Kunst als gesellschaftskritisches Medium: Wissenschaftliche und künstlerische Zugänge 9783839442838

Art as a projection surface, art as expression, art as critique of society: The relation between the arts and criticism

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German Pages 334 Year 2018

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
VORWORT
DEUTUNGEN, THEORIEN
EINLEITUNG
KUNST UND KAPITAL: SKIZZE EINER LEIDENSCHAFTLICHEN AFFÄRE
IST ARCHITEKTUR WIDERSTÄNDIG? DAS READY-MADE ALS KRITISCHE TAKTIK IN DER ZEITGENÖSSISCHEN ARCHITEKTUR
„REMBRANDT ALS ERZIEHER“. SYMPTOMATIK UND PARADOXON EINER KÜNSTLERREZEPTION IM ZEITALTER DES KULTURPESSIMISMUS
THEATERPÄDAGOGIK: DER ÄSTHETISCHE RAUM ALS LERN- UND EXPERIMENTIERFELD
WERKZEUGE FÜR DIE UNTERDRÜCKTEN – SCHUBARTS „ VOLKSLIEDER“ UND TIROL UM 1800
MUSIK ALS TRÄGERIN IDEOLOGISCHER UND GESELLSCHAFTSKRITISCHER INHALTE IN DEN POLITISCHEN „ BEWEGUNGEN“ DES 20. JAHRHUNDERTS
HANNS EISLER – MUSIK ALS POLITIK
ZWISCHEN AFFIRMATION UND WIDERSTAND – MODE ALS MEDIUM ZUR GESELLSCHAFTSKRITIK
DIE KÜNSTLERISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK IM ZEITALTER DES INTERNETS
UNSCHARFE BILDER. KÜNSTLERISCHE INVESTIGATION UND DOKUMENTARISMUS
EIN SCHWANGERES NICHTS FÜR DEN FILM: ÜBERLEGUNGEN ZU EINER NARRATIVEN ÄSTHETIK ABSEITS DER TRADITIONEN
WIR GEHEN HIER NICHT WEG! KUNST UND WIDERSTAND AM BEISPIEL DER UNIBRENNT-BEWEGUNG
POLITISCHE KUNST ZWISCHEN GALERIE, GERICHT UND GEFÄNGNIS
VARIABLEN DER ÄSTHETIK? KUNST IM ZEICHEN DER GLOBALISIERUNG UND MEDIALISIERUNG
IMPULSE, AKTIONEN
EINLEITUNG I
PRESUMED CONSENT – ÜBERLEBENSSTRATEGIEN IN EINEM HOCHINTEGRATIVEN SYSTEM
SELBSTBILD UND FREMDBILD: VON DER KUNST ALS SPIEGEL DER GESELLSCHAFT UND IHRER BEWERTUNG DURCH DIE ÖFFENTLICHKEIT
OH SEA, JUST LET ME CROSS OVER: MUSIKALISCHE SPUREN ZWISCHEN FLUCHT UND MIGRATION
URBAN TEXTURE: GRIECHISCHE GRAFFITIS ALS INTERNATIONALE AGORA
MEINE FORMELLE ENTSCHULDIGUNG: URBANE KUNST IM SPANNUNGSFELD VON (SOZIALER) ÖFFENTLICHKEIT UND PRIVATSPHÄRE
KUNST VS. POLITIK? ZU GLAUBEN, KUNST SEI UNPOLITISCH, IST EIN TRUGSCHLUSS
EINLEITUNG II
STREETNOISE IST MEHR ALS DAS SUMMEN SEINER TEILE. KÜNSTLERISCHE UND POLITISCHE MOTIVE EINES MUSIKALISCHEN KOLLEKTIVS
ARTISCHOCKTHERAPIE – EINE ASSOZIATIV-KRITISCHE STREET-ART-LESE-MUSIK-PERFORMANCE
LANDES(UN)ÜBLICHER EMPFANG: EINE PROTEST-PERFORMANCE
DAVID GEGEN GOLIATH. EIN HALBGARER MUSIKER ÜBER SEIN SCHAFFEN IN AUSEINANDERSETZUNG MIT DER GESELLSCHAFT ALS GANZE
ICH BIN NICHT FREMD. GESELLSCHAFTSKRITIK IN SLAM-POETRY UND POETRY-SLAM
GLAUBE FREI? KONTROVERSEN UNSERER ZEIT
DAS KIND WACHT MORGENS FRISCH UND AUSGERUHT AUF. EINE MUSIKALISCHE IMPROVISATION ZU SAMPLE-EINSPIELUNGEN
POSTFAKTISCHE ZEITEN? HIP-HOP ALS SOZIAL- UND SYSTEMKRITIK
NACHWORT
AUTORINNEN UND AUTOREN
ABBILDUNGSNACHWEISE
PERSONENREGISTER
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Kunst als gesellschaftskritisches Medium: Wissenschaftliche und künstlerische Zugänge
 9783839442838

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Michaela Bstieler, Lena Ganahl, Elisabeth Hubmann, Denise Pöttgen, Siljarosa Schletterer (Hg.) Kunst als gesellschaftskritisches Medium Veranstaltungsreihe in Innsbruck vom 30.5.–11.6.2017

Image  | Band 131

Michaela Bstieler, Lena Ganahl, Elisabeth Hubmann, Denise Pöttgen, Siljarosa Schletterer (Hg.)

Kunst als gesellschaftskritisches Medium Wissenschaftliche und künstlerische Zugänge

Förder_innen: Universität Innsbruck, ÖH Innsbruck, Land Tirol, Stadt Innsbruck, Kulturimpuls Tirol

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Daniela Lederer Korrektorat & Lektorat: Maria Schätzer, Michaela Bstieler, Elisabeth Hubmann Innenlayout & Satz: Daniela Lederer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4283-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4283-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ........................................................................................................................................ 9 Monika Fink Vorwort....................................................................................................................................... 11 Herausgeberinnen

DEUTUNGEN, THEORIEN Einleitung .................................................................................................................................. 17 Herausgeberinnen Kunst und Kapital: Skizze einer leidenschaftlichen Affäre.......................................... 21 Andreas Oberprantacher Ist Architektur widerständig? Das Ready-made als k­ ritische Taktik in der zeitgenössischen Architektur.............35 Peter Volgger ­ aradoxon „Rembrandt als Erzieher“. Symptomatik und P einer Künstlerrezeption im Zeitalter des ­Kulturpessimismus..................................... 57 Xenia Ressos Theaterpädagogik: Der ästhetische Raum als Lern- und Experimentierfeld..........73 Irmgard Bibermann Werkzeuge für die Unterdrückten – Schubarts „­ Volkslieder“ und Tirol um 1800.....................................................................85 Sandra Hupfauf Musik als Trägerin ideologischer und ­gesellschaftskritischer Inhalte in den politischen „­ Bewegungen“ des 20. Jahrhunderts...............................................97 Kurt Drexel Hanns Eisler – Musik als Politik........................................................................................109 Christian Glanz Kafkaesk? Staatliche Repression und literarische W ­ iderständigkeit....................... 119 Gerhard Donhauser Zwischen Affirmation und Widerstand – Mode als Medium zur Gesellschaftskritik......................................................................135 Veronika Berti Die künstlerische Gesellschaftskritik im Zeitalter des Internets.............................145 Noelia Bueno-Gómez

Unscharfe Bilder. Künstlerische Investigation und D ­ okumentarismus.................157 Andrei Siclodi Ein schwangeres Nichts für den Film: Überlegungen zu einer narrativen Ästhetik abseits der Traditionen......................171 Lukas Ladner Wir gehen hier nicht weg! Kunst und Widerstand am ­Beispiel der Unibrennt-Bewegung..................................187 Andrea Umhauer und Sarah Milena Rendel Politische Kunst zwischen Galerie, Gericht und Gefängnis......................................197 Chris Moser Variablen der Ästhetik? Kunst im Zeichen der ­Globalisierung und Medialisierung........................................207 Noelia Bueno-Gómez, Kurt Drexel, Raphael Lepuschitz und Franz Wassermann

IMPULSE, AKTIONEN Einleitung I..............................................................................................................................223 Herausgeberinnen Presumed consent – Überlebensstrategien in einem hochintegrativen System..........................................227 Barbara Huber Selbstbild und Fremdbild: Von der Kunst als Spiegel der Gesellschaft und ihrer Bewertung durch die ­Öffentlichkeit..............................................................233 Dajana Mehadzic Oh sea, just let me cross over: Musikalische Spuren ­z wischen Flucht und Migration.................................................237 Lucas Norer Urban texture: Griechische Graffitis als internationale Agora..................................245 Christine S. Prantauer Meine formelle Entschuldigung: Urbane Kunst im ­Spannungsfeld von (sozialer) Öffentlichkeit und ­Privatsphäre..............................................................249 Crazy Mister Sketch Kunst vs. Politik? Zu glauben, Kunst sei unpolitisch, ist ein Trugschluss..............253 Franz Wassermann und Esther Strauß Einleitung II............................................................................................................................ 261 Herausgeberinnen Streetnoise ist mehr als das Summen seiner Teile. Künstlerische und politische Motive eines musikalischen Kollektivs....................265 StreetNoise Orchestra

ArtiSchockTherapie – Eine assoziativ-kritische Street-Art-Lese-Musik-Performance.................................271 ???affe!!! und Gitarmonika Trio/Perin & Barbarossa Landes(un)üblicher Empfang: Eine Protest-Performance..........................................277 Markus Koschuh David gegen Goliath. Ein halbgarer Musiker über sein Schaffen in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft als Ganze..............................................281 Kris Heidenreich Ich bin nicht fremd. Gesellschaftskritik in Slam-Poetry und Poetry-Slam...........285 Rebecca Heinrich Glaube frei? Kontroversen unserer Zeit...........................................................................291 Samuel Weigersdorfer und Luben Pavlov Cheshmedzhiev Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf. Eine musikalische Improvisation zu Sample-Einspielungen.....................................295 Klemens (Klex) Wolf Postfaktische Zeiten? Hip-Hop als Sozial- und Systemkritik....................................301 Giga Ritsch und Mieze Medusa Nachwort..................................................................................................................................307 Konstantin Wecker Autorinnen und Autoren...................................................................................................... 311 Abbildungsnachweise...........................................................................................................323 Personenregister.....................................................................................................................327

VORWORT Monika Fink

Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft, Reflexionen auf gesellschaftliche Umstände und Kritik an deren Verwerfungen und Widersprüchen durchziehen die gesamte Kulturgeschichte in sämtlichen Sparten der Künste. Kunst als gesellschaftskritisches Medium lautete auch der Titel eines im Juni 2017 abgehaltenen interdisziplinären Symposiums, dessen Ergebnisse nun in dieser Publikation vorliegen. Kunst, die Gesellschaftskritik intendiert, erfüllt eine Funktion, und Fragen zu Aufgaben oder Funktionen von Kunst wurden immer auch kontroversiell diskutiert. Besonders in der deutschsprachigen Kunstphilosophie des 20. Jahrhunderts war weithin die Auffassung verbreitet, dass sich Kunst gerade durch ihre Funktionslosigkeit auszeichne. Die Ablehnung jeglicher Funktionalität der Kunst verband sich dabei in der Regel mit der Berufung auf ihre Autonomie. Dass die ästhetische Kunst nicht im Dienst ihr selbst fremder, von außen auferlegter Zweckbestimmungen stehe, ist eine der Grundüberzeugungen, denen die Kunst der Moderne ihr Selbstbewusstsein verdankt. Doch ebenso wurde im gesamten 20. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart das Spektrum möglicher Funktionszuschreibungen von Kunst immer wieder neu abgesteckt und die Aufgabe der Kunst neu diskutiert. Kunst, die nicht auf Erkenntnis zielt, keine Kriterien von Wahrheit oder Richtigkeit anlegen kann und als ein den objektiven Maßstäben weitestgehend entzogenes Gebiet gilt, kann eine besondere, vom Wissenschaftlichen verschiedene Weise des Erkennens eröffnen, Botschaften vermitteln und Meinungen modellieren. Auch darin äußert sich die Autonomie der Kunst, dass sie sich die Freiheit zuerkennt, die Maßstäbe selbst zu bestimmen, nach denen sie sich und ihr Urteil richtet. Das Zustandekommen des Symposiums, das auch von einer Ausstellung und musikalischen Darbietungen umrahmt wurde, sowie die Herausgabe des Sammelbandes ist der Initiative von fünf Studentinnen zu danken, denen hierfür große Anerkennung gebührt. Innsbruck, 13. März 2018 Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Monika Fink

VORWORT Herausgeberinnen

Was wäre, wenn wir ein Projekt realisieren würden, das eine Reihe von Regeln des wissenschaftlichen Duktus irritiert? Wie müssten wir ein Projekt konzipieren, das sich an den Rändern der Disziplinen orientiert und dabei die Grenzen des Denkens neu verhandelt? Wie könnten wir einen Raum schaffen, an dem marginalisierte und von der Wissenschaft ausgeschlossene Wissensfelder gezeigt und zur Diskussion gestellt werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen liegt der Anspruch dieses Sammel­bandes darin, diese Grauzonen offenzulegen, in den Diskurs miteinzubeziehen und damit die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst zu reflektieren. Der vorliegende Band ist das Resultat einer Veranstaltungsreihe, bei der wissenschaftliche Vorträge und künstlerische Performances im Zusammenhang mit der Verwicklung von Kunst und Kritik nicht voneinander abgegrenzt, sondern bewusst miteinander in Spannung gesetzt wurden. Den Auftakt der Veranstaltung bildete eine breitenwirksame Performance-Aktion des österreichischen Künstlers Franz Wassermann, der mit 50 Fahnenträger_innen und Trommler_innen die Innsbrucker Innenstadt belebte und mit Bezug auf zentrale politisierte Orte Innsbrucks auf diverse Formen der Herrschaft aufmerksam machte. Das Eigentümliche dieser Performance war, dass alle Gäste, Interessierte und spontan Vorbeigekommene eingeladen waren, an diesem Projekt zu partizipieren, sich aktiv in dieses Spektakel einzubringen und mit ihrer Teilhabe selbst zu einem Teil des Kunstwerks avancierten, das traditionelle Vorstellungen eines Ausstellungsstücks durchkreuzt. Demgegenüber fand das gleichnamige Symposium im Archäologischen Museum der Universität Innsbruck statt, zu dem vor allem Wissenschaftler_innen der Disziplinen Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Philosophie, aber auch Aktivist_innen eingeladen waren. Die theoretischen Ausführungen, die in diesem Rahmen präsentiert wurden, sollten immer wieder von (interaktiven) Performances an verschiedenen Vorplätzen der Universität unterbrochen werden. Die wiederholte Verlagerung vom privaten in den öffentlichen Raum war für das Gesamtkonzept der Veranstaltung essentiell, weil sie die Engführung, Kunst vollziehe sich nur im Zusammenhang einer ganz bestimmten Kennerschaft, zur Diskussion stellt. Die politische Qualität und Brisanz der verschiedenen Beiträge lässt sich aber gerade und vor allem in der Öffentlichkeit erschließen, wenn sie auch von jenen gehört werden, die sie gerade nicht hören wollen oder von jenen, denen gewisse Räume und Institutionen nicht zur Verfügung stehen. Die Ausstellung re:act, die als Rahmen um das Programm organisiert wurde, zeigte Arbeiten von Tiroler Künstler_innen, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise zu gegenwärtigen Verhältnissen in der Gesellschaft und der Politik verhielten. Dafür stand uns ein Ausstellungsraum fernab

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Herausgeberinnen

des universitären Rahmens – in einem anderen Stadtteil Innsbrucks – zur Verfügung. Eine weitere und wiederum anders zusammengesetzte Möglichkeit, sich mit gesellschaftskritischen Themen zu konfrontieren, wurde in der Bäckerei – Kulturbackstube unter dem Titel So klingt Kritik arrangiert. Dafür entwarfen Performer_innen und Musiker_innen (eigens) musikalische Stücke, Texte sowie weitere Happenings, die mit diversen Stilmitteln operierten und so das Publikum einluden, in unterschiedliche musikalische Welten einzutauchen. Mit den verschiedenen Veranstaltungsformaten wollten wir einen öffentlichen Erscheinungsraum für Studierende der Universität Innsbruck, aber auch für alle Stadtbegeisterte und Kulturinteressierte aktualisieren, der Politik und politische Handlungen im Kollektiv erst möglich machen kann. Insgesamt orientierten wir uns dabei wesentlich an einem erweiterten Kunstbegriff, wie in Joseph Beuys seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts entwickelt und geprägt hat. Im Zeichen dieser Blickverschiebung, die eine neue Form der Wahrnehmung und Kommunikation ermöglichen sollte, wird auch in vorliegendem Band Wert darauf gelegt, die einzelnen Künstler_innen und Musiker_innen zu den Entstehungskontexten, Hintergründen und persönlichen Beziehungen zu ihren Ausstellungswerken sprechen zu lassen und ihnen den Raum zu geben, ihre ganz persönliche Innenperspektive zu thematisieren, anstatt von einem „Draußen“ auf ihre Arbeiten einzugehen. Der vorliegende Band ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil mit dem Titel Deutungen, Theorien kommen die theoretischen Beiträge des Symposiums zur Geltung, während im zweiten Teil Impulse, Aktionen die künstlerischen Arbeiten der Ausstellung und des Konzerts in ihren jeweiligen Schattierungen erfahren werden können. Wir möchten uns an dieser Stelle bei all jenen bedanken, ohne die diese Veranstaltungsreihe sowie der vorliegende Band nie zustande gekommen wäre. Allen voran gebührt ein besonderer Dank Univ.-Prof. Dr. Federico Celestini, ohne dessen Einrichtung des Drittmittelkontos uns Studentinnen nicht die Mittel zur Verfügung gestanden hätten, unser Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wir bedanken uns außerdem bei Konstantin Wecker, der sich bereit erklärt hat, ein Nachwort zu verfassen.

Weiters bedanken möchten wir uns bei unseren Förder_innen: Land Tirol Stadt Innsbruck ÖH Innsbruck inklusive allen beteiligten Studienvertretungen Universität Innsbruck inklusive dem Vizerektorat für Forschung, dem Dekanat der Philosophisch-Historischen Fakultät, besonders dem Institut für Kunstgeschichte, Institut für Musikwissenschaft sowie dem Institut für Philosophie Kulturimpuls Tirol

Vorwort

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Kooperationspartner_innen: Charly Walter für die Zurverfügungstellung des Raums „styleconception.openspace“ Dem Literaturclub Cognac & Biskotten für ihre tatkräftige Unterstützung Komplex – Kulturmagazin Innsbruck Piano Zifreind Helfenden Händen: Sebastian Eder Christoph Holzknecht Lukas Ladner Daniela Lederer Dejan Lukovic Maria Schätzer Viktor Steiner Und all den Autor_innen und Beitragenden, sowie unseren Professor_innen, Freund_innen, Kolleg_innen und Familien, die uns dieses Projekt zugetraut und uns in diesem Prozess unterstützt, ermutigt und begleitet haben.

Die Herausgeberinnen Michaela Bstieler Lena Ganahl Elisabeth Hubmann Denise Pöttgen Siljarosa Schletterer

EINLEITUNG

Die Frage, in welchem Nähe- oder Distanzverhältnis die Begriffe „Kunst“ und „Kritik“ zueinander stehen, ist abhängig von den gesellschaftlichen Anforderungen, die an die Kunst als Medium gestellt werden. Die Aufgabenfelder der Kunst wurden im Laufe der Geschichte nicht nur unterschiedlich verstanden, sondern auch unter verschiedenen Vorzeichen diskutiert: Während Immanuel Kant Schönheit als interesseloses Wohlgefallen stilisiert1 oder Théophile Gautier sich für ein romantisches Verständnis von Schönheit stark macht, das sich dem Nutzen und dem Zweck radikal widersetzen müsse,2 argumentiert Jean-Paul Sartre in Was ist Literatur? stattdessen für eine Verantwortung der Kunst, die sich mit der Gesellschaft unmittelbar engagieren und politische Positionen übernehmen müsse.3 Daran anschließend entfaltet Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie einen alternativen Gedanken, wenn er die Aufrechterhaltung der dialektischen Spannung zwischen Kunst und gesellschaftlichen Verhältnissen fokussiert und dabei sowohl von der Vorstellung des l’art pour l’art als auch von der Überlegung einer engagierten Kunst systematisch abrückt. 4 Indem Adorno keine dialektische Versöhnung im Sinne Hegels mehr gestattet, bleiben Kraft und Gegenkraft in ihrer Differenz bestehen, worin für Adorno geradezu der Ort des Ästhetischen wurzelt. Sobald sich die Kunst mit den beängstigenden Aspekten der Gesellschaft auseinandersetzt, verbündet sie sich mit dem Untergründigen und suspendiert damit zugleich die Vorstellung, Kunst sei ausschließlich mit dem Schönen, Erhabenen identifizierbar. Die Kunst entfremdet sich nach und nach von den ihr traditionell zugeschrieben Attributen „schön“ und „gut“ – als Medium ist sie stattdessen in der Lage, gesellschaftliche Missstände auf einer Bühne, der Welt, aufzudecken, die in diesem Moment nicht mehr als unveränderbare, unbeeinflussbare dargestellt werden, sondern als variable, verhandelbare. Es sei hier an Bertolt Brecht erinnert, der am Beispiel des Theaters mit Verfremdungseffekten operierte, die eine „Desidentifikation“ einleiten sollten. Mit diesen Verfremdungseffekten bricht Brecht bewusst mit der Vorstellung, dass die Menschen nur auf eine Art und Weise handeln könnten.5 Dieser Idee folgend kann Kunst als Medium verstanden werden, das sich relativ schillernd als Projektionsfläche nutzen lässt und in diesem Sinne immer wieder neue Bilder produziert, die auf eine bestimmte Weise eingerahmt, inszeniert, gedeutet, verändert und entfremdet werden müssen. Wenn diese Flexibilität der Kunst anerkannt wird, muss 1 2 3 4 5

Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 2. Vgl. T. Gautier: Mademoiselle de Maupin, Vorwort. Vgl. J.-P. Sartre: Was ist Literatur?, S. 17. Vgl. T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 391–392. Vgl. B. Brecht: Über das experimentelle Theater, S. 102.

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Herausgeberinnen

die Vorstellung einer Originalität der Kunst immer schon zurückgewiesen werden: Die Kunst ist von Anfang an gewissen Instrumentalisierungen ausgesetzt. Letzten Endes kulminiert die Ambiguität der Kunst in einer unaufhebbaren Spannung, die ganz verschiedene signifikante Interessen der Kunstherstellenden verdichtet und die eine ständige Reflexion ihrer Rezipient_innen fordert. Im Dickicht der verschiedenen Positionen, die in vorliegendem Band von den Akteur_innen diverser Wissens- und Handlungsfelder vorgestellt werden, lassen sich unterschiedliche Möglichkeiten erkennen, wie Kunst als Trägerin gesellschafts­ kritischer Inhalte agieren kann. Das Hauptaugenmerk sollte dabei nicht darauf liegen, die unterschiedlichen Kunstformen und -projekte als voneinander unabhängige Elemente zu verstehen. Vielmehr ist es uns ein Anliegen, Künste miteinander zu kombinieren, zu mischen und miteinander zu konfrontieren. Dabei werden sämt­ liche Medien und Bedeutungsträger wie Architektur, Theater, Literatur, Musik, Film, Spiel, Internet, Fotografie oder auch Mode in den Fokus genommen, ihre Bedingungen reflektiert und im Hinblick auf ihre Kritikfähigkeit für die gesamte Gesellschaft untersucht. Wenngleich sich die einzelnen Beiträge zeitlich und epochal nicht auf einen Nenner bringen lassen, so überschneiden sich wiederholt essentielle Themen und Fragen, die sich im Konnex zwischen Kunst und Kritik denken lassen: Welche Aufgabe kommt der Kunst in der Gesellschaft zu? Wie sollen wir mit einer Kunst umgehen, die selbst Werte vermittelt, die wir nicht mehr als demokratisch bezeichnen würden? Was kann, was darf, was muss Kunst? Wie kann Kunst in einer postmodernen Gesellschaft kritisch auftreten? Inwiefern transportiert Kunst immer schon Kritik? Erreicht kritische Kunst die Gesellschaft noch? Dieser erste Teil des Bandes liefert nicht nur unterschiedliche Ansätze und Argumente, die diese Fragen kommentieren, diskutieren und unterminieren, sondern bietet auch Raum für Deutungen und Erzählungen, die einem Erfahrungswissen entsprechen und den Diskurs ebenso beflügeln. Andreas Oberprantacher eröffnet die Diskussion, indem er die brisante Frage stellt, ob zeitgenössische Kunst überhaupt noch als widerständig begriffen werden könne, wenn sie von post-demokratischen und post-fordistischen Interessen durchzogen ist und durch Gentrifizierungs- und Kommodifizierungsprozesse zur Komplizin des globalisierten Kapitals wird. Auch Peter Volgger geht im Zusammenhang mit verschiedenen Architektur-Projekten (Abu Dhabi, Dubai City) auf die Frage ein, ob wir in einer kapitalistischen Gesellschaft von der Architektur überhaupt anti-kapitalistische Beiträge erwarten können, wenn Architekt_innen zunehmend die Absichten von Geschäftsleuten, Konzernen oder Privatkund_innen zum Ausdruck bringen. Weiter geht Xenia Ressos auf eine inhaltlich vollkommen fehlinterpretierte und als pervertierte Gesellschaftskritik missbrauchte Künstlerrezeption Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn ein, der nicht nur ein künstlerisches Gegenmodell zu den „artfremden“ Vorbildern der französischen Moderne hervorbringen wollte, sondern darüber hinaus eine Etablierung eines „Dritten Reichs des Ästhetischen“ propagierte. Im weiteren Verlauf reflektiert Irmgard Bibermann anhand ihrer eigenen Regiearbeiten die Frage, was ästhetische Prozesse im dokumentarischen Theater für

Einleitung

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die Wahrnehmung von historischen und sozialpolitischen Fragen sowohl bei den Rezipient_innen, als auch bei den Spieler_innen leisten können. Lieder und Gedichte sind nicht nur Werkzeuge, sondern können auch politische Kraft konzentrieren. Sandra Hupfauf zeigt mittels häufig parodierten Volksliedern wie dem Kaplied oder dem Schwabenmädchen von C. F. D. Schubart die Präsenz politischer Kontrafakturen in Tirol um 1800 auf und diskutiert dabei den Zusammenhang von Musik und Gesellschaftskritik. Während Kurt Drexel einige Entwicklungslinien der Musikverwendung im Zusammenhang mit politischen Motiven und Ideologien im 20. Jahrhundert aufzeigt, konzentriert sich Christian Glanz im weiteren Verlauf auf den Komponisten Hanns Eisler und seine künstlerische Arbeit, die von seinem politischen Engagement vielfach überlagert wird. Am Beispiel von Juli Zehs dystopischem Roman Corpus Delicti beschäftigt sich Gerhard Donhauser mit Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen von Staaten, die ein bestimmtes Verhalten ihrer Bürger_innen durchsetzen oder Staatsziele verwirklichen wollen. Wir haben es in vorliegendem Band wiederholt mit Szenen zu tun, die ein Ausgeliefertsein der Menschen an bestimmte „höhere Mächte“ diagnostiziert. Auch der urbane Künstler Crazy Mister Sketch fokussiert in seinem Kunstwerk (siehe S. 249–251) den Gedanken der staatlichen Disziplinierung, wie Michel Foucault ihn im Einzelnen beschrieben hat. Auch Barbara Huber (siehe S. 227–231) greift diesen Gedanken auf, wenn sie auf die Zwänge der Informationsgesellschaft aufmerksam macht und auf die Konsequenzen hinweist, die in der Abspaltung, Selbstverachtung und Vulnerabilität der Menschen liegen. All diese Beiträge erinnern an Giorgio Agambens Gedanken der Reduktion menschlichen Daseins auf das nackte, physische Leben, wie er sie in Homo Sacer zur Entfaltung gebracht hat. Unter veränderten Vorzeichen spielt der Körper, den es zu schützen gilt, auch in Veronikas Bertis Ausführungen eine fundamentale Rolle: Der Schutz, der in ihrem Essay zum Tragen kommt, ist die Kleidung, die rasant zu einem populären Kommunikationsmedium wurde, das individuell und kollektiv sinnstiftend ist. Dabei reflektiert sie anhand vestimentärer Codes wie dem Korsett, der Hose, dem Monokini oder auch dem T-Shirt Geschlechterrollen und Konventionen, Zwänge und Normen, die gesellschaftlich tradiert werden. Noelia Bueno-Gómez bezieht mit dem Internet ein weiteres Medium in den Diskurs mit ein, das die Reproduzierbarkeit von Kunst, Waren und Produkten massiv beschleunigt hat. Ausgehend von dieser Entwicklung steht in ihrem Beitrag die Frage im Zentrum, ob die vom Internet ermöglichte Vervielfältigung, die nach Walter ­Benjamin ihre Ritualfunktion und damit ihre Aura eingebüßt hat, die Kunst demokratisiert oder vielmehr banalisiert – man denke an Susan Sontags Kriegs­fotografie und ihren Überlegungen zur Normalisierung der Brutalität der Bilder. Andrei Siclodi beschäftigt sich anhand von Wissenspraxen wie Medienarchiven und Archiv­ dokumenten, deren Anspruch auf eine akkurate Repräsentation der Welt spätestens seit der Jahrhundertwende in Abrede gestellt wurde, mit den Bedingungen von Trauen und Misstrauen der Menschen gegenüber Bildern und Darstellungen. Aber nicht nur das Internet und die Fotografie sind beliebte Mittel, um gesellschafts­kritische Inhalte

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Herausgeberinnen

zu transportieren, sondern auch der Film und das Spiel, denen sich Lukas Ladner zuwendet und dabei vor allem die Verantwortung und die Möglich­keiten des Publi­ kums in den Blick nimmt, das sich nicht mehr auf die Funktion einer reinen Konsu­ mation von vorgegebenen Inhalten reduzieren lässt. Andrea Umhauer und Sarah Milena Rendel thematisieren aus einer stärker sozial­ wissenschaftlichen und aktivistischen Perspektive Zusammenhänge von Kunst und Widerstand vor dem Hintergrund der Unibrennt-Bewegung, bei der sie selbst 2009 in Innsbruck engagiert waren. Auch Chris Mosers künstlerisches Schaffen ist akti­ vistisch. In seinem Beitrag nimmt er Bezug auf Möglichkeiten und Potentiale von gesellschaftspolitischer Kunst, aber auch auf Repressionen, die mit aktivistischer Kunst einhergehen. Dabei erzählt er offen über seinen Gefängnisaufenthalt, den er aufgrund seines breitenwirksamen Widerstands in Kauf nehmen musste. Den Übergang zum zweiten Teil dieses Bandes bildet die Dokumentation der Podiumsdiskussion zur Frage, was (skandalöse) Kunst gegenwärtig leisten muss, um vom Publikum wahr- und ernstgenommen zu werden.

BIBLIOGRAFIE Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Brecht, Bertolt: „Über das experimentelle Theater“, in: Schriften zum Theater 3, Frank­ furt am Main: Suhrkamp 1963, S. 79–106. Gautier, Théophile: Mademoiselle de Maupin. Übersetzt von Caroline Vollmann, Zürich: Manesse Verlag 2011. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur?, Reinbek bei Hamburg: Rororo 1981.

KUNST UND KAPITAL: SKIZZE EINER LEIDENSCHAFTLICHEN AFFÄRE Andreas Oberprantacher

„Die einzige revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität […], die einzig ­revolutionäre Kraft ist die Kunst.“ Joseph Beuys1

„Von den vielen Dingen, die ich hätte sein, tun und haben sollen, bin, tue und habe ich exakt null Komma nichts. Ich stehe im an mir zerrenden Sog des modernen Lebens und sehe zu, wie es davonrast. Das klingt jetzt vielleicht pathetisch, aber die Sache ist die: Es ist nicht so, dass mir die innere Kraft fehlt. Innere Kräfte habe ich genug, mehr als genug sogar. Die sind nur noch nie zum Ausdruck gekommen. Und Kraft, die keinen Ausdruck findet, keine Form, ist sinnloser als gar keine Kraft.“ DBC Pierre2

DER „GUETTA-EFFEKT“ „It’s like this: I never stop... we never stop creating, never stop doing things, I ­never stop... I mean, I stop only when I sleep and I even in my dream I work, I make it happen“3, brüstet sich der selbsternannte Street-Artist Mr. Brainwash, aka Thierry Guetta, während eines Gesprächs für das digitale Magazin Trash Lab anlässlich der Eröffnung seiner Show mit dem pompösen Titel Life is Beautiful, welche er im Jahr 2012 in einem verwaisten Industrielager inmitten von Hollywood veranstaltet hat. Mr. Brainwashs Worte, die wie eine Karikatur eines kommerziellen Slogans klingen, sind insofern geeignet, um das Verhältnis von Kunst und Kapital – das sich wiederholte Male als Komplizenschaft erwiesen hat – anhand der Ambivalenzen von Street-Art einleitend zu sondieren, als sie das Selbstverständnis einer Figur zusammenfassen, die Kritik und Kitsch so vermengt, dass etwas entsteht, von dem kaum noch gesagt werden kann, ob es nun oberflächlich oder doch profund (gedacht) sei. Genau genommen dürfte Mr. Brainwash, wie sein Name suggeriert, selbst so etwas wie ein gefinkelter medialer hoax sein. Bei Guetta, dessen Biografie ziemlich nebulös ist, handelt es sich nämlich um einen Hasardeur, der zu einer gewissen Berühmtheit gelangte, als er im Jahr 2010 im Mockumentary Exit Through the Gift Shop sich selbst spielte, und zwar als eine Figur, die auf Empfehlung des Regisseurs Banksy im Laufe

1 2 3

Zit.n. V. Harlan et al.: Soziale Plastik, S. 59. DBC Pierre: Das Buch Gabriel, S. 12. thetrashlab: Mr. Brainwash: Pushing the Limit; https://www.youtube.com/watch?v=AK_hbWfAXiA vom 05.08.2012.

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Andreas Oberprantacher

des Geschehens vom Statisten zum Street-Artist mutiert, sprich: nach dem sprichwörtlichen Pinsel greift. Ohne an dieser Stelle die verwobenen Stränge des Films, der gekonnt zwischen den Formaten Dokumentarfilm und Kunstfilm hin und her changiert, mit allerlei Mehrdeutigkeiten operiert und wiederholte Male Lust an subversiver Selbstkritik erkennen lässt (Ist Banksy Guetta oder Guetta Banksy?), würdigen zu können, möchte dieser kursorische Verweis zu bedenken geben, dass die filmische Erzählung von Thierry Guettas Travestie ein satirischer Verriss des gegenwärtigen Kunstbetriebs ist, der sich mit wechselndem Erfolg um die Kommodifizierung von anfänglich unrentabler Street-Art bemüht.

Abb.1: Mr. Brainwash, Follow your dreams, 2017, London

Tatsächlich sprechen diverse Episoden dafür, dass die Geschichte der Street-Art seit ihren Anfängen in den 1960er- und, insbesondere, -70er-Jahren auch als eine ­Geschichte der versuchten Vermarktung, d.h. Verwertung von ästhetischen Interventionen und Relationen gelesen werden kann, die teils implizit, teils explizit gegen den kapitalen Kunstbetrieb gerichtet waren und (immer noch) sind. Seit Brassaïs (Gyula Halászs) fotografischem Essay mit dem Titel Du mur des cavernes au mur d’usine, den er für das surrealistische Magazin Le Minotaure verfasst hat, kann nämlich argumentiert werden, dass es sich bei den Worten „street“ und „art“ um zwei antagonistische Termini handelt, die nicht so miteinander kopuliert werden können, als ob die urbane „Straße“ eine Fortführung von musealer „Kunst“ mit anderen Mitteln sei, sprich: als ob sich die Museumskunst auf den Straßenkörper verlagerte. Die Straße, so Brassaï, muss zunächst einmal als das Andere jener Kunst gedacht werden, welche ab dem 19. Jahrhundert vermehrt in Museen gesammelt und gezeigt wurde, sodass von Street-Art – ein umstrittener Terminus, der erst ab den späten 1970er-Jahren gebräuchlich 4 und 4

Vgl. C. Lewisohn: Streetart, S. 15–18.

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dann durch Allan Schwartzmans gleichnamiger Buchveröffentlichung im Jahr 1985 popularisiert wurde5 – nur in dem Sinne die Rede sein kann, dass institutionalisierte ästhetische Verhältnisse durch das turbulente Straßengeschehen bastardisiert, ja revolutioniert werden. Oder, um es mit Brassaï zu sagen, der sich mit anonym gebliebenen Wandzeichnungen und -kratzern der 1930er-Jahre befasst hat: „L’art bâtard des rues mal famées, qui n’arrive même pas à effleurer notre curiosité, si éphémère qu’une intempérie, une couche de peinture efface sa trace, devient un critérium. Sa loi est formelle, elle renverse tous les canons laborieusement établis de l’esthétique.“6 Wenn es sich so verhält, wie bereits mit Brassaï, aber auch mit Norman Mailer und seiner Recherche The Faith of Graffiti (1974)7 sowie mit Jean Baudrillard und seinem Essay Kool Killer ou l’insurrection par les signes (1976)8 erörtert werden kann, dass sich Street-Art als eine Kunst der Straße zu entwickeln begann, die sich – wie etwa im Fall von Jean-Michel Basquiat und Al Diazs institutionenkritischem ­SAMO©-Tag aus den späten 1970er-Jahren – nicht so sammeln und zeigen lassen sollte wie jene, die bereits seit Dekaden von Museen inventarisiert und katalogisiert worden ist, um sie so handhabbarer und gefügiger für den globalen Kunstmarkt zu machen, dann ist bezeichnend, dass mittlerweile Murals, Graffitis, und, seltener, Tags etc. von multinationalen Konzernen ebenso wie von städtischen Verwaltungen gezielt in Auftrag gegeben werden, um etwa Wände eines Shopping-Centers zu bekleiden oder Gebäude eines grauen Stadtviertels zu schmücken. Dementsprechend bringt Mr. Brainwash und der kommerzielle Erfolg seiner Serien von Shows, die teils mehrere Millionen US-Dollar wert sind, bloß auf den Punkt, was als Tendenz auch sonst erkennbar ist: Street-Art boomt.

Abb.2: Banksy, Shop until you drop, Graffiti auf einem Bürogebäude in London, 2011

5 6 7 8

Vgl. A. Schwartzmann: Street Art. Brassaï: Du mur des cavernes au mur d’usine, S. 6. Vgl. N. Mailer: The Faith of Graffiti. Vgl. J. Baudrillard: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen.

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Charakteristisch für den paradoxen Boom von Street-Art, der bereits als „Banksy-­ Effekt“9 thematisiert wurde, aber genauso gut „Guetta-Effekt“ genannt werden­ könnte, wenn bedacht wird, dass der eine das alter ego des anderen ist und beide, trotz ihrer eklatant konträren Profile (Banksy: anonym; Guetta: spektakulär), zusammen­ gehören, ist nicht, dass die prinzipiell gegenstandslose und experimentelle Kunst der Straße schließlich doch noch vergegenständlicht und institutionalisiert worden ist, sprich: dass nun einzelne Artefakte isoliert und mittels Geldbeträgen getauscht werden können, sondern dass die ästhetischen Interventionen und Relationen, die im Namen von Street-Art stattfinden, selbst als profitable Ressource gewertet werden. Anders gesagt, die Rentabilität von Street-Art, welche ja auch ein integrales Moment von Gentrifizierungsprozessen ist,10 besteht weit weniger darin, dass dieses oder jenes, kurzum: etwas Bestimmtes geschaffen wird, was sich eventuell als lukrativer Bezugspunkt kapitalistischer Interessen erweisen kann, sondern vielmehr darin, dass sie sich, ähnlich der so genannten Performancekunst, für so etwas wie ein un-bestimmtes Schaffen engagiert, d.h. für ein Schaffen ohne spezifische Bestimmung. Was in solchen Fällen kapitalisiert wird, ist also primär das künstlerische Engagement (und vielleicht sekundär das künstlerische Artefakt, wenn ein solches denn entsteht).

KÜNSTLERISCHE KRITIK ALS KAPITALISTISCHE RESSOURCE Bereits Joseph A. Schumpeter hat in seiner Schrift Capitalism, Socialism and ­Democracy (1942) betont, indem er sich auf Gedanken von Karl Marx stützte, dass der Motor ­kapitalistischer Interessen so oder anders durch einen historisch sich wandelnden „Prozeß der schöpferischen Zerstörung“11 (englisch: creative destruction) geölt werde, dass dem Kapitalismus also an einer wiederholten Kommerzialisierung von Kreativi­ tät gelegen sei, was wiederum zur Folge habe, dass Bestehendes gesprengt werden müsse. Während Schumpeter im Kontext seiner soziologischen Diskussion sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse zumeist an industrielle Mutationen dachte, etwa an technische Innovationen, die für ihn insofern „revolutionär“ waren, als sie dazu beitrugen, veraltete ökonomische Strukturen zu demolieren und zugleich neue zu generieren, haben Luc Boltanski und Ève Chiapello mit ihrer, dem Titel nach an Max Weber angelehnten Studie Le nouvel esprit du capitalisme (1999) zur Jahrtausendwende indessen dafür plädiert, die post-industriellen Transformationen von gesellschaftlichen Verhältnissen mittels Phänomenen zu beurteilen, die sich nicht so (industriell) materialisieren und eher einen anderen, einen „künstlerischen“ Gebrauch und Verschleiß von Kreativität erkennen lassen. Die Basis von Boltanski und Chiapellos Studie zur Gestalt neokapitalistischer Rechtfertigungsimperative bildet eine Palette von Managementliteratur, die zwischen 1985 und 1995 publiziert worden ist und häufig auf Begrifflichkeiten rekurriert, ­welche traditionell der 1968er-Bewegung zugeschrieben werden: Kreativität, Autonomie, 9 R. Bastanmehr: Banksy Effect. 10 Vgl. D. Ley: Artists, Aestheticisation and the Field of Gentrification; R. Schacter: The Ugly Truth; H. Derwanz: Street Art-Karrieren, S. 100–109. 11 J. A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 134–143.

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Spontaneität, Flexibilität, Authentizität etc. Im Kontext ihrer differenzierten Relektüren „post-moderner“ Managementliteratur argumentieren Boltanski und Chiapello, dass der Kapitalismus als ein diskontinuierliches Gebilde von variablen Interessen die antikapitalistische Kritik immer wieder dringend benötige, um seine eigenen Interessen revitalisieren und erneut legitimieren zu können. Der „neue“ Geist des Kapitalismus bzw. die Rationalität des Neokapitalismus besteht laut Boltanski und Chiapellos dichten Beschreibungen darin, dass es nach einer massiven Glaubwürdigkeitskrise in den 1990er-Jahren offenkundig gelungen ist, gewisse Teile der Kritik, so wie sie um 1968 in antikapitalistischer Diktion formuliert wurde, sukzessive zu kapitalisieren, d.h. für die Reformation kapitalistischer Interessen dienstbar zu machen. Bereits in ihrem Prolog, der sich mit dem Phänomen der Prekarisierung als Symptom eines sich verändernden kapitalistischen Apparats befasst, machen sie darauf aufmerksam, dass sich die Organisation von Arbeitssituationen im Vergleich mit jener der späten 1960er- und frühen -70er-Jahre, d.h. so wie sie vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und Nordamerika forciert wurde, mittlerweile „nahezu in ihr komplettes Gegenteil verkehrt und die Kritik dieser Entwicklung alles in allem nur schwachen Widerstand entgegengesetzt hat“12. Um diese historische Revolution, für welche sich die Kapitalismuskritik in Teilen mitverantwortlich zeichnet, zu verstehen, schlagen Boltanski und Chiapello eine Kritik antikapitalistischer Kritiken vor, indem sie zwischen diversen kapitalismuskritischen Diskursen, die teils in das neokapitalistische Management eingebunden und teils davon ausgeklammert worden sind, differenzieren. In Relation zu vier „Quellen der Empörung, aus denen sich die Kapitalismuskritik speist“13 – (a) Empörung über die kapitalistische Entzauberung der Welt und den damit einhergehenden Verlust an Authentizität, (b) Empörung über die kapitalistische Unterdrückung von Freiheit, Autonomie und Kreativität, (c) Empörung über die generalisierte Armut und Ungleichheiten, (d) Empörung über den grassierenden Opportunismus und Egoismus –, argumentieren sie, dass die ersten beiden Quellen als „Künstlerkritik“ und die beiden anderen als „Sozialkritik“14 charakterisiert werden können. Während im Zentrum der so genannten „Künstlerkritik“ laut Boltanski und Chiapello „der Sinnverlust und insbesondere das verloren gegangene Bewusstsein für das Schöne und Große als Folge der Standardisierung und der triumphierenden Warengesellschaft [steht]“15, und diese Kritik „für die Freiheit des Künstlers, für dessen Weigerung, die Ästhetik moralisch zu binden, und seine Ablehnung jeglicher Form der zeitlich-räumlichen Unterordnung sowie – in seinen radikalsten Erscheinungsformen – jeglicher Art von Arbeit überhaupt [eintritt]“16, weist die zweite Ausdrucksform der kritischen Haltung, also die sogenannte „Sozialkritik“, „die moralische Gleichgültigkeit bzw. Nicht-Einmischung, den Individualismus, ja Egoismus

12 L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 21. 13 Ebd., S. 80. 14 Ebd., S. 81. 15 Ebd., S. 82. 16 Ebd.

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der Künstler – bisweilen entrüstet – von sich“17, um „vor allem die Ungleichheits- und Ar­mutsprobleme zu beseitigen [zu versuchen], indem sie das Spiel der Partikular­ interessen durchbricht“18. An der „Dekonstruktion der Arbeitswelt“19 – wie Boltanski und Chiapello ­polemisch gestimmt schreiben – der so genannten Normalarbeitsverhältnisse (der ­europäischen und nordamerikanischen Nachkriegszeit) hat die Kapitalismuskritik der 1968er-Bewegung insofern ihren problematischen Anteil, als gewissen Forderungen, die gemäß der „Künstlerkritik“ erhoben wurden, durch den sich kritisch erneuernden Geist des Kapitalismus entsprochen werden konnte. So ist in der Managementliteratur ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahren, welche von Boltanski und Chiapello summarisch diskutiert wird, tatsächlich eine Häufung von Termini feststellbar, die an eine Summe radikaler Forderungen der 1968er-Bewegung erinnern und mittlerweile programmatisch für neokapitalistische Interessen verwendet werden: „Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Plurikompetenz [...], die Fähigkeit, Netzwerke zu bilden und auf andere zuzugehen, die Offenheit gegenüber Anderem und Neuem, die visionäre Gabe, das Gespür für Unterschiede, die Rücksichtnahme auf die je eigene Geschichte und die Akzeptanz der verschiedenartigen Erfahrungen, die Neigung zum Informellen und das Streben nach zwischenmenschlichem Kontakt“20 stehen nicht länger im Widerspruch zu Arbeitstätigkeiten, sie berufen sich als Termini nicht länger auf eine vom Geist des Kapitals „befreite“ Welt. Es handelt sich um eminent neokapitalistische Ideale. Wenngleich Boltanski und Chiapello mit ihrer Studie Der neue Geist des Kapitalismus­­ ein relativ eindimensionales Bild der (intellektuellen) Künstler_innenkritik um 1968 zeichnen, indem sie einerseits vernachlässigen, wie vehement um antikapitalistische Alternativen im Umfeld der Künste gerungen worden ist und sich diverse Allianzen zwischen Studierenden, Arbeitenden und künstlerisch Tätigen gebildet haben, und andererseits verdrängen, dass die viel ­zitierten Normalarbeitsverhältnisse, global beurteilt, a-typisch waren und zugleich die Diskriminierung (in der Regel: unbezahlter) feminisierter Arbeitskraft implizierten, ist ihre Problematisierung des Kreativitätspostulats dennoch signifikant. Sie ist signifikant, weil sie zu verstehen gibt, dass sich eine gewisse Tradition des künstlerischen Engagements als profitabel erwiesen hat für die Reorganisation kapitalistischer Inter­essen.

ZWISCHEN STUDIO UND STREET: ZUR GENESE BEFRISTETER PROJEKTE Noch Jahre vor Boltanski und Chiapellos Studie hat bereits Sharon Zukin mit ihrer Schrift Loft Living: Culture and Capital in Urban Change (1982) moniert, dass: „Shifts in a dominant class’s accumulation strategy generally invoke new cultural norms in order to justify and facilitate the exercise of unaccustomed forms of social control. Nevertheless, the current linkage of accumulation and culture in urban forms seems 17 Ebd. 18 Ebd., S. 83. 19 Vgl. ebd., S. 261–308. 20 Vgl. ebd.

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more paradoxical – or perhaps merely more subtle – than most historical examples. In this case, the linkage is made through the use of art and historic preservation. The urban forms that are thus created, or, rather, preserved and adapted, become the basis of an Artistic Mode of Production.“21 Was Zukin als „Artistic Mode of Production“, verknappt: „AMP“, thematisiert, charakterisiert ihrer Argumentation zufolge eine Summe von Produktionsmodi, welche von der Kunstwelt der 1960er- und -70er-Jahre initiiert worden sind und in geradezu idealtypischer Manier die Transformation von einer industriell verfassten zu einer post-industriell verfassten Gesellschaft präparieren, ja modellieren. Es handelt sich, wie Zukin notiert, um künstlerische Produktionsmodi, zumal nicht die Fabrikation von bestimmten Konsumgegenständen den Mittelpunkt des Interesses bildet, sondern stattdessen mit der Unbestimmtheit zwischenmenschlicher Beziehungen experimentiert wird, was sich in weiterer Folge nicht allein als ästhetisch brisant, sondern auch als ökonomisch rentabel erweisen wird. Die Fluxus-Bewegung und die diversen Happenings, welche während der 1960er-Jahre rund um New Yorker Lofts veranstaltet wurden, sind für Zukin also ein wichtiges Indiz, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse insgesamt zu verändern beginnen, und zwar so, dass das bislang vorbildhafte „Ideal“ einer industriellen Disziplin – mit ihren standardisierten und reglementierten Arbeitsweisen – für die Organisation kapitalistischer Interessen tendenziell obsolet wird. Wenn Michel Foucault während eines Interviews, das er im Mai 1978 gegeben hat, davon spricht, dass es „mehr und mehr Kategorien von Leuten [gibt], die nicht unter dem Zwang der Disziplin stehen, so dass wir die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Disziplin denken müssen“22, dann stützt dieser frühe Befund insofern die spätere Argumentation ­Zukins, als auch Foucault der Meinung ist, dass sich in diesem bewegten Zeitraum einiges tut, das nicht mehr den fordistischen und tayloristischen Regulationsfantasien entspricht. Die artist studios und lofts, von denen Zukins Schrift kundig spricht, sind an diesem Transformationsprozess in dem Maße beteiligt, wie sie Orte abseits der Fabrik – mit ihren disziplinären Zwängen – imaginieren und mittels künstlerischer Performances Alternativen erkunden, die zwar einer industriellen Norm(ierung) widerstehen, aber zugleich etwas lancieren, das den kapitalistischen Interessen bei ihrer eigenen Regernation behilflich sein wird. So schreibt Zukin, indem sie eine der bekanntesten Thesen zur Gentrifizierung von maroden Stadtvierteln formuliert, dass „the value of an arts presence to contemporary cities“23 durch folgenden Faktoren erklärt werden könne: „This [factor] refers to the crucial role that arts production – involving the creation as well as the presentation or the performance of artwork – plays in de­industrialization. Both materially and symbolically, artists’ lofts serve as infrastructure of a very special sort in the transition from an industrial to a deindustrialized urban economy. On the one hand, they are a place where ‚post-industrial‘ production is really carried out. On the other hand, they embody the switch in orientation from an industrial political economy to one that is dominated by the service

21 S. Zukin: Loft Living, S. 176. Vgl. K. Stakemeier/M. Vishmidt: Reproducing Autonomy. 22 M. Foucault: Die Disziplinargesellschaft in der Krise (Konferenz), S. 672–673. 23 S. Zukin: Loft Living, S. 111.

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sector. As both site and symbol, the artist’s loft serves a purpose in a world city of a new type: the capital of banking, finance, and art markets.“24 Abgesehen davon, dass der Begriff des Werks infolge einer Pluralität von künstlerischen Performances, die sich nicht (mehr) als Kunst-Werk rahmen und konzipieren lassen, ästhetisch unglaubwürdig geworden ist und dementsprechend, wie Jean-Luc Nancy in einem verwandten Kontext geschrieben hat, auch von einer Ent-Werkung sozialer Bande (communaute desouvree)25 die Rede sein könnte, sind die artist studios als organisatorischer Kristallisationspunkt von ästhetischen und ökonomischen Prozessen auch noch wegen einem anderen Motiv relevante Bezugsorte für die Erneuerung von kapitalistischen Interessen unter dem Vorzeichen von Sercivierung und Finanzialisierung. Es handelt sich nämlich um Orte einer experimentellen Sozialisation, um Orte, die gewissermaßen die Geburtsstunde jener prekären sozialen Zusammenhänge markieren, die heutzutage als „Projekte“ firmieren. Von einer „projektbasierten Polis“26 zu sprechen, wie Boltanski und Chiapello es vorschlagen, bedeutet in diesem Kontext, dass das Projekt als ein spezifischer ­Modus von sozialer Organisation begriffen werden kann, d.h. als Modalität einer (stra­ tegisch) prekären Aggregation von Projektbeteiligten im Namen von Kreativität sowie von Flexibilität, Spontaneität, Innovation etc. Anders gesagt, die „projektbasierte ­Polis“, welche das ästhetische Geschehen rund um artist studios, lofts und streets als vorbildhafte Ressource für die Ökonomisierung künstlerischen Engagements wertet, kann im Sinne des sich erneuernden Geists des Kapitalismus als eine distinkte Form der Vergesellschaftung verstanden werden, welche just das Fragile, Rudimentäre und Instabile kapitalisiert. So wird vom „Netzmensch[en]“27, der die projektbasierten Polis bewohnt und wiederholt genötigt wird, seine employability, man könnte auch sagen: seine „ökonomische Würdigkeit“ unter Beweis zu stellen, immer wieder verlangt, sich ja nicht zu binden und z.B. mit einem Beruf zu identifizieren, denn jede bindende Identifizierung – etwa im Rahmen eines gesicherten Arbeitsverhältnisses –, stellt insofern ein Hindernis für die Verwirklichung einer globalisierten Projektpolis dar, als zeitlich wie räumlich gebundene Arbeitskräfte kaum noch bereit sind, den wechselnden Anforderungen von Projekten zu entsprechen. Genau genommen erfordert ein Leben in der Projektpolis, wie Boltanski und Chiapello resümieren, mehr als sich bloß vom Vertrauten zu entbinden und für changierende Projekte zu engagieren. Wer „es schaffen“ will, muss bereit sein, sich immer wieder selbst zu erfinden: „Der ungebundene Mensch opfert einen gewissen Aspekt seines Seelenlebens, seiner Beständigkeit sich selbst gegenüber, um sich so besser seinen Kontaktpersonen und den stets veränderlichen Situationen, in denen er handeln muss, anzupassen. In Anbetracht dessen kann der ungebundene Mensch nur noch in sich selbst („Selbst GmbH“) – der einzigen Instanz, die in einer komplexen, unsicheren und veränderbaren Welt über eine gewisse Dauerhaftigkeit verfügt – Wurzeln schlagen.“28 24 25 26 27 28

Ebd., S. 111–112. Vgl. J.-L. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft. L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 149. Ebd., S. 171. Ebd. Vgl. U. Bröckling: Das unternehmerische Selbst.

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VIRTUOSITÄT UND PREKARITÄT Auch für Paolo Virno, der im Jahr 2001 ein Seminar zur Grammatica della moltitudine gehalten hat, verhält es sich so, dass der kapitalistische Betrieb zu Beginn des 21. Jahrhunderts effektiv künstlerisch gestimmt ist, da mittlerweile die „Virtuosität [...] die Gesamtheit der zeitgenössischen Produktion [bestimmt]“29 und dieser Bestimmung zufolge „die Tätigkeit ohne Werk vom Spezial- und Problemfall [...] zum Prototyp der Erwerbsarbeit im Allgemeinen avanciert“30 ist. Anders gesagt, die Arbeitskraft „erfüllt“ bzw. erschöpft sich – für viel-zu-viele prekär Teil- und Mehrfachbeschäftige – nicht mehr in der Fertigstellung eines Erzeugnisses, so wie es dem fordistisch-tayloristischen Modell einer industriell verfassten Arbeitstätigkeit entsprechen würde. Es ist eher so, wie Virno betont, dass im Prinzip die permanente Bereitschaft zur (virtuosen) „Aktivierung“, d.h. zur ständigen Selbst-Verausgabung die Erfüllung ist, und zwar: als „Variation und Intensivierung der gesellschaftlichen Kooperation“31. Während für Nancy der Begriff der Ent-Werkung (désoeuvrement), wie zuvor erwähnt, das terminologische Siegel eines anderen, eines sensibleren Denkens von sozialen ­Beziehungen ist, eines Miteinanders ohne Mitte, Grund und Band, einer Gemeinschaft ohne Gemeinschaft sozusagen, lässt sich mit Virno wiederum problematisieren, dass Menschen auch dann zum arbeitsmäßigen Verrichten genötigt werden können, wenn nicht mehr das gegenständliche Resultat zählt, sondern bloß das kreative Vermögen, Neues zu schaffen, also die generative Potenz des Menschen. Es ist, als ob „wir Zeugen der postumen Revanche Janets an Freud [sind]“32, kommentiert Alain Ehrenberg in seiner symptomatischen Studie La fatigue d’être soi (1998), die sich mit dem historischen Niedergang der Neurose und dem zweifelhaften medizinischen wie pharmakologischen Aufstieg der Depression befasst. In der von Ehrenberg skizzierten psychopolitischen Dynamik kommt Sigmund Freud dabei die Position des an der subjektiven Erfahrung des Konflikts interessierten Psychoanalytikers zu, der die Neurose als Ausdruck einer innerlichen Verschuldung vor dem Gesetz (der Zivilisation) versteht. Währenddessen nimmt Freuds Konkurrent, der französische Philosoph und Psychiater Pierre Janet, in Ehrenbergs Argumentation die ­Position ein, dass die sogenannten „‚Willenskrankheiten‘“33 als „Erschöpfung des geistigen Budgets“34 zu denken seien. Was Ehrenberg als „Revanche Janets“ bezeichnet, lässt sich im Sinne der historischen Dynamik dieser alternativen Psycho-Analysen wie folgt zusammenfassen: Während das „Subjekt des ausgehenden 19. Jahrhunderts [...] in einer doppelten Äußerlichkeit gefangen [ist], von der es zugleich geprägt und beherrscht wird: Das Verbot, das älter und ihm äußerlich ist, und die Disziplin, die sein Verhalten regelt“35, sieht sich das aktuell in verschiedene Kooperationen eingebundene und doch ungebundene Selbst mit der in unzählige Tätigkeiten investierten 29 P. Virno: Grammatik der Multitude, S. 82. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 83. 32 A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, 287. 33 Ebd., S. 55. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 178.

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ideologischen Anrufung konfrontiert, möglichst spontan zu sein und die Pluralität an Handlungsalternativen zum Wohle der Wissensgesellschaft kreativ auszuschöpfen. Dieser Tendenz entsprechend sollten Handlungen nicht länger an der Frage „Darf ich das?“ ausgerichtet werden, was für eine disziplinarisch organisierte Gesellschaft charakteristisch wäre, wie Ehrenberg betont, sondern an der Frage „Kann ich das?“36, sprich: Liegt es (noch) in meinem Vermögen? So verwundert es auch nicht, dass Ehrenberg infolge eines regulationstheoretischen Exkurses „Verantwortung, die Fähigkeit, Projekte zu entwickeln, Motivation, Flexibilität“37 als „neue Liturgie des Managements“38 bezeichnet, das „Bild des idealen Arbeiters“39 im „flexible[n] Unternehmer“40 erkennt und, ähnlich wie Virno, zum Schluss kommt, dass das „Unternehmen [...] das Vorzimmer der nervösen ­Depression geworden [ist]“41. Abgesehen davon, dass sich der zweifelhafte Erfolg des Kollektivsingulars Depression als biopolitischer Hang verstehen lässt, eine artifizielle Steigerung der Leistungsbereitschaft mittels Antidepressiva wie Prozac oder mittels Gehirndoping wie Ritalin zu bewirken, markiert er auch eine melancholische Stimmung, die sich von jener renaissance-humanistischen eines Leonardo da Vinci oder eines Albrecht Dürer konsequent abhebt, wie Ehrenberg argumentiert. Die melancholische Stimmung ist nicht länger ein „Charakteristikum des genialen Menschen“42 bzw. die philosophische Grundstimmung, sondern das Symptom einer generellen Überforderung, die sich einstellt, weil von immer mehr Menschen so gut wie ständig die Bereitschaft erwartet wird, dass sie ihr Vermögen kreativ, d.h. vermittels virtuoser Leistungen verausgaben. So gesehen ist der zeitgenössische Virtuoso, von dem Virnos Seminar handelt, auch ein manisch Depressiver bzw. ein virtuos Depressiver, der jedoch nicht unter seiner talentierten Monomanie leidet, sondern vielmehr sein eigenes Ungenügen verkörpert. Womit wiederum gesagt sei, dass sich das erschöpfte Selbst des Unvermögens, sich jemals mit oder durch ein Werk verwirklichen zu können, depressiv bewusst wird: „Das ist die Formel des souveränen Individuums: psychische Befreiung und persönliche Initiative, Unsicherheit der Identität und Unfähigkeit zu handeln.“43

NACH DER PARTY Knapp drei Jahre vor seinem Freitod im Januar 2017 hat der britische Philosoph und Kulturwissenschaftler Mark Fisher einen Beitrag mit dem Titel Good for Nothing für die Zeitschrift The Occupied Times of London verfasst, in welchem er sich mit seinen wiederholten depressiven Phasen auseinandersetzt und in Erinnerung an die Schrift The Origin of Unhappiness (1993) des klinischen Psychologen David Smail 36 Ebd., S. 293. Vgl. auch A. Ehrenberg: Depression, S. 54–55. 37 A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, 245. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 44. 43 Ebd., S. 305.

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argumentiert, 44 dass individualisierte Depressionen die Kehrseite des kollektiven Imperativs seien, sich selbst kreativ zu entfalten. Depression, so Fisher, ist der Inbegriff einer Schuld, die von Individuen als Schmerz erfahren wird, das eigene kreative Vermögen unzureichend zu nützen. Es handelt sich also um Zustände, die, solange sie ­psycho-pathologisiert und nicht mit der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse kritisch in Beziehung gesetzt werden, verschleiern, dass sich das mangelnde „Selbstwertgefühl“ umgekehrt proportional zu dem verhält, was als magischer ­Voluntarismus (englisch: magical voluntarism) genannt werden kann. „Magical voluntarism“45, schreibt Fisher, „is both an effect and a cause of the currently historically low level of class consciousness. It is the flipside of depression – whose underlying conviction is that we are all uniquely responsible for our own misery and therefore deserve it. A particularly vicious double bind is imposed on the long-term unem­ ployed [...] now: a population that has all its life been sent the message that it is good for nothing is simultaneously told that it can do anything it wants to do.“46 In dem Maße, wie sich ein gewisses Selbstverständnis von künstlerischer Kreativität seit den gesellschaftlichen Umbrüchen um 1968 als Ressource für eine Reorganisation kapitalistischer Interessen, ja für eine kapitalistische Revolution abseits von industrieller Massenfertigung und disziplinären Zwängen erwiesen hat, welche Unmengen von Menschen zu prekären Beschäftigungen und depressiven Phasen verurteilt, kann und muss folglich auch die Frage gestellt werden, ob Kunst und Kapital so sehr voneinander profitieren, dass Widerstand kaum noch denkbar ist. Wie mit diesem Beitrag skizziert wurde, wäre es jedenfalls eine unkritische Simplifizierung, würde man das künstlerische Engagement dem kapitalistischen Entrepreneurship kategorisch gegenüberstellen, als ob das Eine nichts mit dem Anderen gemein hätte. Das Verhältnis von Kunst und Kapital ist insofern ein historisch kompliziertes, d.h. ein von verschiedenen Komplizenschaften geprägtes, als sich wiederholte Male zeigt, wie sich kapitalistische Interessen und künstlerische Tätigkeiten – gerade im Namen der Kritik – miteinander arrangieren, und zwar so, dass sie sich wechselseitig regenerieren und legitimieren. Anders als jene Studien, die auf die Vermarktung von Artefakten fokussieren und betonen, wie sich Kunst und Kapital den Markt miteinander teilen und verwandte Marketingstrategien entwickeln, wurde mit dieser Skizze illustriert, dass diese Komplizenschaft auch eine von kreativem Vermögen und depressiver Schuld ist, zumal in neokapitalistischer Diktion von Menschen verlangt wird, sie mögen sich wie Virtuosi selbst vorausgeben, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Im Bewusstsein der jüngsten Komplizenschaft von Kunst und Kapital wagt Hito Steyerl die Vermutung, dass: „the production of art presents a mirror image of post-­ democratic forms of hypercapitalism that look set to become the dominant political post-Cold War paradigm. It seems unpredictable, unaccountable, brilliant, mercurial, moody, guided by inspiration and genius. [...] Thus, traditional art production may be a role model for the nouveaux riches created by privatization, expropria­tion, and

44 Vgl. D. Smail: The Origins of Unhappiness. 45 M. Fisher: Good for Nothing. 46 Ebd.

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speculation. But the actual production of art is simultaneously a workshop for many of the nouveaux poor, trying their luck as JPEG virtuosos and conceptual impostors, as gallerinas and overdrive content providers. Because art also means work, more precisely, strike work. It is produced as spectacle, on post-Fordist a­ ll-you-can-work conveyor belts. Strike or shock work is affective labor at insane speeds – enthusiastic, hyperactive, and deeply compromised.“47 Wenn Steyerl von strike work oder von shock work spricht, dann beruft sie sich auf die sowjetische Formulier­u ng udarny trud („ultraproduktive, enthusiastisch Arbeitende“), welche verwendet wurde, um jene Avantgarde von Arbeitenden zu honorieren, die um der Arbeit willen exzessiv arbeiteten und anderen als Modell dienen sollten. Mit dem gegenwärtigen Kunstsektor verhält es sich, Steyerls Diagnose zufolge, ähnlich. Wird bedacht, dass es neben der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit kaum einen anderen Sektor gibt, wo so viel Arbeit ohne Bezahlung und arbeitsrechtliche Standards geleistet wird, kann tatsächlich gefolgert werden, dass: „Free labor and rampant exploitation are the invisible dark matter that keeps the cultural sector going.“48 Solange diese „dunkle Materie“ namens servile Arbeit von der Aura künstlerischer Virtuosität umzirkt bleibt und von ihr zehrt, ist wahrscheinlich, dass diese Situation in die Hände gentrifizierter Oligarchien spielt, welche neokapitalistische Interessen geballt managen. Sollte es allerdings gelingen, künstlerische Performances als eine zwischenmenschliche Tätigkeit so zu profanisieren, dass ihre (materielle und immaterielle) Produktionsbedingungen erkennbar und problematisierbar werden, wie es bereits Walter Benjamin in den 1930er-Jahren gefordert hat, 49 dann bestünde eventuell die Chance, sich nicht mehr so in den Dienst von kapitalistischen Interessen zu stellen. Vielleicht ist es ja das, was uns Mr. Brainwash zwischen den Zeilen zu sagen versucht.

BIBLIOGRAFIE Bastanmehr, Rod: „The Banksy Effect“, in: Untitled: The Legendary Issue 7 (2014), ­­S. 58–61. Baudrillard, Jean: „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“, in: Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978, S. 19–38. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Suhrkamp 2010. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003. Brassaï: „Du mur des cavernes au mur d’usine“, in: Minotaure 3-4 (1933), S. 6–7. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. DBC Pierre: Das Buch Gabriel. Übersetzt von Kirsten Riesselmann, Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2011.

47 H. Steyerl: Politics of Art, S. 94–95. 48 H. Steyerl: Politics of Art, S. 96. Vgl. auch B. Loacker: Kreativ prekär. 49 Vgl. W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

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IST ARCHITEKTUR WIDERSTÄNDIG? DAS READY-MADE ALS ­KRITISCHE TAKTIK IN DER ZEITGENÖSSISCHEN ARCHITEKTUR Peter Volgger

EINLEITUNG Der französische Philosoph Jacques Rancière hat in seinem Vortrag Ist Kunst widerständig?1 (2004) eine Diskussion angestoßen, in deren Zentrum die Frage nach dem Widerstandspotential der Kunst steht.2 In unserer Zeit, die häufig als „post-politisch“ bezeichnet wird, scheint der Widerstand einer lähmenden Ohnmacht gewichen zu sein. Der realen Politik wird vorgeworfen, sie habe das konflikthafte Wesen des ­Politischen verdrängt und ziele darauf ab, das offene und sich verändernde Moment abzuschaffen.3 Reinier de Graaf, der Direktor der Denkfabrik AMO, 4 zeigt in seinem Vortrag Is Iconicity good for Architecture? das Szenario einer Zukunft, in der es nur noch „Pseudo-Demokratien“5 mit kalkulierbaren Wahlergebnissen geben werde. Obwohl das globale neoliberale Regime seit den 1980er-Jahren mehr Demokratie und Gleichheit versprach, führte es ein System ein, das politische und ökonomische Macht vermischt. Damals sind die Aktienmärkte explodiert, was zur Folge hatte, dass nicht mehr der öffentliche, sondern der private Sektor der größte Auftraggeber wurde. Die Architekt_innen agierten dort, wo die Architektur die Sphäre des Politischen adressiert und bedienten die neoliberale Wende perfekt, ja produzierten sie sogar mit. „Ein Plattenbau braucht einen Staat, wenn der Staat keine Rolle mehr spielt, ist die Idee des sozialen Wohnungsbaus vorbei“6, meinte Rem Koolhaas. Den Vorwurf,

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Vgl. J. Rancière: Ist die Kunst widerständig? Ob Architektur (Kunst) überhaupt widerständig sein kann, und wenn ja: ob sie es sein soll, ist keineswegs unumstritten, weder bei Architekt_innen noch bei Architekturtheoretiker_innen oder -kritiker_innen. Im Text möchte ich zeigen, auf welche Weise sich „Widerständigkeit“ artikulieren kann, wobei ich „Widerständigkeit“ als Haltung und indirekt wirkende Eigenschaft von bestimmten Kulturelementen vom „Widerstand“ als Aktivität (Auflehnung) unterscheiden möchte. 3 Vgl. C. Mouffe: Agonistik. 4 Das Office for Metropolitan Architecture von Rem Koolhaas reagierte auf die steigende Präsenz in der Öffentlichkeit, indem es die interne Arbeitsteilung nach Konzeptfindung und Entwurfsausführung formalisierte und das Büro zum Zwillingsbüro OMA/AMO weiterentwickelte. AMO bietet den organisatorischen Rahmen für die Arbeit jenseits konventioneller Architektur und ist verantwortlich für Projekte wie Das Bild Europas für die EU sowie vielfältige Projekte für Prada. Vgl. C. Van Gerrewey/V. Patteeuw: OMA. The First Decade, S. 2–5. 5 Reinier de Graaf (OMA) verwendet die Darstellungen in seinem Vortrag Is Iconicity Good for Architecture? Vgl. B. Ramo/B. Upmeyer: Pseudo-Democracies and Pseudo-Commissions. Siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=LzCbfFYxvMs vom 30.07.2015. 6 T. Prüfer: Geht’s ’ne Nummer kleiner?, S. 3.

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Star­a rchitekt_innen hätten eine gewisse Sympathie für die Diktaturen in den boomenden asiatischen und afrikanischen Ländern und jetzt auch im Mittleren und Nahen Osten gezeigt, bekräftigte er mit den Worten: „What attracts me about China is [that] there is still a state. There is something that can take initiative on a scale and of a nature that almost nobody that we know of today could ever afford or contemplate.“7 Sobald Koolhaas den Kapitalismus als „today’s new and sometimes terrifying sublime“8­bezeichnet und meint, er müsse „optimism in the inevitable“9 finden, liegt die Vermutung nahe, die bestehenden Verhältnisse seien tatsächlich alternativlos. „The problem with the prevailing discourse of architectural criticism is [the] inability to recognize there is in the deepest motivations of architecture something that cannot be critical“10, sagt Rem Koolhaas an einer anderen Stelle. Wer sich so der Verstrickungen in Macht und Kapital entledigt, die es doch zu benennen, zu analysieren, als kognitive Dissonanz auszuhalten und für die kulturelle Praxis produktiv zu machen gälte, macht sich angreifbar. Gibt es aber eine Möglichkeit der künstlerischen Praxis, die nicht in die Falle der Vereinnahmung oder der Allianz mit neoliberalen Forderungen gerät? Führt dies zwangsläufig zur Forderung nach mehr Autonomie der Disziplin oder muss die Kunst als Agentin gesellschaftlicher Veränderung in die als krisenhaft wahrgenommene Wirklichkeit eingreifen?11 Lässt sich Widerstand im Sinne des Aufzeigens alternativer Möglichkeiten mit kulturellen Mitteln heute überhaupt noch leisten? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es nicht um die Personifizierung von Prozessen. Das würde zwangsläufig zu einer sehr vordergründigen politischen Analyse führen. Obwohl heute das kritische Versprechen der Architektur von Rem ­Koolhaas und sogar die Kritik an seiner Person längst zum Mainstream geworden sind, unterscheidet sich seine Arbeit in der Herangehensweise deutlich von anderen Positionen der Zeit. Die totgesagten Held_innen der „Stararchitektur“ leben bekanntlich länger. Zum einen lassen sich bei Koolhaas nämlich konzeptionelle Ansätze an seinen realisierten Projekten überprüfen, zum anderen sind es gerade die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die Kulturalisierung von Ökonomie und Politik („Kulturkapitalismus“), die gerade dazu auffordern. In meiner Ausführung möchte ich zeigen, dass die kritischen Formate der Architektur heute drohen, ideologisch zu werden, weil sie die Umstände und Bedingungen, unter denen sie arbeiten, kaum noch reflektieren können. In der Debatte wird häufig auf die Zusammenarbeit von Künstler_innen mit dem italienischen Modekonzern

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M. Leonhard: Power housing, S. 6–7. F. Hsu: The Operative Criticism of Rem Koolhaas, S. 380. Für Jean-François Lyotard, der über die bildende Avantgarde der 1960er-Jahre schreibt, ist das Erhabene jenes, das Grenzen sprengt, um die Voraussetzungen und Bedingungen der Kunst zu untersuchen. Seine Formel lautet, „das Unrepräsentierbare“ der modernen Erfahrung darzustellen. Vgl. F. Lyotard: The Sublime, S. 198f. 9 N. Ouroussoff: City on the Gulf, S. 3. 10 B. Kapusta, Interview mit Rem Koolhaas, S. 10. 11 Vgl. N. Kuhnert/A. Ngo/S. Becker: R. Koolhaas im Gespräch I, S. 18; R. Koolhaas im Gespräch II, S. 16.

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Prada verwiesen.12 Diskutiert werden deshalb Projekte, die aus der Zusammenarbeit von Rem Koolhaas mit Miuccia Prada hervorgegangen sind, z.B. die Prada-Epistores­ in New York (2001), Tokyo (2003), Los Angeles (2004) und Shanghai, der Prada Transformer, sowie die Fondazione Prada (2015). Von Andreas Gursky stammen die bekannten Prada Fotos Untitled IV – Prada I (1996), Untiteld IV – Prada II (1997) und Untiteld IV – Prada III (1998)13, von Tom Sachs die Prada Toilet (1997) und das Prada Death Camp (1998).14 Man kann den genannten Kunstschaffenden die Kenntnis der Mechanismen des Kulturkapitalismus15 nicht absprechen. Aber, was fordert man von ihnen? Eigentlich ist es merkwürdig, dass das Politische ausgerechnet von der Kunst eingefordert wird, dass die Kunst die Gesellschaft reflektieren soll, dass sie sogar ausspricht, was Politiker_innen selbst nicht sagen. Sind die Kunstschaffenden mit dieser moralischen Autorität nicht überfordert? Rem Koolhaas hat sich im Harvard Guide to Shopping16 mit dem Thema des Konsums sogar kritisch als Forscher auseinandergesetzt. Er sieht darin eine Aufklärungsarbeit, um die Öffentlichkeit für eine produktive Auseinandersetzung mit neuen Themen zu gewinnen. Der Architekt ist ein „sozialer Kondensator“. Sein Statement „Shopping is arguably the last remaining form of public a­ c­tivity“17 kann als kritische Position gesehen werden, gleichzeitig liefern OMA/AMO damit das Programm für die Prada Epicenter. Warum provoziert eine solche Haltung? Eigentlich könnte man sagen, wenn Kunst das Widerständige verliert, dann hört sie auf, Kunst zu sein, dann ist sie eine Dienstleistung. Sind Kritik und Konsum prinzipiell unvereinbar oder handelt es sich um die überfällig gewordene Form einer zeitgemäßen Kritik? Interpret_innen haben in Koolhaas’ Rollenwechsel zwischen der Denkfabrik (AMO) und der Umsetzungsarbeit (OMA) gar einen „Kristallisationspunkt für Kritik“18 gesehen. Neben dem Beispiel Prada, in welchem die Forderung nach Autonomie der Kunst mit der Macht eines Modekonzerns kollidiert, ist es insbesondere das Engagement von Architekt_innen in nicht-demokratischen Ländern, das zum Vorwurf politischer Indifferenz, ja sogar der Komplizenschaft mit zweifelhaften Regimes geführt hat. Dem „Investment-Urbanismus“19 im Mittleren Osten wird eine Tendenz zur Überlagerung ästhetischer und ökonomischer Kräfte attestiert, mit der die „Ökonomie der Aufmerksamkeiten“ (Reckwitz) betrieben wird. Ein Beispiel dafür ist die Waterfront City von OMA. Hier geht es nicht mehr nur um die Inszenierung eines Modekonzerns, sondern um einen Prototypen der spätkapitalistischen Stadt. 12 Vgl. R. Misik: Kulturkapitalismus, S. 36f.; R. Koolhaas: Prada Epicenter New York, S. 58–59; R. Koolhaas/O. Sheren: Prada Epicenter Shanghai, S. 60–63; R. Koolhaas: Prada Events, S. 64–66; A. Baldauf: Brandscapes, S. 67–70. 13 Vgl. A. Gursky: Prada I–IV. 14 Vgl. T. Sachs: Thoughts. 15 Robert Misik schafft mit seinen Überlegungen zum „Kulturkapitalismus“ einen Ausblick auf die Hintergründe, vor denen die Strategien von OMA/AMO zum Einsatz kommen. Vgl. R. Misik: Kulturkapitalismus, S. 36f. 16 Vgl. C. J. Chung/J. Inaba/R. Koolhaas/S. Leong: Project on the City II, S. 15ff. 17 E. Dunham-Jones: The Irrational Exuberance, S. 34. 18 R. Koolhaas/N. Kuhnert/A. Ngo/S. Becker: Rem Koolhaas im Gespräch I, S. 19ff. 19 Zum Begriff „Investment-Urbanismus“ vgl. E. Blum/P. Neitzke: Dubai – Stadt aus dem Nichts, ­­S. 13.

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Von der neuen Disney-World Arabiens aus möchte ich eine Brücke schlagen zu einem Projekt, das nicht mehr in der Wüste, sondern im Cyberspace verortet wird: Aditnálta. Der virtuelle Raum beeinflusst die kritischen Formate der Architektur, weil er das Verhältnis zwischen Fiktion und Wahrheit verändert. Was verbindet diese Projekte miteinander? Lässt sich auf der Grundlage von Projekten, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, eine gemeinsame kritische Taktik ablesen? Meiner Ausführung liegt die These zugrunde, dass die genannten Projekte die kritische Taktik des Ready-made vereint.20 Allgemein ist ein Ready-made ein bestehender Alltagsgegenstand, der in ein Kunstwerk integriert oder zum Kunstobjekt erklärt wird. Das wohl bekannteste Ready-made, die Fountain (1917) von Marcel Duchamp,21 entsteht dadurch, dass ein Alltagsgegenstand bewusster Wahl einen neuen Status erhält, nachdem er mit neuen Bedeutungen aufgeladen wird. Der vulgäre Gegenstand des Pissoirs bricht die ideologischen Zwänge des Museums auf. Das Ready-made öffnet einen Raum, der durch das bloße Exponieren desselben vervollständigt werden kann. Die Fountain ist also als Bedingung der Möglichkeit entstanden, Werke zu schaffen, die keine Kunst sind, Werke von absolut indifferenter Erscheinung, die dennoch alle Merkmale eines Kunstwerks aufweisen und einen Diskurs schaffen.22 Ein Ready-made erzeugt eine deflationäre Logik und verobjektiviert diese.23 In der ­Post-Warhol-Welt des Marktes, konstatiert Artur Danto, kann alles ein Kunstwerk sein, bei Warhol z.B. ist es die Brillo Box, ein lächerlich banales Wegwerfobjekt. Wir haben seit 100 Jahren, seit dem Ready-made von Duchamp, damit zu tun, dass in der Kunst oft Nicht-Kunst gezeigt wird. Das heißt, wir beurteilen nicht nur: Ist das schön oder gut? Sondern stellen uns die Frage: Ist es Kunst? Während Duchamps objet-trouvés noch eine skulpturale und industrielle Präsenz hatten, surreal aufgeladen und irgendwie schön waren, übernahmen Architekt_innen die skulpturale Geste mit ihrer ökonomischen Logik und verklärten sie zum „­ Bilbao-Effekt“, d.h. sie versuchten – so wie das der amerikanische Architekt Frank Gehry mit dem Guggenheim Museum in Bilbao vormachte – gezielt Orte mit spektakulären Gebäuden aufzuwerten. Das Prinzip der unkalkulierbaren Ambiguität, der „vielen enigmatischen Signifikanten“ (Charles Jencks) wird von da an auf jeden Gebäudetypus anwendbar. So wie prinzipiell jedes Objekt ein Kunstwerk werden kann, kann auch jedes Gebäude die Rolle der Kathedrale spielen. Allerdings fehlt den iconic buildings, wie Charles Jencks feststellt, der ikonografische, durch die Religion vermittelte Hintergrund: „In this sense, failed iconic architecture is a very good symbol of failed belief, which is why some people hate the genre. Icons without a supporting iconography are like spots on the skin that signify measles, an unintended betrayal of meaning, a symptom waiting for the doctor’s analysis, often a denial of the very meaning they hope to assert.“24

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Vgl. N. Ryan: From New York to the Congo via Marfa, S. 3–4. Vgl. U. Schuster: Was macht ein Werk zum Kunstwerk? Vgl. K. Neuburger: Marcel Duchamp, S. 21f. Vgl. A. Fraser: From the Critique of Institutions, S. 281. C. Jencks: The Iconic Building is Here to Stay, S. 8.

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Kritisiert man ein Gebäude, so geht es nicht nur darum, ob es in die bestehende Ikonografie einer Stadt passt. Für Rancière ist die Autonomie das wichtigste Element der Kritik, deshalb gilt es zu klären, wie sich das Ready-made zum Autonomiestatus der Kunst verhält.25 Das Ready-made von Duchamp zielte noch darauf ab, zwischen der autonomen Kunst und dem massenhaft produzierten Alltäglichen zu vermitteln. Sowohl die Vertreter der Kritischen Theorie, als auch Rancière verstehen die Autonomie der Kunst als Grundbedingung ihrer Widerständigkeit gegen das gesellschaftlich Gegebene. Mit dem Instrument der Kritischen Theorie in den Händen sollte das Projekt der Moderne einer Revision unterzogen werden, was die Architekt_innen im Allgemeinen dazu veranlasste, sich in die eigene Disziplin zurückzuziehen.26 Diese neu gewonnene Autonomie verdeckt allerdings die Art und Weise, wie das Alltägliche mit der Kunst interagiert. Sie leugnet die Tatsache, dass zum Beispiel Shopping heute Indiz einer Identität ist und damit die Grundlage einer sich differenzierenden Gesellschaft. Miucca Prada bringt das Dilemma zynisch und prägnant auf den Punkt: „When I buy art, I want to keep it separate.“27 Geht es am Ende darum, die beiden Sphären von Kunst und Konsum auseinanderzuhalten? Ist es Kunst oder Konsum? Bedeutet der Verlust der Distanz auch das Ende der Kritik? Gemeint ist damit das Ende einer Kritik, welche die Autonomie der Disziplin einfordert. Ein Spielzeug, das zu komplex ist und nur erratisch funktioniert, wird mit Nichtbeachtung gestraft. Die Kritische Theorie führte in die Sackgasse einer „Architektur über die Architektur“. Die Architektur gewann im Fahrwasser der Kritischen Theorie ihr Selbstbewusstsein zurück, allerdings hatte sie in der selbstgewählten Autonomie keinen Einfluss mehr auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Distanz zwischen dem autonomen Kunstwerk und der Alltagswelt lässt sich heute nicht mehr länger aufrechterhalten.

25 Ihre Versuche, diesen autonomen Aspekt zu retten und zu schützen, führten die Vertreter der Kritischen Theorie dazu, sich den Formen des ästhetischen Modernismus absolut zu verschreiben. Für sie, und vor allem für Adorno, war das modernistische Kunstwerk eine sinnliche Manifestation der Wahrheit und erzeugte exemplarisch immer neue Widerstände gegen die verhasste „Kulturindustrie“. 26 Die Auseinandersetzung mit der kritischen Tradition richtet sich vor allem auf Kunst und Theorie der Postmoderne und Gegenwart mit der Frage, inwiefern das Erbe von 1968 aufgenommen, revidiert und/oder transformiert worden ist. Jeff Koons hat mit seinem Artforum-Statement „Criticality Gone!“ (1987) vermeintlich das Ende dieser Tradition. Unter dem Einfluss des Linguistic turn wurde bei Peter Eisenman aus der „kritischen Architektur“ ein rein intertextuelles System, eine „Architektur über Architektur“, die zwar gesellschaftliche Entwicklungen kommentieren konnte, aber ohne Einfluss darauf blieb. Eine Antwort auf dieses Problem liefert in den USA die sogenannte post-criticality. Whiting & Somol fordern Engagement von den Architekt_innen und mehr Realität in der Architektur. Sie propagierten ein Ende der Kritischen Theorie in der Architektur und beriefen sich unter anderem auf die Arbeiten von Rem Koolhaas/ OMA. Vgl. O. Fischer: Critical, Post-Critical, Projective, S. 92; R. Somol/S. Whiting: Bemerkungen zum Doppler-Effekt, S. 83ff. 27 N. Ryan: Patronishing Prada, S. 34.

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IST DER PRADA-SHOP IN MARFA EIN READY-MADE? Als Beispiel für das kritische Potential von Architektur wird in der Literatur häufig der Prada-Shop in Marfa erwähnt. Das dänisch-norwegische Künstlerduo Michael Elmgreen & Ingar Dragset haben zusammen mit Ballroom Marfa & Art Production Fund 2005 einen Prada-Shop mitten in die Wüste verpflanzt.28 Die permanente Installation Prada Marfa ist eine Raumpraxis, welche die hegemoniale Ideologie des Kapitalismus zumindest herausfordert.29 Neu ist die Idee, dass es sich beim Prada-Shop in Marfa um ein Ready-made handeln könnte. Das Ready-made bedeutet ja, dass sich Kunst als kritische Aktivität verschiebt, vom Setzen von Markierungen hin zum Positionieren, Arrangieren von Bezügen und Verknüpfen vorgegebener Prozesse und Formen. Die Verschiebung ist in dieser Hinsicht ein vertrauter Topos. Wesentlich ist dabei die Verschiebung hin zu einer deflationären Logik außerhalb eines bekannten Rahmens. Um welche Form von Kritik kann es sich bei einer solchen Aktion handeln? Die Cultural Studies, die mit dem Hegemoniebegriff von Antonio Gramsci argumentieren, sehen Kultur als Austragungsort für politische Auseinandersetzungen um Bedeutungen.30 Das Politische ist dabei so breit aufgestellt wie die Kunst selbst und wird als moralisches Normierungsmedium gesehen. Das politisch Widerständige entsteht in der Perspektive der Cultural Studies von Randgruppen aus, die nicht zum hegemonialen Betrieb gehören. Prada hat schon in anderen Fällen, wie z.B. dem Prada Epicenter in Soho-Manhattan, bewiesen, dass sich der Konzern mit „Orts-Piraterie“ den Künstler_innen-Mythos eines bestimmten Viertels aneignen und damit auch die subversiven Strategien von ursprünglichen Randgruppen inkorporieren kann. Handelt es sich bei Prada Marfa um ein weiteres „Kunstwerk“, das zu den Strategien der Raumbesetzung durch Kunstaktionen oder der Übernahme von künstlerischen Praktiken durch Prada gehört?31 Das Ready-made kann als ein neues Element in einen existierenden Raum eingefügt werden, um dominante Bedeutungen zu unterbrechen. Eine beispielhafte Aktion lieferte die Berlin Biennale (2012), welche die Occupy-Bewegung ins Museum holte und in einer Art „Kunst über Politik“ alle Beteiligten zum Gegenstand von Kunst

28 Vgl. A. Beyn: Prada Marfa. Elmgreen & Dragset. 29 Elmgreen & Dragset haben schon 2001 in einer Kunstaktion die Tanya Bonakdar Gallery in Soho/ New York mit der Ankündigung überklebt: „Opening Soon Prada“, um auf die Ortspiraterie von Konzernen hinzuweisen, die sich den Mythos eines „Künstler-Ortes“ inkorporieren und mit ihrer Marke ersetzen. Vgl. N. Ryan: Patronishing Prada, S. 2. 30 Für Antonio Gramsci ist die Kultur immer Austragungsort für ideologische Konflikte. Allerdings verließen sich die Kunstpraktiken zu sehr darauf, dass jede Kulturproduktion automatisch schon politisch sei. Erst durch Allianzen mit sozialen und politischen Organisationsformen könne man einen Gegendiskurs betreiben und eine Praxis entwickeln, die sich über verschiedene Bereiche der Gesellschaft erstreckt. Die Cultural Studies sehen das Potential dafür in den widerständigen Randgruppen der Gesellschaft. 31 Vgl. N. Ryan: From New York to the Congo via Marfa, S. 3f.

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machte.32 Vertreter_innen der Bewegung durften im Ausstellungsraum ihre Zelte aufbauen und die Zusehenden konnten das besuchen. Ist das Kunst oder Politik? Politisch wäre die Aktion gewesen, wenn sie tatsächlich die Kunstwerke im Museum besetzt hätten. An diesem Unterschied machen sich die Differenzen von Kunst und Politik fest. Die Aktion gewinnt eine nicht zu unterschätzende politische Dimension, wenn man davon ausgeht, dass das Politische weder privat noch institutionell, aber auch kein Privileg einer Künstler_innengruppe ist. Manchmal ist unpolitische Kunst politischer, weil sie ohne aufgeladene Geste auskommt. Im Fall des Marfa-Shops entsteht das kritische und auch politische Potential in der transversalen Verknüpfung von Gruppen und Szenen.33 Die Wahl von Elmgreen & Dragset fiel nämlich nicht zufällig auf den Ort Marfa, sondern zehrt vom Wissen der spezifischen Codes und der Kenntnis des Kontexts. Nicht weit vom Standort entfernt befindet sich die Chinati Foundation von Donald Judd, der hier seine minimalistischen Skulpturen in einem eigens geschaffenen räumlichen Gesamtkunstwerk auf Dauer ausstellt. Wer diesen Zusammenhang kennt, kann den Marfa-Shop decodieren. Daraus ergeben sich nämlich Zusammenhänge zwischen Minimal-Konzept- und der Performancekunst der 1960er- und 1970er-Jahre. In dieser Traditon wird die idealistische Hermetik des autonomen Kunstwerks in Frage gestellt. Wegen seiner kritischen Wirkung greift das Projekt fast ausschließlich auf den Kontext zurück. Die minimalistische weiße Schachtel bezieht sich auf den Diskurs zum white cube, der seit Duchamp das Kunstwerk auszeichnende Präsentationsrahmen. Allerdings ist der white cube auch eine „Kunst in Potenz“ (Brian O’Doherty).34 Die dem Ready-made zugrundeliegende Idee, durch die Ausstellung eines Alltagsgegenstands Besuchende zu irritieren, wird nun in die Wüste ausgelagert. Damit fällt die vermittelnde Rolle der Institution „Museum“ weg. Was bleibt, ist die Präsenz von Prada als Kunstobjekt. Sind die Prada Epicenter in der Regel Orte, an denen Kommerz als Kunst getarnt wird, so ist der Marfa-Shop die Antithese dazu. Hier ist der weiße Kubus ein Geschäft, das nie öffnen wird. Andererseits wird Prada, ein Label, das sich selbst als Kunstgalerie präsentiert, aber auch auf die Dimension des reinen Raums reduziert. Typologisch gesehen ist eine Galerie ein Mix aus Museum und Verkaufsraum. So gesehen stellt der Marfa-Shop also beides in Frage. Man kann dort nichts kaufen und betritt kein Museum. Ein Prada-Shop in der Wüste ist möglich, ohne dass eine begrenzende Totalität des Kulturkapitalismus mitgetragen wird. Wenn Koolhaas meint, der Kapitalismus sei das neue Erhabene unserer Zeit, so besteht die Pointe des Marfa-Shops gerade darin, dass die Installation dem Erhabenen der Natur ausgesetzt wird: Der Shop muss langsam der Wüste geopfert werden.

