher die ästhetisch geprägte Physiognomik ins Zentrum der Anthropologie: Sie liefere "den besten Schlüssel (...) zu Allem, was im ganzen Umfange des Wortes mit dem Namen 'Menschenkenntnis1 belegt zu werden verdient"329. Auch unabhängig von Cams' Standortbestimmung nimmt die Physiognomik im Verhältnis zu den bisher betrachteten Wissenschaften vom Menschen eine Sonderstellung ein: Ihr Verfahren, aus Körpermerkmalen auf die seelische Eigenart zu schließen, entsprach dem grundlegenden Erkenntnisinteresse der ganzheitlichen Anthropologie. Nicht zufällig deckt sich die erste Konjunktur der Physiognomik mit Beginn und Hochphase des anthropologischen Denkens am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Zeitgenössische Kommentatoren des physiognomischen Unterfangens - unter ihnen Herder, Schiller und Wilhelm von Humboldt sahen darin "ein Vermittlungsprodukt aus Physiologie und Psychologie", das "der Vorstellung von der Totalität und Ganzheit des Menschen wissenschaftliche Reputation und Legitimation verschaffen"330 konnte. Die Physiognomik füllte eine "epochale Leerstelle"331, indem sie die von der Anthropologie vorausgesetzte Identität von Gestalt und Wesen empirisch zu bestätigen schien. Aus sozial- und kulturhistorischer Perspektive verdankt sich die physiognomische Modewelle der Auflösung stabiler gesellschaftlicher Ordnungszusammenhänge und dem Verlust verbindlicher metaphysischer Deutungsschemata im 18. Jahrhundert.332 Mit der Durchsetzung moderner Individualität entstand der Anspruch auf Lesbarkeit der äußeren Erscheinung als Zeichen eines je besonderen Inneren. Die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft erforderte neue, auf das Maß des "Persönlichen" zugeschnittene Deutungsangebote, um den Verlust der sozial und religiös verbürgten Identität zu kompensieren. Nicht zuletzt weckten die Gegebenheiten des Marktes das Bedürfnis nach charakterologischer Auslegung von Körperformen. Im 19. Jahrhundert wurde dieser 329 330 331 332
S, XXIV. Käuser 1989, 12. Käuser 1989,60. Vgl. Käuser 1989, bes. 40 ff.; Matt 1983, 159; Fischer/Schrader/Stumpp 1989, 7; Sennett 1983, 39, 147.
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sozialökonomische Zweck der Physiognomik - neben dem juristischen geradewegs zur Hauptsache erklärt. Bezeichnenderweise sieht Carus "die vielfältigste und allgemeinste Anwendung" dieser Wissenschaft "in sozialer Beziehung"333 gegeben: Die Physiognomik setze den Geschäftsmann, den Politiker wie den Bürger in die Lage, "unter der Menge ihn umgebender Individuen stets für jeden Zweck den rechten Mann zu finden, und jedem Geschäft das rechte belebte Instrument zu wählen"334. Die Physiognomik bewegte sich damit im Grenzgebiet zwischen Alltagswissen und lebensweltlicher Praxis einerseits und szientifischer Systematik andererseits. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen hat sie - wie die Anthropologie generell - teil an jener 'epistemologischen' Umschichtung, in deren Folge die Gegenstände des philosophischen Diskurses der empirischen Erkenntnis unterstellt wurden, und umgekehrt die alltägliche Welt- und Menschenerfahrung theoriewürdig und -bedürftig erschien. Allerdings war der wissenschaftliche Status der Physiognomik nie unumstritten; bekannt ist das Urteil Kants, der wohl das Gesichterlesen als "Naturantrieb"335 und die Physiognomik als praktische Menschenkenntnis gelten ließ, das Ausdrucksphänomen aber aufgrund seiner Singularität und unverfügbaren Anschaulichkeit für nicht diskursfähig erklärte. Dagegen bemühten sich alle Physiognomen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, die Physiognomik vom Stigma abergläubischer Zeichendeuterei zu befreien und sie durch Annäherung an naturwissenschaftliche Verfahren gegen die Tradition der hermetischen Signaturenlehre abzugrenzen. Wie seine Vorgänger hebt auch Carus mit großer Geste an und postuliert den Beginn der eigentlichen, der "wahren und wissenschaftlichen Symbolik"336. Frühere ausdruckskundliche Versuche läßt er kaum gelten: Anstatt nämlich die Würde und zugleich die große Schwierigkeit einer Aufgabe zu erkennen, welche die genaueste Kenntniß voraussetzt von der Entwickelung und den Lebens- und Formenverhältnissen nicht nur der menschlichen Gestalt an sich, sondern der organischen Welt überhaupt, pflegten fast die sämmtlichen frühern Bearbeiter und Verehrer physiognomischer Lehren hierbei größtentheils desultorisch, unvorbereitet und abergläubisch zu verfahren, und wenn am Ende bei dem Reichthume des Stoffs selbst aus solchem unvollkommenen Herumtasten hier und da ein Resultat der Erfahrung hervorgehen mußte, so erhielt doch das Meiste, was nach dieser Weise zusammengestellt wurde, einen so problematischen Inhalt und eine so unwissenschaftliche Form, daß Ausführungen dieser Art nur beitragen konnten, nicht allein die gänzliche Misachtung der Männer vom Fach, d.h. der Anthropologen, Anatomen und Physiologen zu veranlassen, sondern selbst 333 334 335 336
8,380. 8,381. Kant 1991,639. S, 18.
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Die "Kunde vom Menschen" im ernstem Theile des ganzen gebildeten Publicums ein gerechtes Mistrauen, ja eine dauernde Opposition zu erregen und zu unterhalten.337
Um den Abstand seines Unterfangens zur älteren Physiognomik zu dokumentieren, wählt Carus für sein ausdruckskundliches Hauptwerk den Titel Symbolik der menschlichen Gestalt. Vernehmlicher Repräsentant der abgewiesenen Tradition war Johann Caspar Lavater, dessen Physiognomische Fragmente (1775-1778) die Auseinandersetzung um den Bedeutungsgehalt körperlicher Merkmale gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Gang gesetzt hatten. Ausgangspunkt von Lavaters Semiotik des Gesichts war die animistische Auffassung der Seele als körperbildendem Prinzip. Hieraus folgte die grundlegende Idee einer ausdruckshaften "Ganzheit und Homogenität"338 des Leibes: Jedes Körperteil trägt demnach den Charakter des Ganzen ; sämtliche Glieder fügen sich widerspruchsfrei in die einheitliche Gesamtbedeutung. Bei aller Betonung der organischen Totalität des Leibes ging Lavater von einer mechanischen Korrelation zwischen sichtbarer Oberfläche und Wesen aus. In seiner physiognomischen Theorie erscheint der Leib als zerlegbare Maschine, deren Einzelteile nach einer festen Grammatik in ihrer Bedeutung entschlüsselt werden, um daraus den Charakter zu konstruieren.339 Das anthropometrische Verfahren - mit Hilfe des berühmten Stirnmessers - und die lineare Erfassung des Objekts im Schattenriß sollten präzise und vergleichsfähige Daten liefern, aus denen allgemeine Regeln - ein "Alphabet"340 der Gesichter - abgeleitet werden konnten. Die physiognomische Auslegung bezog sich daher vor allem auf das Knochensystem als "Grundzeichnung des Menschen"; das fleischliche "Colorit" dagegen, das Weiche und Veränderliche, mußte durch geometrische Reduktion seiner Zufälligkeit und Unbeständigkeit entkleidet werden.341 Für die Zukunft erhoffte sich Lavater eine mathematisch exakte, auf osteologischer Grundlage ruhende Physiognomik.342 Neben dem Verfahren geometrischer Abstraktion übernahm er von der zeitgenössischen Naturgeschichte den empirischen Ansatz - Beobachten, so heißt es, sei "die Seele der Physiognomik"343 -, die Sammelleidenschaft und die Repräsentationsform des klassifizierenden Registers. All diesen wissenschaftlichen Prätentionen zum Trotz hat sich Lavater zugleich 337 338 339 340 341 342 343
S, XVII. Lavater 1775-78/III, 110. Vgl. Blankenburg 1988, 213; Fischer/Stumpp 1989, 15-36, bes. 25; Louis 1992, 118 ff. Lavater 1775-78/IV, 147. Lavater 1775-78/11, 134. Vgl. Lavater 1775-787 I, 52. Lavater 1775-78/1, 173.
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wiederholt auf ein spontanes intuitives Ausdrucksverstehen berufen: Mit untrüglicher Sicherheit sollte das "physiognomische Genie" in seinem "ersten unräsonnirten Schnellgefühle"344 den Charakter und selbst das zukünftige Schicksal des Menschen erfassen können. Überzeugt von der Wahrheit des unmittelbaren physiognomischen Urteils, ließ sich Lavater von einem eingestandenen, ja stolz betonten Subjektivismus leiten: "O wer sagt euch, daß ich deswegen, weil ich behaupte, daß Physiognomik Wissenschaft werden könne, ein wissenschaftliches System liefern wolle? Laß mich, lieber Leser! reden, wie ich reden kann; das heißt; laß mich meine Seele, meine Gefühle darlegen ...I|34S Seine physiognomischen Deutungen trug Lavater im Tenor apodiktischer Gewißheit vor, meinte er doch, Einblick in den Plan göttlicher Schöpfung getan zu haben. Die religiös gefärbte Doktrin des Schweizer Predigers - insonderheit seine These über den Zusammenhang von moralischer Qualität und körperlicher Schönheit346 - geriet bald ins Kreuzfeuer philosophischer und wissenschaftlicher Kritik. Berühmt wurde die polemische Entgegnung Georg Christoph Lichtenbergs, der Lavater vorwarf, inkommensurable Größen zu analogisieren und das unbekannte Verhältnis von Körper und Seele, die überdies nicht nur aufeinander bezogen, sondern jeweils auch äußeren Einflüssen ausgesetzt seien, als ein für alle Mal bestimmt vorauszusetzen.347 Statt Beobachtungsgeist herrsche Voreingenommenheit und methodischer Subjektivismus. Nicht zuletzt äußerte Lichtenberg Bedenken gegen die in Menschenrichterei ausartende physiognomische Praxis. Lichtenbergs Einwände ließen sich - das wird man sehen - ebenfalls gegen Carus vorbringen. In der Ablehnung von Lavaters Unternehmen stimmen beide jedoch überein: Die "mystisch-pietistischen Werke"348 des Physiognomen erscheinen auch Carus vorrangig aufgrund ihrer enormen Wirkung erwähnenswert. An sich sei der Schweizer Prediger ein "völlig unwissenschaftlicher Gefühlsmensch" gewesen, der sich "ohne alle physiologischen Nachweisungen den Eindrücken seines Gemüthes"349 hingegeben habe. Allein eine richtige Intuition, so konzediert Carus, habe ihn verschiedentlich zu haltbaren Ergebnissen geführt.
344 Lavater 1775-78/IV, 132 (Hervorhebung getilgt, JMT). 345 Lavater 1775-78/1, 120. 346 Lavaters Theorie gipfelte in dem Diktum: "Je moralisch besser; desto schöner. / Je moralisch schlimmer; desto häßlicher." (Lavater 1775-78/1, 63). Vgl. auch das gesamte IX. Fragment Von der Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit (57-77). 347 Vgl. Lichtenberg 1970, 22-24. 348 S, XVIII. 349 CranI, 2.
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Carus übernimmt von Lavater die Unterscheidung zwischen eigentlicher Physiognomik - als Theorie über den ursprünglichen Zusammenhang von beständigen Körper- und Charaktermerkmalen - und Pathognomik, der "Lehre von den sämmtlichen durch das Leben, seine Leiden und Leidenschaften, herbeigeführten Umänderungen des Aeußern der Organisation"350. Hinzu kommt als dritter Bereich der neuen, physiologisch begründeten Symbolik die Organoskopie; sie bezieht sich allein auf die festen, wäg- und meßbaren Teile. Mit der methodischen Herauslösung anthropometrischer Verfahren aus der Physiognomik trägt Carus der veränderten wissenschaftlichen Situation Rechnung: Spätestens seit der hirnanatomisch fundierten Schädellehre Franz Joseph Galls vermochten szientifische Lippenbekenntnisse und physiognomische Einfühlungskunst nicht mehr zu überzeugen. Galls Lehre der Schädeldeutung, die später so genannte Phrenologie, ging von einem exakt feststellbaren Zusammenhang zwischen Hirn und Seelenleben aus. Gestützt auf vergleichende Verhaltensforschung,351 unterschied Gall 27 psychische Elementarkräfte, von denen die ersten 19 - darunter Geschlechtstrieb, Kinderliebe, Würg- und Mordsinn, Schlauheit, Sachgedächtnis und Sprachsinn - Mensch wie Tier gleichermaßen zukommen sollten, während die letzten acht Grundfakultäten, von vergleichendem Scharfsinn über Witz und Dichtergeist bis zum Sinn für Gott und die Religion, dem Menschen vorbehalten waren.352 Unter Berufung auf pathologische Erfahrungen, auf vergleichendanatomische und hirnphysiologische Forschungen lokalisierte Gall diese seelischen Fundamentalvermögen in bestimmten Bezirken des Gehirns. Jeder Richtung des Seelenlebens wurde ein sogenanntes "Hirnorgan" als materielles Substrat zugeordnet. Der eigentlich physiognomische Aspekt von Galls Lehre ergab sich aus der Annahme einer durchgängigen und exakten Entsprechung von Hirn und Schädeldecke. Jedes "Hirnorgan", so meinte Gall, bewirke nach Maßgabe seiner mehr oder minder starken Ausbildung eine größere oder geringere Wölbung des darüberliegenden Knochens. Aus der Form des Schädels konnte demnach auf die Anlagen, Triebe, Neigungen und Fähigkeiten geschlossen werden. Durch diese Beschränkung der signifikanten Körperteile auf den Schädel entzog Gall der traditionellen Physiognomik die Grundlage: Während Lavater noch eine metaphysisch verbürgte Koinzidenz von Innen und Außen vorausgesetzt und die Gesamtgestalt als Symbol der 350 S, 17. 351 Gall 1979,96-116. 352 Vgl. Gall 1825, Band IV und V, passim.
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formgebenden Seele verstanden hatte, bezog sich Gall allein auf die vermeintliche Wirkung der als psychische Funktionszentren gedachten Hirnorgane auf die Schädeldecke.353 Carus nun bemüht sich, beide Ansätze zu verbinden. Grundsätzlich muß seine "Symbolik der menschlichen Gestalt" als "Rettungsversuch ganzheitlicher Physiognomik"354 begriffen werden: Unter stetem Hinweis auf die ideelle Grundlage alles Natürlichen erläutert Carus den symbolischen Aussagewert von Schädel, Antlitz und Rumpf, von Gliedmaßen, Händen und Füßen. Zugleich entschärft er jedoch die Willkür, mit der Lavater etwa Nasenformen und Geistesanlagen einander zugeordnet hatte, indem er die unterschiedlichen Körperpartien auf spezifische, zum Teil physiologisch motivierte Bedeutungskomplexe festlegt. An Rumpf und Gliedmaßen zeige sich die leibliche Konstitution, während die Gesichtsbildung das Temperament repräsentiere und die geistige Anlage der Schädelform zu entnehmen sei.355 Die spekulative Annahme einer Ausdruckshaftigkeit des Leibes wird durch die physiologisch-funktionale Betrachtungsweise aufgefangen. Ausgehend von vergleichender Anatomie und Entwicklungsgeschichte konstatiert Carus eine Hierarchie der Körperteile; demnach steigt die Bedeutung eines Knochens in dem Maß, wie er einen wichtigeren Abschnitt des Nervensystems umschließt. Je höher die Dignität einer Partie des Knochensystems, desto stärker drückt sich darin die psychische Eigenart aus.356 Insofern kommt dem Schädel höchste Bedeutung zu; seine Auslegung bildet den umfangreichsten und erklärtermaßen wichtigsten Teil der Symbolik. Carus entwickelte seine kranioskopischen Ansichten in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren - zu einem Zeitpunkt also, da die wissenschaftliche Diskussion und populäre Verbreitung von Galls Lehre, geschürt durch dessen europäische Vortragsreise in den Jahren 1805 bis 1807, längst abgeebbt und die zweite phrenologische Modewelle der 353 Zum Verhältnis der Galischen Phrenologie zur traditionellen Physiognomik vgl. OehlerKlein 1990a, 151-177; Blankenburg 1988. 354 Oehler-Klein 1990a, 190. Oehler-Klein kommentiert die Problematik von Carus' Vermittlungsversuch folgendermaßen: "Einerseits mußte man das Gehirn als Basis aller seelisch-geistigen Vorgänge anerkennen, andererseits durfte es keine eindeutige UrsacheWirkungsrelation von einzelnen Hirnstrukturen und bestimmten Eigenschaften geben, wollte man nicht den Aussagewert anderer Körperteile in bezug auf geistig-seelische Vermögen leugnen. Carus griff zu dem Ausweg, eine nur symbolische Repräsentanz der Vermögen im Gehirn anzunehmen; wie immer man sich dies zu denken hatte, blieb unausgesprochen." (Oehler-Klein 1990a, 193). 355 Vgl. S, 31 f., 116. Bei der Aufstellung physiognomischer Regeln überschreitet Carus allerdings vielfach die selbstgesteckten Grenzen und macht zahlreiche Konzessionen an das Auslegungsverfahren der traditionellen Physiognomik. 356 Vgl. SdPh III, 337 ff.
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vierziger und fünfziger Jahre noch nicht in Gang gekommen war. Wenn auch die neue kraniologische Bewegung der Jahrhundertmitte sich vor allem der Rückwirkung Galischen Gedankengutes aus dem angelsächsischen Raum verdankte,357 so mögen doch die einschlägigen Publikationen, in denen sich Carus intensiv mit Galls Prinzipien auseinandersetzt, das Ihre dazu getan haben.358 In jedem Fall aber profitierte Carus vom zeitgenössischen Interesse an der Kraniologie: Mehr als jede andere Disziplin brachte die Schädellehre Carus zu dieser Zeit ins wissenschaftliche Gespräch;359 sie trug ihm vor allem auch Beachtung seitens solcher Forscher ein, die den naturphilosophisch orientierten Denker sonst eher schmähten.360
357 Vgl. Blankenburg 1988, 229. 358 Abgesehen von seinen Andeutungen im System der Physiologie (1838-40) hat Carus seine kraniologischen Ansichten zu Beginn der 40er Jahre mehrfach präsentiert, beginnend mit den Grundzügen einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioskopie (1841), über einen Aufsatz in Müller's Archiv für Physiologie (1843) und zwei Atlanten mit Abbildungen der Schaedel- und Antlitzformen beruehmter oder sonst merkwürdiger Personen (1843/45) bis hin zu einem öffentlichen Vortrag über den Stand der Cranioskopie (1844). Auch die Rezension von Samuel Georg Mortons Crania amencana (1842) gehört in die Reihe der Publikationen, mit denen sich Carus als Kraniologe profiliert. 359 Das Handwörterbuch der Physiologie - repräsentatives Kompendium der Jahrhundertmitte - weist gleich zwei Artikel auf, in denen Carus' Hirn- bzw. Schädellehre ausführlich besprochen wird. Der Tenor der Aufsätze zu den Stichworten "Gehirn" und "Temperament" ähnelt sich: Carus gilt zwar als kompetenter Kritiker des Galischen Systems, dennoch wird seine Theorie umfassend kritisiert. "Obgleich daher Carus das Verdienst hat, die Gall'sche Schädellehre auf einfachere Principien zurückgeführt und die weitverbreiteten Irrthümer jener Theorie aufgedeckt zu haben, so ist doch auch seine Cranioskopie keineswegs stichhaltig..." (Harleß 1846, 505; vgl. Volkmann 1842, 585587). 360 Als Beispiel können die berühmt-berüchtigten Physiologischen Briefe des Materialisten Karl Vogt dienen, der seinen provokanten Satz von der Urin-Analogie der Gedanken unter Hinweis auf Gall und Carus einleitete: "Noch viel weniger können wir von der Beziehung der Geistesthätigkeiten zu dem Gehirne sagen, wenn auch Gall'sche Phrenologie und Carus'sche Cranioskopie die Räthsel gelöst zu haben sich brüsten. Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen: daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren." (Vogt 1854, 323; Hervorhebung getilgt, JMT). Vgl. auch 325 f., wo Vogt zwischen der Wahrheit kraniologischer Grundprinzipien und ihrer überzogenen Anwendung unterscheidet.
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In der wissenschaftlichen Rezeption wurde Cams' Kranioskopie meist mit der Galischen Phrenologie zusammengesehen.361 Tatsächlich lassen sich beide Theorien im Ansatz vergleichen: Carus geht wie Gall davon aus, daß unterschiedliche Seelentätigkeiten verschiedenen Hirnbezirken zugeordnet werden können und daß die Entwicklung einer Hirnpartie dem Ausbildungsgrad der jeweiligen Anlage bzw. Seelenrichtung entspricht. Carus setzt ebenfalls voraus, daß die Form des Schädels Rückschlüsse auf die psychische Disposition erlaubt, wenn er auch hierbei mehr an ein analoges, und weniger, wie Gall, an ein kausalmechanisches Verhältnis von Hirn und Schädel dachte. Beide akzeptieren Goethes Metamorphosenlehre als Basis der Kraniologie; auch die Auffassung des Hirns als Fortsetzung des Rückenmarks übernimmt Carus von Gall. Grundsätzlich lobt er Galls Berücksichtigung der vergleichenden Anatomie, der Hirnphysiologie und der Entwicklungsgeschichte in der Schädellehre. Überhaupt teilt Carus die gängige Haltung der medizinischen Fachwelt, die Galls Hirnanatomie und -physiologic anerkannte und zugleich der Organenlehre sowie der Kraniologie kritisch gegenüberstand.362
361 Carus selbst klagt darüber, daß dadurch sowohl die orthodoxen Anhänger wie die prinzipiellen Feinde der Phrenologie seine Lehre verworfen hätten (vgl. S, XIX). - Ein detaillierter Vergleich beider Theorien findet sich bei Leibbrand 1956, 163-172. 362 Vgl. Cran I, 22-24; S, 51, 165 f. Zur geteilten Rezeption von Galls Werk allgemein vgl. Oehler-Klein 1990a, 61; Mann 1985, 154.- Daß sich Carus trotz seiner Kritik der Organologie an Galls hirnanatomische und neurophysiologische Ansichten anlehnt, zeigt bereits der Versuch einer Darstellung des Nervensystems von 1814. Carus übernimmt nicht nur die Präparationsmethode, sondern auch grundlegende Erkenntnisse Galls, wie etwa die Unterscheidung von grauer und weißer Nervensubstanz, die Auffassung des Gehirns als Zentralorgan des animalischen Lebens und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise des Gehirns als Fortsetzung des Rückenmarks (Vgl. Nerv, VII, 3, 77, 304). Auch Galls methodisches Credo wird aufgegriffen; es ist sicher kein Zufall, daß Carus das Bacon-Zitat, mit dem sich Gall in der Einleitung der Anatomie und Physiologie des Nervensystems zur induktiven Methode bekennt, seinem Werk als Motto voranstellt (vgl. Gall/Spurzheim 1810, 48). - Gall dagegen sah in Carus einen Physiologen aus den Reihen der "metaphysiciens transcendans de l'Allemagne" (Gall 1825/VI, 7) und meinte, daß die Kritik französischer Wissenschaftler am organologischen Prinzip größtenteils auf die Wirkung Carus'scher Ideen zurückzuführen sei. Cams' ambivalentc Haltung zu Gall findet eine Parallele in dem zwiespältigen Urteil Galls, der Carus' empirische Arbeiten anerkennt, deren philosophische Auslegung jedoch verdammt: "J'ai parle ailleurs, aves eloge, des ouvrages de MM. Carus et Tiedemann. Si M.Carus n'encombrait pas ses connaissances positives avec cette orguilleuse philosophic transcendante; si son style boursouffle, ses participes accumules et ses phrases gigantesque ne mettaient pas a tout moment l'attention du lecteur ä la torture, il pourrait etre regarde comme le pere de l'ouvrage de M. Tiedemann, qui est beaucoup mieux ecrit. J'ai une haute idee du merite de ces deux auteurs; j'aime infiniment mieux la nature de
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So wird Carus nicht müde, das Hypothetische und Übertriebene der Lokalisationstheorie anzuprangern. Schon die Trennung der psychischen Grundkräfte sei größtenteils unlogisch - "die bunte Aufzählung des Heterogensten untereinander"363. Wahrhaft absurd sei die Fixierung dieser psychischen Funktionen auf unterschiedliche Organe; Carus spricht von einem "materiellen Fachwerk des Gehirns, wo in einer Abtheilung die Kindesliebe, in einer ändern der Diebssinn, in einer die Hoffnung und in der ändern das Gewissen eingezwängt sich befände"364. Durch extreme Anwendung habe sich das "bedeutende Aper$u" Galls in eine "wissenschaftliche Missgeburt" verkehrt.365 Galls Aufsplitterung der Seele in relativ unabhängige Grundkräfte erfüllte nicht nur Carus mit "einer Art von moralischem Ekel"366, sondern löste zugleich einen ideologischen Grabenkampf in der zeitgenössischen Rezeption aus. Gerade in diesem Punkt hatte die Philosophie der Physiologie lange Zeit das Forschungsziel diktiert: Überzeugt von der Einheit des Bewußtseins hatte man im 18. Jahrhundert nach einem einheitlich wirkenden Seelenorgan, dem sensorium commune, gefahndet.367 Gall befreite die Physiologie von dieser Vorgabe, indem er das Gehirn als Aggregat verschiedener Seelenorgane konzipierte. Trotz der harschen Kritik am organologischen Prinzip bemüht sich Carus auch in dieser Frage um eine vermittelnde Lösung: Er versucht, bestimmte Seelenrichtungen zu lokalisieren, ohne die Einheit des Bewußtseins preiszugeben. Anders als Gall gründet Carus seine Kranioskopie auf die Okensche Wirbeltheorie, derzufolge der Schädel als Weiterentwicklung der Wirbelsäule zu betrachten ist.368 Den drei Schädelwirbeln ordnet Carus die drei Grundabteilungen des Gehirns zu; diese wiederum bringt er in Verbindung mit der bekannten Dreiteilung der Seele in Erkennen, Fühlen und Wollen. Demnach erscheint die vordere Hirnmasse, die großen Hemisphären, als Zentrum der Intelligenz; das Mittelhirn, die Vierhügelpartie, repräsentiert die Sphäre des Gefühls,
363 364 365 366 367 368
leurs recherches que ces mutilations cruelles et steriles de nos jeunes physiologistes." (Gall 1825/VI, 39 f.). S, 34; vgl. Cran II, 24. S, 50 f. Cran II, 7. S, 133. Vgl. hierzu auch Kap. II.4. Die von Goethe und Oken unabhängig voneinander entwickelte und durch letzteren im Jahre 1807 erstmals publizierte Wirbeltheorie ging von der Wirbelanalogie sämtlicher Knochen und insbesondere von der segmentalen Dreigliederung des Schädels aus. Zu der vom Metamorphose- und Typusgedanken inspirierten Theorie und dem diesbezüglichen Prioritätenstreit zwischen Goethe und Oken vgl. Ur, VII f.
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während das Triebleben seinen Sitz im Kleinhirn hat. Diese im Vergleich zu Galls Organologie ohnehin vorsichtige und großräumige Lokalisationstheorie schränkt Carus zusätzlich ein: Die Nervenbahnen im Hirn stellen "bei mehr vorrückender Gestaltung des Nervensystems und Gehirns (...) durch ihr großes Leitungssystem eine solche feste Totalität her, daß dadurch begreiflicherweise auch alles vollkommene Localisiren einzelner psychischen Richtungen zur wahren Unmöglichkeit wird, so sehr es in der ersten Anlage zugegeben wird"369. Mit dieser Auffassung konnte sich Carus auf den einflußreichen Experimentalphysiologen Pierre Flourens berufen, dessen Versuche ergeben hatten, daß zwar im Hirn Funktionszentren durchaus unterscheidbar seien, deren Verlust oder Beschädigung aber durch andere Hirnpartien ausgeglichen werden könne.370 Hatte Gall seine Organenlehre noch mit der Attitüde szientifischer Vorurteilsfreiheit präsentiert, so erschien nach Flourens1 Forschungen die Auffassung von der Entität des Gehirns als experimentell verbürgte und wissenschaftlich progressive Theorie. Mit gleicher Verve hat sich Carus gegen "das in Quadrate und Kreise auf dem menschlichen Haupte abgetheilte Sünden- und Tugend-Register Gall's"371, gegen die Lokalisierung moralischer Eigenschaften also, gewandt. Die Idee einer angeborenen Disposition für das Böse hat er philosophisch mit dem Argument, daß die Natur an sich nicht moralisch schlecht sein könne, abgewiesen.372 Aus psychologischer Perspektive kritisiert er, daß hier eine besondere Richtung des gesamten Seelenlebens, wie etwa die Güte, zu einer ablösbaren Eigenschaft erklärt und in einige Hirnwindungen eingesperrt werde.373 Allerdings, so wird man sehen, unterscheidet sich Carus' Auffassung in praktischer Hinsicht kaum von derjenigen Galls: Er geht davon aus, daß die angeborenen Anlagen insgesamt die Möglichkeiten moralischer Entwicklung begrenzen und daß innerhalb dieses Rahmens Erziehung und Umwelteinflüsse den 369 S, 132. 370 Vgl. Cran II, 22. Daß Carus die Arbeiten Flourens1 schon früh wahrnahm, belegt deren lobende Erwähnung in dem Vortrag über die neuesten Fortschritte der vergleichenden Anatomie und Physiologie, gehalten in der Dresdner Gesellschaft für Natur- und Heilkunde im Jahre 1831 (Handschriftliches Manuskript. Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. h 28m, Mappe IV). 371 S, 24. 372 Vgl. Cran I, 52: "So wenig das Gewitter und der Vulkan deshalb etwas 'Böses' sind, weil sie Elend und Unglück unter den Menschen verbreiten können, so wenig sind die uns eingeborenen Triebe und das Begehren nach ihrer Befriedigung und die Kraft des Willens, an und für sich, deshalb etwas Böses, weil sie falsch geleitet und gebraucht, die höhere Natur in uns zerstören und Unglück und Elend im Menschenleben verbreiten können." Vgl. auch S, 19 ff. 373 Vgl. Cran I, 9; S, 172.
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tatsächlichen Charakter bedingen. Von daher kommt Carus zu ähnlich deterministischen Aussagen und zu ähnlich liberalen strafrechtlichen Ansichten wie Gall. Zu Recht hat Carus auf den Zirkel in Galls Argumentation, die den gerade in Frage stehenden Zusammenhang von Schädelerhebung, Hirnorgan und psychischer Grundkraft immer schon voraussetzte, hingewiesen.374 Allerdings hat er die reklamierte methodische Vorsicht in der eigenen Theorie nicht walten lassen; seine Spekulationen über die Symbolik des Schädelbaus sind nur weniger konkretistisch als die organologischen Kurzschlüsse Galls. Auch in bezug auf anthropometrische und statistische Verfahrensweisen glaubte Carus, Galls Werk wissenschaftlich zu überbieten. An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, wie Carus die irrationalen und subjektiven Züge der Galischen Hirn- und Schädellehre aufdeckt, um selber ein methodisch widersprüchliches, von Werturteilen und ästhetischen Vorgaben geprägtes Theoriegebäude an deren Stelle zu setzen. So moniert er einerseits den Mangel an exakten Messungen und systematischer Fakten Sammlung; Gall habe sich nur für einzelne tastbare Schädelerhöhungen interessiert und sei dadurch gehindert worden, "grosse Reihen von Beobachtungen in tabellarischer Form vorzulegen, eine Methode, durch welche wir doch am leichtesten in den Stand gesezt werden, die der Wissenschaft wahrhaft förderlich werdenden Resultate zu ziehen"375. Im Gegensatz zur nicht abgesicherten Generalisierung zufälliger Daten in der Phrenologie bemüht sich Carus - so vermeint er - um wissenschaftliche Quantifizierung des anthropologischen Materials. Minutiöse kraniometrische Anweisungen begleiten seine Schädellehre, wie auch seiner Symbolik eine detaillierte Beschreibung der zugrundeliegenden Meßtechniken nunmehr bezogen auf den ganzen Körper - vorangeht. In Ermangelung eines absoluten Maßstabs entwickelt Carus ein individuelles Maßsystem, das sich an der jeweiligen Länge der Wirbelsäule orientiert. Das Urmaß, der "Modul", entspricht dabei einem Drittel der freien Wirbelsäule; die Kopfhöhe, die Länge des Brustbeins und der Hand etwa betragen diesem Kanon zufolge je l Modul, die Länge des Armes 3, die des Fußes 1,5 Modul usw. Die konkrete Proportion des Einzelnen wird als Abweichung vom Kanon in Modulminuten (dem 24. Teil des Moduls) vermessen, einem vorgefertigten "Calcul"376 unterworfen und in einer "Art von algebraischer Formel"377 festgehalten. Die auf diese Weise ermittelten 374 375 376 377
Nerv, 310. CranI, 14 f. S, 250. Prop, 12.
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Maßverhältnisse geben Aufschluß über die seelische Eigenart: Überproportionierte Teile deuten gemäß ihrer physiologischen Funktion auf das Vorherrschen bestimmter Eigenschaften, so etwa ein großer Unterkiefer auf Gefräßigkeit.378 Geringe Länge des Oberschenkels gilt dagegen als Zeichen von Tierähnlichkeit und, daraus folgend, von Primitivität, während ein überdimensionierter Kopf an die Proportionen des Kindes erinnert und daher auf eine niedrige Persönlichkeitsentwicklung schließen läßt.379 Im Millimeterbereich bewegen sich die entscheidenden Unterschiede in der Proportion des Schädels selbst, wo die ausgeprägte Entwicklung einer Knochenpartie auf die Dominanz der zugeordneten Seelenrichtung deutet. Zu Recht wurde in der Forschung darauf hingewiesen, daß in dieser Geometrisierung von Körper und Seele sich der "Sieg technischer Rationalität über bloße Naturwüchsigkeit"380 abzeichne und das "Rätsel der Individualität auf ein technisch lösbares Konstruktionsproblem"381 reduziert werde. Zugleich aber - dies ist der andere, der idealistische Pol der Physiognomik - geht es Carus darum, die menschliche Gestalt als "zeitliches Ebenbild ewigen göttlichen Wesens"382 darzustellen. Die neue, physiologisch begründete Ausdruckskunde erscheint auch als divinatonsche Symbolik, "denn sie soll uns weissagen oder wahrsagen von einem Göttlichen, d.i. von der innersten Idee des Menschen, also von demjenigen Unsäglichen und Gedankenhaften, in welchem alles Denken und alles Sagen, wie alles Empfinden und Wollen, ja alles Bilden und alles menschliche Leben, als in einem höchsten Urquell bedingt ist."383 In deutlichem Widerspruch zu dem konstruktivistischen Ansatz der Physiognomik und dem theoretischen Anspruch auf Formulierung allgemeiner Gesetze verfolgt Carus in diesem Zusammenhang eine individualistische Zielrichtung; "es sei jedenfalls und überhaupt die wichtigste Anforderung an die Symbolik die, den einzelnen Menschen als einen ursprünglich besondern darzustellen"384. Das Singuläre, "die Eigentümlichkeit des besondern An-sich-seins der Grundidee jedes einzelnen Menschen"385, entzieht sich allerdings begrifflicher Einordnung; das "Inkommensurable", von dem Carus - Goethe folgend 378 Vgl. Cran III, Tafel XXVI; S, 207. 379 Vgl. S, 100; S, 331. Zu den verschiedenen Deutungsmethoden bei Carus vgl. auch Kloos 1951, 58-83. 380 Fischer/Stumpp 1989, 46. 381 Fischer/Stumpp 1989, 52. 382 S, 70. 383 S, 10. 384 S, 13. 385 S, 10.
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so gerne spricht, läßt sich mit mathematischen Konstrukten nicht erfassen. Dieser Widerspruch reproduziert sich auch auf praktischer Ebene: So zielt die Symbolik einerseits darauf, den Menschen "durchsichtig"396 zu machen, um andererseits, im Gegensatz zum impliziten Versprechen umfassender Beherrschung, die Würde und das Unverfügbare, das Opake und "Unsagbare" menschlicher Individualität hervorzukehren. Historisch gesehen, manifestiert sich in diesem methodischen und ideologischen Widerspruch die der Moderne insgesamt zugrundeliegende dialektische Spannung zwischen der Herausbildung autonomer Subjektivität einerseits und wissenschaftlicher Objektivierung, die auch den Menschen als Forschungsgegenstand umfaßt, andererseits. Immanent betrachtet, bemüht sich Carus - wie noch alle idealistischen Denker - um den Ausgleich von Besonderem und Allgemeinem: Wie die Kunst, so ist auch die Natur durch das Zugleich von Rationalität und Irrationalität charakterisiert, und die Physiognomik ist gehalten, dieser Paradoxie eben durch eine ästhetisch geprägte Theoriekonstruktion - gerecht zu werden. Auf allen Ebenen, in der historischen Ableitung, der propagierten Methode, der Beschreibung des Gegenstandes, den normativen Vorgaben und der grundlegenden Argumentationsfigur, bekundet sich die Nähe dieser "wahren und wissenschaftlichen Symbolik"387 zur Kunst. So ist gerade die Vorstellung des Moduls, Hauptbestandteil der Wissenschaftlichkeit verbürgenden Anthropometrie, der klassischen Proportionslehre eines Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer entnommen.388 Die Bestimmung des Körperbaus durch das Urmaß erweist sich als Setzung, die ihre ästhetische Herkunft nicht verleugnet: "In den Gestalten eines olympischen Jupiters und eines pythischen Apoll, in einer Venus von Milo und in jenen bewundernswerthen Frauen vom Parthenon" sind die idealen MaßVerhältnisse "in ihrer reinsten Erscheinung" festgehalten.389 Auch im Hinblick auf die Kranioskopie waren die Griechen Vorreiter, indem sie "gleichsam durch blosse Vorahnung"390 den idealen Typus der Kopfform erfanden. Die Symbolik insgesamt gründet historisch in der Entdeckung des physiognomischen Prinzips durch die alten Künstler: Sie waren, so schreibt Carus, "die ersten, die praktisch über den Ausdiuck der Individualität in der besondern Gestaltung zu gewissen Resultaten gelangten."391 Ähnliches 386 387 388 389 390 391
S, 383 (Hervorhebung im Text). S, 18. Vgl. S, 56. S, 55. Abb II, 5. Cranll, 3.
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hatten Herder, Goethe, Schelling und andere schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor betont: Die Auszeichnung der griechischen Plastik als vollkommene Manifestation einer organischen, Kunst und Natur gleichermaßen umfassenden Symbolik bildet einen Grundpfeiler der klassizistischen Autonomieästhetik. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich auch die "neue" Symbolik von Carus. So wird die körperliche Organisation zwar (zum Teil) mikroskopisch genau beschrieben und exakt vermessen, dann aber anhand von Kategorien wie Harmonie, Mannigfaltigkeit, Symmetrie und Wohlproportioniertheit bewertet: Ästhetische Kriterien entscheiden demnach über die Ranghöhe einer Gattung in der Hierarchie der Naturwesen, über Persönlichkeitsentwicklung, intellektuelle Fähigkeit und charakterliche Disposition des Individuums. Wo die Organoskopie bloße Zahlenkolonnen festhält, da klärt "die lebendige Anschauung solcher vollkommener Formenharmonie"392 über Wert und Bedeutung des Körperbaus auf. Indem Carus die quantitative, rational-konstruktivistische Komponente seiner Physiognomik ästhetisch ausrichtet - auf "die reine Mitte echt menschlicher Bildung", auf die Idealform hin - gerät ihm die menschliche Gestalt zum "Symbol einer hohen göttlichen Idee".393 In der Anschauung des Schönen, im Geschmacksurteil, kommen Taxonomie und Symbolik zur Deckung. Konsequenterweise beschreibt Carus das physiognomische Urteil, trotz der steten Betonung des Werts wissenschaftlicher Rationalität, als ästhetisch strukturierten Erkenntnisakt. Immer wieder beruft er sich auf die blitzartige Intuition, die "scharfe und schnellblickende Menschenkenntniß"394; "ein gewisses natürliches Gefühl und ein gewisser angeborener Blick" sind demnach vonnöten, "um den wahren Menschenkenner zu schaffen"395. Die physiognomische Erkenntnis, die am Ende der wissenschaftlichen Analyse stehen soll, ergibt sich auch als spontane, dem unmittelbaren Augenschein verpflichtete Einsicht. Daher ist die Symbolik im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst anzusiedeln: Die Symbolik der menschlichen Gestalt ist eine Wissenschaft, insofern sie die Grundsätze kennen lehrt, nach welchen die unzähligen Individualitäten der Bildung, denen wir im Leben begegnen, je nach ihrer seelischen Bedeutung beurtheilt werden sollen, und sie ist eine Kunst, inwiefern sie diese Grundsätze im einzelnen concreten Falle wirklich anwendet, und aus dem vorliegenden Leiblichen auf das darin verborgene Geistige schließt.396 392 393 394 395 396
S, 55. S, 70. S, 381; vgl. Erfres, 27; PS, 293. S, 381. S, 6 f.