32 Die Bewegung namens Occupy Wall Street war aus Protest gegen das Vorgehen der Banken in der Finanzkrise gegründet worden. Die Berlin-Biennale, die seit 1998 alle zwei bis drei Jahre in Berlin stattfindet, gilt als wichtige Plattform zeitgenössischer Kunst. Sie wurde am 26. April eröffnet und lief vom 27. April bis zum 1. Juli 2012. 33 Vgl. C. Resch/H. Steinert: Die Widerständigkeit der Kunst. 34 Vgl. B. O’Doherty: In der weißen Zelle.

Abb.1: Elmgreen & Dragset, Prada Marfa, 2005, Texas USA

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IST DIE WATERFRONT CITY VON OMA/REM KOOLHAAS EIN READY-MADE? Der Prada-Shop ist nicht die einzige Architektur, in der sich der Kulturkapitalismus spannungsvoll entlädt. Ganze Städte wählen heute die Strategie der Überlagerung von ökonomischen und ästhetischen Aspekten, um sich auf der Landkarte der global wettbewerbsfähigen Metropolen positionieren zu können. Die Global Cities sind nicht nur Prototypen der postmodernen oder spätkapitalistischen Städte, sondern auch Musterbeispiele der „post-politischen Stadt“35. Damit wird angedeutet, dass die Stadt als Ort der öffentlichen politischen Auseinandersetzung entpolitisiert ist. Radikale politische Praxis und kritische Theorie sind ohnmächtig gegenüber der urban policy und der urban politics der spätkapitalistischen Welt. Die Architektur-Ikonen von Dubai oder Abu Dhabi sind zum Beispiel Gebilde, die völlig losgelöst vom Alltag und der Lebenswelt der verschiedenen sozialen Schichten existieren und einer Elite dienen, die sich als Multimillionär_innen diesen Luxus leisten können. Politische bzw. demokratische Nachhaltigkeit wird nicht angepeilt. Der öffentliche Raum wird zudem nicht mehr als politischer und gesellschaftlicher Raum, sondern als Territorium von Partikularinteressen verstanden, für die die Architektur-Ikonen den öffentlichen Raum „brand-marken“ und vereinnahmen. Mit der geklonten Architektur im arabischen Wüstensand endet nicht nur die europäische Architektur aus Meisterhand, wie Kornelia Imesch schreibt, sondern auch jene Stadt, bei der sich eine metropolitane Öffentlichkeit in Architektur-Ikonen artikuliert, die wie in Manhattan oder Bilbao solche des realen wie des symbolischen Kapitals sind.36 Imesch lokalisiert das Auftauchen der post-politischen Stadt im Kontext einer globalen Krise von Politik, Ideologie, Kultur, Religion und der Finanzmärkte.37 Sie illustiert in ihrem Text Insel des Glücks (SaadIyat Island) die Auswirkungen von Biennalisierung,38 Globalisierung und Kulturkapitalismus anhand des Kulturdistriktes von Abu Dhabi, wo auf 27 Hektar Kulturbauten als „Leuchtturmprojekte des Städte-Brandings“ eingesetzt werden mit dem Ziel, den „Bilbao-Effekt“ zu multiplizieren. Das Resultat dieser signature architecture sind geklonte Gebäude, die überall stehen könnten. Was bedeutet das für die politische Dimension der Architektur? Bedient Architektur die post-politischen Verhältnisse? Politik in der Architektur bleibt in erster Linie Architektur. Architektur wird erst politisch, wenn sie sich in „transversale Allianzen“39 begibt, die über jene strategischen Allianzen, welche die Architektur als Dienstleistung erfordert, hinausgehen. In diese politischen Transversalen kann die Architektur durchaus auch ästhetische 35 Der Geograf Erik Swyngedouw übertrug erstmals in The Postpolitical City (2007) den Begriff der „Postpolitik“ auf die Stadt. Er spricht von einer „Governance beyond the State“, die den Imperativen des Neoliberalismus folge und dazu führe, dass das ökonomische Prinzip die Gesellschaft dominiert. Dadurch wird die zeitgenössische Stadt ent-politisiert und post-demokratisch. Vgl. E. Swyngedouw: The Post-political City, S. 58–76. 36 Vgl. K. Imesch: Insel des Glücks, S. 2. 37 Vgl. ebd. 38 Unter „Biennalisierung“ versteht man den weltweiten Export von Kunstausstellungen (wie z.B. die Biennale von Venedig) und deren Vermarktung als urbanes Event im großen Maßstab. 39 A. Fitz: Nicht alles ist politisch, S. 4.

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Aspekte einbringen. Aktivitäten der Sichtbarmachung gehören zum Kern des Politischen, betont Rancière, 40 allerdings liegt genau hier das Problem, denn diese neue Sichtbarkeit ist es, die den entpolitisierten und de-historisierten Zustand erzeugt. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz spricht von den neuen „Sichtbarkeitsordnungen“41, die sich den Betrachtenden vielleicht im Blick aus dem Flugzeug oder auf dem Satellitenbild erschließen. Die Architekturinszenierungen im Wüstensand von Abu Dhabi und Dubai kehren die Nah- und Fernsicht um und erzeugen eine spezifische Organisation von Aufmerksamkeiten, pittoreske Muster wie The Perl oder The World. Kritiker_innen sprechen von „Wüstenimplantaten“ oder „semiurbanen Fragmenten“42, die den potentiellen Käufer_innen von Immobilien auf einer Bild ebene ansprechen, lange bevor die Realisierung der Projekte erfolgt. Sie sind Teil des „Beschaffungsmarketings“ auf den Weltmärkten des Tourismus und entbehren einer verbindlichen Ikonografie und taugen allenfalls dazu, kosmologische Bedeutungen zu tragen. Am Ende können sie in gleicher Weise bedeutungsvoll wie bedeutungsleer sein. Rem Koolhaas sagt dazu: „The cosmetic is the new cosmic.“43

Abb.2: OMA, Waterfront City, 2008, Dubai

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Vgl. J. Rancière: The Politics of Aesthetics, S. 23ff. A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 10; T. Holert: Imagineering, S. 34. E. Blum/P. Neitzke: Dubai – Stadt aus dem Nichts, S. 10. Zit.n. WAI Think Tank: What about Glamour?, S. 2.

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Ein interessantes Beispiel dafür, was heute in den arabischen Wüsten passiert, ist die Waterfront City von OMA, Mittelpunkt einer weitgehenden Planung in Dubai City. Hier geht es nicht mehr um einen Shop, der in der Wüste verpflanzt wird, sondern um ein neues Manhattan, eine quadratische Insel mit einer Kantenlänge von 1,3 km, die über Brücken mit ihrer Umgebung verbunden ist. Die Insel sammelt Ikonen, d.h. bildhafte Zitate aus verschiedenen Gegenden und Zeiten und möchte ein Attraktor im globalen Tourismus- und Immobilienmarkt sein. Das angeblich verbesserte und humanere Manhattan erhält nach Angabe von OMA zusätzliche Qualitäten durch die Verbannung des Individualverkehrs, schattenspendende Aufstellung der Hochhäuser vorrangig im Süden, Bäume, Sonnensegel und schattenwerfende Objekte im Straßenraum. Die restlichen Bauten rundherum gehören zu einer Generic City, der durch Zitate aus der arabischen Kultur Qualität verliehen werden soll. Im Ganzen handelt es sich also um die bekannte Kombination aus generischer Stadt und ikonischen Bauten. Wie kann man diesen neuen „Manhattismus“ verstehen? Handelt es sich dabei um ein postmodernes Zitat aus dem eigenen Œuvre von OMA? Kann man, bezogen auf das Neue Manhattan von einem Ready-made sprechen? Einen Hinweis auf die Bedeutung liefert uns der freistehende Globus der ­Waterfront City. Dieser Globus taucht auch in der City of the Desert44 und noch früher in der City of the Captive Globe auf und liefert einen Hinweis darauf, dass „Manhattan“ kein statisches Konzept ist, sondern sich wandelt, es ist „portable and packable“45. Bei der Positionierung wiederkehrender Motive im Werk von OMA-Koolhaas geht es mir nicht um die biografische Rekonstruktion des Œuvres von Rem Koolhaas und auch nicht um die Analyse einzelner Entwurfsprojekte, sondern um generative ideas, wiederkehrende Narrative, die sich von der City of the Capitve Globe bis zur Waterfront City durchziehen. Der Zusammenhang entsteht anhand „diskursiver Objekte“ und zentraler Begriffe wie „delirious“, „artificiality“, „generic“, „bigness“ oder „simplicity“, die Koolhaas in The City of the Captive Globe und später in Delirious New York zugrunde gelegt und später auf andere Städte angewandt hat. Die City of the Captive Globe (1972) von Rem Koolhaas und Elia Zenghelis zelebriert die „culture of congestion“ von Manhattan. Sie zeigt einen unendlichen Raster, der verschiedene Sockel ausschneidet, auf denen jeweils Beispiele der Architektur wichtiger Protagonisten der Moderne, von Mies van der Rohe, El Lissitzky, Malevich, Superstudio, Le Corbusier und anderen positioniert sind. Jede dieser Philosophien konkurriert mit allen anderen, jede artikuliert eine eigene Stadt. Die City of the Captive Globe

44 Der Globus beherbergt das RAK Convention and Exhibition Centre. „The sphere and the bar explicitly abandon claims to formal invention or ‚originality‘. (The sphere even existed before man itself…) Yet both geometries still continue to feed the architectural imagination: perfectly autonomous shapes, within their bounds the promise of a perfect world.“ M. Fairs: RAK Convention and Exhibition Centre by OMA, S. 1. Der Globus hat etwas Originäres, Archetypisches. Er ist ein neuer Ursprungs-Mythos und damit ein Statement gegen das „built from nothingness“ oder als „Death Star“ aus der Serie Star Wars eine Form ironischer Selbstkritik von OMA. Siehe dazu die Darstellung der City in the Desert auf der offiziellen Website von OMA: http://oma.eu/projects/ city-in-the-desert 45 A. Betsky/K. M. Hays/L. Anderson: Scannin, S. 30.

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steht für die Idee eines Ortes, an dem verschiedene Ideologien koexistieren könnten ohne den Anspruch auf Universalität. Die Kontrolle und Begrenztheit des Rasters in der Horizontalen zügelt die Anarchie in der Vertikalen. Die Autoren der City of the Captive Globe verhandeln den Konflikt der Ideologien, zwischen Urbanismus und Architektur, Regel und Freiheit, Stabilisierung und Destabilität, Einheit und Heterogenität. Erst aus dem Konflikt heraus entsteht die metropolitane Kultur. Die einzelnen Blöcke sind Inkubatoren für einen im Zentrum der Stadt „gefangenen Globus“46. In Delirious New York47 führt Koolhaas den Gedanken eines urbanen Archipels unabhängiger Inseln weiter. 48 Er entwirft Manhattan als Formel für die Stadt des 20. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit etwa, als in Europa die Theorien zur Moderne entstanden sind, entsteht in New York die „Arena für das Endstadium der westlichen Zivilisation“, Prozesse der Modernisierung ohne jede Theorie, ohne Vorankündigung, unbewusst. Und tatsächlich sieht Koolhaas in Manhattan eine Art Geheimformel am Werk, der er den Namen „Kultur des Staus“ gibt. Die Stadt entsteht als ein soziales Kunstwerk. Mit dem Wolkenkratzer schafft Koolhaas das Ready-made. Er nennt als Essenz des Amerikanismus den typical plan, einen „Plan ohne Eigenschaften“, der die Idee des Einzigartigen in der Architektur unterminiert. Der typical plan könnte banaler nicht sein und dennoch erzeugt Manhattan auf dieser Grundlage die metropolitane Kultur. 49 Zu der Zeit, als man im Westen schon nicht mehr vom Städtebau sprach, boomten die Städte in Asien und Afrika bereits. In S, M, L, XL stellt Koolhaas die Frage: „What ever happened to urbanism?“50 Die Frage wird seither relativ unterschiedlich beantwortet. Möglicherweise bietet die „Manhattan-Formel“ ein kritisches Werkzeug, um die Manhattisierung der Welt deuten zu können. Aus dem Verhältnis von Architektur und Urbanismus, das er anhand von Manhattan entwickelt hat, gewinnt Koolhaas beides, den Begriff der „Generic City“, bei der sich immer gleiche Elemente einfach wiederholen, ohne ein Ganzes auszubilden und der „Delirious City“, die eine metropolitane Kultur erzeugt.51 Einige Kritiker_innen sehen in den Metropolen des Mittleren Ostens eine Spielart der generic, andere einen Ausdruck von delirious. Am Beispiel des Pearl-River-Deltas erläutert Koolhaas selbst seine Kategorie der „Bigness“.52 In den Singapur Songlines zeigt Koolhaas, dass sich die Künstlichkeit ­(artificiality) in den neuen Städten nicht mehr wie in New York im Inneren eines Gebäudes entwickelt, sondern als „künstlicher Teppich“ über die Fassaden der Stadt hinweg. Welche Bedeutung die City of the Captive Globe heute noch hat, zeigt eine

46 T. Riley et. al.: The Changing of the Avant-Garde, S. 122. 47 R. Koolhaas: Delirious New York. 48 In Delirious New York formuliert Koolhaas die Geschichte Manhattans als eine Fiktion, die vom Unbewussten enthüllt und aus einem Amalgam historischer Fragmente konstruiert wird, die neu kombiniert werden. Er nennt seine systematisierte Assemblagetechnik „Retroaction“. Vgl. F. Hsu: The Operative Criticism of Rem Koolhaas, S. 384. 49 R. Koolhaas: The Typical Plan, S. 336. 50 R. Koolhaas: What Ever Happened to Urbanism?, S. 959–971. 51 Vgl. R. Koolhaas: The Generic City, S. 12–48. 52 Vgl. R. Koolhaas: Bigness or the problem of the Large, S. 495–516.

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Illustration von WAI Think Tank aus dem Jahr 2009, die City of the Captive Globe Revisited.53 Hier werden die Architekturen der heroischen Moderne durch bekannte Projekte der Stararchitektur der Postmoderne ersetzt. Nicht zuletzt taucht der Globus der City of the Captive Globe in den Entwürfen für die arabischen Städte auf, diesmal allerdings als „befreiter Globus“, der die entfesselten Kräfte der Globalisierung heraufbeschwört. Handelt es sich dabei um einen zynischen Kommentar oder um einen kritischen Umgang mit der eigenen Tätigkeit von OMA? Um dieser Thematik mit einer gewissen Leichtigkeit zu begegnen, ließe sich die Waterfront City, ein Stück von Manhattan in der arabischen Wüste, auch als einfache „cut-and-paste“-Methode deuten und im Sinne von Andy Warhols Hinterfragung des kreativen Prozesses jegliche Autorenschaft mit Ausnahme der bewussten Selektion und Zuordnung deuten. Der komplexe Entstehungskontext der Waterfront City, der sich aus dem Referenzsystem der Architekt_innen sowie dessen Zusammenhang mit globalen Konfigurationen des zeitgenössischen Urbanismus ergibt, wie sie Koolhaas selbst herausgearbeitet hat, gehören ausschließlich als Abwesendes zum Aspekt der Geschichte der Waterfront City. Hier wird Geschichte selbst zum unend­ lichen Ready-made: Historische Referenzen werden selektiv behandelt, in unerwarteten Konfronta­tionen mit einer neuen Bedeutung versehen und in eine neue Präsenz versetzt. Die arabische Architektur in ihrer historischen Entstehung wird reduziert auf den Oberflächeneffekt. Nicht die lokalen städtebaulichen oder architektonischen Errungenschaften inspirierten OMA. Wenn Lokales wahrgenommen wird, dann lediglich als Vorgeschichte der eigenen Architekturgegenwart. Die materielle Existenz eines außer-westlichen Planungsraums, seine Geschichte und Gegenwart, sind nur als das Exotische in Form arabischer „Perlen“ und von Arabesken im Meer präsent, die den potentiellen Kund_innen in seiner Imagination beflügeln sollten. Die arabische Wüste ist ein zum Un-Ort geratener De-Kontext, ein globales Labor, in dem die aus dem europäisch-amerikanischen Kontext gelösten Produkte ihren neuen Charme entfalten können. Die Methode von OMA steht in einer frappanten Nähe zu den ­A lgier-Projekten von Le Corbusier. Der neue Manhattismus im Nahen Osten ist ein ortsloses, urbanistisches ­Ready-made, eine kontextfreie Übung, die sich nicht dem Ort verpflichtet fühlt, sondern dem Nachweis einer zukunftsträchtigen Idee. Am Besten lässt sich die Aufgabe des Ready-made mit der Koolhaas’schen Kategorie der „Bigness“ erklären: „Bigness is the final, most radical break: Bigness is no longer a part of any urban tissue. It exists, at most, it coexists. Its subtext is fuck context.“54 „Bigness“ ersetzt das generische Ganze mit einer neuen Totalität („worlds in themselves“ oder „island of urbanity in a sea of non-urbanity“), es ist die Garantie von Einzigartigkeit als Werkzeug im Kampf gegen die globalen Kräfte der Zerstreuung. „Everything else is plankton – the typical accumulation of undeniably inferior buildings built between the fifties and the nineties that forms the index of 20th century architecture.“55 Das Ready-made wendet sich gegen

53 Vgl. WAI Think Tank: What about Glamour, S. 2. 54 R. Koolhaas: Bigness or the problem of the Large, S. 502. 55 J. Otero-Pailos: Bigness In Context, S. 579.

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die nothingness, es ist eine idealisierte Bigness-Struktur, die bei Koolhaas als ein Index möglicher neuer Freiheiten auftaucht. Megaprojekte wie die Waterfront City haben deshalb das Potential, Kultur zu verändern, ja sogar eine neue Kultur zu schaffen.56 Die Funktion des Ready-made wird deutlicher, wenn man sein Anderes – seinen Kontext – kennt: Reinier de Graaf spricht von einem Export von Disney in den Mittleren Osten: „Most of the Western planners that are active in Dubai just generally tend to bring the worst examples of Western planning. And it is not the fact that those countries actually claim Disney, it is in fact that Disney – even though we criticise it – is still, on a day to day basis, as we speak, being exported from here to Dubai. The vast majority of planning consultants are actually Western. It is Anglo; in fact South African, Australian, American, English [...] It is that whole part of the world – they are actually creating Dubai. It is a weird irony. […]“57 Dubais glänzende Oberflächen, Luxus und Künstlichkeit scheinen diese Forderung zu erfüllen. Die gleiche Oberflächlichkeit eignet sich aber auch trefflich für das Argument, dass alle Architektur, die sich auf den Pfaden der Moderne artikuliert, subversiv und widerständig sei, zumal sie inmitten „kunstfeindlicher“, von Banalisierung geprägter Kontexte auf spezifische Ausdrucksmöglichkeiten verweist. Widerstand könnte, so gesehen, definiert werden durch die Vorbildlichkeit eines Ready-made, das inmitten der Oberflächen- und Spaßkultur auftaucht. OMA selbst geht einen anderen Weg. Das Büro kommentiert den Urbanismus im Nahen Osten zynisch, indem er die Auslöschung westlicher Architektur und Kultur im Wüstensand – den „Fall of Stararchitecture“ – mit der Entwicklung an den internationalen Börsen bildhaft parallelisiert. Reinier de Graf verwendet das minimalistische Konzept der simplicity und meint: Wenn alles ikonisch ist, ist nichts mehr ikonisch!

ADITNÁLTA: DAS READY-MADE UND DIE STRATEGIE DER FIKTIONALISIERUNG Der Weg einer kritischen Taktik des Ready-mades führt uns von den arabischen Wüsten über die „Wüste des Realen“ (Baudrillard) Disneylands58 zu einem Projekt, das im Cyberspace verortet ist. Aus dem schwindelerregenden Fortschritt der universellen Virtualisierung entsteht heute die bedrohliche Vorstellung, dass letztlich alles lediglich konstruiert, kontingent und ohne festen Grund sei. Was sich früher als ungeprüfte Behauptung im kommunikativen Tagesgeschäft verflüchtigte, wird mit Google, Twitter oder Faceboook zur wahrheitsfähigen Behauptung aufgeblasen. War es traditionell die Kompetenz des Theaters, im Modus des Als-Ob und des begrenzbaren Modells der Kunst alternative Erzählungen und Weltbilder zu organisieren, so scheint derzeit das Spiel mit Fiktion und Fakes zur omnipräsenten Kulturtechnik zu werden. Der Google-Algorithmus spiralisiert Meinungen auf den Level momentaner

56 Vgl. R. Koolhaas: Bigness or the problem of the Large, S. 510. 57 B. Ramo/B. Upmeyer: Pseudo-Democracies and Pseudo-Commissions, S. 97. 58 Der Philosoph Jean Baudrillard fand im berühmtesten Freizeitpark der Welt seine Theorie von der Hyperrealität verwirklicht. Ein Simulacrum, meinte er, sei in seiner Wirkungsweise derart autonom, dass es längst ohne Referenz zur sogenannten Wirklichkeit auskomme. Vgl. J. Baudrillard: Amerika.

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Aufmerksamkeit, die durch vielfache Wiederholung oder durch Schlagworte dominant werden. In welchem Maße die Digitalisierung die Struktur der bürgerlichen Öffentlichkeit zu verändern imstande ist, zeigt das Beispiel Aditnálta – An Island ­Dispersed Across the Internet des Studenten Mond Qu, eine Arbeit, die an der Architectural Association in London entstanden ist.59 Mond Qu erzählt die Geschichte einer Insel und lokalisiert sie in Google Earth. Im Mittelpunkt steht ein anonymes Eiland an der Ostküste von Mexiko, eine beliebige Insel, die als Grundlage für eine kreative Überformung verwendet wird.60 Wie der Titel des Projekts ankündigt, wird die Insel in verschiedene Informationen (YouTube, Wikipedia), Narrative und Bildquellen (Flickr, Panoramio) aufgelöst und im Internet zerstreut. Man erhält Informationen über die Geografie und Geologie der Insel, ihre Pflanzen und Tiere. Schrittweise legt die Insel ihr Geheimnis offen. So zeigt sich ein Bezug zum mythischen Atlantis – der Name Aditnálta ergibt rückwärts gelesen „Atlantis“ – als dem Ort, an dem Platon die Fragen der Gerechtigkeit und der Beteiligung am Staatswesen diskutiert. Mond Qu erzählt weiters die Geschichte eines illegalen Handels mit dem Mineral „Otinif“ (rückwärts gelesen finito, d.h. „fertig“), für das die Insel die reichste Quelle ist. Er beruft sich auf einen UN-Bericht über illegale Finanzströme eines mexikanischen Kartells. Die vielen Arbeiter_innen, die unter unmenschlichen Bedingungen im Untergrund arbeiten müssen, bleiben dem Blick von oben verborgen. Dazu liefert das Projekt Medienberichte und einen Film, der das verbrecherische Geschehen auf der Insel dokumentiert. Die Pointe des Projekts ist: Aditnálta ist erfunden! Es gibt eine Insel gleicher physischer Beschaffenheit, sie trägt aber keinen Namen und dient lediglich als Projektionsfläche für die im Internet verstreute Insel. Ihre Geschichten lassen sich unbegrenzt erweitern.61 Das Projekt ist offen, spekulativ und auch kritisch. Mond Qu verbindet mit seinem Projekt ein Konzept der Avantgarde-Kunst mit dem Mainstreammedium des Internets. Sowohl Duchamps Ready-made als auch Aditnálta zeigen dem_der Betrachter_in nur ein Realitätssurrogat. Duchamp wählt einen Gegenstand, Mond Qu wählt eine Insel in Google Earth und eine Kameraperspektive dazu. Die Provokation des Ready-mades ist darin zu sehen, dass es ein Objekt allein durch seine Platzierung zum „Kunstwerk“ (Architektur) zu erheben vorgibt und den Betrachter_ innen die Reflexion überlässt, was daran noch oder nicht mehr Kunst (Architektur) sei, und weiters ob und wie sich Fiktion und Realität in einer selbst mehr und mehr 59 Vgl. M. Qu: Aditnálta. 60 Immer schon haben sich Medienkünstler_innen auf Duchamp bezogen. Fast unausweichlich verbindet sich dabei der „Duchamp-Effekt“ mit dem der neuen Medien. Ein Beispiel dafür ist das angeblich posthum entdeckte Last Videotapes of Marcel Duchamp – ein Fake, mit dem der Videomacher John Sanborn 1977 dieser doppelten Obsession seinen Zeitgenoss_innen den Spiegel vorhält. 61 Bei Aditnaltà spielt die verfälschte Zuschreibung eine wichtige Rolle, mit der ein Realitätsanspruch der Fiktion verhandelt wird. Diese verfälschte Zuschreibung hat wiederum ihren Vorgänger in der Fountain von Duchamp. Der Künstler hat sein Objekt mit „R-Mutt“ signiert und damit eine Kette der Spekulationen über den Schöpfer oder Urheber dieses Kunstobjektes ausgelöst. Diese Autorenverweigerung kann als ein Verweis auf den Verlust des Originals und nicht zuletzt als eine Kritik gegen den vorherrschenden Kunstbegriff gesehen werden.

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fiktionalisierten Welt zueinander verhalten. Aditnálta beruht auf der These, dass man mit der Konstruktion elaborierter Fiktionen wichtige Wahrheiten offenlegen kann. Das Projekt setzt den Gedanken von Slavoj Žižek, die Wahrheit habe die Struktur der Fiktion, um. Žižek erläutert die paradoxe Struktur von Matrix (Regie: Lana Wachowski, Andy Wachowski) anhand der Szene, in der Morpheus zu Anderson (bzw. Neo) sagt: „This is your last chance. After this there is no turning back. You take the blue pill, the story ends. You wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill, you stay in wonderland, and I show you how deep the rabbithole goes.“62 Žižeks Kommentar dazu lautet: „Aber die Wahl zwischen der blauen und der roten Pille ist eigentlich keine Wahl zwischen Illusion und Realität. Natürlich ist die

Abb.3: The Contour Typology of Aditnálta, 2010

62 S. Žižek: The Pervert’s Guide to Cinema.

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Matrix eine fiktionale Maschine, aber sie kommt aus Fiktionen, die bereits unsere Realität strukturieren. Nimmt man der Realität die regulierenden symbolischen Fiktionen, dann verliert man die Realität selbst. – Ich verlange eine dritte Pille. Was wäre denn die dritte Pille? Jedenfalls keine transzendentale Pille, die eine falsche, billige, religiöse Erfahrung vortäuscht, sondern eine Pille, die mir ermöglichen würde, nicht die Realität hinter der Illusion wahrzunehmen, sondern die Realität innerhalb der Illusion selbst.“63 Hier geht es um die Bipolarität von Fiktion und Realität. Meist wird Fiktion über ihre Referenz nach außen, d.h. über ihre Bezüge auf die empirische Wirklichkeit definiert. Dabei wird aber außer Acht gelassen, dass mediale und reale Erfahrung mittlerweile kaum mehr trennbar sind. Bei Mond Qu übernimmt die fiktive Insel die Aufgabe, uns über die Welt der Erscheinungen etwas über die Realität selbst zu erzählen. Die Kernthese der Kritik ist, dass die Fiktion nicht etwas Anderes ist als Realität, sondern gewissermaßen ein Teil von ihr. Das Projekt thematisiert den konstruktiven Zusammenhang zwischen „fabrizierten Fiktionen“ und der durch sie mitbedingten Realität. Die Wirkung dieser Fiktion kann manchmal realer sein als jene der Realität selbst. Manche Ereignisse zwingen uns geradezu, sie zu fiktionalisieren, um ihnen beikommen zu können. 64 Die Architektur gehört nicht zu den von ihrer Grundidee her alternativen Bereichen. Trotzdem zeigt der Blick auf den zeitgenössischen Architekturdiskurs, dass „Widerstand“ tatsächlich noch Relevanz besitzt und nicht bloße Behauptung bleibt. Wie die Auseinandersetzung mit den Taktiken des Ready-made zeigt, ist es gewiss möglich, die in der Kunst aufgeworfenen Fragestellungen auf die Architekturszene zu übertragen, wenn sich auch die Bedingungen dafür geändert haben.

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63 Ebd. 64 Schon in den 1970er-Jahren erkundeten Jean Baudrillard in Die Agonie des Realen und Umberto Eco in Reise ins Reich der Hyperrealität die Codes des Echten und des Simulierten. Umberto Eco meint, man könne eine hyperreale Gesellschaft am besten an ihrem euphorisch betriebenen Kult um das real thing erkennen. Vgl. J. Baudrillard: Die Agonie des Realen; U. Eco: Travels in Hyperreality.

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„REMBRANDT ALS ERZIEHER“. SYMPTOMATIK UND P­ ARADOXON ­EINER KÜNSTLERREZEPTION IM ZEITALTER DES ­KULTURPESSIMISMUS Xenia Ressos

Das Spektrum der Möglichkeiten, wie Kunstwerke gesellschaftskritisch eingesetzt werden können, scheint schier endlos. Neben den von Künstlern1 intendierten bildbzw. objektimmanenten Aussagen spielt die davon mitunter gänzlich unabhängige Wahrnehmung und Interpretation eine wesentliche Rolle. Ein prominentes Beispiel dafür, dass nicht nur einzelne Werke oder Werkgruppen, sondern selbst ganze Künstler­persönlichkeiten vom Rezipienten für eigene Zwecke beansprucht werden können, stellt die Vereinnahmung des holländischen Malers Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) dar, der über 200 Jahre nach seinem Tod als Praeceptor Germaniae­­ dem vermeintlich im kulturellen Niedergang befindlichen Volkskörper des Deutschen Reiches als Erzieher empfohlen worden ist. Die „Wiederentdeckung“ Rembrandts und die Konstitution seines modernen Künstlerbildes erfolgten wesentlich im 19. Jahrhundert. Während seine Beurteilung in der klassizistischen Literatur des späten 17. und 18. Jahrhundert weitgehend negativ ausgefallen war, kommt es nun zu dem Phänomen einer radikalen Neubewertung.2 Bereits kurz nach der Abspaltung Belgiens von den Niederlanden 1831 wurde er von letzteren gezielt als nationale Ikone und holländische Identitätsfigur aufgebaut.3 In den folgenden Jahrzehnten begann eine intensive Auseinandersetzung mit ihm auf kunsthistorischer wie kunsttheoretischer Ebene, die in einer teilweise bis ­heute nachwirkenden Mystifizierung seiner Person gipfelte. Rembrandt avanciert vom ordinären, geizigen, unwissenden, unreinlichen Menschenfeind und Betrüger4 zum hochgebildeten, um Tiefe und Wahrhaftigkeit bemühten und sich „im Leben mit

1 Auf ausdrücklichen Wunsch der Autorin wird dieser Text nicht gegendert. 2 Vgl. J. Boomgaard/R. W. Scheller: Empfindliches Gleichgewicht; A. McQueen: The Rise of the Cult of Rembrandt. 3 Ein Jahr nach der Belgischen Revolution von 1830 trennten sich die Südprovinzen vom Vereinigten Königreich der Niederlande. Mit der Unabhängigkeit Belgiens 1831 verloren die Niederlande neben dem Territorium auch den aus Antwerpen stammenden Barockmaler Peter Paul Rubens (1577–1640) als ihren bedeutendsten Künstler, so dass der Bedarf eines Ersatzes gegeben war. Vgl. J. Müller: Wie Rembrandt zum Erzieher wurde, S. 231. 4 Die negative Beurteilung seiner Persönlichkeit hat ihren Ursprung in den Gepflogenheiten der neuzeitlichen Künstlerbiografik, in der das Charakteristische eines Œuvres durch die Persönlichkeit des Künstlers zu erklären war – Rembrandts oft grobe, raue Malweise und seinen z.T. derben Gestalten entsprach folglich ein ebensolcher Charakter. Vgl. u.a. J. Boomgaard/R. Scheller: Empfindliches Gleichgewicht, S. 107, 114; J. Müller: Der sokratische Künstler, insbes. S. 27–29.

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Abb.1: Titelblatt des Buches Rembrandt als Erzieher, 1892

„Rembrandt als Erzieher“

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Uneigennützigkeit und Würde“5 bewegenden „größten und eigenartigsten Kunstgenie der Niederlande“6. Damit war die Grundlage geschaffen, dass der Maler als Modell und didaktisches Vorbild stilisiert werden konnte – und als solcher keineswegs nur Kunstschaffenden empfohlen worden ist, wie die im Januar 1890 erschienene Publikation Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen7 deutlich macht. Deren in scheinbarer Bescheidenheit zunächst anonym und rätselhaft bleibender Autor hatte den Titel seines Werks klug gewählt. Er erkor nicht nur einen in diesen Jahren hochpopulären Künstler als Zugpferd, sondern verwendete zudem eine Formulierung, die die Aufmerksamkeit der intellektuellen Leserschaft geradezu zwingend auf sich lenken musste. Die unverkennbare Anlehnung an Friedrich Nietzsches Schopenhauer als Erzieher (1874), dritter Teil der Unzeitgemäßen Betrachtungen, ließ ähnlich scharfe Geißelungen erwarten, wie sie der furor philosophicus des 1889 dem Wahnsinn verfallenen Philologen bereits in dem älteren Werk entfesselt hatte.8 Nicht wenige vermuteten sogar Nietzsche selbst als Urheber des Rembrandtbuches, doch verbarg sich hinter diesem weder der große Philosoph noch eine der anderen illustren Persönlichkeiten, deren bisherige Arbeiten einen möglichen Zusammenhang erwägen ließen.9 Als die Identität des geheimnisvollen Autors schließlich durch den Publizisten Helmut von Gerlach (1866–1935) in der Zeitschrift Welt (12.1890) gelüftet wurde,10 scheint diese Information erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erregt zu haben. Der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollkommen unbekannte 39 Jahre alte August Julius Langbehn (1851–1907) blieb vielmehr weiterhin als „der Rembrandtdeutsche“ im allgemeinen Bewusstsein und öffentlichen Diskurs. August Julius Langbehn muss ein außerordentlich exzentrischer und im sozialen Umgang schwieriger Mensch gewesen sein. Als junger Mann hatte er zunächst in Kiel, später in München Klassische Archäologie studiert und 1880 promoviert. Obwohl ihm mit dem Erhalt eines Reisestipendiums des Deutschen Archäologischen Instituts ein vielversprechender Start in eine wissenschaftliche Laufbahn gelungen war, geriet er 1881 nach Auseinandersetzungen mit seinem Lehrer Heinrich Brunn (­ 1822–1894) derart in Rage, dass er seine Promotionsurkunde in Stücke zerriss und diese der Münchener Universität zurück schickte. Langbehn verkündete, fortan nicht mehr

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So z.B. der St. Gallener Staatsarchivar Otto Henne am Rhyn (1828–1914) in seiner 1886 in Berlin herausgegebenen Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Vgl. B. Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus, S. 55. 6 Ebd. 7 Vgl. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher. 8 In der Folge sollte eine ganze Reihe Schriften mit ähnlich lautenden Titeln erscheinen, wie Richard Wagner als Erzieher (1891), Jahn als Erzieher (1895), Chamberlain als Erzieher (1902), Dürer als Führer (wiederum geschrieben vom „Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen“, 1904), Bismarck als Erzieher (1903), oder auch in den 1940er-Jahren noch Georg von Schönerer, ein Erzieher zu Großdeutschland (1942) etc. Vgl. W. Oechslin: Moderne entwerfen, S. 144f., 153f.; A. Lobenstein-Reichmann: Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“, S. 304, Anm. 33. 9 Neben Nietzsche wurde vor allem der deutsche Kulturkritiker Paul de Lagarde (1827–1891) als möglicher Autor vermutet. Vgl. F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 141. 10 H. Bürger-Prinz/A. Segelke: Julius Langbehn, S. 84.

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die Vergangenheit studieren, sondern vielmehr die Zukunft konstruieren zu wollen.11 Der Bruch mit der akademischen Welt sollte den Beginn eines „unsteten Reiselebens in finanzieller Bedürftigkeit“12 kennzeichnen, wie es Martin Schewe zurückhaltend umschrieb. Ohne festen Beruf oder dauerhaften Wohnsitz wandte sich der maßgeblich von Freunden und Bewunderern13 finanzierte, stark nationalistisch gesinnte Egozentriker ganz seiner Mission zu, eine Reform des deutschen Geistes einleiten zu wollen. Von verschiedenen, mitunter eigenwilligen Aktivitäten unterbrochen wie dem Bemühen, Nietzsche im Herbst 1889 in der Jenaer Psychiatrischen Klinik mit einer selbst entwickelten Gesprächstherapie zu heilen, verfasste Langbehn bis zu seinem Tod 1907 mehrere Schriften.14 Keine von ihnen sollte jedoch eine auch nur annähernd vergleichbare Resonanz erzielen wie Rembrandt als Erzieher.15 Seine als Streitschrift zu verstehende, mehr als 300 Seiten umfassende Publikation erweist sich als Ansammlung reaktionärer Ideologien. Über den im Titel angekündigten vermeintlichen Protagonisten des Buches erfährt der Leser wenig. Langbehn bietet ihm weder eine biografische Darstellung des Künstlers noch eine Auseinandersetzung mit historischem Quellenmaterial, er widmet sich weder Bildnoch Stil­a nalysen geschweige denn kunsttheoretischen Betrachtungen; außer Rembrandts Konterfei auf dem Titelblatt enthält die Publikation bis in die 1920er-Jahre keine einzige Abbildung.16 Rembrandt bleibt als historische Persönlichkeit gänzlich unerfasst, was bereits 1912 den schwedischen Schriftsteller Johan August Strindberg (1849–1912), der Langbehns Ausführungen durchaus positiv gegenüberstand, zu der Feststellung veranlasste: „Was Rembrandt mit seinem Buch zu tun hat, das hat kein Mensch begriffen.“17 Tatsächlich dient der Maler Langbehn in erster Linie als Folie, auf der er die ausgedehnte Gesellschaftskritik an seiner Zeit entspinnt. In dieser widmet er sich größtenteils Themen, die bereits andere Kulturkritiker seit 1871 in ähnlicher Form beschäftigt hatten – neben Nietzsche vor allem den unter dem Pseudonym Paul de Lagarde bekannten Theologen und Orientalisten Paul Anton Bötticher (1827–1891).18 Den Kernpunkt ihrer wie auch Langbehns kritischer Beobachtungen bildete die vermeintliche Bedrohung der deutschen Kultur durch die Errungenschaften der Moderne. In der Demokratisierung der Gesellschaft, ihrer Militarisierung, Ökonomisierung und Industrialisierung lauerten demnach ebenso große Gefahren wie in der Rationalisierung des Lebens, die maßgeblich durch die Wissenschaften

11 Vgl. B. M. Nissen, Der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn, S. 50. 12 M. Schewe: Langbehn, August Julius, Sp. 1084. 13 Zu Langbehns Förderern zählten u.a. die Künstler Wilhelm Leibl (1944–1900), Hans Thoma (1839–1924) und Karl Haider (1846–1912), der Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (1850–1938), der Generaldirektor der Dresdener Museen Woldemar von Seidlitz (1850–1922) sowie der Maler Momme Nissen (1870–1943). Vgl. u.a. J. Stückelberger: Rembrandt und die Moderne, S. 49f.; F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 138. 14 Zu den weiteren Schriften Julius Langbehns vgl. B. Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus, S. 22–27. 15 Ausführlich zu Langbehns Vita vgl. F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 128–147. 16 1922 erschien eine von Hermann Kellermann herausgegebene bebilderte Volksausgabe. 17 J. A. Strindberg: Die gotischen Zimmer, S. 113. 18 Vgl. J. Andres: „Politik“ in der konservativen deutschen Kulturkritik, S. 339.

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vorangetrieben wurde und ein areligiöses Weltbild stärkte, das von dem Verlust der traditionellen Werte und Gebräuche geprägt war.19 Angesichts der in der Gründerzeit stark verbreiteten sogenannten „Reichsverdrossenheit“, welcher vor allem enttäuschte Erwartungen an das 1871 ge­g ründete Deutsche Reich zugrunde lagen, fielen derartige Betrachtungen auf fruchtbaren ­Boden. In das herrschende Stimmungsgemisch aus Verunsicherungen und Ressentiments gegenüber aktuellen Tendenzen, Zukunftsängsten und der Sehnsucht nach einem Neuanfang schlug Langbehns messianische Publikation wie eine Bombe ­ ein und erzielte einen überwältigenden Erfolg. Allein in den ersten zwölf Monaten erreichte sie nicht weniger als 29 Auflagen, bis in die Mitte der 1940er-Jahre sollten es über 80 Auflagen werden.20 Zahllose Kommentare in Briefen und Berichten, kurze wie ausführliche Rezensionen und sogar geradezu respondierende Publikationen zeugen von der gewaltigen, die Leserschaft stark polarisierenden Resonanz dieses Buches, das selbst von Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) und vom Reichskanzler Otto von ­Bismarck (1815–1898) gelesen wurde. Die gesellschaftliche Situation des Reichs zergliedernd, wartet Langbehn in seinen Ausführungen mit größtenteils ebenso konfusen wie diffusen, in assoziativen Ketten aneinandergereihten Gedanken für eine Kulturerneuerung auf.21 Wenngleich sein gnadenloses Anprangern der herrschenden verkommenen Verhältnisse und seine wüsten Verunglimpfungen ihrer vermeintlichen Verursacher breiten Raum in seinen Darlegungen einnehmen, wurde sein Buch vor allem aufgrund der vor Augen geführten Lösung allen Übels verschlungen: Langbehn ruft zur Rückkehr in einen verlorenen kulturellen Daseinszustand auf, in dem man „das wird, was man von Haus aus ist und was man nur zeitweilig oder teilweise aufgehört hat zu sein; daß man zu seinem eigentlichen Wesen zurückkehrt und sich aus diesem neu gebiert, wie die Pflanze aus dem Samenkorn“22. Er erkennt, kurz gesagt, die Wiedergeburt des „Deutschtums“ als „vornehmste nationale Aufgabe“23.

19 Vgl. U. Puschner/W. Schmitz/J. H. Ulbricht: Vorwort, S. IX–XXV. 20 Vgl. P. Schmidt-Eppendorf: Momme Nissen, Benedikt, Sp. 998. Langbehn hat seinen Text im Laufe der ersten zwei Jahre zweimal erweitert. Die erste, 1890 erschienene Fassung mit einem Umfang von 309 Seiten blieb bis zur 12. Auflage unverändert. Mit der noch im selben Jahr herausgegebenen 13. Auflage hatte er das Buch gegen Ende um zwei längere Passagen antisemitischen Inhalts ergänzt, es umfasste nun 329 Seiten. Die dritte und letzte Überarbeitung zeigt das Buch ab der 1891 erschienen 37. Auflage, die aufgrund von Langbehns eingearbeiteten religiösen Ansichten auf insgesamt 356 Seiten angewachsen und als sogenannte „prokatholische Fassung“ bekannt ist. Zur Editionsgeschichte des Buches vgl. B. Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus, S. 44–52. 21 Die überaus unstrukturiert aufgebauten, z.T. auf dem fonetischen Gleichklang von Worten basierenden und damit mitunter kaum nachvollziehbaren Argumentationen veranlassten bereits einige der ersten Rezensenten zu scharfer Kritik. Während sich einer nach der Lektüre „überschwemmt […] wie von einer zerplatzten Wasserleitung“ fühlte, charakterisierte ein anderer Langbehns Buch als erbrochenen „wüsten Gedankenbrei“. Vgl. J. Heinßen: Kulturkritik, S. 125. 22 Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius] : Rembrandt als Erzieher, S. 378. 23 Ebd.

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Um diese zu bewältigen und die Deutschen bei der Rückführung zu sich selbst zu leiten, bedarf es nach Langbehns Ansicht eines „geistigen Wegführers“24 . Hiermit greift er die Gedanken Friedrich Nietzsches auf, der in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik seinerseits die „Wiedergeburt des deutschen Mythos“ gefordert hatte und dem „zagend sich nach einem Führer […] in die längst verlorne Heimat“ umblickenden Deutschen das Lauschen der „wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels“, der „ihm den Weg dahin deuten will“, ans Herz legt.25 Während N ­ ietzsche seinen Zeitgenossen den Theologen und Reformator Martin Luther (1483–1546) als leitenden „Führer“ aus der Misere der Moderne empfiehlt, hält Langbehn dafür niemanden für besser geeignet als den Maler Rembrandt van Rijn. Wie Jürgen Müller bemerkt, hatten bereits zuvor Autoren wie Heinrich Gustav Hotho (1802–1873), Julius Mosen (1803–1867), Franz Kugler (1808–1858) oder auch Eduard Kolloff (1811–1879) in dem Amsterdamer Maler eine Verkörperung des „deutschen Wesens“ erkannt.26 In dieser Tradition stehend konkretisiert Langbehn den Holländer als „echt niederdeutschen Meister“27. Er reiht ihn damit in den von ihm idealisierten „Stamm“ der Niederdeutschen ein – eigentlich Bewohner der nordwestdeutschen Ebene, denen jedoch nach Langbehns völkischem Verständnis neben Bismarck, Beethoven und natürlich ihm selbst maßgeblich auch Cromwell und ­Shakespeare angehören.28 In diesem von ihm idealisierten, vor allem aus Bauern gebildeten, doch nichtsdestoweniger edlen Volkstyp sah er all das verkörpert, was in der aktuellen Gesellschaft noch unbefleckt, charaktervoll und verwurzelt geblieben war. Hier waren die alten Bräuche und Traditionen noch lebendig – ganz im Gegensatz zum restlichen Deutschen Reich, insbesondere dem „kühlen“29 Preußen, das ihm geradezu als Synonym für die verhasste Moderne gilt.30 Während er Preußen den fehlenden Kontakt zur deutschen Volksseele bescheinigt,31 sieht er diese bei dem durch und durch „nordischen“32 Maler in ihrer ur- und eigentümlichsten Weise verkörpert. Langbehn stellt vor allem Rembrandts Individualität, seine Verwurzelung im Volkstum, seine Schlichtheit, seine Ganzheitlichkeit und seine Seelentiefe heraus – Qualitäten, durch die eine Wiedergeburt der deutschen Kultur ermöglicht werden könnte. Das zentrale Prinzip des Deutschtums, das es entsprechend wiederzuerlangen galt, ist für Langbehn der Individualismus.33 Dieses in den 1890er-Jahren geradezu programmatische, von allen völkischen Kritikern stark beanspruchte Ideologem

24 Ebd., S. 378, 55. 25 Zit.n. F. W. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 23. Textabschnitt, o.S.; vgl. J. Müller: Der sokratische Künstler, S. 58f. 26 Vgl. J. Müller: Der sokratische Künstler, S. 29f., 56. 27 Zit.n. Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 80. 28 Ebd., S. 200f., 367. 29 Ebd., S. 186. 30 Vgl. F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 205f. 31 Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 185. 32 Ebd., S. 72. 33 „Individualismus ist das herrschende Prinzip der Welt, […] zugleich aber ist er das herrschende Prinzip des Deutschtums.“ Zit.n. Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 48.

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wurde nicht nur als eine von der einzelnen Persönlichkeit determinierte Individualität begriffen, sondern als ein zudem durch „Volk“ und „Rasse“ bestimmter Wesenszug.34 Langbehn versteht Individualität als „Seelendreieinigkeit“, konstituiert aus der Einzelseele, der Stammesseele und der Volksseele: Folglich sei Rembrandt er selbst, Holländer und im völkischen Sinne Deutscher.35 Da im Individualismus das Potential einer „unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze“36 läge und den Deutschen damit ein führender Platz im Weltgefüge zugewiesen sei, müssten diese zu ihrem angeborenen, jedoch vielfach verlorenen Individualismus zurückerzogen werden.37 Dementsprechend sinniert Langbehn: „Wenn die Deutschen das vorzugsweise individuelle Volk sind, so kann auf künstlerischem Gebiet ihnen auch nur der individuellste ihrer Künstler als geistiger Wegführer dienen […]. Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste – Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopfe folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt. In diesem Sinne muß er geradezu der deutscheste aller deutschen Maler und sogar der deutscheste aller deutschen Künstler genannt werden.“38 Tatsächlich wurde Rembrandt im 19. Jahrhundert gerade für seine Eigenwilligkeit und seine vermeintliche Autonomie verklärt. Diese Eigenschaften wurden vor allem an seinem in dieser Zeit wohl berühmtesten Gemälde festgemacht, dem als Die Nachtwache bekannten Gruppenbildnis der Amsterdamer Schützenkompagnie des Hauptmanns Frans Banning Cocq (1605–1655). Das 1642 fertiggestellte großformatige Werk war zur Ausschmückung des Festsaals der Amsterdamer Schützengilde ­bestimmt, wo es neben anderen Darstellungen von Bürgerwehren bis zu seinem Umzug ins Amsterdamer Rathaus 1715 angebracht war. Seine Berühmtheit hatte das Gemälde aufgrund verschiedener Neuerungen erlangt, mit denen Rembrandt die Bildtradition der sich seit dem frühen 16. Jahr­hundert entwickelten Gattung des niederländischen Gruppenbildnisses revolutioniert hat. Waren ent­ sprechende Darstellungen bis dahin weitgehend statisch aufgebaut und durch eine Aneinanderreihung der stets gut sichtbaren Porträtierten in ausgewogener Beleuchtung gekennzeichnet, inszeniert Rembrandt die in Lebensgröße abgebildeten Mitglieder der Kloveniersgilde in einer außergewöhnlich narrativen Weise vor einer von starken Hell-Dunkel-­ Effekten beherrschten Kulisse. Zusätzlich zu den 18 Mitgliedern der Bürgerwehr fügte der Künstler entgegen allen Konventionen noch weitere Figuren in das Bildgeschehen ein. Die rätselhaftesten unter ihnen sind zwei durch die Lichtführung besonders hervorgehobene, dicht nebeneinander laufende Mädchen mit einem Huhn bzw. einem Pfau am Gürtel, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit als allegorische Figuren ausweisen39 – in einem holländischen Bildnis des 17. Jahr­hunderts vollkommen unübliche Erscheinungen. 34 Vgl. F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 194. 35 Vgl. Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 60. Zur ausführlichen Erläuterung vgl. insbes. A. Lobenstein-Reichmann: Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“, S. 309f. 36 Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 49. 37 Vgl. Ebd., S. 49. 38 Ebd., S. 55. 39 Vgl. C. Tümpel: Beobachtungen zur Nachtwache, insbes. S. 170; J. Müller: Der sokratische Künstler, S. 277–287.

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Abb.2: Rembrandt van Rijn, Die Nachtwache, 1642, Öl auf Leinwand, 359 x 438 cm, Amsterdam: Rijksmuseum

Durch die Konzeption und narrative Ausschmückung der Darstellung nähert Rembrandt das der Gattung des Portraits zugehörige Werk der in der Kunsttheorie der Zeit höher bewerteten Historienmalerei an und überschreitet sogar die Gattungsgrenzen. Die Kritik, die bereits die klassizistischen Autoren des 17. Jahrhunderts gegen den „seine eigene Mahl-Reglen“40 ersinnenden, d.h. gegen die kunsttheoretischen Doktrinen seiner Zeit verstoßenden „ersten Ketzer der Malkunst“41 anbrachten, bildete die Grundlage für den Mythos von Rembrandt als souveränem Künstler. Dass der nach Langbehns Verständnis traditionslose42 Rembrandt mit künstlerischen Konventionen brach und, wie der deutsche Maler und Kunstschriftsteller

40 Zit.n. J. von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, S. 326. 41 Als „erster Ketzer der Malkunst“ und „abschreckendes Beispiel für diejenigen, welche Neigung haben, die gebahnten Pfade der Kunst zu verlassen“, wurde Rembrandt von dem holländischen Dichter Andries Pels (1631–1681) in seinem 1681 in Amsterdam publizierten Lehrgedicht Gebruik en misbruik des tooneels bezeichnet. Vgl. C. Hofstede de Groot: Die Urkunden über Rembrandt, S. 413f. 42 „Kein bildender Künstler […] hat mehr wie er von äußerlicher Tradition und äußerlicher Klassizität abgesehen“. Zit.n. J. Langbehn: Rembrandt als Erzieher, S. 65f.

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Joachim von Sandrart (1606–1688) bereits 1675 feststellte, den „höchstnöhtigen Academien“43 widersprach, ließ ihn als anti-akademischen Künstler erscheinen. Für Langbehn bot sich damit ein Anknüpfungspunkt zu einem weiteren Themenbereich, den er seiner Leserschaft als abzuschaffendes Übel darlegt: den ihm seit seinem Bruch mit der Wissenschaft 1881 verhassten „Akademismus“. Angesichts der Tatsache, dass sich „das geistige Leben des deutschen Volkes […] in einem Zustande des […] rapiden Verfalls“44 befände und es sowohl um die Geistesverfassung als auch um das Bildungswesen der Deutschen zum Ärgsten stünde, kritisiert Langbehn, dass die gegenwärtigen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, geistlos und unschöpferisch seien. Gleiches gelte auch und ganz besonders für das „Professorentum“, dessen Vertreter er abfällig als „Strumpfwirker“ und „deutsche Nationalkrankheit“ bezeichnet und ihre Jugenderziehung als „eine Art von bethlehemitischem Kindermord“. 45 Er bescheinigt ihnen eine tausendfach zergliedernde, die Wissenschaft geradezu atomisierende Arbeitsweise, die nichts als eine massenhafte Anhäufung von nutzlosem Wissen hervorbringe und zum Verlust der Ganzheit des kulturellen Lebens insgesamt wie jedes einzelnen Individuums führe. 46 Als „wirksames Gegengift gegen das deutsche Schulmeistertum“ und den „seelen­ losen Spezialismus“47 des jeder Torheit fähigen Professors empfiehlt er den ganz unverbildeten Rembrandt, der bereits 1868 von dem niederländischen Kunstschrift­ steller Carel Vosmaer (1826–1888) als „Maler des Lebens und der menschlichen Seele“ bezeichnet worden war. 48 Rembrandts Fähigkeit, sich in die Wesenstiefen der Menschen hinabsenken und nicht nur die „sichtbare“, sondern vor allem auch die „unsichtbare“ Wirklichkeit von Geschehnissen einfangen zu können, wie Carl Neumann (1860–1934) 1906 darlegte, 49 macht die Faszination vieler seiner Werke aus, darunter neben verschiedenen Bildnissen auch Historiengemälde wie die sogenannte Judenbraut (1665–1668, Amsterdam, Rijksmuseum) oder auch die Pariser Bathseba (1654, Paris, Musée du Louvre). Hatte Rembrandt das als Die Nachtwache bekannte Gruppenbildnis der Amster­ damer Schützengilde außergewöhnlich narrativ inszeniert, geht er hier den umgekehrten Weg. Er eliminiert jegliche erzählerischen Details und reduziert die Szene auf wenige Elemente. So zeigt er die großformatig ins Bild gesetzte Bathseba unmittelbar nach der Lektüre des Briefs, mit dem König David sie zum Ehebruch auffordert (2 Sam 11.4). In sich gekehrt und keiner Regung fähig sieht sie der Betrachter in einem Zustand des inneren Zwiespalts. Der Verzicht auf nahezu jegliche Aktion erweist das sich im Inneren der jungen Frau abspielende Drama als das eigentliche Thema von Rembrandts Gemälde.

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J. von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, S. 326. J. L angbehn: Rembrandt als Erzieher, S. 45. Vgl. ebd., S. 74, 270. Vgl. J. Heinßen: Kulturkritik, S. 125. J. Langbehn: Rembrandt als Erzieher, S. 46, 96. Vgl. C. Vosmaer: Rembrandt Harmens van Rijn, S. 369. Vgl. C. Neumann: Rembrandt.

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Abb.3: Rembrandt van Rijn, Bathseba, 1654, Öl auf Leinwand, 142 x 142 cm, Paris: Musée du Louvre

Als „stummen aber beredten Bildner“ stellt Langbehn Rembrandt dem „geschwätzi­ gen aber leeren Rhetor“ der Universität gegenüber.50 So wie sich der Maler ganz der Erforschung von Gefühlsregungen und den „Tiefen des Gemütes“51 widmete, sollte nach Langbehn auch die für den geistigen Verfall der Gesellschaft verantwortliche objekti­v ierende Wissenschaft ersetzt werden durch eine Wissenschaft des Subjekti­ ven. Er ruft dazu auf, sie aus dem Reich des Klaren und Kritischen in jene des „Halb­ klaren“ und des „Helldunkels“ zu überführen.52 Und wie Rembrandt seiner berühm­ ten Hell-Dunkel-Malerei die widerstrebenden Kräfte von Licht und Schatten zur 50 Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 132. 51 Ebd., S. 45. 52 Vgl. ebd., S. 80.

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Synthese bringe und eine Welt voller Geheimnis und religiösen Gefühls darbiete, so müsse die in der aktuellen Gesellschaft übermäßig vorherrschende Rationalität durch eine Aufwertung der Irrationalität gemildert werden, d.h. konkret sollten Religion und Mystik, Volkstum und Kunst gestärkt werden.53 Gerade die Rückbesinnung auf das Volkstum und seine Traditionen gilt Langbehn in seinen reformatorischen Bestrebungen als wesentlich. Die „irrende Seele der Deutschen, welche sich […] jetzt in allen Erd- und Himmelsgegenden umhertreibt“54 , müsse zu ihrer Scholle zurückgeführt werden. Langbehn stilisiert Rembrandt, der die Niederlande nie verlassen hatte und entsprechend in erster Linie die holländische Bevölkerung und Umwelt ins Bild setzte, als einen seinem Land treu verbunden Mann des Volkes, der malerisch ganz im „Typischen, Nationalen, Lokalen“55 seiner Heimat schwelge. Als „Maler in Holzschuhen“ habe er sich vor allem dem einfachen Volk, insbesondere dem Bauern gewidmet.56 Langbehn hebt diese Beobachtung insofern hervor, als er die Zukunft seines Landes vor allem im Bauerntum sieht. Er fordert eine Abschaffung der Demokratie und ein Wiederaufleben der ständischen Ordnung, in der sich der Bauer zu seinem eigenen Wohle von dem geistigen Adel des Landes führen lassen solle. Denn nur durch eine „Verbauerung“ sei Preußen – d.h. die deutsche Politik – noch zu retten, nur so könne das Volk wieder vereint und die Gesellschaft sich der „destruktiven Strebungen der großstädtischen Bevölkerungsmassen“57, insbesondere des schädlichen Internationalismus, erwehren. Bei all diesem Schwelgen in Rembrandts Heimatverbundenheit und seinem deutschen Wesen irritierte Langbehn prinzipiell nur eines: der in seinen Werken auftretende „starke Anflug von Jüdelei“58. Die in Rembrandts sowohl grafischem als auch malerischem Œuvre immer wieder in fantasievollen, z.T. orientalisch anmutenden Gewändern auftretenden Figuren hatten bereits im 18. Jahrhundert oft zu ihrer Identifikationen als Juden geführt.59 Neben Portraits jüdischer Auftraggeber und Bildnisstudien von Personen mit vermeintlich typisch jüdischen Physiognomien ließen auch Rembrandts z.T. dezidiert hebräisierte biblische Historien Fragen zu dem Verhältnis des Malers zu seinen Amsterdamer Nachbarn mosaischen Glaubens aufkommen. So fügte er in seinem um 1636 gefertigten Gemälde, welches das im Buch Daniel (Dan 5) berichtete Gastmahl des Belsázar zu Ehren fremder Götter zeigt, das von einer geisterhaften Hand an die Wand geschriebene Menetekel in aramäischer Schrift ein. Zwecks einer korrekten Schreibweise wird er sich hier wie auch für seinen über zehn Jahre später gemalten Moses (1659, Berlin, Gemäldegalerie) mit ebenfalls aramäisch beschriebenen, orthografische Feinheiten zeigenden Gesetzestafeln wohl den Rat e­ iner entsprechend sprachkompetenten Persönlichkeit eingeholt haben.60

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So Langbehns langjähriger Assistent B. M. Nissen: Kultur der Seele, S. 126. Zit.n. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 89. Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 202, 205. Ebd., S. 191f. Zit.n. E. Kolloff: Rembrandt’s Leben und Werke, S. 497. Vgl. M. Zell: Rembrandt and the Jews. Vgl. R. J. Littman: An Error, S. 296.

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Abb.4: Rembrandt van Rijn, Das Gastmahl des Belsázar, 1636, Öl auf Leinwand, 168 x 209 cm, London: National Gallery

Das Phänomen des sogenannten „jüdischen Rembrandts“ sorgte in der von starker Judenfeindlichkeit geprägten Zeit für Missfallen. Seit dem von dem Historiker und Reichstagsabgeordneten Heinrich von Treitschke (1834–1896) 1879 ausgelösten „Berliner Antisemitismusstreit“ war der offen zur Schau getragene Judenhass in weiten Kreisen des Deutschen Reichs gesellschaftsfähig geworden, und auch Langbehn scheute sich nicht, in seinem Buch in drastischer und mit den steigenden Auflagen immer weiter ausufernder Art und Weise gegen das kollektive Feindbild zu hetzen.61 Die sich zwischen dem Œuvre des Amsterdamer Künstlers und seinen eigenen Ressentiments ergebende Diskrepanz überbrückte er auf eigenwillige Weise: Er differenzierte zwischen dem biblischen, dem orthodoxen und dem modernen Judentum und postulierte, dass Rembrandt mit den „echten“ und „altgläubigen“ Juden verkehrt habe. Diese hatten seiner Auffassung nach ihre jüdische Individualität bewahrt und waren daher durchaus „voller Seele“ – ganz im Gegensatz zu ihren modernen, sich

61 Die zunehmende Schärfe von Langbehns Antisemitismus ist vermutlich mit dem Einfluss zu erklären, den Vertreter des Bayreuther Kreises Anfang der 1890er-Jahre auf ihn ausübten, unter ihnen vor allem Theodor Fritsch (1852–1933). Vgl. F. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 232; A. Lobenstein-Reichmann: Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“, S. 304f.

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assimilierenden Glaubensgenossen, die durch ihren Hang zu Wissenschaften und ­Demokratie die Schuld an der Selbstentfremdung der Deutschen trügen.62 Wenn­ gleich seine Erklärung, dass Rembrandt mit seiner Vorliebe für die „aristokratischen“, nicht für die „plebejischen“ Juden, seine „lokale und seine vornehme Gesinnung“63 bewiesen habe, verhältnismäßig knapp ausfällt, bietet sich ihm hier ein Aufhänger, in exzessiver Form die gängigen antisemitischen Stereotypen auszubreiten. Er schließt mit der Weissagung, dass als Lösung für dieses neben den Professoren größtes und für den kulturellen Niedergang verantwortliche „Übel“ ein zukünftiger „heimlicher Kaiser“ werde eingreifen müssen, um „die Schafe von den Böcken“64 zu scheiden und das Reich von dem korrupten und niederträchtigen, „mit der Fäulnis“ sympathisie­ renden unedlen Judentum zu befreien.65 Die Rückerziehung zu Individualität und Heimatverbundenheit, die Neuaus­ richtung der Wissenschaften auf die subjektive Welt des Gefühls, die Wiedereinrich­ tung der Ständegesellschaft und die Lösung der sogenannten „Judenfrage“ stellen die wesentlichen Forderungen in Langbehns Publikation dar, deren Einlösung seiner Auffassung nach – und stets den „deutschen“ Rembrandt als Leitstern vor Augen – die kulturelle Rettung der Nation im ausgehenden 19. Jahrhundert ermöglichen sollte. Trotz der enormen Resonanz und erstaunlich großen Zustimmung auch von politi­ schen Größen wie z.B. Bismarck, zeitigte Rembrandt als Erzieher keine unmittelbaren Auswirkungen – zumindest nicht im Sinne konkreter Maßnahmen, mit denen seiner Kritik begegnet worden wäre. Sehr wohl aber hat Langbehn mit der Instrumentalisie­ rung des aus seinem historischen Kontext herausgeschälten und damit zwangsläufig gänzlich fehlinterpretierten Künstlers für seine „individualistisch“ geprägte Gesell­ schaftskritik aufkeimende Ressentiments geschürt, bereits bestehende Gräben w ­ eiter vertieft und damit zu den folgenden gesellschaftspolitischen Entwicklungen bei­ getragen, die schließlich im Dritten Reich münden sollten. Die zur völkisch gesinnten Kulturkritik missbrauchte Künstlerrezeption des „Rembrandtdeutschen“ ist damit nicht nur ein Beispiel für die Gefahren einer jegliche Historizität ignorierenden, eben ganz und gar „subjektiv-hell-dunklen“ Wissenschaft, sondern zudem eine Mahnung, dass auch einer sich der Kunst bedienenden Gesellschaftskritik nicht unkritisch ­begegnet werden sollte.

BIBLIOGRAFIE Andres, Jan: „‚Politik‘ in der konservativen deutschen Kulturkritik: Paul de Lagarde, August Julius Langbehn, Thomas Mann“, in: Willibald Steinmetz (Hg.), „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit (= Historische Politikfor­ schung, Band 14), Frankfurt am Main, New York: Campus 2007, S. 339–361. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig: C.L. Hirschfeld 1922. 62 Vgl. Anonymus [Langbehn, August Julius]: Rembrandt als Erzieher, S. 361. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 363. 65 Vgl. ebd., S. 362f.

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„Rembrandt als Erzieher“

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THEATERPÄDAGOGIK: DER ÄSTHETISCHE RAUM ALS LERN- UND EXPERIMENTIERFELD Irmgard Bibermann

„Das Theater muss den Willen haben, die Welt zu verändern. Nicht in der ­Erwar­tung­, dass morgen eine andere Welt da ist, aber es müssen mit aller Energie gegen ­Dummheit, Stagnation, Gewalt, Unterdrückung andere Perspektiven aufleuchten.“ Peter Palitzsch1

Der moralische Anspruch, der die Regiearbeit von Peter Palitzsch, einem langjährigen Mitarbeiter von Bertolt Brecht, prägte, war es, „die Welt zu verändern, millimeterweise; aber doch“2. Theater soll sich demnach nicht zufrieden geben mit der Beschreibung der Welt wie sie ist, sondern soll neue Perspektiven sowie andere Sichtweisen aufzeigen. Das obige Zitat schafft für mich auch die Verbindung zur Frage nach dem kritischen Potential von Kunst. Dazu stelle ich das Theaterprojekt Jetzt wird geredet. Heimerziehung in Tirol der Amateurtheatergruppe nachtACTiv vor, die ich seit mehreren Jahren leite und die sich durch die Vermittlung von Zeitgeschichte auf der Bühne in der Theaterszene einen Namen gemacht hat. Ich gehe zum einen der Frage nach, inwiefern ein Aufführungsprojekt wie das zur Aufarbeitung von Tiroler Heimgeschichte als „aufklärerisch“ im Sinne des Zitates von Peter Palitzsch, d.h. als Theaterarbeit mit kritischem Potential angesehen werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage liegt der Fokus auf dem Stück und dessen künstlerischen Umsetzung auf der Bühne. Zum anderen stelle ich Überlegungen dazu an, wie der ästhetische Raum zu einem Lern- und Experimentierfeld, z.B. für soziales und politisches Handeln werden kann. Da geht es um den Erarbeitungsprozess des Stücks mit einem Ensemble bestehend aus Amateur-Schauspieler_innen und um die Frage, wie diese das Theater als Medium nutzen können, um über ein Thema, über andere und vor allem über sich selbst zu lernen.

1

2

Das Zitat von Peter Palitzsch findet sich auf der Website der Berliner Akademie der Künste als Eingangsstatement zu einer Veranstaltung im Jänner 2005, die der künstlerischen Arbeit von Palitzsch gewidmet war; siehe https://www.adk.de/de/presse/pressemitteilungen.htm?we_objectID=513 P. Iden: Peter Palitzsch, S. 16f.

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Irmgard Bibermann

THEATERARBEIT MIT KRITISCHEM POTENTIAL Ende der 1990er-Jahre lernte ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Theaterpädagogin den brasilianischen Regisseur Augusto Boal kennen. Ich habe ihn mehrmals nach Innsbruck eingeladen und konnte auf diese Weise seine Arbeit persönlich kennen­ lernen. Seine Auffassung von Theater wurde für mich richtungsweisend. Der studierte Theaterwissenschaftler wirkte von 1955 bis 1971 als Leiter des Theaters der Arena in Sao Paulo. Hier begann er – unter zunehmenden Schwierigkeiten mit den Zensoren und anderen Repressionsorganen der Militärdiktatur – die Möglichkeiten politischen Handelns und eines gesellschaftlichen Lernprozesses im Theater auszuloten.3 1971 wird Augusto Boal festgenommen, doch auf internationalen Druck hin ins Exil entlassen. Das Theater der Unterdrückten, unter dem Eindruck von Militärdiktatur und Massenarmut entwickelt, kam so nach Europa, wo sich Boal nach seiner Emigration mit subtilen Formen der Gewaltausübung in den politischen und gesellschaftlichen Systemen seiner Exilländer auseinandersetzte. 4 Für Boal hat Theater als Kunstform die Aufgabe, die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen zu untersuchen, indem es Konflikte, Widersprüche, Konfrontationen und Herausforderungen beschreibt.5 Boal spricht sich dafür aus, dass die Schauspieler_innen auf der Bühne Handlungen setzen und Situationen herstellen, die ihnen etwas bedeuten, in denen die von ihnen verkörperten Charaktere „ihr Leben, ihre Gefühle, ihre Moral und ihren politischen Standpunkt“ zeigen. Theater braucht also ein konkretes Anliegen, um sich nicht in der Vermittlung von „Gemeinplätzen“ oder „wertlosen Trivialitäten“ zu erschöpfen.6

Das Thema: Tiroler Heimgeschichte auf der Bühne Allein das Thema „Heimerziehung“ macht deutlich, dass wir dem Publikum kein unterhaltsames, erbauliches Theatererlebnis bieten wollten, sondern es mit einem Thema von aktueller Brisanz konfrontieren würden. Als Regisseurin ging ich davon aus, dass gerade die Sinnlichkeit des Theaters es vermag, einer breiten Bevölkerung und nicht nur einer kleinen Gruppe von sozialhistorisch interessierten Menschen, einen neuen und intensiven Zugang zu verschaffen, der das Ausmaß der jahrzehntelangen systematischen Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder und Jugendliche in Fremdunterbringung nach 1945 besser begreifbar macht. Die Betroffenen, die sich Überlebende nennen, verlassen den Status des Opfers, sie treten als Zeitzeug_innen und Expert_innen der eigenen Geschichte auf. Begonnen hat das Projekt zur theatralen Aufarbeitung der Heimgeschichte im Winter 2010. Zur Präsentation des Buches von Horst Schreiber Im Namen der Ordnung7 über die Heimerziehung in Tirol erarbeitete ich mit nachtACTiv eine Performance mit dem Titel Heimerziehung – Stimmen. Die Spieler_innen beschäftigten sich 3 4 5 6 7

Vgl. D. Feldhendler: Psychodrama, S. 27. Vgl. ebd., S. 26, Anm. 2. Vgl. A. Boal: Der Regenbogen der Wünsche, S. 27. Vgl. ebd. Vgl. H. Schreiber: Im Namen der Ordnung.

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in szenischer Form mit Originalquellen aus dem Buch: einerseits mit den schmerzhaften Erinnerungen von Betroffenen an ihre Zeit in Tiroler Heimen und andererseits mit den menschenverachtenden Regeln der Hausordnung auf der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation der Psychiaterin Maria Nowak-Vogl und deren diffamierenden Äußerungen über die Kinder und Jugendlichen. Zusammen mit Horst Schreiber wurde die Theatergruppe mit ihrer Performance im April 2011 zum Demokratiekongress in die Bäckerei – Kulturbackstube in Innsbruck eingeladen. Viele Betroffene haben diese Performance entweder live bei der Buch­ präsentation gesehen oder den Videoclip der Aufführung auf YouTube aufgerufen.8 Sie zeigten sich geehrt, stolz und erfreut, dass die Ignoranz der Gesellschaft, die sie aus ihrer Mitte ausgeschlossen und auch nach dem Heimaufenthalt als Minder­ wertige behandelt hatte, gebrochen war. Daher trat Horst Schreiber 2014 als Mitglied der Kommission der Stadt Innsbruck für die Entschädigung von Heimopfern wieder an die Theatergruppe mit dem Anliegen heran, die Lebensgeschichten der Betroffenen in einem Stück auf die Bühne zu bringen, um ihnen jenen Respekt entgegenzubringen, der ihnen so lange vorenthalten worden war. Vierzehn ehemalige Heimkinder haben in Video-Interviews über ihre Heimerfahrungen und deren Auswirkungen mit Horst Schreiber gesprochen. Aus diesen Erzählungen hat er mit Christian Kuen von zzap­p.tv bio­g rafische Porträts und thematische Kurzfilme gestaltet, die auf einer eigen­en Homepage zu finden sind.9 Die Theatergruppe konnte sich bei ihrer Arbeit auf diese Interviews und auf persönliche Kontakte mit den Betroffenen stützen.

Abb.1: Szenenausschnitt Kinderbeobachtungsstation, 2015

8 Unsere Aufführung ist in der filmischen Dokumentation der Veranstaltung auf YouTube zu sehen; siehe http://www.youtube.com/watch?v=05RKJTPZx7E&feature=related vom 04.05.2011. 9 Siehe dazu www.heimkinder-reden.at

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Zielsetzungen des Stücks: Vermittlung von Sozialgeschichte Die zentralen Fragen, die sich mir bei der Planung des Theaterprojekts Jetzt wird ­geredet stellten, bezogen sich zum einen auf den Inhalt der Video-Interviews: Wie können Erzählungen auf die Bühne gebracht werden, in denen Menschen über traumatische Erfahrungen wie systemische Gewalt, Demütigungen oder Kampf um Würde berichten? Zum anderen fragte ich mich, was bei der theatralen Umsetzung zu beachten ist, welche Gestaltungsprinzipien und welche Theaterformen dafür am besten geeignet sind, und wie Laien-Spieler_innen ein so schwieriges Kapitel der Sozial­geschichte mit Respekt und Feingefühl für die Erfahrungen der Betroffenen glaubhaft auf die Bühne bringen können? Daher beschäftigten sich die Spieler_innen in der szenischen Recherchearbeit mit den Fragen: Wie verläuft ein Leben nach solch schrecklichen Erfahrungen, wie kann man sie überstehen, wie gehen die ehemaligen Heimkinder mit ihren Erinnerungen um, woher nehmen sie den Mut über sie zu reden, und wie schafften sie es, sich ein Leben in Würde in einer Gesellschaft zu erkämpfen, in der die meisten Menschen die einstige Stigmatisierung der Kinder durch das Adjektiv „schwererziehbar“ teilweise auch heute noch nicht hinterfragen. Unser Anliegen war es, in diesem Theaterprojekt denen auf der Bühne eine Stimme zu geben, die damals von Erziehungs­autoritäten niedergebrüllt und mundtot gemacht worden waren und deren Geschichten von Misshandlung und Diskriminierung noch bis vor kurzem niemand hören wollte.

Inhalt und Inszenierung: Vom Interview zur Szene zum Stück Das Besondere an dieser Art von Theaterarbeit besteht darin, dass es zunächst kein geschriebenes Stück gibt. Uns lagen – wie bereits erwähnt – lebensgeschichtliche Interviews auf Video und deren Transkripte vor. Nach eingehender Auseinander­ setzung mit dem textlichen Rohmaterial der Interviewprotokolle kristallisiert sich in szenischen Prozessen der Theatertext heraus. Manche Textteile der späteren Stückfassung entstehen überhaupt erst in Improvisationen: Die Spieler_innen „schreiben“ sie in theatraler Aktion. Aber die Hauptautor_innen des Stücks sind die ehemaligen Heimkinder. Ihre Erzählungen sind die inhaltliche Grundlage des Stücks. Durch die Auswahl der Interviewpassagen und das Entwickeln eines roten Fadens, der dem Stück einen für das Publikum nachvollziehbaren Aufbau und auch einen klaren Spannungsbogen gibt, war ich als Spielleiterin nicht nur Dramaturgin, sondern wurde auch zur Mitautorin, wie die Spieler_innen, deren in den Improvisationen erarbeitete Texte zum Teil ebenso in die Inszenierung aufgenommen wurden. Von der Art der Textgrundlage handelt es sich bei unserem Stück um biografisches Theater. Die Lebensgeschichten der ehemaligen Heimkinder, wie sie sie in den Videointerviews erzählt hatten und von denen sie auch in persönlichen Gesprächen mit mir berichteten, bilden das zentrale Element der Aufführung. Vom Fokus auf dieses schwierige Kapitel der Tiroler Sozialgeschichte ist das Stück dem dokumentarischen Theater verwandt. Wie in dieser Theaterform haben wir für die Inszenierung als wesentliche Textbausteine Akten, Heimordnungen und vor allem die lebensgeschichtlichen Interviews mit den Betroffenen verwendet.

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Die Ursprünge des dokumentarisch-politischen Theaters gehen auf Erwin Piscator zurück, der in den 1920er-Jahren in Berlin das Proletarische Theater begrün­dete.10 Als Intendant der West-Berliner Freien Volksbühne inszenierte er in den 1960er-Jahren Rolf Hochhuths Der Stellvertreter, in dem die Haltung von Papst Pius XII. zu National­ sozialismus und Holocaust thematisiert wurde.11 Piscator brachte auch Die Ermittlung von Peter Weiss über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965 auf die Bühne.12 Ziel des dokumentarischen Theaters der 1960er-Jahre war die politische Aufklärung bzw. die „kritische Aufnahme und Aktualisierung der Vergangenheit“, um den gesellschaftlichen Vergessensprozess vor allem an die national­sozialistische Vergangenheit aufzuhalten.13 Mit unserem Stück sollten besondere Wege der Vermittlung von Sozialgeschichte beschritten werden: Mit szenischen Mitteln wollten wir Geschichte aufarbeiten und aufklärend wirken. Eine Herausforderung in der Erarbeitungsphase bestand darin, die Lebenserinnerungen der Betroffenen zu ästhetisieren und in Theaterkunst zu verwandeln. Die zentrale Frage in der Regiearbeit lautet immer: Wie können verbale Handlungen, Worte, Sätze theatral gestaltet werden, wie können sie in mimische, gestische Handlung umgesetzt, in die Bildersprache des Theater übersetzt werden? Die Art der Inszenierung möchte ich in Anlehnung an einen von Stephan Weßling und Anne Zühlke geprägten Begriff als „Theater-Feature“ bezeichnen. Bei dieser Theaterform liegt der Hauptfokus auf der ästhetischen Präsentation von vorhandenem Quellenmaterial. Die Mitglieder des Theaters Daktylus in Berlin verwenden die Bezeichnung „Theater-Feature“ für ihre Stücke, die aus Interviews mit Zeitzeug_ innen entstanden sind. Seit 2005 arbeitet das Berliner Theater an Inszenierungen, in denen journalistische Techniken wie Recherche, Interviews, Texte, Fotos, Videos mit theaterspezifischen Mitteln verknüpft werden.14 Das Theater Daktylus sieht das Theater-Feature als eigenständiges Format des dokumentarisch-publizistischen Theaters. Beim Theater-Feature wird Informationsmaterial aus einer gründlichen Recherche auf der Bühne mit den handlungsorientierten Methoden des Theaters verbunden. Mit ästhetischen Mitteln wie Performance, Gesang, Tanz und Monologen, Bühnenbild, Kostümen, Requisiten werden reale Lebenserfahrungen zu einem Theaterstück geformt.15 Auch wenn authentisches Material übernommen und größtenteils unverändert wiedergegeben wird, handelt es sich um eine fiktionale Kunstform. In Jetzt wird geredet wurden durch chorische und choreografische Elemente, durch Erzählen und in szenischen Bildern das Grauen und die Ungeheuerlichkeiten dieser Erziehung „im Namen der Ordnung“ sichtbar, unüberhörbar und so für das Publikum spürbar und begreifbar. Dass jetzt Schluss ist mit dem Schweigen, weil die Opfer von

10 11 12 13 14

Vgl. P. Simhandl: Theatergeschichte in einem Band, S. 302. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 302ff. Vgl. J. Lassak: Das Theaterfeature, S. 13. Siehe dazu den Artikel der Website von Daktylus; www.theater-daktylus.de/paedagogik_detail. aspx?PaedagogikID=13 15 Vgl. J. Lassak: Das Theaterfeature, S. 12.

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damals sich mutig ihren schrecklichen Erinnerungen stellen und es wagen, sie zu veröffentlichen, wird in der Inszenierung vor allem in den letzten Szenen deutlich.

Die Aufführungen: Die Wirkung des ästhetischen Raums Die Begegnungen mit dem Thema „Heimerziehung auf der Bühne“ sind intensiv, weil theatrale Elemente wie Raum, Körper, Bewegung, Rhythmus, Geste, Ausdruck, Emotion, Sprache, Handlung, Szene, Symbole für die Spielenden wie für die Zuschauenden einen verdichteten, vielschichtigen Erfahrungsprozess ermöglichen. Warum sprechen die Zusehenden nach dem Besuch eines Stücks wie Jetzt wird geredet davon, dass sie neue Einsichten gewonnen hätten, nun erst die Vorkommnisse in Tiroler Heimen und die Auswirkungen dieser Erziehung verstehen würden? Was geschieht im ästhetischen Raum bei einer Aufführung? Grundsätzlich gilt, dass Spielende wie Zuschauende im ästhetischen Raum Erfahrungen über die Sinne machen und Wissen über die Sinne erwerben.16 Der Begriff „Ästhetik“ kommt ja vom griechischen Wort „aisthesis“ und bedeutet so viel wie sinnliche Wahrnehmung. Hier ist also nicht die Ästhetik als Lehre vom Wahren, Guten und Schönen gemeint, sondern die Technik oder Methode des Sehens, Wahrnehmens, Beobachtens.17 Der ästhetische Raum besitzt nach Augusto Boal drei wichtige Eigenschaften: Er ist plastisch, dichotomisch und telemikroskopisch.18 Für Boal sind diese Eigenschaften ästhetische, das heißt an die Sinne gebundene.19 Durch die Ausdruckskraft der Darsteller_innen, durch die Bildhaftigkeit ihres Spiels, durch Bühnenbild und Requisiten werden – in unserem Fall – historische Situationen, lebensgeschichtliche Erfahrungen anschaulich, deutlich gemacht. Durch die Plastizität der Darstellung können sowohl bei den Spielenden als auch bei den Zuschauenden Erinnerungen, Imagi­ nation, Gefühle und Assoziationen freigesetzt werden.20 Dichtotomie meint, dass die Darsteller_innen auf der Bühne einerseits sie selbst und andererseits die Figur sind, die sie gerade verkörpern. Sie schaffen durch ihr Spiel einen Raum im Raum für sich und das Publikum.21 Auf der Bühne werden Dinge sichtbar, die in einer anderen Präsentationsform, wie z.B. in historischen Abhandlungen unserer Aufmerksamkeit entgehen. Die telemikroskopische Wirkung von Theater besteht darin, dass durch das Spiel der Darsteller_innen – durch Mimik, Gestik, Haltungen, Bewegungen, Stimme – Handlungen, Begebenheiten, Erinnerungen eine andere Dimension erhalten. Es ermöglicht einen anderen Blick auf historische Ereignisse und auf menschliches Handeln. Auf der Bühne kann nach Boal historisches Geschehen wie durch ein Mikroskop betrachtet, herangeholt, vergrößert und genau beobachtet werden.22

16 17 18 19 20 21 22

Vgl. A. Boal: Der Regenbogen der Wünsche, S. 30. Vgl. G. Koch: Theaterspiel als szenische Sozialforschung, S. 81. Vgl. A. Boal: Der Regenbogen der Wünsche, S. 30ff. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 32f. Vgl. ebd., S. 38.

Abb.2: Szenenausschnitt Albtraum, 2015

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THEATERPÄDAGOGIK: DER ÄSTHETISCHE RAUM ALS LERN- UND EXPERIMENTIERFELD Nach Felix Rellstab (1924–1999), einem bedeutenden Schweizer Theaterpädagogen an der Züricher Hochschule der Künste,23 ist die Theaterpädagogik in der Realität verwurzelt, macht diese zum Thema, versucht sie „nachvollziehbar, begreifbar zu machen und führt darüber hinaus in die Welt der Wünsche und Hoffnungen“24 . Mit diesem prägnanten Statement umschreibt Rellstab Inhalte, Wirkungsweisen und Ziele der Theaterpädagogik. „Theater, wie es der Theaterpädagoge versteht, will einen doppelten Sinn erfüllen: einen sozialen und einen künstlerischen. […] Theater­pädagogik will grundsätzlich emanzipatorisch wirken. Sie fordert und fördert den Menschen, der spielt, in seinem ganzheitlichen Erleben, in der kreativen Auseinandersetzung mit seinem Körper, seiner Stimme, seiner Sprache, seinen Gefühlen und seiner Sensibilität. Sie fördert in lustvollem Spiel Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein des einzelnen, mit dem Ziel, den andern offen als Partner, als Mitglied seiner Gemeinschaft zu erfahren.“25 In meiner Arbeit bewege ich mich also im Dialogfeld zwischen Kunst und Pädagogik. Der Begriff „Theaterpädagogik“ verweist einerseits auf das Theater als Kunstform und andererseits auf die Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin für organisierbare Lehr- und Lernprozesse.26 In theaterpädagogischen Kreisen wird immer wieder darüber diskutiert, ob in der Arbeit mit Laien mehr Augenmerk auf den Prozess und damit der Förderung von gestalterischen, personellen sowie sozialen Kompetenzen gelegt werden sollte oder ob auch das Produkt und dessen künstlerische Qualität entsprechende Beachtung finden müsse. Ich konnte während zahlreicher Projekte im Amateurtheaterbereich beobachten, dass Prozess und Produkt eng miteinander verknüpft sind: Je intensiver sich die Spielenden im Verlauf des Weges hin zu einem Stück mit all ihren Fähigkeiten einbringen und sich mit ihren Fragen, Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen auf das Thema des Stücks einlassen können, je mehr Gelegenheit ihnen geboten wird, verschiedenste theatrale Gestaltungsmittel zu erforschen, umso reichhaltiger in inhaltlicher und umso ästhetischer in inszenatorischer Hinsicht wird die Aufführung.

Der Erarbeitungsprozess: Beforschung eigener und fremder Biografien Wenn man die Erzählungen von Menschen, die Opfer von erbarmungslosen Erziehungsmethoden wurden, auf die Bühne bringen will, dann braucht es vor allem Respekt vor deren persönlichem Erleben. Um zu einer lebendigen Darstellung von fremden Biografien zu kommen, beforschten die Spieler_innen in szenischen Prozessen auch die eigenen Lebensläufe. Zunächst arbeiteten sie also autobiografisch, d.h. sie beschäftigten sich in theatralen Prozessen mit ihrer eigenen Erziehungs- und Schulbiografie, um sich dann mit denen der ehemaligen Heimkinder auseinanderzusetzen.

23 24 25 26

Vgl. F. Rellstab: Handbuch Theaterspielen. Theaterpädagogik, S. 319f. Ebd., S. 194. Ebd., S. 31. Vgl. H. Haun: Theaterpädagogik ist Dialog, S. 35f.

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Wir sahen uns die Videoaufzeichnungen der Interviews an und lasen die dazugehörigen Transkripte. Danach zeigten die Spieler_innen in Kleingruppen mit Standbildern, was sie gehört bzw. wie sie das Gehörte rezipiert hatten. Sie gingen den Fragen nach, welche Bilder, Gedanken, Gefühle, Assoziationen, Körperreaktionen die Erzählung bei ihnen ausgelöst hat, welche Worte, Sätze, Gesten, welcher Gesichtsausdruck, welche Körperhaltungen der interviewten Personen sich ihnen eingeprägt haben. Die Spieler_innen machten sich bewusst, auf welche Weise das Gesehene und Gehörte ihre Sinne erreicht hat, was in das Zentrum ihrer subjektiven Sinneswahrnehmung gerückt ist. Das ist Grundlage und Ausgangspunkt für den folgenden ästhetischen Gestaltungsprozess. Es entstanden über Körper, Stimme, Bewegung kleine Bilderreihen und kurze persönliche Texte der Gruppenmitglieder, die die Erzählungen der Betroffenen dokumentierten und kommentierten.

Theaterarbeit mit nachtACTiv Ich bezeichne die Theaterarbeit mit der Gruppe nachtACtiv als Volkstheater im Sinne von Augusto Boal: Es handelt sich hier um Theater mit Menschen aus dem Volk für Menschen aus dem Volk.27 Das hat allein schon mit dem Ort zu tun, an dem die Theater­g ruppe ihre Wurzeln hat, dem Abendgymnasium Innsbruck. Über die Hälfte der Spieler_innen und Musiker_innen meines 19-köpfigen Ensembles sind Absolvent_ innen der Schule bzw. waren Teilnehmende der unverbindlichen Übung Dar­stellendes Spiel, die zwischen 1984 und 2015 von Studierenden als kreatives Zusatzangebot zum regulären Fächerkanon besucht werden konnte. Da die Gruppe immer öfter auch an Bühnen außerhalb der Schule auftrat, beschlossen die Stamm-Spieler_innen, sich einen eigenen Namen zu geben: nachtACTiv. Er verweist auf die Verbundenheit der Theatergruppe mit dem Abendgymnasium, dem Ort, an dem ihre Amateur­theaterKarriere begann und drückt die enge Zusammenarbeit mit spectACT, dem Verein für politisches und soziales Theater, als neuer künstlerischer Heimat aus. Inzwischen finden sich in ihr auch Menschen, die an Theaterpädagogiklehr­ gängen von spectACT teilgenommen oder an verschiedenen Projekten des Vereins mitgearbeitet haben. Das Ensemble ist eine sehr bunte Truppe. Ihm gehören Menschen im Alter von 25 bis 75 aus verschiedenen Nationen, mit verschiedenen Muttersprachen, unterschiedlichem kulturellen, religiösen und sozialen Hintergründen an. Das gilt besonders auch für die Musiker_innen der Gruppe Alka, die für die Live-­Musik auf der Bühne zuständig waren. Theaterarbeit mit den Leuten aus unserer Schule war und ist insofern auch Volkstheater, weil sich hier für Menschen, die sonst keine Gelegenheit hätten, Theaterkurse zu besuchen, eine Bühne eröffnet. Gleichzeitig handelt es sich um Theaterarbeit, bei der sowohl der Weg hin zur Aufführung als auch die Aufführung selbst von den Spieler_innen wesentlich mitgestaltet, mitbestimmt, mitgetragen wird.