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Die Praxis physiognomischer Deutung, so gesteht Carus hier implizit ein, ist eigentlich nicht kodifizierbar. Der Sprung von anatomischer Beschreibung zu Sinnkonstitution, von physiologischem Vergleich zu qualitativer Differenzierung, von Zahl zu Norm läßt sich nur im Rahmen einer "Symbolik als Kunst" rechtfertigen. Letztlich erscheint die Physiognomik als Versuch, durch ein ästhetisch-normatives Argumentationsverfahren gängige Denkmuster der Zeit "wissenschaftlich" zu untermauern. Die psychologische Tiefenhermeneutik orientiert sich nicht, wie vorgegeben, am Tatsachenblick, sondern an kulturell bedingten Wertungen. So profiliert sich die Physiognomik gerade dadurch als ästhetische Anthropologie, daß ihr die Beweislast für den Unterschied zwischen Mensch und Tier aufgebürdet wird. Die mit dem 18. Jahrhundert sich durchsetzende biologische Erforschung des Menschen hatte das Gefalle zwischen Mensch und Tier nivelliert: Der Mensch erschien zunehmend als Naturwesen, das sich nur graduell, durch die Komplexität seiner Organisation, von anderen Naturwesen unterscheidet. Die von Carus intensiv betriebene vergleichende Anatomie, obschon lange Zeit idealistisch geprägt, mündete so letztlich in die historische Einebnung der Differenz zwischen Mensch und Tier durch den Darwinismus. Dem Ansatz der Deszendenzlehre widerspricht Carus jedoch unter Berufung auf die ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert stammende Stufenleitertheorie, die eine kontinuierliche und statisch gedachte Hierarchie der Lebewesen voraussetzt. Im Umfeld der romantischen Naturwissenschaft wurde die Reihe der Lebewesen als ideelle Stufenfolge, die den allgemeinen Prinzipien von Polarität und Steigerung folgt, angesehen. Das naturphilosophisch geprägte Stufenleiterdenken gipfelte in der Auffassung des Menschen als Mikrokosmos, als - so sagt Cams in Anlehnung an Lorenz Oken - "Messer" und "Maß" der Schöpfung.397 Insofern Carus jedoch selbst konzediert, daß bei der Vergleichung einzelner Organe die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier vorherrsche,398 muß er sich auf eine andere, außerwissenschaftliche Instanz berufen: Das spontane physiognomische Gefühl soll die Exzeptionalität des Menschen bestätigen. Um den höheren Typus menschlicher Bildung adäquat zu erfassen, brauche es, so Carus gegen Darwin, "den auch ästhetisch genug durchgebildeten anatomischen Forscher"399. An die Stelle rationaler Argumentation wird die Suggestivkraft des unmittelbaren Augenscheins gesetzt: 397 S, 117. 398 Vgl. Vgl PS, 286,291. 399 Vgl PS, 288.
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...die generische Verschiedenheit nicht blos zwischen Mensch und Affe, sondern zwischen Mensch und Thier überhaupt, (tritt) theils in dem überall durch Kleinheit und unvollkommene Entwicklung ausgezeichneten Gehirn (...), theils in der Gesammthildung des Kopfes deutlich hervor und frappirt uns besonders in dem kleinen verkrüppelten Ohr, in dem glotzend zusammengerückten Augenpaar, in der flach gedrückten kleinen Schädelwölbung, ja schon in dem roh thierischen Maul des Letzteren.*™
Wo die vergleichende Anatomie einen nur quantitativen Unterschied feststellt, soll der ästhetische Sinn die Besonderheit des Menschen bezeugen. Die außerordentliche Häßlichkeit des Affen - so das letzte und entscheidende Argument gegen Darwin - verbiete den Gedanken an eine Verwandtschaft mit dem Menschen.401 Die Differenzqualität zwischen Mensch und Tier kann ihrerseits nur im poetischen Gleichnis erfaßt werden: Die Menschheit steht zur Thierheit wie der geschlossene Kreis zum fragmentarischen. Die Glocke, welche die Wölbung ihrer Seiten auch nur durch einen Riss lückenhaft zeigt, giebt keinen harmonischen Ton mehr, der eigentliche Ton aber, mit welchem die Schöpfung dem Schöpfer antworten soll, ist der Geist, und dasjenige Wesen also, aus welchem der Geist tönt - d.h. der zur Person, und damit erst zur Totalität erhobene Mensch ist dadurch nothwendig stets ein qualitativ durchaus Anderes als das Thier, als welches nie höher sich erhebt, als bis zum Repräsentanten des grösseren oder kleiner Glockenfragments.402
An der Art und Weise, in der Carus gegen Darwin streitet, zeigt sich die grundlegende Argumentationsfigur der Symbolik: Ästhetische Urteile gelten als entscheidendes Kriterium in der Bestimmung der hierarchischen Naturordnung. Dies allerdings ist nur möglich, wenn ein ontologischer Schönheitsbegriff zugrundegelegt wird. Daher widersetzt sich Carus "der Ansicht des Helvetius (...), welcher Schönheit nur als einen conventionellen und veränderlichen Begriff aufstellen möchte"403, und insistiert in naturhistorischer Hinsicht auf einem ästhetischen Platonismus - "es gibt ein Ur-Schönes wie ein Ur-Wahres"404, heißt es in der Goethe-Denkschrift. Die Stufenleiter der Lebewesen reproduziert sich als ästhetische Hierarchie - getragen von der Überzeugung, daß sich in der aufsteigenden Reihe "die Gestalt des Ganzen durch und durch verschönert"405 und daß die Gestalt des Menschen als höchstem Wesen 400 Gorilla, 60 (Hervorhebung v. JMT). 401 Dabei ist es Carus zufolge gerade "die gewisse Menschenähnlichkeit" des Affen, "welche das in anderen Formen oft so eigenthümlich schöne Thierische1 (man denke z.B. an den Kopf des Pferdes oder des Löwen) mit solcher entschiedenen Häßlichkeit färbt" (Gorilla, 60). 402 Gorilla, 30. Vgl. Vgl PS, 286. 403 Anth, 90. 404 GIII-D, 110. 405 Vgl PS, 287.
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"eben darum auch die schönste aller ähnlichen irdischen Bildungen genannt werden"406 muß. Hatte Carus in bezug auf die landschaftliche Naturschönheit noch stärker die subjektive Zutat des Betrachters akzentuiert, so erscheint in bezug auf Mensch und Tier Schönheit als gegebene, am Objekt haftende Größe: Je elementarer die Linienführung und je unbestimmter die Zahlenverhältnisse, desto häßlicher ist ein organisches Gebilde.407 Insofern ist Carus der Auffassung, "daß das Wohlgefallen, welches wir an der (...) menschlichen Gestalt, gegenüber jeder thierischen haben, keineswegs blos auf irgend einer Willkür ruhe, sondern wirklich sehr tief, durch die geheimnißvollsten und wunderbar verwickelten Zahlenverhältnisse, und die merkwürdigsten Constructionen der Form, vollkommen wissenschaftlich bedingt werde."408 Die solchermaßen in der Natur verankerte Schönheit von Schädelform und -Oberfläche, von Skelett und Gestalt erscheint als Kriterium für die Ranghöhe nicht nur der Gattung, sondern auch des Individuums, der Rasse und des Geschlechts im hierarchischen Naturgefüge. Der ästhetisch-normative Charakter der Physiognomik setzt sich ebenda besonders durch, wo es um die Differenz nicht mehr zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen Mensch und Mensch geht. Hier manifestiert sich die grundsätzliche Spannung der Carus'schen Anthropologie im Kontrast von idealistischer und deterministischer Bestimmung des Menschen. Bereits in der Erläuterung seiner psychiatrischen Ansichten wurde auf diese Inkonsistenz in seinem Denken hingewiesen: So bezieht sich Cams einerseits auf die "höhere Macht des Geistes"409, die psychische Störungen verhindern soll, um andererseits die Unverfügbarkeit des somalischen Geschehens und die Schul dl osigkeit seelisch Kranker zu betonen. Im Kontext von Symbolik und Kranioskopie findet sich ein ähnlicher Zwiespalt in der Diskussion forensischer Fragen. Oben schon war davon die Rede, daß sich Carus gegen den allerdings überzogen interpretierten - moralischen Determinismus der Galischen Phrenologie ausspricht: Das Gewissen, so heißt es, sei "das eigenthümlich Göttliche in jedem Menschen, der nur überhaupt zum Selbstbewußtsein erwacht ist", und komme daher auch Menschen "mit schwachen Geistesanlagen" zu;410 eine besondere Anlage für das moralisch Gute oder Böse könne nicht zugegeben werden. Die "ächte" Kranioskopie sei "weit entfernt, die Lehre von der Freiheit des Menschen 406 407 408 409 410
S, 70. Vgl. S, 66. S, 69 f. PS, 471. Cranll, 46.
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zu beschränken"411. Dies hindert Carus allerdings nicht, die besondere Bedeutung der Schädellehre für die "Criminaljustiz" zu unterstreichen: Es versteht sich nämlich von selbst, dass allerdings eine Anlage, z.B. von sehr wenig Gefühl, sehr schwacher Intelligenz und starkem Trieb des Begehrens und Wollens, den Menschen sehr leicht in Verbrechen der verschiedensten Art gerathen lassen kann, in Verbrechen, welche der mit höherer Intelligenz Ausgerüstete schon deshalb unterläßt, weil ihm sein Wissen sagt, dass er sich dadurch selbst unglücklich machen müsse. In Wahrheit findet man deshalb bei vielen Verbrechern sehr ungünstige Schädelbildungen, ein Umstand, der von dem Richter jedenfalls berücksichtigt zu werden verdient, da er die höhere Milde aufruft, mit welcher jede grössere menschliche Individualität auf den Verbrecher blickt, und die, wenn sie auch die Strafe nicht aufheben kann, sie doch nicht als Rache, sondern als Hinfuhrung zur Besserung anordnet.412
Sein Plädoyer für eine liberalere Handhabung des geltenden Rechts untermauert Carus mehrfach mit Analysen von Verbrecherschädeln, an deren Ende sich jedesmal zeigt, "wie wenig für einen eigentlich so zu nennenden freien Willen hierbei übrig bleibt"413. Solches demonstriert Carus etwa am Schädel der Giftmischerin Gottfried aus Bremen - ein Beispiel, das zugleich geeignet ist, die eigentümliche, Carus' Symbolik kennzeichnende Mischung aus chauvinistischer Analogisierungswut, humanitären und liberalen strafrechtlichen Bestrebungen, ästhetischen Wertungen und deterministischen Ansätzen zu illustrieren. Carus führt im einzelnen aus, wie hier "denn ziemlich Alles sich vereinigt, was ein ungünstiges Verhältniß am Schädelbau bedingen kann"414: Vorherrschen der Willensregion, "negerartige Abflachung"415 des für die Intelligenz verantwortlichen Vorderhauptes, geringe Modellierung des Schädels im Ganzen, alles in allem ein "höchst unschöner und im Vorderhaupte fast cretinenartig vernachlässigter Schädel"416. Damit jedoch nicht genug: Kommt nun noch hinzu das elende Verhältniß der Antlitzform, an welcher nur etwa die Nase jene gewisse niedere Verstandesschärfe ankündigt, während die kleinen nahe zusammengerückten Augen einen etwas jüdischen Ausdruck geben, und die dicken negerartigen Lippen mit vorstehender Unterlippe eine große Roheit aussprechen; so vollendet sich freilich auch hier das Abbild einer beklagenswerthen Seeleneigenthümlichkeit, welche abermals nur durch sehr sorgfältige Bewachung und wesentliche Begünstigung zu einer unschädlichen, obwol geringen Art von Entfaltung geleitet werden konnte, bei irgend ungünstigen äußern Conflicten aber, und vorhergegangener Vernachlässigung in früherer Erziehung, rettungslos in einen Abgrund von Verwerflichkeit gerathen (...) mußte.417 411 412 413 414 415 416 417
Cranll, 29. Cranll, 47. S, 376. S, 378. Ebd. S, 154. S, 379.
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Die "Kunde vom Menschen"
Insofern Carus, anders als Gall, nicht von einer angeborenen Bestimmung des moralischen Verhaltens ausgeht, bekommen soziale Faktoren ein stärkeres Gewicht, ohne daß er darum zu einem eigentlich so zu nennenden soziosomatischen Denken durchdringen würde. Allemal bleibt der Widerspruch zwischen seinem forensischen Determinismus, der "den ursprünglichen Bildungsverhältnissen des Organismus und ihrer durch äußere Lebensverhältnisse bedingten Art des Fortwachsens" ebenso wie der "besondern Lebenslage"418 Rechnung trägt, und den wiederkehrenden Formeln eines ethischen Idealismus - die Natur gehorche dem "stummen Gesetze der Nothwendigkeit", während der Mensch "allein vom Lichte der Freiheit erleuchtet"419 sei - unverkennbar. Das Problem der Unvereinbarkeit von Naturdetermination und Willensfreiheit löst Carus durch einen weltanschaulich-methodischen Pluralismus, der sich nach dem jeweiligen Gegenstand - genauer: nach der verhandelten Kategorie Mensch - richtet. Carus unterscheidet vier Klassen: den Idioten, die elementarische Menschheit, das Talent und den Genius.420 Deterministische Erklärungsansätze beziehen sich auf niedere Stufen des Menschseins, während eigentliche Freiheit nur den höheren Stufen zukommt. Die Anlage bedingt also nicht nur das Verhältnis der Seelenrichtungen zueinander, sondern auch den Grad der Erziehbarkeit und das mögliche Maß an Freiheit. Wurde die idealistische Anthropologie durch ästhetische Vertiefung der Kluft zwischen Mensch und Tier gerettet, so erlaubt sich Carus vor diesem Hintergrund eine Hierarchisierung der Menschheit, die jene absolute Differenz annähernd wieder aufhebt.421 Die "wissenschaftliche" Physiognomik soll dabei die Ranghöhe des Einzelnen ermitteln. In der Anwendung von Kranioskopie und Symbolik auf die Rassenlehre ist ein ähnlicher Zwiespalt zwischen szientifischem Anspruch und normativer Prägung festzustellen. Jedenfalls fordert Carus, 418 S, 375. 419 PS, 77. 420 Vgl. S, 36. Früher schon hatte Carus - unter Bezugnahme auf einen Herderschen Terminus - eine vergleichbare Einteilung der Menschheit in Gemeine, Freigelassene, Auserwählte und Heilige aufgestellt (vgl. LuD I, 109). 421 Auch hier, wo die Kluft zwischen Mensch und Tier verschwindend gering wird, beruft sich Carus wiederum auf ästhetische Kategorien: Gerade die "Vollendung", "Mannigfaltigkeit" und "innere Zweckmäßigkeit" in der Bildung des Organismus' zeige bei einem Individuum, "welches als bewußter Geist noch so dürftig sich entwickelt, ja welches in sich seine Würde als ein Selbstbewußtes ganz verloren hat", den inneren Abstand vom Tier (Ps, 16). Mag sein, daß Carus ehrlicher ist, wenn er an anderer Stelle sagt, daß Individuen, "in welchen das Selbstbewußtsein aus irgend einer Ursache nie zur Wirklichkeit wurde, (...)in ihrer anomalen Erscheinung, meist tiefer als das Thier stehen" (Nul, 472).
Physiognomik als ästhetische Anthropologie
135
daß "in solcher Hinsicht genaue Messungen und physiognomische Beobachtungen aufgezeichnet" werden, um "die merkwürdigsten Verschiedenheiten der Massen (...) als Resultat der Untersuchung vieler Einzelner hervorgehen"422 zu lassen. Seine eigenen rassentheoretischen Darlegungen gründet Carus auf metrische und statistische Verfahrensweisen, insbesondere auf kranioskopische Daten. Von Schädelmessungen, deren tendenziöse Auslegung in den physiognomischen Rassenlehren der Zeit bereits der Physiologe Friedrich Tiedemann angeprangert hatte,423 gelangt man allerdings nicht ohne Sprung zu jener aus Vorurteilen gespeisten naturphilosophischen Analogienreihe, derzufolge die Menschheit sich in Entsprechung zu den vier verschiedenen Erleuchtungszuständen des Planeten, den vier Reichen des Epitellurischen, den vier Entwicklungsstadien des Individuums und den vier Stufen geistiger Energie gliedert. So erinnern die Schwarzen - die "Nachtvölker" - "durch ihr indifferentes unentwickeltes Naturell und ihren stumpfen Geist an die Protoorganismen", während die östlichen und westlichen Dämmerungsvölker Pflanzen- und Tierreich entsprechen und "nur die Tagvölker insbesondere die Menschheit selbst repräsentiren".424 Der Neger - so muß man Carus verstehen - ist Einzeller, Embryo, Idiot und schließlich ausgestattet "mit vorwiegendem Generationssystem"425 - Proletarier der Menschheit.426 Auch hier nun wird die Kluft zwischen empirischer Faktensammlung und der normativen Gewißheit über die Superiorität der weißen Rasse und die Unterlegenheit der "Nachtvölker" ästhetisch aufgefüllt: Dem "Tagmenschen", insistiert Carus, sei "wirklich eine höhere Schönheit als den übrigen Stämmen zuzuschreiben"427. An tendenziösen Belegbeispielen in Lavaterscher Manier - "Newtons Genie im Kopf eines Negers?"428 - fehlt es nicht: So vergleicht er etwa einen 422 423 424 425 426
8,399. Vgl. Tiedemann 1984. Carus äußert sich gegen Tiedemanns Aufsatz in G III-D, 61. Nul, 468. Anth, 90. Wie ungebrochen Carus die Vorurteile seiner Zeit reproduziert, zeigt sich auch in einer Handschrift mit dem Titel Vom Urbilde des Staates, eine Abhandlung zur Physiologie der Menschheit: Die "Nachtvölker" kennen - so heißt es dort - nur die "dumpfste Form des allgemeinen Volkslebens", die man "fast nur als wechselseitige Versklavung bezeichnen" könne; "aber weil diese Form hier die ursprüngliche und natürliche ist, so kann sogar das Volk dabei gewißermaßen gedeihen, die Negervölker haben ein gewißes kindisches Glückseligkeitsthum, und lange sind diese Menschen zu Millionen verkauft worden und haben auch als Verkaufte ihr Schicksal nicht nur ertragen, sondern vielfältig ihres Zustandes als einer Art dumpfsten Glücks genoßen." (Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. e. 86m). 427 Anth, 90; vgl. G III-D, 120 f.. 428 Vgl. Lavater 1775-78/1 V, 9.
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Die "Kunde vom Menschen"
amboinesischen Schädel mit demjenigen Schillers "und gewiß", so schließt er, "wird man schon der Modellirung nach, das fast Thierische im erstem, und das rein Menschliche im letztern keineswegs verkennen können". Bei Schillers Knochen haben wir es mit einer "schönbewegten Fläche" zu tun, und an der "feinern ruhigem Modellirung" zeigt sich die "edlere Natur".429 Carus' Rassenlehre ist also durchaus nicht eine singuläre Entgleisung, wie der Biograph Genschorek vermeinte,430 sondern folgt der allgemeinen ästhetisch-normativen Schlußfigur der Physiognomik. In Einklang mit seinen anthropologischen Prinzipien, seinem Analogiedenken und seinen weitgehenden deterministischen Ansichten, bedeutet sie letztlich nichts anderes als eine Verlängerung der naturphilosophischen (statisch gedachten) Stufenleiter in die Menschheit hinein. Carus argumentiert auch hier mit der ästhetischen Evidenz der Stufenleiter und überbrückt so die Kluft zwischen anatomischer Forschung und hierarchischem Naturdenken. Mit dem Versuch, ästhetische Normen unmittelbar in der Natur selbst zu verankern, befindet sich Carus übrigens in bester wissenschaftlicher Gesellschaft. So hatte etwa Samuel Thomas Soemmering, unter Berufung auf ästhetische und anthropologische Schriften des Anatomen Pieter Camper, versucht, Natur- und Kunstgeschichte zu verbinden: In der Schrift "Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer" (1785) legte er seine neuroanatomische Erforschung rassenspezifischer Merkmale physiognomisch aus und gelangte von der ästhetischen Bewertung der Schädelform zu einem Urteil über die intellektuellen Fähigkeiten bestimmter Rassen. Die antikisierende Schönheitsnorm Winckelmannscher Provenienz schien dadurch wissenschaftlich erwiesen zu sein.431 In der Aufstellung einer anthropologischen Hierarchie vom häßlichen Neger zum ideal schönen Griechen stimmt Carus mit Camper und Soemmering überein. Anders als die Genannten interessiert Carus jedoch weniger die Bestimmung des Ideals, als vielmehr die Bewältigung der realen Vielfalt menschlicher Gestalten. Gerade hierin - in der Zielrichtung der Symbolik auf das Individuelle und Charakteristische bekundet sich die Aktualität dieser Ausdruckslehre. Zwar orientiert sich auch Carus an den Maßstäben antiker Schönheit; dennoch arbeitet er 429 S, 160 f. 430 Vgl. Genschorek 1978, 205 f. 431 Zu den ästhetischen Strategien in den nationalphysiognomischen Schriften Campers und Soemmerings und zu den spezifischen Widersprüchen des ersteren vgl. Oehler-Klein 1990b.
Physiognomik als ästhetische Anthropologie
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bezogen auf natürliche und künstlerische Symbolik - mit den Formeln eines modifizierten und abgemilderten Klassizismus, wie er für das 19. Jahrhundert kennzeichnend ist. So sind es nach Carus gerade die Abweichungen vom Ideal, "auf denen nun das ganze weite Feld der Symbolik sich auferbaut; denn ein Körper als trockenes Ideal, als bloßer Polyklets-Canon - wäre charakterlos und bedeutungsleer; nur die tausendfältigen, aber allemal unter sich wieder verhältnißmäßigen und systematischen Abweichungen prägen der Gestalt einen bestimmten Charakter auf."432 In künstlerischer Hinsicht geht es ebenfalls um das "Festhalten des Charakters der Individualität"433; "jene typische Allgemeinheit"434, wie sie dem Winckelmannschen Ideal zukommt, soll dagegen vermieden werden. Die als überhistorisch vorgestellte wissenschaftliche Symbolik bewegt sich, das erstaunt kaum, im Bannkreis der ästhetisch-theoretischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts. Dasselbe Muster, das in Carus1 Wissenschaft generell gefunden wurde, zeigt sich also auf spezifische Weise auch im Bereich der Anthropologie: die Versöhnung von Empirie und Spekulation, von exakter Wissenschaft und philosophisch-ganzheitlichem Denken im Zeichen des Ästhetischen. Idealistische und deterministische Erklärungsansätze, szientifischer Anspruch und individualistisches Ethos durchdringen sich in der physiognomischen Gestaltlehre. Bezeichnenderweise betont Carus, daß seine Symbolik im Vergleich zu älteren Werken der Ausdruckskunde "übersinnlicher und sinnlicher zugleich" sei, indem sie "das ganze Gebiet des Kosmos einerseits, wie andererseits das Gebiet der Morphologie und Physiologie in ihren Bereich"435 ziehe. Ausgespannt zwischen abstrakten Analogien der Naturphilosophie und den Daten physiologischer Forschung, kommt der Physiognomik die Aufgabe einer ästhetischen Vermittlung der auseinanderdriftenden Bereiche zu. Das Dilemma der Anthropologie, den Menschen zugleich philosophisch und biologisch erfassen zu wollen, wird hier durch ästhetische Evidenz überspielt: Die symbolische Gestaltlehre macht die Einheit von Körper und Seele anschaulich und bestätigt überdies durch ihren ästhetisch-normativen Grundzug das hierarchische Welt- und Menschenbild. 432 S, 63. 433 S, 267. Insofern ist die Auffassung von Rotraut Fischer und Gabriele Stumpp, daß Carus "hinsichtlich der Darstellung des Menschen in den bildenden Künsten einem sterilen Klassizismus huldigt, der für ihn das Postulat einer wissenschaftlich begründeten Kunst einlöst" (Fischer/Stumpp 1989, 49 f.), nicht richtig. 434 Abb 1,572. 435 S, 3.
III. "Wissenschaft in poetischer Verklärung" l. Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts Bislang wurden die subjektiv-ästhetischen Implikationen von Cams' Wissenschaftslehre betrachtet. Die ästhetische Qualität der morphologisch-genetischen Methode zeigte sich an verschiedenen Punkten: im Rekurs auf die Anschaulichkeit der Erscheinungen, in der physiognomischen Deutung der Naturgestalten, in der Forderung nach Verbindung von Kunst und Wissenschaft als Mittel zur wissenschaftlichen Abstraktion auf das Typische, in der Einbeziehung einer an den sichtbaren Phänomenen orientierten Phantasie, um die sukzessive Realentwicklung der Naturkörper als gleichzeitige ideale Einheit begreifen zu können, in der ästhetischen Auszeichnung der technisch fundierten Empirie, in der Verquickung von Naturgenuß und Naturerkenntnis. Für den Bereich der Anthropologie wurde im einzelnen ausgeführt, wie methodische und ideologische Widersprüche im Rahmen einer symbolischen Gestaltlehre ästhetisch ausgeglichen werden. Die literarische Umsetzung der Naturerkenntnisse bezeichnet schließlich den Punkt, an dem die Verbindung von Kunst und Wissenschaft manifest wird. Das sprachliche Ergebnis der Naturforschung soll szientifischen und ästhetischen Ansprüchen gleichermaßen gerecht werden: "Die Darstellung der Wissenschaft kann" - so Carus "nie ohne Kunst (ohne kunstgemäße Ordnung der Gedanken und Worte) gelingen."1 Der Naturwissenschaftler bedarf daher der "Fähigkeit, das was Sinn und Vernunft ihm an gewissen Welterscheinungen aufgeschlossen haben, in klarer Ordnung kunstgemäß und schön darzustellen"2. Mit diesem literarischen Anspruch verbindet sich das Interesse an der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse: Der Bau eines kunstgemäß und schön gegliederten wissenschaftlichen Werkes muß nothwendig auch dem Gebildeten, der nicht selbst Forscher ist, auf eine klare und übersichtliche Weise dargelegt werden können, ja man darf behaupten, daß die durchgreifendere und allgemeinere Bildung einer Nation erst dann als möglich erscheint, wenn 1 2
BLM, 36. Anf, 12.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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durch solches Zugänglichwerden der verschiedenen Wissenschaften jedem Gebildeten und jedem in irgend einer Sphäre Selbstthätigen auch der gesunde und klare Überblick der übrigen Reiche menschlichen Wissens und Könnens zugänglich geworden.3
Die Auffassung, daß der Wissenschaftler als Autor auch literarischen Rang aufzuweisen habe, war im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert durchaus keine Selbstverständlichkeit mehr. Längst schon hatten sich die Wissenschaften verselbständigt und von nicht-szientifischen Ansprüchen emanzipiert. Bereits im 18. Jahrhundert waren Allgemeinverständlichkeit und literarische Durcharbeitung in wissenschaftlichen Werken nicht mehr gang und gäbe. Diese Trennung der Wissenschaft vom Leben wurde im 19. Jahrhundert immer wieder- und zwar von Wissenschaftlern verschiedenster Couleur - beanstandet. "Es ist nicht mit Unrecht", so kommentiert Carus die Situation, "daß man vielfältig der deutschen Literatur den Vorwurf gemacht hat, sie schließe in ihrer wissenschaftlichen Seite sich zu sehr ab vom wirklichen Leben, sie gefalle sich darin, pedantisch in gewissen Formen der Schule sich zu verhüllen, und eine Art Brunhildis-Lohe um sich zu verbreiten, welche zuletzt nur dem durchaus Eingeweihten zu durchdringen möglich werde."4 Dieses "Getrennt-Bleiben vom Leben" bewirkte nach Carus zweierlei: "einerseits eine lang nachhaltende Unbehülflichkeit der Form in sich, und anderntheils zugleich die Theilnahmslosigkeit, welche im Allgemeinen in Deutschland der Wissenschaft noch größtentheils bewiesen wird. Allmählig jedoch fängt auch in dieser Beziehung manches an sich zu regen; - der hohe Werth eines ächten Wissens macht sich nach und nach in weiteren Kreisen fühlbar, und wer eine lange Reihe von Jahren diese Verhältnisse zu beobachten und zu vergleichen im Stand war, wird bedeutende Änderungen gewahr, welche auf noch größere und fruchtbringendere in naher Zukunft verweisen."5 Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen, die ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit an populärwissenschaftlicher Literatur bezeugen. So spricht etwa der Botaniker Jakob Matthias Schieiden im Jahre 1851 von der "leidenschaftlichen Begierde der Nation nach naturwissenschaftlicher Aufklärung"6: "Wer sich irgend um den Gang unserer Literatur in neuerer Zeit bekümmert hat", so erläutert er, "dem kann die Erscheinung nicht entgangen sein, daß kein Werk dem Buchhändler so schnellen Absatz verspricht als die den Nichtfach-
3 4 5 6
BEL, 5 f. Ph, V. Ph, V f. Schieiden 1851, 81.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
menschen dargebotenen naturwissenschaftlichen Arbeiten"7. W.A.Passow, der Verfasser eines Aufsatzes über Die Wissenschaft in der Gesellschaft für das Deutsche Museum, erklärt gar das "ruckweise wechselnde geistige Interesse an verschiedenen Wissenschaften"8 zum herausragenden Charakteristikum des kulturellen Lebens der dreißiger und vierziger Jahre. Lepenies zufolge sind die Popularisierungsbemühungen des 19. Jahrhunderts - und, so könnte man ergänzen, das gesteigerte wissenschaftliche Bildungsbedürfnis der Öffentlichkeit - ein Anzeichen für die Trennung in Fachleute und Laien, die in dieser Schärfe zuvor nicht existiert hatte; zugleich markieren sie den Versuch, diese Trennung zu überbrücken.9 Dieses Diktum trifft nicht nur für die typischen Popularisatoren des "naturwissenschaftlichen" Jahrhunderts zu, sondern auch - das muß betont werden - für die romantisch-idealistisch geprägten Naturforscher, sofern sie sich um Allgemeinverständlichkeit bemühen. Auch bei Carus erweist sich der Wille zu populärer und poetischer Behandlung der Wissenschaft als dialektisches Gegenstück einer zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung; dies zeigt sich unter anderem daran, daß die Forderung nach einer Öffnung für alle Gebildeten in der Regel einhergeht mit der standesbewußten Abwehr von dilettierenden Forschern, Scharlatanen und halbgebildeten wissenschaftlichen Vielschreibern: Läßt sich doch im Allgemeinen wohl dem Publikum darstellen, wohin in neuerer Zeit Physik, Astronomie und Naturgeschichte überhaupt gediehen ist, ohne dass man desshalb weder glauben noch wollen kann, dass mittels einer solchen Darstellung nun sogleich Alle die, welche sie vernehmen, zu Physikern, Astronomen und Naturforschern irgend werden könnten und sollten.10
Die Gesten der Abgrenzung zeugen von dem Bewußtsein der irreversiblen Trennung von Lebenswelt und Wissenschaft, die das Bedürfnis nach allgemeiner Vermittlung allererst hervorbringt. Im Zuge der Popularisierungsbestrebungen wird die Frage nach dem Verhältnis der Wissenschaft zur Literatur auch bei den "exakten" Naturwissenschaftlern der Jahrhundertmitte virulent. Jakob Matthias Schieiden etwa betont, "daß wir Deutschen in der gemeinverständlichen Behandlung der Wissenschaften auffallend zurück sind": "Der Grund davon liegt in dem albernen Hochmuth des professionellen deutschen Gelehrten, der es unter seiner Würde hält, sich anders als in dem 7 8 9 10
Schieiden 1851,81. Passow 1851, 198. Vgl. Lepenies 1980b, 15. Cran II, 10 f. Vgl. RefMed, 161 f., 173; K-G, 9 f.; S, 382; Ph, VII.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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unverständlichen Jargon des Fachmannes auszusprechen"11. Schieiden dagegen sieht in der populären Darstellung einer Wissenschaft "die höchste Aufgabe, die man dem Gelehrten stellen kann"12; unerläßliche Bedingung hierfür sei eine "reine, correcte, ja selbst bis zu einem gewissen Grade schöne Sprache"13. Nicht nur bei den ohnehin ästhetisch ausgerichteten Naturforschern und Medizinern der älteren Generation wie Carus, sondern auch bei den exakten Naturwissenschaftlern der jüngeren Generation wird so die literarische Seite der Wissenschaft nach Schieiden eine "partie honteuse der deutschen Nation"14 - erneut zum Thema. In der Diskussion um die Darstellungsfrage in der Wissenschaft spielen - das mag in den Zitaten von Carus und Schieiden bereits angeklungen sein - nationale Eigenheiten der Entwicklung und insbesondere der Vergleich mit Frankreich eine nicht unbedeutende Rolle.15 Im Gegensatz zu Deutschland, wo sich bereits im 18. Jahrhundert die Trennung von Wissenschaft und Literatur durchgesetzt hatte, bildeten dort nämlich bis ins 19. Jahrhundert hinein Wissenschaftler und Autor eine kaum hinterfragte Einheit. Am Beispiel der wechselvollen Rezeptionsgeschichte Buffons hat Lepenies diesen Prozeß einer retardierten Ablösung der Wissenschaft von der Literatur in Frankreich nachgezeichnet.16 Im 18. Jahrhundert vermehrten die stilistischen Qualitäten von Buffons Histoire naturelle seinen wissenschaftlichen 11 12 13 14 15
16
Schieiden 1851,88. Schieiden 1851, 88. Schieiden 1851, 89. Ebd. In Adam Müllers Reden über die Beredsamkeit heißt es etwa: "Die gesamte deutsche Literatur zerfallt in zwei Teile: der eine und bei weitem größere Teil begreift die wissenschaftlichen, die Lehrbücher; in diesen zeigen sich Redner, die eigentlich niemanden anreden, sondern in sich selbst hineinsprechen. Während man nämlich in den wissenschaftlichen Werken der Franzosen, z.B. eines Montesquieu, Buffon, d'Alembert oder Diderot, (...) ganz deutlich im Lesen fühlt, daß man angeredet wird, daß der Autor einen bestimmten Menschen von Fleisch und Bein vor sich hat, den er überreden, den er überzeugen will (...) - baut der deutsche Gelehrte ein Gebäude von Chiffren, sinnreich, aber einsam, unerwärmend, unerfreulich, ohne Antwort oder Erwiderung von irgendeiner Seite her!" (Müller 1967, 298 f.). Auch Jean Paul bemerkt in seiner Abhandlung Über die deutschen Doppelwörter, daß die Einkleidungskünste der deutschen wissenschaftlichen Schriftsteller denjenigen der Franzosen unterlegen seien (vgl. Jean Paul 1938, 185 f.). Noch gegen Ende des Jahrhunderts betont der Physiologe Emile Du Bois-Reymond stilistischen Rang und ästhetische Empfänglichkeit der Franzosen; sie "halfen sehr der Wissenschaft in Frankreich unter allen Classen der Bevölkerung die Theilnahme sichern, die wir in Deutschland oft so ungern vermissen" (Du Bois-Reymond 1886a, 155). Lepenies 1976, 133-160; Lepenies 1988, 63-77.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
Ruhm. Das 19. Jahrhundert verwandelt Buffon in einen Literaten; der Stilist wird auf Kosten des Wissenschaftlers gelobt. Es setzt sich die Auffassung durch, daß die literarische Orientierung dem Fortschritt der Naturwissenschaften in Frankreich geschadet habe. Für Carus besteht gerade in dieser ästhetischen Ausrichtung der Vorzug der französischen Wissenschaft. Dagegen seien die Schriften von Haller, Boerhaave, Sydenham oder Albin von einem "gewissen Pedantismus" und einem "steifen, durch und durch latinisirenden Formalismus"17 beherrscht. In bewußtem Kontrast zur deutschen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts und im Anschluß an die französische Tradition entwickelt Carus das Programm einer literarisch interessierten Wissenschaft. Vor allem Goethe gilt ihm als Inaugurator eines neuen wissenschaftlichen Stils: Eine solche Vollendung und Schönheit der Darstellung ist übrigens keineswegs der Farbenlehre allein eigen; die morphologischen Hefte, die Aufsätze über Wolkenformen (...) und über geologische Wahrnehmungen zeigen fast überall eine Schönheit des Stils und Klarheit der Auffassung, welche um so mehr sie musterhaft erscheinen lassen, je mehr im allgemeinen der deutschen wissenschaftlichen Literatur noch jene Ausbildung der Form fehlt, welche wir selbst in streng wissenschaftlichen Werken französischer Gelehrter größtenteils anerkennen und oft bewundern müssen, ja welche um so wichtiger ist, da sie nicht nur das Verständnis erleichtert, sondern den Verfasser selbst nötigt, den Gedanken zu höherer Klarheit in sich durchzubilden, ehe er ihn niederschreibt."
Das Bemühen um formale Qualitäten wird hier vorrangig funktional bestimmt: Es zielt auf die Ordnung der Gedanken im Dienst einer klaren und deutlichen Vermittlung szientifischer Erkenntnisse. Im Bedürfnis nach einer derartigen Abklärung der Darstellungsweise sucht Carus auch Anregung bei Lessing,19 der ja im Zuge der Konzeption einer "neuen Prosa" zur Zeit des Vormärz ohnehin an Aktualität gewonnen hatte. Gilt der Dichter Goethe als Vorreiter eines neuen Darstellungsstils in der Wissenschaft, so erscheint ein anderer - Mann der Wissenschaft und des Salons zugleich20 - als der eigentliche Förderer einer populären Vermittlung der Naturforschung: Alexander von Humboldt gebührt nach Carus das Verdienst, die akademische Exklusivität der deutschen Wissenschaft des 18. Jahrhunderts überwunden zu haben. Bis dahin war mir die Wissenschaft fast überall nur im ernsten und trockenen Gewände erschienen, denn beinahe so wie Talleyrand von der Sprache sagte, daß sie dem Menschen gegeben sei, seine Gedanken zu verbergen, so waren die deutschen Gelehrten bekannt dafür, der Menge gegenüber, die Wissenschaft meist so zu behandeln, daß die Wahrheit
17 18 19 20
LuD GH, Vgl. Vgl.