27 Vgl. A. Boal: Theater der Unterdrückten, S. 17.

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Die Theaterwerkstätten eröffnen also einen Lern- und ­Experimentierraum für die Teilnehmenden. Ziel der Theaterarbeit ist es, Emanzipations- bzw. Selbstermächtigungs­ prozesse der Spieler_innen aus verschiedensten Bevölkerungsschichten mit Methoden aus der Theaterpädagogik zu fördern. Ich lade die Spielenden u.a. ein, die Übungen als eine spezielle Form von Recherchearbeit anzusehen, bei der die Wahrnehmung des eigenen Erlebens im Mittelpunkt steht. Ich ermuntere sie, von ihren eigenen Erlebnissen in Übungen und Improvisationen auszugehen, sie als Bausteine für die Annäherung an ein Thema, ein Stück ernst zu nehmen und als Material für die Gestaltung von Figuren und Szenen zu nützen. Den eigenen Körper als lebendiges Instrument für das Sammeln von Erfahrungen zu begreifen, verändert die Haltung gegenüber dem persönlichen Erleben: Die meisten Menschen verlernen im Laufe ihrer Entwicklung auf ihre ureigensten Impulse zu achten, weil Interventionen von Erziehungsautoritäten sie davon abbringen. Das Eigene wird einem fremd und das Fremde zum Eigenen gemacht. Spielen bietet die Möglichkeit, verschüttete Fähigkeiten wiederzufinden und sie freizulegen. Ich bitte daher die Spielenden im Probenprozess immer wieder die Haltung von Forschenden einzunehmen, die neugierig sind und bereit, sich überraschen zu lassen, um Neues, Fremdes, Ungewöhnliches zu entdecken. Es gilt daher während der Übungen wach und konzentriert zu sein, um genau wahrnehmen zu können, wie sie wirken, welche Reaktionen sie in einem hervorrufen, seien es Bilder, Gedanken, Gefühle, Bewegungs- oder Handlungsimpulse. In der Reflexion nach einer Einheit steht die Frage im Mittelpunkt: Was konnte ich im Spiel, bei körperlicher, gestischer, mimischer Handlung und in der Interaktion über ein Thema, über die anderen und vor allem über mich selbst lernen. Theater ermöglicht Lernen über sich selbst, wenn man sich und anderen beim Spielen über die Schulter schaut. Ich sehe mich in der Arbeit mit meiner Gruppe ebenfalls als Forschende, als Suchende, als Lernende: Ich weiß nicht schon vom Anfang an, wohin uns einzelne Übungen führen, welchen Weg wir danach einschlagen werden. Ich gebe eine Anregung, eine Aufgabe und bin gespannt, was daraus entsteht, lass mich überraschen, mich vom vorgenommenen Weg abbringen, folge einer neuen Spur. So entsteht ein lebendiger Dialog: Ich gebe einen Impuls, die Spieler_innen nehmen ihn auf, spielen mit ihm, bearbeiten, verändern ihn im Spiel, geben ihrerseits Impulse, ich greife sie auf, verstärke, verkleinere, verdichte sie. Manchmal enden sie auch im Nirgendwo und oft führen sie uns zu magischen Theatermomenten. Wenn man mit Menschen unterschiedlichen Alters, aus verschiedenen sozialen Schichten und Kulturen in einer Gruppe arbeitet, geht es auch immer um die Frage, wie sie ein Ensemble werden können, in dem körperliche Berührung möglich ist und in dem niemand die anderen an die Wand spielt. In der Theaterwerkstatt geht es darum, einen Ort entstehen zu lassen, wo man lernt, auf sich und andere zu zählen, wo man ein feineres Hören und Sehen entwickelt, wo man neue Eindrücke auf sich zukommen und sich nicht von alten Mustern einschränken lässt, damit sich die Fantasie frei entfalten darf. Das ist befreiend!

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RESÜMEE Sieben Mal führte die Gruppe nachtACTiv das Stück im Herbst 2015 vor ausver­kauftem Haus im Brux – Freies Theater in Innsbruck und in der Alten Gerberei in St. Johann auf. Wegen des großen Interesses erfolgte im Herbst 2016 die Wiederaufnahme. Im Frühjahr 2017 gab die Gruppe nachtACTiv ein Gastspiel im Bregenzer Theater Kosmos. Auch Vertreter_innen von verschiedenen „Opfergruppen“ aus der Schweiz und aus Deutschland, wie beispielsweise der Regensburger Domspatzen, kamen nach Innsbruck und Bregenz, um das Stück zu sehen. Manche von ihnen saßen sogar zwei Mal im Publikum und wollten uns nach Bern bzw. Regensburg einladen. Aber Termine zu finden, an denen 20 Menschen – 17 Spieler_innen, 2 Musiker_innen und eine Spiel­leiterin – keine anderweitigen beruflichen und privaten Verpflichtungen haben, bedarf einer sehr sorgfältigen und langfristigen Planung. Und daher hat die Theater­ gruppe sich darauf geeinigt, mit den Auftritten in Bregenz das seit zwei Jahren laufende Projekt zu beschließen. Zufrieden damit, dass mit den Aufführungen an die 1000 Menschen erreicht werden konnten – unter ihnen zahlreiche Landes- und Stadtpolitiker_innen sowie Vertreter_innen von therapeutischen und sozialpädagogischen Einrichtungen. Zufrieden damit, dass wir elf der vierzehn ehemaligen Heimkinder, deren Erinnerungen auf die Bühne gebracht wurden, im Publikum begrüßen durften. Und vor allem zufrieden damit, dass die Bühnenfassung ihrer Erzählungen ihnen erfolgreich vermitteln konnte, dass endlich einmal jemand zuhört.

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Rellstab, Felix: Handbuch Theaterspielen. Theaterpädagogik (=reihe schau-spiel Band 10) Band 4, Wädenswil: Verlag Stutz Druck AG 2003. Schreiber, Horst: Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol, Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2010. Simhandl, Peter: Theatergeschichte in einem Band, Berlin: Henschel 2001.

WERKZEUGE FÜR DIE UNTERDRÜCKTEN – SCHUBARTS „­ VOLKSLIEDER“ UND TIROL UM 1800 Sandra Hupfauf

Musik kann als Werkzeug oder gar als Waffe benutzt werden, kann stabilisieren oder manipulieren. Konfuzius (ca. 551 v.Chr.–479 v.Chr.) war der Überzeugung, dass man den Aufstieg oder Niedergang eines Staates an dessen Musik ablesen könne. Um Menschen gut zu regieren, sei es also notwendig, über deren Zu- und Abneigungen zu wachen und sie durch Musik zu beeinflussen.1 Die Französische Revolution leitete 1789 in Europa einen Zeitenwechsel ein, der sich auch auf die Musik auswirkte: Sie wurde von einem Mittel der adeligen Macht­ demonstration zu einem öffentlichen Gut und einer gehandelten Ware. Zwischen 1796 und 1848 befand sich der Kontinent in permanenter Umgestaltung zwischen diversen Kriegen, Friedensschlüssen und Herrschaftswechsel. Hand in Hand mit dem Aufstieg des Bürger_innentums und der Neubewertung des Volkes entstand die Idee der Nation. Nationalmusik, bürgerliche Salonmusik und Konzertkultur, die Ent­ deckung (oder Erfindung) des Volkslieds und die technischen Errungenschaften im Musikdruck veränderten das Musikleben maßgeblich. Der Musikgeschmack wurde nicht mehr vom Adel diktiert, da Musik nun auch von der bürgerlichen Öffentlichkeit finanziert und konsumiert wurde. Politische Lieder – bisher weitgehend ein adeliges Werkzeug für Glorifikations- und Repräsentationsanlässe – wurden über Flugblätter verteilt und trugen zur Meinungsbildung bei. Als Vorbild diente das Volkslied. Im Bemühen, sich vom Adel abzugrenzen, idealisierten die bürgerlichen Aufklärer das Volk als Gegenentwurf zur dekadenten höfischen Gesellschaft. Im heutigen Deutschland stellte man sich nach den Napoleonischen Kriegen die grundsätzliche Frage, ob alle deutschsprachigen Regionen (also z.B. auch Tirol) zu einem Großstaat zusammengefasst werden sollten. Das beliebteste Lied in den deutschen Ländern war im 19. Jahrhundert Ernst Moritz Arndts (1769–1860) Was ist des Deutschen Vaterland? Es dreht sich genau um diese sogenannte „Deutsche Frage“2. Denkt man an Tirol um 1800, so bestimmt ein Name unser Bild: Andreas Hofer. Tatsächlich erlangte Tirol durch die Schlacht am Bergisel erstmals internationale Aufmerksamkeit. Andreas Hofer wurde dem Zeitgeist gemäß in den deutschen Ländern als deutscher Held gedeutet. Die Alpenländer wurden als der Sitz eines germanischen Urvolkes interpretiert und die Dichter der Befreiungskriege widmeten Hofer Gedichte und Heldenlieder, die durch ihre Verbreitung über Männergesangsvereine zur Entwicklung von Nationalbewusstsein und zur Identitätsbildung beitrugen. Deutsche 1 2

Vgl. W. Suppan: Historische Nachrichten, S. 35. M. Noa: Volkstümlichkeit und Nationbuilding, S. 280.

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Studenten im Umfeld der Urburschenschaft in Jena taten ihre Solidarität mit den „deutschen“ Tirolern sogar durch das Jodeln oder „tyrolisieren“ kund.3 Noch heute zeigt die Tiroler Landeshymne „Zu Mantua in Banden“ diese Instrumentalisierung. 4

POLITISCHE LIEDER IN TIROL Tatsächliche – also funktionelle – politische Lieder sind meist Werkzeuge und keine Kunstwerke. Die einfachste und schnellste Methode, ein Lied zu produzieren, das auch funktioniert, ist das Kontrafakturverfahren: Auf eine beliebte Melodie wird ein neuer Text gedichtet. Diese Umdichtung kann spontan am Wirtshaustisch erfolgen oder durch den Beamten am Schreibtisch. In Bezug auf Tirol sind viele Flugschriften mit Propaganda-Volksliedern erhalten, die von Beauftragten der gerade aktiven Regierung verfasst wurden, um dem Volk eine spezielle politische Sichtweise näherzubringen. Auch die heute bekanntesten Lieder aus der Zeit der Freiheitskämpfe in Tirol, das Spingeser Schlachtlied und Ach Himml es ist verspielt sind nach diesem Verfahren hergestellt. Man findet meist Verweise auf die Melodie im Titel des Flugblattlieds, wie etwa: „gesungen in der Melodie von…“ etc. Diese Melodieangaben haben einen hohen Informationswert. Sie zeigen uns an, welche Lieder um 1800 in Tirol allgemein bekannt waren und gerne gesungen wurden. Auffallend ist, dass im gesamten deutsch­sprachigen Raum (auch in Tirol) einige wenige Lieder besonders oft als Melodievorlage auftauchen, so etwa Johann Martin Usteris (1763–1827) Freut euch des Lebens, die Marseillaise, das Rheinweinlied von Matthias Claudius (1740–1825) und: Christian Friedrich Daniel Schubarts Kaplied.5 Das Kaplied nimmt einen Sonderstatus ein, da es „das wahrscheinlich am meisten parodierte deutsche Lied der nachrevolutionären Epoche in Deutschland“6 war.

3

4 5 6

In Jena wurde im Jahr 1813 laut Robert und Richard Keil aus Solidarität mit den Tiroler_innen und zum Unmut der französischen Besatzer und des Universitätssenats gejodelt bzw. „tyrolisiert“: „Wo, wie damals in Jena, 7-800 lebensfrohe Jünglinge auf engen Raum zusammengedrängt, sich tummelten, da konnte es an mancherlei Ausbrüchen jugendlichen Uebermuthes und burschikoser Fröhlichkeit nicht fehlen, die sich oft in lautem Singen, Jubeln und Jodeln auf den Straßen, in allerlei Tollheiten und genialen Schelmstücken […], in lautem Rufen zu den Fenstern Befreundeter hinauf oder quer über den Markt […] kund gab. Voran standen unter diesen Feinden der Schwermuth und Muckerei die Jodler, welche vorzüglich der Thüringer Wald erzeugt. Wie oft haben sie, wenn ihr Weg sie Abends durch die Straßen und über den Markt führte, mein Herz durch ihre wundervollen Stimmen und ihre Fertigkeit im Jodeln entzückt! – Emil Schwarzens, des einst eingesperrten Demagogen, Stimmritze war vor zwei Jahren noch nicht zugewachsen! Vor 1813 aber mußte der Senat dieses unschuldige Vergnügen fröhlicher Burschen bei dreitägiger, d. h. vom Sonnabend Abend 8 Uhr bis Montag Morgen 6 uhr dauernder Carcerstrave – expertae miserae mihi credite vulpeculae! – verbieten, denn die Franzosen sahen indem Tyrolisiren von wegen 1809 einen Freiheitsruf und bewachten Jena durch ihre geheime Polizei von Erfurt aus mit Argusaugen. Der desfallsige von Eichstädt verfaßte Erlaß des Senates nennt diese Singweise: in modum Tirolinensum ululare.“ Vgl. R. Keil/R.Keil: Die burschenschaftlichen Wartburgfeste, S. 64; S. Hupfauf/S. Erber: Liedgeschichten, S. 331. Vgl. ebd., S. 325–347. Vgl. E. Trösch: Die helvetische Revolution, S. 117. H. Schneider: Revolutionäre Lieder, S. 294.

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Abb.: Zuruf eines gedienten königlich baierischen Grenadiers an seine neuangeworbenen Tiroler-Kameraden. Nach der Melodie: Auf, auf ihr Brüder und seyd stark!, 1810

Obwohl Schubart gänzlich andere politische Ansichten vertrat als die meisten Tiroler_innen (davon später mehr), war er in Tirol offensichtlich präsent. Auch der Tiroler Komponist Johann Baptist Gänsbacher (1778–1844) beschäftigte sich mit ­Schubart-Texten. Er komponierte die Lieder Vom sterbenden Patriot und An mein Klavier. Auch beim Komponisten Joseph Abenthung (1779–1869) ist eine Inspiration durch Schubart zu vermuten, so erinnert das Incipit seines Kampflieds mit „Auf! auf! nur auf! Tyroler auf!“ stark an den Eingangsruf „Auf! auf!“ in Schubarts Kaplied. Die bereits erwähnten Beamten-Propagandalieder arbeiten mit Schubart-Liedern, mit

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dem Kaplied etwa das Soldatenlied „He, Wirth, schenk uns die Flasche voll!, Zuruf eines gedienten königl. baierischen Grenadiers an seine neugeworbenen TyrolerKame­raden“7 oder „Zum Kampf’, ihr Helden!, Aufruf an die treuen vaterländischen Krieger, bei ihrem Kampfe gegen die Rebellen in Tirol und Vorarlberg“8.

SCHUBART: DICHTER, DENKER UND LIEDERMACHER Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) war „im strengen Sinne weder ein Dichter noch ein Komponist“. Er improvisierte hervorragend auf dem Clavichord und war ein einnehmender Rezitator seiner eigenen Lieder. Das Niederschreiben seiner Werke überließ er gerne anderen. Viele Lieder sind in einer Vielfalt von Fassungen erhalten, oft bis heute ist seine Autorenschaft für manche fragwürdig oder sie sind „wie zum Beweis ihrer vom Autor selbst erhofften populären Qualität – in den anonymisierten Volksliedschatz eingegangen“9. Sie waren also zweifellos beliebt und weit verbreitet, dennoch wurde und wird Schubarts Liedschaffen von der Musikwissenschaft oft als wenig herausragend beurteilt.10 Zu diesem Eindruck tragen die als problematisch zu beurteilende Quellenlage sowie stilistische Uneinheitlichkeit erheblich bei.11 Auch wurde Schubart lange angekreidet, dass er sich zu sehr an den Ausdrucksformen der Unterschicht orientierte und z.B. inhaltliche Zweideutigkeiten nicht scheute. Seine Volkslieder waren aus Sicht der künstlerischen Elite zu nahe am „Pöbel“ und zu fern vom idealen Volk.12 Schubart war nicht nur Musiker und eine der prägendsten Stimmen des Sturm und Drang, er war höchstwahrscheinlich auch der wichtigste deutsche Gesellschaftskritiker seiner Zeit. Als Journalist erreichte er mit seiner Deutschen Chronik die breite Masse, ein Zeitgenosse 1783 berichtete etwa: „Leute in Schwaben, Bayern, Tyrol, am Rhein, u.s.w., die nie weder Bücher noch Zeitungen gelesen hatten, lasen seine deutsche Chronik, ja verschlungen sie, lernten sie auswendig, und machten sich die darinn […] enthaltenen Grundsätze zu eigen. Da er den Patriotismus unaufhörlich predigte, ihn durch allerhand Beyspiele einflößte, und in Versen besang, so fieng diese bey den Deutschen so seltene Tugend eben an, in diesen Ländern Wurzel zu fassen […].“13 In seiner Zeitschrift kämpfte Schubart mit beißendem Spott gegen despotische Herrscher und den Machtmissbrauch durch die Kirche. Einer seiner erklärten Lieblingsfeinde war neben dem katholischen Vorarlberger Wunderheiler Johann Joseph 7 8 9 10

R. F. Arnold/K. Wagner: Achtzehnhundertneun, S. 422–424. Flugblatt, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Signatur: FB 1383/92. H. Hinrichsen: Schubart, Spalten 66–70. „Though exhibiting a strong melodic gift, his songs are frequently marred by awkward harmonic progressions and inept part-writing.“ Vgl. D. Ossenkop; https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630. article.25105 11 H. Schick: Schubart und seine Lieder, S. XXVII. 12 Wer an Schubarts Lieder einen strengen und feinen ästhetischen Maßstab legt, der wird schwerlich ein günstige Verhältnis zu dem Dichter Schubart gewinnen. Seine künstlerischen Unarten sind manchmal arg: „Wenn Wollust, die Schlange, so lieblich gefleckt, Sich unter den Blumen des Frühlings versteckt, Und eh’ sie sich rüstet zum tödlichen Stich, O himmlische Göttin, so warne du mich.“ Vgl. O. F. Walzel: Christian Friedrich Daniel Schubart, S. 1. 13 Zit.n. H. Schick: Schubart und seine Lieder, S. XX.

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Gassner (1727–1779) der württembergische Herzog Carl Eugen (1728–1793). Dieser ließ Schubart schließlich durch eine List auf sein Herrschaftsgebiet locken und sperrte ihn zehn Jahre lang im Kerker ein, wo er neben Einzelhaft auch eine intensive religiöse „Umerziehung“ über sich ergehen lassen musste.14 Nach zehn Jahren kam ­Schubart 1787 frei, starb aber wenig später an den gesundheitlichen und wohl auch psychischen Folgen seiner langen Haft.

DAS KAPLIED Schubarts Kaplied entstand während seiner Haft im Jahr 1787 und ist ein auf Tat­ sachen beruhendes Protestlied. Der geschichtliche Hintergrund des Lieds ist eine Geldbeschaffungsmaßnahme von Herzog Carl Eugen, der ein Regiment von 3200 Soldaten an die Niederländisch-Ostindische Kompanie zur Abwehr britischer Angriffe in Südafrika verkauft hatte. Den damals durchaus üblichen Soldatenhandel hatte ­Schubart schon in seiner Deutschen Chronik von 1776 angeprangert.15 Über den konkreten Anlass, der ihn zu seinem Kaplied inspiriert hatte, schrieb Schubart: „Künftigen Montag geht das aufs Vorgebirg der guten Hoffnung bestimmte württembergische Regiment ab. Der Abzug wird einem Leichenkondukte gleichen, denn Eltern, Ehemänner, Liebhaber, Geschwister, Freunde verlieren ihre Söhne, Weiber, Liebchen, Brüder, Freunde – wahrscheinlich auf immer. Ich hab ein paar Klage­lieder auf diese Gelegenheit verfertigt, um Trost und Mut in manches zagende Herz auszugießen. Der Zwek [sic!] der Dichtkunst ist, nicht mit Geniezügen zu prahlen, sondern ihre himmlische Kraft zum Besten der Menschheit zu gebrauchen.“16

14 Tatsächlich war es ihm seiner Haft am Hohenasperg (1777–1787) manchmal erlaubt, mit den dort stationierten Soldaten kleine Singspiele einzustudieren. Dies kam dem Anliegen des Kommandanten entgegen, um die Soldaten in deren Freizeit zu beschäftigen. Einer beschrieb diese Belustigungen und zeichnete mehrere der meist lustigen „Schelmen-Lieder“ auf, die Schubart dichtete und gleichzeitig auch komponierte: „So sangen und tranken wir mit Schubart, und wenn wir tanzten und er eine kleine Weile seine durstige Kehle feiern lassen wollte, nahm er dem ersten, besten Musiker die Geige weg. Und spielte uns lustige Tänze auf.“ Vgl. G. Diezel: Leben und Abenteuer des Joh. Steininger, S. 44. Unter den beigelegten Liedern findet sich etwa das Schumacherlied, aus „einem von Schubart gedichteten und von ihm mit seiner Theater­ gesellschaft auf der Festung aufgeführten komischen Lustspiel“. Das Soldatenlied mit dem Incipit „O wunderbares Glück“ wurde „von Schubart mit zwei Studenten, die Herzog Carl ohne Weiteres ausheben ließ“ gedichtet. Es findet sich im Zupfgeigenhansel, dem Liederbuch der Wandervogelbewegung und wurde so im 20. Jahrhundert noch weitertradiert. 15 „Hier ist eine Probe der neuesten Menschenschatzung! Der Landgraf von Hessen-Kassel bekommt jährlich 450 000 Taler für seine 12 000 tapfere Hessen, die größtenteils in Amerika ihr Grab finden werden. Der Herzog von Braunschweig erhält 56 000 Taler für 3964 Mann Fußvolks und 360 Mann leichter Reuterei, wovon ohnfehlbar sehr wenige ihr Vaterland sehen werden. Der Erbprinz von Hessen-Kassel gibt ebenfalls ein Regiment Fußvolk ab, um den Preis von 25 000 Taler. 20 000 Hannoveraner sind bekanntlich schon nach Amerika bestimmt und 3 000 Mecklenburger für 50 000 Taler auch. Nun sagt man, der Kurfürst von Bayern werde ebenfalls 4 000 Mann in englischen Sold geben. Ein furchtbarer Text zum Predigen für Patrioten, denen’s Herz pocht, wenn Mitbürger das Schicksal der Negersklaven haben und als Schlachtopfer in fremde Welten verschickt werden.“ Zit.n. U. Wertheim/H. Böhm: Schubarts Werke, S. 72f. 16 W. Pape: Der König erklärt das ganze Volk adlig, S. 539.

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In seinem als Abschiedslied getarnten sozial- und obrigkeitskritischen „Klagelied“ beschwört Schubart in aufmunterndem Ton die Kameradschaft; Melodie und Rhythmus wirken heiter und antreibend. Seine schnelle Verbreitung verdankte das Kaplied wohl dem Mildheimischen Liederbuch17 von Rudolph Zacharias Becker (1752–1822). Es ist als ein Schlüsselwerk zu sehen, das ca. fünfzig Jahre lang rezipiert wurde und stilbildend auf viele folgende Sammlungen einwirkte. Es war ein Spiegelbild der propagierten zeitgenössischen Werte rund um „Religiosität, Sittlichkeit und Loyalität gegenüber den Obrigkeiten […] Fleiß und Demut“18. Auf, auf! Ihr Brüder und seyd stark, Der Abschieds-Tag ist da. Schwer liegt er auf der Seele, schwer! Wir sollen über Land und Meer Ins heiße Afrika. Ein dichter Kreis von Lieben steht, Ihr Brüder um uns her; Uns knüpft so manches theure Band An unser deutsches Vaterland, Drum fällt der Abschied schwer. Dem bieten graue Eltern noch Zum letztenmal die Hand; Den kosen Bruder, Schwester, Freund; Und alles schweigt, und alles weint, Todtblass von uns gewandt. Und wie ein Geist schlingt um den Hals Das Liebchen sich herum: Willst mich verlassen, liebes Herz Auf ewig? Und der bittre Schmerz Macht’s arme Liebchen stumm. Ist hart – drum wirble du Tambour, Den Generalmarsch drein. Der Abschied macht uns sonst zu weich, Wir weinten kleinen Kindern gleich – Es muß geschieden seyn. Lebt wohl, ihr Freunde, sehn wir uns Vielleicht zum letztenmal; So denkt, nicht für die kurze Zeit, Freundschaft ist für die Ewigkeit,

17 1801 ist es hier mit dem Vermerk gedruckt: „*) Dieses Lied ist von Wirtembergischen [sic!] Soldaten gesungen worden, die an die Holländer verkauft waren, und auf das Vorgebirge der guten Hoffnung geschickt wurden; welches nun in ganz Deutschland wohl nicht mehr geschehen wird.“ R. Becker: Zacharias, S. 320. 18 M. Fischer: Volksaufklärung, S. 20.

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Und Gott ist überall. An Deutschlands Gränze füllen wir Mit Erde unsre Hand, Und küssen sie – das sey der Dank, für deine Pflege, Speis und Trank, Du liebes Vaterland! Wenn dann die Meereswoge sich An unsern Schiffen bricht: So segeln wir gelassen fort; Denn Gott ist hier und Gott ist dort, Und der verläßt uns nicht! Und ha, wenn sich hoch der Tafelberg Aus blauen Düften hebt: So strecken wir empor die Hand, und jauchzen Land! Ihr Brüder, Land! Daß unser Schiff erbebt. Und wenn Soldat und Offizier Gesund ans Ufer springt, Dann jubeln wir, ihr Brüder, ha! Nun sind wir ja in Afrika. Und alles dankt und singt. Wir leben drauf in fernem Land Als Deutsche brav und gut. Und sagen soll man weit und breit, Die Deutschen sind doch brave Leut Sie haben Geist und Muth. Und trinken auf dem Hoffnungskap wir feinen Götterwein; So denken wir, von Sehnsucht weich, Ihr fernen Freunde, dann an Euch, und Thränen fließen drein.19 Knapp dreißig Jahre nach seiner Entstehung wurde das Kaplied bereits als „Volksgut“ von Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) in deren richtungsweisende Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808) aufgenommen.20 Diese wollten einen romantischen Gegenpol zu Beckers Liedersammlung setzen und nicht nur das Volk bilden, sondern durch die Abbildung der „gemeinsamen Traditionen der deutschen Stämme“ die (deutsche) Nation.21 Arnim beschrieb das Kaplied in einem Brief an den deutschen Komponisten und Musikkritiker Johann Friedrich Reichardt (1752– 1814) als seine erste Inspiration, um sich überhaupt mit dem Volkslied zu beschäftigen:

19 L. Schubart: Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte, S. 367–370. 20 Vgl. M. Blümcke: Ein Journalist, länger in Haft als in Freiheit, S. 227–234. 21 Vgl. M. Noa: Volkstümlichkeit, S. 169, S. 189.

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„Wo ich zuerst die volle, thateneigene Gewalt und den Sinn des Volksliedes vernahm, das war auf dem Lande. In warmer Sommernacht weckte mich ein buntes Geschrey. Da sah ich aus meinem Fenster durch die Bäume, Hofgesinde und Dorfleute, wie sie einander zusangen: Auf, auf ihr Brüder und seyd stark! Der Abschiedstag ist da, Wir ziehen über Land und Meer Ins heisse Afrika.“22

SCHUBART UND DIE BAYRISCHEN „LANDLIEDEL“ Schubart hatte mit dem Kaplied nicht zufällig den „Volkston“ getroffen. Seit jeher gesellig und trinkfest mit Hang zum Exzess, waren die einfachen Wirtshäuser, in denen musiziert, getanzt und gezecht wurde, sein Zuhause. Als er 1773 nach München zog, weil er sich dort eine Stellung erhoffte, entdeckte er den „eignen musikalischen Nazionalgeist der Baiern“: „Man kann nichts lieblicheres, nichts herzerfreuenders hören, als ihre Liedels, wie sie’s nennen, die gemeinigleich von Schnurranten allenthalben herumgeleiert werden. Ihre Weibsleute haben meist sehr angenehme Stimmen, und eine eigene, ungemein reizende Manier. Ich habe mir einige von ihren Liedels – der Text ist mehrentheils erbärmlich, sonderlich wenn er nicht komisch ist – gemerkt, und mußte sie hernach hundert und tausendmal in allen Gesellschaften singen und spiellen.“23 Die „Liedels“ gefielen Schubart und als Grenzgänger zwischen den Ständen begann er, sie vor „allen Gesellschaften“ nachzusingen. Während seine Zeitgenossen zwar das Volkslied propagierten, eigentlich aber meist auf die musikalischen Ausdrucksformen des Volks herabschauten und sie umschrieben und verbesserten, interessierte Schubart die reale Musik der bäuerlichen Schicht. Neben vielen anderen Denkern wie Hegel und Hanslick war auch Schubart davon überzeugt, dass die „deutsche Musik“ die „universale“ Musik wäre, besonders, weil sie die Volksmusik absorbiert hätte.24 Er schreibt: „In Bayern lallt und singt alles. Wer kann was Schöneres hören, als ein Bayerisch Landliedel? So original und holdselig zugleich, so melodisch, so unterhaltend und sonderlich so launisch, ja oft pudelnärrisch, hat kein Volk der Welt Landlieder aufzuweisen.“25 Oder auch: „Alles singt und klingt unter ihnen, und selbst ihre so verschriene rauhe Sprache wird im Munde eines Bayerschen Mädchens, wenn sie ein Volkslied singt, sonor und lieblich. Besonders zeichnet sich der Bayersche Gesang durch den ungewöhnlich schnellen Gebrauch der Zunge aus, da sie im Stande sind, jede Note des geflügeltsten Läufers mit einer Sylbe zu belegen, das Drollige, Burleske, Niedrigkomisch – drückt keine Nation besser aus, als der Bayer und Salzburger.“ Und an anderer Stelle: „Der Geist der Salzburger ist äußerst zum Niedrigkomischen gestimmt. Ihre Volkslieder sind so drollig und burlesk, daß man sie 22 23 24 25

A. von Arnim/C. Brentano: Des Knaben Wunderhorn, o.S. C. Schubart: Leben und Gesinnungen, S. 99f. Vgl. M. Gelbart: The Invention of Folk Music and Art Music, S. 201ff. L. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 75.

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ohne herzerschütternde Lache nicht anhören kann. Der Hanswurstgeist blickt allenthalben durch, und die Melodien sind meist vortrefflich und unnachahmlich schön.“26 Die „Landliedel“ waren für Schubart aber mehr als nur schlichtes Vergnügen, ihm war bereits die mögliche Vorbildwirkung „der Urlaute unsers Volkes“ klar, die der Komponist nachahmen und veredeln könnte, um „alle deutsche Nerven dröhnen“ zu lassen: „Solche Bemerkungen haben mich überzeugt, daß, so wie wir noch keinen Dichter haben, der die ganze deutsche Nazion so allgewaltig gepakt [sic] hätte, wie Homer die Griechen, es uns auch an einem Tonkünstler fehle, der alle Menschen, Thiere, Bäume und Steine unsers Vaterlandes, wie Orfeus tanzen mache. Unsere welsch-französisch-deutsche Musik wird diß Wunder eben so wenig wirken, als unsre poetischen Ananasgewächse, die zwar für jeden Gaumen etwas habe, das ihn kützelt, aber zu kostbar und zu fremd sind, als daß sie deutsche Hausmannskost werden könnten. Hin, Tonkünstler und Dichter, nach Böhmen, Oestreich, Baiern, Sachsen, Schwaben! – Hin an alle deutsche Ströme, und belausche die Urlaute unsers Volks, wie sie mit Lied und Sang aus dem Herzen Quellen – ahme sie nach, veredle sie, und du wirst alle deutsche Nerven dröhnen, alle Herzen hüpfen, alle Augen glühen und alle Glieder beben machen!“27

HANDWERKSBURSCHEN UND BAUERNMÄDEL Schubart analysierte die Sing-Gewohnheiten der Handwerksburschen und Bauern­ mädel genau: Er warnt vor „Nachäffungen“ und „verziertem Gesange“, denn „[d]er Handwerksbursche, der Bauer, das gemeine Mädchen finden keinen Geschmack am verzierten Gesange, sie wollen Naturlaute hören. Man studiere also unsere herrlichen Volksmelodien, deren Wirkungen sich schon über mehr als ein Jahrhundert verbreitet haben; dann erst wird man ein Lied setzen, das unser Volk aufnimmt.“28 „Die deutschen Volkslieder […] wählen höchst selten den Mollton: dadurch geben sie sich ein ungemein liebliches, natürliches, und helles Ansehen. Unsere Landleute und Handwerksburschen haben diese Melodien beinahe unverändert beybehalten.“29 Neben Einfachheit und Durtonarten ist Schubart noch die Deutlichkeit wichtig: „[D]ie zweyte Eigenschaft des guten musikalischen Vortrages ist: Deutlichkeit. Was man nicht versteht, das wirkt nicht auf’s Herz. […] Man singe nur ein gutes Volkslied deutlich und verständlich, und sieh da! Alle Augen werden sich weiten, alle Ohren lauschen, alle Herzen sich öffnen.“30 Oder an anderer Stelle: „Ein schönsingendes Bauernmädchen rührt mehr, als der erste Violinist der Welt“31. Schließlich: In den Volksliedern „zeigt sich der musikalische Nationalcharakter unsers Volks. Höchste Einfalt, kunstlose und herzerhebende Melodie empfehlen das damalige Volkslied.“32

26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 121, S. 158. L. Schubart: C. F. D. Schubart’s, des Patrioten, S. 189. L. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 354f. Ebd., S. 70. Ebd., S. 373. Ebd., S. 335. Ebd., S. 70.

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FAZIT Das Volkslied wurde als gesellschaftspolitisches Medium entworfen: ein Lied, das das Volk singen soll.33 Johann Gottfried Herder (1744–1803) prägte zwar den Begriff „Volkslied“, sein humanistisch-kosmopolitisches Konzept rund um die Kultur­nation34 arbeitete aber fast ausschließlich mit Poesie und er äußerte sich bezüglich Musik nur sehr vage. Neben Johann Friedrich Reichardt war es Christian Friedrich Daniel Schubart, der den frühen Volkslied-Begriff mit Musik füllte.35 Schubart analysierte das tatsächlich vom Volk gesungene Repertoire und entdeckte Einfachheit, Durtonarten und Deutlichkeit. Als Denker erwog er das „Landliedel“ als Werkzeug der nationalen Einigung Deutschlands und hob damit das deutsche Lied ebenso wie seine Zeit­ genossen Arnim und Brentano auf eine höhere, nationale Ebene. Schubart reiht sich aber nicht unter jenen ein, die ausschließlich „von oben“ auf den Volksgeist einwirken wollten, um das ideale Volk herbeizuschreiben und die „Nation“ zu festigen. Er schrieb das Kaplied „zum Besten der Menschheit“36 und stellte zwischen den Zeilen Fürstenwillkür und despotischen Absolutismus an den Pranger. Er traf als praktischer Musiker den Volkston, weil er auf Augenhöhe mit „Handwerksburschen“ und „Bauernmädchen“ musizierte. Das macht ihn zu einem politischen „Lieder­macher“37 des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sogar im obrigkeitstreuen, tiefkatholischen Tirol gehörten seine Melodien um 1800 zu den Bekanntesten und Beliebtesten.

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33 34 35 36 37

Vgl. M. Noa: Volkstümlichkeit und Nationbuilding, S. 155. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. M. Gelbart: The Invention of Folk Music and Art Music, S. 201ff. W. Pape: Der König erklärt das ganze Volk adlig, S. 539. „Der Natur seines Schaffens und seiner Persönlichkeit ist Schubart jedenfalls einem ‚Liedermacher‘ unserer Zeit viel eher vergleichbar als einem Komponisten wie Joseph Haydn, und seine Lieder wurden auch nicht eigentlich als Kompositionen rezipiert, sondern als Volkslieder, deren Autor kaum interessierte.“ H. Schick: Schubart und seine Lieder, S. XV.

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Sandra Hupfauf

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MUSIK ALS TRÄGERIN IDEOLOGISCHER UND ­GESELLSCHAFTSKRITISCHER INHALTE IN DEN POLITISCHEN ­„BEWEGUNGEN“ DES 20. JAHRHUNDERTS Kurt Drexel

„Hey! Think the time is right for a palace revolution Cause where I live the game to play is compromise solution Well, then what can a poor boy do Except to sing for a rock n’ roll band Cause in sleepy London town There’s just no place for a street fighting man.“ Rolling Stones1

Diese Zeilen aus dem Stones-Song Street Fighting Man stammen aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Sie scheinen die Stimmung in London zu reflektieren, die angesichts der weltweiten Proteste und Revolten aufkam.2 Heute steht diese Musik, vor allem durch ihre häufige Verwendung im Film, als Emblem für die gewalt­bereite Auflehnung im Zusammenhang mit den jugendlich dominierten Straßenprotesten der so genannten 68er. Soziale Bewegungen sind allgegenwärtig und seit den 1960er-Jahren zunehmend im Fokus sozialwissenschaftlichen Interesses. Zudem hat sich das Phänomen seither in eine Vielzahl von Aktivitäten in die Breite entwickelt: von der Frauenbewegung bis zur Friedensbewegung, von Pegida-Aufmärschen zu Reformbewegungen aller Art, vom Urban Gardening bis hin zur Anti-Atomkraft-Bewegung und zu vernetzten Aktionen für Menschenrechte. Trotz der offensichtlichen Bedeutung sozialer Bewegungen wissen wir aber nur wenig über ihre zugrundeliegenden Gemeinsamkeiten. Was genau führt überhaupt zu Protesten auf der Straße, welche spezifischen Formen sozialer Kundgebung, sozialen Widerstands finden dort statt? Unter welchen Voraussetzungen sind solche Aktionen erfolgreich und wann scheitern sie? Wie wandeln sich die Positionen von politischen Organisationen in diesem Zusammenhang? Welches Engagement schafft eine demokratische Kultur, welches fördert Diskriminierung? Was ist in diesen Zusammenhängen die Rolle der Musik? Im Fokus des Begriffs „soziale Bewegung“ steht in den Sozialwissenschaften ein soziales System bzw. ein „kollektiver Akteur“. Dieser (bzw. dieses) versucht beispielsweise, 1 2

Joe Tufano: Street Fighting Man – Rolling Stones; https://www.youtube.com/watch?v=jFvtMp7hRF8 vom 29.05.2011. P. Margotin/J.-M. Guesdon: Rolling Stones. Die Geschichten hinter den Tracks, S. 266.

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einen Wandlungsprozess in der Gesellschaft zu beschleunigen, zu verhindern oder umzukehren. Innerhalb der Bewegungsforschung in den Sozialwissenschaften ist es der sogenannte Framing-Ansatz, der sich vor allem auf Deutungs- und Überzeugungsanstrengungen von Bewegungen konzentriert hat und dadurch im hier gegebenen Zusammenhang besonders interessante Perspektiven aufweist.3 Der Kerngedanke des Framing-Ansatzes ist, dass soziale Probleme nicht objektive Gegebenheiten widerspiegeln, sondern dass Konfliktfelder erst als solche definiert werden müssen. Dies gelingt, indem das Problem in einen bestimmten Bedeutungsrahmen bzw. in einen Sinnzusammenhang gestellt wird, der eine spezifische Interpretation ermöglicht. Für soziale Bewegungen bedeutet dies, dass Protestthemen erst als Probleme konstruiert und in einen Deutungsrahmen eingebettet werden müssen, um soziale Resonanz erzeugen zu können und um die Bewegung selbst zu mobilisieren. Da die Konstruktion eines Bedeutungsrahmens immer ein selektiver Prozess ist, geht es dann auch darum, dass die soziale Bewegung im öffentlichen Raum gegenüber anderen Akteur_innen eine Deutungshoheit bei der Konstruktion eines Bedeutungsrahmens gewinnen muss. Darüber hinaus versucht der Framing-Ansatz auch häufig aufzuzeigen, welche „sozialen Mechanismen“ (z.B. in den Massenmedien) bedient werden müssen, damit einem Protestthema die nötige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dabei enthält jeder Frame folgende drei Spezialframes:4 Im diagnostic frame wird die Problemkonstruktion angeboten, im prognostic frame erfolgt das Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten, während der dritte Bereich im so genannten motivational frame die Motivation zu Engagement und Mobilisierungsbereitschaft umfasst. Es ist freilich offensichtlich, dass die Musik gerade im letztgenannten Frame eine besondere Bedeutung einnimmt.5 Die Musik als Trägerin politischer Inhalte ist bereits in vielen Publikationen abgehandelt worden. Jeder Versuch, beispielsweise die wichtigsten Entwicklungs­linien des Ineinanderwirkens von Musik und Politik im Europa des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, impliziert die Frage, nach welchen Kriterien sich eine Auswahl aus dem schwer überschaubaren Gesamtbestand an Daten und Fakten treffen lässt. Eine solche Auswahl muss jedenfalls angesichts des Umstands, dass der darzustellende Gegenstand in nicht geringem Maße in die Gegenwart hereinwirkt und sich schon dadurch den meisten historisierenden Ansätzen weitgehend entzieht, subjektiv bleiben. Deswegen und in Anbetracht des hier einzuhaltenden Rahmens wähle ich die Form eines kursorischen Überblicks, in dem exemplarisch vor allem Themen­bereiche angesprochen werden, deren ideologischer Hintergrund in besonders vielen gedruckten Publikationen bis zur Mitte des Jahrhunderts ihren Niederschlag fand. Diese Beschränkung birgt zwar einerseits die Gefahr der verkürzten Geschichts­darstellung, andererseits ist jedoch der Aspekt der Ideologisierung der Musik deutlicher beleuchtet. Ebenfalls durch den hier gegebenen Rahmen bedingt ist die weitestgehende Beschränkung des Fokus auf den geografischen Raum Europa.

3 4 5

Vgl. K. Hellmann: Paradigmen der Bewegungsforschung, S. 20. Ebd., S. 20f. Die folgenden Ausführungen sind eine aktualisierte und ergänzte Version meiner Reflexionen zu dieser Thematik. Vgl. dazu K. Drexel: Musik und Politik.

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Das wechselseitige Ineinanderwirken von Musik und Politik im Europa des 20. Jahrhunderts zeigt – nicht anders als in den Jahrhunderten zuvor – ein schier unüberschaubares Netz an Verflechtungen. Wer sich zu dieser Thematik im Netz und anhand der gedruckten Literatur informieren will, stößt zunächst auf ein Ungleichgewicht zwischen einer großen Anzahl von Spezialstudien und wenigen fundierten Arbeiten, die eine Zusammenschau des Forschungsstands anstreben. Allgemeine Musikgeschichten des 20. und 21. Jahrhunderts streifen die Thematik meist nur oberflächlich und/oder zeigen sich – vor allem in der Mitte des Jahrhunderts – oft selbst ideologisch stark kontaminiert. Zu letzteren gehören solche aus Osteuropa, die – obschon einseitig ideologisch geprägt – dem Sujet immerhin mehr Raum widmen. Häufig sind die politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts geprägt durch Abwehrhaltungen. Diese können sowohl gegen das als fremd Empfundene, als auch gegen etwas als überkommen Erachtetes gerichtet sein. Nicht selten wendet sich eine „Jugend“ gegen die „Welt“, die als bedrohlich, unmenschlich oder auch schlichtweg als „unnatürlich“ erfahren wird. Zu Ende des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen, die eine Krise der westlich-abendländischen Musiktradition konstatierten und einen Endpunkt am Horizont der Kunstmusik voraussagten. Nicht-funktionale Harmonik, Tendenzen gegen die traditionelle Tonalität, „Antiromantik“6 und etwas später die in weiten Teilen der städtischen Jugend aufkeimende Freude an afroamerikanischen Musikrichtungen wurden in den 1920er-Jahren häufig als Bruch mit dem geistig-musikalischen Erbe und als Abkehr von der Tradition hin zur Entwurzelung, Entfremdung oder „Ent­ artung“ gedeutet. Gegen die als Schwächung der traditionellen Werte empfundenen Neuerungen traten um die Jahrhundertwende verschiedene „Bewegungen“ an, deren gemeinsames Merkmal das Suchen nach einem Ausweg aus einer als Bedrohung empfundenen Verwirrung des „musikalischen Weltbilds“ war. Eine besondere Rolle spielte in diesen Auseinandersetzungen das Bild der Musik als Trägerin einer nationalen Identität. Diese bis zum Ende des 18. Jahr­hunderts zurückreichende Vorstellung zeigt sich schon bei Herders Stimmen der Völker in L ­ iedern (1807), in der das „Volk“ als etwas Körperliches mit einer Stimme konstruiert wird. Dieser Ansatz fand eine extreme Anwendung und augenfälligste Ausprägung in der Denkfigur einer „Hegemonie der deutschen Musik“7, die bis heute weltweit wirksam ist.

DIE JUGENDMUSIKBEWEGUNG Die erste große Breitenwirkung im hier gegebenen Zusammenhang hatte seit den 1920er-Jahren die so genannte Jugendmusikbewegung, die nach eigener Einschätzung etwa eine Million Menschen zu ihrem Kreis zählte. Die von den Ideen der Jugend­ musikbewegung Ergriffenen sahen den Aufbau eines neuen Musiklebens, das in teilweiser Abkehr von bürgerlichen Normen das Postulat der Selbstausführung hochhielt, als anzustrebendes Ideal. Bezeichnend ist, dass das Postulierte oft einen antiromantischen Zug mit Hinwendung zur später so genannten „Alten Musik“ aufwies. Man 6 7

„Antiromantik“ und „Entromantisierung“ waren Schlagworte, die vor allem gegen musikalische Tendenzen des 19. Jahrhunderts gerichtet waren. A. Riethmüller: Deutsche Leitkultur Musik?

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suchte den Ausweg aus dem „Dilemma“ der Moderne, wie es in zahl­reichen Denkschriften heißt. In sich war die Jugendmusikbewegung in viele Initiativen und „Bewegungen“ zerspalten, deren Proponent_innen sich mitunter heftig bekämpften. Das Ideal der „Volksgemeinschaft“, in der alle ohne Ansehen ihrer Klassen­zugehörigkeit am Musikleben teilnehmen sollten, wurde aus unterschiedlichsten Lagern heraus angestrebt. Die l’art pour l’art-Ästhetik einer sich als absolut verstehenden Musik galt den meisten als subjektivistisch elitär und somit ablehnenswert. Von namhaften Exponent_innen der Jugendmusikbewegung wurde die Musikgeschichte als „Verfallsgeschichte“ dargestellt. Fritz Jöde beispielsweise ortete einen die Menschen beherrschenden „Geist des Verfalls“ in weiten Teilen des abend­ländischen Musiklebens.8 Die Ursache dafür sah er unter anderem in den Auswüchsen des Kapitalismus. Eine Textpassage aus seinem Musikmanifest (Jöde 1921) macht dies deutlich: ich will nicht sagen, dass wir selbst schuld sind es hat nicht anders kommen können aber wir müssen hindurch unsere lebensanschauung ist die ursache auch unseres würdelosen musiklebens sie hat uns den sinn des lebens verdreht sie die nach speise geld und macht schreit und das schmerzlicherweise zu recht denn mißwirtschaft hat grausam gehaust muß abgeschafft werden muß neu gebaut werden damit das selbstverständliche erfüllt werde die wirtschaft für alle die wirtschaft ist nicht das letzte wirtschaft dient dem letzten dem menschen darum das traurige daß das wirtschaftsleben heute triumphiert daß es den menschen ganz ausfüllen will daß es schließlich gar sein geistesleben knechtet bis es ihm willig ist bis es auch den nützlichkeitsrücksichten folgt wie es schon die schule lehrt und die menschen darum untereinander leben bis auch die wissenschaft käuflich wird und die kunst zur ware so weit ist es gekommem wissenschaftliche arbeit muß aufzeigen9 8 9

Vgl. D. Kolland: Die Jugendmusikbewegung, S. 203. Zit.n.: Kunstamt Kreuzberg: Weimarer Republik, S. 530.

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Was hier besonders auffällt ist die inhaltliche Unschärfe des Textes – ein Umstand, der für viele Veröffentlichungen aus der Jugendbewegung aller Richtungen zutrifft. Das verschleiert Visionäre wird häufig einer klaren Aussage vorgezogen. Offen und verdeckt ergab sich eine Gegenposition sowohl zu Teilen der etablierten, häufig an Idealen aus der Vergangenheit orientierten bürgerlichen Musiktradition als auch zur Moderne. Zeitweise gelang es jedoch, zu dieser eine Brücke zu schlagen, etwa durch den Komponisten Paul Hindemith, der in beiden „Welten“ seine Anhänger_ innen fand und vermittelnd zu wirken suchte. Ein unter anderem von ihm angeregter Versuch, bei den Kammermusiktagen von 1927 und 1928 in Baden-Baden die beiden Lager einander näher zu bringen, hatte jedoch keinen nachhaltigen Erfolg.10 Andere Richtungen der Jugendmusikbewegung, insbesondere der Finkensteiner Bund unter Walter Hensel hatten einen nahezu konträren politischen Hintergrund. Ihnen ging es vor allem darum, deutschnationale Inhalte durch die Musikpflege zu befördern und in jenen ausländischen Randgebieten, in denen Deutsch gesprochen wurde, die aber nach 1918 nicht dem Deutschen Reich zugefallen waren, Grenzkorrekturen zu erwirken. Wieder andere Gruppierungen, um August Halm und Georg Götsch etwa, waren dem bürgerlichen Musikrepertoire stärker zugeneigt und sahen den Reformbedarf vor allem in pädagogischer Hinsicht. In einem nicht unwesentlichen Zusammenhang mit den Zielen der Jugend­ musikbewegung, soweit sie das „Erleben“ und die Begeisterung am Selbstmusizieren betrafen, stand die Reform der preußischen Schulmusik unter dem als Musikreferent im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wirkenden Leo Kestenberg. Durch mehrere Erlasse des Ministeriums entstand eine Ausbildungs­ konzeption in Preußen, die die gesamte Musikerziehung von der Grundschule bis zur Hochschule umfasste und für ganz Europa, später sogar weltweit richtungs­weisend wurde. Ausgehend von einer bis dahin unbekannten Professionalisierung des Musik­ unterrichts wurde diesem ein besonderer Rang neben der Kunsterziehung und den anderen Fächern eingeräumt. Ihre institutionelle Materialisierung und Zentralisierung fand die Reform unter Kestenberg in der neu gegründeten Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin-Charlottenburg. Diese Aufwertung der Musik im pädagogischen Bereich ging einher mit einer bis dahin unbekannten Aufgeschlossenheit neuer Musik gegenüber, die freilich nicht ohne Gegner_innen blieb.11 Dazu kam, dass auf Betreiben Leo Kestenbergs prominente Vertreter_innen neuer musikalischer und pädagogischer Richtungen in Preußen tätig werden konnten. Der bekannteste unter ihnen war wohl Arnold Schönberg, der 1925 als Kompositionslehrer an die Akademie der Künste berufen worden war. Eine breite Gegnerschaft formierte sich aus unterschiedlichen Positionen, deren Gemeinsamkeit vor allem in der Abwehr solcher musikalischer Neuerungen lag, die sich nicht mittelbar oder unmittelbar auf eine – meist in die musikalische Romantik projizierte – Tradition beriefen. Hervorzuheben ist hier zum Beispiel Kestenbergs bahnbrechendes Projekt der Krolloper, die sich als Experimentierfeld für neue Formen des Musiktheaters einerseits bald international 10 Vgl. H. Danuser: Die Musik des 20. Jahrhunderts, S. 184. 11 Vgl. D. Kolland: Die Jugendmusikbewegung, S. 216.

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einen Namen machte und andererseits die erbitterte Feindschaft konservativer Kreise zuzog. In zahlreichen Abhandlungen wie etwa Hans Pfitzners Futuristengefahr 1917 und Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymtom? von 1926 wurden nebulös Argumente gezimmert, die meist auch mit Antisemitismen durchsetzt waren.12

GEGEN DIE RECHTSSTÄNDIGEN POSITIONEN „Es ist klar, daß moderne Musik, die kapitalistische Zustände in all ihrer Häßlichkeit und Verworrenheit widerspiegelt, für diese Zwecke des Volksbetrugs weniger geeignet ist, denn sie sagt viel über die Fäulnis und Zersetzung unserer Zeit aus.“13 Dieser Satz Hanns Eislers zeigt deutlich, dass auch in der musikalischen „Linken“ die Vorstellung, man lebe in einer entwurzelten Epoche, wirksam war. Im Gegensatz zu den politisch rechtsständigen Kreisen empfand man die moderne Musik jedoch meist als Ausdruck ihrer Zeit, nicht selten auch im Spiegel einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, quasi als tönende Darstellung einer entmenschlichten Welt. In experimentellen neuen Formen des Musizierens, so beispielsweise in dem von Brecht, Hindemith, Weill, Eisler und anderen entwickelten „Lehrstück“ suchte man einen Teil des Unbehagens durch „Gebrauchsmusik“ zu überwinden. Diese Aufführungen von lehrhaft-musikdramatischen Stücken mit teilweise offenem Verlauf unter weitgehender Auflösung des Werkcharakters sollte das Publikum zur Gänze in die Ausführung miteinbeziehen. War auch dem Lehrstück insgesamt keine lange Lebensdauer beschieden, so wirken dennoch gewisse damals entwickelte Konzeptionen, etwa im Schultheater oder im Hörspiel, bis in die Gegenwart nach. Teilweise überschnitten sich diese Phänomene in den 1930er-Jahren mit Formen, die aus der proletarischen Gemeinschaftsmusik der Arbeiterbewegungen entstanden waren. Vom Kampflied bis zum Agitprop14 stand hier zwar die klassenkämpferische Propaganda im Vordergrund, Gemeinsames lag jedoch in der Sehnsucht nach einer klassenlosen „Volksgemeinschaft“ und in bestimmten Feindbildern wie dem der Ablehnung weiter Bereiche der musikalischen Moderne, der Romantik und des genüsslich-erbaulichen bürgerlichen Chorgesangs. Ein klingendes Zeugnis dieser Befindlichkeit ist Bert Brechts und Kurt Weills Zu Potsdam unter den Eichen. Hier stellen sich Weill und Brecht quer zur gefühlig-patriotischen Liedertafeltradition und geißeln in einer Art musikalisch-poetischer Dekonstruktion den brutalen Missbrauch von Vaterlandsliebe: Zu Potsdam unter den Eichen Im hellen Mittag ein Zug Vorn eine Trommel und hinten eine Fahn In der Mitte einen Sarg man trug.

12 Vgl. G. Eberle: Hans Pfitzner, S. 136ff. 13 G. Mayer: Hanns Eisler, Musik und Politik, S. 256–257. 14 Kunstwort aus „Agitation“ und „Propaganda“: Seit der Übernahme des Begriffs aus der Sowjetunion wurde der Ausdruck in der politischen „Linken“ häufig für die Vermittlung von politischen Inhalten durch Agitation (meist mit Kunstanspruch) verwendet.

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Zu Potsdam unter den Eichen Im hundertjährigen Staub Da trugen sechse einen Sarg Mit Helm und Eichenlaub Und auf dem Sarg mit Mennigerot Da war geschrieben ein Reim Die Buchstaben sahen häßlich aus: „Jedem Krieger sein Heim!“ Das war zum Angedenken An manchen toten Mann Geboren in der Heimat Gefallen am Chemin des Dames. Gekrochen einst mit Herz und Hand Dem Vaterland auf den Leim Belohnt mit dem Sarge vom Vaterland: Jedem Krieger sein Heim! So zogen sie durch Potsdam Für den Mann am Chemin des Dames Da kam die grüne Polizei Und haute sie zusamm’.15

MASSENMUSIK In nahezu allen politischen Umbrüchen mit dem Anspruch, die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts radikal zu verändern, gehört die Entstehung einer spezifischen Massen­ musik, im Speziellen des Massenlieds zu den hervorstechendsten Merkmalen. Dies trifft ganz besonders für die Neuregelung der staatlich doktrinären Richtlinien für die Musik in der Sowjetunion nach der bolschewistischen Machtübernahme zu. Allerdings verlief auch hier die Entwicklung zu Anfang vielschichtig. Besonders nach der Proklamation der so genannten „neuen ökonomischen Politik“ durch Lenin in den 1920er-Jahren erlebte das Musikleben in der Sowjetunion eine gewisse Pluralität. Einige revolutionäre Zirkel, unter ihnen vor allem literarische Kreise (­ Mayakovsky, Gastev), strebten schon einige Jahre zuvor gar eine futuristisch orientierte „Proletarier-­Musik“ an, in der Fabrikssirenen, Artilleriebatterien und ähnliche als nichtmusikalisch geltende Elemente neben Massenchören zum Einsatz kamen.16 Solche Initiativen blieben aber meist episodisch. Die großen Richtungskämpfe im sowjetischen Musikleben der 1920er-Jahre verliefen hauptsächlich zwischen den beiden Großorganisationen der „RAPM“ (Russische Assoziation proletarischen Musiker), die alle Musik an ihrer

15 Der Text stammt aus dem Booklet der CD. Vgl. H. Göbel: Musik zwischen den Kriegen. 16 Vgl. H. Danuser: Die Musik des 20. Jahrhunderts, S. 198.

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politischen Verwertbarkeit maß und sich vor allem am proletarischen Massenlied orientierte und der mit der westlichen Moderne sympathisierenden „ASM“ (Assoziation für zeitgenössische Musik). Bis zum Einsetzen der stalinistischen „Säuberungen“ zu Anfang der 1930er-Jahre konnte durch Vermittlung der ASM vor allem in den Zentren Leningrad und Moskau ein intensiver Austausch zwischen namhaften avantgardistischer Komponisten und Interpreten stattfinden.17

FASCHISMEN Anders als in den meisten anderen totalitären Staatsgebilden Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte sich der Faschismus Mussolinis vor allem in der Anfangsphase extremen neuen Musikrichtungen gegenüber gemäßigt aufgeschlossen bis indifferent. Kreise um Gabriele D’Annunzio und die in allen Bereichen der Kunst äußerst aktiven jungen Futurist_innen, die sich zum größten Teil einer nationalistischen Italianita-Begeisterung zugewandt hatten, sympathisierten mit den faschistischen Gesellschaftsutopien.18 Weitgehende Ablehnung der kulturellen Vergangenheit, die Mythisierung der modernen Maschinenwelt und die Verherrlichung von Aggression und Krieg waren den faschistischen Ideologemen ähnlich und trugen vielfach zur Identifizierung vieler Futurist_innen mit dem Faschismus bei. In teilweisen Widerspruch zur faschistischen Kulturpolitik trat der musikalische Futurismus erst durch die Hinwendung zum Jazz als einer Musikform, die in der Improvisation und in der Verwendung geräuschhafter Instrumente in vielem den Ideen und Grund­intentionen des Futurismus entsprach (Franco Casavola in seinem Manifest La musica futuristica, 11.12.1924).19 Als Mussolini um die Mitte der 1930er-Jahre der Welt ein „neues Italien“, abseits von den Klischeebildern südländischer „Lebensart“ präsentieren wollte, wurden Neuerungen jeglicher Art, also auch die futuristischen Bestrebungen in großem Ausmaß zurückgedrängt. Als 1938 nach deutschem Vorbild Rassengesetze eingeführt wurden, war dies für viele Vertreter_innen des Musiklebens ein bitteres Erwachen aus dem Hoffnungstraum; der italienische Faschismus hielte sich von Hitlers wahnhafter Rassenpolitik fern. Anders als in Italien gab es in Hitlers NS-Deutschland nach einigen organisatorischen Verzögerungen der ersten Jahre eine systematische Kontrolle mit durchorganisierten Zensur- und rassenpolitischen Ausleseverfahren. Dass diese dann in einer Art Wildwuchs gegenseitig in Konkurrenz traten und häufig Kompetenzstreitigkeiten zur Folge hatten, gehört zu den inzwischen sehr gut bekannten Spezifika des NS-Staats. Die 1934 begründete Zwangszunft der Reichsmusikkammer mit ihrem ersten Präsidenten Richard Strauss an der Spitze sollte das ganze Musikleben des „Dritten Reiches“ totalitär erfassen und nach dem Prinzip der „Gleichschaltung“ auf eine gemeinsame nationalsozialistische Kulturpolitik hin ausrichten.20 Bis auf wenige Ausnahmen war die Kulturpolitik des Hitlerstaats geprägt durch eine in vielen 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 197. Vgl. F. Prieberg: Musica ex Machina, S. 42. Vgl. F. Casavola: La musica futuristica, S. 1–4. Vgl. M. Thrun: Die Errichtung der Reichsmusikkammer, S. 75–82.

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Facetten organisierte Musikverwendung in einem Sinnzusammenhang mit dem Nationalsozialismus. Soll heißen, dass jede Musik auf ihre Kompatibilität mit einem – wiewohl niemals gefestigten – „nationalsozialistischen Weltbild“ überprüft wurde. Unter dem Motto „Entjudung“ etwa wurde der staatliche Rassismus sowohl an Personen als am Repertoire bekannter jüdischer Komponisten wie Mendelssohn verübt. Weiters sollten alttestamentarische „Judaismen“ bei Bach, Händel oder Mozart „arisiert“ oder ersetzt werden.21 Dass viele dieser heute krankhaft bizarr erscheinenden ideologischen Auswüchse durchaus Breitenwirkung erreichen konnten, zeigt sich in einer Flut von einschlägigen Schriften aus der NS-Zeit. In den meisten Konzepten wurde dabei auf ideologisch Vorgeformtes aus der präfaschistischen Zeit zurückgegriffen. So waren es im musikalischen Bereich vor allem die Ideen der „Völkischen“ aus der Jugendbewegung, Antisemitismus und Deutschtümelei unter Berufung auf Wagner und der Antibolschewismus, der zugleich als Triebfeder gegen alles wirkte, was zu Recht oder vermeintlich der Avantgarde zugerechnet wurde.

NACH 1945 Die kulturelle Nachkriegszeit ist in Europa in den vom Weltkrieg betroffenen Ländern nach einer ersten Phase der Übergangszeit sowohl von Verdrängung, als auch von einer Aufbruchsstimmung bestimmt, in der es jedoch größtenteils nicht gelang, an die kreative und weltoffene „Moderne“ der 1920er-Jahre anzuknüpfen. Die Traumata der vom Faschismus geprägten Jahre konnten bis heute nicht restlos aufgearbeitet werden, viele Exilant_innen hatten ihre materielle und kulturelle Heimat für immer verloren, eine Rückkehr gelang nur selten. Eine neue Generation wandte sich in dieser verunsicherten Situation häufig der Popularmusik aus England und Amerika zu, die für viele das Lebensgefühl einer neuen Zeit zu verkörpern schien. Für die breite Allgemeinheit waren die Gemeinschaftsideologien der Jugendbewegung in Misskredit geraten. Musik, die unter anderem gesellschaftskritische Ideen transportierte, wie etwa der US-amerikanische Rock and Roll, drang zunehmend nach Europa. Als in den 1950er-Jahren der Rhythm and Blues als Rock and Roll marktfähig aufbereitet wurde, gelangte diese Musik auch in Europa in das Bewusstsein der Jugendlichen und erzeugte zunächst eine musikalische Aufbruchstimmung in Opposition zur Erwachsenenwelt. Sozialkritische und provokative Texte, die in den Originalen oft vorhanden waren, wurden in den Übersetzungen und Nachtextierungen – hier vor allem im Deutschen – häufig stark abgeschwächt. In englischsprachigen europäischen Ländern, vor allem in Großbritannien, war dies weniger der Fall. Dort wurde die musikalische adolescent oder youthculture aus den USA unmittelbarer rezipiert und in der Folge in einer neuen Welle in Europa und weltweit verbreitet. Diese Entwicklungen erfuhren durch den weiteren Ausbau eines weltweiten Markts für das Massen­ produkt „Schallplatte“ – im Speziellen für eine Schicht jugendlicher Konsument_ innen mit besonderer Kaufkraft – eine Steigerung in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Die jugendorientierte Popmusik spiegelte auch zahlreiche politische Ideologien

21 Vgl. K. Drexel: Wikinger der Musik, S. 197–250.

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und Utopien, sowohl regionaler als auch überregionaler Art, wider. Neben sexuellen, fantastischen, die Erfahrungssituation der Jugendlichen beschreibenden oder schlicht sentimentalen Inhalten traten in den „Popsongs“, wie sie in den 1960er- und -70er-Jahren vereinheitlichend bezeichnet wurden, immer wieder sozialutopische und politische Themen auf. Als Beispiele aus dem Mainstream der etablierten Musikproduktion seien hier aus einer bislang unüberschaubaren Vielzahl die Songs Street Fighting Man von den Rolling Stones, Give Ireland back to the Irish von Paul McCartney sowie Power to the People und das sozialutopische Imagine von John Lennon genannt. Pop-Songs gaben in Kommentaren und Beschreibungen der sozialen und kulturellen Entwicklungen häufig die Sicht einer in den 1960er- und -70er-Jahren undeutlich empfundenen und nicht exakt auszumachenden „Gemeinschaft“ der sogenannten „Jugendkultur“ wider. Im Vordergrund standen häufig die Abgrenzung von den Lebenskonzepten der Erwachsenen und die Suche nach neuen Werten. Aber schon seit den 1970er-Jahren finden sich politische Inhalte häufig in neuen Genres, die noch nicht dem Mainstream, das heißt hier dem Hauptstrang der verkauften und rezipierten Popularmusik, angehören. Bedeutung hat die „politische“ populäre Musik vor allem in den neuen Formen, die vorwiegend in einem städtisch-proletarischen und jugendlich dominierten Milieu entstehen und anfangs als „Geheimtipp“ gehandelt noch nicht in den breiten Musikbetrieb eingekauft sind. So waren etwa Punk und Hip-Hop politische Kunstformen, die anfangs als Reflexion einer Lebenswirklichkeit wenig massenmediale Aufmerksamkeit bekamen. Es ging um Bürgerrechte, Rassismus und Unterdrückung, Unlust am Dasein oder Protest gegen eine als ungerecht und sinnlos empfundene Welt. Natürlich gab und gibt es daneben immer Nischen, etwa der politischen Singer-Songwriter, im Chanson in Frankreich, in den Liedern der Cantatori in Italien oder der Liedermacher_innen in Deutschland, die in der Regel weniger den kurzlebigen Moden der Musikbranche unterworfen waren. In der Übersicht jedoch scheint sich in all diesen Segmenten der populären Musik das Muster einer Metamorphose von anfangs aufrührerischem, politisch brisanten Potential zu Inhalten einer kommerzialisierten und entschärften „Modemusik“ mehrmals wiederholt zu haben. Hier soll dieser kurze – zugegebenermaßen in subjektiver Auswahl getroffene – Überblick zu einigen wichtigen Phänomenen des Ineinanderwirkens von Musik und Politik, vor allem solchen, die ihren Niederschlag in zahlreichen publizierten Reflexionen der Zeit um die Mitte des Jahrhunderts gefunden haben, zunächst abgeschlossen sein. Es sei nochmals betont: Vieles ist in diesem Rahmen unberücksichtigt geblieben – dieser wäre hier durchaus auszuweiten und ist wahrscheinlich letztlich auch nicht sinnvoll zu begrenzen.

RESÜMEE Statt einer Conclusio möchte ich sechs Thesen zur Musik und Musikverwendung in politischen „Bewegungen“ des 20. Jahrhunderts formulieren: 1. Insgesamt ergibt sich im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten eine relevante Zunahme so genannter „politischer Bekenntnismusik“.

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2. Das sich schon im 19. Jahrhundert abzeichnende Anwachsen derjenigen Literatur, in der die Musik mit politischen Inhalten befrachtet wird, kommt im 20. Jahrhunderts zu einem Höhepunkt. 3. In bisher nicht gekanntem Ausmaß entsteht „Massenmusik“, ein Phänomen, das durch die Entwicklung der verschiedenen Medien und durch spezielle Markt- und Medienstrategien noch weiter verstärkt wurde. 4. Im Mainstream der am meisten verkauften populären Musik wiederholte sich häufig das Muster einer Metamorphose: Aufsteigen in eine bessere Marktposition bei gleichzeitiger Entschärfung des politisch „aufrührerischen“ Potentials. 5. Musik wirkt als Gefühlsverstärkerin und zur Festigung der kollektiven Identität in Milieus, die sich häufig in Straßenprotesten manifestieren. Dort führt sie oft zur Vereinheitlichung einer „Haltung“. 6. In der Mehrzahl der hier aufgezeigten Phänomene spielt „Jugend“ und/oder deren Inszenierung eine signifikante Rolle.

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Margotin, Philippe/Guesdon, Jean-Michel: Rolling Stones – Alle Songs. Die Geschichten hinter den Tracks, Bielefeld: Delius Klasing 2017. Mayer, Günther (Hg.): Hanns Eisler, Musik und Politik. Gesammelte Werke. Schriften 1924–1928. Serie III, Band 1, Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1992. Prieberg, Fred K.: Musica ex Machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, Berlin: Ullstein 1960. Riethmüller, Albrecht (Hg.): Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006. Thrun, Martin: „Die Errichtung der Reichsmusikkammer“, in: Hanns-Werner Heister/ Hans-Günther Klein, Hg., Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Frankfurt a. M.: Fischer 1984, S. 75-82.

HANNS EISLER – MUSIK ALS POLITIK Christian Glanz

Für den österreichischen Komponisten Hanns Eisler (1898–1962) war seine künstlerische Arbeit von seinem politischen Engagement nicht zu trennen. Dass sich dieses Engagement auf den Kommunismus richtete, war seiner Rezeption ebensowenig förderlich wie seine musikalische Prägung durch Arnold Schönberg. Das Politische hat die Beziehung zwischen Eisler und seinem wichtigsten Lehrer auch früh getrübt. Neben seiner den „Rassegesetzen“ der Nationalsozialist_innen nicht entsprechenden Abstammung hat ihn dieses Engagement 1933 zur Flucht und in die Emigration gezwungen; vierzehn Jahre später war es der Grund für seine „Ausbürgerung“ durch sein Exilland USA. Die letzten dreizehn Jahre seines Lebens stellte Eisler fest, dass sein politisches Engagement in Verbindung mit seiner musikalischen Biografie auch im Rahmen einer angeblich sozialistischen Musikkultur, nämlich jener der DDR, zahlreiche Probleme aufwarf. Wenn man sich heute überhaupt an ihn erinnert, dann geschieht das meist in zweierlei Weise: Entweder wird unter weitgehender Ausblendung des Politischen vom „Schönbergschüler“ gesprochen, oder es wird der Komponist von musikalischem Agitprop zum Thema gemacht, jeweils unter Betonung meist sehr deutlich in Erscheinung tretender ideologischer und ästhetischer Bewertungskategorien. Musik als Medium von Gesellschaftskritik hat dieses Leben, Werk und „Nachleben“ jedenfalls durchgehend geprägt. Und das begann buchstäblich schon in der Familie: Die drei Geschwister Eisler wuchsen in einer Intellektuellenfamilie auf. Der Vater Rudolf, ein bis heute branchenbekannter Philosoph, hatte nicht nur nicht „standesgemäß“ geheiratet – die Mutter Ida Maria stammte aus einfachen Verhältnissen – sondern bekannte sich zu seinem Atheismus, was ihm eine formelle akademische Karriere verunmöglichte und für die Familie vergleichsweise sehr eingeschränkte Lebensumstände generierte.1 Frühes, sehr breites literarisches und philosophisches Interesse traf sich im Fall der Geschwister Eisler mit der Lektüre von Karl Kraus, aktiver Betätigung in diversen schulischen Diskussionszirkeln und auffälliger pazifistischer Orientierung. Für Hanns und seinen Bruder Gerhart wurde diese Überzeugung durch eigene, unfreiwillige Erfahrungen im Weltkrieg nachdrücklichst bestärkt und war letztlich wohl entscheidend für beider Zuwendung zum deutschen Kommunismus. Gerhart2 wurde schließlich Berufspolitiker in der KPD, nach 1949 in der SED, zum Teil in prominenten Funktionen. Schwester Elfriede – deren schillernde politische Biografie (hauptsächlich als „Ruth Fischer“) 1 2

Einführungen zu Biografie und Werk vgl. z.B. J. Schebera: Hanns Eisler. Eine Biographie; F. Hennenberg: Hanns Eisler mit Selbstzeugnissen; C. Glanz: Hanns Eisler. Werk und Leben. Vgl. R. Friedmann: Ulbrichts Rundfunkmann.

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alle Schrecken und Widersprüche des 20. Jahrhunderts spiegelt3 – stieg sogar zur kurzzeitigen Vorsitzenden der KPD auf, ehe ihre Karriere parteiinternen Machtkämpfen zum Opfer fiel und sie sich letztlich zur militanten Antikommunistin wandelte. Die Losung „Gegen den Krieg“ durchzieht jedenfalls als Slogan das politische Leben Hanns Eislers und erscheint daher auch in zahlreichen Kompositionen, am offensichtlichsten im gleichnamigen Chorwerk (op. 55, 1936). Die Bindung des Pazifismus an den Kommunismus teilte Eisler mit zahlreichen Zeitgenoss_innen. Aus dem Krieg zurückgekehrt, begann Hanns Eisler eine musikalische Ausbildung, die ihn schnell zum Privatunterricht bei Arnold Schönberg führte (von diesem angesichts der tristen Vermögensverhältnisse des Schülers fast gänzlich gratis erteilt). Eisler erfreute sich besonderer Förderung Schönbergs und beschritt auch konsequent die vom Lehrer und seinem Schüler_innenkreis vertretene Richtung (also ganz allgemein gesagt: zunächst „frei-atonal“ und später „dodekafonisch“). Eislers Schritt in die Öffentlichkeit der Neuen Musik erfolgte aus dieser Prägung heraus. Freilich war das politische Engagement des Schülers auch der Grund für ein vielbeschriebenes Zerwürfnis mit dem zu dieser Zeit schon ehemaligen Lehrer; es ging dabei auch um Persönliches, aber vor allem konnte Schönberg mit politisch ganz konkret sein wollender Musik grundsätzlich nichts anfangen. Andererseits empfand Eisler Mitte der 1920er-Jahre bereits eine tiefgehende Unzufriedenheit mit der seiner Meinung nach die gesellschaftliche Realität ignorierenden Entwicklung der zeitgenössischen Musik, die er bald auch öffentlich im Kontext kommunistischer Medien äußerte. 4 Das ziemlich lautstark vollzogene Zerwürfnis hielt einige Jahre an, spätestens mit beider Emigration in die USA kam es jedoch wieder zu einer Annäherung zwischen Lehrer und Schüler (beide trafen sich beispielsweise wiederholt in ihrer Exilstadt Los Angeles und Eisler widmete Schönberg mit Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben – ursprünglich als Filmmusik konzipiert – eines seiner bis heute bekanntesten Kammermusikwerke zum 70. Geburtstag). Auch im Kontext des konkret politischen Komponierens unternahm Eisler mehrmals Versuche, Schönbergs Dodekafonie („Zwölftontechnik“) in geeigneter Weise zu integrieren; wir werden noch kurz darauf zu sprechen kommen. Insgesamt jedoch scheint er eine Beschäftigung breiterer Kreise mit der Musik seines Lehrers als Aufgabe für die fernere Zukunft eingeschätzt zu haben. In welchem Rahmen fand nun Eislers politisches Komponieren statt? Die allgemein bekannten dramatischen Entwicklungen der Zeitgeschichte prägen diesen Rahmen und damit auch ganz direkt Eislers Musik. Schon während des Unterrichts bei Schönberg war Eisler in der Wiener Arbeitermusikbewegung aktiv geworden. Er leitete Arbeiterchöre und unterrichtete im Rahmen der Arbeiterbildung. Der entscheidende Schritt erfolgte jedoch mit seiner Übersiedlung nach Berlin (wo seine beiden Geschwister schon im Rahmen der KPD richtig Politik machten); Eisler wurde

3 4

Vgl. M. Keßler: Ruth Fischer. Texte dieser Zeit sind in zahlreichen Sammlungen zu finden. Vgl. z.B. M. Grabs: Hanns Eisler; G. Mayer/T. Faßhauer: Hanns Eisler: Gesammelte Schriften 1921–1935 (= Neue Gesamtausgabe Serie IX, Band 1.1).

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Mitarbeiter der Roten Fahne und fand Zugang zur vielfältigen linken Szene. Bei seiner kompositorisch-politischen Arbeit spielten einerseits das Konzept des Agitprop („Agitation und Propaganda“), andererseits das Chanson die wichtigsten Rollen. Für die Berliner Agitprop-Ensembles wie Das rote Sprachrohr schrieb Eisler seine „Kampflieder“; zusammen mit dem „Barrikaden-Tauber“ Ernst Busch trat Eisler – jenen am Klavier begleitend – in linken Szenelokalen auf, beider Chansons (oft über Texte von Kurt Tucholsky, nicht nur, aber vorwiegend Politisches ansprechend) verbreiteten sich bald auch über Schallplatte. Zusätzlich propagierte Eisler eine grundsätzliche Reform der Literatur für Arbeiterchöre und setzte sich mit dem neuen Medium Radio auseinander. (Letzteres war ja auch ein interessantes Betätigungsfeld für seine „Kollegen“ Hindemith und Weill). Weitere Bekanntheit erwarb sich Eisler mit Musik zu Filmen, beispielsweise zum pazifistischen Niemandsland (Regie: Victor Trivas, 1931). Sofortige und nachhaltige Wirkung entfaltete vor allem Eislers Konzept der „Kampfmusik“. Das Solidaritätslied, Roter Wedding, Der heimliche Aufmarsch und das Kominternlied fanden nicht nur tatsächliche „Anwendung“ im Rahmen der Propa­ ganda der KPD, sondern wurden auch zu einer Art „Signation“ mit erheblicher Popularität, nicht zuletzt durch die Texte, die von Bert Brecht, Erich Weinert und anderen stammten. Eisler verwendete hierbei sehr spezielle musikalische Mittel: harmonisch oft modal beeinflusst, klare Konzentration auf stete Textdeutlichkeit, Absage an „Schöngesang“ und emotionales Pathos, Auffrischung der Lieder durch Synkopierungen und Basslinien, die deutlich vom sturen „Paukenbassprinzip“ politischer Marschlieder abwichen. Dies wird kombiniert mit sehr eingängiger, zum sofortigen Mitsingen einladender Melodik und klarer inhaltlicher Gestaltung, die zunächst ein Problem definiert (oft in der Solostrophe) und dafür eine Lösung als Losung (im Chorrefrain) bereithält. Eisler erreichte mit diesen Liedern eine enorme Wirksamkeit: Die mottoartige Verwendung des Solidaritätslieds im Film Kuhle Wampe (Regie: Slatan Dudow, 1932; Buch: Bert Brecht und Ernst Ottwalt) ist dafür ebenso ein Beleg wie die späteren, schon in der Emigration geschriebenen Lieder im Engagement für die Republik im spanischen Bürgerkrieg: das Saarlied (im Kontext mit der „Saar-Abstimmung“ 1935) oder das Einheitsfrontlied (wieder mit Texten von Brecht). Ein spätes Beispiel für das Fortwirken von Eislers „Kampfliedern“ in der Avantgarde ist das Erscheinen des Einheitsfrontlieds und des Marschs des fünften Regiments (der „Internationalen Brigaden“) im Debutalbum des Liberation Music Orchestra (Charlie Haden, 1969). Als auch im KP-Umfeld heftig umstrittenes Experiment präsentierten Eisler und Brecht 1930 das Lehrstück Die Maßnahme. Hier fand die Technik der „Kampfmusik“ – neben Elementen der traditionellen musikalischen Rhetorik – ebenso Eingang wie in einigen Teilen der Deutschen Sinfonie, einem vokalsymphonischen Werk, das Eisler seit 1935 beschäftigte und das letztlich erst 1958 gänzlich vervollständigt werden sollte. Einige bekannte „Kampflieder“ hat er auch in seinen sechs Suiten für kleines Orchester (1930–1934) verarbeitet, die wiederum im Zusammenhang mit diversen Filmkompositionen Eislers stehen. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialist_innen hatte Eisler sein unmittelbares politisches Betätigungsfeld verloren, er erschien aber nach wie vor wiederholt im Rahmen internationaler politischer Aktivitäten. Beispielsweise arbeitete er an

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der Konzeption der Musik bei der Arbeiter-Olympiade in Strasbourg mit, absolvierte Auftritte im Rahmen des Musikbüros der Komintern und absolvierte verschiedene Reisen mit musikpolitischen Hintergrund – darunter zu den Internationalen Brigaden – nach Spanien und 1935 eine erste USA-Reise. Dabei gab es wiederholt die Möglichkeit, die „Kampflieder“ zum Einsatz zu bringen. Gerade in der damals noch sehr aktiven linken Szene in den USA fand Eisler beträchtliche Resonanz, Marc Blitzstein und Eva Goldbeck setzten sich damit genauso auseinander wie Abel Meeropol (der Autor des von Billie Holiday durchgesetzten Anti-Rassismuslieds Strange Fruit). Eisler selbst versuchte nun, seine politischen Inhalte verstärkt in anderen musikalischen Ausdrucksformen zu verarbeiten. Ein Zeugnis dafür ist die bereits erwähnte Deutsche Sinfonie, die in einer durchgehend hybriden Form symphonische und kantatenartige Elemente verbindet. Als große Vokalsymphonie für Soli, Chor und Orchester gehört das nach wie vor selten gespielte Werk in die entsprechende Gattungstradition „welt­ anschaulicher“ Symphonik. Ein neues Betätigungsfeld war die Gattung der klein besetzten Kantate. 1937 und 1938 komponierte Eisler neun von diesen Kammerkantaten für Solostimme und kleines Ensemble (meist zwei Klarinetten, Bratsche und Violoncello), meist ohne Klavier. In diesen Werken (die Texte stammen – wie im Fall der Deutschen Sinfonie – unter anderem vom damals bereits vom Stalinismus verfemten Ignazio Silone, was durchaus als Statement des kritischen Kommunisten Eisler zu lesen ist) versuchte Eisler laut eigener Aussage und damit auch Karl Marx variierend, Schönbergs Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. In der Praxis bedeutete das, dass Eisler hier zwar Zwölftonreihen verwendete, sie jedoch so konstruierte, dass traditionelles Hören Anknüpfungspunkte finden konnte. Auf die Transposition der Reihen wird bewusst verzichtet. Als Beispiel sei auf die zugrundeliegende Reihe und den Beginn der Römischen Kantate (Text von Silone) verwiesen. In der zugrundeliegenden Reihe fällt auf, dass die Intervallverhältnisse der Töne 1 bis 4 und 5 bis 8 übereinstimmen (jeweils zwei aufsteigende Quinten). Die rest­ lichen Reihentöne betonen im Rahmenintervall der Quint die kleine Terz und die zur Leittonwirkung tendierende kleine Sekund. Terzverhältnisse bestimmen die sich aus den Reihentönen generierenden Dreiklänge (1 bis 3: f-moll, 2 bis 4: As-Dur, 5 bis 7: D-Dur, 6 bis 8: fis-moll; die Töne 9 bis 12 sind lesbar als Entstehung eines e-moll-Akkords aus einem wie ein Vorhalt wirkenden Sekundschritt b-h). Die Reihentöne 1 bis 4 werden von einer kleinen Sept gerahmt. Diese kaum verborgene traditionelle Harmonik erscheint dann auch in der kompositorischen Umsetzung, wie der Beginn der Kantate ganz deutlich zeigt.5 Eisler verwendet die Zwölftontechnik also in einer sehr eigenartigen Weise, die jedoch deutlich an die Konstruktionsprinzipien etwa bei Alban Berg (man vergleiche die Verhältnisse in der bekannten Reihe des Violinkonzerts) denken lassen. Offensichtlich ging es Eisler darum, die prinzipielle Eignung auch avancierter Verfahrensweisen für politisches Komponieren zu erproben und vorzuführen (die Texte 5

Vgl. C. Glanz: Hanns Eisler, S. 66ff.

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Abb.1: Reihenstruktur der Römischen Kantate

Abb.2: Römische Kantate, Beginn

der Kantaten sind fast ausnahmslos durch politische Bezüge charakterisiert). Dies steht wohl auch in Zusammenhang mit heftigen Diskussionen, die in diesen Jahren innerhalb der linken Emigration auf der Tagesordnung standen; als „Expressionismusdebatte“ ist diese vor allem zwischen Georg Lukács und Bert Brecht geführte Auseinandersetzung bekannt;6 Eisler griff engagiert an der Seite Brechts und Ernst Blochs in die Auseinandersetzungen ein.7 Wie von Brecht gefordert, sollte auch in politisch engagierter Kunst eine prinzipiell offene Ästhetik erhalten bleiben, was sich mehr oder weniger direkt als gegen die Prinzipien des Sozialistischen Realismus gerichtet lesen lässt. Die Kammerkantaten wären demnach als produktive Stellungnahme, sozusagen als „angetretener Beweis“ in diesem Konflikt aufzufassen. Gleichzeitig tragen sie zur Erklärung bei, warum Eisler, Brecht und andere das Exil in den USA – mit der dort Ende der 1930er-Jahre nach wie vor sehr aktiven linken politischen Szene – der stalinistischen UdSSR vorzogen. Dieses Engagement sollte die „West­ emigranten“ Brecht und Eisler in der DDR übrigens noch einholen: Im Rahmen der heftigen Attacken der SED gegen Abweichungen von der Parteilinie in der Kultur – für Eisler in der sogenannten „Faustusdebatte“ des Jahres 1953 kulminierend8 – erinnerte man sich im Apparat (der von Funktionär_innen beherrscht war, die ihre Emigration in der Sowjetunion verbracht hatten) daran.

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Vgl. J. Berg et al.: Sozialgeschichte der deutschen Literatur, S. 458ff. Dabei zentral ist der in der „Neuen Weltbühne“ erschienene Aufsatz Die Kunst zu erben (1937). Vgl. dazu M. Grabs: Hanns Eisler, S. 157–163. Vgl. P. Schweinhardt: Hanns Eislers Johann Faustus.

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Nach einigen Stationen erreichte Eisler wie Brecht seine Emigrationsdestination USA. Politische Aktivitäten im bisherigen Umfang waren hier bald aus mehrfachen Gründen nicht mehr möglich; schon während des Krieges setzte zudem die Überwachung verdächtiger und potentiell „staatsgefährdender“ Personen durch das FBI ein. Ironischerweise finanziert durch die Rockefeller-Stiftung konnte Eisler gemeinsam mit Theodor W. Adorno sein Filmmusik-Projekt realisieren, dessen Ertrag nicht nur das bekannte Buch Composing for the Films, sondern auch mehrere exemplarische Kompositionen darstellen.9 Unübersehbar ist darin Eislers fundierte Kritik an den Mechanismen der Filmindustrie. Dennoch war er während seiner Jahre in den USA dazu gezwungen, ebendieser Industrie musikalisch zuzuarbeiten; Filmmusik gehörte neben Unterrichtstätigkeit zu den wenigen Möglichkeiten, die sich den Emigrant_innen boten. Mit Hangmen Also Die (Fritz Lang, 1943), ein in Hollywood produzierter Film im Kontext der US-Kriegsanstrengungen, der das erfolgreiche Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf Reinhard Heydrich zum Inhalt hatte, fand Eisler immerhin auch einmal die Möglichkeit, politisches Engagement auch hier unverhüllt einzubringen. Seine Filmmusik wurde sogar für den Oscar nominiert. Politisch in einem allgemeineren Sinn waren freilich auch die zahlreichen Klavierl­ieder, die Eisler vor allem in Los Angeles komponierte (zusammen mit dem erwähnten Kammermusikwerk Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben, jene Teile seines Schaffens, die im aktuellen Repertoire zuweilen auftauchen). Meist auf der Basis von Texten Bert Brechts stellen diese Lieder in sehr unterschiedlichen Stilen die Erfahrung des Exils ins Zentrum, üben zuweilen auch deutliche Kritik an den Zuständen „vor Ort“, zeugen aber von einer grundsätzlich auf Reflexion der eigenen Situation ausgerichteten Haltung. Schon aufgrund des in diesen Liedern unübersehbar erhobenen Kunstanspruchs handelt es sich hier um eine Art „Rückzug“, um bewusste Ausblendung von Öffentlichkeit und Komponieren in der nur sehr vagen Hoffnung auf Veränderung (in manchen Liedern – etwa Über den Selbstmord – ist aber auch diese nicht mehr präsent). Nach Ende des Weltkriegs und mit rasanter Zunahme der Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR geriet Eisler schnell ins Visier jener Kräfte, die „un­a meri­kanische“ Bestrebungen bekämpften. Der Objektivität halber muss festgehalten werden, dass sich zahlreiche Kulturschaffende – von Charlie Chaplin über Aaron Copland bis Leonard Bernstein – öffentlich dem antikommunistischen Kessel­ treiben gegen Eisler, Brecht und andere entgegenstellten. Der Ausgang ist bekannt: Eislers Ausbürgerung und Rückkehr nach Europa. Erst nachdem sich vor allem in Wien keinerlei Chancen boten – die sehr begrenzte bis gar nicht vorhandene Aufnahme­bereitschaft vom Nationalsozialismus vertriebener Menschen gehört zu den erst sehr spät aufgearbeiteten Kapiteln österreichischer Zeitgeschichte – schlug Eisler 1948 erneut den Weg nach Berlin (Ost) ein; nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland entstand hier im Herbst 1949 die Deutsche Demokratische Republik; Eisler lieferte zu einem Text von Johannes R. Becher die neue Hymne.10 Als Inhaber 9 Vgl. T. W. Adorno/H. Eisler: Komposition für den Film. 10 Vgl. H. Amos: Auferstanden aus Ruinen.

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einer Hochschulprofessur für Komposition – ironischerweise in dieser Funktion indirekter Nachfolger seines Lehrers Schönberg – hätte sich der überzeugte Kommunist Eisler nun „am Ziel seiner Wünsche“ angelangt wähnen können. Doch dem war ganz und gar nicht so. Dass er bald von seiner Haltung in der „Expressionismusdebatte“ eingeholt wurde, war schon an anderer Stelle zu lesen; generell galten „Westemigrant_innen“ als problematische Fälle. Der Führungskader der SED (die Partei war aus der Zwangsvereinigung der Ost-SPD mit der KPD entstanden) war den traditionellen Richtlinien des Stalinismus – somit in kulturellen Belangen dem Sozialistischen Realismus – verpflichtet. Sehr bald setzten Kulturschaffende, die den ganz direkt affirmativen Mainstream transzendieren wollten, zu dem in diesem System charakteristischen fortdauernden Balancieren an. Im Falle Eislers finden sich dabei durchaus regime­ dienliche Arbeiten, die Kantate zum dritten Parteitag der SED 1950 (wieder auf einen Text Bechers, später als Mitte des Jahrhunderts betitelt) mag dafür als besonders deutliches Beispiel stehen. Hier handelt es sich um offensichtlich affirmative Musik der teilweise vordergründigsten Sorte, vergleichbar mit den berüchtigten Anlasswerken von Schostakowitsch in ähnlichem Format. Freilich hat Eisler auch hier – allerdings bescheidene – Fragezeichen platziert, die zumindest für Details auch alternative Interpretationen zulassen.11 Seine „Kampflieder“, die der SED natürlich sehr gelegen kamen, hat er übrigens in ganz und gar nicht-affirmativer Weise damals neu bearbeitet: Die Orchesterfassungen kombinieren den Kampfgestus mit ganz und gar unkämpferischen, spielerischen und ornamentalen instrumentalen Kontrapunkten. Den bekannten Höhepunkt der Konfrontation mit der SED stellte die im Jahr des „Volksaufstands“ kulminierende Debatte über Eislers Opernprojekt Johann ­Faustus dar, einen Vorschein hatten bereits Brechts Urfaust-Projekt und Dessaus ­Lukullus-Oper abgegeben. Nach der Veröffentlichung von Eislers Textbuch stürzte sich der Kulturapparat der Partei auf das Werk; die heftig geführte Debatte endete mit der Ablehnung – einem de facto Komponierverbot für das Buch gleichkommend – durch die SED. Eisler zog sich schwer getroffen nach Wien zurück (bis zu seinem Tod 1962 sollte Wien – die österreichische Staatsbürgerschaft hatte er nie zurückgegeben – sein oftmals höchst notwendiger „Fluchtpunkt“12 bleiben). Im Faustus hatte Eisler vor dem historischen Hintergrund der Bauernkriege des 16. Jahrhunderts (an sich ein wichtiges Symbol der DDR-Geschichtsinterpretation) das Versagen der deutschen Intellektuellen gegenüber dem Faschismus angeprangert. Der SED, die schon längst intensiv darum bemüht war, die auch nur irgendwie akzeptablen Restbestände des vormals braunen intellektuellen Establishments in der „Ostzone“ zu integrieren, kam dies absolut zur Unzeit. Das Fass zum Überlaufen brachte wohl Eislers kaum verhohlene Faszination an Bestandteilen „Atlantas“ (dem Symbol der USA). Offiziell bemühte man freilich das angeblich gefährdete „Nationalerbe“ Luthers und Goethes, um Eisler fertigzumachen.