I, 5. 135. LuD III, 167. LuD II, 346.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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dabei großentheils dem gewöhnlichen Publikum verborgen bleiben mußte. Für Humboldt wird immer der Ruhm bleiben, in Bezug auf Naturwissenschaften dergleichen Schranken zuerst entschieden durchbrochen zu haben, und theils eben in seinen Ansichten der Natur und theilweise auch in seiner Reise in den Äquinoctialgegenden Amerikas, die Kunst gelehrt zu haben, auf eine würdige Weise auch den Fremden in den Tempel der Isis einzuführen, und, indem er zunächst nur einen Teil der Geheimnisse mit der Fackel einer edlen Diction beleuchtet, ihm zugleich die volle Achtung einzuprägen gegen alle dem Neuling unzugänglichen Tiefen des Wissens.21
Nicht alle Arten der gemeinverständlichen Bearbeitung der Wissenschaft, so zeigt sich in dieser Auszeichnung Humboldts, werden goutiert: nur jene, die stilistische Eleganz mit der Anerkennung von Eigenart und Würde des Gegenstandes, mit didaktischer Vorsicht und einer nahezu religiösen Wirkungsabsicht verbinden. Die Darstellungsfrage erweist sich bei Carus als wissenschaftstheoretisches Programm, das bestimmte Intentionen und inhaltliche Vorgaben einschließt, andere dagegen ausscheidet. Auch diese negativen Aspekte werden übrigens in Auseinandersetzung mit der französischen Wissenschaft diskutiert: Bei aller Anerkennung der stilistischen Meisterschaft französischer Autoren finden sich bei Carus und mehr noch bei seinen Vorbildern Goethe und Humboldt auch kritische Stellungnahmen, die das eigene Anliegen von der literarischen Behandlung der Wissenschaft durch die Franzosen deutlich abgrenzen. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht besonders Goethes Kommentar zu den Entretiens sur la pluralite des mondes (1686) von Bernard de Fontenelle. Die in lockerem Konversationston abgefaßten fiktiven Dialoge können als die erste erfolgreiche Popularisierung der kopernikanischen Astronomie gelten.22 "Es war nicht möglich", so schreibt Goethe in seiner Geschichte der Farbenlehre, "daß die Franzosen sich lange mit den Wissenschaften abgaben, ohne solche ins Leben, ja in die Sozietät zu ziehen und sie durch eine gebildete Sprache der Redekunst, wo nicht gar der Dichtkunst zu überliefern."23 Eine solche Wissenschaft für die "oberen Stände", betrieben mit "Leichtigkeit, Heiterkeit und Anmut", lehnt Goethe jedoch ab: Die Untersuchung der Natur durch Experimente, die mathematische oder philosophische Behandlung des Erfahrenen erforderte Ruhe und Stille, und weder die Breite noch die Tiefe der Erscheinung sind geeignet, vor die Versammlung gebracht zu werden, die man gewöhnlich Sozietät nennt. Ja manches Abstrakte, Abstruse läßt sich in die gewöhnliche Sprache nicht übersetzen. Aber dem lebhaften, geselligen, mundfertigen Franzosen schien nichts zu schwer, und gedrängt durch die Nötigung einer großen gebildeten Masse,
21 22 23
LuD I, 197 f. Vgl. Wetzels 1971,78. H A XI V, 183.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" unternahm er (Fontenelle, JMT) eben Himmel und Erde mit allen ihren Geheimnissen zu vulgarisieren.24
Gaston Bachelard hat diesen "mondänen" Charakter der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, ihren unreflektierten und farbenprächtigen Empirismus, ihre pittoresken, kurzweiligen und anregenden Züge, als Zeichen des "vorwissenschaftlichen" Zustandes beschrieben: Die Sphären von Wissenschaft und Gesellschaft durchdringen einander bis zur Ununterscheidbarkeit.25 Diese geistreich-amüsante Wissenschaft ist das Gegenteil dessen, was Goethe mit der Synthese von Poesie und Wissenschaft anstrebt: "Dem Redner", so führt er aus, "kommt es auf den Wert, die Würde, die Vollständigkeit, ja die Wahrheit seines Gegenstandes nicht an; die Hauptfrage ist, ob er interessant sei oder interessant gemacht werde. Die Wissenschaft selbst kann durch eine solche Behandlung wohl nicht gewinnen, wie wir auch in neuerer Zeit durch das Feminisieren und Infantisieren so mancher höheren und profunden Materie gesehen haben."26 Vergleichbare Stellungnahmen finden sich auch bei Alexander von Humboldt. So lobt Humboldt zwar die sprachliche Meisterschaft eines Buffon, zählt ihn und andere Franzosen wie Rousseau, Bernhardin de StPierre und Chateaubriand zu den Anregern eines gesteigerten Interesses an der Natur. Zugleich aber moniert er, daß Buffon die Eleganz des Stils überbewerte, daß er rhetorischen Pomp statt anschaulicher Schilderung biete. Insbesondere vermißt Humboldt die Verknüpfung des Objektiven mit dem Subjektiven; es fehle "fast alles, was der geheimnißvollen Analogie zwischen den Gemüthsbewegungen und den Erscheinungen der Sinnenwelt entquillt."27 Im Gegensatz zu einer solchen Darstellungsweise, in der sich das stilistische Moment verselbständigt, läßt Humboldt die literarische Wissenschaft aus einer naturphilosophischen Grundhaltung hervorgehen: Naturbeschreibungen (...) können scharf umgrenzt und wissenschaftlich genau sein, ohne daß ihnen darum der belebende Hauch der Einbildungskraft entzogen bleibt. Das Dichterische muß aus dem geahndeten Zusammenhange des Sinnlichen mit dem Intellectuellen, aus dem Gefühl der Allverbreitung, der gegenseitigen Begrenzung und der Einheit des Naturlebens hervorgehen.18
In vergleichbarer Weise sind für Carus literarischer Anspruch und popularisierendes Interesse an die philosophisch-ganzheitliche Natur24 25 26 27 28
H A XI V, 184. Vgl. Bachelard 1984, bes. 37-45, 67-80. H A XI V, 184 f. Humboldt 1845-49/11, 66. Vgl. auch Humboldt 1845-49/1, 34. Humboldt 1845-62/11, 74.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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auffassung gebunden. Darum, so kann man annehmen, ignoriert er die populärwissenschaftliche Literatur des deutschen 18. Jahrhunderts, etwa Christian Wolffs System der Weltweisheit oder Mylius1 Naturforscher29 Darum auch spricht Carus, bei aller Würdigung ihrer stilistischen Qualitäten, von den "flächern Gemütern" der französischen Wissenschaftler, die "manchen philosophischen Betrachtungen" abgeneigt seien;30 eben darum befindet er im allgemeinen, daß "der eigentliche geglättetste Weltton der sogenannten Gesellschaft"31 sämtliche Erscheinungen des Lebens nivelliere und nur in seltenen Fällen - wie etwa den Werken Humboldts - "mit wahrer Gelehrsamkeit und Tiefe"32 sich verbinde. Der gesellig-eleganten, geistreichen Wissenschaft des französischen 18. Jahrhunderts steht hier die Vorstellung einer naturphilosophisch inspirierten, die spezialisierten Fächer umfassenden und mit höchstem Anspruch versehenen poetischen Wissenschaft gegenüber. Die Forderung nach Literarisierung der Wissenschaft bedeutet in diesem Zusammenhang keinesfalls, daß die sprachliche Einkleidung zum Selbstzweck wird. Vielmehr sollen Naturauffassung, Erkenntnisform und Sprachverhalten miteinander in Einklang stehen. Ebendarin - in der Anschaulichkeit und Naturnähe seiner Darstellung, im Zusammenspiel von Sprache und idealgenetischer Betrachtungsweise - liegt für Carus die eigentliche Stärke Goethes; erst dadurch erscheint ihm der Dichter und dilettierende Naturforscher als "großes Vorbild auch im naturwissenschaftlichen Vortrag"33. Anläßlich einer Rezension der französischen Übersetzung von Goethes Versuch über die Metamorphose der Pflanzen schreibt Carus: Eine Bemerkung müssen wir jedoch noch insbesondere über die Art der Ausführung dieser Arbeit hervorheben, daß nämlich Goethe sich darin auf eine höchst merkwürdige, ja man möchte sagen wunderbare Weise immer an die Schilderung der Natur selbst gehalten, und indem er uns den lebendigsten Oberblick von der mannigfaltigen Umbildung der Pflanze eröffnet, sich doch wohl gehütet hat, in ein eigentliches Systematisieren oder Formalisieren zu verfallen. - Man könnte sagen, es sei ihm hiermit auf gleiche Weise gelungen, wie einem tüchtigen Zeichner, der die runde organische Form der Natur auch in runden geschwungenen Linien darstellt, während ein ungeübter und schwacher Künstler auf seiner Zeichnung jene schönen gerundeten Formen durch geradlinigte und eckige
29 30
31 32 33
Zur Popularisierung der Naturwissenschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert vgl. Richter 1972, 25-30. Rez, 502. Vgl. auch Vgl PS, 20, wo Carus betont, daß im 18. Jahrhundert grundlegende philosophisch-naturhistorische Fragen "in gar verschiedenen (namentlich französischen) Broschüren blos zur Unterhaltung dialektisch ausgesponnen zu werden pflegten." Vgl. Vgl PS, IV. LuDII, 345. LuD II, 346. Ebenso in M, 54. LuD I, 195.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" Figuren nur in ihren allgemeinen Verhältnissen schroff darzustellen sucht, welches letztere wir denn hier etwa als Gleichnis der durch Schemata sich aussprechenden Theorie, oder des Systems betrachtet haben wollen.34
Dieser Würdigung Goethes liegt der implizite Vergleich mit Linnes Botanik - seinem Ordnungsdenken und seiner Darstellungsform zugrunde. Während dort die natürlichen Erscheinungen, ausgehend von einer Analyse der Fortpflanzungssysteme, statisch klassifiziert werden, vollzieht Goethes Darstellung das tatsächliche Wachstum der Pflanzen nach; die einzelnen Entwicklungsphasen werden in ihrer natürlichen Abfolge geschildert. Durch verschiedene sprachliche Mittel - Uwe Pörksen hat in seiner Untersuchung von Goethes Wissenschaftsprosa u.a. auf die Ersetzung benennender durch erklärende Ausdrücke, die Verwendung relationaler statt kategorialer Bestimmungen und den häufigen Einsatz des Komparativs verwiesen35 - durch solche sprachlichen Mittel erscheint die wissenschaftliche Darstellung im Einklang mit der morphologisch-genetischen Naturbetrachtung als unmittelbarer Ausdruck natürlichen Werdens. Auf "wunderbare Weise", so kommt es Cams vor, hat sich hier die Darstellung dem Gegenstand anverwandelt: Der Dichter Goethe, im Medium der Sprache versiert, vermag die Natur auch als Wissenschaftler gegenständlich und erfahrungsnah wiederzugeben. Es zeigt sich, wie eng die geforderte ästhetische Darstellungsweise mit der spezifischen Wissenschafts- und Naturkonzeption zusammenhängt: Die irreduzible Qualität der gestalthaften Natur, wie sie der allein analytischen Betrachtungsweise gar nicht zugänglich ist, soll durch eine sinnliche, anschauliche Sprache eingefangen werden. Im gleichen Tenor wie Carus fordert Alexander von Humboldt daher "Lebendigkeit des Ausdrucks, in dem die sinnliche Anschauung sich naturwahr spiegelt"36. Darüberhinaus wird der formale Aufbau wissenschaftlicher Arbeiten ästhetischen Vorstellungen unterstellt: Das wissenschaftliche Werk soll sich durch "kunstgemäße Ordnung"37 oder - mit Humboldts Worten durch "Einheit der Komposition"38 auszeichnen. Die künstlerische Anlage, in der die Daten der empirischen Einzelforschung aufgehoben sind, erscheint als formaler Ausdruck der organisch-ganzheitlichen Naturauffassung: Die im Zuge der wissenschaftlichen Objektivierung verlorengegangene Totalität der Natur, ihre sinnhafte Ganzheit, soll in
34 35
36 37 38
Rez, 499 f. Zur Wissenschaftssprache Pörksen 1978a. Humboldt 1845-62/1, 80. BLM, 36; vgl. BEL, 5 f. Humboldt 1969, 7.
und
SprachaufFassung
bei
Linne
und
Goethe
vgl.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
147
der literarischen Darstellung durch die Geschlossenheit einer ästhetischen Ordnung vergegenwärtigt werden.39 Die Absicht, "die große organische Anschauung des Naturganzen zu feiern", führt - so schreibt Carus in bezug auf seine Briefe über das Erdleben - zu dem Versuch, "hier eine Vermählung der Wissenschaft und des poetischen Geistes soviel als möglich zu verwirklichen"40. Die Naturforschung, von der Ehrfurcht vor einer göttlich durchdrungenen Natur ausgehend, von ästhetisch-emotionaler Zuwendung zur Natur getragen, gipfelt in der dichterischen Naturverherrlichung. Die Vermittlung von Ergebnissen der empirischen Naturforschung kann nicht das letzte Ziel dieser poetischen Wissenschaft sein: Soll doch nämlich auch unter der freiesten Mitteilung die Göttin höherer Erkenntniß ihre Würde fortwährend behaupten, soll doch jede dieser Mittheilungen die Ahnung umschweben von einem reichen Schatz dabei immer noch zurückbleibender Geheimnisse, und soll doch so immer mehr das geweckt werden, was Plato schon als schönste Forderung und Bedingung für die wahre Liebe zur Weisheit (Philosophie) namhaft machte - die Bewunderung!-41
Zwar will Carus mit den Erdlebenbriefen - wie mit seinen anderen populär gehaltenen Werken - "hie und da belehrend einwirken"42; über das aufklärerisch-didaktische Anliegen hinaus geht es ihm aber letztlich um die "Anregung der Menge zu tieferer Naturbetrachtung"43. Die herausgestellten Aspekte - das idealistische Naturpathos, die Verknüpfung des Objektiven mit dem Subjektiven, die Idee einer künstlerischen Darstellung als Folge der ganzheitlichen und genetischen Naturbetrachtung sowie der weit über das Wissenschaftliche hinausgreifende Wirkungsanspruch - all dies grenzt das Anliegen der romantisch gesonnenen Wissenschaftler auch ab von den Bestrebungen der naturwissenschaftlichen Popularisatoren des späteren 19. Jahrhunderts wie Justus von Liebig, Karl Vogt, Hermann von Helmholtz, Emil Du Bois-Reymond oder Ernst Haeckel. Die Verbindung von Wissenschaft und Bildung auf der Basis des klassischen Bildungsbegriffes und einer metaphysischen Naturbetrachtung wurde - so resümiert Dietrich von Engelhardt den infragestehenden Unterschied - vom 19. Jahrhundert nicht aufgenommen und weiterentwickelt; die Verbindung wurde nun wieder auf der empirischen Ebene gesucht.44 Werner Leibbrand zufolge 39 40 41 42 43 44
Vgl. Humboldt 1845-62/1, 79 f. LuD I, 336. Ph, VII. BEL, IV. BEL, 153; vgl. 199 f. Vgl. Engelhardt 1976b, 159.
148
"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
handelt es sich bei den allgemeinverständlichen Werken der romantischen Periode überhaupt nicht um Popularisierungen; im Unterschied zu den aufklärenden Tendenzen der exakten Naturwissenschaftler wollen die Romantiker, so Leibbrand, der geistigen Universalität dienen, die Wissenschaft naturphilosophisch überhöhen und den wahrhaft Gebildeten nicht belehren, sondern anregen.45 Die einfache Gegenüberstellung von Spezialistentum und weltanschaulicher Orientierung, von didaktischer Intention und romantischer Vertiefungssicht läßt sich jedoch in dieser Ausschließlichkeit nicht halten. Trotz der unbestreitbaren Differenzen beider Richtungen finden sich auch grundlegende strukturelle Gemeinsamkeiten. Cams' poetische Wissenschaft nähert sich in manchen Punkten der populären Wissenschaft der Jahrhundertmitte an, wie diese umgekehrt der heftig kritisierten Naturphilosophie durchaus verpflichtet sein kann. Oben schon wurde darauf hingewiesen, daß die historische Tendenz zur Verwissenschaftlichung den Hintergrund für alle, auch die romantisch geprägten und idealistisch motivierten, populärwissenschaftlichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts abgibt. Zwar verstehen die Romantiker ihre literarische Wissenschaft als Revision der wissenschaftshistorischen Tendenz zu Spezialisierung und Professionalisierung; gleichwohl geht es ihnen nicht um deren Tilgung. Die übergreifende Perspektive der poetischen Wissenschaft soll ein Gegengewicht zu der als historisch notwendig erachteten Auffächerung in wissenschaftliche Fachgebiete bilden.46 Genausowenig wird die Kluft zwischen dem Forscher und dem Laien übersehen. Auch ist der Gedanke einer Synthese von Wissenschaft und Literatur nicht naiv - im Sinne ungebrochener Identifikation oder unter Umgehung der historisch gewordenen Differenzen - gefaßt. Durchaus wird darüber reflektiert, ob eine gewählte Form wissenschaftlich vertretbar sei, oder welche Abstriche in einer allgemeinverständlichen Darstellung in Kauf genommen werden müssen. Im Unterschied zu den meisten Wissenschaftlern spielen allerdings bei Carus und auch bei Humboldt ästhetische Rücksichten eine ebenso große Rolle wie wissenschaftliche Bedenken. Welche Schwierigkeiten der "Verbindung eines literarischen und eines rein szientifisehen Zwecks"47 beim fortgeschrittenen Stand des Tatsachenwissens entgegenstanden, hat besonders Humboldt deutlich 45 46
47
Leibbrand 1956, 68 ff. Zur Beurteilung der historischen Verwissenschaftlichungstendenz durch Carus vgl. Kap. I.2., durch die romantischen Wissenschaftler allgemein vgl. Engelhardt 1976b, 157 f.; Engelhardt 1979, 125 ff. Humboldt 1969, 5.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
149
gesehen. Um "die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes"48 nicht zu stören, versieht er seine frühen Ansichten der Natur (1807) mit einem umfangreichen Anhang, in dem er eine Fülle wissenschaftlicher Daten verarbeitet und erläutert. Im Kosmos, an dem Humboldt die zweite Hälfte seines Lebens arbeitete und der zwischen 1845 und 1862 in fünf Bänden veröffentlicht wurde, erscheint dieser Bruch im Text selbst: In den Prolegomena gibt Humboldt einen allgemeinen Überblick über die äußere Natur und den Reflex der Natur auf das Innere des Menschen. Der sprachlichen Gestaltung dieser ersten beiden Bände widmet er besondere Aufmerksamkeit; sie sollten einem "größeren, nicht physikalisch aber allgemein gebildeten Publikum durch Inhalt und Lebendigkeit des Styls"49 gefallen. Für das Hauptwerk, das auf ein im engeren Sinn wissenschaftliches Interesse zielt, brauchte es dagegen "keinen Glanz der Darstellung"50. Allerdings wendet Humboldt auch hier das Verfahren aus den Ansichten an: "Die oratorische, lebendige Form ist im Text, die Condition, die einzelne gelehrtere Leser interessiert, ist in Noten verwiesen, die nicht unter den Text kommen, sondern hinter jede Abhandlung."51 Auch Carus ist sich bewußt, daß die ästhetische Gestaltung naturwissenschaftlicher Gegenstände mit dem Anspruch auf Detailfülle, Exaktheit und argumentative Vollständigkeit kollidiert. Er zieht daraus die Konsequenz, zwischen 'streng wissenschaftlichen' und 'poetischwissenschaftlichen' Werken tendenziell zu unterscheiden. In seinen Erdlebenbriefen betont er daher mehrfach, daß er "das Feld einer ernsten und strengen Wissenschaftlichkeit"52 absichtlich vermeide; "so viel nun auch einer streng wissenschaftlichen Betrachtung an diesen Vorgängen noch zu erörtern übrig bliebe, für den Zweck dieser Mittheilungen, welche einem freien Ueberblicke des Naturlebens gewidmet sind, wird das, was ich hier niedergeschrieben habe, genügen"53. Ohne Zweifel bezieht sich diese Unterscheidung von eigentlich wissenschaftlichen und "populär gehaltenen"54 Werken auf eine historische Situation, in der die Wissenschaft sich einer literarischen Behandlung entzieht. Bewußt reiht Carus sein Unternehmen in die zeitgenössischen Versuche ein, "den
48 49 50 51 52 53 54
Humboldt 1969, 5. Humboldt in einem Brief an Cotta vom 12.09.1847, zit. nach Engelmann 1970, 30. Zu Humboldts Arbeit &m Kosmos vgl. Engelmann 1970, passim. Humboldt in einem Brief an Cotta vom 12.09.1847, zit. nach Engelmann 1970,30. Ebd. BEL, 244; ebenso 275, 287. BEL, 240. LuDIII, 141.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
pedantischen Cirkel zu durchbrechen, welcher höheres Wissen so lange vom wirklichen Leben getrennt hatte"55. Umgekehrt kann man Carus dort, wo er sich von den populärwissenschaftlichen Tendenzen des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts abgrenzt, nicht ohne weiteres Glauben schenken. Wenn er sich distanziert von Autoren, die "mit breiter Geschäftigkeit" die Wissenschaft "im eigentlichen Sinne gemein zu machen versuchen"56; wenn er gegen "Vielwißerey und halbe oberflächliche Bildung"57 bei den Zeitgenossen polemisiert; wenn er die ökonomisch motivierte literarische Mengenproduktion verurteilt - "Kaum ist es zu sagen, auf wie viele es wirkt, daß es gegenwärtig leicht mit irdischen Vorteilen verbunden sein kann, eine wissenschaftliche oder dichterische Produktion ans Licht zu stellen!"58 -; wenn er sich kurzum als einer präsentiert, der unberührt von den schnellebigen Moden seiner Zeit schafft: so sind das subjektive Einschätzungen, die eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung seiner Schriften anzeigen, die aber nicht unbesehen als Standortbeschreibung übernommen werden können. Es fällt vielmehr auf, daß Carus, nicht ohne Gespür für das Kommende, die Bedürfnisse des literarischen Marktes durchaus erfüllt. Sieht man einmal von den Briefen über Landschaftsmalerei ab, dem ersten freien wissenschaftlich-ästhetischen Syntheseprodukt, das im Zuge eines ungeheuren Aufschwungs der Landschaftsmalerei entstand; sieht man auch ab von den Faust-Briefen aus dem Jahre 1835 und den GoetheSchriften überhaupt: so bleiben die populären Werke, Aufsätze und Vorträge der vierziger und fünfziger Jahre vornehmlich naturwissenschaftlichen oder anthropologisch-medizinischen Inhalts. Unbestreitbar sind sie inspiriert von der allgemeinen Konjunktur populärwissenschaftlicher Literatur zu dieser Zeit. In welchem Maße Carus die Moden der literarischen Wissenschaft bedient und bisweilen auch vorausahnt, zeigt sich im Blick auf die einzelnen Werke: So stellt etwa die Bildungsgeschichte der Erde vor allem im Gefolge von Humboldts Kosmos, aber auch schon zuvor ein "vielbehandeltes Thema"59 populärwissenschaftlicher Literatur dar; Cams' Briefe über das Erdleben aus dem Jahre 1841 können zu jenen Schriften zählen, von denen ein zeitgenössischer 55 56 57
58 59
Ph, VI. Ph, VII. Vom Urbilde des Staates, eine Abhandlung zur Physiologie der Menschheit (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. e. 86m). Vgl. K-G, 9, wo Carus sich gegen jegliche Art "medicinischer Halbwisserei, wie sie durch das Lesen medicinischer Schriften nur zu viel im Publikum wuchert" ausspricht. GII,211. Schieiden 1851, 90; vgl. Passow 1851, 205.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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Kommentator meinte, sie hätten das Feld für den enormen Erfolg des Kosmos vorbereitet.60 Stärker als mit den Erdlebenbriefen reagiert Carus mit seinen populären kraniologischen Arbeiten auf eine bereits bestehende Modewelle. Mit Beginn der vierziger Jahre hatte die Wiederbelebung der Phrenologie durch Rückwirkung des Galischen Gedankengutes aus England und Amerika eingesetzt;61 in diese Zeit fallen auch Carus' einschlägige Publikationen: 1844 hält er einen öffentlichen Vortrag Vom gegenwärtigen Stande einer wissenschaftlich begründeten Cranioskopie; er verfaßt Beiträge wie das Nachwort über die physische Constitution und Schädelbildung sowie die letzte Krankheit Rumohr's, das als Anhang zu der Biographie des gleichnamigen Kunsthistorikers im Jahre 1844 erschien; er veröffentlicht die kranioskopischen Atlanten, deren unfreiwillige Komik in der Zusammenstellung von bedeutenden Personen der Zeitgeschichte, gesellschaftlichen Randexistenzen und historischen Schädelfunden nur zu Zeiten allgemeiner kraniometrischer Begeisterung durchgehen konnte.62 Auch die Symbolik aus dem Jahre 1853 - gerichtet auf das Interesse des "ganzen gebildeten Publicums"63 - fügt sich in diesen Rahmen. Die diätetischen und psycho-hygienischen Schriften über Lebenskunst lassen sich ebenfalls in Zusammenhang mit einer populärwissenschaftlichen Moderichtung bringen. In einem Vortrag mit dem Titel Einige Worte über das Verhältniß der Kunst krank zu sein zur Kunst gesund zu sein (1843) spricht Carus selbst von "der neuern schreibseligen Zeit", die "eine Menge sogenannter Gesundheitslehren, Gesundheitstaschenbücher, diätetische Rathgeber und dergleichen"64 hervorgebracht habe. So sehr sich Carus auch von jenen distanziert, "die solche Arbeiten nur auf buchhändlerische Bestellung lieferten"65, so sehr er auch sein Anliegen, "etwas Gediegenes in dieser Hinsicht zu geben"66, herausstreicht: von
60 61 62
63 64
65 66
Vgl. Passow 1851, 204 f. Vgl. Blankenburg 1988, 229. Napoleon, Lorenz Oken und Herzogin Anna Amalia von Weimar, Kant, eine Mumie und ein Kaffer, ein Vatermörder, ein Selbstmörder und zwei Giftmörder, ein Altskandinavier und ein Neugrieche sowie selbstverständlich Goethe und Schiller tauchen neben anderen hier auf. S, XVII. K-G, 9. In seiner Periodisierung der diätetischen Literatur in Österreich hat Volker Hoffmann neben einer ersten Welle um 1800 eine "zweite Welle von Diätetiken ab 1830" (Hoffmann 1982, 176) konstatiert; dieser Befund gilt mehr oder weniger für den gesamten deutschen Sprachraum. K-G, 9. K-G, 10.
152
"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
außen betrachtet fügt sich seine Schrift dennoch in die zeitgenössische Welle populärer Diätetiken. Carus' gemeinverständliche Werke sind freilich nicht allein durch die literarischen Moden der gebildeten Gesellschaft motiviert; gleichwohl ist die Koinzidenz nicht zu leugnen. An ihr relativiert sich der Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit, wie er sich in dem von Carus wiederholt beschworenen Streben nach "griechischer Einfachheit" bekundet.67 Wenn Carus auch nicht gerade "auf buchhändlerische Bestellung" arbeitete, so bediente er doch auf seine Weise ebenfalls den literarischen Markt. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß er - zumeist unter Wiederaufnahme von bereits Veröffentlichtem - eine sehr viel regere Publikationstätigkeit entfaltet, als dies mit seiner beständigen Polemik gegen die "schreibselige Zeit" vereinbar wäre. Teils gewollt, teils ungewollt nähert sich Carus so an verschiedenen Punkten den populärwissenschaftlichen Tendenzen der vierziger und fünfziger Jahre an. Umgekehrt, muß ergänzt werden, entsprechen die "exakten" Wissenschaftler in einem zentralen, nicht zu vernachlässigenden Aspekt den "romantischen" Naturforschern: in dem allgemeinen, die bloße Vermittlung von Forschungsergebnissen zumeist übersteigenden Orientierungsanspruch ihrer Popularisierungen. Gelegentlich wurde in der Forschung auf den Zusammenhang von weltanschaulichem Orientierungsanspruch und Popularisierungsbestrebungen in der Wissenschaft hingewiesen.68 "Das 19. Jahrhundert", so schreibt Lepenies, "ist diejenige Epoche der Wissenschaftsgeschichte, in der zum ersten Male eine Fülle von Disziplinen Orientierungsansprüche über Popularisierungen durchzusetzen versucht - eine Strategie, die der 'mondänen' Wissenschaft des 18. Jahrhunderts noch fernlag, weil diese unter Kennern wie Amateuren verbreitet war und darüber hinaus die literarische Durchformung wissenschaftlicher Publikationen eine Popularisierung der Wissenschaften überflüssig machte."69 Während die historische Entwicklung der modernen Wissenschaft grundsätzlich mit einer zunehmenden ideologischen und politischen Neutralisierung verbunden ist, läßt sich für das 19. Jahrhundert feststellen, daß Verwissenschaftlichungstendenzen nicht unbedingt mit der Preisgabe weltanschaulicher Ambitionen einhergehen. Die gebildete Öffentlichkeit wurde genau insoweit zum Forum wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, als diese eine weltanschauliche Dimension besaßen. Im neu angebrochenen "naturwissenschaftlichen Zeitalter" versprach man sich 67 68 69
Vgl. BLM, 153; BEL, 4; LuD II, 337; K-G, 23. Pörksen 1978b, 64 f.; Lepenies 1980a, 15. Lepenies 1980a, 15.
Literarische und populäre Tendenzen in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts
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von den Naturwissenschaften Orientierung in philosophischer, politischer, gesellschaftlicher und moralischer Hinsicht. Nicht nur die "Romantiker", auch die exakten Naturwissenschaftler des späteren 19. Jahrhunderts besaßen in dieser Weise ein mehr oder weniger ausgeprägtes Sendungsbewußtsein. Selbst wenn man von Extremfällen wie der "Naturreligion" Haeckels oder dem reduktionistischen Materialismus der Vogt, Büchner und Moleschott absieht: auch in dem sich bescheiden gebenden Anspruch auf Vermittlung der für objektiv gültig erachteten "naturwissenschaftlichen" Weltsicht findet sich eine über das rein Didaktische deutlich hinausreichende weltanschauliche Wirkungsabsicht. Forscher wie Virchow, Liebig oder Du Bois-Reymond gingen davon aus, daß naturwissenschaftliche "Wahrheiten" eine umfassend aufklärende, mithin normsetzende Kraft entfalten: Liebig etwa zählte die chemischen Laboratorien zu den "schönsten und mächtigsten Mitteln einer höheren Kultur des Geistes"70; für Virchow ist der Humanismus "wahrhaft aufgefaßt" nichts anderes als 71 "wissenschaftliche Selbsterkenntnis"; und Du Bois-Reymond schließlich erscheint die Naturwissenschaft als "das absolute Organ der Cultur"72. Die Überzeugung von der sozialen Autorität, der kulturellen Bedeutung und der bildenden Wirkung der modernen Naturwissenschaft einte die Forscher der zweiten Jahrhunderthälfte, während das Spektrum der religiösen, philosophischen und politischen Optionen groß war - es reichte von einem naiven Realismus bis zu erkenntnisskeptischen Haltungen, von der scharfen Unterscheidung des Glaubens und des Wissens über einen gelassenen Agnostizismus bis hin zum materialistischen Atheismus.73 Betrachtet man die weltanschauliche Heterogenität der Naturforscher der zweiten Jahrhunderthälfte, dann nivelliert sich die Kluft zu den - von allen gleichermaßen abgelehnten - Naturphilosophen zusätzlich. Der emphatische, quasi-religiöse Wirkungsanspruch der naturphilosophisch-poetischen Wissenschaft erscheint dann eher als eine historisch frühere und extreme Variante in dem das 19. Jahrhundert generell charakterisierenden Zusammenspiel von Popularisierungsbestrebungen und außerwissenschaftlichen Orientierungsansprüchen. Die Differenz beider Richtungen, so läßt sich hieraus schließen, besteht weniger in der Motivation ihrer populären Tendenzen, als
70 71 72 73
Liebig, zit. nach Engelhardt 1974, 24. Virchow 1849, 4. Du Bois-Reymond 1886b, 271. Vgl. Engelhardt 1974, 21 ff.; Engelhardt 1975, 12 f.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
vielmehr in dem Status, der dem Ästhetischen in der Wissenschaft zugebilligt wird. Zwar bewegt sich Cams mit der Unterscheidung von eigentlich wissenschaftlichen und "populär gehaltenen"74 Werken, mit dem rhetorischen Ideal der Klarheit, mit seiner Forderung nach Verständlichkeit und seinen Reflexionen über die "kunstgemäße Form wissenschaftlicher Arbeiten"75 unbedingt im Kontext der für das fortgeschrittene 19. Jahrhundert typischen Problematik der "wissenschaftlichen Darstellung". Gleichwohl, so hat sich gezeigt, übersteigt seine Idee einer "Wissenschaft in poetischer Verklärung"76 jenen Rahmen, dies nicht zuletzt dadurch, daß Carus mit der Verbindung von Literatur und Wissenschaft ernst macht, indem er die Perspektive wechselt und, nunmehr von ästhetischen Überlegungen ausgehend, die Theorie einer wissenschaftlich fundierten Kunst entwickelt.
2. Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst Das kunsttheoretische Korrelat zur ästhetisch-subjektiven Durchdringung der Naturforschung entwickelte Carus zuerst und am ausführlichsten in den Briefen über Landschaftsmalerei. Wie der Titel schon sagt, geht es ihm hier vorrangig um eine Neubegründung der bildenden Kunst. Es erstaunt daher kaum, daß die Landschaftsbriefe in der kunsthistorischen Forschung intensiv rezipiert, von germanistischer Seite dagegen kaum beachtet wurden. Allerdings beschränkt sich Carus' theoretisches Interesse in den Landschaftsbriefen keineswegs auf die Malerei: Die Idee einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft stellt - das dürfte bereits deutlich geworden sein - ein allgemeines, die verschiedenen Kunstarten umfassendes ästhetisches Programm dar. Insofern gebührt diesem Werk auch und gerade aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Interesse. Carus verfaßte die Landschaftsbriefe in den Jahren 1815 bis 1824. Im Vorwort zur Erstveröffentlichung von 1831 weist er auf gewisse Verschiebungen seiner Kunstauffassung im Verlauf der langen Entstehungszeit hin: Nach einem Decennium, ja schon nach einem Lustrum haben sich die Ansichten über manche Dinge geändert, der Mensch fühlt, denkt, handelt, scheinbar ganz anders als früherhin, und nur einem tieferblickenden Auge wird bemerklich, daß immer noch aus demselben Ich die verschiedenen äußern Formen hervortreten...77
74 75 76 77
LuDIII, 141. LuD 1,113. LuD I, 197. BLM, III.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
155
Das Verbindende der Landschaftsbriefe liegt allerdings auf der Hand: Es ist der oben dargestellte Naturbegriff. Der Gedanke von der Weltseele begründet durchgehend als naturphilosophisches Leitprinzip Carus' Landschaftstheorie. Dagegen zeigen sich im Bereich der Ästhetik Modifikationen, die sich um zwei Problemkreise gruppieren lassen: zum einen die Perspektive auf die Geschichte der Kunst, zum anderen die Frage nach dem Verhältnis von künstlerischer Subjektivität und Objektivität in der Naturwiedergabe. Mit ihrem vorrangigen Anliegen, das praktische Pendant zu Carus1 Landschaftstheorie zu bestimmen, hat sich die kunsthistorische Forschung allein auf den letzten Aspekt konzentriert. Unter Berufung auf die frühen Briefe wurde dabei zumeist die Nähe zur Kunstauffassung des romantischen Landschaftsmalers Caspar David Friedrich hervorgehoben.78 Durch Eberleins Untersuchung der Briefe von 1928 hat sich überdies der Blick für die Heterogenität des Werks geschärft. Erst im sechsten Brief nämlich expliziert Carus das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst; Eberlein sieht hierin eine "scharfe Wendung zur geologischen Landschaft"79 und einen deutlichen Bruch in Carus1 Kunstauffassung. Zu Beginn der sechsten Epistel lenkt der Briefschreiber Albertus selbst den Blick auf diese Verschiebungen mit der Bemerkung, er habe "Jahre lang angestanden (...) wieder zu schreiben"80. Nach Marianne Prause bezeichnet dieser Hinweis den tatsächlichen Entstehungsverlauf der Briefe: Zwischen der bis 1822 beendeten Niederschrift der Briefe I, II, III und V (IV lag im Manuskript vor) und der Abfassung des sechsten Briefes liegen knapp zwei Jahre.81 Die chronologische und inhaltliche Zäsur hat immer wieder zu einer zweiteiligen Gliederung des Werks geführt.82 In den Briefen I bis V tritt Carus - so lautet die nahezu einhellige Meinung - für eine stimmungsvolle, vorwiegend das Gemüt des Menschen spiegelnde und ansprechende 78
79 80 81 82
Carus lernte Friedrichs Bilder 1816 kennen; eine nähere persönliche Bekanntschaft ergab sich etwa ein Jahr später. Bei aller Einsicht in Rang und Neuartigkeit der Friedrich'schen Stimmungslandschaften betont Carus doch wiederholt den Abstand zu dessen Kunstauffassung (vgl. LuD I, 179 ff., 205 ff., 288 f.; LuD II, 303; LuD III, 100 f.; Fr, passim). Eine repräsentative an Friedrich orientierte Carus-Deutung findet sich z.B. bei Beenken 1944, 154 f., oder - neueren Datums - bei Brion 1983. Eberlein 1928, 59. BLM, 103. Prause 1963, 68-70. Vgl. Rehder 1932, 188; Badt 1960, 36; Kirchner 1962, 40-42; Prause 1963, 75; Prause 1968, 45 ff.; Kühn 1972, 25 ff; Genschorek 1978, 114 f.; Stopp 1983, 80 f., Grütter 1986, 47; Apel 1991, 216. Interpretationen, die den Wandel von Carus' Kunstauffassung vernachlässigen oder bestreiten, bei Goldschmidt 1935, 78 ff; Heider 1982; Behler 1993; Hoppe-Sailer 1994.
156
"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
Landschaftsmalerei ein; in den Briefen VI bis IX wendet er sich dagegen einer naturwissenschaftlich gesetzmäßigen Landschaftsinterpretation zu. Der sechste Brief markiere die Entfernung von Friedrich hin zu Goethe, den Wandel von einer subjektiven zu einer objektiven Landschaftsauffassung. In der Frage, welche zeitgenössische Form der Naturdarstellung diesem neuen Programm einer wissenschaftlich geprägten Kunst entspricht, herrscht dagegen Uneinigkeit: Die Richtungen oder Schulen, mit denen Cams' Landschaftstheorie in Verbindung gebracht wird, reichen vom Klassizismus eines Joseph Anton Koch bis zum frühen Realismus bei Dahl oder Constable.83 So plausibel die jeweiligen Interpretationen im Einzelnen auch sein mögen: Eine solche eng an der Kunstpraxis orientierte Lesart der Landschaftsbriefe erscheint doch in mehrfacher Hinsicht inadäquat. Zunächst hat sie übersehen lassen, daß es sich bei der Idee einer Verbindung von Kunst und Naturwissenschaft um ein allgemeines, die Kunstarten übergreifendes ästhetisches Programm handelt. Gerade in den Landschaftsbriefen erläutert Cams seine Vorstellungen anhand dichterischer Werke: Sollen nun Beispiele [einer wissenschaftlich fundierten Kunst, JMT] aufgestellt werden, so laß mich hier poetische Schilderungen landschaftlicher Natur dazu wählen, denn die Poesie, wie sie weit früher war als alle Landschaftsmalerei, wie sie geistiger ist als alle Malerei, so gibt sie auch hier die edelsten Vorbilder.84
Der Anspruch auf eine universale Kunsttheorie weist Carus nicht nur als Erben der romantischen Ästhetik aus, sondern zeigt auch, daß es ihm in erster Linie nicht um eine praktische Anleitung für Landschaftsmaler ging.85 Dieser Eindruck verstärkt sich, betrachtet man das theoretische Umfeld, in dem Carus1 Programm steht. Die Forderung nach einer wissenschaftlich fundierten Kunst verdankt sich nicht etwa der Abwendung von Friedrich'schen Prinzipien einer subjektiv-stimmungshaften Naturwiedergabe: Schon in den üblicherweise der romantischen Seite zugeschlagenen Briefen IV und V herrscht nämlich die objektivierende Tendenz entschieden vor. Das Programm des sechsten Briefes - die "wichtige Idee",86 von der Carus an seinen Freund Regis berichtet 83 84 85
86
Für eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Deutungen von Carus' Landschaftsbriefen vgl. Müller-Tamm 1991, 106-110. BLM, 115 f. In seiner Besprechung der Landschaftsbriefe für das Literaturblatt richtet Wolfgang Menzel, dem Carus allein schon durch seine Goethe-Gefolgschaft zuwider sein mußte, das kritische Augenmerk auf genau diesen Punkt, die Theorielastigkeit der Briefe: "Wenig Stoff und zum Erstaunen viele Worte. (...) Was soll der Landschaftsmaler mit solchen leeren Redensarten anfangen?" (Menzel 1836, 498 f.) Zit. nach Prause 1968, 45.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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entfaltet sich vielmehr im Kontext geschichtsphilosophischer Überlegungen: Die Theorie einer wissenschaftlich geprägten Kunst erscheint als gedanklicher Reflex auf die Problemlage des modernen Künstlers. Gegenüber der gängigen Zweiteilung der Briefe wird daher - ohne spitzfindig sein zu wollen - eine dreiteilige Gliederung vorgeschlagen, die den je unterschiedlich motivierten Wandlungen der "Landschaftsbriefe" Rechnung trägt. Die ersten drei Briefe, allgemeinen Betrachtungen zum Verhältnis von Subjekt, Kunst und Natur gewidmet, sind eindeutig frühromantisch geprägt. Die Kunst erhebt - so heißt es hier - "durch die Anschauung der Göttlichkeit, d.i. der schaffenden Macht im Menschen selbst"; sie erscheint daher "als Vermittlerin der Religion"87. Die im zweiten Brief behandelte "Wirkung landschaftlicher Gegenstände in freier Natur"88 gipfelt im mystischen Erlebnis der Entgrenzung, der Verschmelzung von Ich und Natur: "Es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Räume, Dein ganzes Wesen erfährt eine stille Läuterung und Reinigung, Dein Ich verschwindet, Du bist nichts, Gott ist Alles."89 Im dritten Brief entwickelt Carus die Grundzüge einer romantischsubjektiven Autonomieästhetik. Er fordert hier von jedem Kunstwerk, "daß es fühlbar werde, wie dasselbe der schaffenden Kraft eines Menschengeistes sein Dasein verdanke, und eben deshalb als aus einer Einheit hervorgegangen, ein in sich selbst entwickeltes und beschlossenes, gleichsam organisches Ganzes sei. Dieses zugegeben, so muß ferner, da die Seele im Erfinden eines Werkes nur in einem gewissen Zustande, nur in einer gewissen Richtung zu denken ist, das Kunstwerk selbst nothwendig auch einen gewissen Zustand aussprechen..."90 Im Zusammenhang mit dieser subjektivistischen Bestimmung der Landschaftskunst entfaltet Carus den Gedanken einer umfassenden Analogie und Korrespondenz von Naturstimmung und Gemütsstimmung. Die Aufgabe der Landschaftsmalerei besteht demzufolge in der "Darstellung einer gewissen Stimmung des Gemüthslebens (Sinn) durch die Nachbildung einer entsprechenden Stimmung des Naturlebens (Wahrheit)"91. Unter Rückgriff auf den in der Romantik aktualisierten naturmystischen Topos von der "Sprache der Natur" bestimmt Carus abschließend die Beziehung von Naturschönheit und Kunstschönheit:
87 88 89 90 91
BLM, 25. BLM, 29. BLM, 29. BLM, 40 f. BLM, 41.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" Das Verhältnis aber von landschaftlicher Schönheit in der Natur selbst, und in der Kunst, wird eben hierdurch zugleich also bestimmt; daß in der Natur das Gefühl wahrer und unmittelbarer Verkörperung göttlichen Wesens uns erhebt, da hingegen in der Kunst ein Wahrnehmen der Göttlichkeit des Menschengeistes, welcher seine Empfindungen durch ein Nachbilden oder vielmehr ein Nacherschaffen göttlicher Naturformen ausspricht, uns, obwohl mit schwächern, doch zugleich mit engern Banden an sich fesselt. - Die Naturschönheit ist göttlicher, die Kunstschönheit ist menschlicher (...). Es ist, als wäre der unendliche Reichthum der Natur in einer Sprache geschrieben, welche der Mensch erst erlernen müßte...92
Diese Unterscheidung erinnert unmittelbar an Wackenroders Bemerkungen über die "zwei wunderbaren Sprachen" der Natur und der Kunst in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders93 Von diesen dezidiert romantischen Ausführungen setzen sich die Briefe IV und V deutlich ab. Auch dieser Bruch spiegelt sich übrigens in der Entstehungsgeschichte des Werks: Zwischen der Beendigung des dritten Briefs im Oktober 1820 und der Arbeit am fünften Brief verstreicht mindestens ein Jahr; der vierte Brief liegt in seiner gültigen Fassung überhaupt erst Ende 1823 vor.94 Im vierten Brief behandelt Carus Stil, Charakter und Vortrag in der Landschaftsmalerei. Er postuliert hier ein objektives und absolutes Stilideal: Endlich aber erscheint die Idee und die Wahrheit in gleichmäßiger Kraft und Durchdringung und dieses gibt, wenn beide in ihrem eigentlichen Wesen, die Idee in göttlicher Reinheit, die Darstellung in ruhiger Gesetzmäßigkeit und vollkommener Klarheit empfunden werden, den einzig wahren, den reinen oder vollendeten Styl...95
Deutlich zeigt sich hier die objektivierende Tendenz in der Überzeugung, daß, "je schroffer noch die Individualität des Künstlers sichtbar wird, um so mehr auch noch die Leistung von dem Ideal entfernt sein wird"96. Bezeichnenderweise beruft sich Carus mit der Auffassung, daß es nur einen gültigen Stil und einen rechten Vortrag gebe, auf den von Kant und Schiller beeinflußten klassizistischen Ästhetiker Fernow. 92 93
94 95 96
BLM, 62 f. "Ich kenne aber zwei wunderbare Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt hat, die himmlischen Dinge in ganzer Macht (...) zu fassen und zu begreifen. (...) Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott, die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meine: die Natur und die Kunst. (...) Die eine der Sprachen, welche der Höchste selber von Ewigkeit zu Ewigkeit fortredet, die ewig lebendige, unendliche Natur, ziehet uns durch die weiten Räume der Lüfte unmittelbar zu der Gottheit hinauf. Die Kunst aber (...) schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf..." (Wackenroder/Tieck 1985, 60-65; Hervorhebung getilgt, JMT). Vgl. Prause 1963, 69. BLM, 68. BLM,75.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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Der fünfte Brief ist der Konstruktion und Deutung der Geschichte der Landschaftsmalerei gewidmet. Dies klingt bescheidener als es tatsächlich ist: Wenn auch auf Landschaftskunst beschränkt, so greift Carus hier doch ein Kernproblem der goethezeitlichen Ästhetik auf.97 Die mit Winckelmann und Herder einsetzende Historisierung der Kunst hatte die normativen Kunsttheorien zunehmend untergraben und die Ausbildung einer spekulativen, geschichtsphilosophisch geprägten Ästhetik vorbereitet. Die Annahme eines kontinuierlichen Verlaufs der Geschichte weicht dem Bewußtsein, am Ende eines irreversiblen historischen Prozesses und jenseits eines nicht zu überbrückenden geschichtlichen Bruchs zu stehen. Die Frage nach dem Verhältnis von Antike und Moderne, von naiver und sentimentalischer Dichtung, von natürlicher und künstlicher Bildung avanciert damit zu einem zentralen Thema der Ästhetik. Während die Moderne in weitgehender Übereinstimmung als Welt des Partikularen und Subjektiven, der Vereinzelung, Zerissenheit und Reflexion gekennzeichnet wird, fallen die Antworten auf die Frage, wie sich der Künstler in der Moderne verhalten soll, unterschiedlich aus: Winckelmann etwa postuliert trotz der Einsicht in die historische Bedingtheit und Einzigartigkeit der griechischen Kunst ihre Vorbildlichkeit für die zeitgenössische Kunstpraxis. Dieser Widerspruch zwischen einer historischen Auffassung der Kunst einerseits und der normativen Behauptung der Antike andererseits durchzieht den Klassizismus bis hin zu Hegel, der daher die moderne "romantische" Kunstform nur als Phase in der Entwicklung des Schönen, nämlich als die Selbstauflösung der Kunst in Philosophie, gelten lassen kann. In der komplexen Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung befaßt sich Schiller mit dem Problem der Antike und ihres Fortlebens in einer anderen Zeit, wenngleich das Begriffspaar "naiv-sentimentalisch" nicht als konsequent literarhistorischer und geschichtsphilosophischer Gegensatz im Sinn von "antik-modern" oder "klassisch-romantisch" zu verstehen ist. Schiller vertritt hier - gegen Rousseaus Rückwendung zur ersten Natur und gegen Winckelmanns Nachahmungspostulat - eine prospektiv orientierte Geschichtsauffassung und entsprechend das Ideal einer höheren Synthese beider Dichtungsweisen. In einer geschichtsphilosophisch-ästhetischen Dialektik hebt Schiller den Dualismus von "naiv" und "sentimentalisch" auf: Das Sentimentalische erscheint als das Naive unter den Bedingungen der Moderne; es mündet, ohne das charakteristische Moment der Reflexion zu verlieren, ins Naive. Die Frühromantiker, Novalis oder der 97
Zu dem mittlerweile oft beschriebenen Prozeß der Etablierung des historischen Denkens in der Ästhetik um 1800 vgl. insbesondere Szondi 1974, 11-267; zur Auseinandersetzung um die romantische Position vgl. auch Busch 1982.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
junge Friedrich Schlegel etwa, bekennen sich entschieden zur Moderne und zum Autonomieanspruch künstlerischer Subjektivität. Die als zerrissen erfahrene Gegenwart soll im fragmentarischen, offenen Kunstwerk ihren adäquaten Ausdruck finden; das Charakteristische und Interessante gewinnt als neue ästhetische Kategorie Bedeutung. In der romantisch-nazarenischen Kunstauffassung, beeinflußt vor allem durch Wackenroders Werk und die späteren Schriften Schlegels, wendet sich wiederum das Blatt. Historischer Bezugspunkt im Rahmen dieser katholischen Erneuerungsbewegung ist das Mittelalter; die gottlose Moderne soll ihr Heil in der Orientierung an der christlichen Vergangenheit finden. In dieser Auseinandersetzung um das Verhältnis der Moderne zu einer naiv-ursprünglichen Kunstpraxis nimmt Carus auf komplexe Art und Weise Stellung. Carus unterscheidet - zunächst noch ohne historische Einordnung zwei Behandlungsweisen der Landschaftskunst: Die "classische vollendete Landschaft"98 wird - wohl unter Rückgriff auf Schillers Begrifflichkeit - der "sentimentalen Landschaftskunst"99 entgegengesetzt. Letztere verfällt nun einem entschiedenen Verdikt: Es sei dies eine "Gattung von Kunstwerken, (...) in welcher die Natur als Symbol, als Hieroglyphe nur geachtet wird, und man genug getan zu haben glaubt, wenn die Objecte nur so weit kenntlich wurden, daß ihre symbolische Bedeutung empfunden werden kann"100; der sentimentale Künstler drängt dem Betrachter seine "individuelle Naturansicht" auf, er "achtet die Natur an sich geringer" und sein einziges Bestreben liegt darin, "den Beschauer in das Land der Ideen zu tragen"101. Als Negativbeispiel einer sentimentalen Naturdarstellung wählt Carus eine Landschaft aus Franz Sternbalds Wanderungen von Tieck: Ein Pilger wandelt aus einem engen Tal zur Höhe, wo im Mondlicht das Kreuz einer Kirche schimmert. Die "christlich-sittliche Idee" dominiert hier - so Carus - über die sinnliche Naturwirklichkeit; dagegen "müßte das Ganze so unschuldig, so reinnatürlich aufgefaßt sein, daß wir auch ganz abgesehen von jener Idee uns an der treu ausgesprochenen Scene dieses Naturlebens erfreuen
98 99 100 101
BLM, 94. BLM, 88. BLM, 86. BLM, 88. Schiller hatte- wenngleich mit anderer Wertung- den sentimentalischen Dichter ähnlich charakterisiert: "Dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf diese Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft." (Schiller 1962, 441.)
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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könnten"102. Gegen die sentimentale Naturbehandlung, näher bestimmt als romantische Subjektivität und Innerlichkeit, setzt Carus die Norm des Klassischen in ihrer die gesamte idealistische Ästhetik durchziehenden Formulierung: "Nur echte Harmonie, d.i. vollkommene Vereinigung des Sinnigen und Wahren"103 bezeichne das gültige landschaftliche Kunstwerk. Dieses Ideal findet Carus in den Werken der "Stammväter echter Landschaftskunst"104, bei Claude Lorrain und Ruysdael, verwirklicht. Hier habe "der innere Sinn des Künstlers sich wahrhaft objectivirt"105; hier zeige sich "das Vollendete, das Classische, wo man nicht mehr diese oder jene menschliche Ansicht, sondern nur das rein Menschliche an sich als das Herrschende erkennt"106. Nicht als konkrete Formfindungen, wohl aber dem Prinzip nach sind die Landschaften Claudes und Ruysdaels Vorbild jeder künstlerischen Natur dar Stellung; "eben diese Richtung auf das Urwahre der Natur selbst, alles Zurückstellen mitgebrachter Ansichten, vielmehr das reine, unschuldige Wiedergeben der Natur, (...) das ist es, was wir von der classischen vollendeten Landschaft sicher fodern dürfen und sollen"107. Im folgenden deutet Carus die klassische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts als historisches Stadium in der Entwicklung der Kunst. Es ergibt sich daraus unmittelbar der von Peter Szondi hervorgehobene Grundwiderspruch des Klassizismus: Trotz der Einsicht in die historische Individualität und Bedingtheit dieser Epoche der Landschaftsmalerei hält Carus an deren normativer Geltung fest. Dieser Widerspruch wird bei Carus verdeckt durch eine romantische Geschichtskonstruktion, die den Wert der Landschaftsmalerei des IT.Jahrunderts mit deren naiver Ursprünglichkeit (und nicht mit der Erfüllung des künstlerischen Ideals) begründet. Bemerkenswert!! ist in solcher Hinsicht zuerst, daß auch in der Landschaftsmalerei, wie in so manchen ändern Künsten, gerade von den Meistern, durch welche in ihrem Volke zuerst das Fach ihrer Kunst gefunden war, auch schon das Beste geleistet wurde (...). Bedenken wir nun die Ursachen dieser Erscheinung, so werden wir unwillkürlich wieder auf die Idee einer organischen Entwicklung der Künste in der Menschheit, als einem Ganzen, geleitet, und finden es damit übereinstimmend, daß ebenso wie in einem jeden organischen Wesen die Periode eben vollendeter Entwicklung eines sinnlichen Vermögens auch die Zeit der schönsten in diesem Maße nie wiederkehrenden Blüte ist, wie die eben erschlossene Blüte uns am meisten gefällt und die muntere gefugige Kraft des Jünglings102 103 104 105 106 107
BLM, 87. BLM, 89. BLM, 89. BLM, 90. BLM, 91. BLM, 93 f.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" alters nie wiederkehrt, daß ebenso auch eine Kunst, wenn sie zuerst ihre Schwingen entfaltet hat, nothwendig im frischesten Zauberlichte leuchten müsse.108
Wie im entwicklungsgeschichtlichen Denken in Herderscher Tradition generell, so erscheint auch bei Carus die Auffassung der Kunstgeschichte als einer organischen Entfaltung verbunden mit einer Auszeichnung des Ursprünglichen. Diese geschichtsphilosophische Setzung legitimiert die Hochschätzung der Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts: Sie muß allein daher unübertrefflich sein, weil sie die erste Entfaltung dieser Gattung darstellt. Im weiteren konkretisiert Carus die Vorzüge der frühen Kunstperiode. Während im 17. Jahrhundert noch "echter landschaftlicher Natursinn"109 und eine "innige Empfindung der Naturschönheit"110 vorgeherrscht habe, während hier die Künstler "ohne frühere Vorbilder in wahrer Unschuld ihrem Ziele entgegenklimmen"111, werde der spätere Künstler durch regelhafte Anleitung und künstlerische Nachbildung anderer von der Naturwahrheit und -Innigkeit abgelenkt. Diese deutliche Absage an den formal interessierten und auf technische Perfektion ausgerichteten Nachahmungsklassizismus unterstützt Carus mit einem Argument, das wiederum dem Bereich romantisch-nazarenischer Kunstgeschichtsauffassung entnommen ist. Die technische Mangelhaftigkeit und Unreife, die er in den Werken von Claude und Ruysdael bemerkt, gilt ihm als Vorzug, als Zeichen authentischer Produktivität: Ja, es scheint hierbei (...) der Geist sich erst unmittelbar das Organ für seine Gestaltung erschaffen zu haben. Indeß, gerade daß hier die Hand so gar nichts ist, der Geist aber alles bewältigt und trotz der Unbeholfenheit der Werkzeuge das Herrliche hervorgerufen hat, spricht als geistige Unmittelbarkeit zu unserem Innersten.112
Diese Naivität ist durch formale Nachahmung nicht einzuholen. Genausowenig allerdings kann sie im Ideellen wiedergewonnen werden. Mit dieser resignativen Wendung schließt der fünfte Brief: Anderntheils aber scheint freilich auch zu folgen, daß jene naive Zeit, jene, unmittelbar auf die Kindheit der Kunst folgende Periode, wo der Mensch noch ohne Vorbilder blos dem unschuldigen Aufstreben seines Innern nachgibt, gerade die eigentliche, dem Hervorbringen echter Kunstwerke günstige genannt werden müsse, indem ja eine jede spätere Zeit durch das Einwirken bereits vorhandener, früherer Leistungen immer in ihrem Bestreben eine gewisse Irrung erfahren wird, und der Neuere, er mag es anfangen wie er will, nun einmal eben so wenig wieder in die ursprüngliche Unschuldswelt zurückkann,
108 109 110 111 112
BLM, 94 f. BLM, 97. BLM, 99. BLM, 96. BLM, 99.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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als der Erwachsene die ganzen Gesinnungen, Neigungen und sonstigen Eigenthümlichkeiten des Kindes wieder in sich aufnehmen wird.113
Das konsequente historische Denken führt hier in eine Sackgasse: Die Einsicht, daß der naive Zustand durch bewußte Anstrengung nicht wiederherzustellen ist, und das unbedingte Festhalten am Primat der frühen Kunstperiode entziehen der Landschaftsmalerei jegliche Zukunftsperspektive. Der sechste Brief greift das Problem auf, wie eine der naiven Periode entsprechende Kunstvollendung in der reflektierten, 'sentimentalischen' Moderne möglich sei. Obwohl Carus selbst in einem Brief an Regis darauf hinweist,114 wurde in der Forschung- soweit mir bekannt- nie bemerkt, daß der sechste Brief den fünften thematisch fortführt und daß der eigentliche Bruch zwischen beiden im Wandel der Perspektive auf die Geschichte der Kunst besteht. Gegenüber der früheren ausschließlichen Hochbewertung der naiven Kunstübung faßt Carus hier die Geschichte der Landschaftskunst als progressive Entwicklung zu einer höheren Kunstvollendung auf; und die Lösung des Problems, "wie die unschuldige reine Auffassung der Kindheit jener Kunst in diesem Verstandeszeitalter bewerkstelligt werden solle"115, liegt eben in der naturwissenschaftlichen Fundierung der Kunst. Auslösendes Moment dieser Umorientierung ist die Lektüre von Goethes Wolkengedicht aus dem dritten Heft Zur Naturwissenschaft, in dem Luke Howards meteorologische Studien verarbeitet werden. Carus beschreibt die Wirkung dieses Gedichts im Hinblick auf seine Auffassung der Kunstgeschichte. Fragst Du, was eben in diesem Gedichte mich so wunderbar bewegt hat, so wüßte ich mich darüber nur auf die Weise auszusprechen: - Wenn wir im thätigen Leben gewahr werden, daß die vollkommene Reinheit des Handelns nur in zweierlei Zuständen hervortritt, einmal im naiven ursprünglichen Zustande, wo das dunkle Gefühl des uns einwohnenden Göttlichen, ohne alles weitere Bedenken unmittelbar auf das Wahre und Rechte hinweißt, ein andermal dann, wenn nach manchen Abirrungen des Lebens eine klare Erkenntniß unserer Verhältnisse zu Gott und Welt sich erschließt, und nun jene frühere ihrer selbst unbewußte Reinheit mit Klarheit und Bewußtsein im Leben ausge-
113 BLM, 102. 114 Im November 1823 schreibt Carus an Regis: "... zugleich liegen zwei Briefe über Landschaftsmalerei bei, von denen der vierte vor dem letzten der bisherigen Reihe (also dem fünften) eingeschaltet werden soll: ich habe ihn eigentlich schon vor ein paar Jahren geschrieben und nur etwas geändert. Dahingegen der sechste neu ist und sich an den letzten der bisherigen Reihe (den fünften) anschließt, worin ich über die naiv schönen Leistungen der ersten großen Landschaftsmaler gesprochen hatte. In diesem sechsten Brief ist mir eine, wenigstens mir sehr wichtige Idee klar geworden und ich empfehle ihn Eurer geneigten Betrachtung..." (zit. nach Prause 1968, 45). 115 BLM, 104.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" prägt wird, so leitet dieses Alles zu der Ahnung, daß in der Kunst wol eine ähnliche Zwiefachheit innerer Vollkommenheit gedacht werden könne. - Von dem ersten Pol der naiven ursprünglichen Kunstvollendung habe ich mancherlei in früheren Briefen verfolgt; eben dieses Goethe'sche Gedicht aber führte mir mit einemmale recht lebhaft die Idee einer zweiten, auf höhere Erkenntniß gegründeten Kunstschönheit vor...116
Es zeigt sich hier also nicht etwa die Hinwendung zu einer objektiven Landschaftsinterpretation, sondern der Wandel von einer auf die Vergangenheit ausgerichteten zu einer progressiv orientierten Geschichtsauffassung. Der resignative Blick auf die verlorene Naivität weicht der programmatischen Begründung einer der eigenen Zeit gemäßen Landschaftskunst. Ohne die Parallele zu Schillers komplexer Konstruktion des Verhältnisses von naiver und sentimentalischer Dichtung zu eng ziehen zu wollen, erscheint mir Cams' Position doch in gewisser Weise vergleichbar. Wie Schiller die Kategorien des Naiven und Sentimentalischen dialektisch ineinander aufgehen läßt, so skizziert auch Carus die Vorstellung einer Kunstpraxis, die zugleich naiv und reflektiert, naturunmittelbar und bewußt ist. Deutlich erkennt Carus, daß die romantische Degradierung der Natur zum bloßen Medium künstlerischer Selbstdarstellung der geschichtlichen Situation entspringt: ...denn wenn der moderne Künstler, eingeklemmt zwischen die Räder einer in heftigen und sonderbarem Umschwünge begriffenen Zeit und bei der Reizbarkeit des poetischen Gemüths, seine Wunden nur um so tiefer empfinden muß, so tritt eine Nöthigung in ihm hervor, diesen (!) Schmerz in seiner Kunst eine Stimme zu geben. (...) Ein Drang aus der Befangenheit des gegenwärtigen Zustandes herauszukommen und wäre es mit Gefahr diese Existenz überhaupt aufgeben zu müssen, hat eine Menge solcher Kunstwerke erzeugt. (...) Wir wollen damit nicht gesagt haben, daß nicht oft schönes, ja außerordentliches in dieser Richtung geleistet worden sei, vielmehr darf man nicht vergessen, daß eben in dieser Poesie des Schmerzes eine neue eigenthümlich schöne Seite der Landschaftskunst sich eröffnet habe! nur wie sehr diese Richtung von der unbefangenen ganz objectiven verschieden sei, soll man nicht verkennen."7
Unübersehbar ist Carus' Bestreben, der romantischen Malerei wie der romantischen Poesie, von der er sagt, daß sie ihm "tief ins Herz gewachsen"118 sei, historische und - wichtiger noch - ästhetische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Unterschied zu jenen Polemiken, die in einem unvermittelten Schlagabtausch romantische Normenverstöße aus klassizistischer Perspektive ahnden,119 vollzieht sich Carus' Romantikkritik als psychologische Diagnose der ästhetische Moderne. 116 117 118 119
BLM, 105 f. BLM, 249 f. LuDII, 211. So etwa der bekannte Kommentar von Basilius von Ramdohr zu Friedrichs Tetschener Altar; vgl. hierzu Busch 1982, 114 ff.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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Den Hintergrund bildet eine vor allem an Karl Philipp Moritz orientierte, klassische Vorstellung von der Autonomie der Kunst. Die infragestehende Psychologie des Kunstschaffens - genauer: "die merkwürdige Beziehung des Schmerzes auf poetische Productivität"120 hat Carus andernorts abstrakt dargestellt. Wollte man - so erläutert er in der Psyche - "die frei aus innerer poetischer Nöthigung entstehenden Kunstwerke sondern (...) in solche, die aus überfließender Lust und Freudigkeit, und solche, die aus innerm Schmerz und als Errettung aus trüben Stimmungen entstehen, so würde die große Mehrzahl durchaus auf die Seite der letzteren fallen. Die Erklärung dieser Erscheinungen liegt unzweifelhaft eben in den im Vorhergehenden ausgesprochenen Worten: nämlich es sucht die in Betrübniß befangene Seele, in ihrem innern Drange nach Glückseligkeit eine Errettung von dem ihrem innern Wesen unangemessenen Zustande, und sie ruft auf zu diesem Zwecke die in ihr verborgene productive Kraft, die Phantasie, theils um sich aus Vorstellungen eine Welt zu schaffen, über deren beglückende Wesenheit der Schmerz ihres gegenwärtigen Daseins vergessen werden kann, theils auch nur, um ihren eigenen trüben und unglücklichen Zustand sich vollkommen gegenständlich zu machen. In diesem Gegenständlichwerden liegt aber deßhalb eine so große Beschwichtigung, weil es als eine Spiegelung wirkt und dadurch Dasjenige gewährt, welches wir weiter oben schon für das Wachsthum der Seele so bedeutend nennen mußten: dieErkenntniß." 121 Die psychologische Erklärung des Kunstschaffens als Kompensation und Vergegenständlichung innerer Leiden bezieht Carus zunächst und grundsätzlich - wie schon Karl Philip Moritz im Anton Reiser - auf das Phänomen des Dilettantismus1. Moritz hatte im Hinblick auf das Interesse an der Kunst zwischen "Lebensbedürfnis" und "Kunstbedürfnis"122 unterschieden und Reisers poetischen Dilettantismus als den künstlerisch zum Scheitern verurteilten Therapieversuch einer kranken Seele diagnostiziert. Im Unterschied zu Moritz' negativem Urteil über die kompensatorische Funktion der Kunst läßt Carus den Dilettantismus als Bestandteil einer um allseitige Selbstverwirklichung bemühten Lebenskunst gelten.123 Dort allerdings, wo die malerischen und dichterischen "Klagelaute einer unbefriedigten Existenz"124 mit hohem Kunstanspruch auftreten, schließt sich Carus dem Moritz'schen Verdikt 120 121 122 123 124
PS, 304. PS, 305. Moritz 1987, 365. Zu Carus' Theorie des Dilettantismus vgl. Kap. III.5. BLM, 249.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
an. Die ästhetische Moderne wird nach dem psychologischen Muster des Dilettantismus' interpretiert: In ihr herrsche der "Drang, eigenen innern Zuständen Luft zu machen"125. Die Kunst der Romantik erscheint aus Cams' Perspektive als therapeutische Ableitung des Leidens an den Zeitumständen; sie widerspricht damit dem Ideal des autonomen, in sich ruhenden Kunstwerks. Moritz hatte zwei Momente benannt, die den Dilettantismus charakterisieren: Der dilettierende Künstler wählt bestimmte, besonders "poetische" Gegenstände der Darstellung, und er produziert um des Effektes willen,126 Cams' psychologisch orientierte Beschreibung der romantischen Kunst entspricht in beiden Punkten - dem Aspekt der Stoffwahl wie dem der Wirkungsabsicht - Moritz" Kennzeichnung des Dilettantismus'. "Leichensteine und Abendröthen, eingestürzte Abteien und Mondscheine, die Nebel und Winterbilder, so wie die Waldesdunkel mit sparsam durchbrechendem Himmelsblau"127 - in diesen Motiven, so Carus, findet der romantische Künstler die ihm entsprechende Symbolik. Wichtiger noch erscheint Carus das zweite Charakteristikum: die Ausrichtung der modernen Kunst auf den Effekt hin. "Stets ist es doch bemerkbar", so heißt es in bezug auf die subjektive Tendenz zeitgenössischer Kunst, "daß der Wirkung des Bildes auf das Gefühl eigentlich mehr nachgestrebt werde, als der Darstellung einer einfach aufgefaßten Naturwahrheit und daß das Bild mehr Symbol, mehr Hieroglyphe als Natur-Abbild sei."128 - Der historisch relativierte, psychologisch abgefederte und dem Realistischen zugewandte Klassizismus, wie ihn Carus hier theoretisch vertritt, läßt die Romantik bedingt gelten, ohne ihr die Erfüllung höchster ästhetischer Ansprüche zuzugestehen: Der künstlerische Schaffensprozeß erfordert "die Aufopferung der Individualität (...), wenn das Höchste geleistet werden soll"129. Die wissenschaftliche Fundierung der Kunst erscheint nun als Lösung des Problems einer spezifisch 'modernen' Kunst bei gleichzeitiger Ablehnung romantischer Subjektivität. Cams' Programm der Synthese von Kunst und Wissenschaft reagiert einerseits auf den geschichtlichen Wandel der Bedingungen ästhetischer Produktivität: In einem Zeitalter, in dem philosophisches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis dominieren, wird auch für die Kunst eine solche Reflexionshaltung gefordert; es sei die "Aufgabe neuerer Zeit (...), durch Kunst zum Wissen 125 BLM, 248. 126 Vgl. Moritz 1987, 358-360. Zur psychologischen Erklärung des Dilettantismus' im Anton Reiser vgl. Müller 1987, 362-366. 127 BLM, 249. 128 BLM, 250. 129 LuD I, 328.
Das Programm einer wissenschaftlich fundierten Kunst
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geführt zu werden und aus dem Wissen höhere Kunstleistungen wieder sich entwickeln zu lassen."130. Die Konvergenz von Kunst und Wissenschaft entspricht andererseits dem Begehren nach einer objektiven und naturverbundenen Kunst. Die Vorstellung, daß sich die Kunst durch Wissenschaft einer emphatisch verstandenen Naturunmittelbarkeit wieder annähern könne, setzt den oben beschriebenen Wissenschaftsbegriff voraus: eine Wissenschaft also, die den fühlenden und ästhetisch empfindenden Menschen einbezieht, die in der unmittelbaren Anschauung wurzelt und im Besonderen das Allgemeine entdeckt, die nicht Distanz zum Objekt, sondern Vertrautheit mit der Natur und Achtung hervorruft. Daß dieser ästhetisch und subjektiv gebrochene Begriff von Wissenschaft für Carus nicht gleichbedeutend war mit dem Verzicht auf fortgeschrittene Empirie, daß also sein ästhetisches Syntheseprogramm sich nicht einfach auf einen historisch vergangenen Stand der Wissenschaft bezog, wurde oben gezeigt. Vielmehr erweist sich der idealistische Kern dieses ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens in dem Vertrauen auf die Integrierbarkeit auch experimenteller und instrumenteller Verfahrensweisen. Die technisch fundierte Empirie stellt nach Carus das Prinzip ganzheitlicher Gestaltschau und die Möglichkeit ihrer künstlerischen Darstellung nicht grundsätzlich in Frage, sondern erfüllt sie mit einer zusätzlichen Dimension. Auf der Grundlage eines solchen optimistisch-umfassenden Begriffs von Wissenschaft kann Carus behaupten, daß "reine Naturerkenntniß, kunstgemäß gestaltet, von selbst zur edelsten Poesie wird"131. Das Programm einer wissenschaftlich begründeten Kunst will Carus allerdings nicht als aufklärerische Unterordnung der Kunst unter didaktische Zwecke mißverstanden wissen. Von "Lehrhaftigkeit im gewöhnlichen Sinne " sei hier nicht die Rede, es gehe vielmehr um ein "unmittelbares Heraufheben des Betrachtenden in die Sphäre einer höheren Welt- und Erdanschauung"132. Carus nimmt Goethe, der sich ja mit Werken wie der Metamorphose der Pflanzen zumindest in die Tradition des Lehrgedichts stellte, vor einer solchen Fehlinterpretation in Schutz: 130 BLM, 116. 131 BLM, 117. 132 BLM, 115. Diese ausdrückliche- und vor dem Hintergrund der dargelegten Wissenschafts- und Kunstauffassung selbstverständliche - Distanzierung von der didaktischen Literatur des 18. Jahrhunderts widerlegt die Deutung Friedrich Sengles, der die enge Verbindung von Wissenschaft und Dichtung in der Biedermeierzeit allein aus der Tradition der Aufklärung herleitet (Sengle 1971-80/1, 40-44, 91-93). Vgl. hierzu auch Carus' Kritik an Christoph August Tiedge, dem Hauptvertreter der empfindsamen Tradition des Lehrgedichts im frühen 19. Jahrhundert (LuD I, 291, 320).
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" Es ist freilich erschrecklich und vernichtet alles poetische Leben, wenn verwünschterweise in sogenannten didaktischen Gedichten Gelehrsamkeit zur Schau gelegt wird und der gebildete Mensch von dem Dichter mit neuer Bildung absichtlich überzogen werden soll. Die deutsche Literatur wie die französische und englische kennt dergleichen poetischen Mißwachs - aber wer hat dergleichen je bei Goethe gefunden! - Er lebte sich in die Natur ein, er suchte sie mit allen seinen Organen zu durchdringen, sie geistig sich zu assimilieren, und was nun so ihn durchdrungen hatte, was ein Teil seines geistigen Organismus geworden war, das spiegelte sich in den mannigfaltigsten Gestalten auch in seinen poetischen Gebilden wider.133
Die aufklärerisch-empfindsamen Lehrgedichte des Schweizer Naturforschers Albrecht von Haller gelten Carus denn auch als minderwertig im Vergleich zu seinen geschätzten wissenschaftlichen Arbeiten.134 Nicht nur die Intellektualität und die belehrende Absicht dieser Gedichte, auch der empfindsam-subjektive Grundzug und die barocke metaphorische Umschreibungstechnik mußten Carus, dem es ja um eine anschauungsnahe Charakterisierung des Natürlichen ging, mißfallen. So wendet er sich gegen den "modern formulierten Ton der Gedichte eines Albr. v. Haller" und generell gegen die "sentimentalen und arabeskenartig aufgeputzten Verse, mit denen neuere Forscher zuweilen ihren so oft in sich haltlosen Demonstrationen bessern Eingang haben verschaffen wollen"135. In Goethes Gedicht zu Howard's Ehrengedächtnis findet Carus dagegen das Ideal einer wissenschaftlich fundierten Kunst: Daß dieses Gedicht über die Wolken entstehen konnte, dazu bedurfte es langer ernster, atmosphärologischer Studien, es mußte hier beobachtet, beurtheilt, gesondert werden, bis nicht nur die Kenntniß der Wolkenbildung, wie sie einfache sinnliche Anschauung gewährt, sondern die Erkenntniß, welche allein Frucht wissenschaftlicher Forschung ist, erreicht war. Nach alle diesem faßte nun das geistige Auge alle gesonderten Stralen des Phänomens zusammen und spiegelte den Kern des Ganzen in künstlerischer Apotheose zurück. - In diesem Sinn gefaßt, erscheint dann die Kunst als Gipfel der Wissenschaft, sie wird, indem sie die Geheimnisse der Wissenschaft klar erschaut und anmuthig umhüllt, im wahren Sinne mystisch, oder, wie Goethe sie auch genannt hat: orphisch.136
Als weitere Beispiele der 'Erdlebenkunst1137 nennt Carus Humboldts Ansichten der Natur, einige Szenen aus Goethes Faust und Nees von 133 G II, 141 f. 134 Vgl. M, XIII f. 135 C-M, 17. Carus könnte hier z.B. an den englischen Naturforscher und Dichter Erasmus Darwin gedacht haben. Dessen biologisches Hauptwerk Zoonomia or The Laws of Organic Live (1794-96) enthält das erste konsequent durchdachte System der Deszendenztheorie; Anklänge an die Evolutionslehre finden sich auch in dem Lehrgedicht The Botanic Garden (1781). Carus erwähnt die Zoonomia in AuP, 4. 136 BLM, 106 f. 137 Für die Malerei belegt Carus das Ideal einer wissenschaftlich fundierten Naturdarstellung mit dem Namen der "Erdlebenbildkunst" (BLM, 118). In einem allgemeinen, die
"Zwölf Briefe über das Erdleben"
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Esenbecks System der Pilze und Schwämme. In einer Beilage zum siebten Brief zitiert er eine längere Passage aus Esenbecks Werk: eine naturphilosophisch getönte Darstellung der Herbstvegetation, die die Wirkung der Jahreszeit auf das empfindende und fühlende Subjekt einbezieht. All diese - vom literarischen Standpunkt aus sehr heterogenen - Werke verbindet nach Carus, daß sie auf unmittelbarer Anschauung und selbst gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und dieses Wissen als subjektiv Angeeignetes "kunstgemäß" präsentieren. Eine künstlerisch-wissenschaftliche Darstellung des allgemeinen Naturlebens, die auf den beschriebenen ästhetischen Grundsätzen beruht, steht nach Carus noch aus: Es wäre also (...) wol ein Buch zu wünschen, worin frei von den Fesseln der Schule, mit griechischer Einfachheit und auf rein menschliche Weise die mancherlei Seiten des Erdenlebens dem Leser erschlossen würden, wo er Hand in Hand mit Wissenschaft und Kunst und doch von keiner lehrhaftig belästigt, vielmehr als im Gespräche mit lieben Freundinnen sich umzusehen angeregt fände auf dem Wege, den so viele wie das beladene Thier zur Mühle, ohne die Augen von ihren Schrittsteinen zu erheben, zurücklegen.138
Um diese Lücke auszufüllen, konzipiert Carus bereits 1826 die Zwo// Briefe über das Erdleben, die dann in den 30er Jahren ausgearbeitet und 1841 veröffentlicht werden.
3. "Zwölf Briefe über das Erdleben" als Versuch einer wissenschaftlichen Naturdichtung Carus wählt für die künstlerisch-wissenschaftliche Darstellung des Erdlebens die Briefform. Der fingierte Brief ist - so formuliert Friedrich Sengle - "eine der beliebtesten Einkleidungsformen der Biedermeierzeit" und gehört "zu den ausdrücklich anerkannten literarischen Formen"139. Die Gattung der wissenschaftlichen, philosophischen oder literarkritischen Briefe entstammt der Aufklärungstradition. Dennoch ist - wie Sengle gezeigt hat - diese Gattung in der Restaurationszeit nicht zu den absterbenden Resten des 18. Jahrhunderts zu rechnen; insbesondere im politischen Brief wird sie mit neuen Inhalten und Funktionen belegt. Kunstarten übergreifenden Sinn spricht er etwa von der "Kunst der Darstellungen aus dem Erdleben" (BLM, 211); seinen Versuch einer literarischen Gestaltung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nennt er "Briefe über das Erdleben". In Analogie zu diesen Bildungen wird im folgenden von "Erdlebenkunst" (im Sinne des umfassenden Programms) gesprochen. 138 BLM, 153. 139 Sengle 1971-80/11, 199 (Hervorhebung getilgt, JMT).
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung"
Auch Cams' Erdlebenbriefe lassen sich als Beispiel einer spezifischen Neufassung dieser Gattung im Hinblick auf eine 'poetische Wissenschaft1 begreifen. Vergleicht man die Erdlebenbriefe mit den ebenfalls in der ersten Hälfte der 40er Jahre erschienenen Chemischen Briefen von Justus Liebig oder den Physiologischen Briefen für Gebildete aller Stände von Karl Vogt, so zeigen sich deutliche Unterschiede: Während die Letztgenannten den Brief im Sinne der Tradition als rhetorische Einkleidungsform zur Vermittlung spezifischer Wissensbestände einsetzen, kommt bei Carus in wesentlich stärkerem Maße der personale Charakter der Briefform zum Tragen. Das Verhältnis zum fiktiven Adressaten gewinnt eine besondere Bedeutung: Die Mitteilungen über das Naturleben sind einem "vieljährigen vertrauten Freunde"140 gewidmet; wiederholt greift Carus auf gemeinsame Erlebnisse zurück, erinnert an vergangene Gespräche, beruft sich auf gemeinsames Bildungsgut. Die Wirkung der Briefe auf den Freund, seine Urteile und Anregungen werden einbezogen. Die Hinwendung zu einem vertrauten und interessierten Gegenüber prägt den Ton der Briefe: Wenn ich hier zu Dir, dessen Gesinnung ich kenne, frei und unumwunden von den Erscheinungen des großen Naturlebens sprechen werde, so möchte ich dies nicht ohne Unterschied zu jedem Anderen, denn allerdings sind mir nicht selten wunderliche Individuen vorgekommen, die alles Andere mehr hätte beschäftigen können als das Naturleben."141 - "Man spricht ja anders zu Einem, in dem man innige Empfänglichkeit für den Stoff der Mittheilung voraussetzt...142
Hier wird erklärtermaßen eine Wissenschaft betrieben, die auf das "Du" zielt und auf gemeinsame Werte, Interessen und Gefühle rekurriert. In der solcherart eingesetzten Briefform tritt der Aspekt der Wissensvermittlung hinter den personalen Bezug zurück. Das Moment des Didaktischen wird nicht nur durch die direkte Hinwendung zum Gegenüber und die Betonung des 'Miteinander' unterlaufen. Die Briefform schafft Raum für subjektive Eindrücke und Geschmacksurteile; das überwältigende Erlebnis des Meeres findet ebenso Eingang wie die Frage, ob ein bewölkter oder ein wolkenloser Himmel vorzuziehen sei. Zahlreiche Abschweifungen unterbrechen die Darstellung des Naturlebens: ein Exkurs über dichterische Todessehnsucht, Betrachtungen zum Verhältnis von Poesie und Wissenschaft, erkenntnistheoretische Reflexionen, Anekdotisches aus der Wissenschaft, Gedanken über die ästhetische Wirkung verschiedener Naturphänomene, 140 BEL, 21. 141 BEL, 7. 142 BEL, 6.
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die Verteidigung des Naturforschers Goethe, Überlegungen über den Zusammenhang von Wissenschaft und Leben und ähnliches mehr. Anders als etwa Liebig, der in seinen Chemischen Briefen induktiv verfährt, indem er von Gegenständen des alltäglichen Umgangs wie Seife oder Zucker ausgeht und deren Eigenschaften durch eine chemische Analyse erläutert,143 wählt Carus - seinem naturphilosophischen Ansatz treu - eine deduktive Vorgehensweise. Der eigentlichen Beschreibung des Erdlebens wird in den beiden ersten Briefen eine Theorie der Natur vorangestellt - im Widerspruch allerdings zu seiner eigenen Vorstellung einer erfahrungsnahen Naturwiedergabe in der allgemeinverständlichen Wissenschaft. Auf den vorweggenommenen Vorwurf einer schwierigen und unanschaulichen Darstellungsweise antwortet Carus mit einem Gleichnis: ...denn mag auch die Betrachtung eines solchen Abstrakten für den ersten Anblick etwas Schroffes und Unersprießliches haben, so erkennt man doch bald, daß es hier ist wie etwa bei den Alpen, wo auch die höchsten, schroffsten und scheinbar abgestorbensten Felsen, indem sie den zu Bächen schmelzenden Schnee bewahren, den Segen der Fruchtbarkeit im Sommer über die Niederungen ergießen.144
Die Esoterik philosophischer Reflexionen wie auch die Abstraktheit wissenschaftlicher Theoriebildung sucht Carus immer wieder durch Gleichnisse, durch Veranschaulichung des Allgemeinen im Besonderen, durch Konkretisierung der allgemeinen Theorie in einem nachvollziehbaren Beispiel zu mildern. Letzteres wird nicht selten als direkter Appell an den Freund formuliert, als Aufforderung, sich das infragestehende Phänomen unter Zuhilfenahme bestimmter alltäglicher Gegenstände zu verdeutlichen.145 Die Wiederanbindung des Theoretischen an die sinnliche Erfahrung erscheint so mit der Dimension des Individuellen und Persönlichen gekoppelt. Die offene, subjektiv geprägte Art der Naturdarstellung zeigt sich auch in der nicht sachlich-systematischen Strukturierung der Inhalte selbst: Der Rückbezug auf mythische Welterfahrung dient Carus als subjektives Ordnungsprinzip der Briefe. Nach Darlegung seiner naturphilosophischen Grundprinzipien stellt sich Carus zu Eingang des dritten Briefes die Frage nach der Abfolge der zu behandelnden Naturphänomene: Wo beginnen? Welche Seite des Naturlebens sollen wir zuerst zu entschleiern versuchen? (...) Die Griechen nannten den Menschen den 'Hochschauenden' (...), sie deuteten damit
143 Liebig 1844, bes. 11. und 17.-19. Brief; zu Liebigs pädagogischem Verfahren vgl. auch Wetzels 1971, 86 f. 144 BEL, 37. 145 Vgl. z.B. BEL, 93, 149, 215, 231.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" an, daß sein nach aufwärts gerichtetes Haupt, sein umschauender und nach oben, gegen die Gestirne gekehrter Blick Das sei, wodurch er insbesondere sich vor allen irdischen Geschöpfen auszeichne; und sollte das uns nicht bestimmen, auch hier in diesen Betrachtungen, in denen wir griechische Einfachheit und Tiefe beabsichtigen, das Firmament selbst zu unserem Vorwurfe zu machen?146
Explizit wird hier die vorwissenschaftliche, menschlich-perspektivierte Wahrnehmung der Natur zum Ausgangspunkt und Leitfaden der Darstellung erklärt. Die drei folgenden Briefe (Nr. III bis V) befassen sich demnach mit astronomischen Fragen; das Verhältnis von mathematischer und philosophischer Betrachtung der Gestirne, der sympathetische Zusammenhang der Himmelskörper und das Verhältnis der Sonnensysteme untereinander, die Spiralbewegung der Sterne als kosmische Urerscheinung, Spannung und Polarisation im Sonnensystem und kosmische Zahlenverhältnisse werden diskutiert. Die Darstellung des Erdlebens in den Briefen VI bis XII orientiert sich an der Elementenlehre des Empedokles, für die Carus - so bekennt er - eine "Vorliebe"147 hegt. Nach einem kurzen Überblick über das System chemischer Elemente heißt es im sechsten Brief: Indem ich aber hiemit wenigstens einen Umriß elementarischer Mannichfaltigkeit vor Deinen Augen aufgestellt zu haben glaube, möchtest Du mich vielleicht auch erinnern an die von uns doch sonst oft und wohl beachteten vier Elemente, welche im grauen Alterthum von den Orphikern und dem Pythagoras bereits gekannt, durch Empedokles ihrem Wesen nach zuerst deutlicher geschildert worden sind; und gewiß: auch dieser Gegenstand verdient ein etwas ausführlicheres Besprechen. Allerdings halte ich aber die Unterschiede von diesen vier Elementen: Luft, Feuer, Wasser, Erde, für gar sehr bedeutungsvoll; wie jedoch Empedokles selbst verstanden wissen wollte, sind darunter nicht sowohl einzelne, in die Sinne fallende Stoffe gemeint (und freilich wäre in diesem Sinne solche vier Elemente anzunehmen für unsere Zeit ein kindischer Gedanke) als die verschiedenen Zustände des Aethers in wesentlich vier, zu einander in gewissen Gegensätzen stehende Formen, d.i. als ein erdiges (starres), ein wässriges (tropfbar flüssiges), ein luftiges (elastisch-flüssiges) und ein feuriges (elektro-chemisch sich verwandelndes). Dem Empedokles selbst war es klar, daß der Aether die Entstehung der Welt bedingt (...). Daher wurden ihm diese vier Elemente mythische Wesen, die er mit Götternamen benannte, das Feuer Zeus, die Erde Here, die Luft Aidoneus, das Wasser Nestis. - Fassen wir also diese Lehre in diesem Sinne auf, so werden wir, wie in den meisten Naturanschauungen des Menschengeistes, eine tiefe Bedeutung nicht verkennen dürfen...148
Carus1 Darstellung des Erdlebens folgt in etwa dieser Elementenlehre: Die Briefe VI und VII handeln von der Erdentstehung und der Physiognomie der Erdoberfläche; die Bildungsgeschichte der Erde gliedert Carus gemäß dem biblischen Schöpfungsmythos in sieben 146 BEL, 48. 147 BEL, 146. 148 BEL, 124 f.