11 Vgl. C. Grüneis: Die Kantate, S. 13–115. 12 Vgl. P. Schweinhardt: Fluchtpunkt Wien.

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Aber, wie es im Stalinismus üblich war, erfolgte bald die als „Wiedergut­machung“ lesbare Einladung seitens des Regimes an Eisler, eine repräsentative Ausgabe seiner Werke zu realisieren. Eisler fand dafür eine Lösung, die man getrost als genial bezeichnen darf: Gänzlich ohne erkennbaren Leitfaden kombinierte er Lieder und Kantaten unterschiedlichster Entstehungszeit und Machart. „Kampflieder“ kamen so neben hochartifiziellen Klavierliedern der Emigration und den Vokalstücken der – bis 1958 unaufgeführten – Deutschen Sinfonie zu stehen, Ausschnitte aus affirmativen Zweckmusiken wie Mitte des Jahrhunderts neben Chansons nach Tucholsky und den dodekafonisch gebauten Kammerkantaten (den Hinweis auf den Textautor Silone musste Eisler jedoch weglassen, Indiz für das Bewusstsein über die Grenzen, die ihm gesetzt waren). Eine schlauere Unterwanderung der Dogmen des Sozialistischen Realismus ist jedenfalls kaum vorstellbar. Der nach wie vor komponierende Eisler schrieb in diesen Jahren nicht nur die vielgeschmähten und wenig gekannten Neuen Deutschen Volkslieder (nach Texten Bechers), sondern auch die Kinderlieder (Brecht), neue Chansons nach Tucholsky und anderen, (vor allem für Wien) Theatermusiken für Nestroy, Filmmusiken sowohl zu simpel-regimedienlichen (Unser täglich Brot) aus dem Hause DEFA wie zeitgeschichtlich höchst relevanten Produktionen (Alain Resnais’ Nuit et brouillard) und mit den Ernsten Gesängen sein aus Resignation und Optimismus eigenartig gemischtes Vermächtnis. Wie Schostakowitsch wurde er im „Westen“ vorrangig als regimetreuer Systemkomponist wahrgenommen, ein durch den Kalten Krieg immerhin erklär­ bares Urteil, das sich jedoch auch nach dem Ende des sogenannten „Ostblocks“ und dem speziellen der DDR 1989 nicht mehr grundsätzlich änderte. Als Komponist der DDR-Hymne – die seit den 1970er-Jahren wegen des darin enthaltenen Slogans von „Deutschland einig Vaterland“ nur noch instrumental ausgeführt wurde – gehörte er scheinbar ganz direkt zum Bestand. Ein näherer Blick auf seine Musik hätte dieses Fehlurteil ebenso behoben wie das Bild vom hoffnungsvollen aber irregeleiteten Schönbergschüler. In der Untrennbarkeit des politisch Engagierten – der trotz aller Erfahrungen grundsätzlich an seiner Überzeugung festhält – vom künstlerisch Tätigen – der sein Komponieren in jedem Kontext so weit wie ihm möglich an hohen Standards ausrichtet – liegt die Charakteristik und gleichzeitig die Tragik Hanns Eislers.

BIBLIOGRAFIE Adorno, Theodor W./Eisler, Hanns: Komposition für den Film. Herausgegeben von Johannes Gall, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Amos, Heike: Auferstanden aus Ruinen… Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990, Berlin: Dietz 1997. Berg, Jan/Böhme, Hartmut/Fähnders, Walter et al. (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main: Fischer 1981, S. 458–460. Friedmann, Ronald: Ulbrichts Rundfunkmann. Eine Gerhart-Eisler-Biographie, Berlin: Edition Ost 2007. Glanz, Christian: Hanns Eisler. Werk und Leben, Wien: Steinbauer 2008.

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Grabs, Manfred (Hg.): Hanns Eisler: Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig: Reclam 1973. Grüneis, Christian: „Die Kantate ‚Mitte des Jahrhunderts‘. Hanns Eisler zwischen Systemkonformität und musikalischem Anspruch“, in: Christian Glanz und Annegret Huber (Hg.), Kantate und Politik. Zwei historische Falltudien, Wien: Mille Tre 2015, S. 13–115. Hennenberg, Fritz: Hanns Eisler, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt 1998. Keßler, Mario: Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961), Wien: Böhlau 2013. Mayer, Günter/Faßhauer, Tobias unter Mitarbeit von Maren Köster und Friederike Wißmann (Hg.): Hanns Eisler: Gesammelte Schriften 1921 – 1935, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2007. (= Neue Gesamtausgabe Serie IX, Band 1.1) Schebera, Jürgen: Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten, Mainz, London, Madrid: Schott 1998. Schweinhardt, Peter (Hg.): Hanns Eislers Johann Faustus. 50 Jahre nach Erscheinen des Operntexts 1952, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2005.

KAFKAESK? STAATLICHE REPRESSION UND LITERARISCHE WIDERSTÄNDIGKEIT Gerhard Donhauser

DIE „METHODE“ In ihrem 2009 veröffentlichten dystopischen Roman Corpus Delicti schildert Juli Zeh1 einen Staat oder ein Gemeinwesen, das sich selbst als Methode bezeichnet, und dem die Gesundheit seiner Bürger_innen als höchster Zweck gilt.2 Dies bedeutet nicht zuletzt, dass Menschen verpflichtet werden, alles zu tun, um sich gesund zu erhalten: etwa ein staatlich vorgegebenes Sportprogramm zu absolvieren oder über ihre Ernährungs­gewohnheiten Buch zu führen. Überwachungs- und Repressionsmaß­ nahmen sollen entsprechendes Verhalten gewährleisten. Wer beispielsweise raucht oder sich in einer nicht gesundheitsförderlichen Weise ernährt, wird gerichtlich verfolgt, bestraft und anschließend im Sinne der Staatsziele „resozialisiert“. Ist jemand gar nicht auf Linie zu bringen, kann er oder sie auf unbestimmte Zeit eingefroren werden. Einzelne begehren dagegen auf, manche bilden Gruppen und fordern ein Recht auf Krankheit, allesamt werden sie als „Terroristen“ verfolgt. Mia, die Protagonistin des Romans, ist aufgrund der Trauer um ihren Bruder Moritz, der zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden war und sich im Gefängnis das Leben genommen hat, nicht mehr so recht in der Lage, die verordneten Sportund Ernährungsvorschriften einzuhalten. So gerät sie in die Mühlen des Repressions­ apparats und wird aufgrund zahlreicher Verfehlungen gegen die Vorgaben der Methode vor Gericht gestellt. Dabei gerät allerdings fast zwangsläufig auch der seinerzeitige Prozess gegen Moritz in den Blick. Moritz hatte den ihm zur Last gelegten Mord stets geleugnet, galt jedoch aufgrund einer DNA-Probe als überführt. Es gelingt, im Zuge von Mias Verfahren die Unschuld ihres Bruders zu beweisen, und Mia selbst wird aus der Haft entlassen. Anders als ihr Bruder, der sich als überzeugter Anarchist der Methode zu verweigern suchte, hat sich Mia stets sehr systemkonform verhalten. Mia, von Beruf und Ausbildung Biologin, tendiert zugleich dazu, Sachverhalte analytisch zu gliedern und ist des Umstandes gewahr, dass sich für und gegen alles stets in ausreichender Weise Argumente finden lassen. Ihre aus dieser Haltung resultierende Entscheidungsschwäche, der zudem ein durchaus pessimistisches Menschenbild

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Juli Zeh, geboren 1974, Schriftstellerin, Juristin und Literaturwissenschaftlerin, setzt sich in ihrem literarischen und essayistischen Schaffen, aber auch im Rahmen politischer und rechtlicher Aktivitäten immer wieder kritisch mit Fragen persönlicher Freiheit innerhalb wachsender überwachungsstaatlicher Strukturen auseinander. Zu ihren Romanen zählen neben Corpus Delicti unter anderem Spieltrieb (2004), Schilf (2007) und Unterleuten (2016). Vgl. J. Zeh: Corpus Delicti.

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korrespondiert, wird durch ihre tiefe emotionale Bindung an ihren Bruder und die daraus resultierende Überzeugung von dessen Unschuld konter­kariert, und so gerät sie nach und nach in eine persönliche Krise, die relativ rasch in einen Konflikt mit der Methode mündet. Mia bringt ihre Kritik an der Methode nach ihrer Freilassung in einer polemischen Grundsatzkritik zum Ausdruck, die sie offenbar ganz bewusst dem Journalisten Heinrich Kramer, der zugleich als Chefideologe der Methode tätig ist, diktiert. Spätestens bei diesem Namen wird im Übrigen eine sehr offene Bezugnahme auf Geschichte und Struktur der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen erkennbar.3 Mias Statement beginnt mit den Worten: „Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet.“4 Wenig später wird Mia Holl festgenommen, und zwar wegen des Vorwurfs, einer terroristischen Vereinigung anzugehören. Sie soll ein Geständnis unterschreiben, weigert sich, wird gefoltert, weigert sich weiterhin und wird schließlich zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt. Kurz vor der Vollstreckung wird das Urteil in Resozialisierung umgewandelt. Zehs Corpus Delicti spielt nicht nur im Untertitel an Franz Kafkas5 Proceß aus dem Jahr 1925 an.6 Kafkas Held Josef K. wird eines Tages festgenommen, er weiß nicht weshalb, und gerät in ein absurdes Gerichtsverfahren. Weder wird ihm klar, wessen er überhaupt angeklagt ist, noch kann er Zugang zu dem Gericht selbst erlangen. Der Prozess endet mit einem Todesurteil, das zwar nicht öffentlich verkündet, aber doch an K. vollstreckt wird, und zwar auf denkbar brutale Weise. Die Hinrichtung voll­ ziehen zwei „Herren“, die für K. und die Leser_innen nicht minder undurchschaubar bleiben als das „Gericht“ in seiner Gesamtheit: „[A]n K.’s Gurgel legte sich die Hand des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte.“7 Anders als für Juli Zehs Mia Holl ist Auflehnung keine Option für Josef K. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass sie – in unterschiedlichen Kontexten – von repressiven staatlichen Systemen verfolgt werden und deren Zugriff weitgehend hilflos ausgesetzt sind. Im Gegensatz zu Mia Holl weiß Josef K. nicht einmal, warum ihm so geschieht. Das Ausgeliefertsein an repressive Apparate, deren Vertreter_innen im einen Fall (Josef K.) keine Gründe für ihr Handeln nennen, im anderen Fall (Mia Holl) vorgeblich ehrenwerte ideologische Ziele ins Treffen führen, scheinen Zehs Protagonistin 3 Heinrich Kramer oder Institoris war der Hauptautor des Malleus Maleficarum, Maria Holl hieß eine im 17. Jahrhundert als Hexe verfolgte Wirtin. Vgl. z.B. P. Segl: Heinrich Institoris; G. Rüdel-Eschbaumer: Der Hexenprozeß Maria Holl. 4 J. Zeh: Corpus Delicti, S. 186. 5 Kafka, der 1883 in Prag geboren wurde und 1924 in der Nähe von Klosterneuburg in einem Sanatorium an den Folgen von Tuberkulose gestorben ist, hat im Übrigen nicht nur (wie Juli Zeh) Rechtswissenschaften studiert, sondern ist bis 1922 als Jurist bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen mit Sitz in Prag tätig gewesen, in die er 1908 eingetreten war. Vgl. K. Wagenbach: Kafka mit Selbstzeugnissen, S. 58ff.; R. Stach: Franz Kafka, S. 328ff. 6 Vgl. F. Kafka: Der Proceß. 7 Ebd., S. 244. Zu verschiedenen, insbesondere rechtsphilosophischen Implikationen vgl. z.B. G. Donhauser: Türhüter, S. 9–16. .

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und Kafkas Protagonist indes mit vielen Menschen zu teilen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten mit staatlicher Unterdrückung konfrontiert sahen bzw. sehen – oder mit staatlicher Disziplinierung, wie Michel Foucault sie höchst anschaulich beschrieben hat.8 Gleichwohl bezieht sich Corpus Delicti auf sehr spezifische Entwicklungen, die historischen wie aktuell sich abzeichnenden repressiven Systemen eignen, und deren Bezugspunkte durchaus in konkreter Weise benannt werden können. Dies gilt insbesondere für die ideologischen Dispositionen der Methode, die mittels beständigen Schürens von Angst agiert und ihre Gegner_innen soweit als möglich aus der Sphäre des Menschlichen auszuweisen sucht. Sie versieht sie mit dem Etikett „Terroristen“ und entzieht sie solchermaßen zugleich auch dem Zugriff einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, die gerade in Abgrenzung zu den Prinzipien des Inquisitions­prozesses entwickelt wurde. Gerichtsverfahren geraten zur Staffage einer Inszenierung längst getroffener Entscheidungen, die ihrerseits freilich entpersonalisiert sind und als systemimmanent niemandem zugerechnet werden können, denn auch der Journalist Kramer inszeniert sich keineswegs als Entscheidungsträger. Folter sei legitim, denn es gehe um das Ganze, das System, die Gesellschaft selbst, die in ihrem Bestand bedroht wäre. „In Situationen von besonderer Bedeutung und hoher Brisanz, wenn also eine Gefahr für das Große und Ganze vorliegt, kommt es vor, dass man auf veraltete Methoden zurückgreifen muss“9, weist Kramer Mia auf die anstehende Folter hin. Der Bezug auf aktuelle Diskussionen um Folter als buchstäblich legitimes Mittel im „Kampf gegen den Terror“ liegt auf der Hand, man denke an Reinhard Merkels Ausführungen zum Thema.10 Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, behauptete ein solches Recht des Staates auf Notwehr, also die Möglichkeit, Menschen ganz legal foltern zu lassen.11 Als Beispiel nannte er den Fall, dass sich ein „Selbstmordattentäter irgendeiner terroristischen Provenienz“ an Bord eines Flugzeugs befindet, in dem er zuvor eine Bombe mit Zeitzünder deponiert hat. Soll/darf/kann ein ebenfalls anwesender „Polizist P“, der weiß, dass der Terrorist auch der Bombenleger ist, diesen unter Androhung oder sogar Zufügung von Gewalt zwingen, die Bombe zu entschärfen? Reinhard Merkel zufolge muss er das wohl sogar tun: „Kein Staat der Welt hat das Recht, in einem solchen Fall der Bedrohung durch einen verbrecherischen Angriff den Bedrohten zur Duldung seiner eigenen Ermordung zu verpflichten. Auf ebendiese Duldungspflicht läuft es aber hinaus, die einzig mögliche Abwehr des tödlichen Anschlags, die An­­drohung oder den Beginn von Foltermaßnahmen, mit einem absoluten Verbot zu unterbinden.“12 Dies führe dazu, dass „sich P einem paradoxen Rechtsbefehl unterworfen [sieht]: ‚Du bist von Rechts wegen verpflichtet, dich rechtswidrig töten zu lassen.‘ Eine solche Pflicht ist unmöglich“13.

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Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen; M. Foucault: Der Wille zum Wissen. J. Zeh: Corpus Delicti, S. 234. Vgl. zum Folgenden ausführlich G. Donhauser: Angst und Schrecken, S. 233ff. Momentan stehen dem in den meisten Ländern der „westlichen Welt“ noch innerstaatliche wie Verdikte internationalen Rechts entgegen wie jenes des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). 12 R. Merkel: Folter als Notwehr, S. 1. 13 Ebd.

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Die Auffassung, dass „Notwehrrechte [...] nur dem Bürger zu[stünden], nicht dem Staat“, tut Merkel als „[r]echtsdogmatische Finesse“ ab, die das „Dilemma“ nicht zu lösen geeignet sei. Foltert der Polizist in Merkels Beispiel nicht, so mache sich der Staat nachgerade zu einem „Gehilfen zum Mord“.14 Um dies abzuwenden, sei Folter ein geeignetes Mittel, allerdings nur zu diesem Zweck: „[A]llein die Zurechnungs­ prinzipien der Notwehr sind, was die Rechtfertigung einer Folter(drohung) allenfalls diskutabel machen kann.“15 Dies bedeutet insbesondere, dass sich die Gewaltanwendung durch ein staatliches Organ nur gegen die angreifende Person selbst richten dürfe, nicht etwa gegen deren Kind, um sie gefügig zu machen (von dem Kind geht schließlich kein rechtswidriger Angriff aus16 ).17 Im Handeln von Staaten ist Folter weltweit geübte Praxis, und auch in europäischen Staaten oder den USA de facto kein No-Go mehr, nachdem es einige Jahrzehnte lang so schien, als wäre es eines.18 Dass Reinhard Merkel bei seinen Überlegungen zur Folter im Rahmen eines Notwehrrechts des Staates gerade auf ein Beispiel abhebt, in dem die volkstümliche Figur des bombenbastelnden, Flugzeuge sprengenden „Terroristen“ eine Rolle spielt, ist gewiss kein Zufall. Denn nirgendwo sonst finden sich staatliche Legitimationsversuche von Folter momentan stärker als im Kontext des „War on terror/ism“. Wurde nicht gar Osama bin Laden nur deshalb aufgespürt, weil seine Kompliz_innen gefoltert worden waren und so Informationen über seinen Aufenthaltsort preisgegeben hatten?19 20 Und was alles kann nicht als unmittelbarer, rechtswidriger Angriff auf den Staat bzw. seine Interessen gedeutet werden, wenn die Welt angeblich in Flammen steht und allenthalben gewaltbereite Schläfer_innen auf ihre Chance zur Attacke lauern? Inwieweit Reinhard Merkels Beispiel in eben diese Richtung weist, erhellt, wenn wir es einen Moment lang als ernsthaftes Szenario betrachten. Dann stellt sich nämlich die Frage, woher der Polizist überhaupt weiß, dass der Terrorist ein Terrorist21 ist und eine Bombe gebastelt hat, die nun im Flugzeug tickt. Vielleicht hat der Terrorist ja damit angegeben, das ist möglich, dann ist aber ebenso gut möglich, dass er gar kein Terrorist ist, sondern nur ein Wichtigtuer. In diesem Fall würde er auf der Grundlage 14 15 16 17

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Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 2f. Merkels Ausführungen stehen zunächst in einem rechtswissenschaftlichen und justizpolitischen Kontext, nämlich einer Kontroverse um die Ernennung des Würzburger Professors für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht Horst Dreier zum Richter und Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, dessen Kommentierungen zum Grundgesetz, „[e]s seien Situationen denkbar, in denen der Staat vor der ausweglosen Alternative stehe, entweder ‚die Würde des Opfers oder die des Täters zu verletzen‘“ (ebd., S. 1), Teil der Kontroverse um seine Bestellung bzw. letztendliche Nichtbestellung waren. Im Wesentlichen ging es aber wohl um parteipolitischen Hickhack von CDU-Abgeordneten gegen den SPD-Kandidaten Dreier, der sich an Dreiers der katholischen Kirche nicht genehmen Ansichten zur Stammzellenforschung festmachte. Vgl. T. Jungholt: Horst Dreier und Rufmord. Vgl. M. Nowak: Folter, insbes. 72ff. Vgl. T. Darnstädt et. al: Ende eines Massenmordes, S. 88ff. Die Antwort lautet vermutlich eher „nein“. Vgl. z.B. J. Mayer: No Conscience in Zero Dark Thirty. Zum Versuch, diesen Begriff zu definieren, vgl. den letzten Teil dieses Beitrags.

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von Geschwätz oder wegen eines Gerüchts und nicht wegen eines unmittelbaren oder unmittelbar drohenden rechtswidrigen Angriffs gefoltert. Doch ließe sich einwenden, dass er dieses Gerücht selbst in die Welt gesetzt und sich die widrigen Folgen selbst zuzuschreiben hat. Eine erstaunliche Konsequenz wäre dies allerdings schon, denn im Kontext solcher Notwehr, wie wir sie etwa aus dem österreichischen oder deutschen Strafrecht kennen, liefe die oder der auf solcher Basis in Notwehr Handelnde leicht Gefahr, sich später mit dem Vorwurf eines Notwehrexzesses konfrontiert zu sehen.22 Doch wie sieht die Sache aus, wenn sich der vermeintliche oder tatsächliche Terrorist nicht „geoutet“ hat? Darf der Polizist dann schon foltern, wenn er einen hinreichenden Verdacht hat, die betreffende Person könnte eine Bombe im Flugzeug deponiert, scharf gemacht haben und zudem in der Lage sein, sie auch wieder zu entschärfen? Was würde einen solchen Verdacht rechtfertigen? Wenn ich jemanden verletze oder töte, weil ich ohne handfeste Indizien annehme, er könnte mich gleich angreifen, wird eine Berufung auf Notwehr später schwierig werden. Aber hier, bei Terrorverdacht, sollte eine vage Annahme schon hinreichen?

„WE SEIZE CONTROL FOR THE GREATER GOOD.“23 Nun mag man allerdings einige naheliegende Einwände geltend machen, gerade in Hinblick auf die Terroristen in Corpus Delicti. Ist es nicht in der Tat unerträglich, dass Menschen offenbar wider alle Vernunft Taten setzen und Forderungen erheben, die ihren Status als Menschen selbst in Frage stellen? Gibt es nicht wenigstens ein summum bonum,24 auf das man sich vernünftigerweise wird einigen können, also beispielsweise, dass Menschen gesund sein sollen? Sagt nicht schon das Alltags­ verständnis, dass Gesundheit „das Wichtigste“ sei? Und dann kommen Leute mit einem „Recht auf Krankheit“? Aber was heißt das eigentlich, „Gesundheit“? Die WHO sagt, „Gesundheit [health]“ sei ein „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens [well-being] und nicht so sehr die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“. Daraus folge: „The enjoyment of the highest attainable standard of health is one of the fundamental rights of every human being without distinction of race, religion, political belief, economic or social condition.“25 Dies klingt sehr löblich, kann aber keinesfalls mehr als ein wünschenswertes Ziel sein, das zudem sehr stark von individuellen Befindlichkeiten abhängt. Dass man Gesundheit sehr leicht zu einem Anknüpfungspunkt für repressive Strukturen machen kann, bewies im 17. Jahrhundert der aus Hall in Tirol stammende Arzt und

22 Vgl. z.B. G. Donhauser: Wer hat Recht?, S. 39 mit weiteren Nachweisen. 23 J. K. Rowling: Harry Potter and the Deathly Hollows, S. 291. 24 Auf die Verheißungen und Gefährdungen, die diese Idee mit sich bringt, verweist das Zitat in der Kapitelüberschrift; Albus Dumbledore, vordergründig eine wahre Lichtgestalt des Harry-­PotterUniversums, erlag ihr in jugendlichem Überschwang, mit weitreichenden Folgen. 25 Constitution of the World Health Organization, preamble.

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gegenreformatorische Schriftsteller Hippolytus Guarinonius (1572–1654),26 „ganz nebenbei“ Erfinder des antijüdischen Kults um den (gänzlich fiktiven) Anderl von Rinn. Guarinonius stammte aus einer Familie von Ärzten und Juristen und sah sich als Verfechter einer „(christlich-gegenreformatorischen) moralischen Wahrheit“27. So geriet er auch in Konflikt mit seinem Stiefvater, einem Juristen, der sich gegen die Verfolgung von „Hexen“ engagierte.28 1610 veröffentlichte Guarinonius einen umfangreichen Traktat zur menschlichen Gesundheit: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts29. Er steht in der Tradition antiker medizinischer Abhandlungen, unterscheidet sich von diesen aber auch in zentralen Punkten. So wird die Bedeutung von Hygiene für ein „lange[s] Leben und beständige Gesondt [Gesundheit]“ betont, zugleich aber auch das „Schlüsselwort ‚Gesondt‘“ im Sinne kirchlicher Religiosität sehr weit gefasst.30 Wer gesund sein wolle, müsse im Sinne der „Christlichen Philosophiae“ leben, „die Laster von den Tugenden / vnd das gut vom bösem [sic!] / zu unterscheiden / vberalles aber die Politischen Levt: vnd Landt vertilgende Fvchsschwentzerey 31 / zu fliehen“ lernen.32 Gedacht ist hier offenbar an die zeitgenössischen politischen Klugheitslehren, die bewusste Verstellung zur Erreichung bestimmter Ziele propagierten. Insbesondere in der Tradition Machiavellis galt die Bereitschaft, Rollen zu spielen und sich zu verstellen, als „Grundregel“ politischen Handels: „Ein kluger Fürst darf [...] sein Versprechen nie halten, wenn es ihm schädlich ist, oder die Umstände, unter denen er es gegeben hat, sich geändert haben.“33 Für Guarinonius kommen derlei „Übel“ „vom Heydnischen / verflvchten / verdamblichen / Teuflischen / vnd veberpestlentzischen Gemvet- und Havptgrewel aller Greweln / deß jetzt schwebenden Politischen / Weltlichen eytelen Respects vnd falschheit“34 . Es scheint bezeichnend für eine Gestalt wie Guarinonius, dass sich bei ihm humanistische Ausbildung, aktuelle medizinische Sichtweisen und ein so enger wie rigoroser Katholizismus zusammenfinden. So weist er zum Beispiel im Grewel auf die Bedeutung von Sauberkeit des Körpers, der Kleidung und Wohnung zur Verhinderung von Seuchen hin, trug aber nach eigenen Angaben als Seuchenarzt Kleidungsstücke des verstorbenen Jesuiten Petrus Canisius am Körper, um sich vor Infektionen zu schützen.35

26 Guarinonius wurde in Trient geboren und wuchs in Wien auf. In Padua studierte er Medizin und ließ sich später in Hall in Tirol nieder, wo er Stadtphysikus, Gewerkenarzt und Leibarzt der im Haller Damenstift lebenden Erzherzoginnen Maria Christina und Eleonora wurde. Vgl. D. Breuer: Hippolytus Guarinonius, S. 1118; F. Grass: Dr. Hippolytus Guarinonius. 27 D. Breuer: Hippolytus Guarinonius, S. 1119; R. Granichstaedten-Czerva: Die Familie Guarioni. 28 Vgl. G. Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn, S. 176. 29 Vgl. H. Guarinonius: Die Grewel der Verwüstung. 30 Vgl. D. Breuer: Hippolytus Guarinonius, S. 1118. 31 „Fuchsschwänzer, m. ein nach gunst strebender schmeichler, einer der nach des andern munde, ihm zu gefallen, redet [...].“ J. Grimm/W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, S. 355. 32 Zit.n. D. Breuer: Hippolytus Guarinonius, S. 1119. 33 N. Machiavelli: Der Fürst, S. 97. 34 H. Guarinonius: Die Grewel der Verwüstung, c. 38, zit.n. D. Breuer: Hippolytus Guarinonius, S. 1119. 35 Vgl. G. Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn, S. 176 mit weiteren Nachweisen.

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Im Grewel empört sich Guarinonius auch über die Prügeleien und ihre Folgen, derer er auf der Bühne ansichtig wird. Herr Pantalon „blewet“ seinen Diener Zanni so lange und intensiv, „biß er beede vndere Nottdvrften / in die Hosen fahren liesse“ und das unter „grossem Gelächter“ im Publikum.36 Die Behörden nahmen derlei Einlassungen durchaus sehr ernst. Wenn das „gemeine Volk“ in den habsburgischen Ländern daher Schauspiele sehen wollte, standen ihm außer den Schultheatern der Jesuit_innen, die öffentlich zugänglich waren, die Darbietungen fahrender Schauspieler_innen zur Verfügung. Freilich durften nicht alle Schauspieltruppen öffentlich auftreten. Die aus ­Italien kommenden Protagonist_innen der Commedia dell’ arte behielt sich der Hof vor; während des Dreißigjährigen Krieges blieben diese Wien allerdings gänzlich fern.37 Englische Schauspieltruppen scheinen in Wien – anders als in deutschen Herzog­tümern – im 17. Jahrhundert kaum gastiert zu haben.38 Freilich ließen sich auch sie in zunehmendem Maße durch die Commedia dell’ arte inspirieren, insbesondere durch die („komische“) Figur des Arlecchino oder seine Wiener Adaption ­Hanswurst. Diese wurde denn auch zum Anlass obrigkeitlicher Verbote.39 Wie schon angedeutet, spielte Guarinonius unverhohlen mit Ängsten und Feind­ bildern; vor dem Hintergrund der Gegenreformation fachte er die abgeflaute Begeisterung für Ritualmord-Legenden wieder an. 40 In einer 1622 fertigstellten Abhandlung behauptete Guarinonius, im Jahr 1442 hätten jüdische Händler in der Tiroler Ortschaft Rinn ein Kind namens Andreas „rituell“ getötet.41 So haltlos und aus der Luft gegriffen Guarinonis Anderl-Legende auch war, sie erwies sich – vor allem in der gedruckten Verfassung – als überaus wirkungsmächtig. Guarinonius’ deklarierter Hass galt Protestant_innen, 42 mehr noch allerdings jüdischen Menschen. So brüstete er sich, schon als Kind „wider das hailloße Gesünde [...] Antipathy vndt Widerwillen“ empfunden zu haben. Später habe er dann Gelegenheit gehabt, „ain jüdisch Mordt“ aufzudecken und „von neuen in die Gedechtnus der Christenheit zu getreüer Warnung“ zu „erfrisch[en]“. 43 Mit der entsprechenden Abhandlung, die er 1622 fertig­stellte, 44 erzielte Guarinonius enorme publizistische Wirkung. Darin behauptet er ohne jeglichen Sachbeweis und nur auf der Grundlage seiner eigenen Überzeugungen sowie dubioser, teils selbst forcierter Gerüchte, den erwähnten „rituellen“ Mord in der Tiroler Ortschaft Rinn. 45 36 Zit.n. P. Sprengel: Pantalon und Knecht Zanni, S. 15. 37 Vgl. I. Hoesslin: Die Wiener Berichterstattung, S. 45. 38 Vgl. M. Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 338–343. Allerdings fand z.B. eine nennenswerte Shakespeare-Rezeption auch in anderen Teilen des deutschen Sprachraums nicht vor dem 18. Jahrhundert statt. Vgl. z.B. G. Erken: Shakespearekrititk, S. 720ff. 39 Vgl. z.B. B. Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 32ff., 152ff. 40 Vgl. z.B. A. Esposito: Das Stereotyp des Ritualmordes. 41 Zur entscheidenden Rolle Guarinonis für die Genese der Anderl-Legende und des mit ihr verbundenen Kults vgl. G. Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn, S. 193. 42 Vgl. J. Bücking: Kultur und Gesellschaft in Tirol, S. 106. 43 Zit.n. G. Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn, S. 180. 44 Guarinonius, Hippolyt: Begrü[n]dte Historj / Der Marter, deß Haillig= / Unschuldigen Khindtß / Andree Von Rinn, / So durch die Juden, Im 1462. Jahr / Den 12. Tag Juli dem Christe[n]thumb / Zu Hoon Vndt Spott, Ermördt. Stiftsarchiv Wilten, Handschrift 38.A. Zit. nach G. Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn, S. 180. 45 Vgl. zum Folgenden ausführlich G. Donhauser: Angst und Schrecken, S. 196ff.

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Guarinonius’ Fabel ging in der Folge in ein Jesuitendrama ein, das in Hall aufgeführt wurde. In Rinn wurde eine Kirche „am Judenstein“ errichtet, in der zur besseren Veranschaulichung des Geschehens ein Deckenfresko angebracht wurde, das den „Mord“ an Anderl ganz im Sinne von Guarinonius’ Abhandlungen detailreich darstellte. Der „Anderl-Kult“ geriet zu einer populären Angelegenheit, die auch zahlreiche Wallfahrer anzog und dies trotz offiziellen Verbots seitens der katholischen Kirchenführung in Tirol im Jahr 1994 (!) teils noch immer tut. 46 „Der Begriff Feindbild“, so lautet eine rezente lexikalische Definition, „bezeichnet die sozial (vor allem massenmedial) vermittelte, auf extremer emotionaler Ablehnung beruhende, negativ bewertende, häufig erfahrungsunabhängig verfestigte und verzerrende, hyperbolisch entstehende oder imaginäre Repräsentation eines Gegners als bedrohlichen und aktiv zu bekämpfenden Widersacher.“47 Die wertende Zuschreibung bestimmter Eigenschaften steht im Vordergrund. Ob die Personen oder Personengruppen, denen diese Eigenschaften zugeschrieben werden, über diese auch tatsächlich verfügen, ist für die Erzeuger_innen und Rezipient_innen wohl nur von geringem Interesse, und so ist persönliche Bekanntschaft mit den vermeintlichen Repräsentant_innen der Feindschaft kaum wünschenswert. Eine gänzlich imaginäre Gestalt als Ausgangspunkt kann in diesem Zusammenhang von großem Nutzen sein, zumal sie jederzeit neu konfiguriert und mit wieder anderen Eigenschaften ausgestattet werden kann. 48 Feindbilder haben viel mit Projektionen zu tun, dies erklärt nicht nur den Bedarf an ihnen, sondern auch das Auftreten bestimmter Feindbilder zu bestimmten Zeiten. 49 Feindbildern kommt offenbar auch Bedeutung zu, wenn es darum geht, Wir-Gruppen zu generieren, deren Mitgliedern ansonsten vielleicht nicht viel gemeinsam wäre, die, im Gegenteil, sogar in massiven Konflikten zueinander stünden.50 Insofern ist es nicht untypisch, dass ein Autor wie Guarinonius versuchte, seine gegenreformatorischen Bemühungen durch die Adaption eines für Christ_innen aller Strömungen geläufiges Feindbild neu zu adaptieren und auf diese Weise etwas wie Gruppen­identität zu generieren. Es würde ohne jeden Zweifel zu weit führen, wollte man nun ausführlicher auf den Begriff „Identität“ (in einem psychologischen, sozialen und kulturellen Sinn) zu sprechen kommen und mehr sagen als nur, dass er prekär und mit Ambivalenzen behaftet ist.51 So ging etwa Erik H. Erikson von prozesshaften Entwicklungen aus, in deren Rahmen „Selbst-Vorstellungen, die aus den durchlebten Krisen der Kindheit stammen“, auch mit „im Mittel zu erwartende[n]“ Haltungen der

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Zur Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert vgl. z.B. Benz: Das Anderl von Rinn. M. Reisigl: Feindbild, S. 291. Vgl. z.B. P. Stanford: Der Teufel, insbes. S. 125ff., 146ff., 171ff., 193ff., 224ff. Zum Konnex von Projektion und Feindbild gerade im politischen Kontext vgl. z.B. auch A. Flohr: Feindbilder, S. 47f. 50 Zum Folgenden vgl. ausführlich G. Donhauser: Angst und Schrecken, S. 200ff. 51 Für einen Überblick vgl. z.B. A. Assmann: Identitäten. Gedacht ist im Folgenden an Fragen der Ich-Identität, wie sie in der psychologischen Theoriebildung wohl in Anlehnung bzw. Weiterentwicklung von Sigmund Freuds Überlegungen zum Ich-Ideal entstanden sind.

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sozialen „Umgebung“ eines Menschen zu integrieren gesucht würden.52 Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die für Erikson über Symbole vermittelt gedacht ist, soll dabei gleichermaßen hergestellt werden können wie das Gefühl eigener Individualität.53 Wie auch immer Eriksons Ansatz im Einzelnen zu beurteilen sein mag, von Interesse scheint hier doch der primär auf Interaktionen zwischen Umfeld und Individuum gerichtete Blick bei der Gestaltung von Ich-Identitäten – desgleichen die prinzipielle Möglichkeit von Veränderung. Die Umfelder, von denen her bzw. in Auseinander­ setzung mit denen wir unsere Selbstbilder – vermutlich zunächst einmal eher unbewusst als bewusst – gestalten, sind keineswegs homogen und statisch, zumindest nicht in auch nur ansatzweise pluralen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahr­ hunderts.54 Mögen wir auch zahlreiche „Voreinstellungen“ übernehmen, sie werden bei näherer Betrachtung vermutlich durchaus vielfältig sein. „Die Kategorien, denen wir gleichzeitig angehören, sind sehr zahlreich“, schreibt Amartya Sen in einem Buch, das sich insbesondere kritisch mit den Thesen Samuel Huntingtons zur Entstehung von Kulturen auseinandersetzt: „Was mich betrifft“, heißt es bei Sen, „so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeschischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ‚Leben vor der Geburt‘) angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl der unterschiedlichen Kategorien, denen ich gleichzeitig angehören kann – daneben gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Zugehörigkeitskategorien, die mich je nach den Umständen bewegen oder fesseln können.“55 Identitätsbildung ist mithin eine höchst komplexe Angelegenheit, individuell wie kollektiv. Zahlreiche Faktoren sind zu berücksichtigen, und derlei für Großgruppen gezielt herzustellen, ist schwierig. Es mag insbesondere über Formen und Inhalte kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses entstehen, doch sind diese (bei allen Reglementierungen und machtpolitischen Korrelaten des letzteren) doch vielfältig und vielschichtig genug, um für die Konstituierung „politisch wirksame[r] Handlungs­ einheit[en]“ nicht wirklich geeignet zu sein.56 Und so kann auch ein überstrapaziertes Konzept von Gesundheit implizit oder explizit Verweise auf Bedrohungen und Gefährdungen enthalten, als deren Ursachen

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E. Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 190ff., 138ff. Vgl. ebd., S. 197ff. Vgl. dazu bereits A. Gutmann: Multikulturalismus, insbes. S. 380ff. A. Sen: Die Identitätsfalle, S. 33f. Zum „kollektiven Gedächtnis“ vgl. M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, insbes. S. 70ff. Zum „kulturellen Gedächtnis“ vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, insbes. S. 50ff. Zu den zensorischen Implikationen jeglicher Kanonisierung vgl. A. Assmann/J. Assmann: Kanon und Zensur, S. 7–27. Zu den „politisch wirksame[n] Handlungseinheit[en]“ vgl. R. Koselleck: Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 211.

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sich Feind_innen aller Art erweisen. Was kann nicht alles ungesund sein, und wie prekär wird es, wenn erst Ideologien mächtig werden, die den „gesunden Volkskörper“ im Blick haben sowie alles von ihm fernhalten, was ihm schadet? Und erst die Kosten der „Volkgsgesundheit“, die durch Uneinsichtige verursacht werden, Rauchende, gewiss, aber auch Personen, die sich nicht hinreichend „gesund“ ernähren, unerwünschte Sportarten ausüben oder gezielte und nur ihrem eigenen Besten dienende Bewegung verweigern! Auch diese Assoziationen lassen ganz gut erkennen, wie repressiv auch das summum bonum „Gesundheit“ werden kann, wenn es nur hinreichend hoch veranschlagt und entsprechend definiert wird. So bleibt wohl jedes summum bonum als Grundlage politischen Handelns verdächtig, und es wäre vielleicht günstiger, nach einem summum malum zu suchen, dessen Vermeidung vielleicht eher konsensfähig sein könnte.57 Dies allerdings nur, sofern es sich dabei nicht um irgendwelche Feind_innen handelt. Der Feind unserer Tage schlechthin ist wohl der „Terrorist“ oder die „Terroristin“. Wir sind diesem_dieser Feind_in in Bezug auf Corpus Delicti ebenso begegnet wie in Zusammenhang mit den erwähnten Erwägungen Reinhard Merkels. Aber Terrorist_innen gibt es doch, sie verüben Anschläge, wahllos, töten Menschen, quälen und zerstören sie auf vielfältige Weise, um irgendwelcher kruder Ideologien willen – der „Islamismus“ ist hier nicht besser oder schlechter als irgendeine andere. Dies trifft zweifellos zu. Aber ist Terror damit hinlänglich beschrieben? In begrifflicher Hinsicht wenigstens? Dem scheint nicht so zu sein.58 Historisch und systematisch ist „Terror“ oder „Terrorismus“ „erstens eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die zweitens punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch, drittens mit dem Ziel psychischer Wirkung auf andere als die physischen Opfer, viertens im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden.“59 Expressis verbis nobilitierte wohl erstmals Robespierre den Terror als Mittel der Politik.60 Avant la lettre wurde das damit Bezeichnete als Mittel politischen Handelns zunächst von politisch-institutioneller und kirchlicher Seite bzw. von religiösen Gruppen eingesetzt.61 „Feinde des Volkes“, so erklärte Robespierre im Februar 1794 vor dem Nationalkonvent, seien mittels „terreur zu beherrschen“: „Die Terreur ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also Ausfluss der Tugend; sie ist weniger ein besonderes Prinzip als die Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie in seiner Anwendung auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“62 Diese Traditionslinie hat teils bis heute Bestand; das Vorgehen

57 Vgl. dazu insbes. J. Shklar: Der Liberalismus der Furcht; G. Donhauser: Angst und Schrecken, S. 319f. 58 Vgl. zu diesem Thema eingehend und mit vielen weiteren Nachweisen ebd., S. 28ff., 122ff. 59 H. Hess: Terrorismus, S. 58. Vgl. auch R. Walther: Terror und Terrorismus, S. 65. 60 Politik wird hier in einem umfassenden Sinn verstanden, der also die übliche Begriffstrias „policy“, „polity“ und „politics“ gleichermaßen umfasst. Zur Terminologie vgl. z.B. K. Rohe: Politik, S. 67; T. Meyer: Was ist Politik?, S. 27. 61 Vgl. G. Donhauser: Angst und Schrecken, 28ff. 62 Zit.n. R. Reichardt: Die französische Revolution, S. 68f.

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der russischen Armee in Tschetschenien gehört nicht minder in diese Rubrik als die systematischen Repressionen, denen Dissident_innen in China ausgesetzt sind.63 Derlei darf schon insofern nicht verwundern, als im Zentrum der Idee des Staates seit der Frühen Neuzeit ein weit gezogenes Konzept von Souveränität steht, dessen Durchsetzung nach innen im Modus eines „terror of the legal punishment“ gewährleistet werden soll(te).64 Historisch jünger ist die Entwicklung von Terrorakten, die seitens einzelner Personen oder kleiner Gruppen gesetzt werden. Dessen ganz ungeachtet sind es aber im öffentlichen Bewusstsein bzw. im Rahmen der veröffentlichten Meinung gerade letztere, die Vorstellungen davon, was Terror sei, nachhaltig prägen.65 Damit sollen Gewalt und Zerstörung, die von solchen Formen des Terrors ausgehen, nicht in Frage gestellt oder kleingeredet werden. Allerdings werden ihre Wirkungen zwangsläufig immer hinter jeder Form von Terror zurückbleiben, die auf Basis staatlicher oder sonstiger institutioneller Mittel und Organisation zustande kommt. Dies erhellt, wenn man des Umstandes gewahr bleibt, dass Terror mit gezielter, massiver Gewalt einhergeht, die gegen aktuell wehrlose Personen gerichtet ist, mit dem Ziel, Widerstand anderer Personen zu brechen bzw. eine Gruppe von Personen derart zu verunsichern, dass deren Angehörige ihre bisherigen Ziele aufgeben und sich heteronomen Vorgaben beugen. Mittel dazu sind Angst und Erpressung (der Begriff kommt ja vom „Schrecken“). Der Kontext dieses Tuns ist ein politischer, also einer, der im weitesten Sinn darauf gerichtet ist, soziale Verhältnisse gezielt zu gestalten.66 Für solche Art von Terror bedarf es einer Infrastruktur, die durch Kleingruppen oder Einzelpersonen meist schwer zur Verfügung gestellt werden kann. Dessen ungeachtet werden gerade terroristische Einzeltäter_innen (lone wolfes) und Kleingruppen in vorherrschenden medialen wie politischen Diskursen als besonders gefährlich dargestellt. Der bloße Verdacht terroristischer Betätigung soll bereits zu massiven staatlichen Eingriffen gegen Individuen berechtigen, die von der Einschränkung elementarer rechtsstaatlicher Garantien bis hin zur Anwendung von Folter reichen.67 Zugleich wird es auf dieser Basis möglich, die Spielräume staatlicher Verwaltungsbehörden auszuweiten und sie sowohl gerichtlicher wie journalistischer Kontrolle zu entziehen. Insofern thematisiert Corpus Delicti eine ganze Reihe grundlegender politik- und rechtstheoretischer Fragen, die zugleich in Sphären philosophischer Anthropologie hineinreichen.68 Dies geschieht allerdings nicht in Form einer philosophischen,

63 Zu Tschetschenien vgl. z.B. A. Politkovskaja: Tscheteschenien; J. Littell: Tschetschenien, im Jahre III. Zu China vgl. z.B. R. Foot: Rights beyond Borders; F. Wang: Organizing; T. Weyrauch: Gepeinigter Drache. 64 Vgl. J. Bodin: Sechs Bücher über den Staat, S. 205; T. Hobbes: Leviathan, S. 256; G. Donhauser: Wer hat Recht?, S. 120ff. 65 Auf eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Terror“ und „Terrorismus“ wird hier bewusst verzichtet Vgl. dazu G. Donhauser: Angst und Schrecken, S. 128ff. 66 Vgl. ebd., S. 30ff., 122f. 67 Vgl. ebd., S. 74ff., 177ff. 68 Neben den hier angesprochenen liegen zweifellos auch Anklänge an Giorgio Agambens Überlegungen zur Reduktion menschlichen Lebens auf das nackte, physische Leben auf der Hand, desgleichen eine massive Kritik an vielfältigen Formen überwachungsstaatlicher Kontrolle. Vgl. dazu G. Agamben: Homo sacer.

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politischen oder wissenschaftlichen Abhandlung, sondern gleichermaßen fiktiv wie anschaulich. Die Auseinandersetzung mit struktureller bzw. institutionalisierter Repression fällt plastisch, eindringlich und verstörend aus, mithin: angemessen. Und Resignation erscheint nicht als vertretbare Antwort, selbst wenn die Perspektiven triste sein mögen.

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ZWISCHEN AFFIRMATION UND WIDERSTAND – MODE ALS MEDIUM ZUR GESELLSCHAFTSKRITIK Veronika Berti

MODE ALS MASSENMEDIUM Der Mensch weiß um die Möglichkeit, modisch die Persönlichkeit und die Befindlichkeit gleichermaßen zu kommunizieren. Von Anfang an entwickelte er die Bekleidung nicht nur, um sich vor den Unbilden der Witterung zu schützen, sondern auch, um sich als Individuum, hin- und hergerissen zwischen Nachahmung und Distinktion, einer Gruppe zugehörig zu erweisen und auch, um seinen jeweiligen Platz in der Hierarchie dieser Gruppe einzunehmen und anzuzeigen.1 In ihrer Entwicklung mutierte die Mode rasant zu einem populären Kommunikationsmedium, das individuelle und kollektive Befindlichkeiten vielschichtig reflektiert. Diese Tendenz ist zugleich ein wesentliches Charakteristikum der Mode: Vestimentäre Codes werden relativ schnell aufgegriffen und imitiert. Obwohl diese Codes jedes Mal unterschiedlich interpretiert und so ständig verändert und transformiert werden, bleiben sie relativ leicht entzifferbar und verleihen so der Mode extreme Massentauglichkeit und Popularität. Dieses unendliche Spiel mit vestimentären Codes lässt Mode zu einem universalen zeitgenössischen Kommunikationsmedium jeder Zeit werden. Inwieweit dieses Vehikel aus Mode und Gesellschaft, Massentauglichkeit und Popularität kritiktauglich ist, wird noch zu zeigen sein. Denn eines ist klar: Vieles, das modisch vorgibt, kritisch zu sein, ist oft nichts anderes als die Mode selbst – schöner Schein?

BÄRENDIENST UND BEFREIUNGSSCHLAG – DER ABSCHIED VOM KORSETT Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde vor allem aus der weiblichen Kleider-Mode immer mehr eine Körper-Mode. Es entstand ein Verständnis von Kleidung, Körper, Weiblichkeit und Identität, welches bis heute unser Modeverhalten prägt.2 Über den weiblichen Körper wurde nicht nur verhandelt, er wurde selbst zum Medium, mit dem verschiedene Gruppen (Künstler_innen, Vertreter_innen der Frauenbewegung, Mediziner_innen) ihre Forderungen artikulierten und Kritik übten. Nur oberflächlich richtete sich diese gegen idealisierte Vorstellungen von Körper und Figur. Immer mehr Frauen verzichteten auf das Tragen eines Korsetts. Die eigentliche Bedeutung des Kampfes gegen das Korsett lag generell in einer freieren, „modernen“ Lebens­ auffassung. Indirekt fand die korsettlose Kultur Unterstützung von verschiedenen 1 2

Vgl. H. Geser: Zur Psychologie der Mode. Vgl. E. Gaugele: Unter dem Kleid sitzt immer Fleisch, S. 58.

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Bewegungen um die Jahrhundertwende, die durch neue Formen von Körperbewusstsein zu neuen Befindlichkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers gelangten, z.B. der Künstler_innenbewegung am Monte Verità im schweizerischen Ascona, die dem Nacktkult huldigte. Auch verschiedene Formen des modernen Tanzes, die u.a. durch Isadora Duncan und Mary Wigman sowie durch Rudolf ­Steiners Eurythmie entwickelt wurden, förderten das Bewusstsein, dass es nicht die Bekleidung sei, die den Körper forme.3 Obwohl es weitgehend bekannt war, dass das Tragen von Korsetts den weiblichen Körper nicht nur verunstalte, sondern auch krank mache, dauerte es lange, ehe das Korsett endgültig aus der Alltagsmode verschwunden war. Geraume Zeit hielt sich in weiten Kreisen die Überzeugung, dass das Tragen des Korsetts die Frau in ihrer Gesamtheit kultiviere. Eine Schulwandtafel von 1900 zeigt die korsetttragende Frau kunstvoll frisiert und in anmutiger Haltung, während ihr korsettloses Pendent ihre Haare offen und ungebändigt zur Schau stellt und selbstvergessen vor sich hinblickt. Die zeitgenössische Mode und das Korsett im Besonderen wurden im Diskurs auf der Suche nach neuer weiblicher Kleidung heftig kritisiert. Die Korsettbefürworter_innen vertraten die Meinung, dass der weibliche Körper ohne Korsett „keinen Halt“ habe und nur mehr eine schlaffe, formlose Masse sei; dagegen argumentierten die Betreiber_innen der Reformbewegung, dass gerade umgekehrt das Korsett den Körper „schlaff und fett“ mache, da das Rückgrat durch das ständige Stützen seine gerade Haltung verliere. 4 Der Mediziner Heinrich Pudor sah in der zeitgenössischen einschnürenden Bekleidung das Gefängnis des Menschen und das Unnatürliche.5 Die Überlegungen zu Kleiderreformen waren so auch eine Suche nach einem „plastisch erbauten Idealbild“6 des Körpers, der nicht durch Bekleidung seine Form erhalten, sondern dessen Gestalt die Silhouette der Kleidung bestimmen sollte. Anna Muthesius, Ehefrau des Werkbundarchitekten Hermann Muthesius, war führend in der Reformbewegung für eine neue, „körperunabhängige“ Gestaltung von Kleidung. Sie vertrat die Auffassung, dass der Mensch ein bekleidetes Wesen und dementsprechend die Bekleidung ein Teil seiner selbst geworden sei. So repräsentiere sich auch Vernunft über Kleidung, diese sei somit ein Produkt menschlichen Denkens und Maßstab für menschliche Intelligenz.7 Allerdings betont Muthesius 1903 in ihrer Publikation Das Eigenkleid der Frau, dass die weibliche Bekleidung die jeweiligen körperlichen Vorzüge zu heben vermag, wie sie auch körperliche Nachteile mildern könne.8 Es galt jedenfalls, anschauliche Erkenntnisse über „die wahren Formen“ des Körpers zu sammeln. Während die von Paul Schultze-Naumburg publizierte Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleider9, eine im Wesentlichen von 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. H. Szeemann: Monte Verità, S. 128f. Vgl. E. Gaugele: Unter dem Kleid sitzt immer Fleisch, S. 62. Zit.n. H. Pudor: Die Frauenreformkleidung. Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 60, 70. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. P. Schultze-Naumburg: Die Kultur des weiblichen Körpers.

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Voyeurismus und pornografischem Charakter geprägte Zusammenstellung von Akt-Fotografien10 einer ernsthaften Kleiderreform eher einen Bärendienst erwies, führten die Bemühungen einzelner prominenter Jugendstilkünstler_innen letzt­ endlich tatsächlich zu einer Demokratisierung der Mode.11

VOM REFORMKLEID ZUR HOSE Henry van der Velde und Gustav Klimt strebten eine Umstrukturierung der Bekleidung hin zu einer körpergerechten und, wie sie fanden, auch schöneren Kleidung an.12 Gustav Klimt betrieb höchst individuell die Popularisierung der Reformkleidung, jenes kittelartigen weiten Kleides, das ohne jede Einengung des Körpers auskam, indem er diese Kleider selbst trug, die nach seinen eigenen und gemeinsamen Entwürfen mit seiner Lebenspartnerin Emilie Flöge in deren Atelier gefertigt wurden. Mit den modischen Reformkleidern gingen auch andere freigeistige Ideen einher, neben den bereits erwähnten diversen Nacktkulturen und modernen Tanzformen propagierte man auch die „ungebundene, von den Fesseln der Ehe befreite Liebe“13. Zwanglos wurde es in der Folge in manchen Kreisen: Zuerst traten Frauen in genuin männlich konnotierten Kleidungstücken (Anzug, Hose, Krawatte, Hut) auf, später wechselte auch Mann modisch die Geschlechterrollen, und modisches Crossdressing wurde in den 1920er-Jahren für beide Geschlechter eine beliebte und populäre Praxis. Auf breiter Basis zeigt sich diese Demokratisierung der Mode, indem für viele Frauen – und nicht nur für Teile der besseren Gesellschaft – modische Erleichterungen populär wurden (wie z.B. kurze Ärmel oder nach oben rutschende Rocksäume, später Hosen) und es ihnen auch erleichterte, veränderte Freizeitaktivitäten bzw. Sport auszuüben. Letztendlich jedoch erzeugte der so vermehrt zur Schau gestellte weibliche Körper Unbehagen, denn man befürchtete damit einhergehend ein verändertes Verhalten der Frauen. Der lange Weg von der Kleider-Mode hin zur Körper-Mode verdeutlicht den Wandel von einer Kultur der Unbeweglichkeit hin zu einer der Beweglichkeit. Darin zeigt sich eine weitreichende gesellschaftskritische Dimension von Mode und Bekleidung, denn parallel dazu wurde den Forderungen nach Selbstbestimmung auch in vielen anderen Bereichen immer mehr Rechnung getragen (Frauenwahlrecht etc.). Umso mehr verwundern heutige Gegenbewegungen. Anstelle von Selbstbestimmtheit und persönlicher Freiheit unterwerfen sich viele – Frauen wie Männer – Idealen, die auf unterschiedlichsten und zum Teil recht extremen Normen und Zwängen in allen modischen Bereichen beruhen – und beschränken sich darin gerade selbst!

10 11 12 13

Vgl. E. Gaugele: Unter dem Kleid sitzt immer Fleisch, S. 64. Vgl. G. Lehnert: Schnellkurs Mode, S. 133. Vgl. ebd., S. 117f. S. Partsch: Gustav Klimt, Maler der Frauen, S. 45f.

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VON DER STRASSE AUF DEN LAUFSTEG Vorbei ist die Zeit, in der sich höhere Schichten von den sie nachahmenden niedrigeren immer wieder modisch abzugrenzen versuchten und durch diesen Abgrenzungsdrang zu immer neuen Moden gelangten. Dieses trickle-down-Prinzip verkehrte sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einem trickle-up. Anregungen lebte man nicht in immer noch exaltierteren und extravaganten neuen Kreationen aus, sondern lugte verstohlen nach den ärmeren, unteren Schichten, um von der einen oder anderen saloppen Nachlässigkeit modisch zu profitieren. Belanglos blieb dabei, ob diese modischen Vernachlässigungen der weniger Privilegierten aus Nicht-Haben-Können, Nicht-Wissen oder Nicht-Akzeptieren resultierte. Das Individuum verweigerte auf diese Weise tradierte vestimentäre Normen und sogar diejenigen, die es sich leisten konnten, „besser“ gekleidet zu sein, zogen offenkundig die optische Repräsentanz eines rangniedrigeren Status vor. Dieses Motiv war maßgeblich bestimmend für den Grunge-Look der 1990er-Jahre. Dieser „Schmuddellook“ wurde zuerst im Bereich der Pop- und Jugendkultur durch die Musik von Kurt Cobain und seiner Band Nirvana populär, im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre eroberte der Grunge-Look Prêt-à-porter und Haute Couture. Die Kreationen mit offenen Säumen und löchrigen Textilien, die aussahen, als würden sie aus der Altkleidersammlung stammen, stellten nicht tatsächlich konventionelle modische Normen für Schönheit und gutes Aussehen in Frage. Vielmehr war diese Ästhetik des Hässlichen eine weitere Spielmöglichkeit mit Extremen, ähnlich wie die Punkmode der 1980er-Jahre, die es ermöglichte, neue und überraschende Elemente in die Mode einzubringen, die Ironie und Provokation vermittelten. Bemerkenswert ist jedoch für beide Looks, die mit diversen Codes von Subkultur operieren, dass der Anti-Look von Schönsein, von gepflegtem und gestyltem Auftreten, auf breiter Basis populär und zu einer Modeerscheinung wird. Jedoch ist es gereinigter Schmutz und gereinigte Armut, die man trägt. Die löchrigen Jeans wählt man von einer sicheren Position aus. Man agiert als freies Individuum und nimmt eine romantische Haltung ein, die die Wahl bewusster Stillosigkeit ermöglicht.

KURVEN – AN UNGEWÖHNLICHEN STELLEN Tatsächlich gab es gerade in den 1990er-Jahren eine andere modische Entwicklung, die sich vorrangig ebenso anti-ästhetischer Codes bediente. Zwar wurden jene modischen Kreationen von der breiten Öffentlichkeit nur wenig beachtet, mittlerweile haben sie aber ihren Weg in zahlreiche internationale Museen gefunden. Die Fragen, die sie aufwerfen, markieren Positionen unserer Kultur und Gesellschaft. Aus den späten 1990er-Jahren stammt Rei Kawakubos Kollektion Comme Des Garçons, in der sie verschiedene Kleidungsstücke mit Pölsterchen ausstopft, allerdings nicht an den gewohnten Stellen, die seit jeher modisch auf verschiedenste Art und Weise augenfällig Betonung finden, wie Gesäß, Hüfte oder Brust. Mit Daunenpolstern verformt Rei Kawakubo asymmetrisch Rücken und Schultern und verändert so die Silhouette ihrer Trägerinnen entgegen allen Vorstellungen von Schönheit und Weiblichkeit.

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Abb.1: Rei Kawakubo, Comme des Garçons, 2017

Rei Kawakubo arbeitet radikal den Vorstellungen vom Ideal der „westlichen Frau“ entgegen, deren Bild sich in unterschiedlichen Ausmaßen stets aus den Komponenten Anmut, Weiblichkeit und Erotik zusammensetzt. Die Aussagen ihrer Kreationen unterminiert die heute 75-jährige Designerin mit fehlerhaft gewebten Stoffen und geklöppelten Textilien, die aussehen, als sollten sie sogar aus dem Container der Altkleidersammlung aussortiert werden. Dabei ist die provokante Wirkung dieser Ästhetik keine Auseinandersetzung mit den heutigen Vorstellungen von Mode, sondern basiert auf den asketischen Idealen des Zen-Buddhismus des 16. und 17. Jahrhunderts, als man mit Fehlerhaftem und Unvollkommenem auf übermäßige höfische Prachtentfaltung und Zeremonie reagierte.14 Die deformierend wirkenden Körper­silhouetten von Rei Kawakubos Kreationen widersetzen sich den heute allzeit präsenten Postulaten von Schönheit und Attraktivität nicht nur ästhetisch. Grundsätzlich ermöglicht es die Mode auch, das Ich räumlich zu erweitern. Früher sorgten dafür Krinolinen, Schleppen, weite Ärmel, aufgetürmte Frisuren und hohe Hüte. Heute ermöglichen Plateauschuhe, weite und übergroße Kleidung und besondere Taschenkreationen eine Ausweitung des Ich-Radius und die Beanspruchung von mehr Platz und Raum, um so dem Selbst mehr an Bedeutung einzuräumen. Das tun Kawakubos Kreationen ebenso, jedoch ist die Performativität eine andere. Denn während Schuhe und Tasche,

14 Vgl. H. Koda: Rei Kawakubo and the Aesthetic of Poverty, S. 34.

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trotz einzelner Luxurierungen, genuin funktional und pragmatisch sind, verrücken die seltsam gerundeten Buckel und schiefen Hüften die Proportionen ihrer jeweiligen Trägerinnen und zwingen zu einer differenzierten sinnlichen Wahrnehmung. Zusätzlich rütteln sie auch an den Regeln und Grenzen, die die Haute ­Couture diskursiv in Kleidern und über Gekleidet-Sein festlegt und befragen so die in Kleidern etablierten Normen von Ästhetik und Mode, aber auch Geschlechts- und Klassengrenzen.

ZWISCHEN ANPASSUNG UND AKTIVISMUS Februar 2017, zu bestellen bei dior.com: T-Shirt aus Baumwolle und Leinen in Weiß mit Aufdruck „we should all be feminists“. Zusammensetzung: 86% Baumwolle, 14% Leinen, 550€.15 1997 konstatierte Beat Wyss in seinem Essay Die Welt als T-Shirt16, dass ebendieses Kleidungsstück zum universal gewordenen Ausdruck einer unsere Welt beherrschenden Ästhetik von „Anwenderfreundlichkeit“ geworden sei. Dieses textile Passstück ist bequem zu tragen, praktisch zu reinigen und frei von alters-, gesellschafts- und geschlechtsspezifischen Differenzierungen. Umso mehr sind Aufdrucke, Farben und Ornamente dazu geeignet, Personalisierungen und Abgrenzungen vorzunehmen. „Bier formte diesen wunderbaren Körper“, „My dad went to Los Angeles and all he brought me is this lousy T-Shirt“ oder „Keep your hands off“ sind, wie unzählige andere Kommentare auch, geeignet, persönliche Botschaften zu kommunizieren, deren Bedeutung von Belanglosigkeit bis hin zu in jeder Hinsicht relevanten Aussagen reichen können, in jedem Fall den_die Träger_in zu einer wandelnde Litfaßsäule werden lassen. Der jeweilige Aufdruck des T-Shirts richtet sich explizit an die anderen, für den_die Träger_in ist die jeweilige Aufschrift selbst schwer lesbar. Mit den ausdrücklichen Appellen oder Akklamationen kontaktiert man seine Umwelt. Wie Beat Wyss meinte, sei das T-Shirt der textil gewordene Ausdruck einer anwendungsfreundlichen Bekleidung, die immer passe. Ein Kleidungsstück, das alle Traditionsbestimmungen, Normen und Strukturen, die Mode und Bekleidung in der langen Zeit ihrer Entwicklung geprägt haben, weit hinter sich lässt. Ist ein derart anwendungsfreundliches, unverbindliches Kleidungsstück dafür geeignet, mittels politisch korrekter Forderungen oder moralisch einwandfreier Appelle die Welt zu verbessern, Protest zu üben und Widerstand zu zeigen? Weit eher kommt all den dort angebrachten Parolen wohl symbolischer Stellenwert zu. Sie bedeuten, sich mitzuteilen, nicht unbedingt die Botschaft selbst. Man ist nicht mehr Privatperson, sondern man spricht öffentlich. Georg Simmel verwies bereits 1905 darauf, dass Mode das Bewusstsein mehr und mehr auf das „Jetzt“ zuspitze, dem Menschen ein starkes Gegenwarts­gefühl gebe.17 Mode wird sozusagen zur Manifestation der augenblicklichen Gegenwart. Dieses Gefühl verstärkt sich durch die Tatsache, dass man sich explizit in diesem Moment artikuliert. Ich spreche, daher bin ich. Darin steckt enormes gesellschaftspolitisches 15 Siehe Homepage von Dior; https://www.dior.com/couture/de_de/damenmode/die-accessoires/ tucher/baumwolle-und-leinen-in-weiss-mit-we-should-all-be-feminists-aufdruck-2-39962 16 Vgl. B. Wyss: Die Welt als T-Shirt, S. 13. 17 Vgl. G. Simmel: Philosophie der Mode, S. 17.

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Potential, ob dies für Gesellschaftskritik ausreicht, sei dahingestellt, auch wenn das T-Shirt mehr als 550€ kostet.

DER MONOKINI – ICH BIN, WER ICH WILL Rudi Gernreichs Mode mag dem heutigen Publikum in vielem selbstverständlich erscheinen, dabei liegt seinen Kreationen eine Idee zugrunde, die bis heute ungebrochen innovativ ist. Seine avantgardistisch und futuristisch anmutenden Kreationen sind getragen von der Vorstellung, dass es dem Menschen möglich ist, außerhalb aller Rollenzwänge zu individuell verantworteten Entscheidungen und Selbstentwürfen zu gelangen – und zwar aufgrund einer Autonomie, die durch Gernreichs Mode möglich wird.18 Seine Mode war ein Angriff auf konventionelle Bekleidung, die festgelegten Typen und Rollen entsprach. Tabus wurden angerührt, seine Mode vermittelte die Vorstellung von einer neuen Gesellschaft. Peggy Moffitt, sein bevorzugtes Model, das fast ihr ganzes Leben mit ihm zusammenarbeitete, stellt Rudi Gernreich neben Coco Chanel. Für Moffit ist Gernreichs Werk jedoch universeller und klassischer als jenes von Chanel.19 Auf jeden Fall ist sein Schaffen radikaler. Als Belege dafür mögen der Topless Swimsuit, der spätere Monokini oder die Unisex-Kollektion herangezogen werden. Die Unisex-Kollektion, die er 1969 im Auftrag des Life Magazin entwickelte, war für Gernreich das Vermächtnis an die Zukunft. So werde sich seiner Vorstellung nach die gesamte Mode ihres romantischen Touchs entledigen, Kleidung nicht mehr entweder männlich oder weiblich sein, sondern eher funktionale Aspekte weiterentwickeln. Und kann ein Körper nicht mehr akzentuiert werden, solle er abstrahiert werden, so könnten z.B. ältere Menschen modisch ihren eigenen Kult entwickeln. Die schlichten und schnörkellosen Kreationen Rudi Gernreichs spiegeln seine Vorstellung von einer ästhetisch gleichgestellten Gesellschaft wider. Er sah im Unisex-Projekt, das sich gegen jede Form von Typisierung und Zuordnung richtet, den ernsthaften Versuch, gängige Vorstellungen von „männlich“ und „weiblich“ zu hinterfragen.20 Nicht nur in den 1970er-Jahren verstand man das kritische Potential dieser Schöpfungen, bis heute sind Rudi Gernreichs Kreationen provokant und schockierend, indem sie Grenzen ignorieren und überschreiten, die jahrhundertelang mit Mode und Bekleidung gefestigt worden sind. Gernreichs Mode ist in vielen Dingen weit gewagter und innovativer als die heutigen Trends für metrosexuell gestylte Männer oder androgyne Frauen. Letztendlich setzt er den Trend zur Körper-Mode positiv fort, indem er nicht nur den Körper, sondern den Menschen schlechthin so sein lässt, wie er es will.

18 Vgl. B. Felderer: Fashion will go out of fashion, S. 13. 19 Vgl. P. Moffitt/W. Claxton: The Rudi Gernreich Book, S. 224. 20 Vgl. ebd., S. 230.

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Abb.2: Illustration nach dem Vorbild des Monokinis von Rudi Gernreich, getragen von Peggy Moffitt, 2018

MODE IN (DER) KUNST Oft bietet die Darstellung von Mode im Bild ein sehr geeignetes Mittel, Sachverhalte oder Personen genau zu identifizieren oder zumindest Überlegungen zu eröffnen, die ein Bild oder Kunstwerk besser lesbar machen.21 Gegenseitiges Einwirken und Überschneidungen von Mode und Kunst sind in vielen Bereichen grundlegend. So konstatiert Theodor W. Adorno bereits 1970, dass die Mode trotz ihrer kommerziellen Manipulierbarkeit tief in die Kunstwerke hineinreiche und sie nicht nur ausschlachte.22 Mode wird in manchen Arbeiten zu einem Hauptbestandteil, ohne den das jeweilige Werk unvollständig wäre. Denn die durch Trends und Schnelllebigkeit gekennzeichnete Mode ist oft gerade jene Komponente, die in einem Kunstwerk einen grundlegenden Prozess oder eine Struktur anzuzeigen und offenzulegen vermag.

21 Vgl. E. R. Knauer: Ein Bild von himmlischer Schönheit. 22 Zit.n. S. Drühl: Verstrickungen, S. 173.

Mode als Medium zur Gesellschaftskritik

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Der britisch-nigerianische Künstler Yinka Shonibare lässt seine Figurengruppen stets in farbenprächtige Dutch-Wax-Stoffe gehüllt auftreten, das russische Künstlerkollektiv AES + F kleidet in seiner Arbeit Last Riot Kinder und Jugendliche in Feinripp-Unterwäsche und Camouflage-Look oder präsentiert verstorbene Obdachlose in Designer-Kleidung, das britische Künstlerpaar Gilbert und George wäre in seinen Auftritten ohne die gleichen Anzüge unvollständig. Ohne die jeweils treffend gewählte Bekleidung und Mode wären diese Projekte und viele andere beliebig und weitgehend dekontextualisiert. Die einzelnen textilen Materialien komplettieren auf offene, vielschichtige Weise die Arbeiten, in ihnen verdichtet sich die jeweilige Pointe. Die US-amerikanische Fotografin Cindy Sherman kommt in fast keiner ihrer Fotografien ohne Mode und Bekleidung aus. Zum Hauptsujet wird die Mode in ihren Fotoserien Fashion, die sie in den Jahren 1983/1984 und 1993/1994 für weltbekannte Couturiers produzierte. Wenig glamourös und unsinnlich präsentiert sich die Künstlerin in diesen Fotos. Im Zusammenspiel mit ungewaschenen Haaren, zerlaufenem Make-up, löchrigen Strümpfen, schmutzigen Fingernägeln oder sich verweigernden Posen der Protagonistin entfaltet die teure Kleidung ihre Wirkung nicht wie zu erwarten. Die Künstlerin selbst betonte: „Ich wollte mich völlig von der Vorstellung lösen, dass diese Kleider mich schön aussehen lassen könnten. Ich wollte völlig leer werden.“23 Die Fashion-Serien wurden trotz ihres anti-glamourösen Charakters begeistert aufgenommen, für den die Dekonstruktion der zu erwartenden Versprechen der Mode wie Attraktivität, erotische Ausstrahlung u.Ä. verantwortlich zeichnet. Cindy Sherman lässt in diesen beiden Serien die Mode nicht nach der üblichen Methode funktionieren. Sie spricht selbst von Leere anstatt jener Klischees und Ideale, die Modeaufnahmen und -produktionen zumeist üblicherweise beinhalten und die den immer wieder behaupteten affirmativen Charakter der Mode mittragen.

SCHÖN AUSSEHEN ODER DESTRUKTIV SEIN? Der affirmative Charakter der Mode ist möglicherweise einer der Hauptgründe, weshalb Mode nicht primär mit Gesellschaftskritik assoziiert wird. Mode ermöglicht trotz Überindividualität und Massentauglichkeit ein individuelles Sprechen und repräsentiert so das universale zeitgenössische Kommunikationsmedium schlechthin. Sich individuell mitzuteilen und auszudrücken bedeutet die größtmögliche Manifestation des Ichs. Dieser performative Charakter der Mode wird durch das starke Gegenwartsgefühl, das Mode ihren Träger_innen zu verleihen vermag, intensiviert und hat alleine durch diese Tatsache ausreichend Potential, um gesellschaftskritisch zu funktionieren. Die Bestrebungen einer von Zwängen und Normen befreiten Mode beinhalten einen weitreichenden Aspekt von Widerstand, genauso wie die Möglichkeiten der Maskerade und des Rollen- oder Geschlechterwechsels mithilfe der Mode, die nichts anderes bedeuten, als sehr etablierte Konventionen in Frage zu stellen. Die Mode erlaubt den Menschen, sich selbst in einigen Bereichen zu definieren, die man

23 J.-P. Criqui: Eine Dame verschwindet, S. 278.

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Veronika Berti

anders nur schwer oder gar nicht formulieren könnte. Gesellschaftskritik zeigt sich dabei nicht nur in den Abgrenzungen, die vorgenommen werden, sondern auch an den Grenzen, an die man stößt.

BIBLIOGRAFIE Criqui, Jean-Pierre: „Eine Dame verschwindet“, in: Régis Duran und Véronique Dabin (Hg.), Cindy Sherman, Paris: Flammarion 2006, S. 270–283. Drühl, Sven: „Verstrickungen“, in: Kunstforum 141 (1998), S. 172. Felderer, Brigitte: Fashion will go out of fashion, Köln: DuMont Verlag 2000. Gaugele, Elke: „Unter dem Kleid sitzt immer Fleisch – Plastische Körper und formende Blicke der Kleiderreformbewegung um 1900“, in: Patricia Brattig (Hg.), Femme fashion, Stuttgart: Arnoldsche Verlag 2004. Geser, Hans: Georg Simmel: Zur Psychologie der Mode – Soziologische Studie; http:// socio.ch/sim/verschiedenes/1895/mode.htm Knauer, Elfriede R.: „Ein Bild von himmlischer Schönheit“, in: Neuer Zürcher Zeitung vom 04.09.2010; https://www.nzz.ch/ein_bild_von_himmlischer_schoenheit-1.7441321 Koda, Harold: „Rei Kawakubo and the Aesthetic of Poverty“, in: Future Beauty, 30 Jahre Mode aus Japan, München: Prestel 2011. Lehnert, Gertrud: Schnellkurs Mode, Köln: DuMont Verlag 2006. Moffitt, Peggy/Claxton, William: The Rudi Gernreich Book. Big Serious Art, Köln: Taschen 1999. Partsch, Susanna: Gustav Klimt. Maler der Frauen, München: Prestel 1994. Pudor, Heinrich: Die Frauenreformkleidung. Ein Beitrag zu Philosophie, Hygiene und Ästhetik des Kleides, Leipzig: Verlag von Hermann Seemann 1903. Schultze-Naumburg, Paul: Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleider, Jena: Eugen Diederichs 1922. Simmel, Georg: „Philosophie der Mode“, in: Moderne Zeitfragen 11 (1905), S. 5–41; http:// www.modetheorie.de/fileadmin/Texte/s/Simmel-Philosophie_Mode_1905.pdf Szeemann, Harald (Hg.): Monte Verità - Berg der Wahrheit, Mailand: Electa Editrice 1975. Wyss, Beat: Die Welt als T-Shirt, Ostfildern: DuMont Verlag 1997.

DIE KÜNSTLERISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK IM ZEITALTER DES INTERNETS Noelia Bueno-Gómez

DIE REPRODUZIERBARKEIT DER KUNST IM ZEITALTER DES INTERNETS In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschreibt Walter Benjamin die Konsequenzen, die die technische Reproduzierbarkeit für die Kunst mit sich bringt.1 Die alten Kunstwerke hatten eine Ritualfunktion, ihre Einzigartigkeit war das, was sie zu „echten“ Kunstwerken machte. Ihre Einzigartigkeit und Echtheit waren somit die relevanten Werte: Man entwarf und produzierte ein Kunstwerk an sich. Durch die Möglichkeiten der modernen Technik jedoch werden Kunstwerke grundsätzlich reproduzierbar und die Vorstellung eines Originalwerks zurückgewiesen; das Kunstwerk wird an sich für die Reproduktion vorbereitet. In diesem Fall ist die Echtheit bedeutungslos; die ursprünglichen magischen oder religiösen Rituale sind verschwunden. Benjamin verwendet das Kino als Beispiel. Es gibt keinen „echten“ Film; der relevante Wert der Filme ist nicht die Echtheit, sondern die Anzahl der Reproduktionen. Durch das Internet ist die Reproduzierbarkeit massiv angestiegen. Etwa kann man den Besuch des Kinos noch als soziales Ritual interpretieren. Das Internet jedoch bringt die Kunstwerke ohne solche Rituale in unsere Häuser. Wir können ein virtuelles Museum besuchen, während wir auf der Toilette sitzen. Die Benutzer_innen können wählen, was sie sehen/hören, sie können mit Inhalten interagieren, sie manipulieren und sie weiter verbreiten. Die massive Reproduzierbarkeit verändert die zwei Momente der ästhetischen Erfahrung und die Kunstwerke an sich in folgender Weise: 1. Der_Die Kunstschaffende ist sich der Möglichkeiten der Reproduzierbarkeit bewusst, und dies hat einen Einfluss auf die Konzeption und die Erstellung des Kunstwerks. Der Schaffungskontext eines Kunstwerks ist für sein Verständnis äußerst relevant. Die Reproduzierbarkeit ist heutzutage Teil dieses Kontexts – nicht nur in den Fällen des Kinos oder der Musik, sondern auch in der Literatur, der Fotografie und der Bildenden Künste. So interpretiert man etwa die Anzahl von Downloads bestimmter Kunstwerke im Internet (Filme, Musik), die Häufigkeit von Abbildungen (z.B. Fotografien von Bildwerken) oder deren Nachbildung (z.B. Imitationen) als Anzeichen ihrer Qualität. Zudem ist es viel einfacher für die

1

Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

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Noelia Bueno-Gómez

Künstler_innen selbst, die Werke anderer zu sehen und sich von ihnen inspirieren zu lassen, da die Mehrheit von ihnen (oder wenigstens ihre Reproduktionen) im Internet verfügbar ist. arüber hinaus passt der_die Künstler_in oft sein Werk an die Bedingungen 2. D der Reproduzierbarkeit an, etwa um das Kunstwerk einfacher reproduzierbar zu machen, oder zu versuchen, die Kopierfähigkeit des Kunstwerks einzuschränken.2 Die Kunstwerke an sich werden bereits mit dem Gedanken an eine Reproduktion geschaffen. So hat z.B. ein literarischer Text, der online veröffentlicht wird, besondere Charakteristika: Etwa muss der Text schnell abruf- und lesbar sein und ein sehr vielschichtiges Publikum ansprechen. ie ästhetische Erfahrung der Rezipient_innen verändert sich im Zeitalter der 3. D Reproduzierbarkeit ebenfalls. Das Internet erleichtert den Zugang zur großen Mehrheit der Kunstwerke (oder ihren Ab- und Nachbildungen), sogar zu jenen Kunstwerken, die lange vor dem digitalen Zeitalter kreiert wurden. Außerdem können die Empfänger_innen die Kunstwerke kreativ manipulieren und mit den Kunstwerken oder ihren Darstellungen interagieren. Man kann sich denken, dass die vom Internet ermöglichte massive Reproduzierbarkeit die Kunst demokratisiert. Mittels eines Internetzugangs können alle Menschen die Kunstwerke oder deren Reproduktionen sehen, sich von ihnen inspirieren lassen oder mit ihnen in Interaktion treten.

KUNST UND GESELLSCHAFTSKRITIK Kunst und Gesellschaftskritik sind keineswegs inkompatibel. Künstlerische Gesellschaftskritik, d.h. Kunstwerke, die gute ästhetische Qualität aufweisen und gleichzeitig effektiv als Kritik gegen soziale Ungerechtigkeiten fungieren, sind miteinander vereinbar. Allerdings akzeptiert der reine Ästhetizismus diese Idee nicht, wenn laut diesem die Kunst nur rein ästhetische Ideale verfolgen soll (l’art pour l’art, „die Kunst um der Kunst willen“).3 In dieser Hinsicht verabsolutiert der Ästhetizismus ästhetische Kriterien auf Kosten aller anderen Beurteilungskriterien, wie etwa Wahrheit oder Moral. 4 Der Vorstellung des Ästhetizismus zufolge darf die Harmonie, die Schönheit oder die Struktur des Kunstwerks nicht verändert werden, um es für weitere (nicht ästhetische) Ideale zu nutzen. Allerdings ist das Problem des Ästhetizismus,

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Viele Filme u.ä. digitale Produkte wie Musik, E-Books oder Videospiele werden oft von Künstler_innen oder deren Vertreiber_innen mit DRM versehen, d.h. mittels spezieller Softwaresignaturen wird die Kopierfähigkeit des Kunstwerks stark eingeschränkt. Illustrator_innen und Maler_innen, die hauptsächlich digital arbeiten, haben sich auch einiges einfallen lassen, um sicherzustellen, dass ihre Bilder zwar online ausgestellt, aber nicht gestohlen werden können (z.B. mittels digitaler Wasserzeichen). Ich bedanke mich bei Mag. Georgia Hinterleitner für diesen Beitrag zu meiner Argumentation und ihrer Überprüfung des Artikels. Für eine klassische Zusammenfassung des Programms des Ästhetizismus vgl. das Vorwort von O. Wilde: The Picture of Dorian Gray. Vgl. D. Fenner: Was kann und darf Kunst?, S. 41.

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dass er alles den ästhetischen Idealen unterordnet, sogar die Gewalt. Mit anderen Worten: Wenn in der Schaffung eines Kunstwerks Gewalt angewendet oder Leiden verursacht wurde, ist dies für den Ästhetizismus irrelevant, da nur das künstlerische Endresultat von Belang ist. Jedoch können meiner Ansicht nach Gewalt und Ungerechtigkeit nicht gerechtfertigt werden, indem man von ihnen ein ästhetisches Ideal herleitet. Dies stellt ein ernstes Problem dar, da viele Kunstwerke in der Geschichte der Menschheit in Verbindung mit ungerechtem und vermeidbarem Leiden zahlloser Menschen geschaffen wurden, wie die Chinesische Mauer oder einige europäische Dome (deren Konstruktion von den Steuereinnahmen an der verarmten Bevölkerung bezahlt wurden). Ein weiteres Beispiel: Im Film Last Tango in Paris (Regie: Bernardo ­Bertolucci, 1972) vergewaltigt Marlon Brando die Schauspielerin Maria Schneider tatsächlich, um eine Szene „realistischer“ darzustellen.5 Dies hatte natürlich lang­ währende psychische und emotionale Auswirkungen auf die junge Schauspielerin. Die ästhetischen Ideale („mehr Realismus“) rechtfertigen nicht die sexuelle Nötigung. Obwohl ich den Ästhetizismus kritisiere, möchte ich die Wichtigkeit der Kunst als freien Ausdruck der Menschen, ihrer Talente und Persönlichkeiten betonen, und die Autonomie der Kunst verteidigen. Nur Gewalt, irgendeine Schädigung an anderen Menschen, Tieren und Ungerechtigkeit sind die Grenzen dieser Freiheit. Warum ist die freie Kunst (d.h. die Kunst als freier Ausdruck) so wichtig für uns? Die Menschen besitzen einen ästhetischen Sinn (der Begriff „Schönheitssinn“ wird zwar oft synonym gebraucht, doch hat Kunst nicht automatisch mit Schönheit zu tun, siehe z.B. groteske oder schockierende Kunst). Mit anderen Worten: Menschen besitzen die Fähigkeit, ästhetische Erfahrungen, Wahrnehmungen und Genüsse zu erleben und sich kreativ zu betätigen (Kunstwerk, Handwerk, etc.). Ein sozioökonomisches und politisches System, das keine Zeit, keine Ressourcen oder keine Freiheit für die volle Entwicklung der ästhetischen Erfahrungen der Bürger_innen zulässt, ist repressiv. Die Möglichkeit, ästhetische Erfahrungen (auch alltägliche ästhetische Erfahrungen) zu machen, die eigenen Talente zu entwickeln und den ästhetischen Sinn zu kultivieren, ist Teil eines vollkommenen Lebens. Wenn ein politisches System den Menschen die Möglichkeit zu einem vollkommenen Leben verwehrt, stört und verhindert es die persönliche Entfaltung seiner Bürger_innen. Wenn Kunst eine freie Darstellung der Menschen ist, kann sie auch eine sozialkritische Rolle spielen. Freie Kunst ist intrinsisch politisch relevant, auch wenn dies nicht immer beabsichtigt ist. Freiheit ist ein Wert, der sowohl in der Politik als auch in der Ästhetik eine bedeutende Rolle spielt. Die freie ästhetische Darstellung der Menschen kann einen performativen Effekt haben, sie kann eine politische Handlung sein. Wenn z.B. Kunstschaffende von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen, obwohl diese nicht gesetzlich garantiert ist, so verteidigen sie die Freiheit allgemein: Sie verhalten sich, als ob sie diese Freiheit hätten. Dadurch eröffnen sie einen Raum inmitten von Repression (dieser Raum kann sehr vergänglich sein, da er schnell mittels Gewalt vernichtet werden kann). Hannah Arendt bezeichnet dieses riskante

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Vgl. C. Ott: Missbrauch in Brandos „Butter-Szene“.

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Verhalten als „authentisch“ politisch, obwohl sie zwischen dem Herstellen von Kunst und tatsächlichem politischen Handeln unterscheidet.6 Beispiele für die direkt performative, soziale und politische Funktion von Kunst sind die Kunstwerke von Dilomprizulike, einem nigerianischen Künstler, der Kunst aus Abfall kreiert. Er hat ein Studio in Lagos, genannt The Junkyard und leitet ein Kunstzentrum für junge Kunstschaffende. Raimundo Martins beschreibt Dilomprizulikes Kunst folgendermaßen: „It goes beyond conventional practices of representation and criticism searching for art as political agency […] His work recovers a memory of the cities and the self-esteem of disowned people living in peripheral communities, helping them capture and recreate their meanings to understand collapses and transformations in these spaces. It is a synthesis of inter-relationships that are translated into art exhibitions at the same time that they spill onto social life searching for an awareness to reassign life to those living in the margins.“7 Kunstwerke und künstlerische Performances können politische Räume formen. Dilomprizulikes Skulpturen spielen eine politische Rolle: Der Abfall, aus dem sie bestehen, ist Ausschussware, die keine Funktion mehr hat, nicht mehr nützlich ist und keinen Wert mehr besitzt. Dilomprizulike stellt künstlerisch Menschen dar, welche die Gesellschaft wie Abfall behandelt. Dadurch wird das Rohmaterial, der Abfall, auch in Kunst verwandelt, d.h. gewissermaßen erhoben, da er nicht nur in etwas Nützliches, sondern auch in etwas Schönes und Bewundernswertes umgearbeitet wird. Diese Transformation des Abfalls bildet eine Parallele zur Ermächtigung der Personen, die diese Skulpturen darstellen. In diesem Sinn ist seine Kunst politisch. In demokratischen Gesellschaften kann Kunst ihre Ressourcen (Technik, Talente, Kreativität) nutzen, um verborgene Ungerechtigkeiten zutage zu fördern, polemische oder tabuisierte Themen facettenreich zur Sprache zu bringen und den öffentlichen Diskurs zu stimulieren. Auch in dieser Hinsicht erfüllt Kunst politische Funktionen. Allerdings ist Kunst nicht immer eine freie Darstellung oder ein sozialkritisches Medium. Einige Kunstwerke sind politisch neutral. Gleichzeitig gibt es Kunst, die freiheitswidrig ist, die implizit oder explizit totalitären oder repressiven Werten und 6 Kunst ist für Arendt eine Art von Herstellen: „Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen“ (H. Arendt: Vita activa, S. 16.), während das Handeln die wirkliche politische Tätigkeit ist. Arendt versteht das Handeln als eine spontane, freie Intervention des Menschen in der Welt der Menschen: „In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen arjein (ebd., S. 215.). Im Gegensatz zu Arendt möchte ich argumentieren, dass Kunst dieselbe politische Relevanz wie Handeln und Sprechen haben kann, weil ihre Konsequenzen und Charakteristika genau die gleichen sein können. Arendt betont die Materialität der Kunst, schreibt aber gleichzeitig dem politischen Handeln eine Art von Performativität und sogar Ästhetizismus zu. Allerdings fügt sich Kunst nicht unbedingt in Arendts Materialitätskonzept. Es gibt Kunstformen, die mit den gleichen Mitteln arbeiten, die Arendt der „immateriellen“ politischen Handlung zuschreibt (Worte, Schweigen, Gesten, Darstellung des eigenen Körpers etc.). 7 R. Martins: Dilomprizulike, Art as Political Agency, S. 123.

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Abb.1: Dilomprizulike, City Girls, 2010, Skulptur, Installation aus Fundstücken, 100–200 cm

Institutionen dient. Kunst kann Teil der legitimierenden Strategien eines repressiven politischen oder ökonomischen Systems sein, wie etwa der Propagandamaschinerie eines totalitären Regimes. In diesen Fällen dient die „offizielle Kunst“ ganz und gar einem institutionalisierten, politischen Programm. Ein Beispiel hierfür ist die „offizielle“ Francoistische Kunst, die während der spanischen Diktatur entstand, wie etwa die Büsten von Francisco Franco oder José Antonio Primo de Rivera. Rivera war ein faschistischer spanischer Politiker, der die Falange gründete, die Francoistische Partei. Ein typisches Motto dieser Büsten war „Caídos por Dios y por España“, das bedeutet, „gewidmet den für Gott und für Spanien Gefallenen“. Diese Büsten wurden auf öffentlichen Plätzen ausgestellt und dienten als Erinnerungen an die Francoistischen Gefallenen im Spanischen Bürgerkrieg, jedoch nicht an andere Opfer des Konflikts. Zu Diktaturzeiten war es Kunstschaffenden nicht erlaubt, ihre eigenen ästhetischen Erfahrungen auszudrücken (wie z.B. die Erfahrungen der Besiegten). Im Gegensatz dazu steht die gesellschaftskritische Kunst – ihre Funktion ist es, soziale Probleme darzustellen, zu kritisieren und gegen die Repression zu protestieren. Ein Beispiel ist das Volkslied Coplas del Comandante Moreno, welches in Nord­ spanien nach dem Spanischen Bürgerkrieg anonym komponiert wurde und durch die nachfolgenden Jahre der Diktatur hindurch und auch während der demokratischen Periode mündlich tradiert wurde. Ziel dieses Volkslieds war es, den Verrat und die Ermordung an einer Gruppe von republikanischen Soldaten in Galicia nach der Niederlage der republikanischen Armee in Asturias zu erzählen. In Zeiten der Diktatur (und auch in den darauffolgenden Jahrzehnten) war es verboten, öffentlich über diese Ereignisse zu sprechen; es gab keinen Prozess, um die Ermordungen aufzuklären und die Opfer erhielten keine würdevolle Bestattung. Dieses mündlich überlieferte

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Volkslied war die ästhetische Reaktion der Bevölkerung, ihre „poetische Gerechtigkeit“ und eine freie, wenn auch hochriskante Kritik an der Diktatur.8 Kurz gesagt erfüllt gesellschaftskritische Kunst die genau gegensätzliche Funktion von herrschaftslegitimierender Kunst. Diese kann auf jeden Fall politisch und gesellschaftlich sehr relevant sein, denn ästhetische Erfahrungen sind keineswegs unabhängig vom politischen und sozialen Leben der Menschen. Eine Quelle der Inspiration für künstlerische Gesellschaftskritik ist soziales Leiden. Darunter versteht man jenes Leiden, das durch soziale Probleme, Institutionen, Gesetze, soziale Gewalt, soziale Konflikte, Kriege oder soziale Systeme verursacht wird. Soziales Leiden entsteht z.B. durch Ausschluss, Arbeitslosigkeit, Armut, Vergewaltigung als Kriegswaffe, Zwangswanderung, Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion etc. Alle diese Situationen können Kunstwerke inspirieren, die soziale Tendenzen kritisch beleuchten, ein akutes soziales Problem aufzeigen oder soziale und politische Bewegungen dazu antreiben, bestimmte Probleme zu lösen. Leiden an sich (entweder sozial oder persönlich) besitzt keine Schönheit, keine ästhetische Dimension.9 Aber Leiden kann Kunstwerke hervorbringen – als Katharsis, als Sublimierung, als Ausdruck der eigenen Erfahrungen – die die Empathie von anderen stimulieren können, als Denunziation, als kritische Auseinandersetzung. Ein Beispiel dafür sind die Skulpturen von Bruno Catalano. Der Gesichtsausdruck seiner menschlichen Skulpturen und deren fehlende Körperteile stellen das Leiden dar, welches durch Zwangswanderungen verursacht wird. Die fehlenden Teile symbolisieren, was die Menschen zurücklassen mussten, als sie vertrieben oder umgesiedelt wurden: die verlorenen Teile ihrer Identität. Diese Skulpturen bringen die soziale Kritik des Künstlers auf bewegende und beeindruckende Weise zum Ausdruck. Sie erzählen die verborgene Geschichte der Zwangsmigrant_innen auf eine so physische Art und Weise, dass selbst Personen, die diese Erfahrung nicht teilen, Empathie empfinden und diese Probleme besser verstehen können.

DIE KÜNSTLERISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK IM ZEITALTER DES INTERNETS Das Internet erweitert unseren Lebensraum, die Grenzen unserer Welt, unsere Realitäts­erfahrung. Ich bin der Ansicht, dass das Internet die Demokratisierung der Kunst ermöglichen kann. Es macht Kunst erreichbarer und ermöglicht neuen Kunstschaffenden, ihre Werke zu zeigen und weltweit Einfluss auszuüben. Allerdings stellt sich folgende Frage: Banalisiert die vom Internet ermöglichte massive Reproduzierbarkeit die Kunst? Schließt die massive Reproduzierbarkeit der gesellschaftskritischen Kunst eine bessere Verbreitung ihrer Botschaft und eine bessere soziale Resonanz ein? Oder banalisiert die massive Reproduzierbarkeit der gesellschaftskritischen Kunst deren Kritik? Anders gesagt, minimiert die Überfülle und die massive Reproduktion die Wirkung der Sozialkritik? Die massive Reproduzierbarkeit der gesellschaftskritischen Kunst birgt das Risiko der Banalisierung, wie z.B. Susan Sontag anhand der Flut von Filmaufnahmen 8 9

Vgl. N. Bueno-Gómez: Collective Memory, S. 286–305. Über die ästhetische Darstellung des Schmerzes vgl. A. Meyer: Homo dolorosus.