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Perioden. Der achte Brief handelt vom Wasser, die beiden folgenden haben Luft, Wind und Wolken zum Gegenstand. Die letzten zwei Briefe handeln von Feuererscheinungen, Elektrizität in der Atmosphäre und Erdmagnetismus. Die Mythologie gibt solcherart den Rahmen an, in dem Ergebnisse der exakten Naturwissenschaft verarbeitet und spekulativ gedeutet werden. Carus greift in den Erdlebenbriefen verschiedentlich auf Märchen und Mythen zurück, überträgt sie in die "Sprache der wissenschaftlichen Betrachtung"149 und interpretiert sie im Sinne der eigenen Naturphilosophie.150 Die "geheimnisvolle Weisheit"151 dieser Erzählungen wird gegen "einseitige, fälschlich sogenannte Aufklärer"152 verteidigt. Mythische Welterfahrung erscheint so als Folie der empirisch-philosophischen Naturerkenntnis: Dem sympathetischpartizipativen Naturwissen - für Carus beispielhaft in Goethes Makarien-Dichtung dargestellt - entspricht der "Geist philosophischer Forscher", die "auf nicht minder tiefsinnige, aber durchaus bewußte und klarere Weise"153 die Natur erfassen. Eine solche Wissenschaft, die sich immer "an der Schwelle undurchdringlicher Geheimnisse"154 weiß, bedarf der Poesie, um ihren Gegenstand zu erfassen. Zahlreiche Zitate von Goethe, Schiller und Dante durchziehen die Erdlebenbriefe; wissenschaftliche Beschreibung und anschauliche Schilderung, diskursive Rede und poetische Sprechweise wechseln. Abstrakte philosophische Reflexionen werden poetisch-überhöhend reformuliert und münden in die feierliche Anpreisung des Naturlebens. Als Beispiel sei eine Passage zitiert, mit der Carus seine Überlegungen über die Kugelgestalt als Grundform alles Natürlichen abschließt: Klingt es denn aber nicht wirklich wie eine wunderbare Mythe, wenn man erzählt: es schwebt durch die Luft eine krystallhelle Kugel des reinsten tropfbar Flüssigen; in ihr waltet ein geheimer Zug zur festen Gestaltung, welcher bestrebt ist, die geometrisch elementaren Theilungen der Kugel entschieden zu verwirklichen. So lange elektrische Spannung zwischen verschiedenen Theilen des Planetensystems, welche wir Wärme nennen, diese Wasserkugel in höherem Grade durchdringt, gelingt es ihr nicht, ihr Streben zu individueller Bildung zu befriedigen, sinkt dagegen jene Spannung bis auf einen gewissen Grad herab, so löst sich auch jenes Band des Allebens einigermaßen, und das Einzelleben gewinnt Kraft sich hervorzuheben. Alsdann ist es, wo die geheimnisvollen Wirkungen erwachsen, das Maß der Kugel, nämlich einer ihrer größten Kreise, reißt die nun unbeweglich d.i, starr werdende Wassermasse der Kugel in seine Ebene, und in dieser 149 150 151 152 153 154
BEL, 83. Vgl. BEL 37, 43, 83, 110, 126, 199,249,251. BEL, 249. BEL, 39. BEL, 82. BEL, 294.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" Kreisfläche ordnet wieder das ihr selbst einwohnende Maß d.i. der Halbmesser (...) das Erstarrende nach der Richtung des Sechsecks. So geschieht es denn höchst wunderbar, daß Das, was vor kurzem als helle und flüssige Wasserkugel in der Luft schwebte, nun durch Kälte kristallisiert und plötzlich als fester sechsstraliger Wasserstern weiterschwebt. Gewiß, es ist von der äußersten Wichtigkeit, solche einfache Vorgänge mit aller Kraft des Geistes und anhaltend zu betrachten; denn wie Plato einmal gar bedeutungsvoll sagt: daß alle Philosophie anfange mit dem Bewundern, d.i. mit dem Ergriffensein des Menschen von dem Wunderbaren im großen Räthsel der Welt und des menschlichen Daseins, so fangt auch alle philosophische Naturforschung nothwendig an mit der tiefen Empfindung des Wunderbaren im einfachsten Vorgange des Lebens, und gerade durch dieses bewundernde Gefühl, durch diese Ehrfurcht vor dem Mysterium in den einfachsten primitiven Erscheinungen unseres eigenen innersten Lebens, entsteht dann die Liebe, die uns zur Erforschung immer neuerer Seiten des unendlichen Lebens der Welt hinzieht...155
Hauptcharakteristikum dieser poetischen Wissenschaft ist der wiederholte Hinweis auf das "Wunderbare" und "Geheimnisvolle" der über weite Strecken eher nüchtern und sachlich dargestellten Zusammenhänge des Naturlebens. Von den "geheimnisvollen Verhältnissen"156 des Sonnensystems mit den "wunderbar gepaarten (...) Sonnen"157 und der "geheimnisvollen Bewegung zweier oder mehrerer (...) Sterne umeinander"158 über das "wunderbare Phänomen des Regenbogens"159 und die "wunderbare(n) Inhaltstheile der Luft"160 bis hin zu den "Wunder(n) des Oceans"161 mit seinen "geheimnisvollen Strömungen"162 allenthalben findet Carus "ungeheure Naturvorgänge"163, "Mysterien"164, "wunderbare Geheimnisse"165. Das spezifische Verhältnis von poetisch-mystischer Naturerfahrung und wissenschaftlicher Naturerkenntnis in den Erdlebenbriefen läßt sich an einem konkreten sprachlichen Beispiel erläutern: an der Verwendung des naturmystischen Topos von der "Sprache" bzw. der "Schrift der Natur". Zwei Vergleichsbeispiele - die romantische Aktualisierung dieser Formel bei Novalis und ihr rein rhetorischer Gebrauch bei Justus Liebig seien vorab skizziert; sie bezeichnen die Koordinaten, zwischen denen Carus' Auffassung des Topos anzusiedeln ist. Die je spezifische Art, in der Novalis, Carus und Liebig auf die Wendung von der "Sprache der 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165
BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL, BEL,
45 f. 82. 73. 75. 224. 250. 192. 180. 134. 249. 48.
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Natur" zurückgreifen, läßt sich in dieser Abfolge zugleich als rudimentäre Geschichte des Topos lesen, die den Wandel von der spekulativen Naturphilosophie zur empirischen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiegelt.166 In Anlehnung an die paracelsische Signaturenlehre und die Böhmesche Mystik formuliert Novalis eine semiotische Philosophie der Natur: "Der Mensch spricht nicht allein - auch das Universum spricht alles spricht - unendliche Sprachen. / Lehre von den Signaturen."167 Der Kosmos wird hier als Text, als riesiges Gewebe von Zeichen aufgefaßt, deren Bedeutung nur der Eingeweihte, der Magier oder der Poet, entschlüsseln kann. Die Überzeugung von der Sprachfähigkeit und Ausdruckskraft der Naturerscheinungen gründet in der Lehre von den universalen Analogien und Korrespondenzen, die Außen und Innen, Natur und Geist, Zeichen und Bezeichnetes miteinander verbinden. Der göttliche Geist entläßt die Natur als Chiffre seines Wesens: "MAGIE, (mystische Sprachlehre]). Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten (Eine der Grundideen der Kabbalistik.) (...) Wechselrepräsentationslehre des Universums. Emanationslehre."168 Entscheidend ist der Glaube an die naturphilosophische Wahrheit dieses Bildes. Die Formel von der Sprache der Natur ist für Novalis keine Metapher; die Natur selbst ist metaphorisch oder symbolisch: "Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes - Ein symbolisches Bild desselben."169 Bedenkt man die feste Allianz des Topos von der "Sprache der Natur" mit mystischem Gedankengut in der Romantik, so erscheint es erstaunlich, daß ein moderner Naturwissenschaftler wie Justus Liebig von dieser Formel ausgiebig Gebrauch macht. Allerdings liegt es auf der Hand, daß Liebig die Metapher im Kontext einer allgemeinverständlichen Darstellung der chemischen Wissenschaft rein rhetorisch benutzt und mit einer radikal anderen Bedeutung versieht. In Liebigs Rede von der "chemischen Sprache der Erscheinungen"170 verliert diese Formel jegliche metaphysische Konnotation: "Wir [die Chemiker, JMT] studieren die Eigenschaften der Körper, die Veränderungen, die sie in Berührung 166 Dieser Wandel ist in gewisser Weise die Wiederholung der von Dietrich Böhler untersuchten "konstruktivistisch-szientistischen Umdeutung des Topos vom Buch der Natur" durch Cusanus und Galilei (vgl. Böhler 1981). Zum Topos von der "Sprache" bzw. dem "Buch der Natur" allgemein vgl. Rothacker 1979; Soerensen 1963, 141-151; Foucault 1974, 46-77; Zimmermann 1978; Blumenberg 1986; Böhme 1988, 38-66, 179-211. 167 Novalis 1960 ff./III, 267 f. 168 Novalis 1960 ff./III, 266. 169 Novalis 1960 ff./II, 600. 170 Liebig 1844, 12.
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mit ändern erleiden. Alle Beobachtungen zusammengenommen bilden eine Sprache; jede Eigenschaft, jede Veränderung die wir an den Körpern wahrnehmen, ist ein Wort in dieser Sprache."171 Hier steht kein sprachmetaphysisches Konzept einer Korrespondenz von Innen und Außen mehr im Hintergrund, sondern die Auffassung der Sprache als einer dem Menschen verfügbaren, gesetzmäßigen Kombinatorik: "In den Vorlesungen lernen wir das Alphabet, in den Laboratorien den Gebrauch dieser Zeichen; der Schüler erwerbe sich darin Fertigkeit im Lesen der Sprache der Erscheinungen, er lernt die Regeln der Combinationen, so wie Gewandtheit und die Gelegenheit, sie in Anwendung zu bringen."172 Nur der über chemische Kenntnisse verfügende Wissenschaftler kann "in dem mit unbekannten Chiffern geschriebenen Buche lesen"173. Carus1 Verwendungsweise des Topos von der "Sprache" bzw. der "Schrift der Natur" bewegt sich zwischen inhaltlicher Aktualisierung im Sinne der naturmystisch-romantischen Tradition einerseits und ästhetisch-rhetorischem Gebrauch als Metapher oder Vergleich andererseits. Grundsätzlich begreift Carus den Bild- oder Sprachcharakter der Natur metaphysisch: Die Natur gilt ihm als "Bild eines bestimmten [d.h. durch die Idee individualisierten, JMT] Seienden"174, in ihr "spiegelt" sich die "Welt der Gottesgedanken"175; die Naturerscheinungen bezeichnen einen "geheimnisvollen Sinn"176; die Welt ist "Symbol des höchsten ewigen Mysteriums der Gottheit" und "lebendige Offenbarung fort und fortwirkender göttlicher Ideen"177; der philosophische Naturforscher bemüht sich um "Entzifferung" der "wunderbaren Geheimnisse"178 der Natur. Das physiognomische Denken, das in Kapitel I als Grundzug der Carusschen Wissenschaft herausgestrichen wurde, hängt eng mit der mystischen Natursprachenlehre zusammen: Hier wird ja das Außen als Zeichen des Innen, die Gestalt als Ausdruck des geistigen Urbildes gefaßt. In den Erdlebenbriefen geht es Carus vor allem um die Morphologie der Erdoberfläche, d.h. um die "Bedeutungen"179 der Gebirgsformen. Er verweist hier auf die Landschaftsbriefe, wo der Gedanke einer Physiognomik der Gebirge erstmals entwickelt wurde: 171 172 173 174 175 176 177 178 179
Liebig 1844, 11. Liebig 1844, 15. Liebig 1844, 13. BEL, 12. BEL, 16. BEL, 127. BEL, 31. BEL, 48; ebenso in BEL, 249. BEL, 166.
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Wie redend und mächtig spricht nicht die Geschichte der Gebirge zu uns, wie erhaben stellt sie nicht den Menschen unmittelbar als Göttliches in Beziehung zu Gott, indem sie jede vergängliche Eitelkeit seines irdischen Daseins gleichsam mit einemmale vernichtet, und wie deutlich spricht sich diese Geschichte in gewissen Lagerungen und Bergformen aus, daß selbst dem Nichtwissenden dadurch die Ahnung einer solchen Geschichte aufgehen muß...180
Aus der Gestalt spricht die ideal-reale Genese; die "Eigenthümlichkeit seiner Zeichnung, Zerklüftung und Färbung" vermittelt eine "Ahnung von der Geschichte eines Berges"181. Diese Physiognomik, die das Äußere als Ausdruck des idealgesetzlichen Werdens interpretiert, bedarf aber auch der exakten Naturwissenschaft. Der Forscher, der nur die gewordene Erde wahrnehmen kann, blickt auf die Urvorgänge im Erdleben "wie durch einen Spiegel, in ein dunkles Wort"182. Erst die Erkenntnisse der jüngeren Chemie - etwa Davys Entdeckung der metallischen Grundlage der Alkalien und Erden geben einigen Aufschluß über die Bildungsgeschichte der Erde.183 Auch der geologische Wissensbestand der Zeit wird in die physiognomische Lehre einbezogen. Carus vertritt hier eine gemäßigte Variante der neueren vulkanischen Theorie der Gebirgsentstehung, die sich seit Anfang des Jahrhunderts gegen die neptunistische Hypothese, die sämtliche Gesteine als Ablagerungen im Wasser erklärte, durchgesetzt hatte. Der Wissenschaftler weiß nun - so Carus - die Form der Gebirge und die Schichtung der Gesteine als "Zeichen ungeheurer Revolutionen"184 zu lesen. Den Ausdruckswert der Erdphysiognomie deutet Carus unter Rückgriff auf die relative Bestimmung der Zeitalter der Gebirge durch Ehe de Beaumont. Ebenso beruft sich Carus auf die Versteinerungskunde, deren Wert für die Geologie erst in den 20er Jahren v.a. von Leopold von Buch entdeckt worden war. Das "Studium der unter unendlich verschiedenen Verhältnissen aufgefundenen Fossilen organischer Überreste" sei besonders wichtig: "Wir haben in ihnen gleichsam die einzelnen Lettern erkannt, in welchen die Annalen der spätem Schöpfungsjahre der Erde abgedruckt sind."185 Das "Buch der Natur" entdeckt hier dem empirischen Wissenschaftler seine Realgeschichte. Die Rede von den "Worten", "Zeichen" oder "Lettern" der Natur verweist in diesem Zusammenhang nicht auf sympathetische Kommunikation mit der Natur, sondern bezieht sich auf die Daten geologischer 180 181 182 183 184 185
BLM BEL, BEL, Ebd. BEL, BEL,
109; BEL, 146. 165. 128. 138. 172; ebenso in BEL, 136.
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Forschung. Auch in solchen eher rhetorischen Verwendungsweisen des Topos erhält sich allerdings der Bezug auf seine naturphilosophische Deutung: Die werdende Natur bleibt für denjenigen ein "Buch mit sieben Siegeln"186, der nicht zu der naturphilosophischen Vorstellung der Entstehung alles Gestalthaften aus dem Ideal-Einfachen, Urbildlichen vordringt. Die geologischen und paläontologischen Erkenntnisse der Realgeschichte der Erde werden metaphysisch gewendet: "Alles Seiende" - so betont Carus nochmals im Zusammenhang der Diskussion geognostischer Hypothesen - müsse als "Darbildung göttlichen Urwesens"187 begriffen werden. Wissenschaftlich gesehen war diese romantisch-idealistisch geprägte Naturdarstellung bereits überholt. Sie gibt - wie Carus selbst betont - nur einen "Auszug aus alten, der Wissenschaft längst bekannten Ergebnissen"188, die überdies von der spekulativen Naturdeutung dominiert werden. Man kann daher mit Walter Gebhard die Erdlebenbriefe als wissenschaftlich verbrämte Mystifikation verurteilen: Gebhard findet in Carus' Schriften eine "polaristische, fichteanische, universal-romantische Formelhaftigkeit der Diktion"189 und geißelt den "leeren Verbalismus dieser axiologischen Aufstockungen des Unbegriffenen"190. Berna Kirchner dagegen läßt die Erdlebenbriefe als primär künstlerischen Ausdruck einer existentiellen Erfahrung der Rätselhaftigkeit der Welt gelten: Sie findet hier "innige und schöne Worte für das Verhältnis zur Natur", "gültige und einmalige Formulierungen" und insgesamt eine "höhere poetische Sehweise", die zu den "tiefsten Geheimnissen der Natur"191 vorstößt. Allerdings war das zeitgenössische Publikum wohl nicht dieser Auffassung: Zwar gab es vereinzelt enthusiastische Reaktionen, insgesamt aber fanden die Erdlebenbriefe keinen allzu großen Anklang.192 Ungleich erfolgreicher war Humboldts Kosmos, in dem- wie Carus sagt- "dieselben Aufgaben (...) mit so viel größerer Ausführlichkeit und Vollständigkeit"193 bearbeitet werden. Der Kosmos war tatsächlich - wenn auch nur kurz - ein Kompendium des astronomischen, geologischen, phlanzengeographischen und meteorologischen Wissensbestandes der Zeit. In der Hauptsache jedoch war er, so urteilten
186 187 188 189 190 191 192 193
BEL, 135. BEL, 140. BEL, 275. Gebhard 1984,61. Gebhard 1984, 62. Kirchner 1962, 54 f. Vgl. LuD II, 337. LuD II, 410.
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schon die Zeitgenossen,194 ein literarischer Erfolg. Im Gegensatz zu der oft etwas umständlichen Diktion der Erdlebenbriefe besticht Humboldts Kosmos durch eine ausgefeilt-elegante Sprache. Die 'poetische1 Qualität dieser Naturschilderung gründet vor allem in der plastischen und anschaulichen Darstellungsweise; der bei Carus so häufige Hinweis auf die "wunderbaren" und "geheimnisvollen" Zusammenhänge des Naturlebens findet sich dagegen selten. Carus' Urteil über den Kosmos fällt denn auch eher negativ aus: Zwar bescheinigt er Humboldt "außerordentliche Belesenheit, (...) große Umsicht und (...) Peinlichkeit der Arbeit"; zugleich aber vermißt er "eine gewisse Begeisterung in der Auffassung des Ganzen" und "jene gesunde Andacht der Seele (...), die auch den Leser fortreißt in die Tiefen des Materials".195 Das zeitgenössische Publikum empfand allerdings die etwas weniger 'inspirierte' Naturdarstellung Humboldts als wesentlich mitreißender. Nicht zuletzt scheint ein gewisser Erfolgsneid Carus1 Urteil mitbestimmt zu haben: Die Kritik am Kosmos gipfelt in der Bemerkung, dieses Buch werde sicherlich "weit mehr gekauft als gelesen"196.
4. Poesie und Prosa, Fiktion und Realität: "Erdlebenkunst" im Gattungskontext Betrachtet man die Werke, die Carus als Beispiele der geforderten Synthese von Poesie und Wissenschaft nennt, so fällt auf, daß sie unterschiedlichen literarischen Gattungen angehören. Alexander von Humboldts Reisebeschreibungen und Sir Humphry Davys Consolations in Travel, Goethes "orphische" Lyrik und Passagen aus dem Faust, die eigenen Erdlebenbriefe und die wissenschaftlich-naturphilosophischen Arbeiten von Hausmann, Hugi und Nees von Esenbeck197 - sie alle firmieren unter der Kategorie der poetisch-wissenschaftlichen Naturdarstellung. Die Grenzen zwischen Lyrik und Drama, Poesie und Prosa, fiktiver Dichtung und sachgebundener Literatur erscheinen aus dieser Perspektive eingeebnet. Die Vernachlässigung von im engeren Sinn poetologischen Fragen ist bezeichnend - weniger für den (bei Carus allerdings vorauszusetzenden) Mangel an Interesse und Kompetenz, als vielmehr für den historischen Ort dieser Kunstkonzeption. In dem 194 195 196 197
Passow 1851, 205; vgl. auch Schnabel 1950, 205; Schnabel 1959, 26 f. LuD III, 200. LuD III, 201. Auf Davy, Hugi und Hausmann verweist Carus in BEL, 7, 117.
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literarischen Programm der Verbindung von Kunst und Wissenschaft werden Gattungsfragen deshalb irrelevant, weil in zeittypischer Weise die inhaltliche Kunstbetrachtung gegenüber dem formalen Interesse dominiert. Der Focus wird hier auf den Sach- und Wahrheitsgehalt des Kunstwerks gerichtet und die an den konkreten Stoff gebundene Prosa mit genuin poetischen Formen auf eine Stufe gestellt. Grundsätzlich begreift Carus die Dichtung - so belegt Hauptmann in seiner Untersuchung von Carus' Lebenserinnerungen - als "Aussage ethischer und lebenskünstlerischer Bildungswerte"198 und weniger als für sich bestehende Entäußerung des künstlerischen Subjekts. Zwar ist Carus1 Kunstanschauung viel zu sehr von der idealistischen Autonomieästhetik geprägt, als daß er nicht immer wieder gegen die "menschliche"199 und "didaktische"200, politische, gesellschaftliche und materielle Indienstnahme der Kunst polemisieren würde. Vor allem unter dem Eindruck romantischer Poesie betont Carus die Eigengesetzlichkeit der Kunst. Novalis' Heinrich von Ofterdingen etwa vermittelt ihm mit der Einsicht in "ein höchstes Incommensurables im Wesen der Poesie" auch die Überzeugung, daß "Kunst, wahre Kunst (...) als Schaffen des Genius"201 zu begreifen sei. Trotzdem dominiert bei Carus eine Haltung, die nicht die schöpferische Eigenpotenz von Kunst, sondern die Gesinnung des Dichters und den Sach- und Wahrheitsgehalt des Kunstwerks würdigt. Diese Kunstauffassung ermöglicht es ihm umgekehrt, die Wissenschaft zur Poesie zu erheben. In der Untersuchung der Erdlebenbriefe hatte sich gezeigt, daß die angestrebte künstlerische Überhöhung vor allem durch den "poetischen Geist"202, d.h. letztlich durch die Art der Naturauffassung, geleistet wurde. "Reine Naturerkenntnis", so lautet Carus' Grundsatz, wird, "kunstgemäß gestaltet, von selbst zur edelsten Poesie"203. Dem herabgeminderten formalen Anspruch auf "kunstgemäße" Gestaltung korreliert der unmittelbare Zusammenschluß von "reiner Naturerkenntnis" und Poesie. Die Würde des Gegenstandes selbst und die Höhe der Auffassung, eine gewisse Verstärkung des Gefühlsmoments und die lebendige Darstellung - dies sind die Kriterien, die wissenschaftliche Literatur in den Kreis der Kunst ziehen. Diese Poesie ist nicht autonom, sie kann und soll es nicht sein. "Ihre eigentliche Bedeutung wird immer 198 199 200 201 202 203
Hauptmann 1953, 53. BLM, 85. BLM, 112. LuD 1,317. LuD II, 337. BLM, 117 (Hervorhebung von JMT).
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mehr die der Anregung als die der Befriedigung bleiben. "204 Das erklärte Ziel der Erdlebenbriefe ist nicht selbstgenügsamer ästhetischer Genuß, sondern Anregung des Lesers zum eigenen Naturstudium und Erhöhung seiner Naturauffassung. Die mit Carus' Syntheseprogramm verbundene Nobilitierung der sachgebundenen Prosa spiegelt die für die Restaurationszeit typische Annäherung von Dichtung und Zweckliteratur. Auch die Poetiken dieses Zeitraumes - so hat Georg Jäger gezeigt205 - verabschieden die exklusive Trinitätsspekulation der idealistischen Ästhetik und versuchen, auf undogmatische Weise der tatsächlichen Produktion ihrer Tage gerecht zu werden: Nicht nur Lyrik, Epik und Dramatik, auch eine Vielzahl von Mischgattungen, kleinen poetischen Formen und Ergänzungsklassen werden in das offene System einbezogen; die Didaktik behauptet einen festen Platz in der Poetik, Prosagattungen, wie Natur- und Kunstbeschreibung, Geschichtsdarstellung und Roman, treten theoretisch und praktisch in nahe Beziehung zu den poetischen Gattungen. Stärker noch betont Friedrich Sengle die großzügige Handhabung literarischer Grenzfragen in der Biedermeierzeit: Es gebe "kein entschiedenes Gegenüber von 'rein vehikulären' und 'rein ästhetischen' Kunstformen"206 und "keine scharfen Unterschiede zwischen Erzählprosa und Zweckprosa"207; nicht nur bei den Jungdeutschen dominiere die "Absage an den Kultus der Form"208, vielmehr zeige sich allgemein "eine ausgesprochene Neigung zur ästhetischen Heteronomie"209. Die Aufwertung der Rhetorik und die damit verbundene Annäherung von reiner Dichtung und Zweckliteratur bilden das gattungstheoretische und literarhistorische Umfeld, in dem sich Carus' Programm der Synthese von Kunst und Wissenschaft entfaltet. Dies zeigt sich vor allem an der Tatsache, daß Carus grundsätzlich die prosaischen Zweckformen favorisiert. Die Idee der Erdlebenkunst steht im Kontext einer allgemeinen Aufwertung derjenigen Kunstformen, die einen konkreten, gegebenen Stoff verarbeiten: Neben der poetisch-wissenschaftlichen Naturdarstellung sind für Carus Biographien, Memoiren und Autobiographien, Reisebeschreibungen und Geschichtsdarstellungen die zeitgemäßen und individuell bevorzugten Genres.
204 205 206 207 208 209
BEL, 48. Jäger 1970, passim. Sengle 1971-80/1, 435. Ebd., 281. Ebd., 89. Sengle 1971-80/11, 83.
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"Wissenschaft in poetischer Verklärung" ...so wird auch der, welchem das höchste Studium des Menschen, nämlich die Kunst rechter und edler Lebensführung vor allem am Herzen liegt, nie genug Lebensgeschichten (...) verfolgen und vergleichen können, um dadurch und daran in ebenjener Lebenskunst sich selbst immer mehr auszubilden und zu vervollkommnen (...). Nach alle diesem darf man wol sagen, es sei vorzüglich jenem in neuerer Zeit immer allgemeiner hervortretenden Drange nach scharfer, ja stets weiter strebender Erkenntniß zuzuschreiben, daß, je mehr man überhaupt zu klarerm Selbstbewußtsein heranwuchs, immer auch um so mehr die genaue Selbstschau, und infolgedessen die ausführlichere Beschäftigung mit Biographien und namentlich mit Aufzeichungen des eigenen Lebens vorherrschend wurde.210
Indem Carus der Kunst die Aufgabe zuweist, den Leser zur menschlichen, natürlichen, geschichtlichen Realität hinzuführen, kommt er nicht nur zur Konzeption einer poetisch-wissenschaftlichen Naturdarstellung, sondern zu einer allgemeinen Hochbewertung nicht-fiktionaler Literatur: Wird es mir doch seit einiger Zeit mehr und mehr deutlich, daß, was mir in Betrachtung landschaftlicher Natur begegnet, auch vollständig so im Gewahrwerden von Geschichte und Leben sich ereignet. (...) Menschheitleben und Geschichte (obgleich jeder ein Stück davon ist) wird nämlich doch gewöhnlich der Mensch erst spät gewahr; Dichtungen und Kunstwerke, in denen ein erdichtetes Menschenleben abgespiegelt wird, ziehen ihn anfangs viel mehr an, und zwar nicht vergebens! denn unvermerkt wird der Sinn dadurch geöffnet und der Geist über sich und die Welt aufgeklärt. Allein eben indem sich nun so die Erkenntniß immer weiter entwickelt, schließt sich der Mensch auch wieder mehr an die Natur an, er lernt das Leben, die Geschichte (...) in ihrem innern, wunderbaren Zusammenhange erkennen, er dringt hindurch zur Idee der Schönheit, welche den Kern alles Lebens ausmacht, und wird endlich so durch Lebens- und Geschichtsbetrachtung tiefer angeregt und inniger gerühret, als irgendeine Dichtung ihn rühren könnte, denn von nun an erst erkennt er in Wahrheit den Unterschied zwischen Erdichtetem und Wirklichem, gleich einem Unterschiede zwischen Menschlichem und Göttlichem. Auf solche Weise ist mir denn auch verständlich geworden (was mich oft selbst überrascht hatte) ein mir jetzt aufgegangenes so viel lebendigeres Interesse für wahrhaft Historisches (gegenwärtiges wie vergangenes und zwar Interesse der ganzen Seele) als für irgendein, wenn auch höchst vollkommen Erdichtetes. So habe ich neuerlich manche Reisen, manches Geschichtliche, z.B. Raumer's Hohenstaufen, mit einer solchen Lust und Rührung mir angeeignet, zu welcher jetzt schwerlich irgendein blos Poetisches mich erregen könnte.211
Die Gestaltung des Faktischen ist der Fiktion überlegen. Dieser Kunstauffassung liegt allerdings - so zeigt sich deutlich - ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis zugrunde: Geschichte als Ideologischer Ereigniszusammenhang, Natur als organisches Ganzes, der Mensch als das nach der ihm einwohnenden Idee sich entwickelnde Individuum. Die sinnerfüllte Wirklichkeit und ihre literarische Gestaltung wird der autonomen Kunstwelt vor- und übergeordnet. 210 LuD I, XII f. (Hervorhebung getilgt, JMT). 211 LUD II, 249.
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In Kapitel III.2. wurde gezeigt, wie sich das Programm der Verbindung von Kunst und Wissenschaft in Auseinandersetzung mit der klassischen und romantischen Ästhetik formiert. Zugleich stellt dieses Programm - so läßt sich nun ergänzen - einen biedermeierlichen Kompromiß dar: Klassik und Romantik sind keine dogmatisch vertretenen Alternativen mehr, sondern werden integriert und überwunden in einer Kunstbetrachtung, die das Wirkliche dem Fiktiven überordnet. Das Biedermeier gilt - keineswegs zu Unrecht - als nicht programmatische Richtung, in der auf theoretischem Gebiet "der Abbruch der 'Blütezeit' unverkennbar" ist.212 Vor der Folie dieses Epochenbildes erscheint Cams' Versuch, eine der eigenen Zeit gemäße, wissenschaftlich fundierte Kunst zu begründen, bedeutsam: Der Kompromißcharakter der biedermeierlichen Position wird hier in ein ausformuliertes Programm umgesetzt, in dem sich anschaulich-empirisches Naturdenken und geschichtsphilosophische Spekulation, idealistische und realistische Ansätze der Ästhetik, autonome und heteronome Bestimmungen der Kunst aneinander abarbeiten.
5. Dichter, Dilettanten, Literaten: Zum Sozialbild des Künstlers In der Besprechung der Landschaftsbriefe wurde ein Thema ausgespart, dem Carus einen ganzen Brief - den letzten - widmet: die Stellung von Kunst und Künstler in der Gesellschaft. Am Beispiel des Erdlebenkünstlers setzt sich Carus mit den ökonomischen und sozialen Bedingungen des Kunstschaffens im 19. Jahrhundert auseinander. Seine Diagnose der "konstitutionell-industriösen Zeit"213 vermerkt zwei Tendenzen: zum einen den Geltungsverlust der Kunst- sie ist "als solche (...) weder politisch, statistisch noch merkantilisch"214 und wird daher mißachtet; zum anderen die Kommerzialisierung der Kunst - für Carus bedeutet dies allerdings weniger die historisch bedingte Eingliederung der Kunst in ökonomische Prozesse, sondern eher das zunehmende Streben der einzelnen Künstler nach Geld und Ansehen, das sie zu marktgängigen Produktionen verführt. Carus' Künstlerbild profiliert sich daher maßgeblich durch die Opposition gegen "Literaten", "Tagesschriftsteller" und "Lohndichter". Zugleich muß die soziale und ökonomische 212 Sengle 1971-80/1, 84. 213 G II, 723. 214 BLM, 161.
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Positionsbeschreibung des Künstlers vor dem Hintergrund von Carus' eigenem Lebensentwurf und dem Status, den er der Kunst darin zuweist, gesehen werden. Der Zusammenhäng der Erdlebenkunst-Konzeption mit dem propagierten Sozialbild des Künstlers, das sich wiederum aus der Bedeutung des eigenen Dilettantismus, dem Vorbild des Dichters Goethe und der Abwehr einer kommerzialisierten Kunst speist - dieser Zusammenhang soll im folgenden dargelegt werden. Ausgangspunkt sei hierbei Carus1 Deutung seines Dilettantismus. Carus hat sich zeit seines Lebens schreibend und malend betätigt. Während er verschiedentlich über Schwierigkeiten bei der sprachlichen Gestaltung seiner autobiographischen und wissenschaftlich-poetischen Werke klagt und zugibt, daß ihm "eine gewisse Leichtigkeit des Stils"215 abgeht, scheint er in der Malerei technische Schwierigkeiten kaum gekannt zu haben. Qualität wie Quantität seiner Bildproduktion überragen jedenfalls die zeitüblichen Standards laienhafter Kunstübung bei weitem. Dennoch hat Carus die Künstlerlaufbahn nie ernstlich erwogen: Einestheils mochte wol der gewaltige Vorschlag, den das Wissen als Wissenschaft immer in meinem Geiste gehabt hat, davon die Ursache sein, und anderntheils wäre mir auch, gerade bei einer feinen Verehrung für die Künste, es immer etwas Widerstreitendes gewesen, wenn ich meinen materiellen Lebensunterhalt gerade ihnen hätte verdanken müssen. Poesie und Kunst waren mir immer als etwas so Reines und Ätherisches erschienen, daß es mir ganz fern lag, daran denken zu dürfen, man könne davon wol auch sich nähren und kleiden.216
Carus' Entscheidung für eine nicht professionelle Kunstübung geht also auf das Konzept der autonomen, nicht-funktionalen Kunst zurück. Die bürgerliche Berufswelt ist von der Sphäre der Kunst prinzipiell geschieden und erst aus dieser Entgegensetzung erfährt Carus' Dilettantismus seine eigentliche Bestimmung: Die Unfreiheit, Beschränktheit und Einseitigkeit des bürgerlichen Daseins verlangt nach Entlastung durch Kunst - so lautet Carus' sozialpsychologische Deutung des Dilettantismus.217 Zwar will er die ärztliche Tätigkeit selbst als 215 C-M, 72; vgl. LuD I, 323, LuD II, 175. 216 LuD 1,53. 217 In seiner Untersuchung des Gemäldes Malerstube im Mondschein (1826) gibt Karlheinz Nowald eine Analyse von Carus' Kunsttätigkeit. Er deutet Carus' Melancholie als Ausdruck der politischen Ohnmacht der bürgerlichen Intelligenz, die u.a. zur Flucht in die Kunst führt. (Nowald 1973, 12-25). - Ausgehend von der Frage nach den sozialen Motiven des Dilettantismus' im frühen 19. Jahrhundert kommt Wolfgang Kemp zum selben Ergebnis. Unter Rückgriff auf Carus1 Zeugnisse und Nowalds Interpretation entwirft Kemp eine historische Theorie des Dilettantismus, derzufolge die laienhafte Kunstpraxis als psychologische Entlastung und symbolische Erfüllung des bürgerlichen Lebensideals erscheint (Kemp 1979, 81 f., 93-96). Zu den historischen, sozialen, ästhetischen und psychologischen Aspekten der Dilettantismusproblematik im 18. und 19.
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"Heilkunst"218 im Sinne der ursprünglichen Einheit von Arztberuf und Priestertum verstanden wissen. Dennoch herrscht bei genauerem Hinsehen das Leiden an den Zwängen des bürgerlichen Erwerbslebens vor. Schon zu Beginn seiner Karriere stellt Carus fest, daß der Arzt "gewissermaßen auf seine eigene menschliche Freiheit Verzicht leisten muß (...) wir hören bis auf einen gewissen Grad auf, uns unsere Lebensordnung selbst vorzuschreiben, wir können in allem unterbrochen, überall gestört werden"219. Das Gefühl der Freiheitsbeschränkung verstärkt sich noch durch die Ende 1814 angetretene Professur für Gynäkologie, verbunden mit der Direktion des Dresdner Entbindungsinstitutes, eine "Stellung, die übrigens mich vielfach beengte und durch ihre große Verantwortlichkeit doch auch eigenthümlich beschränkte, sodaß denn natürlich jener schon früher erwähnte tiefmelancholische Zug meines Inneren aus diesen Verhältnissen noch mannichfache trübe Nahrung saugen konnte und mußte"220. Auch in den dreißiger und vierziger Jahren klagt der mittlerweile zum sächsischen Hofarzt Arrivierte: "Fehlte es doch außerdem nicht, daß zuweilen das Einerlei des Geschäftslebens, wie es meine zu jener Zeit sehr ausgebreitete Praxis mit sich brachte, mir wieder, wie in alten Tagen, manche schwarze Stunde machte."221 Neben Negativerfahrungen politischer oder individueller Art ist vor allem die einseitige und unbefriedigende berufliche Existenz Quelle der Melancholie, die nach "Ableitung in der Kunst"222 verlangt. Carus selbst deutet sein Kunstschaffen als Kompensation: Überhaupt! was hätte mir denn den frischen freien Herzschlag des Lebens erhalten sollen, unter so viel schweren praktischen Lebensaufgaben, welche mühselig genug auf mir lasteten, wenn es nicht, nebst dem reinen Äther wissenschaftlichen Strebens, das Element der Kunst und Poesie gewesen wäre, das mir nie ganz ausging, so karg mir oft die Zeit zugemessen blieb!223
Der Dilettantismus schafft ein Korrelat zur außerästhetischen des Bürgers; er dient ihr gleichzeitig als Legitimation psychologische Entlastung. Gerade die gesteigerte berufliche drängt Carus vermehrt zum Kunstschaffen; die Melancholie
218 219 220 221 222 223
Existenz und als Tätigkeit wird zur
Jahrhundert vgl. auch Vaget 1970, 131-158; zum Verhältnis von Kunsterfahrung und bürgerlicher Lebensorganisation bei Carus vgl. Apel 1991. LuD I, 85; vgl. LuD I, 183; LuD III, 101 ff. LuD I, 89. LuDI, 154. LuD II, 340. LuD II, 334. LuD II, 251; vgl. G I, 33.
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Quelle der Inspiration, die einseitig praktische Tätigkeit zur Ursache der Beschäftigung mit Kunst. Indeß immerfort (...) erscheint das Leben des Menschen aus Gegensätzen, ja oft genug aus Widersprüchen zusammengewoben, und ebendeshalb mag wohl auch hier gerade die nach einer Seite überschlagende Richtung eines unmittelbar thätigen Eingreifens ins wirkliche Leben schon Grund genug gewesen sein, die Seele zeitweise wieder in das gerade entgegengesetzte Element stiller und tiefer Betrachtung und Empfindung zu versenken.224
Grundsätzlich - nicht nur im eigenen Fall - gilt Carus das Bedürfnis des Bürgers nach Ausgleich und Entlastung als Motivation dilettantischen Kunstschaffens: "Daß unter Juristen so häufig ein poetisierender Dilettantismus bemerkt wird, konnte ich mir immer nur aus einer solchen unausbleiblichen Forderung des Gegensatzes in der menschlichen Seele zurechtlegen."225 Umgekehrt allerdings fungiert die praktische Tätigkeit als Regulativ der poetischen Tendenzen. "In dergleichen Reverien möchte sich der Geist nun zuweilen vielleicht wirklich zu tief versenkt haben, wäre ich nicht dann immer wieder zeitweise von scharfen, unmittelbar ins Leben eingreifenden Aufgaben gefaßt, und zu frischer Thätigkeit angespannt worden",226 so kommentiert Carus die Entstehung der Mondsage, eine seiner wenigen nicht wissenschaftlich motivierten poetischen Produktionen. Vordergründig stehen Carus1 eigene Kunstpraxis und ihre Herleitung im Widerspruch zu seiner - in Kapitel III.2. beschriebenen - Kunsttheorie. Tatsächlich hat Carus vorzugsweise jene eingestürzten Abteien, Leichensteine, Abendröten, Mondscheine und Winterbilder gemalt, die er in den Landschaftsbriefen als Ausdruck des Leidens an den Zeitumständen interpretiert und der angestrebten objektiven Erdlebenkunst gegenüberstellt. Cams' Deutung seines Kunstschaffens als Vergegenständlichung einer beruflich und gesellschaftlich bedingten Melancholie scheint seinem Plädoyer für eine klassisch-Goethesche Kunst zu widersprechen. Bei genauerem Hinsehen löst sich der Gegensatz zwischen der Begründung der eigenen Kunstproduktion und der theoretisch vertretenen Kunstanschauung auf: Beide verdanken sich demselben Harmoniestreben - das einmal auf die Totalität des Lebens, das andere Mal auf die Kunst an sich bezogen wird. In der Kunst soll sich eben jene "Genüge am Dasein"227 ausdrücken, die Carus auch im Leben zu erreichen versucht - mithilfe einer quasi-therapeutischen Ableitung seines Leidens im Kunstschaffen. 224 225 226 227
LuD I, 124. LuD III, 196. LuD II, 205. BEL, 3.
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Cams' Lebensentwurf basiert also auf einem Ausgleich der isolierten Existenzbereiche. Kunst und Wissenschaft sind der bürgerlichen Lebenspraxis entgegengesetzt; zugleich bedingen und regulieren sie einander. Oft allerdings empfindet und erkennt Carus das Problematische dieses Balanceaktes: "wie ich so halb in der realen Welt meiner Familie, meiner Schüler und Schülerinnen und meiner Kranken, und halb in der idealen Welt meiner literarischen und künstlerischen Bestrebungen lebte, manchmal das Incohärente beider oft schwer fühlend"228. Der Kontakt mit Künstlern und Forschern, die sich ausschließlich ihrem Fach widmen, erweckt daher wiederholt den Wunsch, auch nur eine einzige Richtung im Leben zu verfolgen.229 Für Carus, der sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen emporgearbeitet hatte und dessen Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung immer spürbar ist, war eine solche Entscheidung nicht möglich. So bleibt denn - seinem Lebensweg gemäß - das Ideal umfassender Tätigkeit und allseitiger Bildung: ...oft strebt mein ganzes Wesen gewaltsam in diesen Cirkel [der Kunst. JMT] hinein, das prosaische Leben zurückstoßend. Ich möchte diese Neigung oft hemmen, und doch dauert es mich, eine so schön sich erschließende Blume zu brechen. Nein! Ich will sie nicht brechen, und mein Ziel sei. zu gleichen den Bäumen Italiens: Früchte zu tragen und Blüten zugleich. Nicht mangelt mir die Erkenntniß, wie schwer es sei, ein solches Ziel zu erreichen, allein, wenn es wahr ist, daß nur dann der Mensch zum höchsten Ziel gelangt, wenn er das Schöne, das Gute und Wahre zugleich umfaßt, so fühle ich auch, daß mein Weg der Weg zu menschlicher Vollendung sein muß, und muthig schreite ich deshalb vorwärts.230
Die problematische Verbindung von bürgerlicher Berufspraxis und künstlerischem Streben wird also aufgehoben in der harmonisierenden Konzeption einer die verschiedenen Bereiche von Kunst, Beruf und Wissenschaft - das Schöne, Gute und Wahre - abdeckenden und ausgleichenden Lebensführung. Carus stellt der funktionellen Existenzform des Bürgers nicht etwa die identische Existenzweise des Künstlers gegenüber; beide gehen auf in dem Ideal einer allseitigen Selbstverwirklichung, die den ethisch aufgefaßten Arztberuf ebenso umgreift wie die (kompensatorische) Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft. Von diesem Lebensentwurf leitet Carus das Sozialbild des (Erdleben-) Künstlers ab. Ausgangspunkt ist auch hierbei die Auffassung, "daß das, was als Erzeugniß höchster, freier Geistesthätigkeit erscheint, nicht zugleich das Mittel sein müsse, dem Künstler den Rock auf die Schultern und den Braten auf den Tisch zu erwerben. Das Gemeine und das Hohe können sich nicht vereinigen, und müssen sie, so erhebt sich 228 LuD I, 160. 229 Vgl. LuD II, 227. 230 LuD I, 126.