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Abb.2: Bruno Catalano, Johnny, 2013, Bronze, 185 cm, Marseille

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und Fotografien von Kriegen und sozialen Krisen (welche das Leiden der Beteiligten sehr explizit wiedergeben) aufzeigt.10 Die Normalisierung bringt eine Minimierung der gegebenen Wichtigkeit mit sich – wir gewöhnen uns an diese technischen Vervielfältigungen echten Leidens. Eine Entwicklung im Zuge der massiven Verbreitung von Kunstwerken ist die skandalöse Kunst. Der Skandal begann mit der Kampfansage gegen die traditionellen Werte der Kunstwerke wie deren „Aura“ (Unerreichbarkeit) und gegen das Bild des Künstlers (Talent, Genie), wie etwa im Dadaismus. Heutzutage geht die skandalöse Dimension der Kunst darüber hinaus. Wir finden im Begriff der Kunst nicht nur das, was Kant außerhalb der Grenzen der Kunst situiert,11 sondern auch die extreme Selbstdarstellung von Kunstschaffenden, die blutige und hyperrealistische Darstellung von Gewalt (wie z.B. in den Werken von Gottfried Helnwein),12 sowie die reale Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere (wie etwa die Fotografien von David Nebreda). Kann man die skandalöse Kunst als eine Reaktion gegen die Banalisierung der massiven Verbreitung von Kunst interpretieren? Braucht man den Skandal, um hervorzustechen, wenn die reine künstlerische Sozialkritik so massiv verbreitet ist? Die skandalöse Kunst bezeugt die Unabhängigkeit der Kunstschaffenden. In diesem Sinn stellt sie eine Forderung nach kreativer Freiheit dar, eine Auflehnung gegen Zensur oder ähnliche Interessen und verteidigt die Freiheit als politischen Wert. Jedoch muss man anmerken, dass es sich bei skandalöser Kunst auch um eine Suche nach Beachtung in einem Medium – dem Internet – handeln kann, welches täglich, stündlich, vielleicht sogar minutiös nach etwas Neuem verlangt. Skandalöse Kunst kommt nicht unbedingt automatisch als Sozialkritik zum Einsatz. Die freie Kunst, auch die skandalöse Kunst, kann wichtige Diskussionen in Gang bringen, die entscheidend für die demokratische Gesundheit der Gesellschaft sind. Wie gesagt sind aber die Grenzen der skandalösen Kunst die Gewalt und die Ungerechtigkeit.

STEVE CUTTS’ ANIMATIONSKURZFILM ZUM LIED VON MOBY YOU ARE LOST IN A WORLD LIKE THIS (2016)13 Anhand dieses Animationsfilms kann man die Auswirkungen der Reproduzierbarkeit beobachten, die durch das Internet gegeben sind. Steve Cutts hat ein Werk geschaffen, das sich besonders zur Reproduktion im und mittels des Internets eignet. Die

10 Vgl. S. Sontag: Regarding the Pain of Others. 11 Für Kant ist die Schönheit ein Charakteristikum der Kunst. Er argumentiert, dass man zwar Kriege, Tod und Krankheit künstlerisch darstellen kann, es aber gewisse Objekte gibt, von denen keine künstlerische Darstellung möglich ist, nämlich ekelerregende Gegenstände. Diese Gegenstände, so Kant, können keineswegs das Lustgefühl, das intrinsisch zu jeder ästhetischen Erfahrung sein sollte, stimulieren. Beispielsweise rufen die Kunstwerke von David Nebreda, besonders das Werk Cara cubierta de mierda, Ekel hervor. Im §48 der Kritik der Urteilskraft schreibt Kant: „Nur eine Art Hässlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.“ Vgl. dazu auch N. Bueno-Gómez: Del concepto kantiano, S. 5–12. 12 Ein Beispiel ist seine Gemäldereihe The Murmur of the Innocents (2009). 13 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=VASywEuqFd8 vom 18.10.2016.

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ästhetische Erfahrung des Publikums schließt die Interaktion mit seinem Inhalt ein, was durch das Internet – insbesondere durch soziale Netzwerke – erleichtert wird. Der Animationsfilm von Steve Cutts wurde von anderen Benutzer_innen manipuliert, remixed und verkürzt, mit anderer Musik unterlegt etc. In all diesen Varianten erreichte der Clip eine hohe Verbreitung im Internet (über soziale Netzwerke). Die Authentizität des Kunstwerks ist nicht wichtig, die resultierenden Werke haben verschiedene, teils unbekannte Autor_innen –  allerdings bleibt die zentrale Botschaft auch in diesen Variationen im Umlauf. Der Clip kritisiert die Einsamkeit der Individuen, welche in sozialen Netzen verkehren und die Wirklichkeit meistens durch diese Netze sehen, also gewissermaßen in ihnen wohnen. Er stellt die Veränderungen und Zustände in der neuen Massen­ gesellschaft dar: Individuen ergreifen keine Initiative mehr, ihr Verhalten wird voraussagbar und homogen; die Medientechnologie entfernt sie voneinander und von der Wirklichkeit selbst. Sie leben in einer virtuellen Wirklichkeit ohne Moral und ohne Ästhetik. Wir sehen die Reaktion der Individuen auf Gewalt: Sie haben keine moralische Haltung gegen reale Gewalt, sondern finden sie im Gegenteil unterhaltsam. Es gibt keine Kommunikation zwischen diesen Menschen. Paradoxerweise haben die Kommunikationsmittel ihren Zweck verloren und die Individuen ihre Funktion vergessen. Ein technisches Kommunikationsmittel beeinflusst die menschliche Kommunikation. Das Internet und vor allem die sozialen Netzwerke besitzen ein großes Potential, um die Menschen besser zu verbinden. Sie können uns allerdings auch beherrschen. Das Risiko ist, dass diese Medien, die theoretisch die Kommunikation ermöglichen, an die Stelle der Kommunikation treten – mit anderen Worten würde das heißen, dass sie mit Kommunikation gleichgesetzt werden, auch wenn diese gar nicht oder nur extrem verzerrt stattfindet. Diese Gesellschaft beschämt die wenigen Personen, die noch Erfahrungen außerhalb dieser Kommunikationsmedien machen, wie die Frau, die in dem Kurzfilm tanzt (Minute 2:05). Ihre Traurigkeit und ihr Selbstmord haben keine moralische Wirkung auf die Anderen, die solche Situationen als Show interpretieren (2:40). Die letzten Sekunden besitzen die größte Ausdruckskraft. Wir sehen zuerst die Sonne und danach die Individuen, die alle in die gleiche Richtung gehen. Im Hintergrund sieht man den Sonnenuntergang (eine klassische Quelle der ästhetischen Erfahrung), während die reaktionsunfähigen Menschen mit ihren Handys in den Abgrund stürzen (2:57). Hier wird das Ende der Menschheit dargestellt – ihre Dekadenz, gefolgt von der Absenz von Ästhetik, Moral, dem Verschwinden von mensch­ lichen Beziehungen und ihren positiven Aspekten wie Kooperation, Nähe, Solidarität und Empathie. Die Absenz dieser Aspekte bedeutet gewissermaßen den Anfang vom Ende.

FAZIT Ist die Kritik von Steve Cutts’ Animationskurzfilm effektiv oder ist dieses Kunstwerk lediglich Teil des Status quo, den sie kritisiert (soll heißen, Teil der „internet­ isierten“ Massengesellschaft)? Diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Die Rezeptoren dieser gesellschaftlichen Kritik sind die Nutzer_innen der gleichen

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Kommunikationsmittel, die der Urheber des Clips für dessen Verbreitung verwendet. Einerseits ist die Nutzung des Internets als Verbreitungsmedium die beste Methode, um zu gewährleisten, dass diese Kritik ihre Zielgruppe erreicht. Anderseits besteht das Risiko, dass der Clip dadurch einfach dem Konsumtrieb der zeitgenössischen „internetisierten“ Massengesellschaft zum Opfer fällt, er also schnell und ohne Weiteres vergessen wird. Eine völlig objektive Kritik zu liefern ist schlicht nicht möglich.14 Die kritischen Kunstschaffenden und die Objekte der Kritik haben normalerweise einen gemeinsamen Hintergrund. Ohne diesen gemeinsamen Hintergrund wäre Kritik ausgeschlossen, weil keine Dialogsituation zustande käme. Wenn keine Dialogsituation möglich ist, dann kann die Situation in Gewalt resultieren, und genau die gilt es, zu vermeiden. Kritik ist immer besser als Gewalt. Nur weil völlig objektive Kritik unmöglich ist, bedeutet das jedoch nicht, dass Kritik als solche unmöglich ist oder dass sie nicht real und wirkmächtig sein kann. Beispiele sind die Relevanz und die Auswirkungen von sozialen Bewegungen. Heutzutage wird es immer schwieriger, ausschließlich mit klassischen Mitteln Kritik zu üben und damit ein breites Publikum zu erreichen. Künstler_innen müssen und sollten nicht von den Möglichkeiten des Internets absehen. Ganz im Gegenteil können sie diese Räume nutzen, um mehr Kunstwerke zu kreieren und zu verbreiten, bzw. die Effektivität der Kunstwerke selbst zu steigern. Natürlich verändert die massive Reproduzierbarkeit die Kunstwerke und deren ästhetische Erfahrungen, aber dies ist eine unvermeidbare Konsequenz unserer Zeit. Kunstwerke sind im Grunde genommen Gegenstände, die konzipiert werden, um Bekanntheit zu erlangen. Das Internet erweitert diese kommunikative Dimension der Kunstwerke. Auch Kritik kann effektiver werden, wenn sie dieselben Medien zur Verbreitung nutzt, an denen sie geübt wird – selbst auf die Gefahr hin, Teil des Kritikobjekts zu werden. Wie kann Kunst diesem Problem entgegenwirken? Durch mehr Kunst, durch freie, ausdrucksstarke, bedeutsame, inspirierende und motivierende Kunst. Das Risiko, dass die Kritik Teil dessen wird, was sie kritisiert, besteht immer; allerdings ist es weitaus besser, dieses Risiko einzugehen und trotzdem Kritik zu üben als aus Sorge darüber, wie die Kritik möglicherweise verarbeitet wird, in reinen Konformismus zu verfallen.

BIBLIOGRAFIE Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: The New Spirit of Capitalism, London, New York: Verso 2005. Bueno-Gómez, Noelia: „Collective Memory and Poetic Justice in Galicia: A Study of the ‚Coplas del Comandante Moreno‘“, in: Folklore 125 (2004), S. 286–305. Bueno-Gómez, Noelia: „Del concepto kantiano de juicio a la reflexión estética actual“, in: Círculo Hermenéutico 7 (2008), S. 5–12. 14 Vgl. M. Walzer: The Company of Critics.

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Fenner, Dagmar: Was kann und darf Kunst? Ein ethischer Grundriss, Frankurt am Main: Campus Verlag 2013. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2006. Martins, Raimundo: „Dilomprizulike, Art as Political Agency“, in: Therese Quinn/John Ploof/Lisa Hochtritt (Hg.), Art and social justice education: culture as commons, New York: Routledge 2012, S. 122–123. Meyer, Anne-Rose: Homo dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, Frankfurt am Main: Wilhelm Fink 2011. Ott, Clara: „Entsetzen über echten Missbrauch in Brandos ‚Butter-Szene‘“, in: Die Welt vom 04.12.2016; https://www.welt.de/kultur/article159954447/Entsetzen-ueber-echten-Missbrauch-in-Brandos-Butter-Szene.html Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others, New York: Picador 2003. Walzer, Michael: The Company of Critics: Social Criticism and Political Commitment in the Twentieth Century, New York: Basic Books 1998. Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray, Oxford: Oxford World’s Classics 2006.

UNSCHARFE BILDER. KÜNSTLERISCHE INVESTIGATION UND ­DOKUMENTARISMUS1 Andrei Siclodi

Seit bald zwei Dekaden steht ein Aspekt zeitgenössischer Kunst hoch im Kurs theoretischer Erörterungen: die Kunst als Feld und Medium spezifischer Wissensproduktion. Vor allem im Zusammenhang mit der disziplinären Praxis, die der akademische Betrieb als „künstlerische Forschung“ bezeichnet, wird immer wieder – und vor allem von dieser Seite – gebetsmühlenartig auf die unablässige Notwendigkeit einer stabilen Verankerung der künstlerischen Wissensproduktion hingewiesen, die mit einer gesellschaftskritischen (Selbst-)Reflexion der Kunst und ihrer Produzent_innen einhergehen muss. In der globalisierten Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts, so der Grundtenor, müsse die Kunst sich rechtzeitig positionieren, um die eigene gesellschaftliche Relevanz zu behaupten und auf längerer Sicht zu sichern. Doch kann eine von oben geforderte und durch akademische Curricula normierte Kritikalität der Kunst jenseits eines selbstreferentiellen Rahmens tatsächlich wirksam sein? Gibt es ernsthafte Möglichkeiten eines nachhaltigen Agierens außerhalb des Kunstbetriebs selbst? Wir werden uns im Folgenden diesen Fragen durch die Diskussion einiger Praxen annähern, die künstlerisch mit Dokumenten operieren, die unser Wissen und unsere Wirklichkeitswahrnehmung wesentlich prägen: mit Medienbildern und Archivdokumenten, die qua Objektivität behauptende Zeugnisse der Wirklichkeit die Wahrheit über die Welt zu vermitteln bzw. zu belegen trachten. Diesen Praxen gemeinsam ist das Interesse an der Sichtbarmachung und dem Verstehen der Mechanismen, die der Herstellung dieser Realitätsregimes zugrunde liegen. Was macht also solche künstlerischen Praxen, die auf einen gesellschaftlichen wie individuellen Erkenntnisgewinn abzielen, eigentlich aus? In den letzten Jahren sind unzählige Publikationen veröffentlicht worden, die aus unterschiedlichsten Perspektiven versuchen, „künstlerische Forschung“ bzw. „Wissensproduktion in der Kunst“ als gesellschaftlich bedeutend einzustufen und deren Relevanz – nicht zuletzt außerhalb des Kunstbetriebs – zu begründen. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Forschungs- und Wissensbegriffe werden meist aus dem Bereich der etablierten wissenschaftlichen Disziplinen entlehnt. Diese Referenzierungen führen indes zu einer berechtigten Verwirrung, denn damit wird implizit vorausgesetzt, dass Kunst eine systematische Suche nach neuen Erkenntnissen darstellt, also selbst eine Methode zur Gewinnung neuer Erkenntnisse ist, die auch außerhalb des Kunst­betriebs kapitalisiert und kommodifiziert werden kann. Diese Ansicht verkennt jedoch grundlegende 1

Eine frühere Version dieses Textes erschien in: Ender, Markus/Wilhelm, Marián: Bildtheorie und Fotografie, Innsbruck: Studia-Verlag 2013.

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Eigenschaften der Kunst: ihre Autonomie und ihre wider­ständige Wandlungsfähigkeit. Die beanspruchte Autonomie kann ihrerseits aber nur dann produktiv wirken, wenn sie die Fähigkeit der Kunst katalysiert, eine nach­haltige Kritik an bestehenden Verhältnissen zu üben. Die Wandlungsfähigkeit garantiert schließlich die Anpassung an die jeweils neuen Verhältnisse, womit der Prozess der Kritik trotz veränderter Vorzeichen immer von Neuem vonstatten gehen kann. Eine andere Betrachtungsweise, die Kunst als eine spezifische Form der Wissensproduktion ansieht, verwechselt oft Wissensproduktion mit Wissens­transfer. Während „Wissensproduktion“ die Herstellung eines einzigartigen, außerhalb der Kunst nicht vorkommenden da nicht möglichen Wissens suggeriert, bezeichnet „Wissenstransfer“ einen kommunikativen Austausch von Wissen zwischen dem Kunstkontext und anderen gesellschaftlichen Milieus. Dieser Wissenstransfer erfolgt bidirektional, jedoch mit jeweils völlig anderen Intentionen. Der Wissenstransfer aus der Kunst nimmt vor allem eine Form an, welche die Arbeits- und Lebensweisen von Künstler_innen naiv-romantisierend als Kreativität und Innovation fördernd darstellt und deswegen als Vorbild für einen flexibilisierten Arbeitsmarkt sieht und implementiert. Im Vergleich dazu erscheint der Wissenstransfer in die Kunst als gesellschaftspolitisch nahezu harmlos. Denn dieser Transfer manifestiert sich in den meisten Fällen in ästhetischen Handlungen mit Symbolcharakter, deren Auswirkungen außerhalb des Kunstbetriebs nur selten beobachtet werden können. Diese Praxis überschätzt insofern die eigene aufklärerische Wirkung, als dass sie weitgehend den Umstand ausblendet, dass die Adressat_innen vor allem aus dem eigenen, ohnehin interessierten Kunstpublikum stammen. Die potentielle Kritikalität, die diesen Kunstpraktiken eingeschrieben ist, wird im Extremfall zu einem selbstreferentiellen künstlerischen Gestaltungsverfahren degradiert, dessen Produkte früher oder später innerhalb des Kunstbetriebs kommodifiziert werden. Es sind also andere Sichtweisen notwendig, um zu verstehen, was eine kritische künstlerische Wissensproduktion sein und wie sie in die Gesellschaft hineinwirken könnte. Eine gangbare Möglichkeit wäre, sich belastenden Begriffen wie „Forschung“ und „Wissenschaft“ zu entledigen und nach anderen Möglichkeiten umzusehen, die sich den tatsächlich stattfindenden kritischen Kunstpraxen möglichst frei vom hegemonialen Impetus annähern. Im Zuge dieser Suche ist die Bezeichnung „private Investigation“ entstanden, die ich als Alternative zum vorherrschenden Begriff der „künstlerischen Forschung“ vorschlug.2 Um Missverständnisse auszuräumen: Mit diesem Terminus soll keinesfalls suggeriert werden, dass Künstler_innen wie Privatdetektiv_innen Fakten und Beobachtungen sammeln, die dann von ihren Auftraggeber_innen vor „Gericht“ – also als Argument innerhalb eines Disputs – verwendet werden können. Im Gegenteil: Eine private Investigation in der Kunst hat keinen Auftraggeber und ist definitiv keine Methode, sondern vielmehr eine künstlerische Haltung. Der Ausgangspunkt einer solchen Praxis liegt in dem persönlich stark ausgeprägten Interesse an einer über das Private hinausreichenden Situation oder Sache. Die „Auftraggeber_innen“ sind also ausschließlich die Künstler_innen selbst. Die 2

Vgl. A. Siclodi: Private Investigations.

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Annäherung an die Situation oder die Sache erfolgt recherchebasiert und investigativ, wobei hier der jeweilige Weg zum möglichen Ziel einer individuellen künstlerischen Auffassung unterliegt. Wie der Weg so bleibt auch die künstlerische Ausformung offen: Die Recherchen können, müssen aber nicht explizit in die künstlerische Formulierung einfließen. Vordergründig ist vielmehr eine kritische Haltung gegenüber dem bestehenden Wissen und dem hinzugekommenen Erfahrenen. Etwas zu erforschen bzw. nach etwas zu forschen setzt im kognitiven Kapitalismus3 eine Suche nach einer Gesetzmäßigkeit, nach einer Gültigkeit der Dinge voraus, welche diese objektiviert, zu einer allgemeingültigen Anerkennung verhilft und dadurch letztendlich kommodifiziert. Etwas zu untersuchen im Sinne einer privaten Investigation bedeutet, etwas radikal zu hinterfragen, eine Kritik mit künstlerischen Mitteln zu formulieren, die der drohenden Kommodifizierung widerstehen kann. Damit meine ich nicht, dass diese Praxis zwangsläufig eine aktivistische sein muss. Auch geht es nicht darum, eine explizite Kritik an etwas zu formulieren, denn Kritikalität kann auch implizit artikuliert werden, indem man bestehende Sichtweisen und Fragestellungen in einer eigenen sinngebenden Verbindung zueinander anders formuliert werden. Wesentlich ist die Fähigkeit, einen tatsächlichen Wissensmehrwert zu generieren bei gleichzeitiger Wahrung entscheidender Qualitäten einer kritischen künstlerischen Praxis, nämlich der Autonomie und der Wandlungsfähigkeit. Künstler_innen als private Investigator_innen artikulieren Kritikalität in ihrer Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Formen gesellschaftlicher Konstitution und Repräsentation des Realen. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die Medien Fotografie und Video in diesen Praktiken häufig die erste künstlerische Wahl. Als Künstler_in entkommt man – wie alle anderen Menschen auch – nicht den Medien, deren gegenwärtige Omnipräsenz in so gut wie allen Lebensbereichen und -räumen unseren Alltag prägen und strukturieren. Die Kommunikation dessen, was wir als „wissenswert“ betrachten sollen, findet schon lange nicht mehr primär auf der Sprach­ ebene statt, sondern immer mehr in einer Vielzahl visueller Formate, die darauf ausgerichtet sind, die Affekte der Lesenden, Zusehenden und nicht zuletzt auch der Zuhörenden zu erreichen. An der Übergangsschwelle zum kognitiven Kapitalismus spielt diese so ausgerichtete Form der Visualität für die alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikationsbeziehungen eine ausgeprägt regulierende Rolle. Man spricht ja über das, was man aus der Zeitung, dem Radio oder dem Fernsehen erfährt. Im Bereich der Kunst haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Praxen entwickelt, die diese Art der Wissensbildung hinterfragen. In Folge der zweiten Welle der Institutionskritik in den 1990er-Jahren und einer damit einhergehenden Repolitisierung des Kunstfelds haben künstlerische Praxen Formen angenommen, die auf eine manifeste Hinterfragung tradierter Realitätsvorstellungen abzielen. Die Massenmedien waren in der 2000er-Dekade ihrerseits geprägt von einer zunehmenden Ästhetisierung der Informationsverbreitung und -veröffentlichung. Der steigende

3

Zum Begriff des „kognitiven Kapitalismus“, der im Wesentlichen den Bedeutungszuwachs von Wissen in der zeitgenössischen Weltwirtschaft beschreibt, vgl. H. Pahl/L. Meyer: Kognitiver Kapitalismus; I. Lorey/K. Neundlinger: Kognitiver Kapitalismus.

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kommerzielle Druck auf die Medien im Zuge des sich rasant entwickelnden globalisierten Kapitalismus hat unter anderem dazu geführt, dass Nachrichten heute tendenziell in Entertainment-Formate verpackt werden, wodurch die klare Trennung zwischen Information und Meinung immer mehr verschwimmt, während die objektive und hintergründig fundierte Berichterstattung zugunsten einer auf Infotainment basierenden Nachrichtenaufbereitung zunehmend an Bedeutung verliert. Auf dem Kunstfeld lässt sich parallel dazu ein stark steigendes Interesse an ästhetischen Strategien feststellen, die unmittelbar auf die Ver- und Aufarbeitung von in Folge investigativer Arbeitsweisen entstandenen Materialien und Erkenntnissen zurückgreifen und diese unter Verwendung journalistischer oder dem Journalismus ähnlicher Formate veröffentlichen. Die Frage, was Realität ist und wie sie vermittelt bzw. dargestellt wird, gewinnt auf diesem Gebiet stark an Bedeutung. Angesichts dieser Entwicklung lässt sich eine qualitative Verschiebung der Frage nach dem Wahrheitsgehalt dessen, was wir sehen und erfahren, aus dem Milieu des Journalismus hin zu demjenigen der Kunst feststellen. Der Umstand, dass es dabei um die visuelle Kunst geht, hat durchaus seine Berechtigung. Denn diese hat seit den 1960er-Jahren strukturelle Veränderungen erfahren, die etwa mit denjenigen in der Psychologie und Ethnologie durchaus vergleichbar sind: Wie diese interpretativen Disziplinen hat auch die Kunst ihre Diskurse intersektionell erweitert. Die entfesselte Globalisierung manifestiert sich nun ebenfalls in der Kunst, indem sie Repräsentationsformen generiert, die Identitätsfragen in den Mittelpunkt rückt. Diese Repräsentationen statten die Kunst mit einer „Notationsmaschine ästhetisch-politischer Objektivität“ aus, die Teil des eigenen Selbstverständnisses der Kunst geworden ist. 4 Ich würde diese Einschätzung mit der Behauptung erweitern, dass die Kunst ihre Diskurse auch jenseits tradierter Wissenschaften in viele Bereiche des Alltags aus­ geweitet hat und generell eine spezifische Form von Wissensgenerierung darstellt, die über die fachspezifischen Geltungsbereiche hinaus ihren Niederschlag findet. Wie die Medien der Informationsverbreitung bedient sich auch die Kunst Bildern und anderen Zeugnissen der Wirklichkeit – kurz: den Dokumenten – um selbst ihre (Bild-) Diskurse über das Reale zu führen. Das Vertrauen in die Dokumente ist jedoch seit einiger Zeit tief erschüttert, und das wird wohl in Zukunft auch so bleiben. Denn es gibt kein Außen, kein zuverlässiges Refugium außerhalb der Realität des globalisierten Kapitalismus mehr, aus dem heraus wir die Zeugnisse innerhalb des Systems bewerten könnten. Oder wie die Künstlerin Hito Steyerl es trefflich formuliert: „Wir sind sozusagen längst ins Fernsehen eingebettet, und die körnigen Bilder, mit denen wir leben, haben sich wie eine leuchtende Staubschicht auf die Welt niedergesenkt und sind von ihr ununterscheidbar geworden. [...] Traditionell war das Dokumentarische das Bild der Welt: Jetzt ist es eher die Welt als Bild.“5 Information und Meinung verschwimmen zunehmend, das dokumentarische Bild wird unscharf, eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion lässt sich

4 5

Vgl. E. Slettemeas: Introduction to Art-as Research. H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 8.

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mit traditionellen Mitteln nicht mehr zuverlässig ausmachen: Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage, ob die Kunst als jenes systeminterne stabilisierende (temporäre?) Refugium eines anspruchsvollen Journalismus gesehen werden kann, in dem dieser die nötigen Dispositive zur Formulierung und Artikulation einer in den Massen­ medien zum Teil unmöglich gewordenen Gesellschaftskritik vorfindet. Und wenn ja, welche Konsequenzen für die Kunst und die Gesellschaft zieht dieser Vorgang nach sich? In ihrer Essay-Sammlung Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld stellt Hito Steyerl gleich zu Beginn eine nicht nur für Künstler_innen zentrale Frage: Was ist Dokumentarismus? Steyerl nähert sich dieser Frage durch das Beispiel einer Bildberichterstattung im Fernsehen anno 2003, deren Wirkungsweise sie anschließend zu erklären versucht: „Während der ersten Tage der Invasion des Irak 2003 strahlte der Nachrichtensender CNN ein merkwürdiges Dokument aus. Ein Korrespondent saß auf einem gepanzerten Armeefahrzeug und hielt eine Handykamera aus dem Fenster. Die Bilder dieser Kamera wurden direkt übertragen – live aus dem Krieg. Der Korrespondent war euphorisch. Er jubelte: Solche Bilder haben Sie noch nie zuvor gesehen! In der Tat: Auf den Bildern war kaum etwas zu sehen. Wegen mangelnder Auflösung sahen sie aus wie grüngraue Farbflächen, die sich langsam über den Bildschirm schoben. Sie ähnelten entfernt einem militärischen Tarnstrich. Abstrakte Kompositionen, deren Ähnlichkeit mit dem, was sie darstellen sollten, nur noch zu erraten war. Sind diese Bilder dokumentarisch? Wenn wir gängige Definitionen des Dokumentarischen zu Rat ziehen: Nein. Es gibt keine Ähnlichkeit zwischen der Wirklichkeit und ihren Bildern, und ob sie auf objektive Weise dargestellt wird, können wir gar nicht erst beurteilen. Aber eines ist klar: Sie wirken trotzdem echt. Dass sie von vielen Zuschauern für dokumentarisch gehalten werden, steht außer Zweifel. Ihre Aura der Authentizität entsteht gerade dadurch, dass nichts auf ihnen zu erkennen ist. Aber warum? Die Antwort liegt in ihrer Unschärfe. Diese Unschärfe verleiht den Bildern nicht nur das begehrte Gefühl der Echtheit; bei genauerem Hinsehen ist sie auch sehr aufschlussreich. Denn dieser Bildtypus ist mittlerweile allgegenwärtig. […] Je direkter, je unmittelbarer sie sich geben, desto weniger ist meistens auf ihnen zu sehen. Sie evozieren eine Situation der permanenten Ausnahme und einer dauer­ haften Krise, einen Zustand erhöhter Spannung und Wachsamkeit. Je näher wir der Realität zu kommen scheinen, desto unschärfer und verwackelter wird sie. Nennen wir dieses Phänomen: die Unschärferelation des modernen Dokumentarismus.“6 Wie kann es dazu kommen, dass wir seit geraumer Zeit solchen Bildern tatsächlich trauen, dass wir sie für Dokumente von Ereignissen und Situationen akzeptieren und uns auf deren Grundlage eine Meinung über das, was auf der Welt geschieht, bilden? Hito Steyerl sieht den Grund dafür primär in der Struktur und Beschaffenheit der Bilder selbst. Sie hat gewiss recht, wenn sie feststellt, dass wir immer mehr umgeben sind von „groben und zunehmend abstrakten ‚dokumentarischen‘ Bildern, wackligen, dunklen oder unscharfen Gebilden, die kaum etwas zeigen außer ihrer eigenen

6

Ebd., S. 7f.

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Aufregung“7. Diese Bilder sind jedoch nicht das autonome Produkt ihrer selbst, sondern werden von Menschen hergestellt. Jemand muss schließlich auf den Auslöser drücken. Die Menschen, die dies tun, sind Fachleute, die auf die Herstellung einer bestimmten Ästhetik spezialisiert sind: auf die Ästhetik der Bildreportage. Wenn sie Bilder – seien sie fotografischer oder videografischer Natur – dieser Art herstellen, dann produzieren sie nicht nur neue Bilder auf Grundlage der sie umgebenden Wirklichkeit, sondern reproduzieren gleichzeitig Bildvorstellungen, die in einer bereits vorhandenen ästhetischen Geschichte eingeschrieben sind. Pierre Bourdieu weist im Hinblick auf die vermeintliche Rolle der Fotografie als ein Modell der Wahrhaftigkeit und Objektivität darauf hin, dass diese Zuschreibung nur deswegen ein weit verbreiteter Glaube ist, weil man der Fotografie von Anbeginn gesellschaftliche Gebrauchsweisen eingeschrieben hat, die als „realistisch“ und „objektiv“ gelten. Sie habe sich mit den äußeren Anzeichen einer „Sprache ohne Regeln und ohne Syntax“, also einer „natürlichen Sprache“ dargeboten, weil die Auswahl, die sie im und am Sichtbaren vornimmt, in ihrer Logik ganz und gar der Darstellung der Welt entspreche, wie sie sich im Europa des Quattrocento durchgesetzt hat.8 Die Zentralperspektive als mimetisches Konstrukt in Anlehnung an unsere Wahrnehmung ist seitdem in der okzidentalen Welt selbst zu einem Wahrnehmungsgesetz naturalisiert. Darüber hinaus stellen weitere klassische Kompositionsgrundsätze von Portrait- und Landschaftsmalerei einen weiteren Kanon bereit, nach dem die Fotografie seit ihren Anfängen sich ebenfalls richtete und sich bis heute – abseits avantgardistischer Pfade – weiterhin stark orientiert. Aus diesen Gründen sind wir gewohnt, fotografische und filmische Bilder als objektive Zeugnisse der Realität zu interpretieren. Das ist, wie Bourdieu nachvollziehbar zeigt, ein selbstreferentieller Vorgang: „Indem sie der Fotografie Realismus bescheinigt, bestärkt die Gesellschaft sich selbst in der tautologischen Gewissheit, dass ein Bild der Wirklichkeit, das der Vorstellung entspricht, die man sich von der Objektivität macht, tatsächlich objektiv ist.“9 So gesehen, dient die Fotografie dazu, das komplexe ideologische Gefüge, das in einem jeweiligen historischen Augenblick als Realität wahrgenommen wird, zu bestätigen. Diese affirmative Komponente der Fotografie, die sie primär dazu befähigt, als Dokument rezipiert zu werden, unterliegt nach Hito Steyerl heute einer Wandlung. Denn es geht nun nicht mehr darum, eine Unterscheidung und Zuordnung dokumentarischer Bilder zwischen zwei Polen zu gewährleisten – zwischen den Realist_innen einerseits, die an der objektiven Kraft der Fotografie quasi bedingungslos glauben, und den Konstruktivist_innen andererseits, die soweit gehen, dass sie nicht nur die Darstellung der Realität sondern auch den Begriff der Realität selbst als zutiefst ideologisch verstehen und daher als Konstruktion erachten. Keine dieser Strömungen sei in der Lage, überzeugend zu beschreiben, warum heutige dokumentarische Bilder eigentlich dokumentarisch sind.10 Das dokumentarische Bild ist für Steyerl schließlich deswegen dokumentarisch, weil es vermag, die ständige Schwankung zwischen 7 8 9 10

Ebd., S. 7. Vgl. P. Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, S. 86. Ebd., S. 89. Vgl. H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 10f.

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Glauben und Misstrauen, die man angesichts der allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung tagtäglich erlebt, in sich selbst zu integrieren. „Die ständige Unsicherheit darüber, ob dokumentarische Wahrheit möglich ist oder ob sie von vornherein verworfen werden muss, der ständige Zweifel, ob das, was wir sehen, auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt, stellen keinen Mangel dar, der verleugnet werden muss, sondern im Gegenteil das entscheidende Charakteristikum dokumentarischer Formen.“11 Steyerl zieht den Schluss, dass die Frage dokumentarischer Wahrheit sich damit entscheidend verschiebt: Diese betreffe nicht länger primär nur die Frage, ob dokumentarische Bilder mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder nicht, sondern in erster Linie, ob die Beschaffenheit dokumentarischer Bilder und ihr Ausdruck jene Ungewissheit, die durch die „Unschärferelation“ vermittelt wird, zu verkörpern vermögen.12 In Bezug auf die zuvor beschriebenen CNN-Bildern bedeutet dies, dass sie ihre Wahrheit auf der Ebene des ästhetischen Ausdrucks statt in der akkuraten Repräsentation der Situation preisgeben: „Auf der Ebene der Form erweist sich die Wahrheit dieser Bilder: Die Form ihrer Konstruktion stellt das reale Abbild ihrer Bedingungen dar. Ihr Inhalt kann mit der Realität übereinstimmen oder auch nicht – der Zweifel daran wird niemals völlig auszuräumen sein. Seine Form aber wird unweigerlich die Wahrheit sagen, und zwar über den Kontext des Bildes selbst, seine Herstellung und seine Bedingungen. Die Art, in der sich die Realität in die Form einprägt, ist mimetisch, unvermeidbar und somit unhintergehbar.“13 Es könnte an dieser Stelle zu einem Missverständnis kommen, denn Hito Steyerl bezieht sich in ihren Gedankengängen auf das Beispiel eines Bildherstellungsvorgangs, der heute aus technologischer Sicht als überholt betrachtet werden muss. Ein Mobiltelefon von heute kann mittlerweile hochaufgelöste Bilder und Videos aufnehmen. Die heutigen Geräte, die im Rahmen des embedded journalism zum Einsatz kommen, sind – so wie auch vor 15 Jahren – auf dem neuesten Stand der Technik. Aber anders als damals können sie mittlerweile gestochen scharfe Bilder produzieren. Das, was früher als ein grün-braunes geometrisches Muster über die Bildschirme ablief und nur deswegen als ein Dokument wahrgenommen wurde, da es in der Rahmung charakteristischer Bildelementen des Nachrichtensenders CNN ausgestrahlt worden war, kann heute in einer noch nie gesehenen Schärfe erlebt werden. Eine erstaunliche technische Leistung, wenn man bedenkt, dass die Optik dieser Handykameras nur geringfügig weiterentwickelt wurde: Das Objektiv, durch das Licht auf die Sensoren trifft, ist winzig geblieben. Nichtsdestotrotz: Angesichts dieser durch verbesserte Technik gewonnenen Schärfe muss die Frage nach der „Unschärferelation“ dokumentarischer Bilder neu bewertet werden. Ist sie noch aktuell oder muss sie auf Grund der historisch veränderten technologischen Bedingungen als obsolet betrachtet werden?

11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 14. 13 Ebd., S. 15.

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Die Antwort liegt gewissermaßen in der Funktionsstruktur der Kamera selbst. Um heute ein scharfes digitales Bild produzieren zu können, bedarf es einer Korrektursoftware, die selbst in der Kamera eingebettet ist, die das sogenannte „Bildrauschen“ korrigiert. Ohne hier auf weitere technische Details einzugehen lässt sich generell sagen, dass jedes digitale Bild ein gewisses Rauschen aufweist, das der Technologie selbst eigen ist und das algorithmisch in der Kamera wieder „naturalisiert“ werden kann.14 Die CNN-Bilder 2003, die Hito Steyerl als Beispiel zur Erklärung der von ihr postulierten Unschärferelation verwendet, sind unscharf, weil sie aus technischer Sicht schlicht und einfach nicht anders sein können. Ihre Unschärfe ist zugleich auch der Garant ihrer Authentizität. Aus optisch-physikalischer Sicht sind sie auf jeden Fall authentischer als etwa heutige Bilder, deren Schärfe und daher auch deren Fähigkeit zur detailreichen Abbildung in hohem Ausmaß von mathematischen Softwareberechnungen bestimmt werden. CNN-Bilder 2018, wie auch alle für authentisch gehaltenen Foto- und Videodokumente, die heutzutage erstellt werden, sind technisch gesehen stark konstruierte Bilder der Wirklichkeit – viel stärker als vergleichbare Bilder vor etwa 15 Jahren. Kann man hier also noch von der Unschärferelation des Dokumentarismus sprechen? Ich behaupte: ja. Die Unschärfe ist zwar immer noch da, sie hat jedoch gelernt, sich besser zu verschleiern. Die Form ihrer Konstruktion, die 2003 noch buchstäblich sichtbar war, kann nun nicht mehr ohne weiteres visuell bestimmt werden, sondern ist mehr denn je zuvor auf das Verständnis des Kontextes angewiesen, in dem das dokumentarische Bild auftaucht. Zur Vergegenwärtigung dieses Umstands ein Beispiel: Im Internet kann man auf einschlägigen Websites eine Vielzahl von Videodokumenten finden, die von amerikanischen Soldaten in Irak bzw. in Afghanistan aufgenommen wurden, während sie sich gerade in bewaffneten Auseinandersetzungen befanden. All diese Videodokumente weisen eine gemeinsame Eigenschaft auf: Ohne einem blinden Glauben an ihrer Authentizität als Zeugnisse von Ereignissen, die an einem bestimmten Ort (Irak, Afghanistan) zu einer bestimmten Zeit (während man Feind_innen angreift oder von diesen angegriffen wird) stattfanden, könnten diese Bilder auch als – mehr oder weniger billig – inszenierte Simulakra gelten, deren einziger Grund in einer absichtlichen Irreführung der Zusehenden läge. Ihr authen­tischer Charakter wird nur durch den Kontext der Bildvermittlung generiert: durch die­ jenigen Websites oder Nachrichtenmedien, die allgemein als seriös und kompetent gelten. Die Unschärferelation scheint also von der Form auf den Inhalt überzugreifen, indem der ursprüngliche Inhalt zunehmend entleert und zu einem Fangbecken von potentiell beliebigen Bedeutungsprojektionen umstilisiert wird. Wenn wir also heute in Massenmedien weniger denn je der Unschärferelation dokumentarischer Bilder entkommen können, während sich diese auf immer komplex­ erer Weise vor unseren Augen zu verschleiern scheint, lohnt es sich vielleicht zu fragen 14 Es muss hier unterschieden werden zwischen der inneren Bildkorrektur der Kamera, die von dem_der Hersteller_in fix eingebaut wird und einer nachträglichen Bildkorrektur durch eine Bildbearbeitungssoftware, die gewissermaßen von jedem_jeder User_in vorgenommen werden könnte. Die kamerainterne Bildbearbeitung ist integraler Bestandteil des Apparats, nur sie allein spielt in dieser Diskussion eine Rolle.

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– um quasi einen Ausbruch aus diesem Dilemma zu versuchen – was ein Dokument an sich ausmacht und welche Zeugenschaft es über ein Ereignis oder eine Situation abzulegen vermag. Eine private Investigatorin, die Künstlerin ­Brigitta Kuster, behandelt in ihrem gemeinsam mit Moïse Merlin Mabouna langfristig angelegten künstle­ rischen Projekt Choix d’un passé. Traits d’union15 diesen Themenkomplex auf besondere Weise. Es geht dabei um ein dokumentarisch-experimentelles Video-, Installationsund Rechercheprojekt zu kolonialer Geschichte bzw. zu Kontinuität, Erinnerungsbildern und Formen des Vergessens. Den Ausgangspunkt bildet eine exemplarische Konfrontation, die nach der Bedeutung der längst vergessen geglaubten Geschichte des deutschen kolonialen Projekts im heutigen Kamerun fragt: In Balamba (Region Yambassa, Kamerun) wird bis heute die Verschleppung, Folterung und Ermordung des chef superieur Bisselé Akaba im Zuge des Kriegs mit den „Weißen“ von 1892 mündlich überliefert. Bisselé Akaba ist der Urgroßvater von Moïse Merlin Mabouna, der seit 2001 in Deutschland wohnhaft ist. Das Projekt setzt unterschiedliche Quellen der Geschichtsschreibung, des Erinnerns und des Vergessens ins Verhältnis zueinander und lotet sie bezüglich ihrer Bedeutungskonstruktionen aus. Anliegen ist nicht primär die Rekonstruktion einer „objektiven“ oder „vollständigen“ historischen Wahrheit, sondern vielmehr, Brüche und Verbindungen zwischen Deutschland und Kamerun in der Tradierung und Aktualisierung der Kolonial­geschichte herauszuarbeiten. Das, was es über die Ereignisse von 1892 zu erfahren gibt, wird dabei als ein gegenwärtiger Vorgang der Wissensproduktion verstanden, wobei Institutionen aber auch imaginäre Darstellungen und Erinnerungsbilder die filmischen Narrationen anleiten: „Eine Art Heimsuchung stand am eigentlichen Beginn des Projekts. Sie bestand zum einen aus der plötzlichen, zunächst noch undeutlich auftauchenden Erinnerung an den Mord am Urgroßvater von Moïse Merlin Mabouna durch ‚die Deutschen‘, während wir eine Videoarbeit realisierten, die sich mit dem deutschen/europäischen Migrationsregime beschäftigte: Eine verlorene Erinnerung kehrt zurück, ihr Bild hat überlebt und lässt sich wiedererkennen in etwas, das scheinbar nichts mit Kolonialgeschichte zu tun hat. Was mich anbelangt, stand ein Erschrecken am Ausgangspunkt des Projektes. – Erschrecken darüber, dass ich nicht die leiseste Ahnung, nicht das blasseste Verständnis in meinem Wissen vorfand, in das ich diese diffuse Erinnerung, diese Geschichte der Vorfahren eines Freundes oder seinen potenziellen kulturellen Erfahrungshintergrund, wenn man so will, einzuordnen vermochte. So wurde die Angelegenheit irgendwie wichtig. Und daraufhin begannen sich die Stimmen bereits lange Verstorbener zu äußern, Augenzeugen, die den Mord in ihrem gegenwärtigen Alter, welches das Lebensalter weit übersteigt, zu bezeugen beanspruchen. Diese Zeugenschaften entstammen dem oralen Archiv.“16

15 Choix d’un passé. Traits d’union umfasste die Videos Ndañga !, 40 min, 2014–16, À travers l’encoche d’un voyage dans la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques, 25 min., 2009 und 2006-1892 = 114 ans/ jahre, 7 min., Loop, 2006, vier Karten auf Leinwand, je 101 x 176 cm, 2009, sowie das Buch B. Kuster: Choix d’un passé. Transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften, S. 164–165 und eine Reihe weiterer Textbeiträge, die im genannten Buch vollständig angeführt werden. 16 B. Kuster: L’avenir est un long passé, S. 92.

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Abb.1: Brigitta Kuster und Moïse Merlin Mabouna, 2006–1892=114 jahre, 2006, Videoloop, 7 min. Videostills. Ausschnitte aus dem vom deutschen Offizier Hans Ramsay 1892 gezeichneten Itinerar „Süd Kamerun Hinterland Expedition Nr. 10“, das die Region in deutscher Sprache biopolitisch erschließt, qualifiziert und kodiert und dabei die Ortschaft Balamba „falsch“ als „Wintshoba“ bezeichnet.

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Abb.2: Brigitta Kuster und Moïse Merlin Mabouna, 2006–1892=114 jahre, 2006, Videostills

Ein im archivarischen Sinne ungesichertes, undokumentiertes Wissen steht also am Beginn einer Unternehmung, die später die Künstlerin zwangsläufig auch in das koloniale Archiv führen wird. Kuster beschreibt hier einen Prozess der Bewusstwerdung jedoch über einen Umstand, worüber sie zuvor, wie sie selbst sagt, „nicht das blasseste Verständnis“ in ihrem bereits vorhandenen Wissen vorfand; dieser Bewusstwerdungsvorgang basiert nicht auf der Akkumulation und Interpretation gesicherten Wissens, sondern auf der Auseinandersetzung mit etwas, was das Archiv als wenig bedeutend, da potentiell fiktional, kategorisieren würde: mit einer oralen Überlieferung. Diese erzählte Geschichte handelt von einem chef superieur, der zu militärischer Gegenwehr rief, gefangen genommen, verschleppt und anschließend ohne Verfahren hingerichtet wurde. Aus der Erzählung lässt sich zudem nachvollziehen, dass im Zuge der Auseinandersetzungen die von den Deutschen gegründete Station, ein kolonialer Stützpunkt, aufgegeben werden musste. Diese Geschichte würde das Gegenteil einer erfolgreichen kolonialen Expansions- und Unterwerfungsgeschichte repräsentieren.17 Das beschriebene Ereignis ist im kolonialen Archiv in dieser Form nicht dokumentiert. Brigitta Kusters komplexe Reise in die von ihr so formulierte Bibliothek kolonialen Wissens, deren Bestand nicht nur aus europäischen Zeugnissen kolonialer Anwesenheit, sondern eben auch aus oral überlieferten Erzählungen darüber gespeist wird, zeigt, dass das „Imaginierte“ (der oralen Überlieferung) und das „Reale“ (der archivierten Zeugnisse) sich gar nicht so sehr in ihrem Wahrheitsgehalt

17 Vgl. ebd., S. 98f.

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unterscheiden – eine Erkenntnis, die die grundsätzliche Frage danach, was ein Dokument sei, entscheidend aufwertet. In der Videoarbeit 2006-1892=114 ans/jahre aus dem Jahr 2006 wird diese Frage auch auf der visuellen Ebene verhandelt. Fotografie, die als „Dokument“ für wahr gehalten wird, bezeugt für gewöhnlich, dass ein bestimmtes Ereignis an einem bestimmten Ort und/oder zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfand. Manchmal ist an einem solchen Dokument jedoch nur ersichtlich, dass lediglich ein Ereignis stattfand, ohne dass man eine genaue Aussage darüber treffen könnte, wann und wo dieses geschah. Dies gilt jedoch nur für eine historische Fotografie, deren Urheber_innen nicht mehr greifbar sind und nicht mehr zu der Interpretation des dokumentarischen Gehalts in ihrer visuellen Erzeugnissen Stellung nehmen können. Die dokumentarische Fotografie, die in der Gegenwart produziert und veröffentlicht wird, wird nicht zuletzt deswegen als „authentisch“ identifiziert, da sie ihre Entstehung noch belangbaren Personen verdankt, die für die deklarierte Authentizität gerade stehen müssen (zumindest erwartet man das von ihnen). Dokumentarfilme gehen indes einen Schritt weiter, da sie das Ergebnis einer direkten, oft sicht- bzw. hörbaren Präsenz der Filmschaffenden am Ort des Geschehens darstellen. Anders als die Dokumentarfotografie operiert der Dokumentarfilm mit einem System aus Bild und Ton, wobei letzterer im Wesentlichen eine gesprochene Geschichte wiedergibt. Der Dokumentarfilm – so zumindest die Intention – erzählt eine „wahre“ Geschichte anhand von Originalbild- und Tonaufnahmen, die eben an einem bestimmten, betreffenden Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfanden. Das möglichst plausibel aufeinander abgestimmte Triumvirat aus Ereignis, Ort und Zeit bildet hiermit die Grundlage des Authentizitätsanspruchs des Dokumentarfilms. Was geschieht jedoch, wenn ein Film zwar dokumentiert, Ereignis, Ort und Zeit jedoch nicht so übereinstimmen, wie man es für gewöhnlich von einem Dokumentar­ film erwarten würde? Genauer gesagt: Was passiert, wenn etwa der Ort „dort“ sich schließlich als „hier“ erweist, wenn das „dort“ stattgefundene Ereignis plötzlich eine Dopplung in „hier“ erfährt, wenn das historische Raum-Zeit-Kontinuum der dokumentarischen Erzählung zugunsten einer dritten, ebenfalls dokumentarischen Narration gebrochen wird? Kuster vollzieht in ihrem Film diese Verschiebung durch den bewussten Austausch der Orte, an denen die Narration verankert ist. Moïse Merlin Mabouna erzählt die Geschichte des chef superieur Bisselé Akaba, während das Bild eine Kamerafahrt durch eine von Bäumen flankierte Straße präsentiert; anschließend spricht er über die Wahrnehmung der Deutschen in seiner Kindheit und reflektiert über den Ort, an dem er sich gerade befindet, während die Kamera einen dichten Wald sowie ein Haus inmitten dieses Waldes festhält. Die Narrationsabfolge suggeriert, dass die Aufnahmen in Afrika gemacht worden sind. Da die überwiegende Mehrheit der Zusehenden noch nie in Kamerun war, lassen sich diese Bilder aufgrund fehlender Referenzen leicht als authentisch vermitteln. Erst nach und nach, gegen Ende des Films wird klar, dass dieser Wald sich nicht in Afrika, sondern in Europa (genauer: in Deutschland) befindet, dass das Haus, in dem Mabouna wohnt, ein in diesem Wald abseits der Zivilisation befindliches Wohnheim für Asylwerber_innen ist. Die epistemische Erfahrung des Films entspricht trotz all dieser Verschiebungen und Irritationen derjenigen eines Dokumentarfilms. Denn der Film „dokumentiert“

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durch den Einsatz seines ureigensten Mittels, der Montage, die schwer negierbaren Intersektionen zwischen den „Gespenstern“ kolonialer Vergangenheit und der jüngeren deutschen Migrationsgeschichte. Was kann also hier als „Dokument“ verstanden werden? Die Landkarten der Kolonialexpeditionen, die aus heutiger Sicht nur sehr bedingt brauchbar wären und über deren rudimentär skizzierten Marschwege die Kamera am Beginn des Films gleitet? Die akustisch festgehaltene Stimme von Moïse Merlin Mabouna, der die Geschichte des chef superieur Bisselé Akaba erzählt und nun durch die Tonaufzeichnung in diesem Film erstmals zu einem „Dokument“ wird? Die Bilder des Wohnheims für Asylwerber_innen inmitten des deutschen Waldes? Oder gar der Film als Ganzes, als Summe der Montagen indexikalischer Zeichenbilder und Töne, die schließlich eine andere Form des Erkennens ermöglicht, als wenn man die einzelnen Bestandteile voneinander getrennt betrachten würde? Das Dokument erweist sich hier als das dialektische Produkt eines sozialen Zuschreibungs- und Konstruktionsvorgangs, dessen Wahrheitsgehalt maßgeblich vom eingenommenen Standpunkt der Produzent_innen aus bestimmt wird. Die eigene Positionierung in Bezug auf das Beobachtete und Analysierte ist hierfür unabdingbare Voraussetzung. Dies impliziert, dass eine absolute, „ganze“ Wahrheit an einem Dokument nicht erkennbar ist und auch nicht erkenntlich gemacht werden kann. Man kann mit Hito Steyerl in Anlehnung an Georges Didi-Huberman und Hannah Arendt sagen, dass audio-visuelle Dokumente immer nur „Momente der Wahrheit“ vermitteln können.18 So macht Brigitta Kusters dokumentarische Montage vor allem solche Momente der Wahrheit erkennbar, die im Prozess der Historisierung unterdrückt und unerhört blieben. Unterliegt nun diese Form dokumentarischer Produktion ebenfalls der besprochenen Unschärferelation des modernen Dokumentarismus? Insofern ja, als auch im Falle dieser Bilder die Form ihrer Konstruktion die Realität ihrer Bedingungen widerspiegelt. Diese Realität wird u.a. von der vergessenen Kolonialgeschichte, der Bewertung oraler Überlieferung als Zeugnis und dem Umgang mit migrantischen Subjekten unter Fluchtbedingungen in Europa bedingt. Der dokumentarische Bilderkomplex in Brigitta Kusters künstlerischer Praxis ist jedoch nie selbstgenügend, sondern verweist absichtlich über die eigenen Grenzen hinaus auf die Potentialität einer anderen Realität, deren ursprünglich hypothetische Natur im Laufe der (Bild-)Zeit immer mehr zugunsten einer tatsächlichen Generierbarkeit schwindet. Die offenkundige Absicht der Artikulation von Kritik an bestehenden Verhältnissen unterscheidet diese Form des Dokumentarismus radikal von demjenigen weit verbreiteten Kanon dokumentarischer Bilder, dessen primäre Absicht es ist, ein möglichst unmittelbares Zeugnis im Referenzrahmen der medial verbreiteten konsensualen Realität abzulegen. Kritik ist hier nur deshalb möglich, weil sie aus einem künstlerischen Kontext heraus formuliert wird, also von einem Standpunkt aus, der weitgehend außerhalb des Herstellungssystems herrschender Realitätsregimes existiert. Dieser Umstand erweist sich als Nachteil und als Chance zugleich: als Nachteil, da Artikulation und Verbreitung eigener Epistemen zunächst auf Grundlage „minderheitlicher“ Strategien und 18 Vgl. H. Steyerl: Dokumentarismus als Politik der Wahrheit.

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Vorgehensweisen erfolgen müssen und deren Erfolg daher schwer voraussagbar ist. Die Chance liegt gerade in der Unberechenbarkeit des punktuellen Verhältnisses zwischen der Form und dem Inhalt der Kritik im Sinne der Unmöglichkeit einer genauen Bestimmung der Unschärferelation. Durch die Anwendung dieses Parameters investigativer kritischer Kunstpraxis wird es erst möglich, epistemischen Ungehorsam innerhalb des aufstrebenden kognitiven Kapitalismus wirksam zu leisten.

BIBLIOGRAFIE Bourdieu, Pierre: „Die gesellschaftliche Definition der Photographie“, in: Pierre Bourdieu/Luc Boltanski et al. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 85–109. Kuster, Brigitta: „L’avenir est un long passé“, in: Andrei Siclodi (Hg.), Private Investigations, Innsbruck: Büchs’n’Books 2011, S. 89–108. Kuster, Brigitta: Choix d’un passé. Transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften, Wien: transversal texts 2016. Lorey, Isabell/Neundlinger, Klaus (Hg.): Kognitiver Kapitalismus, Wien: Turia + Kant 2012. Pahl Hanno/Meyer, Lars (Hg.): Kognitiver Kapitalismus. Soziologische Beiträge zur Theorie der Wissensökonomie, Marburg: Metropolis 2007. Siclodi, Andrei: „Private Investigations: Paths to Critical Knowledge Production in Contemporary Art“, in: Andrei Siclodi (Hg.), Private Investigations, Innsbruck: Büchs’n’Books 2011, S. 11–18. Slettemeas, Eivind: Introduction to Art-as Research; http://www.societyofcontrol.com/ research/slette_artasres.htm Steyerl, Hito: Dokumentarismus als Politik der Wahrheit; http://eipcp.net/transversal/1003/steyerl2/de vom 05.2003. Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant 2008.

EIN SCHWANGERES NICHTS FÜR DEN FILM: ÜBERLEGUNGEN ZU EINER NARRATIVEN ÄSTHETIK ABSEITS DER TRADITIONEN Lukas Ladner

„Es war einmal vor langer, langer Zeit. Da betraten zwei Kinder einen dunklen, dunklen Wald...“, sagte der Vater und hielt kurz inne um sich zu erinnern, wie die Geschichte weiter ging. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, fiel ihm das Kind in die Gedanken: „Und was passierte dann?“ In dieser Frage liegt die Magie einer jeden Erzählung 1 und damit auch des Kinos. Doch diese Magie ist flüchtig. Der spontane Ausruf, die gespannte Erwartung, das Unwissen, das Fragen, das Erleben. Offensichtliche Wiederholungen spielen sich zu Erwartungshaltungen ein, die bedient werden wollen. Die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne des Publikums, der finanzielle Druck erfolgreich zu sein und die Omnipräsenz der aristotelischen Poetik haben die Erzählstrategien verschiedensten Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Jedes Genre bringt seine eigenen Konventionen mit sich, die der Erzählung eine Fahrbahn vorgeben. Eine Fahrbahn schränkt die Möglichkeiten und die Erwartungshaltungen der Zusehenden zwangsläufig ein. Die Absicht der Autor_innen mit dem Publikum zu kommunizieren2 verschwindet hinter einer Maske an Gesetzmäßigkeiten. Doch gesellschaftlicher Wandel verlangt nach neuen Erzählstrategien und fordert damit Publikum und Kunstschaffende gemeinsam auf, die Masken abzulegen: „Gesellschaften wurden schon immer stärker von der Natur der Medien geprägt, mit denen Menschen kommunizieren, als vom Inhalt der Kommunikation.“3

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Ich spreche zum einen vom Narrativ und zum anderen von der Erzählung, wobei diese Begriffe nicht gleichbedeutend sind. Das „Narrativ“ ist der Handlungsverlauf als ungestaltete Erscheinung, sie ist „eine bestimmte Realität, Ereignisse, die stattgefunden haben, Personen, die, aus dieser Perspektive betrachtet, sich mit solchen aus dem wirklichen Leben vermischen. Dieselbe Geschichte hätte uns auch auf andere Weise vermittelt werden können“ (M. Martínez/M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 25.), etwa durch ein Buch, einen Augenzeugenbericht, ein Hörspiel oder ein Theaterstück. Die „Erzählung“ hingegen bezeichnet das ausgestaltete Narrativ. Sie beinhaltet alle gestalterischen Mittel, die z.B. einen Film zu einem eigenständigen, unverkennbaren Kunstprodukt machen. Es beinhaltet also Bildsprache, Tongestaltung, Schauspielästhetik, Schnittrhythmus, Kostümauswahl, Szenografie etc. In diesem Essay werden grundsätzliche Fragen über die Kunst des Erzählens bearbeitet. Dabei verschwimmt an manchen Stellen zwangsläufig die Betrachtung des Films mit einer grundlegenden Besprechung von Voraussetzungen, die alle narrativen Formen bedingen. Deshalb wird des Öfteren von dem_der Autor_in zu lesen sein. Dies ist als Sammelbegriff zu sehen und bezieht sich nicht auf eine einzelne Person. Mit diesem Begriff ist der Verbund kreativer Gewerke gemeint, die an der Erschaffung einer Erzählung beteiligt sind. Geschichten sind nur selten das Produkt eines einzelnen Individuums. M. McLuhan/Q. Fiore: Das Medium ist die Massage, S. 8.

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Schon längst ist das visuelle Zeitalter eingeläutet und Bilder sind zur Massenware geworden. Sowohl der Zugang als auch die Produktion von medialen Inhalten haben sich im Zuge dieser Entwicklung demokratisiert. Die Zusehenden wurden mithilfe des Internets ebenfalls zu Schöpfer_innen. Inhalte werden eigenständig erstellt und auf unterschiedlichsten Plattformen mit der ganzen Welt geteilt. Dieser Wandel des Publikums zu einem aktiven Teil der Medienlandschaft hat den Autor_innen die Weisungshoheit entrissen. Die alten Rezeptionsformen, zu denen auch das Kino gehört, sind nur noch der Beginn einer viel komplexeren Verwertungskette. Das Publikum ist nun als eine partizipative Kraft zu verstehen. Um die Partizipation des Publikums zu erreichen, muss die Frage des Kindes aus der Geschichte hinausreichen und seine Rezeption beflügeln. Sie soll eine Debatte anheizen, kleine Buschbrände legen, die sich in Windeseile zu diskursiven Waldbränden ausweiten. Dieser Essay stellt einen Versuch dar zu fragen, wie Filmschaffende sich in einer Welt des visuellen Überflusses noch positionieren können, um mit ihren Werken ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Debatte abseits eines Sofa-Wohlfühlkinos zu bleiben. Wie können Erzählungen geschaffen werden, die über sich selbst hinauswachsen und das Publikum zur Auseinandersetzung bewegen?

VON GÖTTERN UND MANIPULATEUREN Die Haltung des Publikums zu den ihm angebotenen Inhalten hat sich in den letzten hundert Jahren drastisch verändert. Um die richtigen Strategien für neue Erzählungen entwickeln zu können, muss vorher geklärt werden, wie sich der Blickwinkel des Publikums gegenüber narrativen Inhalten im Laufe dieser Zeitspanne verschoben hat. Erzählungen wurden meist von einer kleinen, fähigen und (durch finanzielle und materielle Unterstützung) befähigten Elite geformt. Das Publikum diskutierte die Erzählungen anschließend analog zu den Äußerungen von Kritiker_innen, wobei diese Besprechungen vorwiegend in privaten, sozialen Kreisen stattfanden. Die Erzählung stellte eine beliebte Möglichkeit für Autor_innen dar, sich Gehör zu verschaffen. Diese Botschaften wurden dabei oft als universelle Wahrheiten rezipiert, wie ­Gottfried Wilhelm Leibniz nahelegt, wenn er den Autor als „poeta alter deus“, den Dichter als anderen/zweiten Gott, bezeichnet. 4 Der Vergleich mit dem Attribut des Göttlichen transportiert nicht nur die Erzählung, sondern die Autor_innen selbst in einen geistigen Raum außerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Sie werden zu Wesen hochstilisiert, die ein tiefes Geheimnis über das Dasein verinnerlicht zu haben scheinen. Ein Geheimnis, das dem Rest der Gesellschaft verwehrt ist. Diese Vorstellung suggeriert, dass die Autor_innen also eine allgemeingültige Wahrheit weiterkommunizieren würden. Das Publikum wird dadurch zur unwissenden Gruppe degradiert, die sich ihrer Unkenntnis wegen den Erzählungen unterwerfen muss. Zwischen Publikum und Autor_in wird ein machtvolles kommunikatives Hierarchiegefälle demonstriert.

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Zit.n. N. Rath: Zweite Natur, S. 12.

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Dies scheint auch von anderer Seite ein naheliegender Gedanke zu sein. So untermauert Siegfried Kracauer diese Idee in seiner Theorie des Films. Das Publikum ist für ihn ein leeres Gefäß, welches das Kino besucht, um „einmal vom Zugriff des Bewußtseins erlöst zu werden, ihr Ich im Dunkeln zu verlieren und die Bilder, wie sie gerade auf der Leinwand einander folgen, mit geöffneten Sinnen zu absorbieren“5. Kracauer diagnostiziert ein Unvermögen des Publikums, die Mechaniken des Films zu durchschauen: „Der Kinobesucher ist in einer ähnlichen Lage wie eine hypnotisierte Person. Gebannt vom leuchtenden Rechteck vor seinen Augen [...] bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Suggestionen zu erliegen, die in sein leeres Inneres eindringen.“6 Dieser Beobachtung zufolge ist das Publikum nicht fähig, die Erzählung als eine Konstruktion zu erkennen. Ihr blindes Vertrauen bezeichnet Kracauer als Gefahr zur manipulativen Beeinflussung der Gesellschaft, ist Film doch „in einzigartiger Weise dazu geeignet, physische Realität wiederzugeben und zu enthüllen“7. Hier ist eine Gefahr angesprochen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend unter verschiedenen Vorzeichen thematisiert wurde. Bertolt Brecht forderte bereits in den 1920er-Jahren eine stärkere Medienkompetenz des Publikums, wobei dieser Fachbegriff erst in den 1970er-Jahren von dem deutschen Medienpädagogen Dieter Baacke eingeführt wurde. Baacke ist dabei starker Befürworter einer umfassenden Aufklärungsarbeit, sei es hinsichtlich der Kenntnis und Anwendung von Geräten und Software-Produkten, sei es hinsichtlich der Reflexion problematischer gesellschaftlicher Prozesse, die mit dem Informationszeitalter einhergehen. Medienkompetenz sei dabei unumgänglich, um mit Geräten kritisch und den eigenen Inter­ essen entsprechend umgehen zu können. Entgegen dieser optimistischen Stimmen legt Hans Magnus Enzensberger sein Hauptaugenmerk auf die Manipulierbarkeit von Geräten: „Jeder Gebrauch der Medien setzt [...] Manipulation voraus. [...] Ein unmanipuliertes Schreiben, Filmen und Senden gibt es nicht. Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.“8 Keinem Individuum soll dabei der Blick hinter den Mechanismen der Medien verwehrt bleiben.9 Erst mit einer umfassenden Aufklärungsarbeit sah man also die Möglichkeit einer intellektuellen Bewertung und kritischen Auseinandersetzung der Rezipient_innen mit medialen Inhalten in Angriff genommen. Mit der Einführung des Internets entstand ein universelles Trägermedium, das diverse mediale Inhalte – sei es in Form von Ton, (Bewegt-)Bildern, Text oder interaktiven Inhalten – der breiten Masse zugänglich machen konnte. Die dadurch gewonnene mediale Freiheit und die damit zusammenhängende Flexibilität führten also zu einer Egalisierung der Medienhoheit. Auf den digitalen Plattformen können Inhalte

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S. Kracauer/K. Witte: Theorie des Films, S. 218. Ebd. S. 218. Ebd. S. 55. H. M. Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien, S. 106. D. Baacke: Medienkompetenz, S. 31.

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nicht nur von allen rezipiert, sondern auch selbst erstellt und geteilt werden. Diese Veränderung ist von nicht zu unterschätzender Kraft, da sie das Kommunikationsgefälle zwischen Autor_in und Publikum zu nivellieren imstande ist. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden weiters neue Ausdrucksformen der Analyse wie Essayvideos, Blogs, Vlogs oder auch Podcasts, die allerdings nicht von Akademiker_innen oder etablierten Kritiker_innen, sondern von „Enthusiast_innen“ eingeführt oder genutzt wurden. Daraus etablierten sich in weiterer Folge öffentlich rezipierte Diskussionsformen von Fans für Fans. Ihr Antrieb liegt in einer von der Interessengemeinschaft, welcher sie angehören, unterfütterten Eigeninitiative. Die vorrangig emotionale Besprechung, die früher in privaten, sozialen Kleinstgruppen stattgefunden hat, wird nun frei einseh- und global verfügbar. Sie avanciert zu einem Teil der Öffentlichkeit und zu einem substantiellen Bereich der Medienlandschaft insgesamt. Die Form der Interpretation, die zur Zeit Brechts und Kracauers eine Endverwertung darstellte, wandelt sich in der egalisierten Medienlandschaft des Internets zu einem wiederkäuenden Verdauungsprozess. In globalem Umfang werden diese Interpretationen diskutiert, revidiert, zitiert, reinterpretiert und recycelt. Die Gesellschaft bestimmt nun aktiv die Wahrnehmung von Inhalten und Erzählungen mit. Dadurch haben sich die Interpretationswege ausgeweitet und verkompliziert. Die Erzählung selbst ist nur noch ein kleines Element seiner eigenen Geschichte, ein Anstoß für weitere Auseinandersetzungen, welche an argumentativer Weite und Intensität die Erzählung selbst oft um ein Mehrfaches überflügeln. Dies ist eine fundamentale Veränderung der Rezeptionshaltung und fordert narrative Kunstformen heraus. Bedeutung und Relevanz stehen einem Werk nicht mehr aufgrund seiner Aussage zu; erst das Ausmaß der daran anschließenden Diskussion bestimmt seinen Wert. Mehr denn je und auf ganz neue Art und Weise zählt: nur was ausreichend Diskussionswert besitzt, bleibt Bestandteil des Kanons.10 Alle Teilnehmenden müssen Position beziehen, ihre Meinung einbringen und sich mit Argumenten anderer Rezipient_innen auseinandersetzen. Erzählungen werden nicht mehr einfach angenommen, sondern überprüft. In diesem Meinungsaustausch steckt eine kraftvolle Form der Selbst- und Fremdbetrachtung. Die Haltungen der Rezipient_innen zu den Erzählungen legen einen neuen Blick auf deren Ich-Konzepte frei. Sie lernen sich abseits eines Gefühls (neu) kennen. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass die Individuen selbst eine Form der Selbsterkenntnis erleben – direkt und unvermittelt, anstatt über den Umweg der Erzählung. Wollen Filme also abseits der Konsumation relevant bleiben, müssen sie dem Publikum selbst anders begegnen. Die Erzählung ist nicht mehr das Ende aller Worte, sondern der Anfang. Sie bringt Steine ins Rollen – wohin diese rollen wird aber nicht mehr von den Autor_innen, sondern vom Publikum bestimmt.

10 Dies ist auch ein Grund, weshalb Fortsetzungen von bestehenden Erzählungen an Popularität gewinnen. Ihr Abgleich mit den ihnen vorausgehenden Arbeiten ist eine gute Basis für angeheizte, leidenschaftliche Diskussionen.

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WIE MAN STEINE INS ROLLEN BRINGT Um das Publikum gezielt zur Diskussion zu animieren benötigt es neue narrative Konzepte abseits des Althergebrachten; eine Variation des Bekannten reicht dafür nicht aus. Die traditionellen Vorstellungen der Theorien und Regeln, die es bei der Erstellung eines Films zu befolgen gilt, erheben oft den Anspruch einer Allgemeingültigkeit. Die Ratschläge, die von unterschiedlichen Autor_innen im Laufe der Geschichte diskutiert wurden, variieren und dienen jeweils dazu, unterschiedliche Typen von Filmen zu kreieren. Die nachstehenden Prinzipien lassen sich dabei im Subtext einiger Texte11 finden und in nahezu allen Filmen beobachten: 1. So wenig wie möglich, so viel wie nötig: Dies ist ein ökonomischer Leitsatz der Rationalisierung. Hierbei sollen alle narrativen Elemente entfernt werden, die nicht essentiell zum Verständnis der Handlung und damit des Films beitragen. Jeden narrativen Strang, jede Figur, jede Handlung und jeden Satz, der überflüssig ist, sollen die Filmschaffenden abstoßen. Alle Elemente sollen dem größeren Ziel so effektiv wie möglich von Nutzen sein. Dies schafft Klarheit und Einfachheit. Es legt den Blick auf das Wesentliche frei.12 2. So spät wie möglich die Szene eröffnen, so früh wie möglich wieder abschließen: Verwandt mit der ersten Regel ist diese darüber hinaus ein Leitsatz der Rhythmisierung. Jede Szene besitzt einen Vor- und Nachlauf zu der wichtigen Information, die transportiert werden soll. Die Entscheidung, wie früh vor dieser Information man einsteigt und wie viel später man die Szene verlässt, erzeugt einen Rhythmus in Abhängigkeit zu den anderen Szenen.13 3. Alle narrativen Bausteine müssen sich aufeinander beziehen: Dies ist das Gesetz der kausalen Kontinuität. Alles, was nicht unmittelbar sinn­ stiftend ist, muss eliminiert werden. Dadurch entsteht Klarheit und Nachvollziehbarkeit für das Publikum. Es ermöglicht ein klares Verständnis der Erzählung und reduziert die Gefahr, dass die Zusehenden unnötig auf eine falsche Fährte gelockt werden.14 Das Ziel dieser „Gesetze“ ist es, das Narrativ so klar wie möglich zu fokussieren, eine Richtung vorzugeben15 und einen klaren und überschaubaren Verlauf des Films zu gewährleisten. Man wünscht sich ein kohärentes Erlebnis der Narration, welches auf die Zusehenden so homogen wie möglich wirken soll. Wenn die Menschen das Kino 11 Zu diesen Texten gehören unter anderem: Techniken des Drehbuchschreibens von Michel Chion, Story – Die Prinzipien des Drehbuchschreibens von Robert McKee, Essential Deren – Collected Writings on Film von Maya Deren, The Five C’s of Cinematography von Joseph V. Mascelli, The Definitive Guide To Screenwriting von Syd Field, Das Geheimnis guter Drehbücher von Linda Seger sowie Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? von François Truffaut. 12 Vgl. M. Chion: Techniken des Drehbuchschreibens, S. 101. 13 Vgl. S. Field: The Definitive Guide To Screenwriting, S. 165. 14 Vgl. L. Seger: Das Geheimnis guter Drehbücher, S. 128. 15 Vgl. R. McKee: Story, S. 63.

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verlassen, sollen alle dieselbe Geschichte wiedergeben. Film ist also auf ein klares Ziel hin ausgerichtet, er ist teleologisch. Erst diese Verknappung der Ereignisse auf jene, die im Hinblick auf den Schluss des Narrativs Sinn machen, formt in diesem Verständnis aus einer Aneinanderreihung von zufälligen Ereignissen eine kausale Kette. Diese klar erkennbare Abhängigkeit aller Bestandteile ist jene Grundbedingung, die aber gerade überdacht werden muss. Die konzeptionellen Vorgaben führen zu einer gedanklichen Fokussierung des Publikums. Die in den Köpfen der Zusehenden abgebildeten Erzählungen sollen sich so wenig wie möglich unterscheiden und die Filmhandlung soll keine ungewohnten, überraschenden Gedankenwege ermöglichen. Mit jeder Entwicklung der Handlung und jedem Handlungsschritt wird den Zusehenden ein weiterer Hinweis gegeben, wohin sich die Aussage des Films bewegen oder verschieben wird. Durch dieses formale Korsett vernachlässigt der Film eine äußerst signifikante Möglichkeit der Nachbesprechung und eine von mehrfachen und unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen angetriebene Diskussion. Wenn alle Zusehenden dieselbe Geschichte erlebt haben, bleibt einzig die Möglichkeit, sich in der eigenen Wahrnehmung von anderen bestätigen zu lassen. Wenn aber alle ein je eigenes und einzigartiges Bild der Erzählung – das vielleicht auch von ihrer je eigenen Biografie und Geschichte beeinflusst ist – verinnerlicht haben, müssen sie sich in der Nachbesprechung mit der eigenen und fremden Wahrnehmung auseinandersetzen. In diesem Moment erst kann eine tiefgreifende Diskussion über den Film entstehen. Reibung und Streuung sind also die Grundlage einer jeden Diskussion; interpretative Vielfalt benötigt Angebote statt Aussagen. Eine Maximierung dieses Diskussionspotentials kann dadurch erreicht werden, dass sich die Wahrnehmungen innerhalb des Publikums so signifikant wie möglich voneinander unterscheiden. Sollte also stattdessen mehr nach dem Leben erzählt werden? Eine Geschichte, wie eine Ansammlung scheinbar unzusammenhängender Ereignisse, deren Sinn höchstens in der Rückschau (und vielleicht gar nicht) zu erkennen ist? Ein Film wie ein wilder Haufen zusammengeworfener Einzelteile mehrerer Puzzles? Diese narrative Strategie wurde schon mehrfach in Improvisationsfilmen erprobt. Erste Entsprechungen dieser Strategie finden sich in den Filmen John Cassavetes. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts gewann diese Erzählform unter jungen Filmschaffenden eine unerwartete Popularität, die sich in den USA unter dem Begriff „Mumblecore“ manifestierte und mit dem „German Mumblecore“ auch im deutschsprachigen Raum angekommen ist. International erhielten die Arbeiten von Andrew Bujalski (Funny Ha Ha, 2002) und Axel Ranisch (Dicke Mädchen, 2012) besondere Aufmerksamkeit. Ihre Produktionsprozesse verweigern sowohl vorformulierte Dialoge als auch abgefasste Drehbücher.16 Stattdessen stützen sie sich auf Szenenideen und spärliche Handlungsskizzen. Die Hauptarbeit liegt in den ausführlichen Figurenentwicklungen, die gemeinsam mit den Darstellenden durchgeführt werden. Am Set werden diese Figuren unter verschiedensten Prämissen aufeinander losgelassen, die Filmschaffenden erarbeiten ein möglichst großes und diverses Angebot an möglichen Handlungen. 16 Vgl. C. Horn: German Mumblecore, § 3–8.

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Der tatsächliche Film entsteht aber erst im Schneideraum. Die mit dieser Methode gedrehten Filme oszillieren dabei immer zwischen angedeuteten Narrativen und reinen Charakterstudien. Obwohl diese Strategien effektiv sind, um die Unvorhersehbarkeit des Lebens am Set zu beschwören, verlieren sie notgedrungen die Möglichkeit einer thematischen Führung. In einem dermaßen freien Umfeld ist es nahezu unmöglich, Themen gezielt anzusprechen. Die Filme sind emotional und empathisch äußerst intensiv; sie gehen nahe und erreichen eine Form der Authentizität, die ihresgleichen sucht. Doch gleichzeitig verlieren sie das Potential gezielter intellektueller Anregung. Hierfür bräuchte es Fragen und Ideen, die im richtigen Moment formuliert werden müssten. Thematische Setzungen gälte es mit Feingefühl für Timing und Dramaturgie zu setzen, um ihre Wirkung vollends zu entfalten. Ohne diese Fürsorge verschwinden sie unter all den anderen gezeigten und gehörten Inhalten. Im Improvisationsfilm können Fragen, Themen und Ideen nicht widerhallen, das Publikum begleiten oder in ihnen arbeiten; sie können lediglich angedeutet, aber nicht gezielt eingesetzt werden. Da der Film erst im Schnitt entsteht, wird es nahezu unmöglich, intellektuelle Anregungen dort zu platzieren, wo sie die Zusehenden brauchen, um gedanklich involviert zu bleiben. Eine Szene, die sich während des Drehs noch als Anfangseinstellung abgezeichnet hatte, kann im Schnitt also sogar an das Ende rücken. Dadurch verändert sich die Wertigkeit der darin gezeigten Inhalte und verliert die dramaturgische und rhetorische Intention. Die Filmschaffenden können ihre Themen, Ideen und Aussagen lediglich arbiträr über die Länge des Films hinweg verteilen und hoffen, dass sie im Schnitt an der richtigen Stelle wiederkehren. Dadurch nimmt der Improvisationsfilm den Filmschaffenden an einer essentiellen Stelle die Kontrolle ab. Die Handlung drängt sich in den Vordergrund, während die bearbeiteten Themen dahinter verschwinden.

SEHEN, NICHT WISSEN Für tiefgreifende Diskussionen ist ein Mittelweg zwischen Vorgabe und Streuung, zwischen Erleben und Reflektieren notwendig. Mit der Entwicklung der Personal Computer in den 1980er-Jahren entstand erstmals die Möglichkeit, Medien nicht nur abzuspielen, sondern auch bewusst und gezielt zu beeinflussen. Kaum konnte Text auf einem Bildschirm dargestellt werden, entstanden Erzählungen, in die die Anwendenden interaktiv eingreifen konnten. Textadventure wie Colossal Cave Adventure oder Zork dachten interaktive Bücher wie die Choose Your Own Adventure-Serie konsequent weiter.17 Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich eine neue interaktive Ausdrucksform, die heute als „Computerspiele“ bezeichnet werden. In Computerspielen dienen die traditionellen Erzählebenen als Zielvorgaben. Die Narrative befindet sich zwischen den interaktiven Spielelementen, zwischen den Spielenden und deren Aufgaben; sie bilden einen Rahmen für die interaktive Ebene. Jeder interaktive Abschnitt, jedes Level ist ein Spielfeld gefüllt mit Hindernissen, Aufgaben und Rätseln, welche die Spielenden gemäß den Spielregeln zu meistern haben.

17 Vgl. C. Grayling: A Brief History of Adventure Games, § 4.

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Dabei wird ihnen nicht vorgegeben, wie sie diesen Hürden begegnen sollen, vorgegeben ist lediglich das Ziel, das in der Überwindung der Hindernisse besteht. In den interaktiven Abschnitten gestalten die Spielenden das Narrativ selbst. Ein Spiel erfordert also Eigeninitiative. Man muss das lose Angebot an Möglichkeiten für sich interpretieren und nutzen. Die Spielenden wachsen an der Eigenverantwortung und lernen mit neuen und immer komplexer werdenden Herausforderungen umzugehen, Entscheidungen zu treffen und aus eventuell daraus resultierenden Fehlschlägen neue Lösungsansätze zu entwickeln. Sie können nicht als ein passives Gegenüber des Bildschirms verstanden werden, sondern partizipieren aktiv. Im Computerspiel haben die Autor_innen die Aufgabe, den Spielenden eine Bandbreite an Möglichkeiten anzubieten, aus denen sie selbst auswählen können. Dadurch entsteht bereits in der Auseinandersetzung mit dem Werk ein Dialog zwischen den Kunstschaffenden und dem Publikum. Das Spiel fragt, die Spielenden antworten und das Spiel reagiert darauf mit einer neuen, passenden Frage. Computerspiele sprechen dem Publikum eben jene Eigenleistung zu, selbst über eine Entscheidungs- und Lösungskompetenz zu verfügen. Hier wird sichtbar, auf welche Weise die Allwissenheit der Autor_innen demontiert werden kann: Diese können nur mehr abschätzen, aber nicht mehr vorbestimmen. Die Spieleentwickler_innen gestalten ein thematisches Angebot und bieten dies den Spielenden zur freien Verfügung an. In der Selbstbefragung zwischen dem Individuum und den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, sowie zwischen dem Individuum mit Gleichgesinnten, welche untereinander die Abweichungen ihrer Entscheidungen besprechen, entstehen neue Bedeutungen und Erkenntnisse. Dies ist kein Nebeneffekt, sondern ein intendiertes Merkmal dieses Mediums. Er entsteht aus der Interaktivität selbst, kann jedoch unterschiedlich ausgeprägt sein: Manche Spiele laden stärker zu einer selbstbestimmten Erkundung angebotener Möglichkeiten ein (z.B.: die Sid Meier’s Civilization-Reihe von Firaxis oder auch Darkest Dungeon von Red Hook Studios), andere funktionieren vorrangig als Beobachtungsspiele (z.B.: Bientôt l’été des belgischen Entwicklerduos Tale Of Tales oder Cibele von Star Maid Games). Allen Beispielen gemein ist die Aufforderung der Entwickler_innen an die Spielenden, sich interaktiv in das Spiel einzubringen und sich in diesem Sinne nicht nur mit ihm zu beschäftigen, sondern es als eine sich wandelnde, immer wieder in neuen Facetten offenbarende Erzählung anzuerkennen. So benennt der japanische Spieleentwickler Hidetaka Miyazaki seine Verantwortung gegenüber dem Narrativ wie folgt: „Only those storyline elements that actually make it into the game are something that I need to force players to accept as a base for building up their own interpretation of the world. There are things in my head that aren’t in the games, after all – so after that, it’s all up to the players. I have no intention in forcing any of the storyline upon any of the players out there [...].“18 Es geht also nicht um das Verstehen, sondern um das Erarbeiten eigener Ideen, Theorien und Lösungen. Das Spiel, aber auch der Film fördert Reflexion und wird zu einer emanzipatorischen Arbeit des Publikums. Dieses Potential muss vor allem der Film in sich selbst wiederentdecken – vorhanden ist es bereits. Das stellte schon 18 A. Donaldson: Dark Souls 3, § 15.

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Jean-Luc Godard fest: „Dabei hat der Film so etwas Interessantes an sich, was sich sonst nirgendwo anders wiederfinden läßt: er erlaubt einem nämlich, nicht zu wissen /savoir/, aber zu sehen /voir/, um dann im nachhinein vielleicht zu wissen.“19

EINE LACKMALEREI IM DUNKLEN Computerspiele führen mithilfe von Leveldesign, narrativen Rahmenbedingungen und Spielmechaniken das Publikum durch einen Raum an Möglichkeiten. Der Film hat diese interaktive Qualität nicht, seine Leitfäden sind jene, die ihn seit Anbeginn begleitet haben: Handlung, Figuren, Szenenbild, Lichtsetzung, Montage, Dialog und Musik. Doch diese Elemente sollen nun in einer anderen Hinsicht genutzt werden; die alten Gesetzmäßigkeiten gehören dabei getrost ignoriert. Im Film darf es nicht darum gehen, eine absolute Erzählperspektive zu postulieren, vielmehr sollen subjektive Haltungen ermöglicht werden – ein ganz und gar fremder Gedanke für das westliche Kulturverständnis. Wirft man aber einen Blick auf die japanische Kunst, kann man feststellen, dass diese interessantes Anschauungsmaterial darbietet. Für ihre Begriffe zählt die Zuwendung und Förderung subjektiver Positionen zur traditionellen Auffassung von Kunst. Jun’ichirō Tanizaki beschreibt dies in seinem Aufsatz Lob des Schattens wie folgt: „[E]ine Lackmalerei in Gold soll nicht an einem hellen Ort mit einem Blick als Gesamtheit überschaut werden, sondern sie ist so beschaffen, dass man an einem dunklen Ort von Zeit zu Zeit den einen und dann wieder den andern Teil tiefgründig aufleuchten sieht. Gerade die Tatsache, dass die prunkvoll-üppigen Muster größtenteils im Dunkel verborgen bleiben, erzeugt eine unaussprechliche Resonanz [...] und versetzt den Menschen unwillkürlich in eine meditative Stimmung.“20 Das Tanizakis Kunstbegriff zugrundeliegende Konzept ist eine äußerst komplexe Betrachtung des Zusammenspiels von Raum und Zeit im Bezug auf die betrachtende Person selbst, wobei diese Interaktion im Begriff „Ma“ (間) festgehalten wird.

Abb.1: „Ma“ und seine Bestandteile, 2016

19 J. Godard: Liebe Arbeit Kino, S. 79. 20 J. Tanizaki: Lob des Schattens, S. 30.

Abb.2: Licht und Schatten: Eine fotografische Entsprechung des „Ma“, 2018

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Eine Kanjigetreue21 Übersetzung dieses Zeichens würde „[e]ine Türe, durch dessen Spalten das Sonnen-/Mondlicht dringt“22 lauten. Der Begriff „Ma“ beschreibt keine Eigenschaft eines Gegenstands, sondern einen Prozess, der zwischen zwei Elementen stattfindet oder einen Punkt der Verwandlung. Dabei wird davon ausgegangen, dass Zeit und Raum keine unabhängigen, definitiven Einheiten sind, sondern nur in Abhängigkeit zueinander existieren können. Eine betrachtende Person erlebt die Räumlichkeit eines Ortes nur, indem sie durch die Zeit schreitet. Mit jeder Positionsänderung wird ihr ein neuer Blick auf den Raum gewährt, dieser eröffnet sich dem Auge dadurch neu.23

Abb.3: Torii Kiyonaga, Onna yu (Bathhouse women), ca. 1787, Holzschnitt koloriert, 38,5 x 25,3 cm

Die Vielseitigkeit des „Ma“ offenbart sich anschaulich in den Malereien des Genres Ukiyo-e (浮世絵). Die Bezeichnung dient als Sammelbegriff für unterschiedliche Kunstschulen, die während der Edo-Periode (1600–1867) entstanden sind. Diese beschäftigten sich hauptsächlich mit dem entstehenden Bürger_innentum und ihrem

21 Als Kanji werden die chinesischen Schriftzeichen im japanischen Schriftsatz bezeichnet. 22 G. Nitschke: ‚MA‘ The japanese sense of ‚place‘, S. 116. 23 Vgl. A. Isozaki/K. T. Oshima: Arata Isozaki, S. 150f.

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Leben in den Lustvierteln, die als „fließende Welt“ bezeichnet werden.24 Die Bilder dieser Schule zeichnen sich selten durch ein klares Narrativ oder eine konkrete Blickführung aus, sondern eher durch ein Angebot gleichberechtigter Erzählungen, welche die Zusehenden nach deren Gutdünken entdecken können. Nicht alle Narrative sind offensichtlich und keines ist zwingend, um das Bild zu verstehen. Torii Kiyonagas Bild Badende Frauen hat neben den kleinen Szenerien von miteinander interagierenden Frauen ebenso zwei versteckte Bildinhalte. Zum einen befindet sich in der Mitte des Bildes eine Frau, deren Oberkörper wir nicht sehen. Sie hat sich in einen separierten Teil des Raums zurückgezogen, um sich zu waschen. Zum anderen verbirgt sich am linken Rand ein kniender Mann, der durch ein kleines Fenster zu den Frauen hinüberblickt. Weder die Intention der beiden Figuren noch ihre Entdeckung ist wichtig, um das Bild lesen zu können, doch erlaubt es zusätzliche Perspektiven der Interpretation. Die Darstellung und Intention der beiden versteckten Figuren bleibt dabei absichtlich vage, um unterschiedliche Intentionen hineininterpretieren zu können. Die Inhalte werden dabei nicht akzentuiert, nicht gewertet und nicht hervor­ gehoben. Den Fokus müssen die Betrachtenden selbst wählen. Dafür wird jedoch eine sehr gezielte Auswahl kleiner Momente, Ideen und Geschichten angeboten. Kiyonaga intendiert Beziehungen, das Publikum interpretiert diese, die Akzente setzt der_die Zusehende selbst. Abhängig von den Erfahrungen, Interessen und emotionaler Lage wird das Bild stets neue Erfahrungen und Assoziationen erzeugen. Ein solches Konzept kann jedoch nicht analog auf den Film umgemünzt werden. Während die Malerei oder die Fotografie mit einem einzigen Bild erzählen muss, hat der Film 24 pro Sekunde. Beziehungen können nicht nur im Bild, sondern auch zwischen Bildern entstehen, nicht nur im Dialog, sondern auch zwischen Dialogen, nicht nur in einer Figur, sondern auch zwischen Figuren, nicht nur in einer Handlung, sondern auch zwischen Handlungen. Die Möglichkeiten, eng verwobene Bedeutungsnetze zu spinnen, sind um einiges vielfältiger als in einem einzigen Bild. Folglich sind auch die Herausforderungen komplexer. Darüber hinaus gilt es, stilistische Merkmale nicht auszuleihen: Lösungen, die dem Film gerecht werden, können nicht durch die Übernahme von Äußerlichkeiten gefunden werden. Stattdessen müssen die darunter liegenden Prinzipien verstanden und für das Medium spezifisch angewendet werden. Der Religionswissenschaftler Richard B. Pilgrim bezeichnet in seinen religiös-ästhetischen Untersuchungen das „Ma“ als ein „Schwangeres Nichts“25. Diese Bezeichnung scheint mir äußerst passend als gefordertes Ziel. Es soll kein teleologischer Weg vorgezeichnet werden, sondern ein möglichst unbegrenztes Feld an Möglichkeiten. In diesem Sinne kann versucht werden, Leitgedanken für diese Form des Erzählens zu formulieren.

24 Vgl. Swinton et al., S. 13ff. 25 R. B. Pilgrim: Intervals („Ma“) in Space and Time, S. 258.

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LEITGEDANKEN ZUM FILM ALS SCHWANGERES NICHTS Die folgenden Gedanken sind nicht neu, doch nur wenige Regisseur_innen haben sich an Erzählungen gewagt, die sich um eine Umsetzung dieser Ideen bemühen.26 Diese Überlegungen sind und bleiben also weitgehend künstlerisches Neuland und ein Ort für Diskussionen, Experimente und Fehler: 1. Alles muss sich auf das Thema beziehen: Grundlegend sollte der Film nicht als eine Kausalkette betrachtet werden, sondern als die Bearbeitung eines Themas. Jede Szene ermöglicht es, den Themenkomplex aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Die gezeigten Handlungen müssen sich nicht zwangsläufig aus der vorhergehenden ergeben oder unmittelbar auf die nächste beziehen. Lediglich dieselbe Thematik muss bearbeitet werden. Die zusammen­hängende Form ergibt sich aus einer sich entwickelnden und in Facetten aufspaltenden Idee, anstatt aus der kontinuierlichen Verfolgung von aufeinander aufbauenden Handlungen oder Figuren. 2. Die eigene Position ist nur so viel wert wie die Bereitschaft, sie hinter sich zu lassen: Die Kunstschaffenden von ihrer eigenen geistigen Haltung loszusprechen entspricht der absurden Forderung nach einer objektiven Kunst. Aber für die Öffnung von Möglichkeitsräumen ist es wichtig, unterschiedlichste Facetten aufzuzeigen. So wie Darstellende sich mit ihren Figuren identifizieren müssen, egal, wie sehr diese vom eigenen Gemüt abweichen, so müssen auch Filmschaffende bereit sein, die andere Seite ihrer Haltungen zu beleuchten. Thematische Tiefe wird erst dort möglich, wo Brüche entstehen. Inhalte müssen sich aneinander reiben. Dadurch wird das Publikum dazu angehalten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ohne Reibung wird das Gezeigte weder be- noch hinterfragt. 3. Entzug statt Erklärung: Jedes narrative Werk benötigt die Erklärung, um dem Publikum ein Verständnis seiner Welt und der Verhältnisse der Figuren darin zu vermitteln. Doch die Frage ist stets, wie weit man einen Sachverhalt offenlegt. Lücken werden benötigt, um eine Lust an der Interpretation zu entfachen. Byung-Chul Han denkt in diesem Zusammen­hang: „Allein ein Rück- und Entzug des Objekts entfacht sie. Nicht der Genuss in Echtzeit, sondern das imaginative Vor- und Nachspiel, der temporale Aufschub vertieft die Lust. Der unmittelbare Genuss, der keinen imaginativen und narrativen Umweg zulässt, ist pornografisch.“27 Diese narrativen Umwege können in den Köpfen der Zusehenden entstehen, wenn Erklärungen auf ein Minimum reduziert werden, auf den Anteil, der zum Verständnis zwingend notwendig ist. Die Auslassungen bestehen als Möglichkeiten fort, die das Publikum beflügeln.

26 Zu diesen Filmschaffenden zählen Andrei Tarkowski (z.B. Der Spiegel und Stalker), Apichatpong Weerasethakul (z.B. Syndromes and a Century und Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives) und Maya Deren (z.B. Meshes of the Afternoon und Ritual in Transfigured Time). 27 B.-C. Han: Transparenzgesellschaft, S. 29.

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4. Durchatmen: Die Rhythmik von Filmen wird bestehend schneller; mit zunehmendem, beständigem Medienkonsum werden wir stets effizienter, Inhalte zu konsumieren. Film kann immer schneller geschnitten werden. Doch wenn Filme zu Möglichkeitsräumen werden, muss sich die Rhythmik beruhigen, um dem Geist die Möglichkeit zu gewähren, über das Gesehene nachzudenken. Erst durch die Reflexion entstehen Gedanken, die es wert sind, diskutiert zu werden.

EIN FROMMER WUNSCH Will der Film kulturell relevant bleiben, so muss er erneut die Lust des Publikums wecken, das Gezeigte nicht nur zu konsumieren, sondern sich aktiv dazu zu verhalten. Das Publikum hat sich emanzipiert und die übergeordnete Position der Künstler_ innen als Prediger_innen hat endgültig ihre Funktion eingebüßt. Die Unantastbarkeit der Autor_innen wird zunehmend dekonstruiert – und mit ihr die traditionellen Formen des Erzählens. An ihre Stelle gehören neue Strategien, neue Ideen, neue Möglichkeiten. Die Diskussion ist stets gehaltvoller als die Aussage. Ich plädiere nicht für eine bestimmte Form des Erzählens, sondern für einen anderen Blickwinkel auf sie selbst. Meine Gedanken dazu sollen anregen, um Ideen entstehen zu lassen. Aus diesem Grund sollen ungewohnte Geschichten entwickelt werden, die dem Publikum mit einer egalitären Haltung gegenübertreten und dessen Eigenleistungen anerkennen. Dieser Text ist als ein Vorschlag zu sehen, wie dies passieren könnte. Schlussendlich geht es mir nicht darum, jemanden zu überzeugen, sondern eine Diskussion anzufachen. Was kann der Film in der Zukunft leisten?

BIBLIOGRAFIE Baacke, Dieter: „Medienkompetenz als zentrales Operationsfeld von Projekten“, in: Dieter Baacke/Susanne Kornblum/Jürgen Lauffer/Lothar Mikos/Günter A. Thiele (Hg.), Handbuch Medien. Medienkompetenz, Modelle und Projekte, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 31–35. Chion, Michel: Techniken des Drehbuchschreibens, Berlin: Alexander Verlag 2001. Donaldson, Alex: Dark Souls 3. Miyazaki explains the difference between „difficult“ and „unreasonable“; https://www.vg247.com/2016/03/02/dark-souls-3-miyazaki-bloodborne-interview/ vom 02.03.2016. Enzensberger, Hans M.: „Baukasten zu einer Theorie der Medien“, in: Peter Glotz (Hg.), Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München: R. Fischer 1997, S. 97–132. Field, Syd: The Definitive Guide To Screenwriting, London: Ebury Press 2003. Godard, Jean-Luc: Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben), Köln: Merve Verlag Berlin 1981. Grayling, Chris: A Brief History of Adventure Games; http://www.giantbomb.com/profile/gbrading/lists/a-brief-history-of-adventure-games/28894/ vom 13.02.2017. Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2015.

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Horn, Christian: German Mumblecore. Filme drehen, einfach so; https://www.goethe. de/de/kul/flm/20561419.html vom 22.01.2018. Isozaki, Arata/Oshima, Ken T.: Arata Isozaki. Process, Genesis, Atlas, Trans, Isle, Flux, London: Phaidon Press Inc. 2009. Kracauer, Siegfried/Witte, Karsten: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: C.H.Beck 2012. McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens, Berlin: Alexander Verlag 2016. McLuhan, Marshall/Fiore, Quentin: Das Medium ist die Massage. Ein Inventar medialer Effekte, Stuttgart: Tropen 2014. Nitschke, Günter: „‚MA’ The japanese sense of ‚place‘. in old and new architecture and planning“, in: Architectural Design 3 (1966), S. 116–156. Pilgrim, Richard B.: „Intervals („Ma“) in Space and Time. Foundations for a Religio-Aesthetic Paradigm in Japan“, in: History of Religions 25 (1986), S. 255–277. Rath, Norbert: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800, Münster: Waxmann 1996. Seger, Linda: Das Geheimnis guter Drehbücher. Making a Good Script Great, Berlin: Alexander Verlag 2012. Swinton, Elizabeth d. S.: The women of the pleasure quarter. Japanese paintings and prints of the floating world, New York: Hudson Hills Press 1995. Tanizaki, Jun’ichirō: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Zürich: Manesse-Verlag 2010.

WIR GEHEN HIER NICHT WEG! KUNST UND WIDERSTAND AM ­BEISPIEL DER UNIBRENNT-BEWEGUNG Andrea Umhauer und Sarah Milena Rendel

Der Artikel beschäftigt sich mit den aus der Unibrennt-Bewegung in Innsbruck entstandenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit Bildung und deren im Zuge der Bologna-Reform restriktiven Einschränkung. Dabei wird ein offener Kunstbegriff verwendet und Kunst als Protestform gelesen. Die Autor_innen betrachten sich beide als bildungspolitisch aktiv und interessiert. Damit schreiben sie aus einer positiv voreingenommenen Perspektive über die Bildungsproteste 2009 und einem latenten Wunsch, diesen mehr Bedeutung zuzumes­sen als sie letztendlich hatten. Zum Zeitpunkt des Erscheinens sind beide Autor_innen Student_innen und haben bereits einen formellen Bildungsabschluss erworben, was sie zu Angehörigen einer mit besonderen Privilegien ausgestatteten sozialen Gruppe macht.

DIE UNI BRENNT! Das Korsett beginnt sich zu verengen; der Gürtel zieht sich zu. Bologna-Reform und UG 2002 (und deren Umsetzungen) sehen für die Universitäten Einschränkungen vor, welche die Lebensrealitäten und die konstituierenden strukturellen Umstände der in ihr Schaffenden enthumanisieren. Neu geschaffene und zu etablierende Strukturen zielen auf das normgerechte Funktionieren ab, welches mit Druck und Sanktionen sichergestellt wird. Vor allem das Einführen von verschulten Studienplänen, Knock-out-Prüfungen und eine verstärkte Orientierung an wirtschaftlicher Verwertbarkeit der Studiengänge führen zu einer Verstärkung von Selektion und Wettbewerbs­denken, einer Verminderung der Möglichkeiten von Selbstorganisation und damit einhergehenden Einschränkungen der Kreativität und des selbstbestimmten Studierens.1 Vergessen wird dabei, dass in dieser Institution Menschen tätig sind. Menschen, die durch die Vorgaben der strukturellen Bedingungen zu Konkurrent_innen, Aufpasser_innen und Kontrollierte oder kurz Unterdrückende und Unterdrückte in ständig wechselnden Konstellationen werden, so dass jeder_jede Unterdrücker_in zugleich Unterdrückte_r sei. Es scheint als gäbe es keinen Ausweg aus und keine Alternative zu einer immer stärker werdenden Philosophie der (neo­ liberalen) Verdinglichung.

1

Vgl. M. Penz/A. Umhauer: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Bologna abgelehnt werden muss.

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Aber 2009 reicht es! Ausgehend von Österreich startet ein Lauffeuer und wird zu einer Bewegung von ungewohntem Ausmaß. Ausgangspunkt der Proteste war die Besetzung der Aula der Akademie der bildenden Künste am 20. Oktober 2009. Unter dem Motto #unibrennt wurde anschließend am 22. Oktober eine Demonstration, welche zur Besetzung des „Audimax“ der Universität Wien führte, organisiert. In den folgenden Tagen dehnten sich die Proteste auf weitere österreichische Universitätsstandorte aus. In Innsbruck wurde am 29. Oktober die „SoWi-Aula“ besetzt und in „SoWi-Max“ umbenannt. Die Plattform Unbeschränkt Studieren organisierte an diesem Tag eine Demonstration und Kundgebung,2 an welcher knapp 1000 Personen teilnahmen. Diese sammelten sich am Christoph-Probst-Platz vor der Haupt­ universität in Innsbruck, um unter dem Motto „Universitäten voller Barrieren? Nicht mit uns!“ gemeinsam zu demonstrieren. Nach verschiedenen Ansprachen und Reden schlängelte sich der Demonstrationszug lautstark durch die Innsbrucker Innenstadt bis zu der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Von dort aus stürmten die Demonstrant_innen in die Aula der Fakultät, erklärten die dortige Lehrveranstaltung für beendet und den Raum für besetzt.

Abb.1: Das besetzte „SoWi-Max“, 2009

2 Für den Aufruf zu dieser Demonstration siehe den Demostrationsaufruf der Plattform unbeschränkt studieren; https://unbeschraenktstudieren.wordpress.com/

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„[U]nd dann war das übliche Chaos. Am Anfang waren alle in totaler Euphorie, Party, ahh rauchen drinnen. Dann wurden mal die ersten Plena abgehalten und die gröbsten Sachen abgestimmt . ahm . aber dann hats eben schon langsam begonnen irgendwie sich zu organisieren.“3

KUNST ALS FORM VON WIDERSTAND Geschaffen wurde ein Raum, in welchem in den kommenden zwei Monaten politisch diskutiert, inhaltlich reflektiert, Forderungen ausgearbeitet und Regeln des Zusammenseins und gegenseitigen Miteinanders eingeführt wurden. Dies geht von der Strukturierung der Bewegung in Arbeitsgruppen, ausführlichen Diskussionen in Plena, der Schaffung und Etablierung neuer Räume wie der Kritischen Uni, Schwierig­ keiten und Probleme, die entstehen, wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt in die „Sowi-Aula“ verlegen und versuchen etwas gemeinsam aufzubauen, bis hin zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Themen der Besetzung durch die Besetzer_innen. Kunst im Rahmen der Unibrennt-Bewegung ist an einen emanzipatorischen Kunstbegriff geknüpft. Dieser sieht Kunst nicht ausschließlich als schöpferisches Gestalten und Schaffen von Werken, für das Begabung und ein bestimmtes Können Voraussetzungen sind, sondern erweitert diese Definition um die Möglichkeit, Kunst als Praxis der Auseinandersetzung und Ausdrucksform zu sehen. Kunst ist damit prinzipiell für jede Person möglich und offen. Das künstlerische Schaffen im Rahmen der Unibrennt-Bewegung umfasste Performancekunst, Kurzgeschichten, Video­ inszenierungen, Installationen, Theater, Malerei, Digitale Kunst und Papierkunst. Im Vordergrund stand dabei stets, Kunst als Medium der Gesellschaftskritik anzuwenden. Was sich zeigte, ist eine daraus resultierende Kritik auf verschiedenen Ebenen, die im Folgenden argumentiert werden soll. Durch die hohe Anzahl an möglichen Kunstbeispielen werden in dieser Analyse exemplarisch einige wenige herausgegriffen, um die Merkmale und Verwendung von Kunst als gesellschaftskritisches Medium in der Unibrennt-Bewegung zu verdeutlichen.

ALLE KÖNNEN KUNST MACHEN „Interesse an Kunst ist eine Frage der Bildung“4 , schreibt Eribon in Rückkehr nach Reims, die den Übergang von einer sozialen Klasse in die nächste ausmacht. Die Definition von dem, was als Kunst beschrieben wird, ist genauso wie die Erziehung zur Kunst eine Frage von Herrschaft.5 Über die Erziehung zur Kunst, welche elitär gewissen ausgewählten Kreisen vorenthalten bleibt, konstituiert sich die Lebenswelt einer sozialen Klasse, welche fortan ihre Mitglieder gerade an ihrem Interesse für bestimmte Kunstformen und an ihrem Wissen über diese erkennt. Zeitgleich wird darüber ein Anspruch geschaffen, festlegen zu können, was Kunst ist und damit

3 4 5

A. Umhauer: Sozialer Widerstand, Anhang. D. Eribon: Rückkehr nach Reims, S. 98. Vgl. ebd.

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bedeutsam genug, um in den öffentlichen Diskurs und die sogenannte Hochkultur aufgenommen zu werden. Diese restriktive Bewertung von Werken hat weiterhin ein hohes Ausmaß an Selektion von Kunstschaffenden zur Folge. Über den Zugang zu Kunsthoch­schulen und ähnlichen Einrichtungen zum Erwerb höherer formeller Bildungsabschlüsse wird über Aufnahmeprüfungen festgelegt, wer das Potential hat, ein_e Künstler_in der neuen Generation zu sein und wer sich besser eine andere Tätigkeit suchen sollte. Doch diese Auswahlprozesse sind nie frei von sozial strukturierenden Herrschafts­ kategorien und Herrschaftsprozessen. Bestehende Geschlechterverhältnisse und Klassenunterschiede tragen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei, in dem sie konstitutiv auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Gruppenangehörigen wirken. So ist beispielsweise der Bildungsabschluss der Eltern nach wie vor ein bedeutsamer Prädiktor für die Bildungslaufbahn des Nachwuchses.6 In der Unibrennt-Bewegung wurde das Schaffen von Kunst problemlos als bedeutsames Mittel des Widerstands in die Bewegung integriert. Damit steht die Unibrennt-Bewegung nicht losgelöst von anderen sozialen Bewegungen, wie der zapatistischen Bewegung, der Occupy-Bewegung oder der Tierrechtsbewegung. Überall ist Kunst Teil des Widerstands und Medium der Gesellschaftskritik. Trotzdem oder gerade weil Kunst ein bedeutsamer Bestandteil verschiedenster sozialer Bewegungen ist, ist es spannend, über ihre Bedeutung in diesen Kontexten zu schreiben. Zu sagen, dass alle Kunst machen können, wie es in diesen Bewegungen praktiziert wird, ist ein revolutionärer Akt der Selbstermächtigung, da er die Entscheidung, kunstschaffend zu sein, in die Hände derer legt, die diesen Weg gehen wollen. Nicht mehr eine Gruppe von Privilegierten entscheidet über ihre Zukunft, sondern die Entscheidungskompetenzen werden neu verteilt. Mit dieser Selbstermächtigung zum_zur Künstler_in geht eine Verschiebung dessen, was Kunst sein kann, einher. Die starren Definitionen werden nicht mehr unhinterfragt übernommen, es wird etwas entgegengestellt oder aus Altbewährtem und Alternativem eine Synthese der Kunst geschaffen. Eine wichtige Einschränkung dieser Herangehensweise ist, dass über die Selbstermächtigung zum_zur Künstler_in nicht automatisch auch die Aufnahme in die sogenannte Hochkultur erfolgt oder das Überschreiten von Klassengrenzen ermöglicht wird. Vorerst handelt es sich um einen Prozess der Veränderung der Selbstwahrnehmung, der Selbstermächtigung und der Selbstwirksamkeit, das eigene Leben zu gestalten.

KUNST ALS HANDLUNGSMÖGLICHKEIT Ebenso wie wir Subjekte als Effekte von Diskursen beschreiben können, können wir umgekehrt davon ausgehen, dass diese innerhalb der wirkmächtigen Diskurse handlungsmächtig werden können, indem sie sich in herrschenden Strukturen ein Bewusstsein schaffen und gegenhegemoniale strategische Politiken entwickeln.7 Der ermächtigende Effekt des Tuns wird vor allem an Interviewpassagen der Beteiligten beim Sprechen über die Besetzung und ihre persönlichen Beweggründe deutlich: 6 7

Vgl. S. Breit et al.: Bundesergebnisbericht. Vgl. A.-M. Trzeciak: Tod@s somos iguales.

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„halt (was i) voll wichtig finde is diese empowerment Gschichte oder Dinge selber mochen also jetzt net so i man (.) die Uni is ka Konsumraum oder in die geh ich hin und ich ich was nicht ich ich konsumiere die Lehrveranstaltungen, die mir vorgeworfen, die ich hoilt serviert kriegt und sowas, und das Tagesmenü ist so und so, sondern i’bs Gfühl, kriergscht einfach a bissl Gfühl dafür was du einfach alles selber mochen konnscht oder“.8 „jo, ja, was net, is halt wichtig is es Dinge selber mochen, merken, wieviel ma mochen konn, weil des is, also des des nd i mocht Mitbestimmung aus oder, mein, die ganze Welt sogt da (oder so was) wie halt (Gehäuse) aufgebaut is sogts zwingst dich in so passive Situation rein oder als Konsument oder, es werden Dinge für dich organisiert, es i ja net immer einfach es selber z’mochen und was net du du du was net nimmscht a net selber in Anspruch, dass du Dinge selber moch konnscht“.9 Es zeigt sich, dass gerade das eigene Tun als Herauslösung aus einem als sehr präsent an die eigene Person herangetragenen Anspruch der Passivität von außen wahrgenommen wird. Dies wurde von den Befragten als bedeutsamer und positiver Teil ihrer Erfahrungen als Besetzer_innen beschrieben. Der emanzipierende Effekt des Tuns während der Besetzung, also die Erkenntnis, Dinge eigenständig umsetzen zu können, wie beispielsweise das Schaffen von Kunst, die Gestaltung des Raums „Universität“ oder das Organisieren von kritischen Veranstaltungen, wird als wichtiger Teil der eigenen Entwicklung beschrieben. Diese neue Konstante ist auch über die Besetzung hinaus im Leben der Beteiligten wirksam geblieben und hat den Umgang der Einzelnen mit der Welt nachhaltig verändert. Albert Camus beschreibt vor allem die Veränderung des Subjekts, wenn es sich in den Widerstand begibt. Die Wahrnehmung des Subjekts als handlungswirksames ist der bahnbrechende Effekt der Revolte. Erst durch das Revoltieren wird der Mensch menschlich bzw. zum Menschen. Er setzt sich zur Wehr, erträgt Ungerechtigkeiten nicht mehr lautlos, sondern fordert ein, gehört zu werden, Mensch zu sein, Anspruch und Anerkennung zu erhalten. Diese neue Form seiner selbst ist das eigentlich Revolutionäre am Widerstand bzw. der Revolte. „In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das >Cogito< auf dem Gebiet des Denkens: Sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den Einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir.“10 Darüber hinaus erfährt sich das Subjekt über die Revolte als Teil einer Gemeinschaft. Das Individuum kämpft nicht für sich alleine, sondern gegen Ungerechtigkeiten, die ihm selbst oder anderen Menschen widerfahren, es kämpft mit allen Menschen und für alle Menschen, die Ungerechtigkeit oder Gewalt erleben und stellt sich gegen Unterdrückungs­verhältnisse jeglicher Art.

8 A. Umhauer: Sozialer Widerstand, Anhang. 9 Ebd. 10 A. Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 39.

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Abb.2: Gestaltung des SoWi-Foyers während der Besetzung des SoWi-Foyers, 2009

Die Veränderung der Einzelnen, welche Teil der Unibrennt-Bewegung waren, ist nicht ausschließlich auf den Anteil der Kunst an der Bewegung zurückzuführen, jedoch ist ihr Anteil daran auch nicht bestreitbar. Kunst ist in diesem Kontext Mittel der Analyse und Darstellung von Herrschaftsstrukturen und ermächtigt die Schaffenden, sich über den künstlerischen Prozess als handlungsmächtiger Teil eines Kollektivs zu erleben. Eindrücklich zeigt sich dies an der Gestaltung des SoWi-Foyers während der Besetzung. Nun ist es einerseits möglich, dies als Verunstaltung und Chaos wahrzunehmen, andererseits zeigt sich eine entfesselte Kreativität bei der Vorstellung dessen, wie eine Universität aussehen könnte und wer sie gestaltet (räumlich und inhaltlich, sollten sich die zwei so strikt voneinander trennen lassen).

KUNST ALS GESELLSCHAFTSKRITISCHES MEDIUM Geht es beim Schaffen von Kunst immer auch um den Menschen, welcher ein bestimmtes Werk schafft, soll auch das Werk als Medium nicht zu kurz kommen. Im Rahmen der Unibrennt-Bewegung wurde Kunst durchgängig als Medium der Kritik eingesetzt. Dabei ist die Analyse dessen, was ist, konstitutiv für die eigene Handlungs­ macht. Über das Entdecken und Beschreiben der vorhandenen Herrschaftsstrukturen werden die Einzelnen in die Lage versetzt, diese zu verändern.11 Verschiedene Formen der Kunst versuchen gesellschaftliche Verhältnisse darzustellen, zu kritisieren und zu analysieren.

11 Vgl. S. Jäger: Kritische Diskursanalyse.

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So verdeutlicht eine Barrikade am Eingang der technischen Universität die Barrieren, mit denen sich die Universität als Konstrukt von ungewünschten Besuchenden schützt, den selektiven Zugang und die Schwierigkeiten, mit denen viele bei oder vor dem Eintritt in die Universität zu kämpfen haben. Das Bild der Barrikade, errichtet aus Stühlen, symbolisiert die Erschwerung des Zugangs zu Bildung durch die Bologna-Reformen. Die Barriere macht fühlbar, was Blockaden direkt bedeuten – nicht hinein bzw. hinzukommen, was das angestrebte Ziel ist – und macht damit erlebbar, wie es sich für eben jene Personen anfühlt, die von Bildungsausschlüssen betroffen sind. Besonders eindrücklich wurde dieser Effekt durch das Errichten der Barrikade in der Nacht, sodass alle, die an diesem Tag den Haupteingang zur technischen Universität verwenden wollten, unerwartet mit ihr in Kontakt kamen und sich für ein bestimmtes Verhalten im Angesicht der neuen Situation entscheiden mussten. Kunst oder gerade politische Kunst versteht sich hier nicht als Lösungsdarstellung, sondern als Möglichkeit, Dinge deutlicher und fühlbarer zu machen. Häufig werden absolute Wahrheiten – wie die Darstellung eines bestimmten anzustrebenden und dadurch dogmatischen Lösungswegs – vermieden, um verschiedensten Perspektiven Raum zu geben und keinen hegemonialen Verhältnissen zu verfallen.

Abb.3: Barrikade vor der technischen Universität Innsbruck, 2009

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KUNST ALS KOMMUNIKATIONSMITTEL Durch die Vielfalt der Darstellungsmöglichkeiten künstlerischer Aktionen ergeben sich Situationen, Kunst als Kommunikationsmittel von Gesellschaftskritik zu nutzen. Im politischen Aktivismus sind vor allem Formen wie das „unsichtbare Theater“ aus dem Theater der Unterdrückten relevant. Das Theater der Unterdrückten12 stellt Perspektiven von unterdrückten Personen in den Mittelpunkt und gibt damit Marginalisierten Raum. Durch die Darstellung der Unterdrückungsverhältnisse können diese als solche (an-)erkannt und verstanden werden, wodurch sich in weiterer Folge Handlungsmöglichkeiten ableiten lassen. Vor allem das „unsichtbare Theater“ eignet sich sehr gut, um Unterdrückungsverhältnisse im Alltag aufzuzeigen. Schau­spielende begeben sich in öffentliche Räume und stellen eine Unterdrückungssituation dar, ohne dass die Beteiligten wüssten, dass es sich hierbei um ein Theater handelt. Weitere assoziierte Personen beobachten entweder das Geschehen oder versuchen über Gespräche mit Zusehenden eine Diskussion über die beobachtete Situation zu inszenieren. Das Schauspiel endet, ohne als Theater aufgelöst zu werden, indem sich die Beteiligten sukzessive aus dem öffentlichen Raum zurückziehen. Weniger planungsintensiv, aber durchaus lust- und wirkungsvoll sind Flashmobs. Flashmobs stellen kurzfristige, scheinbar spontane Interventionen im öffentlichen Raum dar. So fielen beispielsweise auf den Treppen zum Hauptgebäude der Universität auf ein für Außenstehende unsichtbares Zeichen alle Flashmob-Beteiligten in sich zusammen und blieben regungslos liegen, um anschließend wieder aufzustehen und weiterzugehen als wäre nichts gewesen. Ziel der Aktion war es, auf die repressiven Einschränkungen der Bologna-Reform und den oftmals lähmenden Universitätsalltag aufmerksam zu machen. Aber auch Kunst als Medium (wie beispielsweise in Form einer künstlerisch errichteten Barrikade) kommuniziert mit den betrachtenden Personen. Sie weist auf bestimmte Gegebenheiten hin, die eventuell zuvor nicht wahrgenommen worden sind und löst damit die Betrachtenden aus einer möglicherweise bestehenden Realität des Unwissens heraus. Von nun an sieht die Welt anders aus: Wir müssen uns zu den gewonnen Erkenntnissen verhalten oder eine größere kognitive Anstrengung aufbringen, um Diskrepanzen zwischen Handeln und Wissen zu verdrängen. Zusätzlich können durch das Betrachten von Kunst gewisse individuelle Erinnerungen geweckt werden. Welches Kunstwerk eine bestimmte Person anspricht, kann zutiefst mit ihrer eigenen Geschichte verbunden sein. So kann beispielsweise der Anblick einer Barrikade individuelle Gefühlslagen hervorrufen, die an vergleichbare Erlebnisse in der Vergangenheit geknüpft sind. Erlebnisse von früheren Beschränkungen und Ausschlüssen kommen so zurück in das Bewusstsein der Einzelnen und können die unsichtbaren Zugangsbeschränkungen, mit denen sich viele Studierende konfrontiert sehen, nachvollziehbar machen. In jedem Kopf entstehen individuelle Bezugspunkte relativ zur eigenen Geschichte, welche es ermöglichen, sich mit Diskriminierungserfahrungen und Ausschlüssen von anderen zu solidarisieren.

12 A. Boal et al.: Theater der Unterdrückten.

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KUNST ALS KRITIK Kunst kritisiert, indem sie das Bestehende darstellt oder bestimmte Aspekte expliziert und es damit verunmöglicht, die Augen zu verschließen oder es unerträglich macht, keine Emotionen zu empfinden. Eine physisch erlebbare Barrikade ist somit Analysemittel der bestehenden Situation und Ausdruck der Kritik, indem der aufgedeckte Missstand übermächtig dargestellt und die Menschen zur Veränderung aufgerufen werden. Dadurch entsteht ein ästhetisches Mittel, das zur Reflexion anregt und das Potential hat, die Betrachtenden nachhaltig zu verändern. Kunst muss nicht unmittelbar verständlich sein; ihr Ziel ist es im Großen und Ganzen, Verhältnisse modifizieren, aber nicht bestimmen zu wollen. So ist bild­nerische Kunst abhängig von den Betrachtungsweisen der Personen, während Schriftstellerisches durchaus klarer formuliert werden kann. Bildnerische Kunst gibt den Betrachtenden die Möglichkeit, selbst zu interpretieren bzw. lädt durch ihre offene, oft im Gegensatz zum Verschriftlichten unkonkrete Beschaffenheit dazu ein. So gibt es zwar eine Hierarchie zwischen den Kunstschaffenden, die an ihren Werken aktiv arbeiten und den Betrachtenden, die zwar frei interpretieren, aber nicht im Schaffungsprozess mitgestalten können, jedoch ist durch die Interpretationsfreiheit das Machtgefälle offener und lässt den Betrachtenden frei, selbst zu denken und sich mit diesen Gedanken zu den Kunstwerken auseinanderzusetzen. Kunst kann im politischen Aktivismus vor allem einen pazifistischen Gedanken verfolgen, weil sie einen Konsens mit den Betrachtenden und dem Kunstwerk – welcher Art auch immer – herzustellen versucht. Deswegen wird Kunst immer Teil politischer Aktivismen sein, entledigt von Dogmen und fokussiert auf Perspektiven, Pluralität und Handlungsmöglichkeiten.

UND WAS JETZT? Das Widerständige an diesem Artikel ist, Ausdrucksformen des Protestes als Kunst zu bezeichnen und als diese anzuerkennen. Sie sind somit, wie hier beschrieben, nicht nur Ausdruck einer politischen Meinung, sondern stehen auch als Kunstwerk für sich. Sie sind Zeitzeugnis, subjektkonstituierend, Selbstausdruck und ästhetisch. Kunst wird in diesem Kontext radikal politisch eingesetzt, eröffnet über seine Darstellungen neue Perspektiven und schaut unter die Oberfläche des Bestehenden. Rückblickend auf die Bildungsproteste wird oftmals die Meinung vertreten, dass sie gesamtgesellschaftlich nicht viel verändert hätten, was sich unter anderem an der aktuellen Lage der Universitäten nachdrücklich zeigt. Andererseits wird ihnen zu Gute gehalten, dass Bildung durch die Proteste wieder Thema und sichtbarer im allgemeinen Diskurs geworden ist. Viele der Mitwirkenden wurden gerade durch die Beteiligung an den Protesten politisch sensibilisiert oder interessiert und beschreiben die Zeit der Besetzung als wichtige und maßgebliche Episode ihrer Biografie, die bedeutsam für weitere Lebensentscheidungen war. Kunst wurde in verschiedenen Formen als gesellschaftskritisches Medium eingesetzt. Die künstlerische Kreativität und Freiheit hat im Feuer der Bewegung geknistert. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um den Funken wieder aufzunehmen.

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Andrea Umhauer und Sarah Milena Rendel

BIBLIOGRAFIE Boal, Augusto/Spinu, Marina (Hg.): Theater der Unterdrückten. Übung und Spiele für Schauspieler und Nichtschauspieler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. Breit, Simone/Bruneforth, Michael/Schreiner, Claudia (Hg.): Standardüberprüfung 2015. Deutsch, 4. Schulstufe. Bundesergebnisbericht, Salzburg: Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens 2016. Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt 2016. Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims, Ulm: Suhrkamp 2017.

Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Budapest: Unrast Verlag 2015.

Penz, Markus/Umhauer, Andrea: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Bologna abgelehnt werden muss“, in: Diogenes. Zeitschrift der Südtiroler Hoschschüler*innenschaft 1 (2010); http://innsbruck.asus.sh/wp/auilodn/2010/05/diogenes-72_klein.pdf Trzeciak, Anna-Maria: „Tod@s somos iguales – tod@s somos diferentes – Widerstandsperspektiven von zapatistischen Frauen“, in: Peripherie: Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 33 (2013). Umhauer, Andrea: Sozialer Widerstand: Studierendenproteste 2009 zwischen Reform und Revolution, Diplomarbeit 2013. Mit den Interviews zur Bedeutung der Proteste und der Kritischen Uni für die Beteiligten von Maia Yi-Hua Loh 2012.

POLITISCHE KUNST ZWISCHEN GALERIE, GERICHT UND GEFÄNGNIS Chris Moser

Wie politisch muss Kunst sein? Wie politisch darf Kunst sein? Muss Kunst überhaupt irgendwas? ...oder ist sie einfach frei, noch dazu frei von Inhalt? Gerade jetzt, in einer Zeit, in der blutig erkämpfte, demokratische Rechte wie Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit wieder massiv beschnitten werden, ist es unabdinglich, derartige Strömungen beim Namen zu nennen und sie mit allen Mitteln zu bekämpfen. Eines dieser Mittel kann die Kunst sein. Dazu muss sie aber ihre Freiheit verteidigen und behalten! Ich bin Chris Moser. Künstler, Buchautor, Aktivist und Betreuer an einer freien Schule. Ich freue mich sehr, dass ich eingeladen wurde, Teil des wichtigen Symposiums Kunst als gesellschaftskritisches Medium sein zu dürfen! Mein Beitrag dazu fand am 2. Juni 2017 im Archäologischen Museum der Universität Innsbruck statt. Es freute mich auch sehr, hier in einem klar universitären Rahmen einen Teil meiner Erfahrungen aus 25 Jahren politischer Kunst beizusteuern. Vor allem auch für mich als bewusstem Abbrecher von Gymnasium und Lehre, als bewusstem Abbrecher klassisch vorgegebener Wege. Ich bin kein Theoretiker – ganz offensichtlich. Und ich sehe mich keinesfalls in der Tradition schöngeistiger kopf- und gedankenloser Dekorateur_innen. Vielmehr mache ich Kunst, um die Welt zu verändern! Ich will mit meiner Kunst wachrütteln, genauso wie ich mit meinen Aktionen provozieren und die Betrachter_innen aus ihrer unpolitischen Lethargie reißen möchte. Ebenso wenig wie ich meinen Beitrag auf theoretische Erkenntnisse aufbaue, möchte ich darin auch keine allgemeingültigen Regeln oder Vorgaben aufstellen. Wie käme ich dazu? Ich habe vor, kaum über Gehörtes oder Gelesenes zu sprechen; und wenn, dann lediglich zur Illustration. Vielmehr handelt es sich bei meinem Beitrag um – wie es auch schon in der Ankündigung zum Symposium so treffend hieß – Erfahrungs­berichte aus meiner Arbeit als Künstler; polemisch gesagt: Erfahrungsberichte von vorderster Front gesellschaftskritischer und politischer Kunst. Und zwar keinesfalls deshalb, weil ich der Einzige bin, der in diesem Bereich arbeitet, sondern allein deshalb, weil ich natürlich nur über meine eigene Arbeit auch aus erster Hand sprechen kann. Lieber als einen Vortrag zu halten, ist es mir, einfach zu erzählen. Weit näher als eine konfrontative Vortragsstruktur liegt mir ein Austausch, ein Gespräch, gern eine Diskussion. Glücklicherweise war das auch bei meinem Redebeitrag im Archäologischen

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Museum möglich. Danke für die interessanten Fragen, Anregungen und die tollen Gespräche im Zuge meines Beitrags dort, manches davon wird auch hier in diese Verschriftlichung einfließen. Zunächst will ich aber die eingangs gestellten Fragen noch einmal wiederholen: Wie politisch muss Kunst sein? Wie politisch darf Kunst sein? Muss Kunst überhaupt irgendwas, oder ist sie gar einfach frei? Vorweg: Ja, ich denke Kunst darf durchaus anspruchsvoll sein. Sie darf durchaus den Anspruch haben, sich inhaltlich zu äußern. Sie darf gesellschaftskritisch und politisch sein. Ich denke, das muss sie sogar! Kunst muss gesellschaftskritisch und politisch sein! Ich kenne die Einwürfe, die nach einer solchen Forderung dann sogleich vielfach benannt werden: „Kunst darf alles!“, „Kunst muss gar nichts!“, „Kunst hat keine Pflichten!“, „Kunst ist frei!“ etc. Ich kenne diese Einwürfe, und sie gefallen mir sogar. Und in einer befreiten Gesellschaft, in der es nicht mehr nötig sein wird, Missstände aufzuzeigen und gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt zu kämpfen – in einer befreiten Gesellschaft, in der es keine Unterdrückung mehr gibt, keine Gewalt und keine Waffen – in einer befreiten Gesellschaft, in der auch die Kunst keine Waffe mehr sein muss – in einer solchen befreiten Gesellschaft hätten diese Einwürfe ihre Berechtigung. Ich freue mich darauf und werde weiterhin für dieses Ideal kämpfen! Ich fürchte jedoch, der Weg dorthin ist noch weit und ich fürchte, auf diesem Weg dorthin gibt es noch einiges an Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt zu thematisieren, aufzuzeigen, auszubrennen und somit zu beenden. Ich meine, solange Ungerechtigkeiten und Ausbeutung herrschen, ist es die Pflicht der Kunst, dagegen vorzugehen. Werke, die nicht auf einen emanzipatorischen Grundgedanken aufbauen und somit rein gestalterischer und dekorativer Natur sind, dienen offenbar einzig der Zerstreuung. Einer Zerstreuung, die den revolutionären Bewegungen Kraft nimmt und somit im Dienst von Ungerechtigkeit und Ausbeutung steht.1 Kann es sich die Kunst leisten, unpolitisch zu sein? Oder wäre das nichts weiter als ein fataler, schöngeistiger Egoismus? Wir alle kennen diesen Bertolt Brecht zugeschriebenen Satz: Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wer könnte hier widersprechen? Und wird diese Pflicht Widerstand zu leisten anerkannt, welchen Grund könnte es dann geben, die Kunst ebendieser Pflicht zu entheben? Kunst die, gesellschaftlich nichts bietet, nur ästhetisch ist, nur schöne Formen bringt, die nicht angreift, ist uninteressant, meinte dazu der Künstler Otto Muehl als Vertreter des Wiener Aktionismus.2 Insofern möchte ich dem Einwand „Kunst muss gar nichts, Kunst ist frei!“ gern hinzufügen: „Aber bitte nicht frei von Inhalt!“ Und brennende Inhalte gibt es zur Genüge!3

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Vgl. K. Petrus: Ich will eine Welt ohne Ausbeutung. Vgl. D. Roussel: Otto Mühl. Vgl. dazu C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit.

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Abb.: Chris Moser, Artikel 17a. Das künstlerische Schaffen ist frei, aber nicht frei von Inhalt, 2012, Gips, Holz Metall, Accessoires, 60 x 30 x 30 cm

WAS KÖNNTE GESELLSCHAFTSKRITISCHE, POLITISCHE KUNST SEIN? Kunst als gesellschaftskritisches Medium bzw. politische Kunst ist ja beileibe keine neue oder gar modische Erscheinung. Mitnichten. Bereits seit der Antike gibt es nachweislich in erster Linie Theaterstücke aber auch Liedtexte, welche das herrschende System – allem voran die große Kluft zwischen den Herrschenden auf der einen und den Leibeigenen auf der anderen Seite – kritisierten und religiöse Doppelmoral thematisierten. 4 Richtig fassbar werden sozialkritische Strömungen und Absichten in der Kunst dann allerdings spätestens im Zuge der Aufklärung im 17. Jahrhundert; dabei handelte es sich aus naheliegenden Gründen oft in erster Linie um Religionskritik. Im deutschsprachigen Raum steht beispielsweise Jakob Michael ­Reinhold Lenz’ bürger­ liches Trauerspiel Die Soldaten. Eine Komödie, aber auch Georg Büchners Werk D ­ antons Tod in der Tradition gesellschaftskritischer Theaterstücke.5 Zur Zeit des ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik sind mehrere Kunstschaffende bekannt, die sich in ihrer Arbeit ganz klar politisch äußern und positionieren. Künstler, die sich beispielsweise über die Satirezeitschrift Simplicissimus gesellschaftskritisch und politisch betätigten, waren unter anderem Georg Grosz oder Alfred Kubin, aber auch Hermann

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Vgl. dazu T. Haye/F. Schnoor: Traditionslinien; vgl. auch C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit. Vgl. dazu F. Werner: Soziale Unfreiheit; W. Grab et al.: Georg Büchner und die Revolution von 1848.

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Hesse. Einer der Herausgeber dieser Zeitschrift, Thomas Theodor Heine, sowie der Schriftsteller und Schauspieler Frank Wedekind, wurden beispielsweise aufgrund von „Majestätenbeleidigung“ gefangen genommen.6 In diesem kurzen und skizzenhaften Rückblick auf klare politische Aussagen und Positionen in der Kunst wird schnell deutlich, wie eng verwoben verständlicher- aber auch erschütternderweise das Thema der Repression gegen Kunst und Kunstschaffende mit gesellschaftkritischer Kunst schon immer war und vermutlich immer sein wird.

MEIN WEG ZUR GESELLSCHAFTSKRITISCHEN KUNST Ich startete als illegaler Graffitisprayer in der Kleinstadt Landeck im Tiroler Oberland. Das war 1994. Damals spielte ich Bass in einer Death-Metal-Band und besuchte das Gymnasium. Meine Tätigkeit als Bassist, aber auch meine nächtlichen Graffititouren betrachtete ich klar als gesellschaftskritische Statements. Stand anfangs Religionsund Kapitalismuskritik klar im Vordergrund meiner Arbeit, so behandelte ich 1996 auch erstmals Tierrechte und Tierbefreiung 7 in meiner Kunst. Diese erste Arbeit, die sich 1996 – im weitesten Sinne – mit Tierethik, vielleicht mit Tierrechten im ursprünglichen Sinn befasste, war eine kleinere Gipsplastik: ein sitzendes Schwein, flankiert von Messer und Gabel mit der Aufschrift „don’t eat me!“ Während dieser Zeit arbeitete ich künstlerisch ansonsten vorwiegend an allgemein gesellschaftskritischen sowie an Menschenrechtsthemen. Vieles von dem, was ich in meiner Arbeit später als Tierrechts- und Tierbefreiungsthemen spezifizierte, sah ich anfangs in meiner fundamentalen Kapitalismuskritik verwirklicht. Speziell Tierethik und Tierbefreiung thematisierten dann 1999 zwei meiner Werke: Die Gipsplastik eines Jägerkopfes auf einem Trophäenbrett mit ausgeschossenem Auge und der Aufschrift „Waidmanns Heil 1999“, sowie ein mit Besteck und Spritzen durchbohrtes Schwein am Kreuz mit der Aufschrift „schweINRI“. Mittlerweile erlangten auch gerade diese beiden Arbeiten eine gewisse Bekanntheit, unter anderem aufgrund ihrer Rolle im sogenannten Tierschützer_innen­prozess, im Zuge dessen diese Werke kriminalisiert und als Beweis für meine „radikale und militante Gesinnung“ und insofern auch als Beweis für meine „Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation“ (nach §278a StGB) herangezogen wurden. Auf drei Monate Untersuchungshaft – Studien, Skizzen und kryptische Notizen für mein erstes Buch in der Gefängniszelle – folgte ein 14-monatiger Prozess im Schwur­gerichtssaal Wiener Neustadt – Zeit für künstlerische Obrigkeitsstudien – und schlussendlich ein Freispruch für alle 13 Angeklagten.

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Vgl. T. Raff: Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. Wenn ich über allgemein gesellschaftskritische und politische Kunst nachdenke und mich dazu äußere, trenne ich hier natürlich das Thema „Tierbefreiung“ keinesfalls vom großen Ganzen, trenne ich das nicht von allgemein gesellschaftskritischen und politischen Inhalten. Ich sehe die Tierbefreiung insofern als einen weiteren, durchaus sehr wichtigen, Bereich in der (politischen) Kunst an.

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KUNST VOR GERICHT? Wie viele andere unbequeme Kunstschaffenden der Vergangenheit und der Gegenwart begleitet so auch mich und meine Kunst das Thema Repression schon sehr lange: „Haben Sie in Ihrer Kunst Ihre Gedanken und Ihre Gesinnung zum Ausdruck gebracht? [...] haben Sie damit zum Ausdruck gebracht, was Sie innerlich bewegt, was für Sie wichtig ist, was Sie an Änderungen haben möchten? [...] kann das als eine gewisse Neigung zu einer Radikalität gesehen werden oder nicht?“8 Erwarten wir uns tatsächlich, solche Fragen vor Gericht gestellt zu bekommen? Vor Gericht in einem demokratischen Staat? Wohl kaum. Ich begreife mich als Anarchisten. Insofern haben mich die Reaktionen dieses Staatskonstrukts in der zahlreichen Auseinandersetzung mit meiner Kunst weniger enttäuscht, als immer wieder verwundert.9 Die Zitate stammen aus den Protokollen der Strafsache 41 Hv 3/10t, besser bekannt als der weiter oben bereits kurz angerissene, skandalöse österrei­ chische Tierschützer_innenprozess 2010 bis 2012.10 Ich hatte mich damals, wie bereits angesprochen, nach drei Monaten Gefangenschaft als einer von 13 Beschuldigten in einem 14-monatigen Prozess vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation nach §278a StGB frei zu beweisen. Im Polizeibericht wurde ich dabei als einer der Hauptakteure der „militanten“ Tierrechtsszene in Österreich bezeichnet, was unter anderem mit der „Radikalität“ meiner Kunstwerke begründet wurde. Die Strafdrohung sah bis zu fünf Jahre Gefangenschaft vor. Einige versöhnliche Stimmen könnten einwerfen, dass dies jetzt schon einige Jahre her ist. Richtig, aber es gibt auch ein Schreiben vom März 2017. Dort sollte ich in einem anderen Gerichtsverfahren verhört werden. In dem Schreiben werden einige meiner Plakat- und Collagearbeiten thematisiert und kriminalisiert. Detailliert werden hier Collagen in ihre Einzelteile zerlegt und ernsthaft als Werkzeuge, um Sachbeschädigungen durchführen zu können erkannt. Dieser letzte Versuch, künstlerische Arbeit zu kriminalisieren, ist also erst wenige Monate her. Einen deutlich verzögerten Widerhall verursachte offenbar auch meine 2009 im Zuge einer Gruppenausstellung zum damaligen Andreas-Hofer-Jahr im wohlgemerkt renommierten, altehrwürdigen Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, präsentierte Collage Mander es isch Zeit! Selbstverständlich setzte ich mich damals durchaus kritisch mit der Person Andreas Hofer auseinander und machte auch keinen Hehl daraus, dass ich derartigen patridiotischen Feierlichkeiten nicht nur nichts abgewinnen kann, sondern ich diese aufgrund ihrer gefährlichen Eigenschaft durch Heimatliebe, Patridiotismus und Nationalismus schlussendlich rechtsradikalem Gedankengut und Faschismus Tür und Tor zu öffnen, gänzlich verwerflich finde und ablehne. Trotz allem wurde meine Arbeit in Form einer Collage aus A. Hofer und O. Bin Laden damals von einer couragierten Kuratorin im Landesmuseum präsentiert und erregte offenbar noch letzten Sommer derart die schlichten Gemüter eines FPÖ-Mandatars 8 C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit. 9 Vgl. C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit. 10 Siehe dazu den Film Der Prozess (Regie: Gerald Igor Hauzenberger, 2011); https://www.youtube. com/watch?v=3PKAf6fKLMM vom 01.08.2013.

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sowie eines Schützenoffiziers, sodass die beiden im Gemeinderat nach einem Vortrag von mir in einem Jugendzentrum sogar die Überwachung der Jugendarbeit forderten. Die Jugendlichen sollten offenbar keinesfalls mit kritischen Positionen zu Patriotismus konfrontiert werden.11 Für mich als Künstler und politischen Menschen begann diese unfreiwillige Auseinandersetzung mit der Freiheit der Kunst und den vielfältigen Repressionen aber bereits Anfang der 1990er-Jahre als jugendlicher Sprayer. Die anfangs recht konkreten Beschuldigungen wegen Sachbeschädigung gegen mich als Graffitikünstler mussten recht bald weit weniger offensichtlichen Vorwürfen, Beschuldigungen und Anzeigen weichen;12 wie beispielsweise jener der unerlaubten Wahlwerbung, als ich die NATO-Beitrittsdiskussion anlässlich der Nationalratswahl 1995 in Form einer persi­flierten Soldatenbüste, welche ich den zukünftigen Kriegshelden widmete, in der Nähe eines Wahllokals visualisierte. Es würde hier den Rahmen sprengen, auf alle Scharmützel zwischen dem Gesetz und meinen Kunstwerken einzugehen. Hervorzuheben ist vielleicht noch eine meiner Performanceaktionen; dabei handelt es sich um eine Szene, in der ich mich zusammen mit anderen Performancekünstler_innen anlässlich der katholischen Osterfeiertage 2006 vor dem Wiener Stephansdom Tiermasken tragend an lebensgroße Holzkreuze binden ließ. Der angedrohte Strafrahmen hierfür beträgt immerhin bis zu sechs Monaten Gefangenschaft. Dazu passend wurde auch ein Verfahren nach §248 StGB Herabwürdigung des Staates und seiner Symbole für meine Mitwirkung am künstlerischen Kurzfilm so a G’schiss um den Hofer abermals zum Andreas-­HoferGedenkjahr 2009 eröffnet; auch dafür steht bis zu einem halben Jahr Gefängnis. Seit fast 25 Jahren wird mein künstlerisches Schaffen von Seiten des Staats auf diese Weise gewürdigt. Bisher wurden zum Glück alle Verfahren entweder eingestellt oder endeten mit Freispruch.13 Aber ich denke, dass es dabei auch gar nicht primär um konkrete Strafen oder Konsequenzen geht. Ich denke, es geht vielmehr darum, ein Klima der Unsicherheit und Unfreiheit bis hin zu offener Angst zu erzeugen. Dafür gibt es in der Geschichte unzählige Beispiele, einige sollen hier noch exemplarisch angerissen werden. So wurde beispielsweise Egon Schiele 1911 in Untersuchungshaft genommen und wegen Verbreitung unsittlicher Zeichnungen verurteilt.14 George Grosz wurde 1921 aufgrund seiner ein Jahr zuvor auf der Dada-Kunstmesse ausgestellten Mappe Gott mit uns wegen Beleidigung der Reichswehr zu einer Geldstrafe verurteilt.15 Während der ­Nazi-Herrschaft wurden Kunstschaffende wie Charlotte Salomon, Malvina Schalkova, Otto Freundlich, Julo Levin als Vertreter_innen „Entarteter Kunst“ interniert und umgebracht. Nicht vergleichbar und dennoch erwähnenswert ging es danach weiter: 1969 musste der Künstler Oswald Wiener aus Österreich fliehen, er beteiligte

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Vgl. C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. R. Neugebauer: Schiele: Sein Leben in Wort und Bild. Vgl. U. Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs.

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sich 1968 als Mitglied der sogenannten Wiener Gruppe an der Aktion Kunst und Revolution und wurde deswegen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.16 Des Weiteren waren an der Aktion damals auch Günter Brus, Otto Muehl, Peter Weibel und Malte Olschewski beteiligt. Günter Brus wurde deswegen später zu sechs Monaten verschärftem Arrest verurteilt, wegen Herabwürdigung der österreichischen Staatssymbole.17 Das kam mir doch gleich bekannt vor! Valie Export soll damals die Einladung, sich ebenfalls an der Aktion zu beteiligen, mit den Worten: „Spinnst? I’ hab’ a Kind!“18 abgeschlagen haben. Im Nachhinein, weil Export 1970 Mitherausgeberin einer Dokumentation über den Wiener Aktionismus war, wurde sie von der Staatsanwaltschaft der Verbreitung unzüchtiger Schriften bezichtigt, woraufhin ihr das Sorgerecht für ihre Tochter entzogen wurde.19

DER ZEIT IHRE KUNST, DER KUNST IHRE FREIHEIT, DER FREIHEIT IHRE GRENZEN?20 Meine Erfahrungen der letzten 25 Jahre politischer Kunst und den gesetzlichen Konsequenzen daraus zeigen leider deutlich, dass es die Kunst unter repressiver Politik nicht leicht hat. Diese Diagnose galt in der Vergangenheit und ist leider bis heute noch keinesfalls überwunden. Einschüchterungen, Erzeugung von Angst bis hin zu konkreten Repressionen gegen Künstler_innen sind Methoden, die nicht wirklich nach Demokratie klingen. Dennoch, oder gerade deshalb, bin ich sicher, dass die Kraft der Veränderung und des politischen Widerstands durch die Kunst als Waffe erstens nicht unterschätzt werden darf, und zweitens gerade in Zeiten wie diesen auch unbedingt ihre Verantwortung wahrnehmen muss! Diese Verantwortung liegt bei Kunstschaffenden und Kulturarbeitenden jeder Art, aber auch bei Kurator_innen, Theoretiker_innen und Lehrenden. Diese Verantwortung liegt bei uns allen! Denn solange es nur wenige wagen, sich (auch) künstlerisch eindeutig zu positionieren, die Veränderungspotentiale der Kunst wahrzunehmen, sich hier und jetzt laut dagegen zu stellen und sich künstlerisch, emanzipatorisch zu engagieren, solange sich nur einige wenige in die erste Reihe des Widerstands stellen, werden diese Reihen staatlich immer schnell ausgedünnt. Am Tag der Angelobung der schwarz-blauen Regierung 2017, als in Innsbruck 2000 Menschen protestierten, fand ich mich als einziger vor dem mit Helmen, Schildern und Schlagstöcken geharnischten Polizeispallier vor dem Büro der Landes-ÖVP. Stilecht mit Stahlhelm und Zombiemaske führte ich dort eine 20-sekündige Widerstandsperformance auf und tat die eindeutige Befürwortung von Schwarz-Blau, stellvertretend für die Kameradschaft der Nazi-Zombies kund. Solange ich dort vom Einsatzleiter nach Entfernung meiner Kostümierung mit den Worten „Das hätte ich mir ja denken können!“ namentlich begrüßt werde,  solange wird unser Widerstandspotential zu wenig ausgeschöpft sein, solange wird die Verantwortung in der

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Vgl. M. Bonik: Oswald Wiener, Interview und zahlreiche Materialien. Vgl. K. Braun: Der Wiener Aktionismus. Zit.n. o.A.: Die Welt bis gestern. Vgl. M. Lamb-Faffelberger/C. Hilmes: Staging Export, S. 131. Vgl. C. Moser: Der Kunst ihre Freiheit.

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widerständigen Kunst und im Widerstand ganz allgemein zu wenig aufgeteilt sein. Der Kreis jener üblichen Verdächtigen, die sich politisch-künstlerisch äußern, muss wachsen! „Allein machen Sie dich ein“ war eine weitverbreitete Parole unter der APO der 1970er-Jahre, die auch von der Polit-Rockband Ton, Steine Scherben vertont wurde.21 Ich denke es wäre längst an der Zeit, hier anzuknüpfen und auf einige der Erfahrungen in diesen Zusammenhängen aufzubauen. Schaffen wir, frei nach Kommandant Che Guevara, zwei, drei, viele Keimzellen widerständiger, revolutionärer Kunst! Ich denke die Umstände verlangen das ohne jeden Zweifel! Und wir befinden uns offenbar in bester Gesellschaft; mit den vielen Kunstschaffenden, die bereits in der Vergangenheit gesellschaftskritisch und politisch arbeiteten und auch mit den Generationen von Künstler_innen, denen für ihre wichtige Arbeit lange Zeit nichts als Verfolgung und staatliche Repression entgegenschlugen. Die Kunst der Stunde ist Widerstand. Danke euch allen, die ihr Teil dieses wichtigen Prozesses seid! Bleibt mir noch meinen Beitrag im Sinne des großartigen George Grosz mit „DURCHHALTEN!“ zu beenden. Es gibt viel zu tun!

BIBLIOGRAFIE Bonik, Manuel: „Oswald Wiener, Interview und zahlreiche Materialien“, in: 59to1 Zeitschrift für Kultur, Nr. 23 (1989). Braun, Kerstin: Der Wiener Aktionismus. Positionen und Prinzipien, Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 1999. Faure, Ulrich: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs. Herzfelde, Heartfield, Grosz und der Malik-Verlag 1916–1947, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1992. Grab, Walter/Schulz, Wilhelm: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar, Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1985. Haye, Thomas/Schnoor, Franziska (Hg.): Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance, Hildesheim: Weidmann 2008. Lamb-Faffelberger/Himles Carola (Hg.): Staging Export. Valie zu Ehren, New York: Peter Lang 2010. Moser, Chris: „Der Kunst ihre Freiheit! Der Freiheit ihre Grenzen?“, in: Zeitpunkt 150 (2017), S. 20–21. Neugebauer, Roman: Schiele: Sein Leben in Wort und Bild, Wien: Vitalis Verlag 2017. o.A.: „Die Welt bis gestern: ‚matte sache, das ganze, bisher...‘“, in: Die Presse vom 13.06.2008; https://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/weltbisgestern/390834/ Die-Welt-bis-gestern_matte-sache-das-ganze-bisher Petrus, Klaus: Ich will eine Welt ohne Ausbeutung; http://www.tier-im-fokus.ch/interview/moser vom 23.12.2013.

21 Siehe dazu https://www.youtube.com/watch?v=VtYoUoLxwDs vom 19.09.2010.

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Raff, Thomas: Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. Thomas Theodor Heines Briefe an Franz Schoenberger aus dem Exil, Göttingen: Wallstein 2004. Rouselle, Danièle (Hg.): Otto Mühl Aus dem Gefängnis, Klagenfurt: Ritter Verlag 1997. Werner, Franz: Soziale Unfreiheit und ‚bürgerliche Intelligenz‘ im 18. Jahrhundert. Der organisierende Gesichtspunkt in J.M.R. Lenzens Drama „Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung“, Frankfurt am Main: Fischer 1981.

VARIABLEN DER ÄSTHETIK? KUNST IM ZEICHEN DER ­GLOBALISIERUNG UND MEDIALISIERUNG1 Noelia Bueno-Gómez, Kurt Drexel, Raphael Lepuschitz und Franz Wassermann

„In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.“ Andy Warhol2

„In the future everyone will be anonymous for 15 minutes.“ Banksy 3

Das Wesen der Kunst ist ein besonderes Mysterium: Einerseits hat sie den Anspruch (und wird diesem auch zum Teil gerecht), universell verständlich zu sein, andererseits eröffnet sich die Tiefe eines Kunstwerks erst, sobald es genauer betrachtet wird und die Hintergründe kontextuell in den Vordergrund gerückt werden. Gleich­ zeitig entzaubert der „professionelle“ Blick das Kunstwerk und holt es aus dem Reich der unbegrenzten Interpretationsmöglichkeiten in die profane Realität zurück: Ein Musikstück kann auf die unterschiedlichsten Arten wahrgenommen und verstanden werden, doch ab dem Zeitpunkt, wo man sich mit der Partitur, dem Arrangement, dem historischen Hintergrund oder den persönlichen Lebensumständen des_der Schöpfer_in ernsthaft auseinandersetzt, geht ein Teil des ursprünglichen Zaubers verloren. Gerade bei kritischer Kunst ist der Kontext immer ein vorrangiger Aspekt, welcher mit der direkten ästhetischen Erfahrung auf einer Stufe steht und so die Betrachter_innen nahezu zwingt, sich mit der Geschichte hinter dem Kunstwerk zu befassen. Natürlich sind auch bei einem kritischen Kunstwerk die Interpretationsmöglich­ keiten offen, dabei kreisen sie einerseits um das kritische Element und werden anderer­seits vom örtlichen und zeitlichen Standpunkt der Betrachter_innen geformt. Ein kritisches Kunstwerk kann zwar seine Aktualität einbüßen, das kritische Potential bleibt jedoch als historischer Beigeschmack selbst dann noch immer erhalten, wenn das betreffende Ereignis oder die Epoche längst vergangen ist. Noelia Bueno-Gómez nennt in der Podiumsdiskussion das Bild Guernica von Pablo Picasso als Beispiel für ein Kunstwerk, welches seinen Kontext über die Jahre verschoben und

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Dokumentation, Reinschrift und formale Überarbeitung von Dejan Lukovic, Transkription von Elisabeth Hubmann, Kordula Schletterer und Siljarosa Schletterer. Zit.n. J. Bartlett: Bartlett’s Familiar Quotations, S. 758. J. Jones: Banksy in Warhol’s Footsteps.

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Podiumsdiskussion

dennoch beibehalten hat. Ein anderes Beispiel wäre der Song (I Can’t Get No) Satisfaction von den Rolling Stones: Ursprünglich als Kritik am amerikanischen Konsumismus gemeint, wurde der Song selbst zum Kassenschlager und der (missverstandenen) Hymne einer ganzen Generation, so dass Mick Jagger 1970 im Alter von 27 den Ausspruch tätigte: „I’d rather be dead than singing Satisfaction when I’m 45.“4 Die Rolling Stones spielen das Lied heute – inzwischen jenseits der 70 – noch immer, was der ursprünglichen kommerzkritischen Ausrichtung eine äußerst ironische Note verleiht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die spannende Frage, ob und wie weit kapitalismus- bzw. kommerzkritische Kunst innerhalb eines globalen kapitalistischen Systems überhaupt funktionieren kann (ich möchte hier auf keinen Fall andeuten, dass kapitalismuskritische Kunst nicht notwendig wäre) oder ob sie von vornherein dazu verdammt ist, von genau dem kritisierten System vereinnahmt zu werden – in etwa so wie eine Billig-Geldtasche aus China mit dem Konterfei Che Guevaras. Und weiter gefragt: Gibt es inzwischen nicht ganze Werbestrategien für einen „kritischen“ Kunst- oder Kulturmarkt? Ein Markt, wo eine breite „gesellschaftskritische“ Masse genau das serviert bekommt, was sie sich wünscht (vorausgesetzt der Preis stimmt), vom professionell abgewickelten Punk-Festival bis zur noblen Banksy-Versteigerung. Der Ausverkauf der kritischen, alternativen oder subkulturellen Kunst ist eigentlich nichts Neues, das Bedenkliche daran ist heute vor allem die Masse. Waren Dadaist_innen, Kubist_innen, Hippies oder Punks ursprünglich ein Gegenentwurf zur künstlerischen oder gesellschaftlichen Norm, so sind diese inzwischen ein „normaler“ Teil der postmodernen Kultur im 21. Jahrhundert. Die Kämpfe wurden ausgefochten, die Zeiten der Relevanz sind vorbei, zurück bleibt ein leichter Nachgeschmack, der mittels Popkultur-Injektionen nochmals aufbereitet und dann in Social-Media-Manier millionenfach verbreitet wird. Der bekannte information overload kann genauso gut die Form eines art overloads annehmen, wenn ein Kunstwerk aufgrund der Masse an (mehr oder minder) Vergleichbarem verblasst und so von einem singulären Objekt zu einem Objekt unter vielen wird. Diese Überflutung an Kunst und Kultur, die uns heute aus dem Internet entgegenbricht, führt zu einer extremen Form der medialen Selbstvermarktung. In der virtuellen Welt, in der viele versuchen, ihre versprochenen „15 minutes of fame“ einzulösen, gibt es unzählige Internet-Stars und -Sternchen, die sich alle als cooler, schöner, hipper und glücklicher darstellen und versuchen, noch ein „Like“ oder „Love“ mehr auf ihre Postings zu bekommen. Diese Sucht nach künstlicher Aufmerksamkeit, die fast schon einer kollektiven narzisstischen Störung gleicht, geht auch an kritischen Künstler_innen nicht spurlos vorüber. So wird die Vermarktung bzw. Objektivierung des eigenen Körpers zwar hinterfragt und auch kritisiert, aber als Teil des „Gesamtkunstwerks“ verkauft. Auch dieses Phänomen ist nicht neu und unter anderem seit Valie Exports Tapp- und Tastkino in die Kunstgeschichte eingegangen. Trotzdem kann an dieser Stelle gefragt werden, was mit einer Gesellschaft geschieht, wenn die ganzheitliche Selbstvermarktung nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel darstellt.

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C. Edwardes/E. Day: Sir Mick celebrates his 60th birthday.

Variablen der Ästhetik?

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Das ständige Überschreiten von Grenzen, das wir seit einigen Jahrzehnten feststellen, hat sowohl seine guten wie auch seine schlechten Seiten: Ein entspannterer Zugang und Umgang mit dem Anderen, dem Neuen, dem Fremden oder dem vormals Obszönen ist jedenfalls eine positive Entwicklung. Die Kehrseite davon ist eine ständige Überreizung – nicht nur in der Werbung, auch in der Kunst – welche unsere selektiven Filter dazu veranlasst, alles zu relativieren und so die Unterschiede zwischen echter Kritik, Fake-News und populistischen Ansagen oder simplem Marketing nicht mehr so stark wahrzunehmen. Damit stellt sich die Frage, ob Kunst in einem solchen Zeitalter – eingespannt vom Kapitalismus, ausgebeutet durch ein künstlich verzerrtes Selbstbild und nivelliert durch die unüberschaubare Masse an Information – überhaupt noch kritisch sein kann? Die Antwort kann hier nur lauten: Ja, und sie muss es auch! Wie aus der folgenden Podiumsdiskussion hervorgeht, hat die kritische Kunst gerade in der heutigen Zeit mehr Möglichkeiten und mehr Verbreitungsformen, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Die Informationsfülle ist zugegebenermaßen schwer zu überblicken und einzuordnen, aber bietet eine Sicht weit über den subjektiven Erfahrungshorizont und die „bekannte“ Welt hinaus – und so, wie sich gewisse kritische Fragen hier und heute in Mitteleuropa nicht mehr stellen (sollten), sind sie an anderen Orten der Welt sehr wohl noch relevant. Diese Fülle an gleichzeitigen Realitäten bietet auch ein bis heute unerreichtes Potential für Kritik an diesen Lebenswelten, wie sie sich zwischen Armut und Reichtum, Übertechnisierung und Unterversorgung sowie Selbstüberschätzung und Selbstverwirklichung tag ­täglich darstellen. Raphael Lepuschitz

Raphael Lepuschitz: Ich freue mich sehr, Sie heute hier begrüßen zu dürfen. Wir betrachteten im Rahmen des Symposiums die heutige kritische Kunst und genauer die Frage, inwiefern die vergangene kritische Kunst für die heutige Gesellschaft noch von Relevanz sein kann. Wie kann Kunst heute überhaupt noch kritisch sein? Noelia Bueno-Gómez: Ich denke, dass die vergangene kritische Kunst für die heutige Gesellschaft noch relevant ist, weil wir von vergangenen Erfahrungen lernen können. Hier sehe ich zwei Möglichkeiten: Zum einen ist die kritische Dimension vergangener Kunst insofern bedeutend, als diese Kunstwerke ihr kritisches Potential noch nicht verloren haben und sie eine symbolische oder eine universelle Bedeutung für die Gesellschaft bekommen. Als Beispiel kann hier das Kunstwerk Guernica von Picasso dienen, das wir alle kennen und das als Kritik gegen Gewalt und Krieg immer noch relevant ist. Das Bild symbolisiert heutzutage den Weltfrieden. Man könnte auch argumentieren, dass die kritische Dimension vergangener Kunst nicht mehr für die heutige Gesellschaft relevant ist bzw. nicht mehr so ausschlag­gebend wie in der Vergangenheit. Ich denke allerdings, dass diese Kunstwerke heute noch aus einer ästhetischen Perspektive von Bedeutung sind. Ich glaube nicht daran, dass ein Kunstwerk seine kritische Dimension verlieren kann. Selbst wenn die Kritik in einer Gesellschaft nicht mehr wichtig ist, kann diese es dennoch in einer anderen

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Podiumsdiskussion

Gesellschaft sein. In der Stadt Guernica herrscht zum Glück kein Krieg mehr, in anderen Ländern aber sehr wohl. Zudem erwerben besondere Kunstwerke eine symbolische Dimension, wie Guernica für die baskische Region von Spanien – als Erinnerung an den Krieg. Und selbst wenn es gar keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gäbe, wäre Picassos Bild ästhetisch wichtig. In meiner Wahrnehmung zeigt dieses Werk beide Möglichkeiten der Relevanz vergangener kritischer Kunst pointiert auf. Kurz Drexel: Wenn es um die Musik geht und wir bedenken, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem uns die gesamte bekannte Musik aus allen Zeiten und Kulturen stets umschwirrt, dann sind die Fragen natürlich eindeutig: Alles ist da, alles ist präsent, alles wird ständig neu entdeckt und interpretiert. Es ist ja gang und gäbe, dass man immer versucht, Bezüge zur und etwas Neues aus der Vergangenheit herzustellen; und diese Tendenz ist in der Musik ganz stark vorhanden. Das betrifft auch den Bereich der Identität, der mich so interessiert. Die persönliche als auch gemeinschaftliche Vergegenwärtigung und Vergewisserung der Fragen: „Wer bin ich?“ und „Wo gehöre ich dazu?“ öffnet einen großen Gefühlsbereich, der für die einzelnen Menschen und auch für die Gemeinschaft als solche wichtig ist. Wir kämen ohne vergangene Kunst nicht aus, von der wir noch nie so viel zur Verfügung hatten wie jetzt. Früher musste man sich auch noch bemühen, um an diese heranzukommen. Heutzutage reicht ein Mausklick und wir haben eigentlich alle möglichen Informationen aus allen Zeiten und Kulturen zur Verfügung, was insofern natürlich auch für die kritische Kunst gilt. Diese kritischen Elemente kann und muss man herausgreifen und neu interpretieren, weil in einer freien Gesellschaft alles ständig verhandelt und interpretiert werden muss. In unfreien Gesellschaften ist diese Möglichkeit natürlich schwächer vorhanden, dort wird einem ein Kanon umso mehr aufgezwängt. Dieser wird in einer freien Gesellschaft immer wieder neu verhandelt und aus dem Archiv geholt. Raphael Lepuschitz: Wir leben in einer Zeit, in der alles verfügbar ist und in der wir alles downloaden können. Es lösen sich aber Strukturen auf, und zwar nicht nur althergebrachte Strukturen von früher, wie die klassische Kunst oder das traditionelle Kunsthandwerk, sondern auch Subkulturen. Solche haben vor vierzig oder dreißig Jahren noch das große Grauen in der Gesellschaft ausgelöst, heute gehören sie zum Mainstream. Es stellt sich nun die Frage, ob kritische Kunst die Gesellschaft überhaupt noch erreichen kann. Muss sie immer extremer und spektakulärer werden? Muss man immer extremere Entwürfe machen, um im 21. Jahrhundert überhaupt noch aufzufallen, weil alles irgendwie schon da war? Würde zum Beispiel Valie Export mit ihrem Tapp- und Tastkino heute noch so großes Aufsehen erregen wie sie es in den 1960er- und -70er-Jahren tat? Und schon überleitend auf die nächste Frage: Ist es nicht so, dass die PR-Agenturen und das Establishment schon damit rechnen, dass es kritische Aktionen gibt und diese lieber selbst verwenden? Dass damit gerade die, die kritisiert worden sind, die kritische Kunst kommerzialisieren, aber nicht von irgendeiner Seite, sondern genau von der Seite, gegen die man eigentlich kritisch vorgehen möchte? Anders gefragt: Wie ist es heute noch möglich, kritische Kunst zu schaffen? Muss man dabei immer extremer und spektakulärer werden?

Variablen der Ästhetik?

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Franz Wassermann: Zuerst würde ich gerne die Unterscheidung treffen, dass Kunst meiner Ansicht nach – im Gegensatz zu Werbung, Politik oder auch PR – nicht manipulativ arbeitet. Das heißt: Gute Kunst versucht nicht die Menschen zu manipulieren, ihnen eine Meinung überzustülpen. Ein Kunstwerk initiiert als Sender einen Austausch und die Empfänger_innen entscheiden, wie sie mit der Sendung umgehen. Als Künstler geht es mir nicht darum, dass mir die Menschen folgen oder meiner Meinung sein müssen. Mir geht es auch nicht darum, Bedürfnisse zu befriedigen oder Bedürfnisse herzustellen, die eigentlich gar nicht da sind, nur um Produkte zu verkaufen. Diese Unterscheidung ist für mich sehr wichtig, da sie den Kunstbegriff definiert, der meiner Arbeit zugrunde liegt. Selbstverständlich versuchen PR-Agenturen und Konzerne dennoch Kunst zu vereinnahmen, aber zum Glück geht das nicht so einfach, da meine Kunst durch das Urheberrecht geschützt wird. Die Versuche sind dennoch da und die Umarmung des Establishments kenne ich als Künstler auch nicht erst seit heute. Daher wird kritische Kunst immer wieder in der Werbung verwendet werden, daran kommt man nicht vorbei, denn sobald ein Werk in der Öffentlichkeit ist, kann man es eigentlich nicht mehr kontrollieren; stattdessen muss man verfolgen, was damit passiert, und in manchen Fällen reagieren. Das gehört für mich aber zum Kunstwerk dazu. Auf die Frage, ob kritische Kunst heute noch möglich ist, kann ich nur antworten, indem ich von meinen Erfahrungen erzähle. Ich bin Autodidakt und komme aus einem sozialen und politischen Umfeld, das mir beigebracht hat, dass es alles schon gegeben hat. Alles ist schon gemacht worden, alles ist schon gesagt worden, jedes Tabu wurde schon gebrochen und es gibt keine Provokation mehr. Das hat sich jedoch als Illusion erwiesen: Sobald ich mich mit einem Thema intensiv auseinandergesetzt habe, musste ich feststellen, dass dies nur oberflächlich der Fall ist. Ich habe in vielen Projekten erlebt, wie schnell ein Kunstwerk Tabus brechen kann und wie schnell ich dann als Künstler vor verschlossenen Türen stehe. Ich wollte nicht zum Selbstzweck provozieren, dieser provokante Subtext kam einfach durch die Auseinandersetzung ins Spiel. Ich habe mir nie überlegt: „Wie könnte ich die Menschen provozieren? Genau: Ich ziehe mich aus und gehe nackt auf die Straße!“ Das interessiert mich nicht und war auch nie meine Intention. Da kann ich aber nur für mich sprechen. Noelia Bueno-Gómez: Ich würde gerne noch einmal auf die Frage eingehen, wie Kunst heute noch kritisch sein kann, was auch zu dieser Diskussion gerade passt. Denn die Kunst kann ihre kritischen Ressourcen, ihre Technik, Talente, Kreativität, ihr symbolisches Potential etc. nutzen, um verborgene Ungerechtigkeiten zu Tage zu fördern, polemische Themen facettenreich zur Sprache zu bringen und den öffent­ lichen Diskurs zu stimulieren. Dafür braucht die Kunst ihre Autonomie, ihre Freiheit. Die Freiheit ist dabei meiner Meinung nach ein gemeinsames Werk der Politik und der Ästhetik. Die freie ästhetische Darstellung der Menschen kann schon eine politische Handlung sein. Besonders ist sie es dann, wenn Kunstschaffende ihre Meinungsfreiheit nutzen, um ein kritisches Kunstwerk zu schaffen, auch wenn sie keine Meinungsfreiheit haben sollten. Dann ist dieses kritische Schaffen auch eine politische Handlung, nämlich im Sinne einer Verteidigung der Freiheit. Die Idee ist, dass ich mich so verhalte, als ob ich Freiheit hätte, selbst wenn ich sie nicht habe; wie z.B. in einer

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Podiumsdiskussion

Diktatur, wobei dies natürlich riskant ist, aber auch politisch. Dabei ist es dann besonders wichtig, dass die Kunst die neuen Technologien wie zum Beispiel das Internet kennen, benutzen und beherrschen muss, um zu vermeiden, dass sie umgekehrt von den Technologien beherrscht wird. Wie kann die Kunst also ihre Autonomie erhalten? Sie kann ihre Treue zu den ästhetischen Werten und Erfahrungen halten, wobei die einzigen Grenzen dieser Autonomie Gewalt und Ungerechtigkeit sind. Deine Frage, Raphael, war ja auch, ob die kritische Kunst nicht schon längst Teil des Establishments geworden ist, gegen das sie immer ankämpfte. Ich denke, dass dies teilweise so ist, da die massive Reproduzierbarkeit von gesellschaftskritischer Kunst ein Risiko für die Banalisierung ebendieser birgt. Ich erinnere da an Susan Sontag,

Abb.1: Franz Wassermann, Barbie+Ken=HIv+, 1996, Folien mit diversen Gegenständen

Variablen der Ästhetik?

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wenn ich sage, dass wir uns bei zu häufiger Auseinandersetzung an die Kritik gewöhnen, sodass sie nicht mehr effektiv ist. Wir könnten hier auch den Begriff Hannah Arendts der „Banalisierung des Bösen“ verwenden, denn die Normalisierung der Ungerechtigkeit oder Gewalt an Mensch und Tier verhindert den sozialen Wandel, wobei es die Verantwortung des Menschen ist, dennoch damit umzugehen. Wie kann die Kunst nun aber mit diesem Problem der Banalisierung umgehen? Ich denke, dass die Antwort heißt: Mehr Kunst! Gute, bedeutende, inspirierende und motivierende Kunst. Genau das sollten die Künstler_innen machen und die Rezipient_innen sollten diese Botschaften erhalten. Raphael Lepuschitz: Franz, du hast schon darauf aufmerksam gemacht, dass Konzerne nicht einfach Kunstwerke von Künstler_innen verwenden können. Denken wir an ein Szenario, wo es einen Artikel, eine Dokumentation oder irgendein Video zu einer deiner Aktionen gibt. Stellen wir uns vor, dieses Artefakt wird von einem Konzern intensiv beworben und geteilt, obwohl du dich in deiner Aktion eigentlich gegen diesen Konzern gerichtet hast. Wie würdest du mit so einer paradoxen Situation umgehen und was geht dir dabei durch den Kopf? Ich glaube, dass das eine Frage ist, die sich schon andere Künstler_innen wie Andy Warhol oder Banksy stellen mussten. Was passiert zu dem Zeitpunkt, wo die Kunst sozusagen von der Gegenseite vereinnahmt wird? Franz Wassermann: Ich habe bisher nur das Gegenteil erfahren, zum Beispiel als mir der Spielzeughersteller Mattel Mitte der 1990er-Jahre wegen des Kunstprojekts BARBIE+KEN=HIV+ eine Klage angedroht hat. Ich habe mich damals mit der Stigmatisierung von HIV-positiven und an Aids erkrankten Menschen beschäftigt. Für mein Projekt habe ich Betroffene gebeten, mir Alltagsgegenstände zur Verfügung zu stellen,

Abb.2: Franz Wassermann, Barbie+Ken=HIV+; Wahrnehmung von Kunst im öffentlichen Raum 1996

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die ich in Plastikfolien eingeschweißt und mit Zuwendungsaufforderungen wie „liebe mich“, „schlage mich“ oder „verachte mich“ versehen habe. Diese Skulpturen habe ich dann mit grünen Punkten versehen, die damals in Innsbruck zum Beispiel in Krankenhäusern verwendet wurden, um die Akten von HIV-­positiven Menschen zu kennzeichnen. Mattel war damals nicht der Ansicht, dass man diese Negativwerbung als Positivwerbung nutzen kann. Von daher würde es mich wundern, wenn sich die Dinge in die von dir beschriebene Richtung entwickeln würden. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich im Grunde genommen nicht weiß, wie ich im Fall des Falles reagieren würde. Raphael Lepuschitz: Seit der Postmoderne, seit circa 40 bis 50 Jahren, gibt es nun den berühmten Ausspruch 15 minutes of fame von Marshall McLuhan. Dieser Ausspruch wurde von Andy Warhol aufgegriffen und künstlerisch zelebriert. Verkommt heutzutage – in einem Zeitalter, in dem wir alles immer schnell und möglichst kurz zur Verfügung haben – jede kritische Kunst zu einer „15-minutes-of-fame“-Kunst? Kann man sich eine größere, längere und intensivere Kritik heute überhaupt noch vorstellen? Kurt Drexel: Dafür würde ich gerne den Kreis der einbezogenen Künste aus­dehnen und auch den Film, die Literatur und die Musik hinzuziehen, denn ich glaube, dass es auch durchaus innerhalb der kommerziellen Kunst viel Kritisches gibt, das auch in vielen anderen Zusammenhängen eingebettet sein kann. Ich denke zum Beispiel an Paul McCartney, wenn er „give Ireland back to the irish“ singt; das ist natürlich eine kritische Passage, denn der griechische Begriff kritiké heißt ja „bewerten“, „Stellung beziehen“ – und das macht er dort. Und das macht er innerhalb des Mainstreams einer Industrie, womit wir genau in der Mitte des Kommerzes sind, dessen Breiten­w irkung ein sehr hohes Maß an gesellschaftlicher Auswirkung hat. Diesen Bereich sollte man nicht aus den Augen verlieren, denn er ist sehr breit, durchzieht die gesamte Gesellschaft und er gibt vielen Menschen etwas, worüber sie ihre eigene Identität definieren können. Zur Frage, ob Kunst heute immer drastischer werden muss, um etwas zu bewirken: Ich denke, dass wir schon viele Phasen hatten, in der Kunst einfach als Mittel verwendet wurde, welches dann auch kommerzialisiert wurde. Wir gewöhnten uns daran und werden uns daran gewöhnen. Es wird zur Mode und dann, in einer neuen Phase, entsteht wieder ein anderer gesellschaftlicher Druck. Dieser Gedanke, dass die kritische Kunst früher klarer war, der ist meines Erachtens nach eine Vergoldung der Vergangenheit. Es geht letztlich um die Identität, die eigenen Befindlichkeiten und um jene der Gesellschaft – und da ist Kunst einfach ein notwendiges Lebensmittel. Es kommt kein Mensch in keiner Gesellschaft ohne Kunst aus, weshalb ich auch gar keine Angst um die Kunst habe. Es hat sich viel verändert, unsere Möglichkeiten sind so vielfältig geworden dadurch, dass die Welt durch die Globalisierung zu einem Dorf avancierte. Wir haben neue Möglichkeiten und andere Zugriffe auf Kunst. Vieles, was früher möglich war, verschwindet, und neue Chancen und Herausforderungen kommen dazu. Die einzige Konstante ist die Veränderung und insofern denke ich, dass wir mit unseren Ängsten und Hoffnungen offen bleiben müssen.

Variablen der Ästhetik?

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Kunst ist also wichtig innerhalb der Gesellschaft, was auch bedeutet, dass jede Kunst, die im stillen Kämmerlein unbemerkt bleibt, eigentlich irrelevant ist. Diese Kunst kann vielleicht für die einzelne Person von Relevanz sein, für die eigene Lebensbefindlichkeit, aber im Grund ist Kunst eine gesellschaftliche Sache, die eine große Wirkung hat, die gesellschaftlich verhandelt wird, die abgelehnt wird oder die etwas positiv unterstützen kann. Kunst kann dabei aber auch Korrumpierendes, Grauenhaftes oder Schädliches für die Gesellschaft transportieren, aber dieses Potential, sich mit etwas aus der eigenen Existenz auseinanderzusetzen, den Schritt aus dem Alltag und dem Üblichen heraus zu wagen, das hat für mich sehr viel mit Kunst zu tun. Dabei kann man Kunst nicht selektiv definieren, aber man kann Tendenzen verhandeln, wo die Begrifflichkeit umgeht. Da müssen wir dann sagen, dass Begriffe wie „Kunst“, „Musik“ oder „Liebe“ soziale Konstruktionen sind, die wir uns so zusammengestellt haben. Was für die eine Person Musik ist, muss für die andere nichts mit Musik zu tun haben. Wir werden zwar nie alle auf einen Begriff kommen, aber wir haben eine Konvention geformt, an die wir uns annähern können und da sehe ich für mich eigentlich auch diese Hoffnung, die im Kunstbegriff steckt. Wir alle erleben Liebe, Musik, Kunst, obwohl wir für diese Kategorien keine klaren, sprachlich gefassten Begriffe haben. Raphael Lepuschitz: Noelia, wird die Selbstdarstellung der Künstler_innen im Internet heute ein immer relevanterer Faktor? Können sich kritische Kunstschaffende heutzutage überhaupt noch den sozialen Netzwerken entziehen? Reichen also die klassischen Mittel heute nicht mehr aus, um kritische Kunst ausüben zu können? Noelia Bueno-Gómez: In meinen Augen ist die Selbstdarstellung im Internet für Kunstschaffende entscheidend, da es immer schwieriger wird, mit klassischen Mitteln Kritik breitenwirksam zu üben. Das Internet bietet viele Möglichkeiten und hat ein immenses Potential, das die Künstler_innen gut nutzen können. Natürlich verändert die dabei stattfindende massive Reproduzierbarkeit die Kunstwerke und die ästhetischen Erfahrungen, aber dies ist ohnehin eine unvermeidbare Konsequenz unserer Zeit. Die Künstler_innen haben Mittel verloren, aber auch viele neue Möglichkeiten gewonnen. Umso wichtiger ist es, dass die neuen Kommunikationsmittel, die theoretisch die Kommunikation ermöglichen, nicht an die Stelle der Kommunikation treten. Anders gesagt sollten diese mit Kommunikation gleichgesetzt werden, auch wenn gar keine Kommunikation stattfindet, wie wir im Animationskurzfilm zu Mobys Lied Are you lost in the world like me? gesehen haben. Kunstwerke sind essentielle Gegenstände, die konzipiert werden, um wahrgenommen zu werden, um bekannt zu werden. Diese öffentliche Dimension der Kunst ist sehr wichtig und das Internet ermöglicht diese kommunikative Dimension der Kunstwerke. Das Risiko dabei ist, dass diese Mittel die kommunizierten Gegenstände invalidieren, also die Kunstwerke invalidieren und an deren Stelle treten. Franz Wassermann: Ich möchte gerne anmerken, dass die Gegenstände im Internet digital bleiben und keine Körper sind. Ich kann im Internet zwar Bilder oder Skulpturen zeigen und verbreiten, sie bleiben aber immer bildliche Darstellungen, sie werden keine Gegenstände, da es keine Körper für sie gibt.

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Podiumsdiskussion

Was mir auch auffällt ist, dass bei der Ich-Darstellung im Internet meistens über Vermarktung gesprochen wird. Es geht nicht nur um die Präsentation eines künstlerischen Werks, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild. Die Überlegung, wie eine Person sich selbst vermarkten kann, ist immer mit im Spiel. Die Frage ist, ob es im Sinne der Kritik wichtig ist, sich im Internet zu vermarkten. Raphael Lepuschitz: Ich würde gerne eine andere Frage an Kurt weitergeben und zwar eine, die wir vorhin schon im Zusammenhang mit populärer und kritischer Kunst angeschnitten haben: Es gibt die klassischen Begriffe der „Hochkultur“ und der „Subkultur“ und in Innsbruck wurde vor Kurzem das Subkulturarchiv eröffnet. Die Subkultur hat dabei von der Bürgermeisterin städtische Räume erhalten, in denen die Rock-, Metal-, Alternative-, Jazzszenen etc. abgefeiert werden, die vor vierzig oder dreißig Jahren noch große Probleme auslösten. Im Kontext dieser Entwicklung stellt sich bezugnehmend auf den Begriff der kritischen Kunst die Frage, ob es heute überhaupt noch eine Trennung zwischen Hoch- und Subkultur geben kann? Kurt Drexel: Ich denke schon, dass eine Unterscheidung zwischen Hoch- und Subkultur noch Sinn ergibt, denn die Hochkultur ist jene anerkannte Kultur der Mehr­ heits­gesellschaft, die sich schon etablierte – zumindest geht es in diese Richtung. Die Subkultur hingegen ist jene Kultur, die noch nicht nach oben gekommen ist. Wenn diese dann öffentlich serviert wird, dann ist sie eigentlich keine Subkultur mehr, sondern eine ehemalige Subkultur, die vergoldet wurde und nostalgisch präsentiert wird. Das waren dann ja auch oft die schönen Zeiten, wo man noch gekämpft hat, zumindest empfinden das viele so. Das wiederholt sich aber auch ständig, was tendenziell nicht nur etwas mit der „bösartigen“ Wirtschaft zu tun hat, sondern auch mit den Menschen. Wenn ich jung bin, kein Geld habe, unterdrückt werde, dann werde ich zornig und frustriert und dann ist das Potential für kritische Kunst da. Mit der Zeit wird man dann etabliert und verändert sich, wird aber nicht zwangsweise unkritisch. Die Toten Hosen zum Beispiel, die heutzutage sicher nicht unkritisch sind, sind anders als zu Beginn ihrer Karriere, was sie auch von sich selbst sagen. Das geht auch gar nicht anders. Ich würde auch dafür argumentieren, dass diese Subkultur sehr evident ist, weil dort ja oft einfach Menschen auftreten, die in der Mehrheitsgesellschaft wenig oder gar keinen Platz haben. In der Subkultur kann man dann seine eigene Kultur ent­w ickeln. Wie bereits erwähnt ist dies auch sehr wichtig, denn es ist ein Grund­ bedürfnis des Menschen, die Möglichkeit zu haben, mit Kunst, Kreativität, Neugier und Interpretation ein neues Weltverständnis zu erhalten, um die eigene Situation auch zu verarbeiten, zu verbessern, darzustellen und – das Allerwichtigste – eine eigene Identität zu entwickeln. Für viele Menschen ist die Identität wichtiger als das Überlegen und daraus ergibt sich auch der Sinn der Subkultur. Diese wird es immer geben – außer wir haben eine gerechte Gesellschaft. Raphael Lepuschitz: Wir sind langsam am Ende unserer Diskussion angelangt, doch davor würde ich gerne noch eine Frage in die Runde werfen: Wo liegt das kritische Potential von Kunst in der Zukunft? Ist es vorstellbar, dass es ein Ende der kritischen Kunst gibt? Noelia Bueno-Gómez: Ich meine, dass die Kritik auch heute noch möglich ist und man diese z.B. aus der Perspektive der contre-pouvoir oder Antimacht artikulieren

Variablen der Ästhetik?

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kann. Das heißt: Kritik gegen die etablierte Macht ausüben ohne die Macht dabei zu übernehmen. Der Begriff der „Antimacht“ wurde vom Politikwissenschaftler John Holloway formuliert, z.B. in seinem Buch Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Er spricht dabei von der Möglichkeit, die industrielle Macht zu kritisieren, ohne aber selbst Teil dieser Macht zu werden. Wie aber kann man das umsetzen? Diese Frage ist noch offen. Wo wird das kritische Potential von Kunst in der Zukunft liegen? Die Kunst kann die neuen Kommunikationsmittel nutzen, um sich selbst zu verstärken und zu untermauern. Diese Mittel können zum einen die Kunst und die ästhetische Erfahrung kritisieren. Sie können meiner Meinung nach aber auch dazu beitragen, die ästhetische Erfahrung zu demokratisieren – besonders das Internet birgt dieses Potential. Die Mehrheit der Menschen kann viele Kunstwerke im Internet sehen, die sie ohne dieses Mittel nicht sehen könnten, da sie – z.B. aufgrund sozio-ökonomischer Hintergründe – keine Möglichkeiten dazu hätten. Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren, in dem es zum Beginn meines Lebens kein Internet gab. Das Internet kam einige Jahre später, erst dann hatten wir die Möglichkeit, diese Welt zu erforschen. Für mich war es unglaublich, diese Kunstwerke direkt zu sehen, auch wenn ich sie nicht unmittelbar begutachten konnte. Das Internet birgt also Potentiale, aber auch eine Reihe von Problemen. Die Kunst und die ästhetische Erfahrung können durch diese Mittel demokratisiert werden, genauso können sie diese ästhetische Erfahrung aber auch nutzen. Letztlich liegt es in unseren Händen, wie wir mit diesen Mitteln umgehen. Kurt Drexel: Ich glaube, dass die Kunst ein Überlebensmittel für Menschen ist. Je größer die Schwierigkeiten und das Prekariat werden, desto mehr braucht es die Kunst als eine Möglichkeit, mit dieser Ungleichheit umzugehen, etwas zu verändern, neu zu gestalten oder Gegenentwürfe einzubringen. Ich glaube, das geht nicht unter, denn wenn der Mensch nicht mehr die Möglichkeit hat zu bewerten, Stellung zu beziehen, dann ist ein großer Teil des menschlichen Wesens ausgelöscht. Deshalb erscheint mir Kritik so unverzichtbar und deshalb bin ich auch sehr davon überzeugt, dass es sie immer geben wird. Selbst, wenn irgendwann ein Biedermeier eintreten sollte, werden die neuen Generationen diese Entwicklung kritisch in die Zange nehmen und sie mit einer starken Vitalität reflektieren. Franz Wassermann: Die Digitalisierung hat sich seit meiner Jugendzeit stark entwickelt; sie ist wirklich eine Revolution und eine Wahrnehmungsveränderung, die es ähnlich folgenschwer z.B. auch bei der Durchsetzung der Elektrizität gab. Es ist aber nicht nur die Digitalisierung, die einen starken Einfluss auf uns ausübt, sondern auch die Globalisierung. Diese Entwicklungen öffnen eine komplett neue Dimension für die letzten Generationen. Ich will Kurt Recht geben, denn auch ich glaube, dass Kritik – d.h. in die Reflexion gehen, Fragen stellen – eine überlebensnotwendige Maßnahme ist. Die Kunst – egal in welcher Form – bietet Zugänge und Möglichkeiten, die die Wissenschaft nicht bieten kann. Raphael Lepuschitz: Es gäbe zu diesem Thema noch viel zu sagen, aber ich möchte an dieser Stelle die Diskussion beenden. Ich bedanke mich bei allen Teilnehmer_innen für ihre interessanten Beiträge.