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nicht das Gemeine zum Hohen, sondern das Hohe wird zum Gemeinen herabgezogen."231 Carus empfiehlt daher dem Künstler, einen bürgerlichen Brotberuf zu betreiben: "Warum soll der Künstler, dem ein Ziel vorschwebt, nach dem die gemeine Welt sich nicht umsieht, den alltäglichen Bedarf nicht durch irgend ein ganz alltägliches Treiben erwerben?"232 Auch für den Künstler gilt also die Trennung in 'soziale' und 'ästhetische1 Person; zwar ist der Künstler auch "Bürger dieser Welt"233, aber er soll es nicht als Künstler sein. Carus reagiert mit diesem Vorschlag zunächst auf die materielle Notwendigkeit der Existenzfristung, die auch für denjenigen Künstler besteht, der sich Carus' Vorstellungen gemäß in Bescheidenheit übt. Nicht zuletzt aber geht es ihm um die erzieherische und bildende Wirkung einer praktischen Erwerbstätigkeit: Ja ich behaupte: selbst dieser Kampf mit dem alltäglichen Leben (...) wird ihn innerlich kräftigen und wird ebenso seine gesammte menschliche Ausbildung vervollständigen, wie ein gesunder Körper nur durch gleichzeitige tüchtige Regsamkeit seiner niedern und höhern Organe als wahrhaft gesund erscheint.214
Dilettantismus und Künstlertum erscheinen so als nur graduell verschiedene Ausformungen desselben Lebensentwurfs einer allseitigen Bildung und umfassenden Tätigkeit. Dominiert beim dilettierenden Bürger die Entlastungs- und Legitimationsfunktion des Kunstschaffens, so wird für den Künstler umgekehrt die regulative Wirkung des Berufslebens angesetzt - wobei es nach Carus dem Künstler freisteht, "das Alltägliche selbst von einer großartigen und edlen Seite zu nehmen"235. Dieser Entwurf der Künstlerexistenz entspringt dem Bemühen, die Sphäre der Kunst von den Belangen des praktischen - d.h. auch des gesellschaftlichen und politischen - Lebens freizuhalten. Die Kunst ist deshalb inkommensurabel mit den Kategorien bürgerlichen Handels und Gewerbes, weil ihre Inhalte und Intentionen einer anderen Welt angehören. Der Erdlebenkünstler, "dessen Reich, indem er eben die Welt als Natur mit liebevollen Blicken anschaut, doch nicht von dieser Welt sein kann"236, gerät daher zum Modellfall der ideellen und sozialen Positionsbestimmung des Künstlers. Wenn er als Bürger dieser Welt einen Beruf ausüben soll, gilt umgekehrt die Forderung, daß er als Kunstschaffender "gleich Jedem, der sich mit höhern dem Volke nicht 231 232 233 234 235 236
BLM, BLM, BLM, BLM, BLM, BLM,
165. 165. 164. 166. 166. 163.
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zugänglichen Dingen beschäftigt, gewissermaßen sich absondert von der Welt"237. Der Eingliederung des Künstlers in die Berufswelt entspricht die Freisetzung der Kunst von gesellschaftlichen Bezügen. Entsagung habe der Künstler zu üben, dem Landschaftskunst im höhern Sinne am Herzen liegt, indem er sich unbekümmert hält um alles, was die unerzogene große Mehrheit der Menschen will, nur vom Hinstreben nach göttlichen Ideen bewegt wird...238
Der Begriff der Entsagung verweist hier zugleich auf Goethe als Vorbild der propagierten Künstlerexistenz. Während die zeitgenössische Goethe-Kritik diesen Begriff immer wieder negativ als Ausdruck von Goethes politischem Quietismus und seiner resignativen Flucht ins Private interpretiert hat,239 wird das Goethesche Motiv der Entsagung bei Carus zu einem Grundpfeiler des Künstlerbildes wie des Lebensentwurfs.240 Unter umgekehrtem Vorzeichen bringt auch Carus das Ideal der entsagungsvollen Individualbildung in Verbindung mit Goethes Abwehr des Politischen: Wer also bei Goethe dieser Beziehungen [von innerer Entwicklung und Rückzug aus der Welt, JMT] sich recht klar bewußt geworden, wer eingesehen hat, daß er das große fruchtbare Werk eigner Entfaltung nur vollenden konnte in so einfachen und fast indifferenten äußern Verhältnissen, dem muß es das Törigste erscheinen, wenn man zuweilen von diesem Geiste, welcher ebendeshalb allerdings nur konservativ und monarchisch gesinnt sein konnte, ein besonderes Eingehen in politische Interessen der Jetztwelt fordern und ihm ein gewisses Ablehnen von allen Richtungen dieser Art zum Vorwurf machen konnte.241
In seinen Goethe-Schriften stilisiert Carus den Dichter zur in sich stimmigen und abgerundeten Individualität.242 Die physisch-psychische Gesundheit, bedingt durch stete Rücksicht auf die eigene Entwicklung, manifest in einer lebensbejahenden Grundhaltung, gilt Carus als Basis Goethescher Dichtung: Soll doch die echte Poesie aus der wahren, schönen und vollen Genüge des Daseins, als leuchtende Spitze der Pyramide des Lebens hervorgehen, und zeichnet sich doch eben Goethes Poesie in diesem Sinne so sehr aus unter dem larmoyanten Wesen der meisten Neuern, deren Inspiration größtentheils dem Gefühle der innerlichen Zerwürfnis, ja oft genug dem der Verzweiflung ihre Quelle verdankt.145
Zerrissenheit und Weltschmerz auf Seiten der romantischen und biedermeierlichen Dichter, Eitelkeit, Unzufriedenheit und Vaterlands237 238 239 240 241 242 243
BLM, 162. BLM, 163. Vgl. Mandelkow 1977, L. Vgl. LuD I, 174, 345; G I, 72 ff.; G II, 167 ff. G II, 75 f. Zu Cams' Goethe-Bild vgl. Mandelkow 1977, XLVII-LI. G II, 156 f.
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feindschaft auf seilen der "Tagesschriftsteller" - die "kranke" Literatur des 19. Jahrhunderts ist die Folie, vor der sich die Positivität und Gesundheit Goethescher Dichtung abhebt.244 Dazu gehört auch die "organische Notwendigkeit"245 des Kunstschaffens bei Goethe: Während dieser sich "frei von allen Rücksichten auf Äußerliches, Weltliches, Zeitliches"246 der Kunst gewidmet habe, werde die gesamte moderne Literatur von Marktgesetzen beherrscht und von materiellen Interessen diktiert. Von den Landschaftsbriefen über die Goethe-Schuften, bis zu den Lebenserinnerungen prägt der Kampf gegen die Kommerzialisierung der Kunst das propagierte Künstlerbild; immer schon ist dieses Ideal verknüpft mit der Abwehr einer Kunst, die sich als Ausdruck der auch von Carus als gebrochen erfahrenen Wirklichkeit präsentiert. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn Carus denjenigen Schriftstellertypus ins Auge faßt, der das Gegenbild zur avisierten Künstlerexistenz verkörpert, den Literaten. Was der Begriff eines Literaten sei, ist nicht ganz leicht zu sagen: ein Gelehrter ist er nicht; es ist kein Mann der Wissenschaft (...). Eben so wenig aber ist der Literat Diplomat, oder Kaufmann, oder Mann der Industrie, oder Künstler, oder Dichter, oder sonst irgend ein Bestimmtes dieser Art, vielmehr ist er Etwas von diesem Allen! Er hat einen gewissen Fluß der Rede vom Staatsmann und Gelehrten, er hat in seinen Geschäften mit dem Buchhändler und Zeitungsunternehmer Etwas vom Kaufmann, er hat Etwas vom Industriellen in der Schreibfertigkeit, womit er bändeweise seine Produkte liefert, und er hat Etwas vom Dichter und Künstler in dem Schmuck, durch welchen er seine Schriften der Menge empfiehlt. Er ist also gewissermaßen eine Art von Amphibium...247
Literaten, das sind für Carus vor allem die jungdeutschen Vertreter einer kritischen Publizistik. Carus zieht aber nicht explizit gegen die engagierte oder politisierte Literatur zu Felde, sondern gegen die Vermarktung der Kunst. Wenn Jost Hermand bemerkt, daß sich die konservative Seite in ihrem Kampf gegen die Jungdeutschen des Tricks bediente, nicht das Politische, sondern das Moralische und Religiöse in den Vordergrund zu schieben,248 so läßt sich bei Carus von einer ökonomischen Variante dieses Tricks sprechen: Er unterstellt den 244 Der Begriff "krank" ist die normative Standardvokabel, mit der Carus die zeitgenössische Literatur kennzeichnet. Selbst beim verehrten Tieck bemerkt Carus "ein gewisses Negatives, Ironisches, auch wo) Krankhaftes, Anti-Goethisches" (LuD II, 156 f.); ähnlich lauten seine Bemerkungen über E.T.A. Hoffmann und die dänische Romantik (LuD II, 218; LuD II, 187 f.). "Alles krank!", so kommentiert Carus den Berliner Musenalmanach von 1834 (LuD II, 390; vgl. M, 58 f.). Ebenso ist die Literatur der Tagesschriftsteller und Goethe-Kritiker Ausdruck von "krankhaften Gefühlen" (G II, 193, 78 f.; LuD II, 332). 245 G II, 211. 246 Ebd. 247 M, 120. 248 Vgl. Hermand 1969, 169.
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Jungdeutschen - neben dem Bedürfnis, Aufsehen zu erregen - einzig materielle Interessen. Die Kritik am Sozialtypus des Literaten suspendiert von der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Wirkungsanspruch und den kritischen Inhalten dieser Literatur. Die Jungdeutschen werden allein mit dem Argument diffamiert, hier seien begabte Geschäftemacher am Werk: Mundt ist für Carus ein "Unternehmer"249; Heine und Borne werden als streitlustige (und eben bezahlte) "Statisten"250 auf der von Goethe beherrschten Bühne der Kunst gehandelt; Laube verkörpert "alles andere eher als das Bild eines Dichters"251. Für Dresden konnte man aber damals Gutzkow (...) gewissermaßen als Repräsentanten einer solchen neuern Periode betrachten (...). Das Merkwürdigste, wodurch sich insbesondere diese Neuzeit unterschied, war nun, daß man es hier eigentlich mit einer Art von Geschäftsmännern zu thun hatte, welche sich allerdings wesentlich dichterisch producirend verhielten, zugleich aber als Zeitungsredactoren zu Stimmführern öffentlicher Meinung sich zu erheben suchten, im Politischen die Opposition namentlich zu vertreten pflegten, und übrigens durch buchhändlerische Speculation gelegentlich auf Wohlhabenheit oder selbst Reichthum ihr Absehen richteten.252
Zusammenfassend kann man sagen, daß sich in dieser Sozialtypologie künstlerischer Existenzformen Carus' Lebensentwurf wie seine Kunstauffassung kristallisieren. Auf der einen Seite stehen Dichter und Dilettant, einig in ihrer Achtung vor der "echte(n) und höhere(n) Literatur"253. Beide betreiben die Kunst in Absetzung von der Sphäre beruflichen, gesellschaftlichen oder politischen Handelns. Der Erdlebenkünstler, der "die Welt als Natur"254 betrachtet, wird daher zum Muster des propagierten Künstlerbildes. Die Verknüpfung künstlerischer Inhalte und Intentionen mit der Sozialexistenz des Künstlers erlaubt es 249 LuD III, 86. 250 LuD II, 338. Ebenfalls auf Borne und Heine bezieht sich eine Stelle aus dem Reisewerk Paris und die Rheingegenden (1836). Carus beschreibt eine Szene, die er bei seinem Besuch auf dem "Marche des Innocens" beobachtet hat: Ein Mann inszeniert einen Streit mit einem Jungen, um aufzufallen und "einen Gelderwerb anzuknüpfen". Es sei dies eine für die Zeit charakteristische Szene. "Die Procedur durch Unsinn Aufsehen zu erregen und aus dem Aufsehen Lebensunterhalt zu erwerben wiederholt sich in so gar vielerlei Gestalten! - auf deutsche nach Paris geborgene israelitische Sanskulotten möchte ich das Exempel schon zunächst anwenden!" (Paris I, 145). Die Tatsache, daß Carus es bei dieser knappen Wendung beläßt und keine Namen nennt, zeigt wohl auch, mit welchem Vorverständnis aufseilen des Publikums er rechnete. 251 LuD III, 182. 252 LuD III, 235 f. Auch in Carus' Kommentaren zur zeitgenössischen, vornehmlich jungdeutschen Goethe-Kritik findet sich der Vergleich der Kritiker mit Gewerbetreibenden (vgl. G II, 9,10). 253 LuD III, 235. 254 BLM, 163.
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umgekehrt, die politischen Tendenzen zeitgenössischer Literatur unter dem Stichwort der Vermarktung abzuhandeln. Die ökonomisch bestimmte Entgegensetzung von Dichter und Dilettant einerseits, Literat und Tagesschriftsteller andererseits transportiert die Unterscheidung von hoher und niederer, idealer und engagierter Literatur. Mit der Kritik an der Kommerzialisierung der Kunst will Carus nicht nur, aber vor allem die Produktion der jungdeutschen "Literatenelemente"255 treffen.256 Die Erdlebenkunst und das an ihr entwickelte Sozialbild des Künstlers muß daher auch als bewußter Gegenentwurf zur zeitgenössischen Tendenz einer politisierten oder kulturkritischen Literatur verstanden werden. Carus1 Annäherung an eine Kunstauffassung, die das Wirkliche dem Fiktiven überordnet, findet hier zugleich ihre Grenze.
255 LuD III, 263. 256 Er polemisiert auch allgemein gegen das zunehmende "Zeitschriftenunwesen", gegen literarische Massenproduktion und ökonomisches Denken auf Seiten der Verleger (vgl. LuD I, 111; LuD II, 257;LuD III, 305; BLM, 265 ff.; M, 96-107).
IV. "Die Welt als Natur": Normative Erweiterungen der poetischen Wissenschaft l. Natur und Geschichte Cams' Syntheseprogramm, das bisher aus wissenschaftstheoretischer und ästhetischer Perspektive betrachtet wurde, ist - so zeigte sich schon zu Beginn der Untersuchung - weltanschaulich motiviert. Es gilt dies zunächst in dem allgemeinen Sinn, daß die poetische Wissenschaft auf eine das Ganze des Seins umfassende Weltkonstruktion zielt. Wie alle Formen "romantischer" Wissenschaft entspringt sie dem weltanschaulichen Bedürfnis nach spekulativer Synthese des empirischen Wissens. Darüberhinaus hat sich die Ästheti sie rung der Wissenschaft in einem ganz konkreten Sinn als Strategie zur Vermittlung bestimmter Werte und Normen erwiesen. So dient etwa die ästhetische Argumentationsfigur von Carus' Symbolik der Bestätigung eines hierarchischen Welt- und Menschenbildes; auch in der medizinisch-psychiatrischen Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit spielen moralische Wertvorstellungen eine entscheidende Rolle. Der Orientierungsanspruch der weltanschaulich verfaßten und ästhetisch geprägten Wissenschaft schlägt sich seinerseits - das wurde deutlich - in dem Bemühen um eine poetische und allgemeinverständliche Darstellungsform nieder. War bislang das Augenmerk darauf gerichtet, wie normativ besetzte Fragestellungen Eingang in die ästhetische Wissenschaft finden bzw. diese mitkonstituieren, soll nun umgekehrt nach den weltanschaulichen Erweiterungen der Naturwissenschaften gefragt werden. Es zeichnet sich nämlich bei Carus die Tendenz ab, Individuum, Geschichte, Gesellschaft und Staat in naturalen Kategorien zu interpretieren und daraus bestimmte pädagogische, soziale und politische Forderungen abzuleiten. Hatte sich beispielsweise die Rassenlehre - obschon in hohem Maße mit normativen Implikationen versehen - dennoch als vermeintlich deskriptiver Bestandteil der anthropologischen Wissenschaft präsentiert, so werden nun bewußt medizinisch-biologische Konzepte auf historische Erscheinungen - etwa die Organismusvorstellung auf die Theorie des Staates - angewendet; in ihrem neuen Umfeld gewinnen diese Konzepte eine handlungsanleitende Funktion. Dabei folgen die naturale
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"Die Welt als Natur"
Metaphorisierung historischer Phänomene und deren programmatische Auslegung einem zirkulären Argumentationsschema: Unter Berufung auf Charakteristika oder Gesetzlichkeiten derjenigen natürlichen Erscheinungen, die als argumentativer Bezugspunkt dienen, werden soziale oder politische Forderungen formuliert; zu deren Legitimation wird wiederum auf den naturalen Charakter des i nfragestehenden historischen Phänomens verwiesen. Die sozialen oder politischen Idealvorstellungen gewinnen durch den Hinweis auf "Natur" eine unbedingte, nicht hintergehbare Geltung. Die theoretische Berufung auf Natur als normsetzende Instanz gehorcht - das wird an jedem Punkt von Cams' Darlegungen klar - dem Bedürfnis nach sozialer Sinnstiftung: Die beängstigende Erfahrung einer beschleunigten und krisenhaften Geschichtsentwicklung wird theoretisch durch die Naturalisierung geschichtlicher Abläufe verarbeitet. Dieser intellektuellen Bewältigungsstrategie entspricht auf psychologischer Ebene die unmittelbare Entlastung, die Carus im Erleben der Natur findet. Die Auseinandersetzung mit dieser ideologischen Dimension von Carus' Naturverhältnis bedeutet zunächst eine Weiterung dessen, was im letzten Kapitel dargestellt wurde: Nicht Kunst oder Wissenschaft an sich, sondern die Natur - als gemeinsamer Nenner beider - ist das erste und eigentliche Heilmittel gegen die Unbilden des Lebens. Ob sich Carus als Bürger, Künstler oder Wissenschaftler der Natur annähert, immer ist sie auch Refugium und Gegenwelt für ihn. Diese 'klassische' Form bürgerlicher Naturideologie ist in der jüngeren Literatur zur 'Kulturgeschichte der Natur' hinreichend oft kritisch analysiert worden; dennoch ist sie bei Carus so dominant und folgenreich, daß ein genaueres Eingeben angebracht erscheint. Carus hat seine Zeit - markiert durch die demokratischen Bewegungen und die bürgerlichen Revolutionen, durch Industrialisierung und Kapitalisierung - als geschichtliche Krisensituation erlebt. Die politischen Zeitereignisse, von den napoleonischen Wirren und den hieran anknüpfenden nationalen Bewegungen über die Pariser Juli-Revolution und ihre deutschen Ausläufer bis zu den politischen Unruhen der 40er Jahre, werden von Carus als fremd und störend erfahren. Die Lebenserinnerungen zeugen von dem umfassenden Bemühen, sich gegen das herandrängende Zeitgeschehen abzuschotten. Das Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung wird subjektiv eingelöst in der ästhetisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Natur. Schon zu Beginn der Lebenserinnerungen - geschildert wird die Zeit der napoleonischen Kriege - findet sich eine kurze Anekdote, die das
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Verhältnis von Naturbetrachtung und zeitgeschichtlicher Erfahrung in der für Carus' gesamtes Leben charakteristischen Form aufzeigt: Am 14. Oct. [1806, JMT] (...) fand ich mich an einem schönen sonnigen Herbsttage im Rosenthal [bei Leipzig, JMT], hatte im Walde nach der Natur gezeichnet und saß dann umschauend auf dem welken Rasen der großen mittlem Wiese, als öfters wiederholte dumpfe Klänge, gleichsam wie aus der Erde aufsteigend, deutlicher und deutlicher mir zu Ohren drangen. Es war, wie es sich später ergab, der Kanonendonner der Schlacht von Jena gewesen.'
Was hier beschrieben ist, wird später programmatisch gewendet: Die Natur entfremdet vom politischen Zeitgeschehen; sie ist Gegenwelt und Zufluchtsstätte vor der herandrängenen Realität. Im Rahmen des alltäglichen Lebens ist es nach Carus' wiederholtem Zeugnis die Umgebung Dresdens, die ihn aufrecht hält.2 Als seine finanziellen Umstände es ihm gestatten, kauft er sich ein Reitpferd, um täglich die "freie" Natur genießen zu können. Wenn die solcherart domestizierte und in die bürgerliche Zeitordnung eingebundene Natur nicht ausreicht, um seelische Verstimmungen zu lösen, berufliche Belastungen auszugleichen und das Zeitgeschehen vergessen zu machen, zieht es Carus zu Reisen nach "neuen, größern Naturscenen"3: Die Hingabe an die ästhetische erfahrbare Natur erhebt über das "triviale Getriebe des täglichen Lebens" und die "Widerwärtigkeit der Verhältnisse"4. In immer neuen Wendungen beschwört Carus die heilende und ausgleichende, läuternde und beruhigende Wirkung der ästhetischen und insbesondere der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Natur. Die Erkenntnis der Gleichförmigkeit und Gesetzmäßigkeit der Naturabläufe schafft Sicherheit; die Wissenschaft stärkt gegen die "Pfeile des gewöhnlichen Lebens"5, mäßigt "unruhiges Trachten"6 und söhnt mit den "Schattenseiten des Lebens"7 aus. Wie gesagt, es ist vor allem die Konfrontation mit den Ereignissen unmittelbarer Zeitgeschichte, die Carus auf die therapeutische Kraft ästhetischer und wissenschaftlicher Naturbetrachtung vertrauen läßt. So heißt es beispielsweise anläßlich der Pariser Revolution von 1830: Von den Revolutionen des Tages, zu denen nun auch noch der Aufstand in Polen getreten war, wendete jetzt für einige Tage meine Gedanken gegen die so viel großem, ja geradezu ungeheuem vorweltlichen Umwälzungen der Erdfläche, der abermalige Besuch von 1 2
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LuD I, 58. Vgl. LuD I, 156, 192, 256, LuD II, 248, 317, 353. LuD I, 256. G II, 205. BEL, 46. BLM, 29. BEL, 233.
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"Die Welt als NaturProfessor Weiß aus Berlin (...). Wir führten weitläufige Gespräche über die mannichfaltigen neuern Entdeckungen auf diesem Felde, und verloren darüber gern manches Unerquickliche aus den Augen, dessen die Gegenwart gewöhnlich nur in zu reichlichem Maße bietet. Wissenschaft und Natur! Gibt es wol überhaupt etwas, das mehr als diese beiden vermag, den von der Welt schmerzlich umgetriebenen Geist zu beruhigen und zu heilen! Beide haben etwas Abstraktes, ja Übermenschliches, und zugleich so Unverwüstliches, dem gegenüber alle einzelnen Schmerzen und Qualen des Menschen so gering erscheinen, daß nicht lange das Geistesauge auf ihnen verweilen kann, ohne im Innern eine wiederherstellende Kraft der Seele angeregt zu empfinden.*
Die befremdende und ängstigende Erfahrung zeitgeschichtlicher Ereignisse führt, verbunden mit der Einsicht in die Unmöglichkeit eigenen politischen Handelns,9 zum Rückzug in die Natur. Die Naturbetrachtung entlastet aber nicht nur vom konkreten Zeitgeschehen; sie entfernt von der Sphäre menschlicher Geschichte insgesamt: Kam ich übrigens dazu, an stillen Nachmittagen mich ein paar Stunden in die Waldeinsamkeit (...) zu versenken, und an Studien nach alten Baumstämmen, Laubmassen und üppigen Pflanzengruppen mich zu erholen, so veranlaßte es mich zugleich nicht selten zu besondern Betrachtungen, wenn ich bedachte, wie ruhig und groß das Naturleben in seinem Gang dahinzöge, während der Mensch mit seinen Eroberungsplanen, Völkerbewegungen und Kämpfen gern glauben machen möchte, daß er die Gestaltung der Erde zu verändern im Stande sei, indem er das zu schaffen glaubt, was wir mit dem stolzen Namen einer Weltgeschichte belegen. Da lag der große Eichenwald in seiner tiefen Ruhe, das Leben der Vögel drang durch die Zweige, die Wiesen wallten in dem vollen Wüchse ihrer Pflanzen, die Wolken zogen so ruhig ihren Weg, gleichgültig, ob die ganze Menschheit schlafe oder wache, und so hatte man das Gefühl, die Erde lebt ihr stilles unbewußtes Leben nach ewigen Gesetzen von Tag zu Tag dahin, und alles, was wir Übermüthigen als Weltbegebenheiten preisen, es drängt sich auf schmalen Landstraßen und in verhältnismäßig so kleinen Ortschaften zusammen, dergestalt, daß kein eben sehr entfernter Standpunkt von der Erde dazu gehören würde, um gar nichts mehr davon gewahr zu werden.10
Wer die Welt als Natur betrachtet, der erhebt sich über die Willkür menschlicher Geschichte und entfernt sich vom hybriden Anspruch auf aktive Gestaltung der Realität: Im Verhältnis zum universalen Naturleben wirkt die historische Welt bedeutungslos. "Natur" erscheint somit als ein der menschlichen Welt entgegengesetzter Bereich, zugleich aber als eine ihr übergeordnete und sie umgreifende Kategorie. Diese Auffassung schlägt sich unter anderem in Cams' Bestimmung der historischen Zeit nieder. Die spezifische Zeiterfahrung der Moderne - charakterisiert durch Prozessualisierungs- und Beschleunigungstendenzen, durch Denaturalisierung überlieferter Zeit8 9
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LuD II, 320 f. Vgl. LuD I, 48 f, 105; LuD III, 210, 278. LuD 1,124 f.
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Vorstellungen und die Durchsetzung des Fortschrittsdenkens1' - wird auch von Cams geteilt. Eine Konsequenz daraus ist eben die Trennung von geschichtlicher und naturaler Zeit: hier der "immer mehr und mehr sich überstürzende Gang der Zeit"12 und das "brausende Treiben industrieller, commercieller, statistischer, ökonomischer und politischer Interessen"13, dort "ein ewig gesetzmäßig Fortschreitendes"14, "ein stilles, in sich gekehrtes, gleichförmiges (...) Leben"15. Diese Unterscheidung war ja Bedingung für die therapeutische und entlastende Funktion der Natur. Zugleich aber wird die tendenziell als verunsichernd erfahrene Eigendynamik der Geschichte in den universellen Naturzusammenhang zurückgenommen und so gewissermaßen intellektuell entschärft. Selbst die wissenschaftliche und technische Entwicklung des 19. Jahrhunderts, Hauptfaktor der beschleunigten Geschichte und Grundlage des antinaturalen Fortschrittsbegriffs, wird von Carus ins organische Leben eingebunden: ...diese Langsamkeit, mit welcher der erfinderische Geist der Menschheit anfangs fortschreitet, ist eben so merkwürdig, als die später gewöhnlich eintretende reissende Schnelligkeit, mit welcher dann Erfindung an Erfindung sich reiht. Ich habe schon mehrfach darüber nachgedacht, daß es doch gar merkwürdig ist, wie diese Art der Fortschreitung, obwohl sie auch zum organischen Leben gehört, so gerade die entgegengesetzte ist, von derjenigen, welche befolgt wird, wo irgendein organisch Lebendiges wirklich als ein Individuum leiblich sich entwickelt.16
Obwohl die spezifisch geschichtliche Zeitstruktur, wie sie sich in der Moderne herausgebildet hat, gerade dem Rhythmus organischer Entfaltung entgegengesetzt ist, soll auch sie natürlich sein. Dieselbe Verknüpfung von naturalem und historischem Denken zeigt sich in Carus1 Kennzeichung des Geschichtsverlaufs als Spirale. Allgemein ist das Bild der Spirale eine im 19. Jahrhundert verbreitete "Kompromißmetapher"17, die den modernen Gedanken des linearen Fortschritts und die überlieferten naturzeitlichen Kreislaufvorstellungen kombiniert. Die Ursache für diese Reaktualisierung zyklischer Geschichtsbilder im 19. Jahrhundert ist vor allem in spezifischen Mängeln des Fortschrittskonzeptes zu suchen.18 Die Ersetzung der
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Vgl. Koselleck 1967, 196-219; Koselleck 1973, 211-222. LuD 1,111. PS, XIV. LuD I, 125. BLM, 28. BEL, 284. Lepenies 1976, 28. Vgl. hierzu Plumpe 1984.
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"Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit naturgebundener Geschichten"19 durch die eine - linear verlaufende und irreversible - Geschichte führt zu einem grundsätzlichen Orientierungsverlust: Geschichte erscheint mehr und mehr als bloße Veränderung ohne bestimmte Zielrichtung. Wenn mit Carus' Worten - "alles Geschichtliche einerseits in der Vergangenheit, andererseits in der Zukunft in nebelhafte Unbestimmtheit nothwendig sich verlieren muß"20, dann besitzt die Geschichte keinerlei Belehrungskraft mehr; das Studium des Vergangenen erlaubt keine Prognosen über Zukünftiges. Darüberhinaus ist das Fortschrittskonzept grundsätzlich labil: Es wird durch die faktische Erfahrung historischer Problem- und Krisensituationen infrage gestellt und zwingt permanent zu deren Ausblendung. Anders dagegen partiell zyklische Modelle der Geschichte wie das der Spirale. Für Carus ist die Spiraltendenz das Urprinzip aller natürlichen Bewegung schlechthin.21 Dieses naturphilosophische Gesetz wird auf den Geschichtsverlauf übertragen und der historische Fortschritt so in Analogie zum natürlichen Leben gesetzt.22 Im Gegensatz zum linearen Fortschrittsdenken gewährt die zyklische Zeitkonzeption weitreichende Entlastung: Negative historische Tendenzen bilden demnach nur vorübergehende und auf höherer Stufe wiederkehrende Stadien des geschichtlichen Geschehens. Die metaphorische Naturalisierung der Geschichte mündet in die beruhigende Auffassung der Menschheit als "immer wieder sich befreiend und in den wunderbarsten Spiralwindungen doch im Ganzen allmälig vorwärts sich bewegend"23. Das zyklische Zeitschema erlaubt auch die Wiederaufnahme des Topos von der "Historia Magistra Vitae", jenes tradierten Denkmusters, demzufolge die Geschichte Belehrung und Orientierung auch in aktuellen Fragen verspricht: Die Bücher der Geschichte allein, sie sind der große lebendige Spiegel welcher Wahrheit von Irrthum sondern lehrt, - sie sind es welche stets von selbst auffordern zur Vergleichung gegenwärtiger Zustände mit vergangenen, und mit den Lehren welche diese Vergangenheit predigt, sie sind es auch aus denen sich das Urtheil über die Gegenwart am sichersten schärfen kann und schärfen muß.24
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Koselleck 1967, 206. BEL, 294. SdPh II, 347; BEL, 89 ff.; PS, 320; Erfres, 183; Nul, 65 f., 117 ff., 241. Gel B, 17; LuD III, 10, 45; G II, 34; Paris I, 3. Epi, 10. Vom Urbilde des Staates, eine Abhandlung zur Physiologie der Menschheit (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr.Dresd. e. 86m). Zu dem vormodernen "Historia Magistra Vitae"-Topos vgl. Koselleck 1967.
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Die Wiederbelebung zyklischer Anschauungsformen von Zeit erscheint dergestalt als Mittel, Orientierungsdefizite des Fortschrittskonzeptes auszugleichen und die beängstigende Erfahrung einer sich beschleunigenden und krisenhaften Geschichte zu verarbeiten. Eine andere Variante der natural-zyklischen Zeitkonzeption besteht in der Übertragung der medizinischen Krisentheorie auf die Geschichte.25 In einem Aufsatz Über Geistes-Epidemien der Menschheit spricht Carus etwa von den "Gemüthskrankheiten und Wahnsinnsformen des Zeitgeistes"26 und betont, diese könnten "der Seelenstörung des Einzelnen verglichen werden (...), indem grosse Volksmassen von einer oder der ändern Art eines Wahnsinns ergriffen werden, welcher, ganz wie die Seelenstörung irgend eines besondern Menschen, aus gewissen Ursachen sich entspann, gewisse Höhen erreichte und nach kürzerem oder längerem Zeiträume endlich wieder verschwand."27 Aus dieser Perspektive bilden die Krisen- und Verfallsphänomene der Gesellschaft eine sinnvolle und notwendige Phase des historischen Geschehens. "Im einzelnen", so beschreibt Carus die Logik einer am medizinischen Krisenmodell orientierten Geschichtskonzeption, "scheint oft nur das Seltsamste und Verkehrteste sich zu begeben, und im ganzen ahne ich doch einen eigenen neuen und großen Umschwung der Menschheit!"28 Der negative Extremfall des historischen Verlaufs erscheint somit als Wende und Neuanfang der Geschichte. Ganz bewußt favorisiert Carus die natural-zyklische Geschichtsbetrachtung, weil sie die Integration krisenhafter Ereignisse in die umfassende Vorstellung einer fortschreitenden Höherentwicklung der Menschheit erlaubt: Es ist ja der erhabenste Blick, dessen -wir fähig sind - der Blick auf die Geschichte in diesem Sinne. Wie viel Tausende von Irrtümern, von falschen Richtungen, von verkehrten Bestrebungen, enthalten ihre Blätter, und immer neue führt oft der Tag hervor, - allein nach und nach sehen wir immer wieder das Höhere, das Wahre sich hervorheben.29
Die Naturalisierung der historischen Welt erweist sich so als dialektisches Gegenstück zur Bestimmung der Natur als Fluchtort . Das heißt: Demjenigen, der aus der Welt in die Natur flieht, erschließen sich geschichtliche Abläufe, gesellschaftliche Strukturen und politische Prinzipien nur, wenn er sie in naturale Kategorien fassen kann. Die gesetzmäßig fortschreitende Natur empfiehlt sich Carus nicht allein als "Gegengewicht gegen den unruhigen Wogenschlag des Menschen25 26 27 28
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Vgl. LuD III, 250 f. Epi, 9. Epi, 7 f. LuD III, 270. Epi, 27.
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lebens"30; sie dient ihm auch dazu, das Andere der Natur, den Bereich menschlicher Geschichte, theoretisch zu bewältigen. Dieser Abkehr vom spezifisch Historischen entspricht auf pädagogischer Ebene Cams' Plädoyer für eine naturgeleitete Individualbildung.
2. Lebenskunst und Seelengesundheit Carus hat in seiner Psyche dem Verhältnis der Seele zur Natur ein eigenes Kapitel gewidmet. Gleich zu Beginn zeigt sich der zeitgebundene und zielgerichtete Charakter seiner Ausführungen. Beschreibung und Erklärung der Beziehung von Mensch und Natur beschränken sich auf eine knappe Darstellung der im 19. Jahrhundert verbreiteten Klimatheorie. Die geodeterministische Ableitung der eigenen Kultur aus der Rauheit des nordischen Klimas führt unmittelbar zur Kritik an der Künstlichkeit der modernen Welt: Die immer sich steigernde Künstlichkeit unserer socialen Denkungsweisen, vieles von der Ungesundheit und Schwächlichkeit der modernen Geistesrichtungen, die von dem einfach rein Naturgemäßen immer mehr abweichenden conventionellen Vorstellungsarten, sie werden großentheils nur mit erklärlich durch die factice Natur, in welcher mehr und mehr die Menschen sich eingelebt haben und immer tiefer einleben.31
Damit ist der Standpunkt bezeichnet, von dem aus Carus im folgenden argumentiert. Das "reine Verhältniß zur Natur"32 gilt als Maßstab und Ziel jeder Individualentwicklung und die Frage ist zunächst, wie dies in einer Zeit der urbanisierten Lebensweise und des technisierten Verkehrs möglich sei. Vor allem aber geht es darum, wie sich der Einzelne von den Einflüssen der kulturellen Moderne freihalten kann. Zu diesem Zweck empfiehlt Carus die Hinwendung zur Landschaftsnatur, wenngleich diese in ihrer praktizierten Form oft nur ein Zerrbild des Angestrebten ist: Wer auf diese Dinge genauer Achtung gibt, wird sich dann leicht überzeugen, daß jenes erst in unserer Zeit hervorgetretene Bestreben, sich zeitweise wie zu einer Art von Naturadoration hinauszustürzen in Wälder und Berge, in Thäler und auf Felsen, wirklich gleichsam eine Art von Instinkt ist, um sich ein Heilmittel zu suchen gegen die Krankheit des künstlichen Lebens und die Einwirkung desselben auf geistige Entwicklung. Gewiß liegt denn auch eine eigenthümliche Wahrheit und Bedeutung in diesem Bestreben, und es kann ein solches zeitweises Eintauchen in freie Natur allerdings wahrhaft erfrischend und
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LuD I, 125. PS, 436. PS, 433.
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mächtig auf den Geist wirken; aber leider wird auch diese Richtung durch die Art ihrer Ausführung oft genug zur entschiedenen Carricatur und verfehlt dann ihrer heilsamen Einwirkung gänzlich.33
Daß die bürgerliche Naturbeflissenheit gerade Produkt und Symptom der Naturferne ist, hat also schon Carus erkannt. Gleichwohl läßt er die (flüchtige) Hinwendung zur ästhetischen Natur als Therapeutikum gelten. Das eigentliche "Gegengewicht gegen jene Unnatürlichkeit"34 liegt aber im philosophisch-wissenschaftlichen Studium als bewußter Hinleitung zur Natur. Das Herzstück von Carus' Pädagogik - immer wieder und mit anhaltender Intensität verfochten - besteht in der Auffassung, daß der Gesamtprozeß geistiger Formung sich am Studium der Natur ausrichten müsse: Organische Entstehungsweisen sind nach Carus vorbildlich auch für geistige Vorgänge. Es ist allerdings für die nähere sorgfältige Erwägung etwas außerordentlich Merkwürdiges, daß dieselbe innere organische Folge, dieselbe Notwendigkeit der Natur (...) auch da herrschen müssen, wo eine wahrhaft schöne Reihe von Gedanken sich entfalten und im Geiste sich befestigen soll. (...) Diese Art natürlicher oder unnatürlicher Gedankenfolgen werden nun eben allerdings im höchsten Grade durch das Verhältnis der Seele zur Natur bedingt und gegeben, und hier ist es namentlich auch, wo die äußere Einwirkung und Erziehung viel an der Seele gestalten und leiten kann, und von wo aus ganz besonders Das, was man Studium der Naturwissenschaft nennt, eine höhere psychische Bedeutung erhält.35
Die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit und Harmonie der Natur leitet - so Carus - das Individuum zu dem ihm angemessenen Ausgleich von Denken, Fühlen und Wollen. Das ästhetisch-wissenschaftliche Naturstudium wird zur Grundlage der "Seelengesundheit" schlechthin: "Gerade dieses Natürliche ist es nämlich auch, was das Denken, das Fühlen, das Wollen einer gesunden Seele auszeichnet."36 Die Konzeption der natürlichen oder gesunden Seele ist - das liegt auf der Hand - ein hochgradig normativer Entwurf. Dies zeigt sich schon in der paradox anmutenden Auffassung, daß die 'natürliche' Entwicklung des Individuums die größtmögliche Befreiung "vom Naturelemente"37, von Trieben und Leidenschaften also, einschließt. Wenn Carus das "Natürliche" zu Maßstab und Zweck der bewußten "Lebenskunst" erklärt, so zielt dies letzlich auf Bändigung des Extremen, auf Maßhaltung im 33 34
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PS, 433 f. PS, 439. PS, 437. Zu Carus' Unterscheidung des "organischen" und des "unorganischen Erkennens" vgl. auch Organen, 117 ff. PS, 468. Über das Leben als Kunstwerk (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. h 28m, Mappe III).
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emotionalen und intellektuellen Bereich; kurzum: das "Natürliche" ist das Mittlere, der Norm Entsprechende. "Je höher die Individualität, je reifer das Wachsthum," so formuliert Carus diese seelendiätetische Zielvorgabe, "desto mehr neigt sich das gesamte Seelenleben zur göttlichen Gleichmüthigkeit... "38 Die Naturwissenschaft wird so eingebunden in das pädagogische Ideal einer Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu harmonischem Gleichgewicht: "Es sei das Studium der Natur im freien und reinen, acht menschlichen Sinne getrieben, eins der schönsten und wirksamsten Förderungsmittel nicht nur zur immer vollkommenem Entwicklung aller unserer geistigen Kräfte, sondern überhaupt zur Erreichung einer freudigen Genüge am Dasein und Wirken."39 Der höchste Gewinn der Wissenschaft liegt für Carus in der individuellen Lebensgestaltung: Das Naturstudium dient dazu, "unser eigenes innerstes Leben zu ähnlicher Harmonie auszubilden, wie wir in der Gesamtheit der Natur sie erkennen; denn! welches wäre wohl der Wert aller Wissenschaft, sollte er nicht in Veredelung und Erhebung des Menschengeistes sich kundgeben?"40 Der Wert der Wissenschaft bemißt sich nach ihrer Bedeutung für die Lebenskunst: Ihr erster und eigentlicher Zweck liegt darin, den Menschen mit sich und seinen Verhältnissen auszusöhnen. In eben diesem Sinn ist auch der mittelbar gesellschaftliche Wirkungsanspruch von Carus' Programm einer naturgeleiteten Bildung zu verstehen. Zwar präsentiert es sich zunächst als Kritik an der Vergesellschaftung des bürgerlichen Individuums. Vom Rousseauismus des 18. Jahrhunderts und dem romantischen Protest gegen die Künstlichkeit der modernen Welt unterscheidet sich diese Position dennoch grundlegend: Weder setzt Carus das rückwärtsgewandte Ideal einer angeblich ursprünglichen und nun verlorenen Naturwüchsigkeit des Menschen; noch zielt die postulierte Natürlichkeit auf Veränderung der faktischen Verhältnisse. Carus' Ideal der natürlichen Seelengesundheit ist weder regressiv noch emanzipatorisch gedacht, sondern auf Kompensation angelegt: Es geht ihm darum, "daß die Seele auch in aller Künstlichkeit des äußeren Daseins das eigentlich 'Natürliche1 ihres Wesens und ihrer Gedanken nicht verliere, vielmehr gerade daran immer mehr zu innerer Vollkommenheit heranreife."41 Insofern zielt Carus' Pädagogik ausschließlich darauf, die Entwicklung des Einzelnen abzudichten gegen den 'Zeitgeist', gegen "Prosa, Luxus und unmittel38 39 40
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PS, 357. BEL, 3. NR, 78. PS, 439 (Hervorhebung von JMT).