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Podiumsdiskussion

BIBLIOGRAFIE Bartlett, John: Bartlett’s Familiar Quotations: A Collection of Passages, Phrases, and Proverbs Traced to Their Sources in Ancient and Modern Literature, ed. by Justin Kaplan, Boston: Little Brown 1992. Edwardes, Charlotte/Day, Elizabeth: „Sir Mick celebrates his 60th birthday by promising to keep on rocking into his 70s“, in: The Telegraph vom 27.07.2003. Jones, Jonathan: „If Banksy thinks he’s following in Warhol’s footsteps, he’s tripping“, in: The Guardian vom 02.10.2013.

EINLEITUNG I

„Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität – die einzige ­revo­­lu­­tionäre Kraft ist die Kunst.“ Joseph Beuys1

Das kritische Potential, das die Kunst seit jeher inne hat, wird vor allem in der modernen Kunst, deren Geburtsstunde oft im Salon des Réfuses in Paris (1863) gesehen wird, immer präsenter. Im Palais de l’Industrie wurde damals eine eigene Ausstellung von Werken, die von der Jury des Pariser Salons abgelehnt wurden – wie Edouard Manets Frühstück im Grünen oder auch James McNeill Whistlers Mädchen in Weiß – initiiert. Es handelt sich dabei um neue und moderne Kunst, die sich vom hochmütigen Ideal­ bild der Académie Royale abhob. Über diese Plattform erschloss sich, trotz heftiger Kritik, eine neue Sammlerschaft, die es Künstler_innen ermöglichte, sich von klassischen Bildthemen zu lösen und sich einer progressiveren Kunst zu widmen. Neue Techniken, wie z.B. die Collage, entwickelten sich und wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Dadaist_innen als Medium zur Gesellschaftskritik geprägt. Aus dem Dadaismus kommend entwarf Marcel Duchamp die Ready-mades und leitete damit eine Wende im Kunstverständnis ein. Als er für die Big Show der Society of Independent Artists in New York, deren oberste Prämisse eine Ausstellungsmöglichkeit für alle Künstler_innen ohne die Einflussnahme einer Jury war, sein Werk Fountain (1917) einreichte, wurde dieses vom Vorstand zurückgewiesen, da es sich in deren Augen nicht um Kunst handle. In Wahrheit steht diese Arbeit aber bis heute an einem Wendepunkt der Definition des Kunstbegriffs, an einer Schwelle hin zu einer Etablierung der Konzeptkunst, weg von einem historisch gewachsenen, handwerklich-ästhetischen Empfinden von Kunst. Aus dieser Entwicklung heraus wurde es möglich, Kunst viel freier zu interpretieren und dementsprechend verschiedenste Medien miteinzuschließen. Joseph Beuys geht einige Jahrzehnte später mit seiner S­ ozialen Plastik sogar soweit zu behaupten, dass „jeder Mensch [...] ein Künstler“2 sei. Er erinnert damit an das kreative Potential, das in jedem Menschen steckt und dessen Auslebung zur Formung einer gerechten Gesellschaft beitragen kann. Das menschliche Handeln wird zum zentralen Bestandteil der Kunst und distanziert sich immer mehr von einer formalen Ästhetik.3

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Zit.n. V. Harlan et al.: Soziale Plastik, S. 59. S. Partsch: Wer hat Angst vor Rot, Blau, Gelb?, S. 142. Vgl. ebd.

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Herausgeberinnen

Diese Entwicklung zeigt, wie sich unser Kunstverständnis in den letzten 200 Jahren enorm verändert hat und wir heute eine viel offenere Definition des Begriffs „Kunst“ verwenden. Genau dieser weitgefasste Kunstbegriff war für die Ausstellung re:act4 , die parallel zum Symposium im Ausstellungsraum styleconception.openspace in Innsbruck zu sehen war, essentiell. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Pluralität gelegt, die sich sowohl in medialer als auch in inhaltlicher Hinsicht durch die ausgestellten Arbeiten zog. Der politische Rechtsruck, flüchtende Menschen, Datenmissbrauch im Internet und die Finanzkrise waren und sind aktuelle Themen, die global Aufmerksamkeit erregen. Auch die Reziprozität zwischen Individuum und Gesellschaft spielt in allen Arbeiten eine wesentliche Rolle. Den Auftakt an der Fassade des Ausstellungsraumes bildete der urbane Künstler Crazy Mister Sketch, der sein Graffiti – The Observer – an der Hausfassade in einem Livespraying vollendete. Diese knallige Einladung an der Außenseite leitete zu den Arbeiten von Christine S. Prantauer über, die in ihrer Arbeit urban texture. transfer athen-innsbruck englischsprachige Graffitis aus Athen mit Innsbrucker Stadtansichten überlagerte. Während die Arbeiten Prantauers sich inhaltlich vor allem mit der Finanzkrise in Griechenland beschäftigen, prangert Franz Wassermann in seiner Performance Pro Libertate Anarchia/Lass mich weinen vor allem das Konsumverhalten unserer Gesellschaft an, indem er 50 Fahnen mit den Namen großer Konzerne in nationalsozialistischer Ästhetik durch die Straßen Innsbrucks ziehen ließ. Das Thema der NS-Zeit greift Wassermann auch in seiner zweiten ausgestellten Arbeit It was a T-Bone Steak auf, indem er die Misshandlung von Homosexuellen während des National­ sozialismus thematisiert.

Abb.1: re:act - Kunst als gesellschaftskritisches Medium, 2017, stylconception openspace, Ansicht 1

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Kuratorinnen der Ausstellung: Lena Ganahl und Denise Pöttgen.

Einleitung I

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Das Aufgreifen der diktatorischen Regime von damals stand in der Ausstellung der Leuchtschrift Never kill my torturer. Lass mir meinen Peiniger von Barbara Huber gegenüber. Sie verarbeitet darin das Dilemma zwischen dem Wunsch nach Integration, die uns in eine Abhängigkeit bringt und dem Streben nach der Befreiung von denen, die uns in ebendiese zwingen. In ihrer zweiten Arbeit Presumed Consent. Vorweggenommene Zustimmung kommt Barbara Huber auf die Ausbeutung der Kreativität des Menschen und die daraus resultierende Erschöpfung zu sprechen. In einem anderen Kontext diskutiert auch Lucas Norer die Gegensätze zwischen Freiheit und Abhängigkeit, wenn er in seiner Arbeit Oh sea, just let me cross over, für die er mit dem Theodor Körner Preis ausgezeichnet wurde, die Geschichten des Alltags, die in Form von Auswanderungsliedern skizziert werden, von nach Freiheit strebenden Flüchtenden enthüllt.

Abb.2: re:act - Kunst als gesellschaftskritisches Medium, 2017, stylconception openspace, Ansicht 2

Schließlich war es uns ein Anliegen auch die Literatur in das Ausstellungskonzept zu integrieren. Die Brücke zur künstlerisch-literarischen Auseinandersetzung schlug Ursula Groser,5 die ihre Arbeit I would prefer not to präsentierte. Besucher_innen waren angehalten, sich die grauen Visitenkarten mit dem Aufdruck „I would prefer not to“ mitzunehmen und die Arbeit dadurch selbst aktiv zu verändern. Sie bezieht sich darin auf die Erzählung Bartleby the Scrivener von Herman Melville, dessen Hauptfigur Bartleby in einer Anwaltskanzlei Verträge kopiert. Mit der Aussage „Ich 5

Zu sehen ist die Arbeit in Abb.1 und Abb.2.

Herausgeberinnen

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möchte lieber nicht“ beginnt die Arbeitsverweigerung von Bartleby, der in Folge sein Büro nicht mehr verlässt. Die in ihrem Verhalten passive, literarische Figur beeinflusste auch Philosophen wie Gilles Deleuze6 und Giorgio Agamben7, deren Studien das freie Handeln des Menschen unter gesellschaftlichen Zwängen untersuchten. Bartleby wird letztendlich aufgrund seiner Haltung in das Gefängnis überstellt und stirbt am Ende an seiner Lebensverweigerung. Literarisch arbeiteten auch die Philosophie-Studierenden, die an unserer Ausschreibung teilnahmen. Beispielhaft dafür wird in diesem Band das Werk Das perfekte Kunstwerk von Dajana Mehadzic gezeigt, dessen Inhalt durch eine grafisch-künstlerische Gestaltung zusätzlich betont wurde. So unterschiedlich die gezeigten Arbeiten in ihren Konzeptionen und Umsetzungen auch sind, so gut haben sie in der Ausstellung miteinander kommuniziert und zusammengespielt und ergaben so einen kritischen Ort der Kunst. Ein Ort, an dem Kritisieren und Freidenken ausdrücklich erwünscht waren. Ein Ort, an dem zum Denken angeregt wurde.

BIBLIOGRAFIE Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz. Gefolgt von: Die absolute Immanenz, Leipzig: Merve 1998. Deleuze, Gilles: Bartleby oder Die Formel, Leipzig: Merve 1994. Partsch, Susanne: Wer hat Angst vor Rot, Blau, Gelb?. Die moderne Kunst erklärt von Susanna Partsch, München: C.H. Beck 2012.

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Vgl. G. Deleuze: Bartleby oder Die Formel. Vgl. G.Agamben, Bartleby oder die Kontingenz.

PRESUMED CONSENT – ÜBERLEBENSSTRATEGIEN IN EINEM H ­ OCHINTEGRATIVEN SYSTEM Barbara Huber

Never kill my torturer – ein leuchtender Neonschriftzug, der sich auf den ersten Blick fast unmerklich einreiht in die Sprache kollektiv kapitalistischer Begehrensproduktion und zugleich klingt wie ein leises und doch aggressives Flehen lass mir meinen Peiniger – verweist auf ein zutiefst inneres Geschehen, ein Festhalten an zerstöre­rischen Abhängigkeiten, die einen vergessen lassen, wonach man sich wirklich sehnte. Hat man sich selbst erst konsequent abgespalten, wird man zum Spielball und verlässlichen, gewinnbringenden Funktionsgehilfen perfider Machtmechanismen, die uns als „selbstgewählt“ erfahren lassen, was uns – unserer Sehnsucht nach Zugehörigkeit folgend – bis zur Erschöpfung und in die Selbstzerstörung treibt: presumed consent – vorweggenommene Zustimmung. Ein Begriff, der aus dem Bereich der Organtransplantation kommt und zur Metapher dafür wird, wie man uns ungefragt und selbstverständlich an Herz und Nieren gehen darf. Ein in sich zusammengesunkener Stuhl, vormals vielleicht Insignie von identitätssichernder Macht und Sicherheit, verkörpert hier, was sich in den mörderischen Wertschöpfungsmechanismen nicht mehr verwerten lässt (sieht man von boomenden und zutiefst gewinnträchtigen Burn-Out-Kliniken ab): Auf einen Rest Lebendigkeit gerichtet, der sich nur mehr über ein leises Atmen bemerkbar macht, kommt man auf sich zurück, konfrontiert mit den mahnenden Blicken des abgetöteten Dachses, der uns früher Heiler war.

Abb.1: Barbara Huber, Presumed consent – vorweggenommene Zustimmung, 2013, Drahtskulptur Tisch mit Spiegel und Atemskulptur aus Menschenhaar, Dachsschädel auf Nirostab, Holzpodest, 110 x 180 x 90 cm

Abb.2: Barbara Huber, Never kill my torturer. Lass mir meinen Peiniger, 2013, Neonschriftzug auf Plexiglasplatte, 30 x 160 cm

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Barbara Huber

Verbindende Grundlage dieser beiden Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, in der sich gesellschaftliche Teilhabe, Zugehörigkeit und Sichtbarkeit ausschließlich über wirtschaftliche Verwertbarkeit und monetäre Integrität definieren. Unter dem Tenor von Reizwörtern wie Flexibilität und Selbsterfindung, Deregulierung und Entsubstanzialisierung, Fragmentarisierung und Wettbewerbsfähigkeit scheint sich die unmittelbar erfahrbare Realität zugunsten einer Unzahl voneinander getrennter Welten aufgelöst zu haben. Welten, die wie Spiele nach bestimmten Regeln funktionieren und – vermeintlich – beliebig betreten und verlassen werden können, alles scheint potentiell reversibel zu sein und auf nichts zu verweisen außer auf sich selbst in diesem Augenblick. Nicht mehr Gesetze, die zu überschreiten noch Sinn machen könnte, strukturieren unsere Wirklichkeiten, sondern Spielregeln, die wir als die unseren aufnehmen und – bis zur Selbstzerstörung – mit jeder unserer Bewegungen modifizieren, um im Spiel um Wissen und Macht zu bleiben und unser Recht auf Existenz zu sichern. Die Regeln eines Spiels zu hinterfragen oder gar zu übertreten, bedeutet ein neues Spiel zu konstruieren, aus einem Spiel auszusteigen, bedeutet ein anderes aufzunehmen – ist doch auch die Verweigerung nur Teil des Spiels und längst eingeplant. Antrieb und unter verführerisch schillernden Oberflächen und Trug­bildern getarntes Ziel dieser hochintegrativen Mechanismen ist das zwanghafte Bestreben, sich jeder Lebendigkeit zu bemächtigen, jede Unvorhersehbarkeit und damit jede Fremdheit zu eliminieren. Entsprechend menschenverachtend sind die grundlegenden identitätsstiftenden Prinzipien gesellschaftlicher Zugehörigkeit: Wer oder was mitgedacht wird, wer „mitspielen“ darf, misst sich an seinem ökonomischen Potential der Verwertbarkeit und Effizienzsteigerung, der Mensch gerät zur Kapital- und Ressourcenquelle – oder eben zur Zielscheibe. Subtil an verborgene Sehnsüchte appellierend, überhöht man dabei lautstark das „autonome“ Subjekt, das sich (permanent neu) selbst erschafft und sich erfolgsorientiert selbst überwindet. Autorität behauptet sich, indem sie ihre Befehle als Verlockungen tarnt, denen aus freien Stücken gefolgt werden kann.1 Auf der Ebene des Individuums erfordert dies einen radikalen Prozess der inneren Entfremdung, der uns bereits von Geburt an im Sinne unserer polymorphen Informationsgesellschaft „in Form“ bringt. Was immer an unsere Verletzlichkeit – vielleicht „die einzig unbestreitbare Gewissheit […], über die wir überhaupt verfügen“2 – rührt, was immer uns mit unserer innersten Stimme in Kontakt bringen könnte, muss abgespalten werden, damit wir einem Außen gerecht werden können, das Teilhabe verspricht. So erfahren wir es als „selbstgewählt“, wenn wir uns unterwerfen, um teilzuhaben an der Macht, die unterwirft.3 Zugehörig und Subjekt geworden (lat. subiectus „unterwerfen“) – halten wir fest an Abhängigkeiten und Zwängen, die uns jeder Lebendigkeit berauben und hoffen sehnsüchtig gerade von jenen befreit zu werden, die wir mit unserer Selbstverachtung nähren: Never kill my torturer. Sie gilt es zu entlarven, die inneren Peiniger, an denen wir beharrlich festhalten, die wir im

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Vgl. Z. Bauman: Tod und Unsterblichkeit, S. 292f. C. Braun: Kollektives Gedächtnis, S. 17. Vgl. insbes. A. Gruen: Wider den Gehorsam, S. 20f.

Presumed consent

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Außen suchen und bekämpfen und die uns im Inneren nur vermeintliche Sicherheit geben. Bereitwillig opfern wir unsere Freiheit, aus Angst, uns dieser zu stellen. Wer an der vernichtenden Lebensaufgabe, jedes Wissen um unser preisgegebenes Selbst radikal abzuspalten, zugrunde zu gehen droht und sich plötzlich nicht mehr in der Lage sieht, der vorweggenommenen Zustimmung Folge zu leisten, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Wie der Dachs, der in der Mythologie aufgrund seines Mutes und seiner Hartnäckigkeit den inneren Heiler verkörpert, ist man dann gezwungen – und vielleicht endlich ermächtigt – sich im Dunkel seiner Höhle dem Schmerz über den Selbstverrat zu stellen, der uns veranlasst hat, uns selbst zu verachten und damit die Welt um uns, die uns hartnäckig daran erinnert, was wir uns angetan haben. Wem es jetzt gelingt, sich in seinem Innersten selbst zuzustimmen, dem offenbart sich in leisen Atembewegungen die Lebendigkeit dessen, was für immer verloren geglaubt schien.

BIBLIOGRAFIE Bauman, Zygmunt: Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt am Main: Fischer 1994. Braun, Christina von: Kollektives Gedächtnis und individuelle Erinnerung. Selbst- und Fremdbilder unter der Einwirkung von Photographie und Film, Unveröffentlichtes Manuskript 1993. Gruen, Arno: Wider den Gehorsam, Stuttgart: Klett-Cotta 2014.

SELBSTBILD UND FREMDBILD: VON DER KUNST ALS SPIEGEL DER GESELLSCHAFT UND IHRER BEWERTUNG DURCH DIE ­ÖFFENTLICHKEIT Dajana Mehadzic

Auch wenn Das perfekte Kunstwerk von einem Künstler handelt, der in einer Nacht auf eine ihm nicht erklärliche Weise ein vollkommenes Artefakt kreiert, ist aus diesem leider keine Anleitung zu entnehmen, wie man als Leser_in Ähnliches vollbringen könnte. Allerdings kann ich zumindest Aufschluss über jene Gedanken geben, die mich dazu verleiteten, dieses Werk zu verfassen. Den Kern des Märchens stellt das Verhältnis zwischen Künstler und Kunstwerk dar. Dabei war für mich vor allem interessant, was sich zwischen der Verbindung von Schöpfer und Schöpfung verändert, wenn die Bewertung des Kunstwerks von Außen hinzukommt. In meiner Erzählung stellt dieses Moment den Wendepunkt in der Beziehung zwischen Künstler und Kunstwerk dar. Dabei ging ich von folgender (fiktiver) Leitfrage aus: Ist es möglich, dass eine Kreation, die noch während sie in dem geschützten Raum der Werkstatt vollendet wurde, von ihrem Schöpfer als Meister­ werk empfunden und durch das Verkennen des Publikums für den Künstler selbst unsichtbar wird? In Der Ursprung des Kunstwerkes erläutert Martin Heidegger, dass es eine gleichwertige Abhängigkeit zwischen Kunstwerk und Künstler gibt, aus der hervorgeht, dass sich beide im gleichen Maße bedingen, um ihrem Wesen entsprechen zu können.1 Dabei ist die Kunst an sich die Basis jener Verschmelzung.2 Kunst kann nach Heidegger also erst dann entstehen, wenn sowohl der Künstler, als auch das Kunstwerk im gleichen Maße Schöpfer und Schöpfung füreinander sind. Allerdings denke ich, dass in dieser Trias noch ein vierter Terminus eine wesentliche und konstitutive Rolle spielt: die Gesellschaft. Denn sie ist es, die abseits des individuellen Geschmack-Empfindens die dominante Interpretation eines Werks definiert. Erst das Publikum bestimmt, wie ein Kunstwerk gelesen wird. Es ist das Staunen, die Inspiration und die Ästhetik, die wir verspüren, wenn wir Kunst wahrnehmen. Diese Elemente sind es, die, wie bereits Schopenhauer versuchte zu erläutern, den Willen des Menschen zum Schweigen bringen und dadurch einen inneren Frieden erzeugen.3 Gleichzeitig ist es aber auch der Wille, der viele antreibt, sich der Kunst hinzugeben. Auch der Künstler im Märchen entschied sich für diesen Weg. Um hervorzuheben, dass nicht immer das Streben nach Anerkennung 1 2 3

Vgl. M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 2. Vgl. ebd. Vgl. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 289–290.

Abb.: Dajana Mehadzic, Das perfekte Kunstwerk, 2017, Druck auf Papier, 29,7 x 42 cm

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Dajana Mehadzic

eine Motivation für Kunstschaffende sein muss, ist der Künstler im Werk ein Idealist, der sich als Diener der Kunst versteht. So ist es nicht das Lob und der gute Zuspruch, die den Schaffenden dazu bewegen, seine Schöpfung der Welt zu zeigen, sondern vielmehr der Stolz, den er gegenüber seiner Kreation verspürt. Da das Kunstwerk jene Kriterien erfüllt, die seinen Ansprüchen für „gute Kunst“ gerecht werden, möchte er es nach der Fertigstellung mit seinen Mitmenschen teilen. Doch als die Gesellschaft jene Qualitäten nicht zu erkennen vermag, verändert sich auch die Sicht des Künstlers auf sein Kunstwerk. Genau an dieser Stelle der Erzählung kristallisiert sich die Reziprozität zwischen Kunst und Gesellschaft heraus. Denn trotz der Tatsache, dass der Künstler nicht der Gesellschaft wegen Kunst betreibt, ist er betroffen, als seine Kreation von dem Publikum nicht als Kunst wahrgenommen wird. Er beginnt nicht nur das Kunstwerk zu hinterfragen, sondern gleichzeitig auch sich selbst, sein Verständnis für die Kunst und weshalb sie in seinen Mitmenschen etwas anderes auslöst als in ihm. Diese Skepsis gegenüber dem Artefakt geht so weit, dass er sogar vergisst, es jemals geschaffen zu haben. Wie genau ist diese Szene zu verstehen? Sie zeigt, wie sehr die Gesellschaft den Begriff der Kunst für jedes einzelne Individuum prägt. Denn auch, wenn der Künstler aus der Erzählung etwas kritischer mit der Reaktion des Publikums umgegangen wäre, hätte er es nicht vermeiden können, sein Verständnis für Kunst und somit auch sein eigenes Kunstwerk zumindest für einen Moment in Frage zu stellen. Ist die Kunst also der Gesellschaft völlig ausgeliefert? Auch wenn die Gesellschaft im Märchen die Perfektion des Kunstwerks verkennt, bedeutet das nicht, dass in der Wechselwirkung von Gesellschaft und Kunst nur die Gesellschaft in der Lage ist, Kritik zu üben. Im gleichen Ausmaß gibt es wohl kein Medium, das sich besser für gesellschaftskritische Inhalte eignet als die Kunst selbst, denn sie stellt den Spiegel dar, in dem die Gesellschaft ihr Abbild sucht. Somit sind Kunstwerk und Gesellschaft im gleichen Maße Kritiker als auch Kritisierte. Das Ende dieses Märchens ist deshalb auch als eine Art Appell zu lesen, der an jene Künstler_innen gerichtet ist, die vergessen haben, dass auch die Kunst die Fähigkeit besitzt, die Gesellschaft zu hinterfragen; in diesem Sinne ist sie sehr wohl fähig, sich selbst zu ermächtigen und ihr knechtisches Bewusstsein inklusive der Forderungen der Gesellschaft an sie zu untergraben. Letzten Endes ist es also nicht die positive oder negative Bewertung der Gesellschaft, die definiert, was mit dem Prädikat „Kunst“ versehen werden sollte. Umgekehrt besitzt eben auch die Kunst die Qualitäten eines gesellschaftskritischen Mediums. Demnach bedingen sich Kunst und Gesellschaft in einem kritischen Sinne im selben Maße, wie es in Heideggers Definition das Kunstwerk und der Künstler tun. Da diese Bedingtheit dieselbe Relevanz für mich hat wie jene zwischen dem Schaffenden und dem Geschaffenen, entstand das Märchen vom perfekten Kunstwerk.

BIBLIOGRAFIE Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt am Main: Klostermann 2012. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 2, Altenmünster: Jazzybee Verlag Jürgen Beck 2015.

OH SEA, JUST LET ME CROSS OVER: MUSIKALISCHE SPUREN ­ZWISCHEN FLUCHT UND MIGRATION Lucas Norer

Als Teil meiner Recherche zu Oh sea, just let me cross over, einer mehrteiligen Kunst­ installation aus dem Jahr 2016, begann ich sowohl historische, als auch zeit­genössische Lieder zu sammeln, die sich auf die Erfahrung von Auswanderung beziehen. Ausgangspunkt für diese Beschäftigung waren die Fluchtbewegungen, das Versagen vieler europäischer Länder und die daraus resultierenden Katastrophen im Mittelmeerraum in den 2010er-Jahren. Als Künstler, dessen inhaltlicher Fokus auf Klang und auditiven Inhalten liegt, war es für mich naheliegend, nach musikalischen Spuren der Emigration zu suchen. Zentrales Anliegen war es, herauszufinden, wie sich Emigration in Form von Liedern darstellt und welche Inhalte damals und heute diskutiert werden. Die Musiktitel eröffnen einen Einblick in das Leben der Emigrant_innen abseits von medialen bzw. politischen Zuschreibungen, die Flüchtlinge entweder als Opfer oder als Objekte in einem Strom (wie die Wortschöpfung des Flüchtlingsstroms nahelegt) darstellen. Im Gegensatz zu dem in den Medien transportierten Bild konzentriert sich meine Installation auf ein selbstermächtigendes Momentum von Flüchtenden und Emigrant_innen. Oh sea, just let me cross over gewährt Einblicke in die Geschichte und Gegenwart der Migration, Navigation, Reisen legaler und illegaler Art und die vielfältigen Transformationen von Klängen und Musik in Verbindung mit Flucht­ bewegungen in Europa. Im Rahmen dieses Textes werde ich auf die Umsetzung und Überlegungen zu meiner künstlerischen Arbeit eingehen und Ergebnisse meiner Recherche zu historischen bzw. aktuellen Auswanderungsliedern präsentieren.

OH SEA, JUST LET ME CROSS OVER Im Rahmen der Arbeit Oh sea, just let me cross over sind Textpassagen von aktuellen Auswanderungsliedern von vornehmlich nordafrikanischen Musiker_innen zu sehen, die einen ungefilterten Einblick in das Geschehen im Mittelmeer geben. Die Lieder thematisieren die Beweggründe sowie Gefahren der Flucht und die Ängste, ein neues Leben zu beginnen. Ergänzend dazu ist eine digitale Zeichnung ausgestellt, die das Mittelmeer als Ort der Navigation definiert und damit im Gegensatz zum Status quo für einen Ort der Grenzen und Abschiebungen steht. Format und Design der beiden Arbeiten sind an eine faltbare Karte angelehnt. Ein Moment, in dem die Emigrant_innen den Zurückweisungen, und einer entmenschlichten Politik im wahrsten Sinne des Wortes entgegentraten, fand im September 2015 statt. In Budapest unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehaltenen

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Lucas Norer

Flüchtlingen blieb schließlich nichts anderes übrig als ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich zu Fuß Richtung Österreich aufzumachen. Im Zuge dessen marschierten damals einige tausend Menschen über 40 Kilometer auf der Autobahn bis nach Bicske (ebenfalls in Ungarn). Ein Autobahnschild dieses Ortes vervollständigt die Installation und würdigt die Selbstermächtigung der Emigrant_innen in einer erniedrigenden Situation.

Abb.1: Lucas Norer, Oh sea, just let me cross over, 2016, Inkjet Druck auf Büttenpapier, zweiteilig, je 70 x 100 cm, ­Aluminiumtafel scotchlite Folie, 100 x 150 cm, Aluminiumrohre und Bodenhalterung

LIEDER DER EMIGRATION Im Rahmen meiner Recherchen untersuchte ich sowohl historische Beispiele für Auswanderungslieder als auch aktuelle musikalische Beispiele. Zunächst gebe ich eine kurze Einführung in die Geschichte und das Genre von Emigrant_innenliedern mit dem Schwerpunkt auf die europäische Emigrationsgeschichte. In einem zweiten Schritt werde ich einige Beispiele von aktuellen Musiktiteln mit dem Fokus auf Nordafrika vorstellen.

Oh sea, just let me cross over

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Mit der Kolonisierung des amerikanischen Kontinents und dem Beginn der europäischen Emigration während des Dreißigjährigen Krieges sind die ältesten nachvollziehbaren Beispiele für Auswanderungslieder datierbar. Diese frühen Beispiele sind durch einen starken religiösen Kontext und dem Wunsch nach göttlichem Beistand für die Emigrant_innen gekennzeichnet. Gut hundert Jahre später erscheinen schließlich die ersten Lieder, welche sich auf weltliche Weise mit dem Leben und den Zielen von Emigrant_innen beschäftigten. „The songs the emigrants sang as they left and were carried on the way to the new country were the voice of the people [...], firsthand accounts from the emigrants point of view. Certainly, the emigration ballads reveal the diverse and mixed motives about leaving.“1 In diesen Liedern werden Themen wie die unterschiedlichen politischen, sozialen und religiösen Ursachen, die sie zur Emigration zwangen (z.B. die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung) bzw. die Gefahren der Reise, wie die gefährliche Überquerung des Atlantiks, diskutiert. Weitere Themenbereiche sind etwa die Herausforderung, ein neues Leben zu beginnen, aber auch die Unsicherheiten und das Abenteuer der Reise.

HARRAGA Zahlreiche kürzlich veröffentlichte Lieder, meist nordafrikanischer Musiker_innen, die über die riskante Flucht im Mittelmeer berichten, können als eine aktualisierte Version der historischen Emigrant_innenlieder verstanden werden. Die Musiker_innen stammen hauptsächlich aus Marokko, Tunesien, Libyen. Ihre musikalischen Stile variieren von Rap über traditionelle nordafrikanische Musik bis zu arabisch beeinflusstem Pop. Die Texte werden entweder in arabischer oder französischer Sprache vorgetragen. Was diese als „Harraga-Musik“ bezeichneten Lieder vereint, ist ein ungefilterter Eindruck und Einblick in das Leben der Flüchtlinge. Der aus dem Maghreb stammende Begriff „harraga“ bedeutet „etwas verbrennen“ und bezieht sich auf den Akt des Verbrennens offizieller Dokumente, um sich von jeglicher Identifikation zu befreien und zu einem „Illegalen“ zu werden. Als „Illegale“ warten die oft auch als „Harragas“ Bezeichneten auf eine Gelegenheit zur Flucht und versuchen die riskante Überfahrt nach Europa. Die Songs, die sie mitbringen, sind ihr Soundtrack: Sie hören sie im Radio, summen die Melodien auf dem Boot während der Überfahrt und spielen sie als Klingeltöne auf ihren Smartphones ab. Diese Lieder erzählen vom Leben an der Grenze, dem Abenteuer der Überquerung, der Herausforderung und dem Mut, ein neues Leben zu beginnen. Die Texte zeigen die gemischten Motive und die hoffnungslose Situation vieler Flüchtlinge, aber auch die Risiken und Gefahren der Flucht. Anhand einiger Beispiele möchte ich zeigen, wie diese Themen in den Songs diskutiert werden. Die Gefahr der Mittelmeerüberquerung wird z.B. folgendermaßen thematisiert: „They’ve gone where the wave decided they would go, where death is

1

V. Greene: A Singing Ambivalence, S. 22.

Abb.2: Lucas Norer, Oh sea, just let me cross over (Detailansicht), 2017

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Lucas Norer

present“2 oder „we saw the death between our eyes, water had entered the boat we threw it out using the bins, the GPS had shut off, the mobile phone had shut off“3. Das Boot als das wichtigste Transportmittel, um nach Europa zu gelangen, wird oft als „my destiny“4 oder „my love“5 umschrieben. Die vielfältigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die zur Flucht führen, werden wie folgt besprochen: „We left harraga, exhausted from disgrace and exhausted from misery, exhausted from contempt, from disgrace and from unemployment“6 oder „in my country I feel humiliated I’m tired and I’m fed up“7. Die Hoffnungslosigkeit und der daraus resultierende Grund zu flüchten ist ein weiteres allgegenwärtiges Thema: „We are desperate, people like me have already decided“8. Erwartungen wie „In my country I will not return, because my rights begin over there and over there I will start a new life“9 werden ebenfalls besprochen. Ein weiteres Thema ist die Angst vor einem neuen Leben in Europa: „And if you manage to cross, what will you be able to do? Abroad it is very hard, you must be very careful [...] if you arrive, what will you get?“10 Die Schilderungen und manche Standpunkte der Lieder sind vielleicht nicht objektiv und die geäußerten Meinungen müssen von Zeit zu Zeit in Frage gestellt werden, aber relevant an den Liedern ist, dass sie keine Sicht auf etwas oder jemanden bieten, sondern eine Sicht von jemandem.

FAZIT Der Vergleich von europäischen Emigrant_innenliedern vergangener Jahrhunderte mit zeitgenössischen Emigrant_innenliedern aus Nordafrika zeigt auffallende Überschneidungen in den besprochenen Themen. Diese Analogie macht deutlich, dass Europa sowohl durch Auswanderung als auch Einwanderung geprägt ist und zusätzlich durch die eigene koloniale Vergangenheit an den Gründen für Migration mit Schuld trägt. Bevor wir die Emigrant_innen wegen ihrer Flucht nach Europa beschuldigen, sollten wir zunächst auf unsere eigene Emigrationsgeschichte zurückblicken. Dieser Blick zurück sollte uns helfen zu erkennen, dass die Motive und Hoffnungen der Migrant_innen heute, die oft als nicht dringlich genug diskreditiert werden, mit der europäischen Emigration und somit unserer eigenen Geschichte nahezu deckungsgleich sind.

Vgl. das Lied Mchaou von Balti & Samir Loussif; https://www.youtube.com/watch?v=0tj0tAI97a8 vom 16.02.2011. 3 Vgl. das Lied Harraga von Azzedine Nebil 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. das Lied Partir Loin von Reda Taliani; https://www.youtube.com/watch?v=DLMkUr_GIIc vom 24.10.2009. 6 Vgl. das Lied Ah ya lebhar von Lotfi; https://www.youtube.com/watch?v=4nnfoVs41dE vom 20.08.2010. 7 Vgl. das Lied Partir Loin von Reda Taliani. 8 Vgl. das Lied Ah ya lebhar von Lofti. 9 Vgl. das Lied Mzeyra von Bramfori. 10 Vgl. ebd. 2

Oh sea, just let me cross over

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BIBLIOGRAFIE Greene, Victor R.: A Singing Ambivalence: American Immigrants Between Old World and New, Kent: The Kent State University Press 2004.

URBAN TEXTURE: GRIECHISCHE GRAFFITIS ALS INTERNATIONALE AGORA Christine S. Prantauer

Die Serie urban texture. transfer athen-innsbruck steht in Zusammenhang mit meinen Recherchen zur sozioökonomischen Entwicklung in Griechenland (2010) als Beispiel neoliberaler Politik und dem Widerstand dagegen. Die Arbeit urban texture. transfer athen-innsbruck 1 ist Teil von vier Digitalmontagen, die Ansichten von Innsbruck zeigen, in welche Athener Graffitis mit politischem Inhalt aus den letzten Jahren montiert sind. Losgelöst von den örtlichen Mauern und Wänden in Athen stellen die Aufrufe und Slogans eine andere Art des öffentlichen Protestes gegen die Auswirkungen der von der EU im Zusammenhang mit dem Euro-Rettungsschirm verordneten Sparmaßnahmen – Sozialabbau, Privatisierung, Kürzung der Löhne und Pensionen – dar. Urban texture. transfer athen-innsbruck 1 zeigt einen Ausschnitt eines winterlichen Innsbrucks; dekonstruiert, neu zusammengesetzt und abseits von touristischen Wiedererkennungsmerkmalen sowie städtischem Alltag. Die Herkunft des Athener Graffitis cut the dept, das einen Schuldenerlass fordert und in der Originaltypografie über dem grünen Inn steht, erschließt sich durch den Titel der Arbeit. Alle in dieser Serie verwendeten Graffitis (stop austerity, rise and resist, it’s not crisis, it’s capitalism) richten sich in englischer Sprache nicht nur an die griechische Bevölkerung; die Forderung wendet sich auch und gerade an die EU-Bürger_innen, ihre Regierungen und damit ebenfalls an uns. Ein Zitat des griechischen Architekten Manuel Gogos verdeutlicht, worauf der Transfer der Graffitis außerdem verweist: „Ich sehe Griechenland als eine Art Frontstaat unseres Finanzsystems. Was wir heute in Griechenland erleben, wird bald auch anderswo sichtbar werden.“1 Die bei urban texture. transfer athen-innsbruck 1 eingesetzte digitale Montage ist ein für meine Arbeit typisches künstlerisches Verfahren, um gesellschaftspolitische Fragen zu thematisieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Montage zur bestimmenden Technik in Literatur, Film, Musik und Bildender Kunst. Die Montage bricht mit einem Kunstverständnis, das das Kunstwerk als etwas Ganzes, Einheitliches sieht. Das große Ganze zerbricht. Einzelteile, Fragmente, weit Hergeholtes und Widersprüchliches bestimmen die Montage. Dem Herkunftskontext entrissen, in eine andere Umgebung versetzt, bekommen die griechischen Graffitis neue Brisanz.

1

B. Bürger: Griechenland als Frontstaat unseres Finanzsystems.

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Christine S. Prantauer

Abb.1: Christine S. Prantauer, urban texture transfer athen-innsbruck 1, 2016/17, Collage, 130 x 110 cm

Urban texture

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Abb.2: Christine S. Prantauer, urban texture transfer athen-innsbruck 4, 2016/17, Collage, 130 x 110 cm

BIBLIOGRAFIE Bürger, Britta: Ich sehe Griechenland als Frontstaat unseres Finanzsystems; http://www. deutschlandfunk.de/von-athen-lernen-documenta-14-ich-sehe-griechenland-als.1184. de.html?dram:article_id=383154 vom 17.04.2017.

MEINE FORMELLE ENTSCHULDIGUNG: URBANE KUNST IM ­SPANNUNGSFELD VON (SOZIALER) ÖFFENTLICHKEIT UND ­PRIVATSPHÄRE Crazy Mister Sketch

Urbane Kunst können alle machen. Es wird kein Titel, keine Ausbildung, kein besonderer Status benötigt. Und urbane Kunst wird gesehen, egal ob gut oder schlecht, egal ob der_die Künstler_in bereits bekannt und etabliert ist oder eben nur aus Abenteuer­ lust zum ersten Mal zur Sprühdose greift. Beim Kunstschaffen auf öffentlichen Plätzen entsteht das Publikum von selbst. Man fragt nicht nach Erlaubnis und denkt nicht nach über die mögliche Vermarktbarkeit des Werks. Man ist unabhängig von Galerien. Viele limitierende Faktoren fallen weg. Demnach müsste urbane Kunst das ideale Medium sein, um sich gesellschaftskritisch auszudrücken, oder? Ja, mag sein. Trotzdem sehe ich mich selbst nicht als gesellschaftskritischen Künstler. Klar, ich habe mich hier und da in meinen Werken gesellschaftskritisch geäußert, jedoch nicht oft genug, dass ich mich selbst ernsthaft als Aktivisten bezeichnen könnte. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass ich meine Reichweite nicht optimal nutze. Dass ich lauter werden sollte. Dass ich provokanter und kritischer werden sollte. Schließlich muss man das doch als Künstler_in, oder? Doch nicht zuletzt durch meine zahlreichen Reisen habe ich realisiert, dass es gute Gründe gibt, warum ich es nicht bin. Allen voran die Tatsache, dass mein Wohnort nicht der ideale Ort für Sozialkritik ist. Nicht weil ich Bedenken habe, es würde hier nicht gut ankommen, sondern einfach nur, weil er zu wei weg ist. Zu weit weg von den meisten Konflikten, Kriegen und Problemen, von denen wir meistens nur in den Nachrichten hören. Ich fühle mich nicht qualifiziert über viele Dinge zu sprechen. Schließlich habe ich sie nie aus nächster Nähe gesehen. Wie sollte ich auch? Ich bin ein Künstler am Anfang meiner Zwanziger mit einem sehr limitierten Budget und lebe in einem Land, dem es in jeder Hinsicht relativ gut geht. Fast schon zu gut, um Aktivist_innen zu brauchen. So war es jedenfalls bis vor Kurzem. Doch natürlich brauche ich nicht zu erwähnen, dass auch hier, in dieser scheinbaren Idylle, nicht immer alles so ist, wie es sein könnte. Möglicherweise bin auch nur ich es, der gewisse Tendenzen erst jetzt wahrnimmt, doch ich merke, wie etwa Skepsis gegenüber anderen Kulturen und Ländern weltweit wieder zu einem größeren Problem wird. Auch in meiner Umgebung. Doch diese Skepsis zeigt sich nicht nur im Zusammenhang mit Diskriminierung. War es beispielsweise nicht auch dieses Misstrauen, das uns in den Augen der Regierung alle zu Verdächtigen machte? Oder gar zu Zielen? Denken wir kurz darüber nach. Für gewisse Statistiken sind wir nicht mehr als potentielle Schwerverbrecher_innen. Und

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Crazy Mister Sketch

als solche müssen wir überwacht werden. Am besten rund um die Uhr. Dies ist in der heutigen Zeit, einer Zeit, in der wir eine Vielzahl von persönlichen Informationen auf vermeintlich privaten Profilen in sozialen Netzwerken preisgeben, einfacher als je zuvor. Trotzdem kann auch ich, wie viele Andere auch, nicht einfach die Finger vom Internet lassen. Schließlich ist Präsenz in sozialen Medien auch in der urbanen Kunst mittlerweile essentiell. Also was tun? Schließlich habe ich ja auch etwas zu verbergen, oder? So kommt oft beim Versuch, mit Vorsicht zu posten und zu schreiben, die Frage auf, ob es nicht sowieso schon zu spät dafür ist. Ob ich überhaupt noch etwas zu verbergen habe, oder ob bereits alles bekannt ist. Meine hochgeladenen Werke sind vielleicht längst auf großen Festplatten gespeichert und meine versendeten Nachrichten für Werbezwecke missbraucht worden. Erfahren werde ich es wohl nie. Was bleibt, ist das unangenehme Gefühl, das mich manchmal überrascht, wenn etwa ein Text, den ich via soziales Netzwerk an eine Freundin schicke, etwas zu persönlich wird.

Abb.: Crazy Mister Sketch, The Observer, 2017, Sprühfarbe auf Leinwand, ca. 600 x 400 cm

Genau dieses unangenehme Gefühl verarbeite ich in meinem Werk The Observer. Es wird durch Augen repräsentiert, die durch Öffnungen in unserer digitalen Privat­ sphäre starren. Uns ist bewusst, dass diese Öffnungen existieren und trotzdem verlieren sie an Relevanz. Zu wichtig ist das Internet in unserer Zeit. Wer es nicht nutzt, fällt

Meine formelle Entschuldigung

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zurück. Deshalb war mir auch die Überlebensgröße des Bildes wichtig. Sie erzeugt ein Gefühl von Machtlosigkeit. Diesem System zu entkommen würde bedeuten, sich zumindest teilweise von der Gesellschaft zu entkoppeln. Das steht für die meisten von uns außer Frage. Die Alternative ist sich eben abzufinden mit den Augen und den Öffnungen. Können wir also das Internet ändern? Ich will ehrlich sein. Nein. Aber wir können klein anfangen. Klein und an der Wurzel des Problems, der Skepsis. Dass diese in vielen Fällen völlig angebracht ist, steht natürlich außer Frage. Doch sie sollte nicht immer und überall präsent sein. Zum Beispiel können wir versuchen, offen zu sein gegenüber anderen Kulturen. Am Schluss meines Textes bleibt noch folgende Frage: Ist dieses Werk als meine formelle Entschuldigung für mangelnde Sozialkritik in meiner früheren Arbeit zu sehen? Nein. Ich werde weiterhin arbeiten, wie ich bisher gearbeitet habe. Impulsiv und oft spontan. Sollte ich etwas zu sagen haben, werde ich es weiterhin sagen.

KUNST VS. POLITIK? ZU GLAUBEN, KUNST SEI UNPOLITISCH, IST EIN TRUGSCHLUSS Franz Wassermann und Esther Strauß

Die Künstlerin Esther Strauß spricht mit Franz Wassermann über die Performance Pro Libertate Anarchia / Lass’ mich weinen, die der Bildhauer am 31. Mai 2017 in Innsbruck realisiert hat. Esther Strauß: Am 31. Oktober 2015 bist du mit 50 Fahnenträger_innen am Wiener Heldenplatz einmarschiert. Eineinhalb Jahre später hast du die Performance für Innsbruck neu konzipiert. In Wien schritt der Fahnenzug den Heldenplatz sieben Mal ab, in Innsbruck durchschnitt die Route die Innenstadt in Form eines Unendlichzeichens. Wie kam es zu diesen formalen Unterschieden? Franz Wassermann: Beide Performances sind Teil der Serie ANARCHIE, wurden aber in direkter Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort entwickelt. Am Heldenplatz konzentriert sich die gesamte Geschichte Österreichs, zum Beispiel als Monarchie und globale Macht, als Teil des nationalsozialistischen Regimes, und trifft auf die neoliberale Gegenwart. In Innsbruck umkreiste die Route zwei Machtpunkte der Stadt Innsbruck und des Landes Tirol: das Neue Rathaus als Shoppingcenter und das Neue Landhaus als Faschistenbau. Ihnen stehen wiederum zwei Schutzzeichen gegenüber: Erstens die Annasäule als religiöses Zeichen, gebaut von der Tiroler Bevölkerung nach der Befreiung von den Bayern. Zweitens das Befreiungsdenkmal als weltliches Zeichen, gestiftet von den Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg. Esther Strauß: Beide Fahnenzüge wurden von drei Trommler_innen angeführt, die in Wien und Innsbruck zwei verschiedene Stücke gespielt haben. War die Musik wichtig, um den öffentlichen Raum nicht nur zu durchqueren, sondern ihn auch einzunehmen? Franz Wassermann: Ja, das war besonders am Heldenplatz entscheidend, der ja sehr weitläufig ist. In Wien umkreiste der Fahnenzug den Heldenplatz vier Mal gegen den Uhrzeigersinn, dann drei Mal im Uhrzeigersinn. Während der ersten vier Runden spielten die Trommler_innen, die den Fahnenzug anführten, den Rhythmus der Pesttrommeln, die im Mittelalter die Bevölkerung bei Ausbruch der Krankheit warnen sollten. Nach der Drehung zum Ende der vierten Runde verwandelte sich der Rhythmus in einen Herzschlag, der die Fahnenträger_innen bis zum Auszug durch das Heldentor begleitete. In Innsbruck setzte sich der Fahnenzug mit dem Herzrhythmus in Bewegung und ging dann in den Militärmarsch The British Grenadiers über. Nach dem zweiten Drittel der Route verwandelte sich der Marsch wieder in den Herzschlag, sodass sich die Arbeit auch musikalisch gesehen zu einer Acht oder einem Unendlichzeichen schloss.

Abb.1: Franz Wassermann, Pro Libertate Anarchia, 2017, Performance

Kunst vs. Politik?

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Esther Strauß: Bei beiden Performances kamen 50 Fahnen zum Einsatz. Auf 46 von ihnen sind die Namen global agierender Unternehmen, Banken und Hedgefonds, wie Oracle, Nestlé, Louis Vuitton, Goldman Sachs, Disney und Kraft zu lesen, drei Fahnen zeigen einen leeren Kreis auf rotem Grund. Und schließlich gibt es auch eine Fahne mit deinem eigenen Namen. Wie hast du entschieden, wer auf den Fahnen präsent sein wird und wer nicht? Franz Wassermann: ANARCHIE beschäftigt sich mit Formen der Herrschaft. Am Heldenplatz hat sich die scheinbar letzte Diktatur der österreichischen Geschichte zugetragen. Aber global betrachtet leben wir längst wieder in einer Diktatur, die sich versteckt hält. Beiden Performances ist eine intensive Recherche vorangegangen, in der ich alle Global Player des Kapitalismus, die ich ausfindig machen konnte, zusam­ mengetragen habe. Aus dieser Liste wurden per Los 46 Namen ermittelt. Die drei Fahnen, deren weißer Kreis leer geblieben ist, deuten an, dass diese Liste auf verschie­ dene Weisen variiert und fortgesetzt werden könnte. Mein Name steht auf einer der Fahnen, weil wir als Individuen immer als Opfer und Täter_innen mit dem Kapital agieren; wir sind seine Kompliz_innen. Esther Strauß: In der Presse ist ja sowohl österreichweit als auch international über ANARCHIE berichtet worden; gemeinsam war den meisten Beiträgen, dass der Aspekt der Komplizenschaft ausgespart worden ist. Franz Wassermann: Das ist wohl unser Schmerzpunkt. Wir sind überzeugt, dass uns das, was wir haben, zusteht, dass wir es verdienen. Wir wollen nicht verzichten und lehnen unsere globale Verantwortung ab – das Leben anderer Menschen fällt scheinbar nicht in unsere Zuständigkeit. Esther Strauß: Beide Fahnenumzüge fanden im öffentlichen Raum statt und waren dort nur möglich, weil sie als Demonstrationen angemeldet waren. Wäre es für dich denkbar gewesen, die Performances in einer Galerie umzusetzen? Franz Wassermann: Es ist wichtig, dass wir Künstler_innen von unseren demokra­ tischen Grundrechten Gebrauch machen und sie als Werkzeuge unserer Produktion nutzen. Hätte ich die Performances in einer Galerie realisiert, wären sie für mich nur theatralische Akte gewesen. Esther Strauß: In der Ausstellung re:act war auch It was a T-Bone Steak zu sehen – die erste Arbeit in deinem Werk, die du selbst als politisch beschreiben würdest. It was a T-Bone Steak ist eine Buchskulptur, in der du Bilder vom Turiner Leichen­ tuch und Schwulenpornos collagierst. Der Einband des Buchs besteht aus Menschen­ haaren, die von dir per Hand zu einem dicken Filz verarbeitet worden sind. Das war 1995. Wie hat diese Skulptur deine Arbeit als Künstler verändert? Franz Wassermann: Mit It was a T-Bone Steak wollte ich den ermordeten und über­ lebenden Schwulen der NS-Zeit gedenken. Die Schwulen wurden damals vom Staat Österreich nicht als Opfer anerkannt, mit der Begründung, dass Schwul-sein in der NS-Gesetzgebung ein Unrecht war. Schwulenpornos waren in Österreich noch gesetzlich verboten, wir mussten sie von München nach Innsbruck schmuggeln, um sie für die Collagen in der Buchskulptur verwenden zu können. Auch die Homo­ sexuelle Initiative Tirol war illegalisiert. Mir ist plötzlich bewusst geworden, dass ich als systemkritischer Künstler und Schwuler ein vom Staat verfolgtes Subjekt werden

Abb.2: Franz Wassermann, Pro Libertate Anarchia: als Demonstration gemeldete Performance mit Polizeischutz, 2017

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Franz Wassermann und Esther Strauß

kann, dass allein meine Existenz eine Provokation ist. Das war beängstigend. Diese Erkenntnis hat meine Perspektive auf die Rolle von Künstler_innen von Grund auf verändert: Zu glauben, Kunst sei unpolitisch, ist ein Trugschluss.

Abb.3: Franz Wassermann, It was a T-Bone Steak, 1995/97, Menschenhaare, Plastikfolien, Nägel, 35 x 35 cm

Esther Strauß: In den Jahren danach hast du in vielen weiteren Arbeiten den Natio­ nalsozialismus und seine Täter_innen und Opfer thematisiert, unter anderem im Temporären Denkmal, das inzwischen Teil der Sammlung des Landes Tirol ist. Deine neuen Arbeiten setzen den Faschismus und den Kapitalismus miteinander in Bezie­ hung. Wie würdest du diese Beziehung beschreiben? Franz Wassermann: Der Kapitalismus hat den Faschismus und Stalinismus gebo­ ren; er liebt Diktaturen. Vielen ist nicht bewusst, wie stark die Propaganda und die Methoden des NS-Regimes in unsere Gegenwart wirken. Alle Marketingeagenturen und Thinktanks arbeiten auf der Grundlage von Propaganda von Edward Bernays, der Bibel der Public Relations, die auch von Goebbels genutzt worden ist. Das wirkt sich auch auf uns aus. Wenn der Zweck die Mittel heiligt und der Mensch zur Ware degradiert wird, wie es zurzeit im Raubtier-Kapitalismus gemacht wird, dann müssen wir erkennen, dass unsere sozialen und demokratischen Werte auf dem Spiel stehen. Esther Strauß: Für viele Fahnenträger_innen war ANARCHIE die erste Perfor­ mance, an der sie teilgenommen haben. Wie haben sie die Arbeit erlebt? Franz Wassermann: Zunächst ist es vielen Menschen, die ich eingeladen habe eine Fahne zu tragen, nicht leicht gefallen, sich zur Teilnahme zu entschließen. Besonders

Kunst vs. Politik?

259

in Wien hatten viele Angst mitzumarschieren, weil ihnen diverse Klauseln in ihren Arbeitsverträgen verbieten, die Firmen und Partnerfirmen ihrer Arbeitgeber_innen öffentlich zu kritisieren. In Innsbruck haben die jungen Trommler, die zunächst teil­ nehmen wollten, abgesagt, weil sie Angst hatten, sie könnten ihrer Karriere schaden. Andere fürchteten sich davor, öffentlich Stellung zu beziehen und dann in den sozi­ alen Medien geoutet zu werden. Als Reaktion darauf habe ich mir Performer_innen zugekauft. Die haben sich dann als Dienstleister_innen verstanden, nach dem Motto: „Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“ Ich denke, das spiegelt die Realität wider, in der wir leben. Esther Strauß: Denkst du, dass auch die Arbeit selbst für viele schwierig zu tragen war? Franco Berardi hat 2017 im Rahmen der documenta unter dem Titel Auschwitz on the Beach die europäische Flüchtlingspolitik mit der nationalsozialistischen Vernich­ tungsmaschinerie verglichen und wurde dafür stark kritisiert. Die New York Times zitierte damals Boris Rhein, Hessens Minister für Wissenschaft und Kunst: „Freedom of art is a fundamental value. But any comparison to the Holocaust cannot be allo­ wed, as the crimes of the Nazis were unique.“1 Wieso hast du dich schon 2015 dazu entschieden, einen ähnlichen Vergleich anzustellen? Franz Wassermann: Wieso? Weil wir von Menschen, die im NS-Regime aufge­ wachsen sind, erzogen wurden. Weil die Überlebenden und die Zeitzeug_innen ster­ ben. Und weil wir gerne vergessen wollen, dass wir von unserer Geschichte geformt werden. Viele Themen, die einige Jahrzehnte lang ein Tabu waren, werden heute wieder gesellschaftsfähig. Mit dem Kapitalismus fragen wir wieder: Wie viel ist ein Menschenleben wert?

BIBLIOGRAFIE Eddy, Melissa: „Refugees Suffering ‚Auschwitz on the Beach?‘ Germans Say No“, in: https://w w w.nytimes.com/2017/08/23/arts/auschwitz-on-the-beach-documen­ ta-14-controversy.html vom 23.08.2017.

1

M. Eddy: Refugees Suffering.

EINLEITUNG II

„Music seems to be most effective in the sphere of social change when the musical ­participants are involved in the political process itself.“ Dick Weissman1

Musik, Gesellschaft und Politik sind nicht nur mannigfaltig miteinander verknüpft, sondern bedingen sich oft gegenseitig. Der politische Inhalt von engagierter Musik kann sich dabei auf unterschiedliche Weise manifestieren: Protestsongs der Liedermacher_innen, (unterschwellige) Regimekritik in klassischer Musik, schreiende Punkbands, musikalische Untermalungen von Demonstrationen. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Tendenzen und Entwicklungen in der Musik stehen im Kontext politischer Geschichte und Gesellschaft. Das Unvermögen zu schweigen, das Verlangen sich auszudrücken oder eine Botschaft zu vermitteln, sind gemeinsame Wurzeln von Protest und Musik. Protest bedeutet – bereits dem etymologischen Sinn nach – etwas öffentlich zu bezeugen. Was kann und soll engagierte Musik oder Protestmusik im Speziellen bewirken? Sie kann Verhältnisse nicht nur kritisieren oder parodieren, sondern auch auf positive Weise aufmerksam machen oder polemisieren. Sie soll die Menschen erreichen und zum Nachdenken anregen. Engagierte Musik kann zum Handeln inspirieren, die Gesellschaft sich selbst erkennen lassen und so Veränderungsprozesse begünstigen. Dahingehend ist Musik massenwirksam, denn sie kann in den Menschen Gefühle der Betroffenheit auslösen. Wolf Biermann betonte einst: „Deswegen sind die Lieder ja auch gefürchtet von den Herrschenden. Das heißt, sie fürchten nicht die Lieder selbst, sondern die akuten Leidenschaften des Volkes, die latent existieren und durch die Lieder provoziert werden und so an die Oberfläche geraten.“2 Diese Eigenschaft der Musik, eine Gefühlsverstärkerin zu sein, wurde und wird jedoch auch missbraucht: Immer schon wurde Musik instrumentalisiert, um Interessen durchzusetzen, Absichten zu bedienen oder Normen zu begründen und zu verbreiten. Oftmals dient Musik auch dazu, nationale, ethnische, ethische, wirtschaftliche und/oder kulturelle Überlegenheit zu propagieren. Dabei muss unterschieden werden zwischen ursprünglich intendierter Gesellschaftskritik und im Nachhinein verzweckten und interpretierten Aussagen in einem musikalisch-klanglichen Werk. Häufig bestärkt Musik darüber hinaus gewisse Selbstkonzepte und Ideologien, die eine persönlich als stimmig empfundene Lebensweise befördern sollen.

1 2

D. Weissman: Talkin’ ’bout a revolution, S. 321–322. Zit.n. K. Götsch: Linke Liedermacher, S. 119–120.

262

Herausgeberinnen

Die im Folgenden verschriftlichten musikalischen Beiträge sind von unterschied­ lichen Intentionen, Geschichten und Hintergründen durchzogen. Ihre Komponist_innen, Autor_innen und Ausführenden kommen aus verschiedenen Milieus und die behandelten Sujets aus diversen Themengebieten und Musikgenres. Außerdem brin­ gen die Künstler_innen ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit, wie und unter welchen Vorzeichen Musik und Politik in ihrem Schaffen miteinander vereinbar sind. Dabei kann die Annahme, dass Musik mit Kritik und Politik per se in Verbindung steht, zu einem Widerspruch mit dem Autonomiegedanken der Kunst führen. Im Sinne des Konzeptes des l’art pour l’art legitimiert sich Kunst nur durch sich selbst. Folgt man dieser Vorstellung, stellt sich die brisante Frage, ob Musik, um Kunst zu bleiben, von sich selbst behaupten darf, gesellschaftskritisch zu sein. Ist Kunst und Kritik überhaupt vereinbar? Oder besteht das kritische Moment der Musik in ihrem künstlerischen Wesen selbst? Erreicht Kunst ihren Widerstand nicht eben durch die immanente Spannung der Gegensätze, „die endlose Spannung zwischen Apollon und Dionysos“3, wie Rancière mit Bezug auf Nietzsche ausdrückt? Ein ähnliches Spannungsverhältnis betrifft jene zwischen Kommerz und Kritik. Diese Abhängigkeit, die sich um Protestmusik rankt, veranlasste bereits Theodor W. Adorno dazu, Protestsongs überhaupt zu hinterfragen. Diese Gedanken haben auch uns dazu angeregt, eine Ausschreibung außerhalb des kommerziellen Musikmarkts zu konzipieren. Um einer zu starren und eng gefassten Vorstellung von musikalischer Gesellschaftskritik entgegenzuwirken, wurde auch jenen Kunstschaffenden Raum und Bühne gegeben, die bisher nicht öffentlich auftraten. Musikschaffende hatten also die Möglichkeit, laut und leise zu gesellschaftlichen Themen Stellung zu bezie­ hen. Sie präsentierten zeitgenössische Musik, die dem Vorurteil entgegenwirken sollte, dass Protestbewegungen in den Songs der 1968er-Jahre verebbt wären. Dabei waren in ebendiesem Ausschreibungstext alle Arten und Ausdruckweisen gesell­ schaftskritischer, musikalischer Aussagen explizit erwünscht: vom selbstgeschrie­ benen Protestsong über das kritische Chanson, von sprengender Volksmusik bis zur aleatorischen Komposition oder auch elektronischer Klanginstallation oder punkigen Bandperformance. Die Veranstaltungsreihe umfasste unterschiedliche musikalische Darbietun­ gen, darunter zwei Performances und einen Konzertabend. 4 Die Performances des StreetNoise Orchestra und der Kunstfigur !!!affe??? mit der Band Perin&Barbarossa, die bewusst zwischen den theoretischen Vorträgen stattfanden, sollten klassische Grenzen zwischen Literatur und Musik, Musik und Musikwissenschaft, Bühnen- und Straßenmusik endgültig zum Einstürzen bringen. Mit diesen Performance-Aktionen beabsichtigten wir also, urbane Musik des öffentlichen Raums auf das universitäre Gelände zu holen. 

3 4

J. Rancière: Ist Kunst widerständig?, S.19. Eine Auswahl der Lieder und Performances ist unter dem QR-Code auf der letzten Seite des Buches verfügbar.

Einleitung II

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Das Konzert So klingt Kritik5 fand am dritten Abend der Veranstaltungsreihe statt. Markus Koschuh konzipierte für den Abend eigens eine kritische Performance über den Tiroler landesüblichen Empfang. Auch Kris Heidenreich führte mehrere selbst-geschriebene Songs auf (u.a.: Manifest: Ein Song als Ausgang für einen Lebensweg oder Bisschen Liebe: Gegen etikettiertes Sprechen und Benehmen). Leider erkrankte Julia Pörnbacher alias Juliet, eine junge Singer-Songwriterin aus Innsbruck. Ihr eingereichter Song Europa ist das Resultat ihrer intensiven Auseinandersetzung mit aktuellen, politischen Krisen und handelt von der blinden Ungerechtigkeit unserer reichen Gesellschaft, die vergessen hat Mensch zu sein. Dabei stellt sie die Problematik der derzeitigen Asylpolitik in das Zentrum und thematisiert das Warten auf Asylbescheide. Rebecca Heinrich überraschte das Publikum in der Programmpause mit ihrem spontanen Poetry-Slam-Auftritt und thematisierte dabei das Fremdsein in unserer Gesellschaft. Samuel Aaron und Luben Cheshmedzhiev spielten das Lied Glaube frei – Kontroversen unsrer Zeit, eine Performance mit Text und Musik, die versucht, den zunehmend verurteilten Glauben in einer Welt des vermeintlichen Wissens neu zu beleuchten. Klex Wolf und Clemens Wechselberger brachten die Uraufführung Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf für Tonband und zwei Improvisationsmusiker_innen auf die Bühne. Sie vertonten dabei eine Verhaltens­beurteilungsliste für Kinderpsycholog_innen und setzten die Vertonung als ironischen Kommentar auf die Absurdität von vorkategorisierter Menschenbeurteilung ein. Zwei Frauen der zeitgenössischen österreichischen Poetry-Slam-Szene, Giga Ritsch und Mieze Medusa, beschenkten abschließend das beste Sitz-Publikum, das sie je erlebten, mit tanz­ baren, kritischen Soundtracks. Den Abend verabschiedete Giga Ritsch mit einer ruhigen, balladenhaften Solonummer namens Koids Wossa. Bleiben nach all den Beiträgen die Fragen offen: Was bleibt von Musik? Was bleibt von Kunst bestehen? „Wir, als Geänderte, bleiben.“6

BIBLIOGRAFIE Götsch, Katharina: Linke Liedermacher. Das politische Lied der sechziger und siebziger Jahre in Deutschland, Innsbruck: Limbus 2007. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Herausgegeben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. Rancière, Jaques: Ist Kunst widerständig, Berlin: Merve Verlag 2008. Weissman, Dick: Talkin’ ’bout a revolution. Music and social change in America, New York: Backbeat Books 2010.

5 6

Konzertkonzeption: Elisabeth Hubmann und Siljarosa Schletterer. R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S.1461f.

STREETNOISE IST MEHR ALS DAS SUMMEN SEINER TEILE. ­KÜNSTLERISCHE UND POLITISCHE MOTIVE EINES MUSIKALISCHEN KOLLEKTIVS StreetNoise Orchestra (verfasst von Boris Traue und Andrea Umhauer)

Inspiriert von Straßenorchestern aus Rom und Graz schlossen sich 2013 eine handvoll Musiker_innen zum Kollektiv StattBand zusammen. Ziel dieses Kollektivs war die Entwicklung und Inszenierung von Musik-, Performance- und Organisations­formen. Allerdings konnte der Name nicht verwirrender für seine Rezipient_innen sein. Die hervorgerufenen Unklarheiten – „StattBand“, also eine Alternative für eine Band? „StattBand“, also die Band der Stadt Innsbruck? – führten schnell zur Notwendigkeit einer Präzisierung des Schaffens und seiner Benennung. Mit StreetNoise Orchestra wurde 2014 ein treffender Name gefunden, der ausdrückt, wofür das Ensemble steht. Das SNO bringt den Groove auf die Straßen, spielt draußen, im Park, unter der Brücke, immer ein bisschen neben der Spur und vor allem dort, wo es nicht erwartet wird. Es umfasst momentan 27 Mitglieder und ist ständig offen für neue Mitspieler_ innen. Mit seinen Musik-, Performance- und Organisationsformen ist das SNO Teil der Activist-Street-Band-Bewegung, die ihre Zentren bislang vor allem in Westeuropa und Nordamerika hatte. Trotz ihrer Unterschiede verfolgen die Bandas einen ähnlichen gesellschaftspolitischen Anspruch: Sie versuchen, die öffentlichen Spielräume auszuweiten und verbinden dies mit einer Weiterentwicklung von egalitären Formen künstlerischer Praxis und Selbstorganisation sowie einer Ablehnung von hierarchischen und autoritären Strukturen.

DAS STREETNOISE ORCHESTRA UND DIE TRADITIONEN DER FREILUFTMUSIK Mit seiner Besetzung und seiner Entstehungsgeschichte verhält sich das StreetNoise Orchestra zu verschiedenen historischen und aktuellen Bezügen. Es steht in Kontinuität mit unterschiedlichen Traditionen der im Freien gespielten Ensemblemusik. Diese Freiluftmusik hat einerseits höfische Ursprünge (Divertimento) und diente zur Begleitung von Festen und Mahlzeiten. Die Erwartung, Freiluftmusik möge vor allem leicht und unterhaltsam sein, ist auf dieses Vorbild zurückzuführen. „Ernste“ Musik findet im Saal statt, wenn sie draußen zu hören ist, muss sie unterhaltsam sein. In der französischen Revolution wurde Freiluftmusik auch in die Dramaturgie politischer Massenveranstaltungen eingebaut. Andererseits wurde diese von der bereits seit der Antike bestehenden Militärmusik geprägt, die auch instrumentenbautechnisch ihre Spuren hinterlassen hat. In Gestalt der Dorf- und Stadtteilkapellen, die im deutschsprachigen und insbesondere alpinen Raum die Nachfolge der Militärkapellen angetreten haben, ist der Klang dieser Marschiermusik sehr präsent. Die Musik

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Boris Traue und Andrea Umhauer

vieler Street-Bands ist eine improvisierte Musik und speist sich aus dem Jazz, insbesondere in seiner festlich-anarchischen Variante des second line aus New Orleans. In die jüngste Zeit fällt die Entstehung der Activist-Street-Bands, die seit Anfang der 2000er-Jahre mit Festivals, politischen Interventionen und internationalen Kooperationen eine eigene musikalische und politische Szene bilden. Diesen Traditionen stehen wir teils interessiert, teils kritisch gegenüber; jedenfalls setzen wir uns mit ihnen auseinander. Instrumente wie Basstrommel, Snare, Posaune, Trompete, Tuba, Saxofon, Klarinette, Querflöte, Sousafon, Eufonium und alle die sonst noch tragbar und laut sind, wurden von der Militärmusik angeeignet oder sogar speziell dafür entwickelt. Essentiell ist dabei, dass diese Instrumente laut genug, ausreichend wetterfest für den Einsatz im Freien sind und fußläufige Mobilität während des Musizierens erlauben. Das SNO übernimmt dieses Instrumentarium größtenteils und hat dadurch die Möglichkeit, sich frei im öffentlichen Raum bewegen zu können und nicht von Bühnentechnik abhängig zu sein. Im Gegensatz zur Militärmusik ist die Musik des StreetNoise Orchestra nicht marschier-, sondern tanzbar und soll möglichst direkt ins Tanzbein fahren. Die Militärmusik pflegt militärische Tugenden wie strenge Organisation und Hierarchien, Exerzieren von Marschformation, einstudierte Kommandos und Uniformen, die von ihren zivilen Nachfolgern, den brass bands, marching bands und den traditionellen Blaskapellen in gemilderter Form übernommen werden. Das StreetNoise Orchestra übernimmt die zweckmäßige Hardware, handhabt aber alles andere entweder völlig konträr – kein Dirigat, basisdemokratische Organisation, Improvisierpraxis – oder arbeitet mit diesen Elementen explizit und spielerisch. Im SNO wird individuell improvisiert („soliert“), aber auch das ganze Ensemble improvisiert, weil zwar Arrangements und Eigenkompositionen geschrieben werden, die Musiker_innen öffentlich aber ohne Noten und in veränderlicher Besetzung spielen.

BASISDEMOKRATISCHE ORGANISATION Das StreetNoise Orchestra lehnt strenge und hierarchische Organisationsformen radikal ab, weil sie als Ergebnis der Geschichte der Vereinnahmung von Amateur_innen in der Musikkultur und ihrer politischen oder volkspädagogischen Instrumentalisierung begriffen werden müssen. In der Militärmusik, der traditionellen Blasmusik, den brass bands und den marching bands werden Amateur_innen von professionellen Musiker_innen an die Musik als eine nur ausführende Tätigkeit herangeführt. Sie bleiben dabei unter der Aufsicht und Führung von Berufsmusiker_innen und kulturpolitischen Funktionären (es sind fast immer Männer), die alle relevanten künstlerischen (z.B. Besetzung, Repertoire, Stil) und organisatorischen Entscheidungen treffen und die Amateur_innen außerdem von klein auf in Wettbewerbssituationen zwingen. Diese Pädagogik und Spielpraxis dient der Vorbereitung auf und Reproduktion von Konkurrenz und Wettbewerb. Sie verleugnet die individuelle wie die kollektive Kreativität und richtet die Musik wie ihre Subjekte auf kapitalistische Verhältnisse zu: Musik als hierarchisch organisierte Freizeitaktivität in der Leistungsgesellschaft. Der professionelle Musikbetrieb ist von ähnlichen Strukturen geprägt, wobei hier die Schneidungen zwischen Berufsgruppen (v.a. Musiker_in/Dirigent_in)

Mehr als das Summen seiner Teile

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das hierarchische Verhältnis organisieren. Ausnahmen gibt es auch hier: In der Sowjetunion existierte von 1922 bis 1933 ein sehr bekanntes dirigentenloses Orchester, das Persimfans (russisch für Perwy Simfonitscheski Ansambl). Aber auch in der Gegenwart spielen einige Ensembles ohne Dirigent_in, etwa die Kammerphilharmonie Bremen, die Camerata Bern oder die Kammerakademie Potsdam. Der hierarchischen Beaufsichtigung, Instrumentalisierung und Gängelung entzieht sich das StreetNoise Orchestra. Es sucht dabei als Ensemble von Amateur_innen die kulturindustriellen und hierarchischen Verkrustungen abzuwerfen, von denen eben auch professionelle, an Konservatorien ausgebildete Musiker_innen betroffen sind. Der Beaufsichtigung entzieht sich das StreetNoise Orchestra, da alle Mitspieler_innen gleich wichtig sind und alle Entscheidungen, unabhängig ob künstlerischer oder organisatorischer Natur, gemeinsam getroffen werden. Durch dieses Selbstverständnis sehen sich die Musiker_innen des SNO in einer intensiven und anhaltenden Beschäftigung mit den Möglichkeiten der künstlerischen Selbstbestimmung. In wöchentlich stattfindenden Proben und Probenversammlungen diskutiert das SNO neue Stücke und Arrangements, kommende angefragte Auftritte und eigene Ideen. Zusätzlich hat das Kollektiv ein Online-Forum programmiert, in dem Ideen, Vorschläge und anstehende Entscheidungen (vor-)diskutiert werden. Alle Entscheidungen (soll ein bestimmtes Stück in das Programm aufgenommen, ein bestimmter Gig gespielt, eine bestimmte Demonstration oder Veranstaltung organsiert etc. werden) werden im Kollektiv getroffen und alle können jederzeit Themen einbringen. Die Auswahl und Schaffung von Situationen, die das Orchester bespielt, ist manchmal Anlass langwieriger Aushandlungen. Klar ist, dass Anlässe unterstützt werden, die den kulturellen, sozialen und politischen Zielen entsprechen, über die innerhalb des Ensembles ein gewisser, immer wieder zu gewinnender, Konsens besteht. Die lokalen und überregionalen Veranstaltungen emanzipatorischer sozialer Bewegungen (Kundgebungen, Demonstration und Aktionen) – aber auch öffentliche Ereignisse und Festtage gehören zu diesen Anlässen. Im Freien gespielte Musik – außerhalb des Rahmens kommerzieller Konzertveranstaltungen – verweist dabei immer auf repräsentative Aufgaben. Das SNO versucht konter-repräsentative Funktionen wahrzunehmen, indem es den Feierwert des alternativen Festkalenders (CSD, 1. Mai, Demonstrationen etc.) steigert.

POLITIKEN DER PERFORMANCE Das StreetNoise Orchestra verzichtet dabei auf Kommandos und arbeitet hier entweder unmilitärisch selbstdenkend und eigenverantwortlich oder riskiert es, sich improvisatorisch erst während eines Gigs zu organisieren. Statt in traditionellen Marsch­formationen im Gleichschritt bewegt sich das SNO entweder bewusst chaotisch unorganisiert (Ameisenhaufen oder lose Formation im Gehen bei Umzügen) oder arbeitet mit choreografischen Elementen, die entweder keinerlei militärischen Charakter haben oder aber bei synchronen Bewegungen bewusst die militärische Gleichschaltung persiflieren. Die Ästhetik des SNO zielt auf das musikalische Aufladen von „vormusikalischen“ Situationen ab. Das sind Situationen, in denen es Klänge des Alltags gibt, vor

Abb.: StreetNoise Orchestra am universitären Gelände in Innsbruck, 2017

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Boris Traue und Andrea Umhauer

allem technische, funktionale und zufällige Geräusche – wie den motorisierten Verkehr, Durchsagen, Gesprächsfetzen und jene Hintergrundgeräusche, die die akustische Aura des öffentlichen Raums bilden. Diese vormusikalischen Situationen werden seit der Erfindung des Walkmans von individuellen Apparaten der Musikreproduktion bespielt. Das SNO macht es sich zur Aufgabe, in solche Situationen „öffentliche“ Klänge hineinzutragen. Diese Geräusche und Atmosphären werden durch musikalische Interventionen aufgegriffen und transformiert. Wir gehen davon aus, dass von jedem Klangkörper eine akustische Atmosphäre ausgeht, die die Anwesenden und ihre Beziehungen zueinander verändern kann. Auch das äußere Erscheinungsbild ist Teil der Performance: Das StreetNoise Orchestra tritt – wie viele traditionelle Musikensembles – in ausgewählten Farben auf. Grün und Orange (neon!) werden von allen Musiker_innen nach Belieben eingesetzt – orange Berufsbekleidung steht hier neben dem Anzug mit orange-grünen Accessoires, der Fantasieuniform und anderen Extravaganzen. Dadurch entsteht ein Spiel der Musiker_innen mit den uniformen Farben Grün und Orange.

ÄSTHETIK DER STRASSENMUSIK Die musikalischen Formen sind so gewählt, dass keine zentrale Koordination in Gestalt eines Dirigats notwendig ist und Freiräume für solistische Gestaltungen bleiben. So bestehen die Arrangements nicht aus Einzelstimmen, die an die Noten gefesselt herunterzuspielen sind, sondern aus Partituren, in denen verschiedene Aufgaben übernommen werden können: Melodie, Harmonie, rhythmische Akzentuierung, Ausschmückung, temporäre Ausbrüche aus der Form, Kollektivimprovisation und Soli-Improvisationen mit Unterstützung des Ensembles. Die Musik der Activist-Street-Bands wird nicht schon allein durch die Untermalung von gesellschafts­ kritischen Anlässen zu einem gesellschaftskritischen Medium. Sie wird es dann, wenn die Vermittlungen zwischen musikalischer Praxis und ihren öffentlichen und kulturellen Rahmensetzungen zum Thema werden – also durch die Auseinandersetzung mit den Erwartungen, die an akustische Musik im öffentlichen Raum gestellt werden. Das SNO verfolgt die Strategie, zugleich viel und wenig anzubieten. Viel körperliche Bewegung, viel Begeisterung, manchmal auch Müdigkeit oder Unzufriedenheit. Viel Improvisation, manchmal auch Diskussion noch während des Konzerts. Wenig klare Show, wenig komplexe Arrangements, wenig Rücksicht auf das Musikgedächtnis des Publikums, das doch gerne mal Tainted Love oder den Standschützenmarsch wiedererkennen möchte. Das Ensemble praktiziert stattdessen über eigenwillige Adaptionen, Eigenkompositionen und die Entwicklung neuer Auftrittsformate die Weiterentwicklung der Street-Band-Ästhetik. Dieses dilettantische Prinzip der gegenseitigen Bildung und Anregung pflegt das SNO im Austausch mit anderen Musiker_innen und Street-Bands. Es geht uns nicht darum, politische Musik zu machen, sondern politisch Musik zu machen.

ARTISCHOCKTHERAPIE – EINE ASSOZIATIV-KRITISCHE STREET-ART-LESE-MUSIK-PERFORMANCE ???affe!!! und Gitarmonika Trio/Perin & Barbarossa

Der Innsbrucker Street-Artist und -Literat ???affe!!! ist eine eigenartige, mehrdimensionale Kunstfigur, die aufrütteln, Gedanken und Gefühle durcheinanderschütteln und zum Nachdenken anregen will. Er möchte Assoziationslawinen lostreten und inspirieren. Er ist ein Fragensteller und gleichzeitig auch Antwortengeber. Er tritt vehement gegen Kleinkariertheit und Schubladendenken auf. Schon sein Outfit soll Verwirrung stiften und die Köpfe der Zusehenden öffnen: Ein „Affe“ mit Pferdekopf, der alles darf, keine Regeln und keine Tabus kennt. Spielerisch, wild und impulsiv. Bekleidet mit gelbem Ski-Overall, schwarzer Federboa und Cowboystiefeln geht er auf die Menschen zu. Durchkreuzt tänzelnd deren Alltag und Leben. ???affe!!! taucht mit seinen punkig, dadaistischen Aktivitäten an urbanen Orten und in ländlichen Gefilden auf. Mit seinen poppig, bunten Poesie-Alben, die er zur freien Kunstentfaltung und -entnahme in verschiedensten Städten Europas öffentlich auflegt. Oder mit seinen Performances, wo er gemeinsam mit unterschiedlichen Musiker_innen (fremde und vor allem) eigene Texte in seinen artistischen Mixer wirft und neu kombiniert den Rezipient_innen direkt in ihr Hirn shaked. Als manchmal zuckersüßen, manchmal herbbitteren Kunstcocktail, der den oftmals zufällig Anwesenden Inspirationen und Einflüsterungen zum Weiterwirken auf die Weiterreise mitgibt. Poetisch, wortspielerisch, aktionsgeladen, hochpolitisch, humorvoll, berührend und kritisch wurde auch die gemeinsame, rund 45-minütige ArtiSchockTherapie von ???affe!!! und der in Innsbruck ansässigen Bands Gitarmonika Trio bzw. Perin & Barbarossa am 2. Juni 2017 am Christoph-Probst-Platz vor dem umstrittenen Ehrenmal der alten Universität in Innsbruck gestaltet. An einem Ort der Erinnerung, einem Ort des Widerstands. Vor einem Kriegerdenkmal, errichtet nach Entwürfen von Lois Welzenbacher für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Studierenden. Zugleich Monument für die Einheit des Landes Tirol. Später Gedenkstätte für gefallene Universitätsangehörige im Zweiten Weltkrieg. Lange deutschnationales Vaterlandssymbol. Ein kontroversieller, universitärer Platz, der als Zeichen gegen Rechtsextremismus in den 1990er-Jahren nach einem Widerstandskämpfer der Weißen Rose benannt wurde. An diesem zwiespältigen Ort wandelte, schrie, tanzte der ???affe!!! und deklamierte seine Texte als aufwühlender „Vorleser“ und spitzbübischer Performer, der sich auch auf die aktuelle politische Situation in Österreich und der Welt bezog. Kern und Ausgangspunkt der gemeinsamen künstlerischen Schocktherapie der vier Künstler zur heilenden Erschütterung der menschlichen Gedankenverirrungen waren drei Musikstücke des Gitarmonika Trio.

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???affe!!! und Gitarmonika Trio

Der Song Babylon, überwiegend im Reggae-Rhythmus, erzählt von der Idee einer babylonischen Gesellschaft im Kontext der Gegenwart und thematisiert die Sinnlosigkeit von Krieg, die Angst, einen falschen Schritt zu tun und die Tatsache, dass wir ständig überwacht werden. Im ruhigeren Mittelteil wird aus der Perspektive von Kindern berichtet, den unschuldigen Opfern des Krieges, die nicht verstehen, was passiert und nicht wissen, wo sie hin sollen. Den Abschluss bildet ein stürmischer Instrumentalteil. Der Song Day of Doom ist eine Visualisierung des modernen Menschen des 21. Jahrhunderts und seiner turbulenten Umgebung. Er schwimmt in einem Fluss aus Hoffnung und Veränderung, über ihm ein Himmel voll Bedauern. Seine Kindheitsträume scheinen zerschmettert und alles, woran er sich klammert ist der süße Rausch des THC. Er findet sich in einer fortschrittsorientierten Gesellschaft wieder, die sich menschlich kaum weiterentwickelt. Werte wie Humanität und Solidarität sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Dem wachsenden Rassismus in die Hände spielend, als hätte es die Vergangenheit nie gegeben. Der Mensch dieser Gegenwart heißt Flüchtlinge willkommen, aber rührt keinen Finger, um ihnen zu helfen. Seine Gedanken und tiefsten Empfindungen scheinen durch eine Wolke digitaler Informationen ersetzt worden zu sein. Er verliert sich immer mehr in einer virtuellen Realität: „[...] Clouds of information have replaced our inner thoughts / And the wars of my generation are fought for evil gods // The mess we call society is caught in its own hands / And a digital variety is what we call our friends // Sex and cash and reputation are the only things that count / And the spirit of my generation was sold for no amount // If this is our destiny I hope to wake up soon / From this nightmare, desperately before the day of doom [...].“ (Lyrics: Stefan Pfattner) Der Song So what erzählt von der scheinbaren Unmöglichkeit sich zum Leben zu motivieren, wenn man ständig unter Druck steht. Er stellt ein Pamphlet für das Tagträumen dar und beinhaltet auch das lähmende Gefühl der Irrealität, welches im Leben (beispielsweise von Studierenden) vorkommen kann. Das Gefühl, nicht auf dem richtigen Weg zu sein, sich zu verlieren, die Realität nicht zu akzeptieren. Doch geteilte Irrealität ist halbe Realität. Das Teilen dieses Gefühls erleichtert das Aushalten und das Annehmen. Der gleichbleibende Text, der sich durch das Lied zieht, soll, wenn auch ironisch gemeint, auf das endlose Fortdauern dieses Gefühls hinweisen, sollte der_die Einzelne nichts unternehmen. Rund um diese drei Musikstücke performte ???affe!!! seine vielschichtige Street-Art-Poesie und seine experimentellen, vielgestaltig interpretierbaren Sprechtexte. Ausgehend von der dichterischen Vorstellung seiner Person und seinen Intentionen folgten Wort-Assoziations-Lyrics, die die gegenwärtige, „merkwürdige“ Welt (Terror, Flüchtende, Trump, Brexit, Europa, Nationalismus, Konsum, Ausbeutung, Gier, Gifte, Oberflächlichkeiten, die Rolle der Kunst, fehlende Empathie und Herzlichkeit) thematisierten: „[...] im destabilisierungsgekotze, im neuen kalten kriegsgeklotze, im lachhaften anthropozän saufen wir palmöl und isoglukose, plastikgift aus reagenzgläsern, scheiße aus der aludose, verseuchen uns bis zur endgültigen zirrhose, landen auf dem abfallhaufen der geschichte, versklaven und vernichten, gefühlvolle, lebendige wesen, ein planet am verwesen, nicht erst als die bomben reincruisen in

ArtiSchockTherapie

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unsere acesulfam-k-herzen, als der crash, die anschläge, die einschläge, unser system zerstören, die kerne schmelzen, die kraftwerke implodieren lassen, den himmel verrußen, für immer und immer und immer [...].“ ???affe!!! griff außerdem die für den Ort der Performance symptomatischen Themen „Ehre“, „Freiheit“ und „Vaterland“ in ironischer Weise in den Texten auf und verteilte Flugblätter (auch in Reminiszenz an politischen Widerstand im Sinne der Weißen Rose), versehen mit einem liebevollen Aufruf: mensch! hör zu: schalt dein herz ein und liebe! liebe: alles! Als weitere Bausteine der Performance dienten instrumentelle Songs von Perin & Barbarossa (feat. Stefan Pfattner). Davon abgeleitet erzeugten klopfende Rhythmen und tiefe Harmonika-Basstöne Chaos-Stücke, die immer schneller, immer härter wurden und schlussendlich roh ausarteten. Fallweise improvisierte ???affe!!! darüber seine Gesänge, Schreie und Worteskapaden. In die programmierten, komponierten Elemente wurden somit in der Live-Session auch spontane künstlerische Passagen eingestreut. Die ArtiSchockTherapie,1 deren Ziel es war, Menschen emotional in Bewegung zu versetzen, wurde als eine vielfältige Collage aus Gesellschaftskritik, Chaos, Emotionalität, Humor und Beseelung konzipiert. Durchaus intendiert war dabei, dass Fragen teilweise unbeantwortet blieben oder sich durch die Aktion erst ergaben. Musik-, Bilder- und Gedankenwogen sollten das Publikum umspülen, durchströmen und in irgendeiner Weise berühren oder beeinflussen.

1

Zugleich Veranstaltung Nr. 21 der Reihe Cognac & Biskotten Grenzgänge des Innsbrucker Literaturclubs Cognac & Biskotten.

Abb.: ???affe!!! und Gitarmonika Trio/Perin & Barbarossa, ArtiSchockTherapie, 2017, Innsbruck: Christoph-Probst-Platz

LANDES(UN)ÜBLICHER EMPFANG: EINE PROTEST-PERFORMANCE Markus Koschuh

Der Kabarettist und Poetry-Slammer Markus Koschuh widmet sich nicht nur in seinen Bühnenprogrammen Themen, die ihm (gesellschafts-)politisch wichtig sind, er organisiert auch immer wieder Kundgebungen oder Versammlungen im öffentlichen Raum in und um Innsbruck: etwa das ProtestProseccoPicknick oder die Beerdigung des Lebensraums Innenstadt anlässlich des Alkoholverbots in der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck, das er in zahlreichen Statements als „Obdachlosenvertreibungsgesetz“ bezeichnete. In seiner Performance Tiroler Identität in einer-Dur inszenierte Koschuh textlich, gesanglich und mimisch zu Jean Sibelius 4. Satz aus der Symphonie Nr. 1 in e-Moll op.39, gespielt von den Münchner Philharmonikern, einen „Landesüblichen Empfang“, welcher „nur bei offiziellen Veranstaltungen des Landes Tirol zur Anwendung kommt, und zwar dann, wenn der Landeshauptmann, ein Mitglied der Landesregierung oder der Landtagspräsident die Meldung entgegennimmt“1, wie es in der erläuternden Begleitbroschüre der Tiroler Landesregierung heißt. Die Abläufe sind dabei strikt festgelegt. Nach der Gründung des Bundes der Tiroler Schützenorganisation im Jahre 1950 entwickelte sich der Landes­übliche Empfang zu einer „einzigartigen Tiroler Tradition“2. Dazu erklang bis in 2010er-Jahre der sogenannte Standschützen-Marsch.3 Sepp Tanzer schrieb ihn 1942 als Gaumusikdirektor für Tirol-Vorarlberg; gewidmet ist er dem damaligen NS-Gauleiter Franz Hofer. 4  

TIROLER IDENTITÄT IN EINER-DUR Ehrenformation. Zur Meldung an das Publikum rechts schaut! Präsentiert das Instrument! Ehrenformation. Zum Spiel bereit! Landesunüblicher Empfang mit Musikkapelle. Auszüge aus den Anweisungen zur Durchführung eines Tiroler Staatsempfanges, der eigentlich gar keiner ist, weil Tirol kein Staat ist, der aber eben trotzdem durchgeführt wird. Weil’s immer schon so war. Zumindest seit unsere Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg die Berge wieder aufgebaut haben.

1 2 3 4

Amt der Tiroler Landesregierung: Broschüre, S. 3. Ebd., S. 4. Vgl. K. Mittelstaedt: Kriminalisierter Brauch. Vgl. K. Drexel: Klingendes Bekenntnis, S. 275ff.

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Markus Koschuh

A wie Ankündigungssignal, M wie Meldung, H wie Hymne, F wie Frontabschreitung, E wie Ehrensalve. Ehrensalve. Feuer! düdlidiii Ich sagte Feuer! düdlidiiii Zu Mantua in Banden der treue Hofer war bei solch einer Gehorsamkeit ergraut mir glatt das Haar’ so geht’s nicht, nein, nein, nein ich sag nur schlicht: da schreit ich ein und straffe sogleich die Zügelein Rechts um! Rechts um! Rechts um! Rechts um! Der Landesübliche Empfang leitet sich aus der Tradition des kaiserlichen Österreichs ab. Hä? Der Landesübliche Empfang leitet sich aus der Tradition des kaiserlichen Österreichs ab. Hä? In hohen Dosen wird gerufen und gestoßen. Bundespräsident 3 ganze Rufe 3 doppelte Stöße, Fremdes Staatsoberhaupt 3 ganze Rufe 3 doppelte Stöße, Bundeskanzler 2 ganze Rufe 2 doppelte Stöße, Landeshauptmann 1 ganzer Ruf 1 doppelter Stöß Bischof 1 ganzer Ruf 1 doppelter Stoß, Alle übrigen 1 halber Ruf. Marketenderin vor! Begrüßungsschnapserl! Willkommensschnapserl! Wohlfühlschnapserl! Verdauungsschnapserl. Schnapserlschnapserl. Bussi&Baba-Schnapserl. Und dann das Tiroler TripleA-Rating: Abmeldung, Abblasen und Abmarsch General-Decharge vulgo Ehrensalve: Feuer! Feuer! Feuer! Feuer! Feuer! Diese Salve hat getroffen, ich zeige mich durchaus betroffen. Hofer, bisch du’s? Wie? Einer von Medicin sans frontiers? Ausgerechnet a Franzos, na sei ma nit bes. Doch wünsch ich mir zum Abschied Wirbel bevor ich hier elendig stirb ..l hier fleh’ ich nun, ich armer Tor doch dem Tambour will der Wirbel nicht unterm Schlägel vor Mein pochend Herz spürt Schmerz in Terz Au-a Mein Becken ist durchlöchert das Trommelfell gerissen das Einz’ge, das ich mechert ist, dieses noch zu wissen: warum sind Bananen krumm? Wird diese landesübliche Empfängnis

Landes(un)üblicher Empfang

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gar mancher Frau auch zum Verhängnis? Wurde einst alm abgetrieben da sich Körper aneinander rieben? hollareitdidudl reit die nudl Abmelden, Abblasen, Abmarsch A wie Ankündigungssignal, M wie Meldung, H wie Hymne, F wie Frontabschreitung, E wie Ehrensalve. B wie Begrüßungssschnapserl. Die Hände auf dem Rücken, Ein letztes Lied ich sing Mit ruhigen festen Schritten, Mir scheint der Tod gering, Ich rufe: nun so trefft mich recht. Gebt Feuer! - Ach, wie schießt ihr schlecht!

Abb.: Markus Koschuh, Tiroler Identität in einer-Dur, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

BIBLIOGRAFIE Amt der Tiroler Landesregierung: Broschüre betreffend Landesüblicher Empfang; http:// tiroler-schuetzen.at/uploads/landesublicher_empfang_v2013.pdf Drexel, Kurt: Klingendes Bekenntnis zu Führer und Reich. Musik und Identität im Reichsgau Tirol-Vorarlberg 1938-1945, Innsbruck: Wagner 2014. Mittelstaedt, Katharina: „Kriminalisierter Brauch mit Bedienungsanleitung“, in: Die Zeit vom 17.11.2013; https://derstandard.at/1381373596759/Kriminalisierter-Brauch-mitBedienungsanleitung

DAVID GEGEN GOLIATH. EIN HALBGARER MUSIKER ÜBER SEIN SCHAFFEN IN AUSEINANDERSETZUNG MIT DER GESELLSCHAFT ALS GANZE Kris Heidenreich

Ich bin kein professioneller Musiker auf heißen Kohlen, kein Komponist auf Knopfdruck und ich stehe nicht in der Not kreativ sein zu müssen, um mich damit zu ­finanzieren. Auch bin ich froh darum, nicht kreativ sein zu müssen, um anderen zu gefallen. Mir stellte sich die Frage und sie stellt sich mir immer wieder, was Musik für mich sein kann. Und es ist eine bedeutsame. Und es ist eine gefährliche.