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barste Genußsucht"42, gegen "das Parteitreiben dieser Tage"43 und das "Jagen der Massen"44, gegen die "Sucht nach Öffentlichkeit und Gemeinsamkeit aller Vergnügungen"45 und insgesamt gegen die "fieberhafte Unruhe einer Zeit (...), welche eben nicht befriedigt sein will"46. Cams' Bild des natürlichen und gesunden Menschen ist ein normativer Entwurf, der hauptsächlich durch das, was er negiert, Profil gewinnt. Das Moment der Entlastung durch Naturbetrachtung, wie es an Carus1 eigenem Leben beobachtet wurde, erscheint hier ausgeweitet zum mittelbar gesellschaftlich gedachten Ideal einer naturgeleiteten und weitabgewandten Bildung des Einzelnen zu harmonischer Innerlichkeit und "Genüge am Dasein". Nicht zuletzt eignet dieser Betonung der einzelnen Persönlichkeit ein entschieden elitärer Zug: Insgesamt geht es Carus darum, in einem Zeitalter der "nivellierten Gestalten"47 das Prinzip der Individualbildung zu verteidigen: "Was hilft mir alle massenhafte Abglättung der modernen Menschheit, wenn fortan darunter die Blute und der eigentümliche Hauch einer poetischen tiefsinnigen Individualität nicht gedeiht!"48 Schärfer noch zeigt sich der nicht eben demokratische Impetus dieses Programms in seinen direkten gesellschaftstheoretischen Konsequenzen. So vertritt Carus die u.a. dem Carlyleschen Heroenkult entlehnte Auffassung, daß die "Unterordnung unter einen hervorragenden Geist unerläßlich"49 sei und daß die "Kraft gesammter Menschheit (...) an und für sich eigentlich immer nur von großen, scharf gezeichneten Individuen angefacht werden kann"50. Über das Ideal einer naturgeleiteten Individualbildung und seine gesellschaftlichen Implikationen hinaus findet sich bei Carus aber auch der Versuch, aus der Natur selbst die Normen politischen Handelns zu gewinnen.
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LuD I, 258. G IV, 48. LuD V, 41. LuD II, 218. LuD III, 89. G II, 151. LuD II, 174. G IV, 18. Zu Thomas Carlyle vgl. auch LuD II, 341; PS, 279; Lmag, 230. LuD II, 254, vgl. LuD IV, 91; PS, 278 f.
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3. Physiologie und Politik Es ist bekannt, daß im 19. Jahrhundert vielfältige Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben - Medizin, Physiologie, Biologie - einerseits und der Soziologie, Rechtswissenschaft, Staatstheorie und Politik andererseits bestanden: Von der romantischen Verbindung zwischen Biologie und Staatslehre bis hin zur sozialtheoretischen Auslegung des Darwinismus wurden sie ausgiebig untersucht.51 Insbesondere die von epistemologischen Fragestellungen angeregte Wissenschaftsgeschichte der letzten 30 Jahre hat den Fokus ihres Interesses auf derartige Disziplinkontakte, auf die Wanderung von Ideen, Methoden und Konzepten durch unterschiedliche Theoriefelder gerichtet. Eine solche Geschichte der Disziplinbeziehungen muß - das hat Lepenies im Gefolge Canguilhems herausgestellt - nach " 'durchlaufenden' Kategorien suchen, das heißt nach Kategorien, die Problemfelder in unterschiedlichsten Fächern in vergleichbarer Form strukturieren"52. Häufig entpuppen sich solche in verschiedenen Disziplinen beheimateten Konzepte als zentraler Bestandteil normvermittelnder Diskursstrategien; die theoretische Anleihe eines Wissenschaftsbereiches an einen anderen bedeutet dann zugleich dessen ideologische Besetzung. Prägnantes Beispiel einer solchen "durchlaufenden" Kategorie, die auch bei Carus eine zentrale Rolle spielt, ist der Organismusbegriff.53 Als primär biologisches Konzept ist er zugleich in den Diskursen der Medizin, Psychologie, Pädagogik, Philosophie, Ästhetik, Kunstkritik, Gesellschaftslehre und Politik aufgehoben; er fungiert dort in je spezifischer Weise als normative Kategorie.54 Andere Versuche, die
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32 93
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Vgl. z.B. Canguilhem 1965, 43-80; Canguilhem 1974; Lepenies 1976, 169-196; Schipperges 1968; Mann 1973; Jacob 1967; Stanislowski 1978. Lepenies 1977, 142. Zur Organismusmetapher in der Staatstheorie des 19. Jahrhunderts allgemein vgl. Böckenforde 1978, bes. 586-608. Die Biologie spielt dabei keineswegs nur die Rolle der Spenderdisziplin; häufig handelt es sich um tatsächliche Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Theoriebereichen. So läßt sich etwa behaupten, daß die Biologie der Romantik nur darum zur Vorbilddisziplin der Staatstheorie wird, weil der Organismusbegriff bereits nach dem romantischen Modell der Volksgemeinschaft konzipiert wurde. Georges Canguilhem hat in seiner Studie zur Zelltheorie darauf hingewiesen, daß Lorenz Oken den Organismusbegriff nach dem Bild der Gesellschaft, wie sie die politische Philosophie der Romantik versteht, geformt hat: Der Organismus ist nicht die Summe individueller Teile - dies entspräche der politischen Philosophie der Aufklärung-; vielmehr leben die organischen Bestandteile nur in dem übergeordneten Ganzen (vgl. Canguilhem 1965, 58 ff.). Indem auf diese Weise soziale und affektive Werte bei der Entwicklung der Zelltheorie involviert sind, können
Physiologie und Politik
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gesellschaftliche und politische Sphäre durch naturale Begriffe zu interpretieren, wurden in den letzten beiden Kapiteln aufgegriffen: so das Bild der Spirale, die medizinischen Metaphern von Krankheit und Gesundheit, die biologischen Konzepte von Entwicklung und Bildung, die Carus psychologisch auslegt. Auch konkrete geschichtliche Sachverhalte erscheinen - obschon eher beiläufig - in metaphorischer Umschreibung: Revolutionen als Erdbeben, Kriege als Vulkanausbrüche, politische Bewegungen als Epidemien.55 In solchen Phänomenen zeigt sich zunächst das grundsätzliche Bestreben, Gesellschaft und Natur zusammenzudenken. Die bereits erwähnte Klimatheorie gehört ebenso in diesen Kontext wie die Erklärung kultureller Differenzen zwischen verschiedenen Völkern durch deren "ungleiche Befähigung (...) für höhere geistige Entwicklung"56. Carus selbst begreift den Ansatz, geschichtliche Abläufe und kulturelle Phänomene aus naturhaften Voraussetzungen abzuleiten, als physiologische Betrachtungsweise, die er deutlich vom Standpunkt der "mehr politisch Gesinnte(n)"57 abgrenzt. Zu welch absurden Kurzschlüssen diese Beschränkung auf eine physiologische Erklärung führen kann, zeigt etwa Carus' Kommentar zu Paris als Zentrum der revolutionären Bewegungen Europas: Aus seiner Perspektive sind nämlich die Natur des Bodens, die Zusammensetzung des Wassers, die atmosphärische Lichteinwirkung und der im Übermaß konsumierte Wein die Ursachen der dortigen politischen Radikalisierung. Seine Empfehlung lautet daher: "Gebt Paris granitischen Boden und reines achtes Quellwasser, und es wird in mancher Hinsicht ein anderes seyn."58 Wenn auch solche Denkfiguren - besonders im Fall der Theorie über die unterschiedlichen intellektuellen Fähigkeiten der Völker - darauf hinauslaufen, anerkannte kulturelle Werte durch naturwissenschaftliche (Pseudo-)Erkenntnisse zu bestätigen, so sind sie doch zumindest vordergründig deskriptiv gemeint. Was hier aber vor allem interessiert, sind jene Argumentationsmuster, in denen die naturale Auslegung der Gesellschaft unmittelbar und explizit mit normativem Anspruch auftritt. Ein prägnantes Beispiel hierfür liefert eben die Deutung sozialer Formationen als Organismen, mit der Carus gegen die "beliebte Gleichheit"59 opponiert. Von vornherein erscheint hier die Organismuspolitische Erfahrungen ihrerseits problemlos durch biologische Theorien interpretiert werden. 53 56
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Vgl. LuD I, 136; LuD III, 244; LuD IV, 56; Fr, 357; Paris I, 101. G III - D. Paris I, 102. Paris 1,114. G II, 75 f.
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Vorstellung als deskriptive und zugleich werthafte Kategorie staatstheoretischen Denkens: "Der Staat", so Carus oberster Lehrsatz zur "Physiologie der Menschheit", "ist um so mehr Staat d.h. um so vollkommner, je mehr er dem Begriff des Organismus überhaupt, insbesondre aber dem der höhern und höchsten d.i. der zum Bewußtsein gelangten Organismen entspricht."60 Die begriffliche Identifizierung von Staatsgebilde und Naturkörper wird zum Medium eines weitreichenden disziplinären Austausche: "Die Wissenschaft vom Leben der Organismen - die Physiologie - sie muß daher mannichfaltigste und viele Anwendungen auf die Wissenschaft vom Staate zulassen"61. Detailliert führt Carus die Organismus-Analogie durch, beschreibt Entstehen und Vergehen des Staates, sein Verhältnis zur Außenwelt, seine innere Gliederung und Funktionsweise in Anlehnung an die Eigenschaften biologischer Phänomene. Gelegentlich weist er dabei auf den metaphorischen Charakter der Organismusvorstellung und die Grenzen einer solchen Begriffsübertragung hin.62 Dort jedoch, wo es um die Legitimation politischer Forderungen geht, wird die naturale Projektion ohne kritischen Vorbehalt vollzogen; die bisweilen aufscheinende Einsicht in die Eigengesetzlichkeit der sozialen Welt weicht dem Bedürfnis, politischen Vorstellungen die objektive Gültigkeit eines Naturgesetzes zu verleihen. Ausgangspunkt von Carus1 Argumentation ist die naturphilosophische Stufenleiter-Theorie, wie sie auch durch Goethe vertreten wurde: Die zunehmende Differenzierung der Elemente eines Organismus gilt als Zeichen seiner Organisationshöhe.63 Dieses Gesetz, daß nämlich eine "möglichst große (...) Ungleichheit der Teile, bei möglichst vollkommener Einheit des Ganzen, überall als Beleg (...) höherer Vollkommenheit eines jeglichen Organismus erscheine"64, muß nach Carus auch auf die Menschheit als organisches Ganzes angewendet werden. Die Subordination von ungleichen Gliedern einer Gesellschaft wird zum Maßstab für deren Entwicklungsstand. Der Rückbezug auf die Natur legitimiert somit eine nicht-demokratische Gesellschaftsordnung: Klar ist sogleich, daß bei solcher Einförmigkeit und solchem einerlei alle höhere Wechselwirkung zwischen den Gliedern der Gesellschaft aufhören müßte, welche ja nur auf ein stetes Tauschen, ihrem Wesen nach, gegründet sein kann, auf ein Geben eines Etwas, das dem ändern fehlt, und auf ein Erhalten eines anderen etwas, dessen der eine 60
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Vom Urbilde des Staates, eine Abhandlung zur Physiologie der Menschheit (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. e. 86m). Ebd. Nul, 471 f., 489; Epi, 9. Vgl. HAXIV, 56. G III - D, 39.
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entbehrt. - Nicht aus dem Sich-gleich-sein also, sondern aus dem Ungleichsein geht das geheime Band hervor, welches die Menschheit zum großen Ganzen bindet, und nicht ein Haß und eine Ungerechtigkeit göttlicher Anordnung liegt in dieser Ungleichheit, sondern eine tiefe Liebe und höchste Gerechtigkeit, weil eben nur so die Vollendung des Allgemeinen erreicht werden konnte.63
Carus' naturphilosophische Begründung der nicht-egalitären Gesellschaftsordnung ist gewissermaßen eine auf den Stand der Zeit gebrachte Variante der im 18. Jahrhundert bekannten Legitimation der Feudalgesellschaft durch die statisch und hierarchisch klassifizierende Naturgeschichte.66 Die Vorstellung des sich entwickelnden und differenzierenden Organismus entspricht dabei durchaus der Dynamik und zunehmenden Komplexität der werdenden bürgerlichen Gesellschaft; zugleich aber fixiert sie das hierarchische Prinzip der bestehenden sozialen Ordnung. Seine normative Schlagkraft entfaltet dieser Naturalismus vor allem in der Auseinandersetzung mit alternativen Gesellschaftsentwürfen, die Carus in eine genetisch gedachte, physiologisch begründete Rangfolge der Staatsformen einordnet. So wird der Gedanke des Kommunismus mit dem Argument verworfen, es handele sich hierbei um eine überwundene Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung: Dieser Gedanke welcher in unserer Zeit so vielfaltig wieder aufgetaucht hat, er wurde gewöhnlich nur wegen der ihm nachgerechneten Unausfuhrbarkeit, Ungerechtigkeit und Gewaltsamkeit bekämpft und verworfen, aber man bedachte nicht, daß auf diesem Wege seine gänzliche Beseitigung in Wahrheit unmöglich ist, denn wir können nicht abläugnen, daß allerdings bedeutende Volksstämme, wie die Griechen und die alten Germanen, großentheils communistische Verfassungen gehabt haben, daß also Ausführbarkeit und innere Gerechtigkeit auch einer solchen in so weit keineswegs bestritten werden können.Anders ist es dagegen, sobald wir die Lehre vom Organismus schlechthin, welche auch über den Organismus des Staates entscheiden muß, hierbei zu Rathe ziehen.- Hier tritt uns das große Gesetz ganz unumwunden sogleich entgegen, welches uns sagt, nicht ein Organismus in durchaus gleichartige Theile gegliedert, sondern der in möglichst viele und möglichst mannigfaltige, überall aber in einer höhern Einheit aufgehende Theile gegliederte Organismus ist der vollkommnere und geistig höhere.67
Der Kommunismus erscheint demnach als "embryonischer Zustand" des Staatslebens, der seinerzeit durchaus angemessen war; "wer dagegen glaubt, daß auf der Höhe der Cultur, in der durch und durch auf Mannigfaltigkeit ruhenden Entwicklung des Staates abermals dieser elementare, dieser Naturzustand bestehen könne, der verwechselt die Begriffe und 65
66
67
G III - D, 40 f. Zur naturgeschichtlichen Rechtfertigung des Feudalsystems vgl. Lepenies 1976, 47 f., 161-168. Vom Urbilde des Staates, eine Abhandlung zur Physiologie der Menschheit (Handschrift; Sächsische Landesbibliothek Dresden, Mscr. Dresd. e. 86m).
208
"Die Welt als Natur"
entbehrt der einfachsten Einsicht".68 Die physiologische Optik befreit von der Mühe staatstheoretischen oder verfassungspolitischen Argumentierens, indem sie eine vermeintlich naturgegebene Entwicklungslogik des gesellschaftlichen Lebens konstatiert. Auch die von ihm selbst favorisierte Staatsform leitet Carus auf diese Weise aus physiologischen Gesetzmäßigkeiten ab. Die Vollkommenheit eines Organismus offenbart sich nämlich nicht allein in der prinzipiellen Ungleichheit seiner Teile, sondern genauer "in dem Verhältniß seiner besondren Organe, auf ein höheres centrales Gebilde, und dieses centrale Verhältniß ist es denn zunächst wodurch der Organismus, wie für vieles Andre, so auch das Vorbild für den Staat wird. "69 Nach Carus folgt daraus, daß die Monarchie - die letztliche Konzentration der Regierungsmacht in einer Person - als höchste Staatsform zu gelten hat: Die Regierung muß also in sich auch wieder ein organisches Ganzes darstellen deren mannichfaltige Glieder zu höchst erst in einer innersten Mitte ihren Stützpunkt finden, eine Mitte welche wenn sie in der Person eines angestammten, d.h. eines tief in der Geschichte des Volks begründeten Fürsten gegeben ist, allemal das glücklichste und offenbar das dem Begriffe der organischen Centricität angemeßenste Verhältniß gewährt.70
Daß die Organismus-Analogie auch anders als in der angegebenen Weise gedeutet werden könnte, beweist Carus, ohne es zu wollen, selber: An anderer Stelle nämlich identifiziert er den 'Kopf des Staates nicht etwa mit dem Herrscher, sondern sieht die "Organe der Intelligenz"71 durch die Wissenschaft, die im entwickelten, idealen Staat eine führende Funktion besitzen soll, repräsentiert. Im Gegensatz zur monarchistischen Auslegung der Organismusmetapher zeigt sich die eher bürgerlich-liberale Seite von Carus' politischem Denken, wenn er zur Beurteilung der inneren Verhältnisse des Staates kommt. Die verschiedenen Zweige des Staatslebens betrachtet er hierbei wiederum nach Analogie einzelner organischer Funktionen: ...und so finden wir denn, daß wie im lebenden Körper vegetative und animate Functionen sich unterscheiden, deren erstere in Ernähren und Zerstören, Circulation und Zeugung in gleicher Weise zerfallen, wie auf der ändern, eine sensitive und motorische, materiell stützende und geistig befreiende und erhebende Seite, als besondre sich darstellen, so auch das innere Staatsleben die zwiefachen Regionen des materiellen und ideellen Lebens darbietet, in welchen denn wieder jederseits eine vierfache Theilung unschwer sich nachweisen läßt, und zwar so, daß in der ersten Abtheilung, Agricultur, Kriegswesen,
68 69 70 71
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
Physiologie und Politik
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Handel und Erziehung, in der ändern Kunst, Handwerk, Justiz, sowie Wissenschaft und Religion, jene Gliederung vollständig wiederholen.72
Die Vorstellung des realen gesunden Organismus, in dem jedes System "ungehindert und mit Leichtigkeit innerhalb der ihm bestimmten Grenzen seine Functionen übt"73, gilt zugleich als Maßstab für die 'Gesundheit' des Staatsorganismus: Die einzelnen Sphären des Staatslebens sollen möglichst ohne äußere Beschränkung oder Intervention ihre Aufgabe erfüllen. Die organische Notwendigkeit einer solchen "Freiheit innerhalb des Gesetzes" bekundet sich Carus zufolge in der Geschichte der Staaten, die zahlreiche Beispiele aufweise, "wo einseitiger, willkührlicher Druck und sklavischer Zwang, indem er zunächst auf nur einzelnen Gliedern des Staatslebens, auf Wissen und Glauben, oder Ackerbau und Handwerk, oder Erziehung oder Handel lastete, ganze Staaten zugrunde richtete".74 Hier also eröffnet der Organismus-Vergleich einen Interpretationsspielraum in ganz anderer Richtung: Er dient der Legitimation einer an der klassischen Wirtschaftstheorie von Adam Smith orientierten liberalen Grundhaltung.75 Die Anwendung natürlicher Gesetzmäßigkeiten auf gesellschaftliche Phänomene folgt, so zeigen die genannten Beispiele, den zum Teil recht verschlungenen Wegen von Carus1 politischem Denken. Die OrganismusKategorie ist offen und vage genug, um sich mit den verschiedensten sozialen Wertvorstellungen und politischen Maximen verbinden zu lassen. Diese wiederum gewinnen durch ihre Naturalisierung eine unbedingte Autorität. Für Carus freilich stellt sich dieser Begründungszusammenhang ganz anders dar: Aus seiner Perspektive besitzt die Naturwissenschaft tatsächlich unmittelbar politische Relevanz. Indem sie die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Organisation und Entwicklung erforscht, liefert sie zugleich die Regeln gesellschaftlicher Praxis. Das Studium der Physiologie wird gewissermaßen zur juristischen Propädeutik: "Man darf es keck sagen, manche Erleuchtung, manche Gesetzbegründung könnte der Staatsmann besser erhalten aus dem Studium der Lehren der Physiologie, als aus verjährten Actenstößen und tiefbestäubten Pergamenten."76 Nach Carus' Auffassung besteht kein Zweifel, daß der Bereich des Natürlichen in diesem Sinne auch die gesellschaftliche Sphäre umfaßt: "Denn wo können wir für alle unsre menschlichen Einrichtungen, für den Organismus des Staates (...) und 72 73 74
73 76
Nul, 484. Nul, 485. Nul, 485. Zu Carus' Verehrung für den "genialen Schotten" vgl. Nul, 485 f. Ph, 474.
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des gesamten öffentlichen und häuslichen Lebens ein wichtigeres und bedeutungsvolleres Vorbild finden, als in dem großen Organismus der Natur?"77 Fragt man nach, was sich Carus unter einer 'physiologischen Politik1 vorstellt, so stößt man, abgesehen von der beschriebenen Gesellschaftslehre, auf eine umfassend gedachte Maßhaltenorm, die der politischgeschichtlichen Welt eben jene Stabilität bescheren soll, wie sie Carus in der Natur sucht und findet. Schon die Formulierung, daß der Naturforscher als "Apostel eines weltlichen Evangeliums"78 zu betrachten sei, verweist darauf, daß hier der Naturbegriff zur Grundlage einer allerdings konservativen - politischen Utopie gemacht wird. Carus wendet den naturästhetischen Topos der allverbreiteten Harmonie zum Wunschbild einer evolutionär sich entwickelnden, befriedeten Sozialordnung. Die programmatische Bestimmung der Gesellschaft in Begriffen des Organisch-Gestalthaften verdankt sich dem "Bedürfniß nach harmonischer Einordnung des Allgemeinen"79. Die postulierte Maßhaltung bezieht sich vor allem auf das Verhältnis von Bewahrung und Neuerung: So verteidigt Carus einerseits das "organische" Recht der Tradition gegen den bürgerlichen Willen zur aktiven Gestaltung der gesellschaftlichen Realität; der Gedanke einer "natürlichen", immanenten Entfaltung wird gegen die vermeintliche Abstraktheit gesellschaftsverändernder Programme ausgespielt.80 Andererseits hält er einer starr restaurativen Politik die Notwendigkeit "organischer" Entwicklung und Veränderung entgegen: Eben in der Schwierigkeit, ja oft Unmöglichkeit, so manches in unsern Einrichtungen, woran der klare Verstand sehr leicht entschiedene Mangelhaftigkeit und zuweilen selbst eine gewisse Absurdität nachweisen könnte, trotzdem anders zu gestalten und neu einzurichten, bewährt sich dann das Recht der organischen Fortbildung der Menschheit im großen, welche ja eben, wie alles lebendige, stets neben dem Rationalen ein Maß von Irrationalem fordert, damit sie nur überhaupt ein Wirkliches werde und bleibe. (...) Wie viel unglücklich abgelaufene Versuche von Staatsverbesserungen hätten allein bei hellen Ansichten dieser Art sich vermeiden lassen! Allerdings wäre es aber auch wieder eine verkehrte Anwendung solcher Erkenntniß, alles, was einmal historisch sich entwickelt hat, als gänzlich unantastbar und für immer nothwendig anzusehen. Auch hierin gibt die Betrachtung der organischen Verhältnisse den besten Maßstab! Selbst in lebendigen Bildungen sehen wir ja, wie gewisse Formen zum Untergange bestimmt sind und durch neue ersetzt werden sollen..."
77 78 79 80
81
Rez, 497. Rez, 497. LuD IV, 35. Vgl. LuD III, 213; LuD IV, 91. LuD 1,255.
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Keineswegs also ist Carus blinder Traditionalist oder bloßer Reaktionär; vielmehr vertritt er - wie so viele politisch eher indifferente Zeitgenossen - eine konservative Grundhaltung als Reaktion auf die "überschwenglichen Forderungen der Demokratie"82. Für Carus legen die Verfechter der republikanischen Idee überzogene Maßstäbe an und berauben dadurch das Bestehende seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Am ehesten noch kann er sich als idealistischer Naturphilosoph - im "Vertrauen auf das große Unbewußte, was im Organismus jedes Volkes lebt" - mit dem "jugendlichen Ringen der Idee im Herzen Europas"83 anfreunden. Immer aber verbleiben Carus1 politische Vorstellungen im Rahmen einer Gesellschaftsordnung, die in Oben und Unten, Regierende und Regierte sich teilt. Der Einzelne - so sei erinnert - wird dabei auf das Ideal einer zurückgezogenen und naturwissenschaftlich geprägten Bildung verwiesen, nicht zuletzt eben, um die "Fesseln" des Daseins als "Naturnothwendigkeit"84 akzeptieren zu können. "Lerne gehorchen!" lautet daher die Maxime, in der sich die Vorstellung einer 'natürlichen' Harmonie der Gesellschaft verdichtet: Jenes große Wort, (...) lerne gehorchen, es war in den verflossenen Jahren mehr und mehr in Vergessenheit gekommen, und zwar sowol bei den Völkern - zu gehorchen dem Gesetz - als bei den Regierungen - zu gehorchen dem Rechte der Zeit. Wer aufmerksam unsern Zuständen nachgeht, möchte leicht schon in diesem Einen den ersten Grund des meisten Elends finden, welches Europa in den letzten Zeiten verwüstete. Gewiß ist es jedenfalls, daß, je mehr und um so vollständiger dieses Wort nach oben und unten zur Geltung gebracht wird, um so mehr werden unsere Hoffnungen sich erheben dürfen!85
Die Physiologie lehrt die Regierenden, "in dem rechten Mittelwege vorzuschreiten"86, und den Bürger, sich zu fügen. Die mit dem Programm der poetischen Wissenschaft angestrebte Versöhnung von Mensch und Natur gewinnt solcherart eine praktisch-politische Pointe.
82 83 84 83 86
LuD II, 316. LuD II, 250 f. LuD I, 54. LuD IV, 32 f. LuD I, 255.
V. Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens bei Carl Gustav Carus Carus hat den Gedanken einer Verbindung von Kunst und Wissenschaft als umfassendes weltanschauliches Konvergenzprogramm entwickelt. Die in der Moderne auseinanderdriftenden Bereiche - hier die empirischrationale, spezialisierte Wissenschaft, dort die subjektiv-autonome Kunst - sollten im Hinblick auf die Versöhnung von Mensch und Natur zur Synthese gebracht werden. Schon zu Carus1 Lebzeiten erschien angesichts der positivistischen, zunehmend technisch-ökonomisch ausgerichteten Wissenschaft und ihrer Folgen - wie der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften - ein solches Denken obsolet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet der idealistische Naturphilosoph mitsamt seinen ästhetisch-wissenschaftlichen Ansichten und Einsichten in Vergessenheit. In zweierlei Hinsicht wurde Carus im 20. Jahrhundert dann wiederentdeckt: Mit einer Neuausgabe der Psyche im Jahr 1926 leitete Ludwig Klages eine Renaissance der - lebensphilosophisch gedeuteten - Psychologie von Carus ein, und im Kontext der morphologischen Literaturwissenschaft der 50er Jahre erinnerte man sich an Carus als kongenialen Deuter von Goethes Leben und Werk.1 Beide Aktualisierungsversuche sind ihrerseits Geschichte. Was aber gerade heute - im Zeichen der manifesten Umweltkrise und mit wachsender Einsicht in die Problematik einer technisch-wissenschaftlichen, instrumentalistischen Naturbeziehung - erneut beachtenswert erscheint, ist Carus' Versuch, einen anderen, ästhetisch-wissenschaftlichen Umgang mit Natur zu denken und zu praktizieren. Während in den 50er bis 70er Jahren selbst wohlwollende Kommentatoren eher die Unwissenschaftlichkeit und Rückständigkeit von Carus' Methodenlehre betonten,2 hat die Ökologiedebatte der vergangenen fünfzehn Jahre deutlich gemacht, daß die Teilhabe am Fortschritt der neuzeitlichen Wissenschaft nicht der alleinige Beurteilungsmaßstab eines solchen Naturdenkens sein kann. Die Erkenntnis, daß die moderne, wissenschaftlich-objektive Auffassung der Natur mitverantwortlich ist für die Praxis ihrer technischen Aneignung 1 2
Zur literaturwissenschaftlichen Bezugnahme auf Carus vgl. Mandelkow 1977, XLVII. Vgl. z.B. Arnold 1954, 14 f.; Hard 1964, 339 f.; Kühn 1972, 43 f.; Piepmeier 1980, 22 f.
Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens
213
und Zerstörung, hat den Rückgriff auf vergessene Naturkonzepte und verschüttete Alternativen der Wissenschaft begründet. Dieser Bewußtseinswandel führte nicht gerade zu einer neuerlichen Carus-Renaissance, wohl aber - unter anderem - zu einer verstärkten und neuartigen Würdigung der Goetheschen Natur- und Wissenschaftslehre.3 Die Goethe-Rezeption v.a. der 80er Jahre soll daher zum Anlaß genommen werden, die Möglichkeiten einer Vergegenwärtigung des ästhetischwissenschaftlichen Naturdenkens, wie es Goethe und Carus gleichermaßen eignet, zu diskutieren. Zunächst erscheinen die alternativen Wissenschaftsentwürfe um und nach 1800 deshalb als geeignete Gegenstände einer Erinnerungsarbeit, weil sie bereits eine Reaktion auf die neuzeitliche Objektivierung der Natur darstellen. Cams' und Goethes Naturdenken setzt die Erfahrung der Trennung des modernen Individuums von der mathematisch erklärten und technisch verfügbaren Natur voraus. Ihr Versuch einer Vermittlung ist bereits gekennzeichnet durch jenen Widersinn, ohne den die emphatische Erinnerung an vormoderne Naturbegriffe nicht möglich scheint, und jenen Eigensinn, der heute vielleicht nötig ist. Daher betont Hartmut Böhme daß Goethe in "sentimentalischer Reflektiertheit" auf vormoderne Konzepte von Natur insistiere: Jene paradoxe Haltung, die Kant als epochale Wendemarke respektiert, und dennoch einen NaturbegrifT zu wahren unternimmt, der im Kantschen Sinn 'überschwenglich' ist, wäre von heute aus zu lesen als das sensible Wahrnehmen davon, daß die Fortschritte der Naturbeherrschung auch einen gravierenden Verlust bedeuten.4
Nach Böhme betreibt Goethe "eine Form von Erinnerungsarbeit, der Archivierung von Gedächtnisspuren und verlorenen Wissensbeständen": "Diese Erinnerungsarbeit Goethes ist angelegt auf zukünftige Entzifferung. Um diese muß es heute zunächst gehen: die Aufarbeitung des historisch Verdrängten von Naturkonzepten, um deren Verdrängung Goethe bereits wußte."5 Böhme deutet Goethes Naturdenken als ideal-utopischen Entwurf, "dessen Offensein zur Zukunft (...) sich der Kraft vergegenwärtigender Erinnerung"6 verdankt. Diese Dialektik von 3
4 5 6
Vgl. Böhme 1980, 123-153; Kreutzer 1980, 31-46; Flügge 1982; den Dialog von Rupert Riedl und Alfred Schmidt in Eggebrecht 1982, 24-37; Bürger 1983, 25-30; Schmidt 1984, bes. 9-19; Koranyi 1984, bes. 9 ff., 65 ff.; Böhler 1984; die Referate des Triestiner Kongresses zum Thema "Goethe und die Natur" (= Glaser 1988); Böhme 1988, 145-178; Böhme 1989, 48, 102 ff.; Böhme 1992, 132; Apel 1994. Zur aktuellen Würdigung der Carus'schen Naturphilosophie und Wissenschaft vgl. Meffert 1986, 11, 183-190; MüllerFunk 1988, bes. 75 f. Böhme 1988, 146. Böhme 1988, 147. Ebd.
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Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens
Erinnerung und Utopie mag für heute gelten; auf Goethe angewandt, übergeht sie jedoch die historische Aktualität dieses Naturkonzepts: Die im Hinblick auf die ganzheitliche Naturauffassung angestrebte Verbindung von Poesie und Wissenschaft denkt Goethe nicht als ferne Utopie, sondern als realisierbare Möglichkeit eines historischen Umschwungs.7 Mehr noch: Goethe widmet - wie auch Carus - der Vereinigung von Poesie und Wissenschaft jahrzehntelang konkrete Arbeit. Nicht uer utopische Charakter dieses Entwurfs, sondern das Bemühen, den emphatischen Naturbegriff tatsächlich in wissenschaftliche Praxis umzusetzen, macht Wert und Würde des Goetheschen Standpunkts aus. Zugleich aber läßt sich hieran der Abstand ermessen, der uns heute von Carus und Goethe trennt: Beide konnten sich im Rahmen der morphologischen Naturwissenschaft noch in der Gewißheit fühlen, am Fortschritt der Naturerkenntnis mitzuarbeiten. Zudem gab es noch "weite Bereiche, in denen auch der aufmerksame und umsichtige Blick des gebildeten Autodidakten und duellierenden Nicht-Spezialisten die Naturwissenschaft fördern konnte"8 - mit jener Empirie des bloß Anschaulichen, die sich in Kunst hinein verlängern konnte. Wenn auch Goethe und Carus das Prinzip unmittelbarer Erfahrung und den Zusammenhang von Forschung und Subjekt bereits gegen die übermächtige objektivierende Denkart verteidigen mußten, so belegt doch die faktische Bedeutung autodidaktischer Liebhaber-Forscher, daß bis ins 19. Jahrhundert hinein die Trennung des naturwissenschaftlichen Professionalismus vom Lebenszusammenhang, die Trennung wissenschaftlicher Erkenntnis von unmittelbarer Erfahrung noch nicht endgültig vollzogen war. Der universelle Standpunkt war auch angesichts der Herausbildung der Einzeldisziplinen noch haltbar, als relativer Anspruch auf naturphilosophische Integration empirischer Erkenntnisse. Nicht zuletzt - so bemerkt auch Hartmut Böhme - war es eine Epoche, "in der mythische oder alchemistische 'Bilder' der Natur gerade noch real erlebbar waren - vor ihrem Untergang in der entzauberten Welt der Industrie"9. Will man ahistorische Kurzschlüsse und naive Setzungen vermeiden, scheinen sich zwei Möglichkeiten zu bieten, das Goethe-Carus'sche Naturdenken zu vergegenwärtigen: zum einen im Hinblick auf eine dem 'verdinglichten1 Naturbegriff der Wissenschaft entgegengesetzte Naturästhetik, zum anderen im Hinblick auf eine neue Natur- und Wissenschaftsethik. Tatsächlich lassen sich die meisten Versuche, einen 7 8 9
Dies betont Böhler 1984, 329. Hard 1964, 338. Böhme 1988, 171.
Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens
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gegenwärtigen Gewinn aus Goethe zu ziehen, diesen Varianten zuordnen. Beide Varianten setzen aber eine Modifikation der eigentlichen Position Goethes und Cams' voraus: Sie konnten den 'anderen' Umgang mit Natur noch als Verbindung von Poesie und Wissenschaft projektieren. Diesen Unterschied gilt es nicht zu verdecken, sondern für eine angemessene Aktualisierung herauszuarbeiten. Für die Frage nach der möglichen Qualität ästhetischer Naturerfahrung und -Vermittlung sei wiederum auf Hartmut Böhme verwiesen. Seine Analyse von Goethes Naturforschung und dem poetischen Verfahren im Wilhelm Meister mündet in folgendes Fazit: Goethe wäre beerbbar unter zwei Voraussetzungen: (1) daß man die rationalistische Zensur und die Angst vor Denkformen aufhebt, in denen Goethe tatsächlich dachte, und (2) daß man diese Denkformen radikaler Reflexion unterzieht. Damit meine ich, daß in den Formen des Nicht-mehr-Möglichen - des Mythos, der Alchemie, der Natursprachenlehre - Spuren des Wahren liegen. Sie werden freigelegt für heutiges naturphilosophisches Denken, wenn man sie in der historischen Dialektik der Aufklärung sieht. Goethes Erbe ist nicht der Mythos, die Alchemie, die Signaturenlehre, die Naturfrömmigkeit, sondern daß er diese in Kunst transformiert. Kunst allein und ästhetische Erfahrung sind für ihn die möglichen Orte, an denen nichtideologisch die Idee einer erlösten Natur aufscheint, wenn auch nur negativ.10
Wenn Böhme solcherart bei Goethe anfängt und etwa bei Adorno endet der letzte Satz erinnert stark an dessen Dialektik des Naturschönen11 -, so ist dies bezeichnend: Goethes Wissenschaftslehre scheint heute nur als ästhetische Theorie lesbar. Dagegen war für Goethe die Regionalisierung lebendiger Natur, ihre Beschränkung auf den ausgegrenzten Bereich des Ästhetischen, noch nicht vollzogen;12 er hielt - trotz der postulierten Nähe - seine Art der Naturforschung nicht für Kunst; seine Wissenschaftslehre präsentiert sich nicht als ästhetisch-utopische Alternative, sondern sucht die konkrete Konfrontation mit dem wissenschaftlichen Gegner. Eine in diesem Punkt vergleichbare, nämlich ästhetisierende Vergegenwärtigung erfährt Carus' Naturdenken in der Landschaftstheorie von Joachim Ritter.13 Carus' Bestimmung der Landschaft als Präsenz des Naturganzen in zweckfreier Anschauung wird zu einem Hauptbeleg für den von Ritter hergestellten systematischen Zusammenhang zwischen Landschaft und philosophischer Theorie. Ritter zufolge hat sich die ästhetische Erfahrung der Natur in der Moderne als Korrelat der wissenschaftlichen Objektivierung und gesellschaftlichen Aneignung von Natur 10 11 12 13
Böhme 1988, 171 f. Vgl. Adorno 1973, 97-121, bes. 113 ff. Ebendies bemerkt auch Böhme an anderer Stelle (Böhme 1988, 157 f.). Vgl. hierzu auch Kap. 1.2.
216
Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens
herausgebildet: Im 'Hinausgehen' aus den Zonen bearbeiteter und beherrschter Natur wird die Landschaft als Hort lebendiger, wahrer und ganzer Natur erlebt. Allein die ästhetische Erfahrung und ihre literarische oder künstlerische Darstellung halten die philosophisch verlorene, begrifflich nicht mehr faßbare Einheit der Natur gegenwärtig. Auch bei Carus wird - so Ritter - "die Notwendigkeit ästhetisch vermittelter Wahrheit aus dem Verhältnis zur 'kopernikanischen', aus dem Zusammenhang des Daseins und seiner Anschauung gelösten Objektiven' Natur der Naturwissenschaft begründet."14 Bereits Carus beziehe das Interesse an der Landschaft auf die EntzweiungsStruktur der modernen Gesellschaft, auf die Entfremdung des Menschen von der Natur als Bedingung seiner Freiheit.15 Carus1 metaphysische Überhöhung des Naturschönen wird so zum Baustein einer systematischen Theorie der Landschaft, die diese als Statthalter der verschwundenen 'ganzen1 Natur begreift. Nun ist die ästhetisierende Vergegenwärtigung von Goethes oder Carus' Naturdenken durchaus legitim, sieht sich aber vor eigene Probleme gestellt. Wer die ganzheitliche Vorstellung einer organischen Natur und das Postulat eines kommunikativen Umgangs mit ihr als ästhetischen Gegenentwurf zum instrumentalistischen Naturverhältnis der modernen Wissenschaft beansprucht, kann sich der Frage nach den heutigen Möglichkeiten sinnlich-qualitativer Naturerfahrung ebensowenig entziehen wie der Frage nach den theoretischen Erfordernissen einer aktuellen Naturästhetik. Gerade die Erinnerung vergangener Naturkonzepte nötigt zur Reflexion auf die historische Entwicklung der Naturerfahrung. So wurde beispielsweise gegen Ritter argumentiert, daß sich die von ihm beschriebene Art der Landschaftserfahrung auf einen vergangenen Zustand der Natur beziehe und daher heute in dieser Form nicht mehr möglich sei.16 Ästhetische Vergegenwärtigung der 'ganzen' Natur als Landschaft setze die Opposition von gesellschaftlich angeeigneter und freier Natur voraus. Eben diese Bedingung sei heute nicht mehr erfüllt: Zumindest im 'mittleren1, dem Menschen sinnlich zugänglichen Größenbereich gebe es nur noch bearbeitete, beherrschte, sozial konstituierte Natur: 14 15 16
Ritter 1963, 25. Ritter 1963, 45 f. Vgl. die Diskussion über das Ende der ästhetischen Kategorie "Landschaft" bei Piepmeier 1980; Sieferle 1986; Wedewer 1986, bes. 124 f. Zur Theorie der menschengemachten Natur und der Auflösung klassischer Oppositionen - Natur einerseits und Technik, Kultur, Erziehung, Zivilisation andererseits- vgl. Moscovici 1984; Böhme/Schramm 1985, bes. 5-15, 123-128; Böhme 1992, 9-25.
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Es liegt so in der Konsequenz von 'Landschaft', daß sie abhängig ist von der Dynamik, die sie entstehen ließ und daß sie im Modus der Ästhetisierung ein Vorübergehendes ist. Es läßt sich wohl - als utopische Möglichkeit - ein Zustand denken, der die Dynamik der gesellschaftlichen Aneignung von Natur auf dem Stande der Entwicklung, wo sie 'Landschaft' entstehen ließ, in einem statischen Zustand stillstellte. Die geschichtliche Realität ist hierüber schon hinaus...17
Aus dieser Perspektive ist auch die ästhetische Aktualisierung von Goethes oder Carus1 Naturbegriff unmöglich: Erfahrung und Denken des Naturschönen gehören demnach der Vergangenheit an. Jedoch ist damit das letzte Wort nicht gesprochen. Auch wenn sich nämlich das ästhetische Interesse vorzugsweise auf die "freie" Natur richtet, ist diese "freie" Natur zu keinem Zeitpunkt eine "unberührte" Natur als lokalisierbarer Gegensatz zu der anderen, der umgeformten und beherrschten Natur gewesen. Insofern ist die ästhetische Naturbetrachtung nicht an einen bestimmten historischen Stand der Naturbeherrschung gebunden; sie zielt vielmehr auf das relativ Freie an der nie ganz verfügbaren Natur.18 Die fortschreitende Aneignung der Natur unterbindet also nicht die Möglichkeit ästhetischen Naturerlebens überhaupt; sie bewirkt aber - dies ist keinesfalls zu vernachlässigen einen Wandel seiner Form und seiner gesellschaftlichen Funktion. In zunehmendem Maße muß von der technischen Veranstaltung und dem medialen Gebrauch der Natur abgesehen werden: Mit der Quantität des Auszublendenden ändert sich die Qualität der Naturerfahrung. Angesichts der allseits verwerteten und verwalteten - sei es geschützten und musealisierten, sei es umgeformten und zerstörten - Natur ist das Landschaftserleben beständig in Gefahr zu degenerieren: Als Freizeitlandschaft verkommt das Naturschöne zur Ware und zum Werbeträger; die ästhetische Einstellung gerät leicht zur sentimentalen und kompensatorischen Attitüde; der freie Genuß der Landschaft leidet unter dem Aufwand, der zu seiner Herstellung nötig ist, oder verflüchtigt sich im Zwang zur Selektion des Wahrgenommenen. Wenn schon bei Cams das Naturerleben zur Ideologie einer romantisch stilisierten Gegenwelt gerinnen kann, so ist gegenüber einer Apologie des Naturschönen unter den aktuellen Bedingungen umso größere Vorsicht geboten. Selbst wenn man ästhetische Naturerfahrung auch jenseits von Nostalgie und Illusion gelten läßt, bleibt immer noch die Frage, ob eine Ästhetik der Natur - der Hauptgrund ihrer gegenwärtigen Konjunktur besteht ja im sogenannten Umweltproblem - dem an sie gestellten praktischen Anspruch auf Änderung des menschlichen Naturverhältnisses gerecht werden kann. 17 18
Piepmeier 1980, 34. Diese Position vertritt auch Seel 1991, 27 f.; vgl. 230 f. Für eine Kritik an der allgemeinen Theorie der total angeeigneten, menschengemachten Natur siehe Lenk 1983.
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Zur Aktualität des ästhetisch-wissenschaftlichen Naturdenkens
Zweifel an der Aktualisierbarkeit des Goethe-Carus'schen Naturdenkens weckt nicht nur die Tatsache, daß sich die realen Bedingungen und die Funktion ästhetischer Naturwahrnehmung geändert haben, sondern auch die Einsicht, daß es sich bei dem Programm der poetischen Wissenschaft um den avancierten, modern formulierten Versuch einer Rettung platonisch-idealistischer Ästhetik handelt: Noch einmal erscheint das Schöne hier als das Wahre, als Offenbarung eines höheren Sinns. Sehr viel diskutabler als die radikale Verabschiedung jeglicher Naturästhetik erscheint mir daher der Vorwurf, eine Ästhetik der Natur wie die Carus'sche verfehle das Spezifische ihres Gegenstandes, indem sie das ästhetische Naturverhältnis als untergeordnete Variante der theoretischen Naturbeziehung auffasse und das sinnlichkonkrete Erleben dem übersinnlichen Bezug aufs Naturganze opfere. Aus der Perspektive einer entschieden profanen Ästhetik der Natur, wie sie Martin Seel vorgelegt hat, muß dies so scheinen: Seel zufolge ist bereits Joachim Ritters funktionale Landschaftstheorie nichts anderes als eine Ideologie der ästhetischen Natur, die die philosophisch verabschiedete Metaphysik ästhetisch rehabilitiert und dabei die phänomenale Eigenart ihres Gegenstandes - der Landschaft - völlig mißachtet. Umso mehr vertritt aus dieser Sicht Carus - nach Seel "Ritters idealer Zeuge"19 - den vormodernen Typus der Naturerfahrung. Für Seel dagegen besteht die eigentlich moderne Landschaftserfahrung gerade im Aufbrechen der metaphysischen Einheit des Naturschönen und im Auseinandertreten der drei von ihm unterschiedenen ästhetischen Naturverhältnisse: der kontemplativen, der korresponsiven und der imaginativen Dimension des Naturschönen. Kontemplation beschreibt Seel als "ästhetische Praxis einer Scheidung der Sinne vom Sinn"20: Die interesselose Aufmerksamkeit der kontemplativen Wahrnehmung zielt allein auf das "veränderliche Sichbieten der Phänomene"21, auf die sinnfremde Individualität des gegenwärtig Gegebenen. Dagegen wird Natur in korresponsiver Form als "Ausdruck und Teil der durch sie eröffneten Möglichkeit guten Lebens erfahren"22: Die Landschaft erscheint als affektiv besetzter Lebensraum. Anders als in der reinen Kontemplation ist für diese existentielle Form ästhetischer Erfahrung die Natur beredt; allerdings sprechen aus dem Charakter und den Atmosphären einer Landschaft nichts anderes als unsere Entwürfe des Lebens. In imaginativer Hinsicht schließlich wird die Natur im Zeichen der Kunst - "als ob sie ein künstlerischer 19 20 21 22
Seel Seel Seel Seel
1991, 227 (Anm.48). 1991, 53. 1991, 41. 1991, 90.
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Formzusammenhang wäre"23 - wahrgenommen. Der Kunstschein der Natur ist Erzeugnis der ordnungsstiftenden Phantasie des Betrachters, bleibt allerdings "von der Gunst bestimmter Naturaugenblicke abhängig"24. - Die Vorstellung einer ästhetisch erinnerten Sinneinheit der 'ganzen1 Natur ist dieser radikal profanen Lehre vom Gefallen an der Natur fremd; jegliche - wie auch immer gebrochene - Allusion an einen metaphysischen Naturbegriff gilt ihr unter den Bedingungen der Moderne als antiquiert und ideologisch.25 Es liegt nahe, Cams vor diesem Hintergrund als Vertreter einer vormodernen, auch seinerzeit längst nicht mehr gangbaren Metaphysik des Naturschönen zu beurteilen. Jedoch wird eine solche Pauschalkritik der Carus'schen Ästhetik nicht gerecht. Auf der Suche nach stichhaltigen Theoremen einer gegenwärtig möglichen, nicht-metaphysischen Naturästhetik wird man nämlich bei Carus durchaus fündig. Wenn auch die eigentliche Pointe seines Denkens gerade in der Synthese der verschiedenen Zugangsweisen zur Natur besteht, so geht Carus doch zunächst von einer Pluralität der Naturverhältnisse aus, wie sie historisch die Moderne kennzeichnet: Die philosophische oder theoretische Naturerfassung wird von der empirisch-wissenschaftlichen unterschieden;26 der ästhetischkommunikative Zugang zur Natur wird ihrer technisch-ökonomischen Nutzung gegenübergestellt;27 die lebensweltliche Dimension des menschlichen Naturverhältnisses wird im Kontext eines ökologischen Naturbegriffs, der den Menschen als aktiven und notwendigen Teil natürlicher Kreisläufe erscheinen läßt, beschrieben.28 Ebenso teilt Carus die kritische Einsicht, daß die verschiedenen Dimensionen der Natur als Verhältnis des Menschen zu ihr gegeben sind; so bemerkt er beispielsweise, daß ein und derselbe Vorgang im Naturleben sich völlig unterschiedlich darstelle, je nachdem ob er in ästhetischer Beziehung nach der Wirkung des Phänomens auf das Gefühl also -, in chemischer, morphologischer oder mathematischer Beziehung wahrgenommen werde.29 Zugleich weiß Carus um die Historizität seines Gegenstandes: Die ästhetische Würdigung der Natur gilt ihm als spätes, neuzeitliches Phänomen, das "höhere Bildung und Erfahrung"30 voraussetzt. Auch 23 24 25 26 27 28 29 30
Seel 1991, 136. Seel 1991, 137. Vgl. z.B. Seels Kritik an Bloch und Adorno (Seel 1991, 124-128, 178-181). Vgl. z.B. LuD I, 249. Vgl. BLM, 83 f. Vgl. NR, 76 f. BEL, 54. BLM, 83.
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betont er bereits den dialektischen Bezug des anschaulichen Gefallens an der Natur auf ihre Objektivierung und Beherrschung, auf die Entfremdung von ihr;31 grundsätzlich begegne in der ästhetischen Einstellung die Natur als ferne und fremde Instanz.32 - Entscheidende Voraussetzungen einer reflektierten, modernen Naturästhetik sind hier - wie ich meine durchaus gegeben. Auch Carus1 eigentliche Beschreibung und Deutung des Gefallens an der Natur ist - folgt man Seels dreifacher Lehre - so unergiebig nicht. Weit davon entfernt, die vergängliche Mannigfaltigkeit der natürlichen Erscheinungen "blos als Mittel zum Zweck besonderer Vernunftdarbildung" zu betrachten, ist Carus durchaus in der Lage, das sinnliche Spiel der Phänomene zu würdigen; "gerade diese Flüchtigkeit der Erscheinungen", die individuell-augenblickliche Daseinsweise der Naturdinge, gilt ihm als Gegenstand der ästhetischen Kontemplation.33 So findet sich auch bei Carus die von Seel allein Humboldt zugestandene differenzierende Anschauung, in der die Einheit konkreter Landschaften auf die simultane Erfassung ihrer divergierenden Gestalten bezogen wird. Eine solche individualisierende Wahrnehmungsweise spricht etwa aus Carus' Überzeugung, daß "alle Harmonie der Gesammterscheinung einer Gegend nur im Moment besteht, und der nächstfolgende Moment nothwendig schon eine Modification allgemeiner Stimmung erzeugt. Man denke doch nur an das Licht und an die tausendfältigen Nuancen welche sich ergeben, durch Veränderung des Standes der Sonne, durch Änderung der Temperatur, durch Wolkenzug und größere oder geringere Feuchtigkeit der Atmosphäre!"34 Insofern hat Carus auch in Hinsicht auf die sinnhaft-expressive Seite des Naturschönen anderes zu bieten als die ohne Zweifel dominante Lehre von der Natur als "Sprache Gottes"35. Ihm wird die Landschaft nicht - um mit Seel zu sprechen - zum "uniformen Sakralbau eines verschwundenen Allgemeinen"36: Vielmehr bezieht er die Gemütswirkung der Natur auf den konkreten Charakter eines bestimmten Landschaftsausschnitts in seiner atmosphärischen Brechung. Cams' Bestimmung der ausdruckhaften, korresponsiven Qualität des Naturschönen beinhaltet verschiedene Komponenten: Das halb idealistisch, halb realistisch gefaßte Prinzip des Physiognomischen - aus jeglicher Naturform spricht die ihr innewohnende Idee, aber auch ihre reale Geschichte - wird ergänzt durch die 31 32 33 34 35 36
PS, 433 f. BLM, 28. LuD I, 297; vgl. BLM, 22 f; LuD II, 248 f.; Paris I, 104 ff. BLM, 254 f. BLM, 84. Seel 1991, 229.
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subjektive Korrespondenztheorie, die einen Zusammenhang zwischen flüchtigen Naturzuständen und Gemütsstimmungen herstellt.37 Insoweit ist die von Seel im Hinblick auf die korresponsive Naturwahrnehmung getroffene Unterscheidung von bleibendem Charakter und veränderlicher Atmosphäre einer Landschaft bei Cams vorformuliert.38 In diesem Zusammenhang verdienen auch Carus' Ansätze zu einer psychologischen Ästhetik, wie sie für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristisch werden wird, Erwähnung: Das Phänomen ästhetischer Korrespondenz wird hier unabhängig vom metaphysischen Konzept einer Sprache der Natur erfaßt. In seinem System der Physiologie skizziert Carus die "Grundzüge einer Ästhetik des Auges"39, in der die "Beziehung der Gesichtsempfindung auf das Psychische"40, genauer die ästhetischen Wirkungen elementarer Gegebenheiten wie Formen und Farben, untersucht werden sollen. Ziel ist die sinnesphysiologisch abgesicherte Aufstellung grundlegender Gesetze der Färb- und Gestaltwirkung. Eine ökologisch motivierte Naturästhetik, die sich - wie diejenige Gernot Böhmes41 - als Wahrnehmungswissenschaft versteht und vor diesem Hintergrund Goethes Farbenlehre anerkennt, kann solche Ansätze ebenfalls integrieren.42 Schließlich kennt Carus die von Seel so genannte imaginative Dimension, den bild-haften, kunstbezogenen Wahrnehmungsmodus des Naturschönen. Mehrfach akzentuiert er die Funktion, die der Kunsterfahrung in der individuell-psychologischen wie der kollektiven Geschichte der Empfänglichkeit für das Naturschöne zukommt, ohne darum den kreativen Aspekt in der Naturwahrnehmung zu verabsolutieren.43 Aus all dem ergibt sich zunächst die Vielfalt und Sachhaltigkeit von Carus' Ausführungen zu (natur-)ästhetischen Fragen, die sich keinesfalls in einer konventionellen Metaphysik des Schönen erschöpfen. Insofern Carus die Diversität der ästhetischen Naturverhältnisse erkennt und ihre profanen Varianten als solche beschreibt, erweist er sich einmal mehr als unentschiedener Denker, der zwar der idealistischen Rückversicherung bedarf, gleichwohl aber das Konkrete im Blick behält. Allein eine kritische Analyse - so mag das Fazit lauten - findet hier in bewußter Selektion Anknüpfungspunkte für eine aktuelle Ästhetik der Natur. 37 38 39 40 41 42
43
Vgl. BLM, 43-53. Vgl. Seel 1991, 100 f., bes. Anm.16, wo Seel auf Carus verweist. SdPh III, 255. SdPh III, 254. Böhme 1980, 123-153; Böhme 1989, 7 ff.; Böhme 1992, 125-140. Auch Martin Seel würdigt in bezug auf das korresponsive Naturverhältnis Goethes Lehre von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben (Seel 1991, 99). Vgl. BLM 63, 96 ff., 135, 152 ff.; LuD II, 249.
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Eine solche gegenwärtige Ästhetik der Natur argumentiert dann nicht mehr mit einem - wie auch immer verstandenen - 'Inneren' der Natur gegenüber ihrem wissenschaftlich erfaßten und technisch verfügten 'Äußeren1.44 Sie kapituliert aber auch nicht vor der zunehmenden Aneignung und Zerstörung der Natur, verkündet also nicht etwa das Ende der ästhetischen Naturbeziehung. Sie setzt vielmehr das sinnlichqualitative Erleben der gestalthaften, eigenmächtig sich wandelnden Natur in seine Rechte ein: Es erscheint als legitimes und praktisch zu vertretendes Bedürfnis des Menschen. Daher muß eine gegenwärtige Theorie des Naturschönen den Horizont des Ästhetischen bewußt überschreiten. Ästhetische Naturerfahrung ist an die gesellschaftliche Praxis des Naturumgangs gebunden und muß umgekehrt im Zusammenhang mit einer sozialen Entwicklung der Natur projektiert werden: Soll die Forderung nach einem Umgang mit Natur, der diese in ihrem 'Selbstsein1 anerkennt, jedoch nicht rein spekulativ im Sinne animistischer oder pantheistischer Naturdeutungen sein, so kann sie nur den Charakter eines praxisleitenden Postulats haben: Handle so, 'als ob' Natur ein Subjekt sei. Demnach bedarf es vor allem einer neuen Ethik der Natur, die die Bedingungen formuliert, unter denen die Möglichkeiten ästhetischer Naturerfahrung gesichert und erweitert werden können.45
Insofern erscheint es vielleicht angemessener und unproblematischer, Goethes Vorstellungen von Naturforschung unmittelbar als Aufforderung zu einer neuen Wissenschafts- und Naturethik zu lesen.46 Carus' und Goethes Lehre einer subjektiv geprägten Wissenschaft zentriert sich ja um das Postulat einer "zarten Empirie", die der phänomenalen Welt mit Achtung begegnet. Dieses Ethos gründet indessen auf metaphysischen Annahmen über die Welt, die nicht mehr unsere sind und schon gar nicht zur aktuellen Fundierung naturethischer Normen taugen: Die Ehrfurcht, die Goethe und Carus vom Naturforscher fordern, erwächst aus der Vorstellung einer unabhängigen und beseelten, alles umfassenden und letztlich göttlichen Natur. In einem ganz konkreten Sinn läßt sich allerdings das Konzept einer den Menschen übersteigenden Natur heute bestätigen: Angesichts der ökologischen Krise entpuppt sich der 44
45 46
Auch im 20. Jahrhundert und bis in die Diskussion der letzten Jahre hat sich die Entgegensetzung von ästhetischer und rational erklärter Natur weitgehend in diesem Rahmen bewegt: Blochs Rede vom "möglichen Natursubjekt" (Bloch 1973/11, 802), Adornos Entwurf des Naturschönen als das "noch nicht Seiende" (Adorno 1973, 115) belegen das. An diese Konzeptionen eines hypothetischen oder futurisierten Natursubjekts schließen beispielsweise Schmidt 1984, 14-18, Böhme 1988, 26-35, 42-44, Böhme 1989, 29 f., Böhme 1992, 41, an. Für eine Kritik an diesen Entwürfen allgemein vgl. Seel 1991, bes. 70-83, 117-132, 173-181; Jauß 1990, 18-22, 154-156. Zimmermann 1986, 389. Vgl. Kreutzer 1980, 44 ff.; Flügge 1982; Bürger 1983, 27-29, 42 f; Böhler 1984, 335 ff.; Glaser 1988, 9-12; Altner 1988, 79 f.
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szientistische Glaube an die totale Machbarkeit und unbegrenzte Verfügbarkeit der Natur als gefährliche Illusion. Dadurch gewinnt das Postulat eines 'kommunikativen' Umgangs mit Natur eine neue praktische Begründung und politische Relevanz. Dies führt auf einen letzten, nicht zu vernachlässigenden Aspekt: Der Gedanke einer Versöhnung von Mensch und Natur ist ja bei Cams und Goethe keineswegs nur spekulativ gefaßt, sondern - in einem anderen Sinn als dem aktuell beanspruchten - praktisch und politisch gedacht. Daher sieht sich Leo Kreutzer genötigt, Goethes wissenschaftliche Ansichten vor ihrer konservativ-politischen Vereinnahmung zu schützen Goethes naturwissenschaftliche Auffassungen und Einsichten, von der 'Fachwelt' schon früh als glücklicherweise aussichtslose Behinderungsversuche eines autodidaktischen Dilettanten abgetan, wurden freilich immer dann dankbar herangezogen, wenn sie instrumentalisiert werden konnten als flankierende Ideologeme eines ästhetischen und politischen Konservativismus. Als heute mehr denn je hochbrisante Arbeitshypothesen über einen wissenschaftlich anderen Umgang mit der Natur sind aber vielleicht sie, und nicht Goethes politische Ansichten und deren literarische Weiterungen, das eigentliche Politikum. 47
Goethes wissenschaftliche Arbeitshypothesen sind aber als aktuelles Politikum nur zu gewinnen, wenn man deren historisch-praktische Bezüge kritisiert. Gegen Kreutzers schlichte Trennung ist mit Walter Benjamin und Alfred Schmidt auf dem integralen Zusammenhang von Goethes politischer Haltung und seinem Wissenschaftsbegriff zu bestehen.48 Diese praktische Dimension wurde für Carus herausgestellt: Seine Vorstellung von Wissenschaft realisiert sich zuletzt in der 'Naturpädagogik1 - ein ins Elitäre tendierendes Erziehungsprogramm, das auf harmonisch ausgebildete, selbstgenügsame und politisch indifferente Persönlichkeiten abzielt. Der praktische Wert der ästhetisch-subjektiv geprägten Wissenschaft besteht für Carus in ihrer individuellen Bildungsfunktion und darüberhinaus in der Begründung einer konservativen Politik. Als gegenwärtiges Politikum kann dieses Programm nur erarbeitet werden in dem Bewußtsein, daß es dadurch in ein anderes Bezugsfeld praktisch definierter Interessen gestellt wird. Die Aktualität von Carus1 Programm einer ästhetisch-wissenschaftlichen Naturaneignung ist nicht als solche gegeben, sondern muß in kritischer Rekonstruktion jeweils gewonnen werden.
47 48
Kreutzer 1980, 33. Vgl. Benjamin 1977, 718 ff.; Schmidt 1984, 20 ff.
Siglenverzeichnis Schriften von Carl Gustav Carus Abb I
Abb II
Ana
Anf
Anth
AuP BEL BLM
C-M
Cran I
Über das Verhältnis zwischen Abformung, Daguerrotyp (oder Photographic) und Gemälde oder Zeichnung des Kopfes, für die Beurtheilung der Individualität. In: Deutsches Museum l, 1851, 561-573. Über die typisch gewordenen Abbildungen menschlicher Kopfformen auf Münzen in verschiedenen Zeiten und Völkern. (Verhandlungen d. Kaiserl. Leop.-Carol, deutschen Akademie der Naturforscher, Bd. 30 (22), Nr.l). Dresden 1863. Analekten zur Naturwissenschaft und Heilkunde. Gesammelt auf einer Reise durch Italien, im Jahre 1828. Dresden 1829. Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften. Eine Rede gelesen zu Leipzig am 19. September 1822 in der ersten Zusammenkunft deutscher Naturforscher und Ärzte. Hrsg. v. A. Meyer. Hamburg 1928. Frage nach Entstehung und Gliederung der Menschheit vom Standpunkte gegenwärtiger Forschung. In: Unsere Zeit 2, 1858, 65-97. Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie. 3 Bde. Dresden 1828. Zwölf Briefe über das Erdleben. Stuttgart 1841. Briefe über Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815-1835. Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. (Faksimiledruck nach der 2., verm. Ausg. von 1835). Mit einem Nachwort hrsg. v. D. Kühn. Heidelberg 1972. Carl Gustav Carus und Carl Fr. Ph. von Martius: Eine Altersfreundschaft in Briefen. Hrsg. v. G. Schmidt. Halle 1939. Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioscopie. Stuttgart 1841.
Siglenverzeichnis
Cran II
Cran III England Ent
Epi Erfres Fr
GI G II G III
G IH-D
G IV GB
Gorilla
Grund
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Vom gegenwärtigen Stande der wissenschaftlich begründeten Cranioscopie. Ein öffentlicher Vortrag gehalten am 3. Febr. 1844 zu Leipzig. Nürnberg 1844. Neuer Atlas der Cranioscopie. Leipzig 1864. England und Schottland im Jahre 1844. Berlin 1845. Über Begriff und Vorgang des Entstehens (1859). In: Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung. Mit einem Vorwort v. F. Arnold. Hrsg. v. d. Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Darmstadt. Darmstadt 1954. Über Geistes-Epidemien der Menschheit. Leipzig und Meißen 1852. Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts. Leipzig 1859. Friedrich der Landschaftsmaler, mit Fragmenten aus nachgelassenen Papieren desselben. In: Kunstblatt Nr. 86/87, 1840, 357 f., 362 f. Briefe über Goethes Faust (1835). Neu hrsg. u. eingel. v. H. Kern. Hamburg 1937. Goethe. Zu dessen näherem Verständnis (1843). Mit einem Nachwort hrsg. v. K. K. Eberlein. Hellerau o. J. Goethe und seine Bedeutung für diese und die künftige Zeit. Eine Festrede, gehalten zu Dresden am 28. August 1849. In: Goethe-Denkschrift. Hrsg. v. W. Keiper. Berlin 1943. Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme. Denkschrift zum hundertjährigen Geburtsfeste Goethes. Hrsg. v. W. Keiper. Berlin 1943. Goethe, dessen Bedeutung für unsere und die kommende Zeit. Wien 1863. Gelegentliche Betrachtungen über den Charakter des gegenwärtigen Standes der Naturwissenschaft (1854). Mit einer Einführung neu hrsg. v. R. Zaunick. Dresden 1936. Die Gorilla-Hand. In: Leopoldina 3, H. IV, Mai 1863, 2830. Weiteres über den Gorilla und gegen die Hypothesen Darwin's. In: Leopoldina 5/6, H. IV, October 1863, 59-61. Leopoldina 7/8/9, H. IV, Januar 1864, 68-69. Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung (1823). Mit einem Vorwort von F. Arnold. Hrsg. v. der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Darmstadt. Darmstadt 1954.
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Ps
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Andere Schriften: HA I-XIV
Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München 1981.
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Veröffentlichte Schriften (in chronologischer Folge) Versuch einer Darstellung des Nervensystems und insbesondere des Gehirns nach ihrer Bedeutung, Entwicklung und Vollendung im thierischen Organismus. Leipzig 1814. Von den Naturreichen, ihrem Leben und ihrer Verwandtschaft (1818). Hrsg. v. W. Keiper. Berlin 1943. Lehrbuch der Gynäkologie. Leipzig 1820. Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften. Eine Rede gelesen zu Leipzig am 19. September 1822 in der ersten Zusammenkunft deutscher Naturforscher und Ärzte. Hrsg. v. Adolf Meyer. Hamburg 1928.
Primärliteratur von Carl Gustav Cams
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Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung (1823). Mit einem Vorwort von Friedrich Arnold. Hrsg. v. der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Darmstadt. Darmstadt 1954. Entdeckung eines einfachen vom Herzen aus beschleunigten Blutkreislaufs in den Larven netzflüglicher Insekten. Leipzig 1827. Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie. 3 Bde. Dresden 1828. Von den Ur-Theilen des Knochen- und Schalengerüsts. Leipzig 1828. Analekten zur Naturwissenschaft und Heilkunde. Gesammelt auf einer Reise durch Italien, im Jahre 1828. Dresden 1829. Vorlesungen über Psychologie, gehalten im Winter 1829/30 zu Dresden. Mit einer Einführung und Anmerkungen hrsg. v. Edgar Michaelis. Zürich, Leipzig o.J.(1931). Rezension über Goethes "Versuch über die Metamorphose der Pflanzen, übersetzt von Frederic Soret" (1832). In: Goethe im Urteil seiner Kritiker: Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hrsg., eingel. u. komm. v. Karl Robert Mandelkow. Teil l (1773-1832). München 1975, 496-502. Lehrbuch der Zootomie. 2. Aufl. Leipzig, Wien 1834. Briefe über Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815-1835. Zuvor ein Brief von Goethe als Einleitung. (Faksimiledruck nach der 2., vermehrten Ausgabe von 1835). Mit einem Nachwort hrsg. v. Dorothea Kühn. Heidelberg 1972. Reise durch Deutschland, Italien und die Schweiz im Jahre 1828. 2 Bde. Leipzig 1835. Briefe über Goethes Faust (1835). Neu hrsg. u. eingel. v. Hans Kern. Hamburg 1937. Paris und die Rheingegenden. Tagebuch einer Reise im Jahre 1835. 2 Bde. Leipzig 1836. System der Physiologie. 3 Bde. Dresden, Leipzig 1838-40. Friedrich der Landschaftsmaler, mit Fragmenten aus nachgelassenen Papieren desselben. In: Kunstblatt Nr. 86/87, 1840, 357 f., 362 f. Zwölf Briefe über das Erdleben. Stuttgart 1841. Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioscopie. Stuttgart 1841. Rezension über Samuel Georg Mortons "Crania americana". In: Jenaische Literatur-Zeitung, 1. Jg., Nr. 268. Goethe. Zu dessen näherem Verständnis (1843). Mit einem Nachwort hrsg. v. Kurt Karl Eberlein. Hellerau o. J. Atlas der Cranioscopie oder Abbildungen der Schädel- und Antlitzformen berühmter oder sonst merkwürdiger Personen. Heft I. Leipzig, Paris, London 1843. Heft II. Leipzig 1845.
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Register Abeln, Reinhold 52 Ackerknecht, Erwin H. 103; 108 Adorno, Theodor W. 215; 219; 222 Albin 142 Altner, Günter 222 Amelung, L.F. 109 Anna Amalia, Herzogin von Weimar 151 Anz, Thomas 105; 107 Apel, Friedmar 155; 185; 213 Aristoteles 13; 115 Arnold, Friedrich 52; 212 Autenrieth, Joh. Heinr. Ferdinand 11; 61; 74 Baader, Franz v. 52 Bachelard, Gaston: 44; 144 Bacon, Francis 9; 87; 123 Badt, Kurt 155 Beaumont, Elie de 177 Beenken, Hermann 155 Beguin, Albert 52; 67; 83 Behler, Diana 155 Bell, Charles 91 Benjamin, Walter 223 Benn, Gottfried 4 Bergmann, Gottlob Heinrich 112 Berman, Morris 49 Bernoulli, Christoph B. 74; 93 Bernoulli, Christoph 51 Bezold, Raimund 59; 62; 96
Bichat, Xavier 87; 88; 89 Bird, Friedrich 105; 114 Blankenburg, Martin 118; 121; 122; 151 Bloch, Ernst 219; 222 Blumenbach, Johann Friedrich 11; 73 Blumenberg, Hans 175 Blumröder, Gustav 110 Böckenforde, Ernst W. 204 Bodamer, Joachim 108; 114 Boerhaave, Hermann 142 Böhler, Dietrich 175 Böhler, Michael 213; 214; 222 Böhme, Gernot 49; 213; 221; 222 Böhme, Hartmut 17; 18; 48; 49; 175; 213; 214; 215; 216; 222 Borne, Ludwig 191 Brinkmann, Donald 83 Brion, Marcel 155 Brockes, Barthold Heinrich 35 Buch, Leopold v. 11; 177 Büchner, Georg 4 Büchner, Ludwig 153 Buffon, Georges-Louis-Marie 141; 142; 144 Burdach, Karl Friedrich 11; 54; 61; 76; 77; 82; 89 Bürger, Peter 213; 222 Busch, Werner 25; 159; 164 Buzorini, L. 101; 102; 111 Camper, Pieter 136
250
Canguilhem, Georges 72; 204 Carlyle, Thomas 203 Chateaubriand, Francois Rene de 144 Choulant, Johann Ludwig 54 Claudius, Matthias 106 Constable, John 156 Crusius, Christian August 68 Cusanus (Nikolaus v. Kues) 175 Cuvier, Georges de 13 D'Alton, Johann Samuel Edouard 11 Dahl, Johan Christian Claussen 156 Dante Alighieri 173 Darwin, Charles 19; 36; 130; 131 Darwin, Erasmus 168 Davy, Sir Humphry 177; 179 Descartes, Rene 57; 59 Diderot, Denis 141 Dollinger, Ignaz 11 Dörner, Klaus 100; 101; 108; 109; 113 Du Bois-Reymond, Emil 141; 147;153 Dürer, Albrecht 128 Eberlein, Kurt Karl 155 Eggebrecht, Harald 213 Ellenberger, Henry F. 69; 83 Empedokles 172 Engel, Johann Jakob 106 Engelhardt, Dietrich v. 10; 147; 148; 153
Engelmann, Gerhard 149 Ennemoser, Joseph 52 Eschenmayer, Carl August 75; 108 Fechner, Gustav Theodor 77
Register
Fernow, Carl Ludwig 158 Feyerabend, Paul 4 Fichte, Johann Gottlieb 67; 68; 78 Figlio, Karl 85 Fischer, Rotraut 116; 118; 127; 137
Flemming, Carl Friedrich 110 Flourens, Marie Jean Pierre 125 Flügge, Johannes 213; 222 Fontenelle, Bernard de 143; 144 Fortlage, Karl 77 Foucault, Michel 4; 48; 49; 56; 175 Francke, Franz 98; 109 Freud, Siegmund 51; 68; 84 Friedreich, Johannes Baptista 104; 112;113 Friedrich, Caspar David 3; 155; 156; 164 Frühmann, Edmund 52 Funk, Erhard 109 Galilei, Galileo 9; 175 Gall, Franz Josef 85; 112; 120; 121; 122; 123; 124; 125; 126; 134 Galvani, Luigi 18 Gebhard, Walter 178 Genschorek, Wolfgang 55; 136; 155 Glaser, Horst Albert 213; 222 Glisson, Francis 87 Gode-von Aesch, Alexander 52 Goethe, Johann Wolfgang v. 2; 3; 4; 11; 15; 17; 18; 19; 22; 25; 27; 28; 29; 30; 31; 32; 33; 34; 37; 41; 44; 45; 48; 123; 124; 127; 129; 131; 142; 143; 144; 145; 146; 150; 151; 156; 163; 164; 167; 168; 171; 173;
251
Register
179; 184; 189; 190; 191; 206; 213; 214; 215; 216; 217; 218; 221; 222; 223 Goldschmidt, Werner 155 Gottfried (Giftmischerin aus Bremen) 133 Graber, Gustav Hans 51 Griesinger, Wilhelm 114 Groh, Dieter 26 Groh, Ruth 26 Groos, Friedrich 110 Grütter, Tina 155
Hoppe-Sailer, Richard 155 Hörn, Ernst 98; 100; 101 Hörz, Herbert 10 Howard, Luke 168 Hufeland, Christoph Wilhelm 74 Hugi, Franz Joseph 11; 179 Humboldt, Alexander v. 2; 3; 11; 14; 16; 20; 25; 27; 33; 39; 73; 142; 143; 144; 146; 147; 148; 149; 179; 220 Humboldt, Wilhelm v. 116
Haeberlin, Carl 51; 52 Haeckel, Ernst 35; 36; 147 Hall, Marshall 91 Haller, Albrecht v. 4; 35; 72; 86; 92; 142; 168 Hard, Gerhard 39; 41; 212; 214 Hardtwig, Wolfgang 26 Harleß, E. 122 Hauptmann, Hannsheinz 52; 180 Hausmann, Ludwig 11; 179 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 159 Heider, Gertrud 155 Heine, Heinrich 191 Heinroth, Joh. Christian August 24; 54; 98; 99; 100; 103; 108; 113 Helmholtz, Herrmann v. 147 Herbart, Johann Friedrich 64 Herder, Johann Gottfried 116; 129;159 Hermand, Jost 190; 191 Herz, Marcus 62; 63; 164 Hillebrand, Joseph 54 Hoffmann, Christoph L. 87 Hoffmann, E.T.A. 190 Hoffmann, Volker 151 Honegger, Claudia 53
Ideler, Karl Wilhelm 108 Irwing, Karl Franz v. 87; 92 Jacob, Wolfgang 204 Jacobi, Maximilian 102; 103; 104; 107; 109; 111; 113; 114 Jaeger, Siegfried 108 Jäger, Georg 181 Jahn, Ilse 10 Jauß, Hans Robert 222 Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter) 68; 141 Jung, Carl Gustav 51 Kant, Immanuel 9; 16; 55; 66; 68; 72, 115; 117; 151; 158; 213 Käuser, Andreas 116 Kemp, Wolfgang 184 Kepler, Johannes 9; 43 Kern, Hans 51 Kern, Johannes 92 Kielmeyer, Karl Friedrich 11; 73 Kieser, Dietrich Georg v. 61; 98; 104; 110 Kirchhoff, Theodor 100; 102 Kirchner, Berna 155; 178 Klages, Ludwig 51; 212
252
Klink, Siegfried 51 Kloos, G. 127 Koranyi, Stefan 48; 213 Koselleck, Reinhart 197; 198 Krause, Karl Christian 54 Kreutzer, Leo 17, 213; 222; 223 Kriegk, Georg Ludwig 39 Kühn, Dorothea 155; 212 Kühn, Thomas S. 4 Lamettrie, Julien Offray de 81 Lange, Ehrig 109 Laube, Heinrich 191 Lavater, Johann Caspar 118; 119; 120; 135 Leibbrand, Werner 105; 108; 113; 114; 123; 147; 148 Leibniz, Gottfried Wilhelm 59; 68; 72 Leidenfrost, Joh. G. 92 Lenk, Hans 217 Leonardo da Vinci 128 Lepenies, Wolf 19; 48; 49; 56; 140; 141; 152; 197; 204; 207 Lessing, Gotthold Ephraim 22; 142 Leupoldt, Johann Michael 108 Lichtenberg, Georg Christoph 68; 119 Lichtenstern, Christa 31 Liebig, Justus v. 77; 147; 153; 170; 171; 174; 175; 176 Linden, Mareta 59 Linden, Walter 33 Linne, Carl v. 47; 146 Lorenzer, Alfred 84 Lorrain, Claude (Claude Gellee) 26; 40;161 Lotze, Rudolph Hermann 77 Lütkehaus, Ludger 68; 69
Register
Magendie, Fran$ois 91 Maimon, Salomon 62 Mandelkow, Karl Robert 189; 212 Mann, Gunter 123; 204 Marquard, Odo 26; 27; 28; 29; 52; 56; 68 Martius, Carl Philipp v. 11; 16 Matt, Peter v. 116 Mauchart 62 Meckel, Johann Friedr. 11; 13 Meffert, Ekkehard 213 Mendelssohn, Moses 62; 63 Menzel, Wolfgang 156 Mocek, Reinhard 71; 72 Moleschott, Jakob 153 Möller, C.Ph. 98 Montesquieu, Charles de Secondat 141 Moravia, Sergio 56 Moritz, Karl Philipp 62; 63; 65; 68; 106; 165; 166 Morton, Samuel Georg 122 Moscovici, Serge 216 Müller, Adam 141 Müller, Friedrich v. 15 Müller, Johannes 91; 122 Müller, Lothar 63; 166 Müller-Funk, Wolfgang 213 Müller-Tamm, Pia 39; 156 Mundt, Theodor 191 Mylius, Christlob 145 Napoleon 151 Nasse, Friedrich 54; 61; 98; 99; 100; 105; 107; 109; 110; 111; 113 Nees von Esenbeck, Christian 11; 169; 179 Nettesheim, Josefine 4 Neuburger, Max 85; 86; 89 Neumann, K. G. 108
Register
Newton, Isaac 9 Novalis (Friedr. v. Hardenberg) 23; 25; 52; 159; 174; 175; 180 Nowald, Karlheinz 184 Oehler-Klein, Sigrid 121; 123; 136 Oersted, Hans Christian 11 Oken, Lorenz 10; 12; 13; 14; 54; 124; 130; 151; 204 Orth, Johannes 67 Osinski, Jutta 106; 107 Passow, W.A. 140; 150; 151; 179 Pfotenhauer, Helmut 48 Pienitz, Ernst 98 Piepmeier, Rainer 212; 216; 217 Plainer, Ernst 13; 57; 58; 59; 60; 68; 72; 81; 92 Plumpe, Gerhard 197 Pörksen, Uwe 146; 152 Poussin, Nicolas 26 Prause, Marianne 155; 156; 158; 163 Prochaska, Georg 87; 89 Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius v. 164 Raumer, Friedrich Ludwig v. 182 Regis, Johann Gottlob 156; 163 Rehder, Helmut 155 Reichenbach, Karl v. 77 Reil, Johann Christian 11; 61; 73; 74; 76; 82; 83; 84; 89; 90; 91; 92; 93; 96; 100 Reuchlein, Georg 105; 106; 107 Richter, Karl 4; 145 Ritter, Carl 11; 39
253
Ritter, Joachim 25; 26; 27; 28; 29; 215; 216; 218 Ritter, Johann Wilhelm 52 Roller, Christian Friedrich Wilhelm 102 Rothacker, Erich 175 Rothschuh, Karl E. 71; 73; 74; 86; 87; 108; 109 Rousseau, Jean-Jacques 19; 144 Rudolphi, Karl Asmund 92 Rumohr, Carl Friedrich v. 151 Ruysdael, Jacob Isaacksz. 161; 162 Saint-Hilaire, Geoffroy de 11; 13 Saint-Pierre, Bernhardin de 144; Schelling, Friedrich Wilhelm Josef v. 10; 12; 18; 22; 23; 24; 26; 27; 29; 30; 65; 67; 68; 69; 129 Schiller, Friedrich 22; 116; 151; 158; 159; 160; 164; 173 Schings, Hans-Jürgen 52; 57; 62; 66;81 Schipperges, Heinrich 204 Schlegel, Friedrich 160 Schieiden, Mathias Jakob 16; 17; 77; 139; 140; 141; 150 Schmidt, Alfred 15; 78; 213; 222; 223 Schnabel, Franz 179 Schneider-Carius, Karl 32 Schopenhauer, Arthur 78 Schott, Heinz 89 Schrader, Gerd 116 Schramm, Engelbert 216 Schrenk, Martin 107 Schubert, Gotthilf Heinrich v. 10; 52; 93 Schwägrichen, C.F. 11
254
Seel, Martin 217; 218; 219; 220; 221; 222 Senglaub, Konrad 240 Sengle, Friedrich 4; 167; 169; 181; 183 Sennett, Richard 116 Sieferle, Rolf Peter 26; 216 Smith, Adam 209 Snow, C.P. 4 Soemmering, Samuel Thomas 11; 136 Soerensen, Bengt Algol 175 Spiegel, Gustav 52 Spieß, Christian Heinrich 106; 107 Spinoza, Baruch de 15 Spurzheim, Karl 85; 123 Staeuble, Irmgard 108 Stahl, Georg Ernst 59; 71; 72; 75; 86 Stanislowski, Volker 204 Steffens, Heinrich 10; 54 Stopp, Elisabeth 155 Stumpp, Gabriele 116; 118; 127;137 Sulzer, Johann Georg 68 Sydenham, Thomas 106; 142 Sydow, Eckart v. 40 Szondi, Peter 159; 161 Thümmel, Moritz August v. 106 Tieck, Ludwig 106; 158; 160; 190 Tiedemann, Friedrich 74; 135 Tiedge, Christoph August 167 Treviranus, Gottfried R. 11 Troxler, Ignaz Paul Vitalis 10; 52 Unzer, Johann August 86; 87; 89
Register
Vaget, Hans Rudolf 185 Van Hoven 92 Vering, Albrecht Mathias 105; 109;112 Virchow, Rudolf 153 Vogt, Karl 77; 122; 147; 153; 170 Volkmann, A.W. 122 Wackenroder, Heinrich Wilhelm 158 Waldenfels, Bernhard 26 Wäsche, Erwin 52 Wedewer, Rolf 26; 216 Weiß, Christian Samuel 196 Wenzel, Manfred 19 Wettley, Annemarie 105; 108; 113;114 Wetzels, Walter D. 143; 171 Whyte, Lancelot Law 69; 83 Winckelmann, Johann Joachim 159 Wolff, Christian 68; 145 Zimmermann, Jörg 25; 26; 175; 222 Zimmermann, Walter 19
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER
„Bei aller brüderlichen Liebe ..." The Letters of Sophie Tieck to her Brother Friedrich Transcribed and edited by James Trainer VIII, 314 Seiten. 1991. Ganzleinen. ISBN 3-11-012354-1 (Band 97 [221]) SHEILA MARGARET BENN
Pre-Romantic Attitudes to Landscape in the Writings of Friedrich Schiller XIV, 242 Seiten. 1991. Ganzleinen. ISBN 3-11-012825-X (Band 99 [223]) JOACHIM BURKHARD RICHTER
Hans Ferdinand Maßmann Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert XIV, 482 Seiten. Mit l Abbildung. 1992. Ganzleinen. ISBN 3-11-012910-8 (Band 100 [224]) DIETER MARTIN
Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert Studien und kommentierte Gattungsbibliographie XI, 450 Seiten. 1993. Ganzleinen. ISBN 3-11-013816-6 (Band 103 [227]) ANDREAS GARDT
Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung Entwürfe von Böhme bis Leibniz X, 520 Seiten. Mit zahlreichen Abbildungen. 1994. Ganzleinen. ISBN 3-11-014282-1 (Band 108 [232])
Walter de Gruyter
W DE
G
Berlin · New York
„Die Erfahrung anderer Länder" Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim Herausgegeben von Heinz Härtl und Hartwig Schultz XI, 390 Seiten. Mit 5 Abbildungen. 1994. Gebunden. ISBN 3-11-014289-9
ERNST BEHLER
Frühromantik 311 Seiten. 1992. Broschur. ISBN 3-11-011888-2 (Sammlung Göschen, Band 2807)
Rousseau in Deutschland Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption Herausgegeben von Herbert Jaumann XII, 326 Seiten. Mit einem Frontispiz. 1994. Gebunden. ISBN 3-11-014078-0
Reflecting Senses Perception and Appearance in Literature, Culture, and the Arts Edited by Walter Pape and Frederick Burwick VI, 369 Seiten. Mit 37 Abbildungen und 8 Tabellen. 1995. Gebunden. ISBN 3-11-014580-4
Walter de Gruyter
W DE
G
Berlin · New York