WILDWUCHS. DAS HERANWACHSEN EINES SEMI-PROFESSIONELLEN MUSIKERS Die Musik wuchs mir in einem natürlichen Kontext, sie wuchs mir selbstständig, ohne beständige Leitung, ohne Planung. Musik ist mir ein Wildwuchs. Von dem zwischen welt- und spießbürgerlich schwankenden Philosophen Immanuel Kant stammt, im Zusammenhang seiner geschichtsphilosophischen Schriften, das Bild des geraden Wuchses, welcher dann entsteht, wenn ein Baum in Konkurrenz mit anderen Bäumen wächst; im täglichen Kampf um das lebensnotwendige Tageslicht sorgen die Bäume gegenseitig dafür, dass ihre Stämme einen schönen geraden Verlauf bekommen. Demgegenüber malt Kant das Bild der missratenen Form eines Baums, welcher, ohne Konkurrenz anderer Bäume, verlassen in der Prärie wächst. Seine Äste ragen unkon­ trolliert in alle möglichen Richtungen aus. So scheiden sich die ästhetischen Gemüter: Wenn Kant dieser Baum missfällt, würde Schopenhauer diesen als eindrücklichen Ausdruck des in sich zerrissenen Weltwillens bezeichnen. Mit solch einem einsamen, missratenen Baum könnte man mein musikalisches Schaffen vergleichen und seinen menschlichen Hang für das Morbide und Kranke daran stillen. Doch ich fand und finde mich nicht mit der kantischen Diagnose des Abnormalen ab, sondern empfinde Gefallen an meiner Eigenart, an meiner Unzucht. Und erfinde und entdecke mir eine neue Rolle, eine neue Position der Musik. Die Entdecker_innen – ungewollt zu kurz gekommen in der alten Welt – machen sich auf zu neuen Gewässern. So begann und beginne ich mich selber zu züchten und arbeite an meiner Kunst abseits von Konkurrenz und vorgegeben Wegen.

SAAT UND ERNTE. DAS MUSIKALISCHE SCHAFFEN Musik ist mir immer schon ein natürlich Zugefallenes, ein Aufgeklaubtes, ein um die Ecke Gekommenes. Die Gitarre liegt griffbereit in meinem bislang üblicherweise unordentlichen Zimmer und wartet darauf, bespielt zu werden. So laufe ich an ihr vorbei, bleibe an ihr hängen und klimpere schließlich meine Melodien auf ihr.

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Kris Heidenreich

Tagein, tagaus. Aber nie lustlos. Sondern nur solange, wie ich Lust habe. Aber auch solange, wie ich Lust habe.1 Und daraus wuchs eine lebenslange Verbundenheit. Eine Verbunden­heit, die sich von Zeit zu Zeit neu definieren muss. Aber kreativ bin ich dann nicht. Sondern ich klimpere eben. Die vielerlei kreativen Ansätze verlieren sich in das Endlose, in das Stereotype, in das Hohle, in das Einmalige. Und laufen durch den Strudel der Einfälle in den Abfluss des massenhaften Vergessens. Es gibt keinen Anreiz, die Ideen festzuhalten; die Kniffe, die Sprünge, die Wendungen sind Selbstzweck in dem Moment des lustvoll orientierungslosen Klimperns. Und sie wollen sich auch nicht vergewaltigen lassen für einen leichtfertigen Zweck musikalischer Selbstinszenierung. Sie lehnen sich dagegen auf, instrumentalisiert zu werden, diese unschuldigen Gestalten der alltäglichen Muse. Sie warten unendlich geduldig auf den geeigneten und würdigen Gedanken, der diese holden Engelsgestalten für sich in Anspruch nimmt und überhaupt nur wagen kann zu versuchen, sie einzufangen. Denn jener Gedanke erhält seine geweihte Autorität und Würde erst durch die unerbittliche, in die Knie zwingende Emotion, die diesen herauspresst, herauswürgt, wie einen lebensnotwendigen Urschrei eines dämonisierten Besessenen. Es braucht einen Grund, der das Vielerlei sammelt und zu einem Ganzen bündelt. Und ich denke, je länger man wartet, desto besser wird dieser Grund sein. Und es muss eigentlich immer nur gewartet werden. Gewartet und gewartet und gewartet. Kreativität will erwartet werden. Und wenn sie kommt, muss es etwas Weltbewegendes sein. Es muss eine Befreiung sein. Eine letzte Möglichkeit, die sich auftut in der Verzweiflung. Die Leere muss kommen und in ihr die Fülle des Gedankens bereiten. Die unerbittlich bitterliche Dunkelheit muss einen umfangen ehe man bereit ist, ehe der Moment würdig genug ist, ehe der Platz bereitet ist, zur Feder zu greifen und zu schreiben. Ehe die Zeit reif ist und das Anliegen ernst genug, die unschuldigen Engelsgestalten gefangen zu nehmen und zu gebrauchen für die eigene Angelegenheit höchster Tragweite. Denn es geht nun einmal um das eigene Überleben. So ist mir Musik meine Therapie. Sie ist die Hand, die nach mir greift, wenn ich schon am Abgrund hänge. Und sie kommt auch immer nur dann, wenn ich bereits am Abgrund hänge, diese Rarität. So sind mir meine Lieder heilige Reliquien, Narben meiner Seele bewältigter Krisen.

MAHLZEIT. DIE KONFRONTATION MIT DEM PUBLIKUM Und wie um alles in der Welt kann ich dann noch zusätzlich von mir erwarten in diesen Liedern Gesellschaftskritik zu üben? Gesellschaftskritik, diese höchst intellektualisierte, sich selbst gefällige und inszenierte Form von scheinbarer Kritikwürdigkeit. Diese Kategorisierung eines Genres, welches sich dadurch selbst als ein schlechtes und hohles Imitat entlarvt. Für diesen akademischen Anspruch ist in 1

Dies führt unweigerlich zu Konflikten mit den vorgegeben Ruhezeiten und hierbei mit den Interessen meiner Mitbewohner. Sagte nicht einst Popper: Die Freiheit, mit der Gitarre herumzuklimpern, ist begrenzt durch die Empfindlichkeit der Ohren deines Nachbarn. Wie mühsam wahr.

Abb.: Kris Heidenreich, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

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Kris Heidenreich

meinem künstlerischen Wirken einfach kein Platz. Gerade aus dem Grund, weil es eben keinen weiteren Platz geben darf, außer dem Bewegenden, welches immer persönlich ist. Es wäre so, als würde ich, bevor ich wutentbrannt den Raum verlasse, mich noch einmal über die tagespolitischen Ereignisse in der Tageszeitung informieren wollen. Musik ist ein zu unmittelbares Medium, um wirklich genuin Gesellschaftskritik sein zu können. Zur Kritik bedarf es der Distanz, der rationalen Kälte, die gerade Musik- und Kunstschaffenden so fremd ist. Musik ist Passion, ist Leiden, ist emotionale Entäußerung, ist Tiefe, ist Witz, ist Bewegung. Wenn ich nun aber an der Gesellschaft leide? So sehr, dass ich verzweifle. Wäre das nicht der Moment zur Gitarre zu greifen und die Engel anzurufen mich zu trösten? Nicht die Gesellschaft zu kritisieren, sondern an ihr zu leiden, scheint mir meine Form der Kunst zu sein, die sich mit der Gesellschaft auseinandersetzt. Doch warum gehe ich damit an die Öffentlichkeit? Warum belasse ich es nicht einfach dabei, ein Lied geschrieben zu haben und es still in meinem Zimmer zu hegen und zu spielen, als Mahn- und Denkmal meiner persönlichen Krise? Als Ritus zur Balsamierung meiner verletzten Gefühle? Ist nicht gerade das Publikum ein Teil der Gesellschaft, an der ich leide, vor der ich in die Welt der Klänge flüchte? Vielleicht ist aber meine Musik, entsprungen dieser leidvollen Konfrontation, ein Weg und eine Möglichkeit, mit der Gesellschaft in Kontakt zu treten, mit ihr zu kommunizieren. Sie zu behandeln wie ein Gegenüber, zu dem man eine Beziehung hat. Ein Gegenüber möchte nicht immer nur kritisiert werden und so möchte eine Gesellschaft auch nicht immer nur kritisiert werden, sondern sie möchte vielleicht einfach nur wissen, wie es mir geht und was ich ihr zu sagen habe, was mich stört, was ich mir wünsche, was ich von ihr denke und was ich glaube, das ihr nicht gut tut und was ich an ihr schätze und lieb gewonnen habe. Vielleicht… Ich kann es ja versuchen und sehen wie sie, diese Gesellschaft, reagiert. Vielleicht reagiert dieses Gegenüber doch ganz anders als erwartet, wenn es mal nicht kritisiert wird, sondern ich ihr ehrlich sage, was mich verletzt.

ICH BIN NICHT FREMD. GESELLSCHAFTSKRITIK IN SLAM-POETRY UND POETRY-SLAM Rebecca Heinrich

EINLEITUNG Das erste Wort bricht die Stille. Fünf Minuten absoluten Zuhörens liegen vor dir. Die Blicke sind auf dich gerichtet, das Licht unterstreicht die bedeutsamen Worte, du siehst die Umrisse des Publikums vor dir. Was du erkennst: Gebannte Blicke, nachdenkliche Stirnfalten, Finger, die im Schoß geknetet werden. Mit dem Fortschreiten des Vortrags hört man Fingerschnippen, geflüsterte Worte, da ein Zwischenapplaus. Eine hat den Kopf zur Seite gelegt, der Mund steht offen, sie bemerkt es nicht, weil sich die Laute langsam zu Erkenntnis wandeln, weil die Erkenntnis enthüllt, karikiert, aufzeigt; und genau diese Demaskierung ist es, die mit dem, was ist, genau in diesem Raum, genau in diesen Personen, genau in diesen fünf Minuten, nachhaltig bricht. Fünf Minuten mögen kurz anmuten, aber sie sind es, die dann Abende füllen: Das Hinterfragen des Textes kreiert Fragen, die mit nach Hause genommen werden, also in den Privatbereich eindringen – den Kern der Gesellschaft. Zuerst sind es also nur Laute, die sich dann aber zu Wortkaskaden wandeln, die den Takt vorgeben: Der Inhalt ist dringlich, ist unumgänglich, ist kritisch; er bedarf einer Stimme, um gehört zu werden, er will gehört werden und als Künstlerin folge ich dem Nachdruck mit der Kraft meiner Performance – pathetisch, parodierend, persiflierend, kurz: Alle Möglichkeiten der Sprache, der Stimme und des Körpers ausschöpfend werden gesellschaftliche Ideologien, soziale Prozesse und scheinbare Gegebenheiten aufgegriffen, um dann mit dem Akt des Vortrages Widerstand zu leisten, die Wirklichkeit zu verändern, kurz: zu kritisieren. Das alles ist grundlegender Bestandteil von Poetry-Slam und Slam-Poetry, ist das englische Wort slam laut dem Cambridge Dictionary doch selbst schon ein Synonym von „kritisieren“.

EIN GESELLSCHAFTLICHES UND KRITISCHES MEDIUM Das Wort „slam“ verbindet die vier zusammenhängenden Begriffe „Poetry-Slam“, „Slam-Poetry“, „Slam“ und „Slam-Poet_in“. Ein Poetry-Slam ist ein literarischer Dichterwettstreit, bei dem selbstverfasste Texte in einem Zeitlimit von fünf Minuten von Slam-Poet_innen, also den Teilnehmer_innen eines solchen poetischen Wettstreits, vor einem Publikum vorgetragen werden. Im Anschluss an den Vortrag wird das Gehörte von einer Jury, die vorher im Publikum zufällig ausgewählt wurde, bewertet, um den_die Gewinner_in zu ermitteln. Es handelt sich also um einen literarischen Vortrag, der flüchtig und einzigartig ist, weil alle Slam-Poet_innen ihre Texte bei jedem Vortrag unterschiedlich in Szene setzen. So einen Text nennt

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Rebecca Heinrich

man Slam-Poetry (auch Slam-Text). Es steht den Vortragenden frei, welchen Inhalt oder welche Form er_sie für seinen_ihren Text wählen möchte: Ob in Prosaform, als Gedicht verfasst oder dramatische Szenen, ob spottender Spaß, emphatischer Ernst, kreative Kritik – die wichtigste Regel für Slam-Poetry ist, dass alles erlaubt ist. Dennoch sollte immer berücksichtigt werden, dass diese Texte medial schriftlich, aber mündlich konzipiert für das Medium Poetry-Slam bestimmt sind; also immer für die Performance vor einem Publikum. Genau das wird bei dem Verfassen von Slam-Poetry bereits mitbedacht: Die direkte Interaktion mit den Zuhörenden, die sofort Feedback auf den Vortrag geben sowie die Reflexion über die eigene Darbietung, also wie das medial Schriftliche dann mündlich performt wird. Slam-Poetry entsteht also in der Interaktion mit dem Publikum – und wird dann von demselben bewertet. Es findet „bei der Produktion und Rezeption von Slam-Poetry ein wechselseitig beeinflusster Lernprozess“1 statt, weil das Publikum durch den Vortrag mit neuen (kritischen) Inhalten konfrontiert wird, die einerseits gesellschaftliche Gegebenheiten aufgreifen, parodieren, kritisieren und andererseits die Poet_innen durch das Publikum Rückmeldung über ihre Performance erhalten und diese Resonanz dazu benutzen können, das eigene Werk wiederum kritisch zu hinterfragen. Das Publikum ist also zugleich Rezipient und literarische Jury; es ist erlaubt und ausdrücklich erwünscht, den Slammer_innen durch Rückmeldungstechniken, wie z.B. das Schnippen bei Zustimmung oder Zwischenrufe bei Ablehnung während des Vortrags, direkt zu signalisieren, was die Inhalte bei den Zuhörenden gerade emotional und intellektuell hervorrufen. Gerade bei gesellschaftskritischer Slam-Poetry wird somit bereits beim Vortrag spürbar, ob es ein Text schafft, Meinungen, die in einem spezifischen Publikum als Ausschnitt der Gesellschaft vorherrschen, zu hinterfragen bzw. zu bestätigen. Darin kann man auch die Abkehr von Lesungsformaten in Institutionen des Literaturbetriebs erkennen: Diese stellen Hürden, wie z.B. Selektionsprozesse durch als fachkundig akzeptierte Jurys oder eine vorausgesetzte Reputation. Um grundsätzlich an einem Poetry-Slam teilzunehmen, bedarf es hingegen keiner „Einreichkriterien“, sondern der Anmeldung am Abend der Veranstaltung. Zudem wird der eigene Text nicht vorab bewertet, sondern erst nach dem Vortrag. Es gelten keine von einer (Fach-)Gruppe festgesetzten Kriterien, sondern das Publikum als Ausschnitt der Gesellschaft entscheidet über die „Textgüte“. Daraus resultiert, dass Literatur einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wird, sowie mehr Personen literarisch aktiv werden. Auch wenn bestimmte Gesellschaftsschichten eine stärkere Affinität zu P ­ oetrySlams haben, ist es doch ein Format, in dem kritische Gedanken größere Teile der Gesellschaft erreichen und gesellschaftliche Zustände direkter kritisiert werden können, weil sie von einem breiteren Publikum als in klassischen Literaturinstitu­ tionen gehört und interaktiv mitgestaltet werden; die anschließende Debatte ist dabei ausdrücklich erwünscht, durch welche ein Diskussionsraum geboten wird, um über offengelassene Fragen gemeinsam zu reflektieren. Das macht Poetry-Slam zu einem 1

R. Schulze-Tammena: Slam Poetry, S. 5.

Ich bin nicht fremd

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gesellschaftlichen (weil sozial breiter zugänglichen) und kritischen (weil für das Üben von Kritik und für die Debatte über Kritik offenen) Medium.

SUBJEKTIVE UND INTERSUBJEKTIVE KRITIK DURCH SPRACHLICHES HANDELN AM ­BEISPIEL DES TEXTES ICH BIN NICHT FREMD Das vorher Erläuterte stellt den Hintergrund meines künstlerischen Schaffens als Slam-Poetin dar und damit den Kontext meines Slam-Textes Ich bin nicht fremd. In dem Text schildert eine Ich-Erzählerin ihren bisherigen Lebensweg bis zu dem Zeitpunkt des fiktiven Niederschreibens dieses Textes, von der Ankunft im „hier“, wo es „weh [tut], fremd zu sein“2, über den humorvollen Umgang mit erlebtem Rassismus als 17-Jährige bei ihrer Nebentätigkeit in einem Coffeeshop, bis zu ihrem Ausbruch aus den sie determinierenden Kategorien wie „Inländerin und Ausländerin“, den sie als 20-Jährige Studentin wagt3. So wird ihr Entwicklungsweg in der Auseinandersetzung mit der Ich-Konstitution beschrieben, bis zum Schluss der Versuch einer Identitätsbildung abseits von zugewiesenen und erlernten Kategorien durch das Einfügen des Negationspartikels im Ausruf: „Ich bin NICHT fremd“4 gewagt wird, der gleichzeitig eine protestierende Gegenrede darstellt. Dabei werden gesellschaftlich polarisierende Sujets wie Heimat-Zugehörigkeit bzw. als Gegenteil das Fremd-Sein (als Teil der Identität), Integration und das Denken in Binaritäten kritisch hinterfragt, um schlussendlich einen Lösungsweg in der Individualität bzw. der persönlichen Perspektive auf diskursive Struktur- und Klassifizierungsmechanismen anzubieten. Einerseits übt der Text subjektive Kritik, da es die Ich-Erzählerin ist, die über das Schildern ihrer Lebensgeschichte Kritik an herrschenden gesellschaftlichen Zuständen übt. In meinem künstlerischen Schaffen verfolge ich grundsätzlich das Konzept, Kritik durch solch einen subjektiven Ansatz, in diesem Fall über das Mittel einer glaubwürdigen autonomen Biografie, zu üben. Es geht im Text darum, über eine Introspektion zu demonstrieren, wie die Protagonistin innerhalb normativer Reglementierungen versucht, ihre Individualität zu erkämpfen: „Wie kann ich Inländerin und Ausländerin zugleich sein?“5 Die Ich-Erzählerin wird somit zur Identifikationsfigur für das Publikum, sie lädt dazu ein, sich empathisch in ihre Geschichte einzufühlen und dadurch einen Perspektivenwechsel zu vollziehen oder sich verstanden zu fühlen, je nachdem, wie sich die eigene Biografie gestaltet. Anhand der konkret geschilderten Rassismus-Erlebnisse mit ungeschönter, direkter Offenbarung des dabei Gedachten und Gefühlten wird es den Zuhörenden ermöglicht, die Sichtweise der Betroffenen auf konkrete Beispiele von Rassismus einzunehmen; der abstrakte Begriff wird somit greifbar gemacht und das Thema damit überhaupt erst vermittelund erzählbar. Da ich selbst keine Frau mit Migrationshintergrund bin, wurden für diesen Slam-Text die biografischen Erlebnisse und Gedanken einer solchen Person

2 3 4 5

R. Heinrich: Ich bin nicht fremd, S. 16ff. Vgl. ebd. Ebd., S. 18. Ebd., S. 17.

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herangezogen, um die konkrete Erfahrung vermitteln zu können und sich von einem „Sprechen über“ zu distanzieren. Darüber hinaus übt der Text aber auch intersubjektiv Kritik, weil er zunächst als Slam-Poetry das Publikum direkt in den Vortrag miteinbezieht. Während des Vortrags wird dem Publikum diese Biografie vermittelt und im wechselseitigen Prozess vollzieht sich bei den Zuhörenden ein Perspektivenwechsel (oder ein Verständnis). Die Identitätssuche der Protagonistin gestaltet sich zur gemeinsamen Recherche, die Antwortfindung wird zusammen erlebt, genauso wie ihre Kritik an den Erlebnissen und Binaritäten im Kollektiv in jedem Fall Gehör findet, bestenfalls zum Nachdenken und Nachvollziehen der Kritik anregt. In einem zweiten Moment wird aber ein mehreren Personen gemeinsames Bewusstsein kreiert, weil der Text mit präziser Sprache dem Publikum enthüllt, dass alle Zuhörenden (mehr noch: die Gesellschaft) Teil des Diskurses, also Betroffene (der Thematiken) sind. Dies wird schon in der Einleitung verdeutlicht: „Es [der Inhalt des Textes] beruht auf wahren Geschichten, die jeweils einem einzigen Menschen gehören und doch von vielen zusammen geschrieben, gezeichnet, geändert werden.“6 Der Text geht also davon aus, dass alle, die diesen Text hören, auch Teil der Thematik sind und gleichsam dazu aufgerufen werden, die behandelten Thematiken, vor allem aber rassistisch motiviertes (Sprach-)Handeln, kritisch zu hinterfragen, denn diese Geschichte „ist eine, die fast jeder hier kennt“7. So scheint die gewählte Form von Slam-Poetry für den Inhalt geeignet, da er für die Masse bestimmt ist, in der jedes Individuum Teil dieses Diskurses ist.

RESÜMEE In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, inwiefern das Medium Poetry-Slam als literarische Veranstaltung eine Plattform für gesellschaftskritische Literatur sein kann. Denn das Format definiert sich über die Durchlässigkeit und breitenwirksamere Zugänglichkeit per se als Kritik an gesellschaftlichen Zuständen: Poetry-Slam kann als Gegenentwurf zu klassischen Lesungsformaten des Literaturbetriebs bezeichnet werden. Schließlich wurde dargestellt, inwiefern der Slam-Text Ich bin nicht fremd vor diesem theoretischen Hintergrund und auf der Basis einer reellen Biografie subjektiv und in einem wechselseitigen Prozess durch konkretes Einbeziehen des Publikums intersubjektiv Kritik übt. Poetry-Slam als literarisches Format und Slam-Poetry als literarisches Genre ohne fixe Charakteristika weisen schließlich deshalb eine besondere Affinität für das Üben von Gesellschaftskritik auf, weil sie Medien sind, die per definitionem grundsätzlich frei von klassisch literarischen Normen sind, die aber kodifiziert sowie nicht kodifiziert den Literaturbetrieb bestimmen. Dies lässt einen gewissen Freiraum zu, aktuell polarisierende Themen zeitnah zu kommentieren oder zu kritisieren. Da zudem im Prinzip jede_jeder Slammer_in sein oder noch werden kann, bietet das Medium die Möglichkeit, Sprachrohr der Ideologien sowie Glaubensansätze der jeweils verschiedenen Gesellschaftsschichten zu sein – und diese dann zu bestätigen 6 Ebd., S. 16. 7 Ebd.

Ich bin nicht fremd

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oder zu kritisieren. Das sieht man gegenwärtig an den zahlreichen Slam-Texten von Personen ohne und mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit dem Rassismus-Diskurs. Dazu zählt auch dieser Slam-Text, der 2015 verfasst und nun 2017 mit gleich aktuellem, gesellschaftskritischem Inhalt vorgetragen wurde.

Abb.: Rebecca Heinrich, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

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BIBLIOGRAFIE Heinrich, Rebecca: „Ich bin nicht fremd“, in: &Radieschen. Zeitschrift für Literatur 42 (2017), S. 16–18. Schulze-Tammena, Reinhold: Slam Poetry. Sprechgedichte zum Performen; http://www. webcitation.org/5rStUdwoE?url=http://www.schule-bw.de/unterricht/paedagogik/ lesefoerderung/abenteuer/Texte%20und%20Materialien/text2.pdf

GLAUBE FREI? KONTROVERSEN UNSERER ZEIT Samuel Weigersdorfer und Luben Pavlov Cheshmedzhiev

Die Konzeption Glaube frei – Kontroversen unsrer Zeit des jungen österreichischen Komponisten Samuel Weigersdorfer ist als zweiteilige Struktur gedacht. Im ersten Teil wird ein von ihm verfasstes Gedicht rezitiert, während das Klavier einsetzt. Direkt anschließend erfolgt die rein instrumentale Interpretation des Textes in Musik für Geige und Klavier. Sein persönlicher, christlicher Glaube inspirierte dieses Werk. Gerade dieser Standpunkt fällt aus dem klassischen Diskurs der Gesellschaftskritik heraus. In den meisten Fällen wird religiöser Glaube im Kontext von gesellschaftskritischen Diskursen angegriffen. In diesem speziellen Fall wird die Situation verkehrt. Aus einer kritisierten Position heraus hinterfragt er die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und ihre unbewusste Adaptierung an ein gefühlskaltes System der Lieblosigkeit, in dem Gott immer weniger Raum gelassen wird: „In meinen Augen kann nur ein Weg der Liebe, der wahren Nächstenliebe zu einem friedvollen Miteinander führen. [...] Wenn ich mir diese Gesellschaft ansehe, sehe ich ein großes, sehr großes Defizit. Und dieses Defizit heißt: Liebe. Es braucht bedingungslose, aufopfernde Liebe zu all unseren Mitmenschen. Wahre Liebe füllt leere Räume. Sie verbindet Menschen und lässt Böses verschwinden. Jedes Lebewesen hat von Geburt an ein großes Bedürfnis, geliebt zu werden. Mit Liebe funktioniert ein Mensch erst richtig. In meinem Verständnis und Glauben, kann die Wissenschaft oder ein von Menschen ausgeklügeltes, logisches, sachliches oder technisch hochentwickeltes System allein diese Liebe nicht hervorbringen.“1 Luben Pavlov Cheshmedziev rezitierte das Gedicht und übernahm den Part der Violine. Sein Anspruch war dabei, beim Vortragen des Textes zu versuchen, die Gefühle, die das Gedicht erweckt, dem Publikum näher zu bringen. „Als Geiger war mir besonders wichtig, den Gefühlskeim des poetischen Textes in die Musik münden zu lassen. Meiner Meinung nach kann Musik, ähnlich der Sprache, Gefühle übermitteln und Gefühle beim Rezipienten verstärken. In diesem Sinne erschien mir die Idee des Komponisten, durch das Stück das Gefühl der bedingungslosen Liebe wiederzugeben, besonders faszinierend. Gerade in Zeiten, in denen die Nächstenliebe keinen Platz mehr findet, ist es die Aufgabe insbesondere der Kunst, die Menschen aus der Ohnmacht der Gefühlslosigkeit wachzurütteln. Ich bin davon überzeugt, dass die Kunst die feinste und zugleich effektivste Art ist, Gesellschaftskritik auszuüben.“2

1 2

S. Aaron/L. Cheshmedzhiev: Die Idee hinter „Glaube Frei“, S. 1–2. Ebd., S. 2.

292 Samuel Weigersdorfer und Luben Cheshmedhziev

PARADOXIEN UNSERER ZEIT Wir lieben frei – doch nicht bedingungslos Wir suchen Freiheit – im Hamsterrad Wir suchen Sinn – aber finden ihn nicht Wir suchen Liebe – und führen Krieg Wir erklären alles – doch wissen nichts Wir wissen alles – doch verurteilen unseren Glauben    Da draußen, unendliche Weiten des Alls die wir niemals erreichen Dort suchen wir nach Leben es muss doch jemanden geben Der zu uns steht uns nicht alleine lässt und einfach geht   Menschen werden immer danach streben den Sinn unserer Leben zu finden Doch, wollen wir die Wahrheit wirklich wissen? Wenn die Wahrheit vor uns steht, erkennen wir sie? Können wir sie denn erkennen?   Wir sind informiert – aber nicht gebildet Wir werden überschwemmt – mit Fluten derselben Meinung Wir hinterfragen kritisch – aber nur die Anderen Wir verurteilen die Faschisten – aber sind selbst eine von ihnen geworden Wir tolerieren – aber nur unsereiner Wir verurteilen Religionen – aber schenken Glauben der Wissenschaft, deren Päpste,  nur Menschen sind   Wir fühlen uns allen überlegen – doch laufen selbst nur blind blind im Hamsterrad, einer Welt ausgeliefert, die uns serviert wird mit engen Grenzen, die wir nicht im Stande sind zu überschauen, nicht in der Lage sind unsere Mitmenschen einfach nur… zu lieben… Denn… Wir lieben frei – doch nicht bedingungslos Wir suchen Freiheit – im Hamsterrad Wir suchen Sinn – aber finden ihn nicht Wir suchen Liebe – und führen Krieg Wir erklären alles – doch wissen nichts Wir wissen alles – doch verurteilen unseren Glauben   

Glaube frei?

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Abb.: Samuel Weigersdorfer und Luben Pavlov Cheshmedzhiev, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

BIBLIOGRAFIE Aaron, Samuel/Cheshmedzhiev, Luben: Die Idee hinter „Glaube Frei“, Unveröffentlichtes Manuskript 2017.

DAS KIND WACHT MORGENS FRISCH UND AUSGERUHT AUF. EINE MUSIKALISCHE IMPROVISATION ZU SAMPLE-EINSPIELUNGEN1 Klemens (Klex) Wolf

BLICK AUF DEN ENTSTEHUNGSPROZESS die einladung, bei der veranstaltung einen beitrag zu leisten, erschien für mein selbstverständnis als musiker gleichermaßen naheliegend wie schwierig und problematisch. es ist nämlich eine sache, in einem künstlerischen werk gesellschaftspolitische aspekte einzubringen, aber eine ganz andere sache, dies in einer veranstaltung zu tun, die das per definition verlangt. „nun kritisier doch mal! kann ja nicht so schwierig sein, was zu finden, was dir am herzen liegt“, schwirrte es in meinem kopf. es war aber schwierig. da waren so viele no-gos, die es zu umschiffen galt: den erhobenen zeigefinger, weltumspannende untergangsthemen (pathos-falle), katastrophenmusik (filmmusik-falle) oder bemüht kabarettistisches. also blieb lustig-ironisches bzw. humor, der nachdenklich macht und vielleicht auch erschreckt. nach einer phase der ziellos und unzufrieden herumstromernden gedanken war dann klar: es sollte kein kommentar meiner person zu einem thema werden, sondern in erster linie etwas abbilden, das durch sein schlichtes in-der-welt-sein die besucher_innen zum nachdenken, schmunzeln, erschrecken und vielleicht zur kritischen stellungnahme anregt. fündig wurde ich in meiner privaten fachbibliothek. fach­ bezogene texte, egal aus welchem gebiet, produzieren ja häufig ungewollte komik. als musiktherapeut habe ich, selten genug, aber doch immer wieder, mit psycholo­ gischen testungen zu tun. und daher befand sich im fundus ein heft, dessen inhalt zwar gekürzt, aber wortgetreu die basis der musikperformance werden sollte. um eine fast poetische wirkung zu erzeugen, entschied ich mich noch, einzelne sätze bzw. abschnitte zu wiederholen. daraus entstand der folgende text, der sich fast wie ein strophengedicht lesen lässt und sogar einen refrain aufweist. er wurde von sonja prieth gesprochen und aufgenommen und dann in großteiligen samples während der musikalischen improvisation eingespielt.

HANDANWEISUNG ZUR HAMBURGER VERHALTENSBEURTEILUNGSLISTE2 Einsatzbereich Mütter von Kindern im Alter von 7 bis 14 Jahren. Verwendung zur psychologischdia­g nostischen Befunderhebung vor allem in der Erziehungsberatung und bei schul­ psychologischen Fragestellungen. 1 der autor findet kleinschreibung praktischer, schöner, modern und außerdem immer noch schick nonkonformistisch, und daher genau passend zum thema. 2 H. Wagner: Hamburger Verhaltensbeurteilungsliste.

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Klemens (Klex) Wolf

Inhalt Die Hamburger Verhaltensbeurteilungsliste ist ein aus 41 Items bestehender Fragebogen, der von der Mutter, ggf. auch von einer anderen mit dem Kind gut vertrauten Bezugsperson, auszufüllen ist. Auf den vier faktorenanalytisch ermittelten Sub­skalen Dominanz, Vegetative Labilität, Gewissenhaftigkeit und Arbeitshaltung werden jeweils kindliche Verhaltensauffälligkeiten erfragt, die nach der Häufigkeit ihres Auftretens auf einer fünfstufigen Skala einzuschätzen sind. immer - häufig - gelegentlich - selten - nie.

Auszüge aus der Tabelle 1, Skala 1: Das Kind ist fügsam Das Kind schneidet auf Das Kind hat viele neue Wünsche Das Kind wird böse auf seine Eltern Das Kind ist selbstsüchtig Wenn es sein muss, ist das Kind bereit, auf bestimmte Wünsche zu verzichten Das Kind weiß alles besser I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x Das Kind weint unbeherrscht Das Kind benutzt Ausreden, um sich vor unangenehmen Aufgaben zu drücken Das Kind ist frech zu seinen Eltern Das Kind versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken Das Kind ist ungehorsam Das Kind ist vorlaut gegenüber Erwachsenen I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x Das Kind ist fügsam Das Kind schneidet auf Das Kind hat viele neue Wünsche Das Kind wird böse auf seine Eltern Das Kind ist selbstsüchtig Wenn es sein muss, ist das Kind bereit auf bestimmte Wünsche zu verzichten Das Kind weiß alles besser I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x

Auszüge aus der Tabelle 1, Skala 3: Das Kind behandelt seine Schulbücher sorgfältig Das Kind benimmt sich korrekt, auch wenn es nicht beaufsichtigt wird Das Kind ist faul

Das Kind wacht frisch auf

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Man kann dem Kind Pflichten übertragen Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x Wenn das Kind beim Spielen ist und die Eltern es rufen, kommt es sofort Das Kind führt seine Schulhefte sauber und ordentlich Das Kind tut sofort, was man ihm sagt Das Kind geht gern zur Schule Das Kind sagt die Unwahrheit I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x Das Kind behandelt seine Schulbücher sorgfältig Das Kind benimmt sich korrekt, auch wenn es nicht beaufsichtigt wird Das Kind ist faul Man kann dem Kind Pflichten übertragen Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf I: immer - häufig - gelegentlich - selten – nie :I 3x Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf

ÜBER DIE MUSIKPERFORMANCE dieser text ist keine literatur und dennoch war ich sofort von seiner struktur begeistert. die skurrile litanei evozierte in mir eine fülle von musikalisch-rhythmischen ideen und den wunsch, den inhalt kritisch zu hinterfragen sowie den impuls zum aufbegehren. clemens wechselberger (horn) und ich (geringfügig präpariertes klavier und sampler) brachten das stück zur aufführung. clemens gehört als improvisierender hornist zu einer seltenen spezies und ist der motor hinter zahlreichen bandprojekten, die auch häufig mit mitteln des humors und der ironie arbeiten. in der freien improvisation genießen und suchen wir beide gern das risiko der weitgehend spontanen performance. die einbindung des textes in eine musikalische improvisation zwischen clemens wechselberger und mir sollte ermöglichen, mit dem text zu spielen. denn spielen beinhaltet immer eine auseinander- und eine zusammensetzung im wörtlichen sinn. die musik war in der aufführung ihrer erscheinung nach abstrakt, flunkernd und leicht ironisch, aber nie melodramatisch oder anklagend. besonders reizvoll fand ich auch den kontrast der live gespielten musik und des davon völlig unbeeinflussten, weil zuvor aufgenommenen sprechtextes. wir hätten sonja prieth ja auch bitten können, auf der bühne zu lesen, aber das hätte die atmosphäre wesentlich verändert. durch das playback-verfahren entsteht der eindruck, dass der geschriebene text auf die bühne projeziert wird, gewissermaßen als ein akustisches foto. die musik ist der ironische kommentar.

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Klemens (Klex) Wolf

GEDANKEN ZUR REZEPTION offen bleibt natürlich, welche gedanken die aufführung bei den besucher_innen ausgelöst hat. ich kann dabei nur darauf zurückgreifen, wie ich den text selbst wahrgenommen habe und da gab es verschiedene phasen der rezeption. zunächst war ich von der fülle der forderungen, die an ein kind gestellt werden, um als „normal“ beurteilt zu werden, entsetzt. die fragen erinnerten an ein schiedsgericht, das nach einem gnadenlosen verhör darüber entscheidet, ob ein kind in unserer gesellschaft akzeptiert wird oder nicht. und ich nehme jetzt einfach an, dass es bei den meisten besucher_innen ähnlich war. auch eine abwertende haltung gegenüber psycholog_innen, denen solche fragebögen überhaupt einfallen, tauchte bei mir reflexartig auf. und dann war da noch die tatsache, dass der verlag den fragebogen seit jahrzehnten unverändert verkauft, wodurch manche formulierungen – vor allem was geschlechterrollen betrifft – nicht mehr zeitgemäß sind. ohne im voraus beurteilen zu wollen, wie das publikum die performance rezipieren würde, war es mir wichtig, ein paar möglichkeiten durchzudenken, z.B.: 1. viele der angeführten fragen vermitteln, dass wir von kindern sehr viel verlangen – ein hinterfragen dieser erwartungen beginnt. 2. außerdem setzt eine kritische auseinandersetzung über die anwendung, wirkung und kraft von sprache ein: selbst ein seriöses anliegen – hier der versuch, das verhalten eines kindes gründlich zu erfassen – kann pervertiert werden, wenn die textstruktur gewaltformen im weiteren sinne enthält. dabei ist es egal, ob sich diese sprachliche gewalt in der wortwahl oder auch nur in der formalen gestaltung und dichte wiederfindet. das wurde wohl auch vom herausgeber übersehen – aus meiner sicht ein häufiges problem bei psychologischen tests.

SOLL IRONIE FAIR BLEIBEN? es beschlichen mich allerdings auch leise skrupel bei der idee, diesen text zu persi­ flieren – war mir doch auch bewusst, dass ich in meiner arbeit als therapeut in eltern­ gesprächen selbstverständlich einige identische oder zumindest ähnliche fragen stelle, um über ein kind etwas zu erfahren. es ist ja relevant, ob das kind gut schläft, ob es in der schule erfolgreich ist, ob es sich von erwachsenen leiten lässt und dergleichen mehr. außerdem unterschlägt die performance-litanei, dass der herausgeber für den fragebogen eine aufwändige auswertung entwickelt hat. es sind also nicht alle fragen bzw. antworten gleichwertig in der gewichtung und niemand, der dieses heft mit verstand und herz verwendet, wird die gestellten fragen als forderungen missverstehen. trotz dieser gedanken und sorgen war ich dem text und seiner ironischen strahlkraft schlicht verfallen. fachliche fairness war da kein großes thema mehr. in seiner unmittelbaren wirkung, die er innerhalb der performance entwickeln sollte, wirft er wesentliche fragen auf, und das war für mich grund genug, meine skrupel zu überwinden.

Das Kind wacht frisch auf

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SOLL GESELLSCHAFTSKRITISCHE KUNST MÖGLICHST KLARE AUSSAGEN TREFFEN? beim durchlesen des bisher geschriebenen wird mir noch bewusst, dass es mir bei der gesellschaftskritischen konzeption eines neuen stückes wichtiger ist, „verstanden“ zu werden, als bei einer abstrakten komposition, die unter umständen sogar manchmal geheimnisvoll bleiben soll. aber es erscheint mir auch wichtig, dass die künstlerische gestaltung dabei nicht simplifizierend eindimensional wird. ironische provokation kann wahrscheinlich besser funktionieren, wenn sie auch risse und brüche aufweist.

Abb.: Klemens (Klex) Wolf und Clemens Wechselberger, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

BIBLIOGRAFIE Wagner, Harald: Hamburger Verhaltensbeurteilungsliste (HAVEL).. Fragebogen zur Erfassung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten durch Mütter, Göttingen: Dr. C.J. Hogrefe 1981.

POSTFAKTISCHE ZEITEN? HIP-HOP ALS SOZIAL- UND SYSTEMKRITIK Giga Ritsch und Mieze Medusa

Die Bühnenstimme Giga Ritsch bewegt sich zwischen Soul, Hip-Hop und Mundartlied. Giga „erzählt Geschichten“, wie sie über sich selbst sagt, „sie klagt an, sie feiert, sie kotzt sich aus. Sie liebt das Leben. Giga kennt kein ‚wurscht‘, weil Giga immer superlativ ist.“1 Sie verbindet Gesellschaftskritik dabei vor allem mit künstlerischer Selbstreflexion. Der noch unveröffentlichte Song deswegn entstand im Sommer 2015. Der zugrundeliegende Beat, bestehend aus Beat-, Streicher, und Klavierpart, stammt vom Linzer Künstler, Dichter und Rapper Selbstlaut, der selbst gerne gesellschaftliche Zustände anprangert.  Ihr Stück deswegn thematisiert in drängender Sprache eine persönliche Auf­ gerührtheit, in der sich das lyrische Ich in einem nie endenden Tagtraum zu befinden scheint. Sie behandelt dabei das unhinterfragte Vor-sich-her-leben der Menschen, den Kapitalismus, Tendenzen in der Informationsgesellschaft und thematisiert darüber hinaus die Motivation für ihr eigenes Schreiben.  

DESWEGN gebts ma a stickal papier und an stift dazua gebts ma mei klavier und a bissal natur wei nur daun geht’s ma guat, daun bin i komplett owa i darad vageh nahmadsd ma d’stimmbandln weg wei ois i mia aussi wü, egal um wos geht wei ois in mia wurlt, do gibt’s nix wos steht  des schlechte muas weg, damits in mia ned vagärt und des guate muas aussi, damit sa se vamehrt   (Ref.) und deswegn und deswegn  und deswegn  und deswegn    und deswegn kaun i ned aufhern zum schreiben  und deswegen kaun i ned aufhern zum schrein  und deswegen muas i di ernsthoft frogn

1

Eigenaussage von Giga Ritsch; https://gigaritsch.wordpress.com/page-1-test/

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Giga Ritsch und Mieze Medusa

is da wurscht in wöche richtung wia de xöschoft hinjogn? ignorierst du de verantwortung oda kaunstas nur ned trogn?   es feut mi aun wie wia umadum schwimman  und stott lösungen imma nur vazögerungen findn  mei kopf duat ma weh und mei stirn de hod foitn i kaun ma des ned vorstöhn das des so vü aushoitn owa se san betäubt vom entertainment-programm und griagns ned mit, dass längst olle sklaven san vo ana varrucktn, grauslichen göd-moch-maschinerie und in dem system, do gibt’s ka empathie   i kauns ned glaum und i wüs ned vasteh  i kauns ma ned erklären, i wü das des vorbei geht i wü das morgn auf da titelseitn steht „de wöt hod rebelliert und de ormut is weg“   da hümmi wird blau, meine augn san schwa meine finga san dick und mei glasl is laa i glaub imma nu daran dass mas do aussa schaffn  owa ned waun ma so weida olle nochn göd raffn    (Ref.)   i renn durch de stodt und kenn mi nimma aus de kurvn wiad grod und i leg mi drauf bis mi ana findt und frogt ob i spinn  warum i des bring, er siacht do kann sinn    owa i stuipa weida, so wia a jeda i werd nimma gscheida, i werd imma nur bleda  bis es wida so weid is und i mi fost auspeib  und es nimma aushoid und nochn stift greif    i kaun ned aufhern zum schreiben  i kaun ned aufhern zum schrein  i kaun ned aufhern  i kaun ned aufhern  Giga Ritsch performte diesen Song zusammen mit Mieze Medusa am Veranstaltungsabend So klingt Kritik. Mieze Medusa kennt man in Österreich bereits in einem anderen Kontext: Gemeinsam mit tenderboy und Violetta Parisini gewann sie mit dem Song

Postfaktische Zeiten?

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Nicht meine Revolution den FM4-Protestsongcontest 2007. 2017 wurde sie zusammen mit tenderboy erneut unter die besten 10 dieses Contests gewählt.2 Bereits seit 2003 treten Mieze Medusa und tenderboy zusammen auf. Man verbindet das Duo mit kritischen Texten und durchdachten Beats. Dabei beweisen sie, dass auch zeitgenössischer Hip-Hop eine sozialkritische Ausdrucksform sein kann, dass Hip-Hop Kultur ist.  In ihren Songs versehen sie Gesellschaftskritik dabei mit einer Portion Optimismus und Hoffnung, denn „nur weil man sich ärgert, muss man ja nicht gleich schlechte Laune haben“3. Mit dieser Aussage greift Mieze Medusa einen Gedanken der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie auf, die im TED-Talk We should all be feminists4 betont, dass nicht nur Zorn, sondern auch Hoffnung zu positiven Veränderungen beitragen kann. In der ersten Zeile des Songs Danke, dass du deengssd wird dieser Gedanke eingespielt. Im Refrain des Tracks wird außerdem auf den Begriff „postfaktisch“ – das Wort des Jahres 2016 – rekurriert. Dabei wird folgende Aussage Angela Merkels eingespielt: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für die Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.“5

DANKE, DASS DU DEENGGSD  „Anger has a long history of bringing about positive change. But, in addition to being angry, I’m also hopeful.“ (Chimamanda Ngozi Adichie)     Dieses fuckkleine Stück Glück   so stabil, wenn die Sonne scheint,   doch ist Wesentliches ungewiss und sind die Fragezeichen viele   hat die Weisheit ein Gesicht, dessen Kinn nach unten zeigt,   bis die Stimmung kellertief ist. Wo ist oben? Wo ist Himmel?   Wo ist das, was positiv ist? Wo ist Boden? Wo ist Stimme?   Wo ist Frohsinn? Wo ist Liebe? Du liegst schief,   wenn das Tief deine Sicht bestimmt und Fokus ist.   Und dann die Wut und das Gefühl von dem Gewurl und dem Gewühl,   das dir die Eingeweide unterkühlt, jeden Hoffnungsschimmer runtertrübt.   Ich frag mich woran’s liegt, wenn die Liebe Soulfood ist,   kennt die Welt zur Zeit, dein Tiefkühlpizza-Ich.   Dabei ist alles gut. Alles Wohlfühl. Alles Liebe. 

2

3 4 5

Der FM4-Protestsongcontest wurde anlässlich des 70. Jahrestag der Februarunruhen des Jahres 1934 von dem Theaterwissenschaftler Gerald Stocker, Rabenhof-Intendant Thomas Gratzer und dessen  Chefdramaturg Roman Freigaßner 2004 initiiert, um kritischen Musikveranstaltungen mehr Aufmerksamkeit zu geben. Eigenaussage von Mieze Medusa und tenderboy; https://miezemedusaandtenderboy.bandcamp. com Siehe dazu https://www.youtube.com/watch?v=hg3umXU_qWc vom 12.04.2013. Vgl. o.A.: Merkel und das postfaktische Zeitalter.

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Giga Ritsch und Mieze Medusa

 Doch du findest nur die Wut, nur das Kalte, nur das Trübe   Das Problem unser Zeit? Wir sind unfassbar alarmbereit,   treiben in dem Newsfeed einer Flut, in der die Welt schreit     (Ref.)  Bitte bitte nicht so (dog) dogmatisch   Bitte bitte nicht so (post) postfaktisch   bitte bitte nicht taktlos taktisch   danke, dass du denggsd   Bitte bitte nicht so (dog) dogmatisch   Bitte bitte nicht so (post) postfaktisch   bitte bitte nicht taktlos taktisch   danke, dass du denggsd   Du hast recht: die Welt ist ziemlich undurchschaubar   Ja es stimmt, in Medien war schon mehr Vertrau’n da   jetzt ist jeder Sender, schau ma, ob das schlau war   du willst Veränderung erzwingen doch wählst den korrupten Clown da?   Du hast recht: Es ist alles nicht so einfach.   Ist schon wahr, dass wenig Sinn doch vieles Reim macht   du willst die Faust heben, und hörst nicht, wer da reinlacht   du willst das alles anders wird, doch du machst es dir zu einfach.   Reiß dich zsammen, reiß dich zsammen, find den Faden, find den Faden   mal dir einen Plan auf deine Hand, du kannst den Blindflug wagen   Schlimm, dass alle alttestamentarisch von der Sintflut labern   statt den Apfel der Erkenntnis einfach anzunagen     „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten.“ (Angela Merkel)    (Ref.)  Erstens ist es wichtig, dass wir zweitens nicht vergessen   das wir drittens in der Pflicht sind, einen kleinen Teil der Welt zu retten   Schau auf dich, doch vergiss nicht, es gibt viertens soviel andere,   Menschen, Dinge, Lebewesen, es ist fünftens relevant zu reden UND zu handeln   Also Mülltrennen, Mülltrennen, Datenschutz, Datenschutz   Gewaltentrenn’, Gewaltentrennung, Artenschutz, Artenschutz   Recht auf Asyl und Mutterschutz, Mutterschutz   Der Laden nebenan zahlt die Steuern, die wir brauchen,   für den Wohlstand, den wir kennen, und noch: Virenschutz, Virenschutz   Es geht um alles oder nichts, dass ist Mordor gegen Auenland   Es geht um uns, wir fordern L’age D’or für alle und wir bauen dran

Abb.: Mieze Medusa und Giga Ritsch, 2017, Innsbruck: Die Bäckerei – Kulturbackstube

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Giga Ritsch und Mieze Medusa

BIBLIOGRAFIE o.A.: „Angela Merkel und das postfaktische Zeitalter. Die Kanzlerin und die Macht der Worte“, in: rp online vom 24.09.2016; http://www.rp-online.de/politik/deutschland/ angela-merkel-und-das-postfaktische-zeitalter-die-kanzlerin-und-die-macht-deswortes-aid-1.6283541

NACHWORT Konstantin Wecker

Ich finde es sehr ermutigend, wenn junge Studentinnen sich der Kunst als gesellschaftskritischem Medium widmen, denn kaum etwas erscheint mir für Kulturschaffende und Wissenschaftler_innen in diesen gefährlichen Zeiten wichtiger, als Stellung zu beziehen. Poesie und Widerstand durfte ich in vielen Konzerten erleben. Und mittler­weile bin ich mir sicher: Poesie ist Widerstand. Wir müssen aussteigen aus diesem verrückten Denksystem. Lass dich anstecken, steig aus, greif dem Rad in die Speichen: Verweigert euch! Widersteht! Meine Hoffnung ist beileibe keine blutige Revolution Blut kann man nicht mehr rein waschen, es bleibt für immer Blut. Meine Hoffnung ist eine Revolution des Geistes, eine zärtliche Revolution, die niemanden hasst, sondern alle mitzunehmen versucht. Ein anderes, wirklich neues Denken ist gefragt, das man nicht groß studieren muss, das sich von selbst ergibt, wenn man dem „marktgerechten“ Wahnsinn das Prunkgewand abstreift, das er sich übergestülpt hat, um uns zu imponieren: ein Kleid aus Nippes und Tüll alles Camouflage! Dieses andere Denken erfahren wir, wenn wir lernen mit dem Herzen zu denken. Tief in uns selbst verborgen ist es, dieses Denken und die Poesie hilft uns den Weg dorthin zu entdecken.

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Konstantin Wecker

Warum eine Revolution der Zärtlichkeit? Weil wir die Harten und Unerbittlichen,  die Mächtigen und Uneinsichtigen, die Herrschenden und uns Beherrrschenden nie mit ihren eigenen Waffen schlagen werden. Ihrer ist das Weltenreich  und ihrer ist das Wissen  um die Beherrschung der Todesinstrumente, des Kriegerischen,  des gewalttätigen Kampfes.  Ihrer ist das Wissen  um Bestechung und Unterdrückung, Gewinnmaximierung und Unterschlagung. Angst macht ihnen die Poesie,  nicht die Gewalt. Angst macht ihnen was sie nie erfahren haben: Zärtlichkeit und Liebe. Davor und nur davor kapitulieren sie. „Die Welt soll durch Zärtlichkeit gerettet werden“, schreibt Fjodor M. Dostojewski. Das Zarte ist als Begriff in der deutschen Sprache  seit dem Mittelhochdeutschen beheimatet  und bedeutete als Verb soviel wie:  „berühren“,  „sich vorsichtig nähern“. Nur durch dieses „Berühren“, diese „vorsichtige Annäherung“, nur durch zärtliches Denken und Handeln, können wir uns wieder als Gemeinwesen entdecken, eben nicht als gemeine Wesen,  sondern als Wesen einer Gemeinschaft, bis wir erkennen, dass uns im tiefsten Inneren nichts trennt, dass wir eins sind und zusammen.

AUTORINNEN UND AUTOREN

VERONIKA BERTI Dr., studierte Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck und absolvierte 2014 ein weiterbildendes Studium für Kunstkritik und kuratorisches Wissen an der Ruhr-Universität Bochum. Sie unterrichtet seit 2000 Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign an der Höheren Technischen Lehranstalt Bau & Design in Innsbruck. Darüber hinaus ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Mode und Design.

IRMGARD BIBERMANN Mag., ist AHS-Lehrerin, Gestalt- und Theaterpädagogin sowie Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck für Fachdidaktik Geschichte. Außerdem ist sie im Bereich des politischen und biografischen Theaters federführend: Sie ist Mitarbeiterin bei _erinnern.at sowie Gründungsmitglied von spectACT – Verein für Politisches und S­ oziales Theater. Seit 1995 führt sie Regie im Amateur_innenbereich, seit 1998 entwickelt und leitet sie Theaterpädagogiklehrgänge mit Schwerpunkt auf politischem, sozialem und emanzipatorischem Theater. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Zeitzeug_inneninterviews im Unterricht, Theater als Lern- und Experimentierraum für politisches und soziales Handeln und der szenischen Handlungsforschung.

MICHAELA BSTIELER BBA, studiert Philosophie sowie Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Universität Innsbruck. Sie war als studentische Mitarbeiterin an unterschiedlichen Instituten, u.a. im Bereich der Medien- und Gesellschaftsforschung, psycho­sozialen Intervention und Kommunikationsforschung und Philosophie an der Universität Innsbruck beschäftigt. Ihre wissenschaftlichen Interessen liegen im Bereich der Phänomenologie, der Kultur- und Sozialphilosophie, der Psychoanalyse und der Wissenschaftstheorie.

NOELIA BUENO-GÓMEZ Lic. phil, MA, Dr. phil, ist seit 2017 an der Universität Oviedo beschäftigt. 2012 erwarb sie den Dr. in Philosophie an der Universität Oviedo. Der Titel ihrer Dissertation lautet „Individual Identity in Hannah Arendt’s Thought: from Political Action to Biographical Storytelling“. 2013 bekam sie ein Post-doc Stipendium der Slowakischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Ethnologie, von 2013 bis 2014 ein DAAD Postdoc Stipendium am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Göttingen. Von 2014–2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

Kultur- und Sozialphilosophie, Bioethik, Philosophie der Politik und des Rechts und Anthropologie. Publikationen u.a.: Acción y biografía: de la política a la historia. La identidad individual en Hannah Arendt, Valencia: Tirant lo Blanch 2017.

LUBEN PAVLOV CHESHMEDZHIEV BA., schloss 2013 eine deutsche PASCH-Schule mit Auszeichnung ab, parallel studierte er Geige an der Musikschule. Er ist u.a. Sieger im Wettbewerb der Union of Bulgarian Musicians and Dancers und im Geigenwettbewerb des Vereins der Musikund Kunstschulen in Sofia. 2012 initiierte er u.a. ein Musikprogramm mit Schwerpunkt „Ethnomusik“ am internationalen Kulturprojekt Donau verbindet des DAAD und Goethe Instituts. 2017 absolvierte er in Innsbruck den Bachelor für Musikwissenschaft. Außerdem ist er im Veranstaltungsbereich und als Journalist für tanz.at tätig.

GERHARD DONHAUSER PD Dr. Dr. Dr., ist Dozent, Jurist und Autor. Er studierte Rechtswissenschaften, Philosophie/Literaturwissenschaften und Geschichte/Politikwissenschaft. Er habilitierte sich in Philosophie mit den Schwerpunkten in Politischer Philosophie und Rechtsphilosophie. Seine Forschungsschwerpunkte reichen aktuell von Politischer Theorie, Ideengeschichte und Rechtsphilosophie über Psychoanalyse, philosophischer Religions­kritik und feministischer Theorie bis zur Erkenntnistheorie. Darüber hinaus lehrt er an den Universitäten Klagenfurt und Wien und ist freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hans-Kelsen-Institut in Wien. Publikationen u.a.: Wer hat Recht? Eine Einführung in die Rechtsphilosophie, Wien: new academic press 2016.

KURT DREXEL Univ.-Prof. Dr., studierte Musikwissenschaft und Pädagogik und lehrt seit 1994 am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Er veröffentlichte Werke u.a. zur Ideologiegeschichte der Musik, zur Geschichte der Instrumentalmusik und zur Musikgeschichte Tirols. Zwischen 1999 und 2008 war er in Zusammenarbeit mit Monika Fink Projektleiter und Herausgeber der dreibändigen Musikgeschichte Tirols. Publikationen u.a.: „Rudolf von Ficker. Die Gründung des Innsbrucker musikwissenschaftlichen Instituts und der Beginn einer Karriere vor dem Spannungsfeld der politischen Umbrüche zwischen 1918 und 1945“, in: Lukas Christensen, Kurt Drexel und Monika Fink (Hg.), Rudolf von Ficker 1886-1954, Innsbruck: innsbruck university press 2012.

MONIKA FINK Ao. Univ.-Prof. Dr., studierte Klavier, Musikwissenschaft, Romanistik und Kunst­ geschichte. 1982 absolvierte sie die staatliche Lehrbefähigungsprüfung für Klavier. 1992 habilitierte sie sich in Musikwissenschaft, seit 1997 ist sie als Universitäts­ professorin am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck beschäftigt. Seit 2013 ist sie außerdem Studiendekanin der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Musikgeschichte des

Autorinnen und Autoren

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19. bis 21. Jahrhunderts, Programmmusik, Bild-Musik-Beziehungen sowie Tanz- und Sozial­geschichte. Publikationen u.a.: Musik nach Bildern. Programmbezogenes Komponieren im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck: Helbling 1988.

LENA GANAHL BSc, BA, ist Kuratorin, Archivarin und Autorin im Bereich der modernen und zeit­ genössischen Kunst und Architektur. Sie studierte Architektur, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft an der Universität Innsbruck. Sie arbeitete für die Tiroler Landesmuseen, die Galerie im Taxispalais, die Galerie Krinzinger, die Universität Innsbruck. Aktuell ist sie im Kunstraum Innsbruck beschäftigt.

GIGA RITSCH Sigrid Horn ist (Sprech)Sängerin, Slam-Poetin und Autorin. Ihre Bühnenfigur bzw. alter ego Giga Ritsch studiert „Ottakringer Studien“ in Ottakring und unterrichtet Mostviertlerisch für Interessierte. Der interkulturelle Dialog ist ihr ein Anliegen, weshalb sie auch die Veranstaltung in Innsbruck besuchte. 2016 veröffentlichte sie ihre EP Giga bei Rufzeichenrecords, welche u.a. auf Bandcamp, Spotify und iTunes zu erhalten ist, um der Müllproduktion in Form von Plastik-CDs entgegenzuwirken. Sie war Host des Seewiesenfest-Poetry-Slams, tritt regelmäßig bei Veranstaltungen in und um Wien auf und gibt Poetry-Slam Workshops. 

GITARMONIKA TRIO Die Band besteht aus den drei Musikern Tobias Egger, Marc Perin und Stefan Pfattner, die in mehreren Konstellationen leidenschaftlich und berührend miteinander spielen und zusammen im In- und Ausland auftreten. Darüber hinaus bilden zwei der drei Musiker auch noch das Duo Perin & Barbarossa, das Fingerstyle-Gitarre mit Stei­ rischer Harmonika kombiniert. Gitarmonika Trio hingegen bringt auch noch Gesang und eine Portion Reggae mit ins Spiel bzw. ergänzt den Sound mit einer Mischung aus Folk, Funk und Flamenco. Perin & Barbarossa brachten bislang die zwei Alben Isle 2 Isle (2016) und Free to choose (2017) heraus und gewannen 2016 den Nord- und Südtiroler Talentwettbewerb UploadSounds.

CHRISTIAN GLANZ Ao. Univ.-Prof. Dr, studierte Musikwissenschaft und Geschichte in Graz und schloss seine Dissertation mit dem Titel „Das Bild Südosteuropas in der Wiener Operette“ 1988 ab. 2007 habilitierte er sich im Fach Historische Musikwissenschaft. Derzeit ist er am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien beschäftigt. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Musik und Politik, der Person Gustav Mahler und Hanns Eisler. Publikationen u.a.: Hanns Eisler. Werk und Leben, Wien: Edition Steinbauer 2008; Richard Wagner und Wien. Antisemitische Radikalisierung und das Entstehen des Wagnerismus. Herausgegeben von Hannes Heer, Christian Glanz und Oliver Rathkolb, Wien: Hollitzer 2017.

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

KRIS HEIDENREICH ist Student der Philosophie und Psychologie in Innsbruck und Musiker. Er arbeitet konstant an unterschiedlichen musikalischen Projekten sowie an eigenen essayis­tischen Experimenten. So initiierte er in der Universitätspfarre Innsbruck den Gebetsabend PrayInn und den Spieleabend Spiele, Tanz und Gloria, engagiert sich musikalisch bei dem Loretto-Gebetskreis Innsbruck und spielt E-Gitarre in der Lobpreisband Taste of Glory und in der Vocal-Jazz-Combo Mavallá die Akustik-Gitarre.

REBECCA HEINRICH ist Autorin, Lyrikerin, Slam-Poetin und Schauspielerin. Sie studiert Pädagogik, Romanistik und Germanistik an der Universität Innsbruck. Sie ist Teil des Künstlerinnenkollektivs dreiundzwanzigminuseins, des Slam-Teams Keine halbe Beschreibung und nahm an zahlreichen Slam-Meisterschaften teil: 2014, 2015 und 2017 war sie Starterin bei den österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften, 2014 und 2015 Teilnehmerin an den deutschsprachigen U-20-Poetry-Slam-Meisterschaften. 2016 nahm sie an der französischen Poetry-Slam Nationalmeisterschaft Slam So What in Paris teil. 2016 war sie Vertreterin Österreichs beim deutsch-französischen Slam de Lux in Luxemburg. 2014 und 2016 wurde sie für den Lyrikpreis des Südtiroler Künstlerbundes (Bozner Autorentage) nominiert. Publikationen u.a. in Literaturzeitschriften wie &radieschen und Cognac & Biskotten. 2018 erschien der erste Slam-Poetry-Band in der Edition BAES.

BARBARA HUBER Mag., studierte Grafik, Malerei, Medientheorie, Philosophie und Pädagogik an der Hochschule Mozarteum Salzburg und der Universität Innsbruck. Sie arbeitet als freischaffende Künstlerin in Innsbruck. Seit 2006 hat sie unterschiedliche Lehraufträge u.a. an der Hochschule MCI Innsbruck im Bereich arts & media, an der Universität Innsbruck zum Thema Video : Kunst : Wissenschaft und auch am Medienkolleg Innsbruck im Bereich der Videoproduktion und Medientheorie. Ausstellungen u.a.: Falsch ist richtig. Wirklichkeit als performativer Prozess, Künstlerhaus Büchsenhausen (2014); Erst als der Käfig Farbe bekannte, Galerie Eboran (2013).

ELISABETH HUBMANN BBA, hat Musikwissenschaften und Altertumswissenschaften in Innsbruck studiert. Ihre künstlerische Ausbildung in den Fächern Orgel und (Hammer-)klavier absolviert sie am Konservatorium Innsbruck und Amsterdam. Neben ihrer Konzerttätigkeit engagiert sie sich kulturell und aktivistisch unter anderem in künstlerischen Kooperationsprojekten, im Bereich der Konzertorganisation, bei Filmfestivals und Orgelwettbewerben.

Autorinnen und Autoren

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SANDRA HUPFAUF Dr., ist am Institut für Musikwissenschaft an der Universität Innsbruck tätig. Sie beschäftigt sich im weitesten Sinne mit dem „Volkslied“ als Spiegel der Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Ihre Publikationen widmen sich politischen Liedern in Tirol um 1800 und dem weitgehend unbekannten Phänomen der Tiroler Nationalsänger. Aktuell forscht sie im Rahmen des FWF-Projektes „Tirolerei in der Schweiz“ über die Ursachen für die unterschiedlichen Entwicklungen des Jodelns in der Schweiz und Tirol. Für die österreichische Musikzeitschrift Concerto schreibt sie regelmäßig über Jazz, improvisierte Musik und neue Volksmusik. Publikationen u.a.: Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848. Herausgegeben von Thomas Nußbaumer und Brigitte Mazohl, Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2013.

MARKUS KOSCHUH ist Kabarettist und Poetry-Slammer. Seine Studien der Germanistik und Sprachwissenschaften hat er beide erfolgreich abgebrochen. Erste Bühnenerfahrung sammelte er Mitte der 1980er-Jahre. 2010 und 2011 gewann er die Österreichische Poetry-Slam-Meisterschaft und wurde zudem Vize-Europameister im Poetry-Slam. Begleitend und immer politischer werdend wendete sich Koschuh dem Kabarett zu. Agrargemein (2012–2013) gilt als das erfolgreichste Kabarett. Publikationen u.a.: Koschuhs Kugelschreiber – das Buch, Innsbruck: Studia Verlag 2011.

LUKAS LADNER BA, arbeitet als freischaffender Filmemacher in Innsbruck. Er studierte Regie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und schließt 2017 mit dem Kurzfilm Treibgut ab, der 2017 während der 14. Provinziale in Eberswalde seine Premiere feierte. Sein künstlerisches Schaffen schließt ein breites Feld von Musik über Theater bis zum Film ein. 2012 übernahm er die Schauspielführung von Akhtamar – die 2000jährige Oper, 2015 fertigte er Projektionen für das von Katrin Jud inszenierte Theaterstück Grillenparz an und 2017 drehte er den Trailer für das 26. Internationale Filmfestival in Innsbruck. Allen seinen Arbeiten gemein ist dabei ein beständiges Erkunden von formalen und strukturellen Grenzbereichen.

RAPHAEL LEPUSCHITZ Mag., ist Mediendesigner, Programmierer und Musiker in Innsbruck. Er studierte Philo­sophie und Informatik und ist seit 2009 im Organisationsteam des Philoso­ phischen Cafés Innsbruck tätig. Neben seinem politischen Engagement als Gemeinderat und ehemaligen Bezirkssprecher der Innsbrucker Grünen beteiligt er sich an diversen künstlerischen, politischen und zivilgesellschaftlichen Projekten. Außerdem ist er seit über 20 Jahren als Sänger, Keyboarder und Schlagzeuger in zahlreichen Bands aktiv. Beruflich betreibt er eine Werbeagentur.

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

DAJANA MEHADZIC BA, studiert Philosophie und Geschichte an der Universität Innsbruck. Seit 2018 ist sie als Mitarbeiterin am ZeMIT an der Erstellung des Dokumentationsarchivs Migration DAM beteiligt und kuratiert Ausstellungen, die sich mit Erinnerungskulturen auseinandersetzen. Außerdem hat sie sich in den letzten Jahren an diversen Kultur-, Film- und Theaterprojekten beteiligt, u.a. am Film Treibgut (2010). Überdies war sie Darstellerin bei der Lyrikperformance Unter dem Schnee (2016) und bei dem Theaterstück Requiem für Don Quichote (2010).

MIEZE MEDUSA Doris Mitterbacher ist (Sprech)Sängerin, Slam-Poetin, Autorin und Herausgeberin. Als Mieze Medusa zählt sie zu den Größen der österreichischen Hip-Hop- und PoetrySlam-Szene. Sie organisiert und moderiert seit 2004 verschiedene Poetry-Slam-Formate wie u.a. den ältesten Wiener Poetry Slam textstrom und den KULTUM Poetry Slam in Graz. 2002 wurde sie mit ihrem Text MussJa AllesInklusive Sein zur Siegerin des FM4-Wortlaut-Literaturwettbewerbs gekürt. Im Jahr 2007 gewann sie gemeinsam mit tenderboy und Violetta Parisini mit dem Track Nicht meine Revolution den FM4-Protestsongcontest. Ihr erster Roman Freischnorcheln erschien 2008. Von 2007 bis 2012 betrieb sie die Wiener Lesebühne Dogma Chronik Arschtritt mit Markus Köhle und Nadja Bucher. Mit Yasmo formt sie das Poetry-Slam-Team MYLF.

CHRIS MOSER arbeitet als Künstler, Autor und politischer Aktivist in Tirol. Der gelernte Bildhauer präsentiert seit 1994 regelmäßig Ausstellungen im deutschsprachigen Raum. Seit 2005 arbeitet er außerdem als Betreuer an der freien Schule Lernwerkstatt Zauberwinkl in Wörgl. Er wurde 2008 und 2009 aufgrund von Performanceaktionen zusammen mit weiteren Akteur_innen wegen §188, „Herabwürdigung religiöser Lehren“ und 2009 außerdem wegen §124, „Herabwürdigung des Staates und seiner Symbole“ aufgrund eines Kunstfilms angezeigt. Zeitgleich, d.h. 2008 in seiner Gefangenschaft und 2009 in den Prozessvorbereitungen, war er Betroffener des §278a-Verfahrens gegen die österreichische Tierrechtsbewegung. Seit 2010 hält Chris Moser verstärkt öffentliche Vorträge an der Universität Innsbruck oder an der Pädagogischen Hochschule Tirol.

LUCAS NORER MA, studierte Kommunikations- und Mediendesign am Medienkolleg Innsbruck und Bildende Künste/Experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität Linz. Er arbeitet als freischaffender Künstler in Wien. Seit 2004 ist er Teil des Künstlerkollektivs FAXEN gemeinsam mit Clemens Mairhofer und Sebastian Six. In seiner Arbeit beschäftigt er sich vor allem mit Klang und Raum. Ausstellungen u.a.: Stereotypen, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (2018); When Amplified Architecture Becomes Aether, Andechsgalerie Innsbruck (2017); Listening Post, Lentos Kunstmuseum Linz (2015).

Autorinnen und Autoren

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ANDREAS OBERPRANTACHER Assoz.-Prof.  PD Mag. Dr., ist am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck tätig. Er habilitierte sich im Fach Philosophie mit dem Titel „‚Illegale‘. Momente einer politischen Theorie gesellschaftlicher Indifferenz“. Hauptsächlich engagiert er sich in den Bereichen Politische Theorie, Ästhetik, Sozialphilosophie sowie Technik- und Medienphilosophie. Seit 2015 ist er am Forschungszentrum Migration und Globalisierung und seit 2016 als Mitglied des Doktoratskollegs Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung beteiligt. Publikationen u.a.: Subjectivation in Political Theory and Contemporary Practices. Edited by Andreas Oberprantacher and Andrei Siclodi, Basingstoke: Palgrave Macimillan 2016.

DENISE PÖTTGEN BBA, studierte Archäologie, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft an der Universität Innsbruck. Sie ist als Kuratorin und Galerieassistentin im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst, u.a. in der Galerie im Taxispalais und der Galerie ­R homberg tätig.

CHRISTINE S. PRANTAUER Mag., studierte Malerei an der Akademie der bildenden Künste und besuchte die Medienklasse an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Sie arbeitet als freischaffende Künstlerin in Innsbruck und als Lehrbeauftragte an der HTL für Bau & Design und der Universität Mozarteum. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind digitale Montagen und Projekte im öffentlichen Raum. Ausstellungen u.a.: Raison d’agir, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (2012); Cella. Strukturen der Ausgrenzung und Disziplinierung, Complesso monumentale Rom (2009).

SARAH MILENA RENDEL BA, ist Autorin und Regisseurin. Sie studierte Erziehungswissenschaften und war u.a. als (Fakultäts-)Studienvertreterin und Mandatarin der Universitätsvertretung tätig. 2015 leitet sie den Innsbrucker Kunst- und Kulturverein Soliarts, der politisches und aktivistisches Theater fokussiert. Seit 2016 absolviert sie eine Ausbildung zur Theater­ pädagogin. Theater- und Filmprojekte u.a.: Trilogie Alle[s] verloren (2015), Alle[s] anders (2016), Alle[s] gut (2016) sowie das Theater Kein Dreck (2017) und Brennen (2018), ein erdogan-kritisches Theaterstück, das in Deutschland und Österreich zur Aufführung kommt.

XENIA RESSOS Ass.-Prof. Mag. Dr., studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Pädagogik an der Universität zu Köln und der Université Paris-Sorbonne (Paris IV). Von 2005 bis 2010 war sie als wissenschaftliche Volontärin und freie Mitarbeiterin am Museum für Angewandte Kunst in Köln tätig. Von 2007 bis 2008 arbeitete sie parallel

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

projektgebunden bei Prof. Dr. Christian Tümpel in Hamburg. Sie promovierte 2011 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn über „Ikonographie und Ikonologie von ‚Samson und Delila’. Darstellungen in der Kunst von Mittelalter und Früher Neuzeit“. 2012 kam sie als Universitätsassistentin an die Universität Innsbruck und ist dort seit Dezember 2016 als Assistenz-Professorin beschäftigt.

SILJAROSA SCHLETTERER BA, ist Veranstalterin und Autorin. Sie studierte Musikwissenschaften an der Universität Innsbruck. Sie arbeitet als studentische Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft, schreibt Rezensionen und Kritiken in verschiedenen Print- und Online-Magazinen und verfasst Lyrik. Ihre wissenschaftlichen Interessen liegen im Bereich Intermedialität und dem Spannungsfeld von Musik und Politik.

ANDREI SICLODI Mag., ist Kurator, Autor, Herausgeber und Kulturarbeiter. Er ist Direktor des Künstlerhaus Büchsenhausen in Innsbruck und Gründungsleiter des dort stattfindenden Fellow­ship-Programms für Kunst und Theorie. Er studierte Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck und interessiert sich dabei vor allem für Formen kritisch-emanzipatorischer Wissensproduktion in der Kunst sowie für deren Verhältnis zu anderen Wissensdispositiven. Ausstellungsprojekte u.a.: Die Gegenwart in Rückspiegeln betrachten, Kunstpavillon der Tiroler Künstler*schaft (2017); Gareth Kennedy: Eine unbequeme Wissenschaft, Tiroler Volkskunstmuseum (2016–2017). Er ist Herausgeber der Publikationsreihe Büchs’n’Books – Art and Knowledge Production in Context. Weitere Publikationen u.a.: Subjectivation in Political Theory and Contemporary Practices. Edited by Andreas Oberprantacher and Andrei Siclodi, Basingstoke: Palgrave Macimillan 2016.

CRAZY MISTER SKETCH ist ein urbaner Künstler aus Innsbruck und arbeitet hauptsächlich großflächig mit Sprühdose. Neben privaten Aufträgen setzt er zahlreiche freie Arbeiten im öffent­ lichen Raum um. Dabei ist er europaweit aktiv und konnte bereits in 36 Städten und in 15 Ländern Projekte umsetzen. Er arbeitete an größeren Projekten im Raum Innsbruck und Umgebung, z.B. an den Murals in der Pema-Unterführung Innsbruck, an den Murals in der Unterführung an der Universitätsbrücke Innsbruck sowie an der großflächigen Gestaltung einer Lawinengalerie am Stubaier Gletscher in Tirol.

ESTHER STRAUSS MMag. MA, studierte an den Kunstuniversitäten in Linz und Bristol. Sie arbeitet als freischaffende Performance- und Sprachkünstlerin in Wien, London und Innsbruck. Seit 2015 lehrt sie an der Kunstuniversität Linz mit dem Schwerpunkt Art Writing. In ihren Taten und Texten untersucht sie die Möglichkeiten des poetischen Handelns im öffentlichen und privaten Raum. 2014 bekam sie den RLB Förderpreis. 2016 erhielt sie das Hilde-Zach-Stipendium der Stadt Innsbruck. 2018 erhielt sie den Förderpreis des Landes Tirol für zeitgenössische Kunst. Performances u.a.: This darkness ist not

Autorinnen und Autoren

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exclusive. This darkness is as much yours as it is mine, Colour out of Space Festival (2016); Dreams yet to dream, Sigmund Freud Museum London (2015).

BORIS TRAUE Dr., ist Soziologe und Musiker. Er studierte von 1996 bis 2002 Soziologie an der Freien Universität Berlin. Studienbegleitend absolvierte er Kurse in Jazzpiano und Ensemble bei Joe Haider an der Jazzschule Berlin. Von 2000 bis 2004 war er Pianist der Berliner Jazz-Amateur-Formation Herzausreißer Trio. 2008 promovierte er in Soziologie und arbeitete als Soziologe an der Technischen Universität Berlin, der University of London sowie an der Leuphana Universität Lüneburg. Zurzeit ist er Vertretungsprofessor für Allgemeine Soziologie und Theorie moderner Gesellschaften an der Technischen Universität Berlin. Seit 2016 ist er Posaunist im Innsbrucker StreetNoise Orchestra. Publikationen u.a. „Communication Regimes and Creativity“, in: Marc Jacobs, Hubert Knoblauch, René Tuma (Hg.), Culture, Communication, and Creativity – Reframing the Relations of Media, Knowledge and Innovation in Society, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2018.

ANDREA UMHAUER Mag., ist Musikerin, Theaterpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin. Sie studierte Pädagogik mit dem Schwerpunkt „Kritische Geschlechter- und Sozialforschung“ in Innsbruck und ist Flötistin des Kollektivs StreetNoise Orchestra. 2009 besetzte sie als eine von Vielen die Aula der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Innsbruck und arbeitete als Teil der Pressearbeitsgruppe an der Vermittlung von aus der Besetzung entstandenen bildungspolitischen und gesellschaftstheoretischen Ideen. Ihre Interessensschwerpunkte liegen in der Selbstorganisation von Gruppen, feministischen, anarchistischen und existentialistischen Theorien und der Bedeutung von Kunst als widerständige Praxis. Publikationen u.a.: „Die (Un)Möglichkeit von gewaltfreiem Widerstand“, in: Hans-Martin Schönherr-Mann (Hg.), 100 Years After: System, Geschichte, Struktur, Performanz einer politisch ökonomischen Theorie, Norderstedt: Books on Demant 2018.

PETER VOLGGER Ass.-Prof. MMag. Dr., arbeitet als Lehrbeauftragter am Institut für Architekturtheorie und forscht am Institut für Gestaltung an der Universität Innsbruck. Seit 2014 ist er Lehrbeauftragter am Institut für Raumplanung der Universität Liechtenstein. Seine Forschung konzentriert sich auf trans-urbane Phänomene. Insbesondere beschäftigt er sich mit dem Einfluss von Migration auf die Stadtentwicklung, mit den Auswirkungen post-politischer und post-demokratischer Verhältnisse auf die Architektur und mit Medientheorie. Peter Volgger arbeitet auch mit der Arbate-Asmara-Gruppe zusammen, die ihre Arbeit der Erforschung der italienischen Kolonialarchitektur in Eritrea und dem Aufbau eines UNESCO-Weltkulturerbes in Asmara/Eritrea widmet. Außerdem arbeitet er am Zentrum für Migration und Globalisierung in Innsbruck und der kulturhauptstadt 2024-Initiative in Wien mit.

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

FRANZ WASSERMANN arbeitet als freischaffender Künstler in Wien. Er beschäftigt sich mit Machtstrukturen der Gesellschaft und untersucht das Wechselspiel zwischen Macht und Ohnmacht, Individuum und Kollektiv. 1994 erhielt er den Anerkennungspreis Trend Art. 2001 bekam er das Österreichische Staatsstipendium. 2003 wurde er mit dem Preis für Integration und Zivilcourage für das Kunstprojekt Schubhaft ausgezeichnet. Außerdem erhielt er den Förderpreis für bildende Kunst des Landes Tirol 2007. Ausstellungen u.a.: Teilnahme an der EXPO in Lissabon 1998 und an der 6. Internationalen Biennale Sharjah. Kunst im öffentlichen Raum u.a.: Heldenplatz Anarchie/Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’“, Wien (2015), Me, Myself and I, Saskatoon/Kanada (2016) und Pro Libertate Anarchia/Lass mich weinen, Innsbruck (2017).

KONSTANTIN WECKER ist Liedermacher, Schriftsteller, Schauspieler und Komponist. Er studierte Klavier-, Geige und Komposition an der  Musikhochschule München, sowie Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Psychologie. Der Durchbruch gelang Konstantin Wecker 1977 mit der Ballade Willy und dem Album Genug ist nicht genug. Er veröffentlichte zahlreiche LP- und CD-Produktionen, darunter Liebesflug (1981), Vaterland (2001) und Ohne Warum (2015). Konstantin Wecker veröffentlichte Lyrikbände, Romane, schreibt Theater- und Bühnenmusiken sowie Filmmusik und Kindermusicals. Er setzt sich in Liedern, Texten und Interviews für Außenseiter der Gesellschaft, Zivilcourage, Pazifismus und Antifaschismus ein. Für sein politisches Engagement wurde Konstantin Wecker 1995 mit dem Kurt-Tucholsky-Preis und 2007 zusammen mit Eugen Drewermann mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet. Darüber hinaus erhielt er 2016 den Erich-Mühsam-Preis und den deutschen Kleinkunstpreis. 2018 wurde er für sein musikalisches Engagement gegen rechte Gewalt und für sein aktives Wirken in der Flüchtlingshilfe mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichnet.

SAMUEL WEIGERSDORFER arbeitete immer wieder im kulturellen Bereich. Unter anderem leitete er einige Zeit einen Schulchor, war Orchesterwartsgehilfe in der Volksoper und arbeitete in der Filmbranche. Die Kenntnisse des Klavierunterrichts baute er auf autodidaktischem Wege aus und eignete sich dadurch Fertigkeiten im Bereich der Improvisation und Komposition an. Dies führte zu zahlreichen Solo-Auftritten bei privaten Veranstaltungen.

KLEMENS (KLEX) WOLF lebt und arbeitet in Tirol als Musiker, Komponist, Musiktherapeut in eigener Praxis und Musikpädagoge. In seiner Werkliste finden sich Orchester- und Kammermusik, Sololiteratur, Theatermusik und pädagogische Musik. Als Instrumentalist bevorzugt er die freie Improvisation. CD-Veröffentlichungen u.a. vom Tiroler Kammerorchester InnStrumenti und mit dem Improvisationsduo Fransen Musik.

Autorinnen und Autoren

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???AFFE!!! der Innsbrucker Street-Artist und -Literat lebt seit seiner Geburt im Dschungel der Großstädte, wie etwa Berlin, Paris, New York, L.A., Havanna, Innsbruck etc. Er hat ferner Aus- und Weiterbildungen in allen unscham- und namhaften Bewusstseins­ erweiterungssituationen zelebriert. Er ist seither Verfechter ausschweifenden Kunst­ rausches, ein kosmopolitischer Fragensteller und internationaler Einflüsterer exzessiver Ausprägung. Aufritte, Aktionen und Performances im In- und Ausland sind Teil seines Werkens und Wirkens. Im pyjamaguerilleros*-Verlag sind bislang zwei hochpoetische, punkige und grafisch sehr gelungene Poesie-Alben erschienen: hymne an die sinne (2013) und jahr des affen (2016).

ABBILDUNGSNACHWEISE

Andreas Oberprantacher | Kunst und Kapital: eine leidenschaftliche Affäre Abb.1: Padmayogini / Shutterstock Abb.2: BasPhoto / Shutterstock

Peter Volgger | Ist Architektur widerständig? Das Ready-made als kritische Taktik in der zeitgenössischen Architektur Abb.1: Sue Stokes / Shutterstock Abb.2: Mario Hagen / Shutterstock Abb.3: Wikimedia

Xenia Ressos | „Rembrandt als Erzieher“. Symptomatik und Paradoxon einer Künstlerrezeption im Zeitalter des Kulturpessimismus Abb.1: Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck Abb.2: Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck Abb.3: Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck Abb.4: Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck

Irmgard Bibermann | Theaterpädagogik: der ästhetische Raum als Lern- und Experimentierfeld Abb.1: Shabanali Wafadar / Ahmadi Abb.2: Shabanali Wafadar / Ahmadi

Sandra Hupfauf | Werkzeuge der Unterdrückten - Schubarts „Volkslieder“ in Tirol um 1800 Abb.: Tiroler Landesmuseen Ges.m.b.H., Bibliothek, Dip 595/85.

Christian Glanz | Hanns Eisler – Musik als Politik Abb.1: Christian Glanz Abb.2: Eisler, Hanns: Lieder und Kantaten, Band 4. Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Sektion Musik, Leipzig: Breitkopf & Härtel Musikverlag o.J. (1955), S. 80.

Veronika Berti | Zwischen Affirmation und Widerstand - Mode als Medium zur Gesellschaftskritik Abb.1: Wikimedia Abb.2: Daniela Lederer

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

Noelia Bueno-Gómez | Die künstlerische Gesellschaftskritik im Zeitalter des Internets Abb.1: Dilomprizulike Abb.2: Jeanne Menjoulet / flickr

Andrei Siclodi | Unscharfe Bilder: Künstlerische Investigation und Dokumentarismus Abb.1: Brigitta Kuster und Moïse Merlin Mabouna Abb.2: Brigitta Kuster und Moïse Merlin Mabouna

Lukas Ladner | Ein schwangeres Nichts für den Film: Überlegungen zu einer narrativen Ästhetik abseits der Traditionen Abb.1: Lukas Ladner Abb.2: Lukas Ladner Abb.3: Torsodog / Wikimedia

Andrea Umhauer und Sarah Milena Rendel | Wir gehen hier nicht weg! Kunst und Widerstand am Beispiel der Unibrennt-Bewegung Abb.1: SoWi-Max / flickr Abb.2: SoWi-Max / flickr Abb.3: SoWi-Max / flickr

Chris Moser | Politische Kunst zwischen Galerie, Gericht und Gefängnis Abb.: Laura Hochgründler

Kurt Drexel, Noelia Bueno-Gómez, Raphael Lepuschitz, Franz Wassermann | Variablen der Ästhetik: Kunst im Zeichen der Globalisierung und Medialisierung Abb.1: Gernot Schwendinger / Franz Wassermann Abb.2: Gernot Schwendinger / Franz Wassermann

Michaela Bstieler, Lena Ganahl, Elisabeth Hubmann, Denise Pöttgen, Siljarosa Schletterer | Einleitung I Abb.1: Lena Ganahl Abb.2: Lena Ganahl

Barbara Huber | Presumed Consent – Überlebensstrategien in einem hochintegrativen System Abb.1: Barbara Huber Abb.2: Barbara Huber

Dajana Mehadzic | Selbstbild und Fremdbild: von der Kunst als Spiegel der Gesellschaft und ihrer Bewertung durch die Öffentlichkeit Abb.: Lukas Ladner

Abbildungsnachweise

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Lucas Norer | Oh sea, just let me cross over: Musikalische Spuren zwischen Flucht und Migration Abb.1: Lena Ganahl Abb.2: Lucas Norer

Christine S. Prantauer | Urban texture: Griechische Graffitis als internationale Agora Abb.1: Christine S. Prantauer Abb.2: Christine S. Prantauer

Crazy Mister Sketch | Meine formelle Entschuldigung: Urbane Kunst im Spannungsfeld von (sozialer) Öffentlichkeit und Privatsphäre Abb.: Michaela Bstieler

Franz Wassermann und Esther Strauß | Kunst vs. Politik? Zu glauben, Kunst sei unpolitisch, ist ein Trugschluss Abb.1: Robert Fleischanderl / Franz Wassermann Abb.2: Robert Fleischanderl / Franz Wassermann Abb.3: Lena Ganahl

Andrea Umhauer und Boris Traue | Streetnoise ist mehr als das Summen seiner Teile. Künstlerische und politische Motive eines musikalischen Kollektivs Abb.: Sebastian Eder

???affe!!! und Perin Barbarossa | Artischocktherapie: Eine assoziativ-kritische Street-Art-Lese-Musik-Performance Abb.: Sebastian Eder

Markus Koschuh | Landes(un)üblicher Empfang: Eine Protest-Performance Abb.: Sebastian Eder

Kris Heidenreich | Gedanken eines halbgaren Musikers zur Gesellschaft als Ganze Abb.: Sebastian Eder

Rebecca Heinrich | Ich bin nicht fremd. Gesellschaftskritik in Slam-Poetry und Poetry-Slam Abb.: Sebastian Eder

Samuel Aaron und Luben Cheshmedzhiev | Glaube frei? Kontroversen unserer Zeit Abb.: Sebastian Eder

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

Klemens (Klex) Wolf | Das Kind wacht morgens frisch und ausgeruht auf. Eine musikalische Improvisation zu Sample-Einspielungen Abb.: Sebastian Eder

Mieze Medusa und Giga Ritsch | Postfaktische Zeiten? (Mundart-)Hip-Hop als Sozialund Systemkritik Abb.: Sebastian Eder

Wir haben uns intensiv bemüht, die Rechte für die einzelnen Abbildungen zu verfolgen und zu wahren. Sollte es trotzdem zu unbeabsichtigten Versäumnissen gekommen sein, entschuldigen wir uns im Voraus und würden uns freuen, die passende Anerkennung in einer folgenden Ausgabe einzusetzen.

PERSONENREGISTER

Verweise auf Abbildungen sind kursiv gesetzt.

A Abenthung, Joseph 87 Adichie, Chimamanda N. 303 Adorno, Theodor W. 17, 39, 114, 142, 262 Agamben, Giorgio 19, 129, 226 Akaba, Bisselé 165, 168, 169 am Rhyn, Otto H. 59 Arendt, Hannah 147, 148, 169, 213 Arndt, Ernst M. 85

B Baacke, Dieter 173 Bach, Johann S. 105 Banksy 21, 22, 23, 24, 207, 208, 213 Basquiat, Jean-Michel 23 Baudrillard, Jean 23, 49, 52 Becher, Johannes R. 114, 115, 116 Becker, Rudolph Z. 90, 91 Benjamin, Walter 19, 32, 145 Berardi, Franco 259 Berg, Alban 112 Bernays, Edward 258 Bernstein, Leonard 114 Bertolucci, Bernardo 147 Beuys, Joseph 12, 21, 223 Biermann, Wolf 261 bin Laden, Osama 122, 201 Blitzstein, Marc 112 Bloch, Ernst 113 Boal, Augusto 74, 78, 81 Boltanski, Luc 24, 25, 26, 28 Bötticher, Paul A. 60 Bourdieu, Pierre 162 Brando, Marlon 147 Brassaï 22, 23

Brecht, Bertolt 17, 73, 102, 113, 114, 115, 116, 173, 174, 198 Brentano, Clemens 91, 94 Brunn, Heinrich 59 Brus, Günter 203 Büchner, Georg 199 Bujalski, Andrew 176 Busch, Ernst 111

C Camus, Albert 191 Canisius, Petrus 124 Casavola, Franco 104 Cassavete, John 176 Catalano, Bruno 150, 151 Chaplin, Charlie 114 Chiapello, Ève 24, 25, 26, 28 Chion, Michel 175 Claudius, Matthias 86 Cobain, Kurt 138 Cocq, Frans B. 63 Copland, Aaron 114 Cromwell, Oliver 62 Cutts, Steve 152, 153

D D’Annunzio, Gabriele 104 Danto, Artur 38 da Vinci, Leonardo 30 DBC Pierre 21 de Graaf, Reinier 35, 49 de Lagarde, Paul 59, 60 Deleuze, Gilles 226 Deren, Maya 175, 184 de Rivera, José A. P. 149

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Kunst als gesellschaftskritisches Medium

de Robespierre, Maximilien 128 Dessau, Paul 115 Diazs, Al 23 Didi-Huberman, Georges 169 Dilomprizulike 148, 149 Dostojewski, Fjodor M. 308 Dragset, Ingar 40, 41, 42 Dreier, Horst 122 Duchamp, Marcel 38, 39, 41, 50, 223 Dudow, Slatan 111 Duncan, Isadora 136 Dürer, Albrecht 30

E Eco, Umberto 52 Ehrenberg, Alain 29, 30 Eisenman, Peter 39 Eisler, Elfriede 109 Eisler, Gerhart 109 Eisler, Hanns 19, 102, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116 Eisler, Ida M. 109 Eisler, Rudolf 109 Elmgreen, Michael 40, 41, 42 Enzensberger, Hans M. 173 Eribon, Didier 189 Erikson, Erik H. 126, 127 Eugen, Carl 89 Export, Valie 203, 208, 210

F Field, Syd 175 Fisher, Mark 30, 31 Flöge, Emilie 137 Foucault, Michel 19, 27, 121 Franco, Francisco 149 Freigaßner, Roman 303 Freud, Sigmund 29 Freundlich, Otto 202 Fritsch, Theodor 68

G Gänsbacher, Johann B. 87 Gassner, Johann J. 89 Gastev, Aleksei 103 Gautier, Théophile 17 Gehry, Frank 38 Gernreich, Rudi 141, 142 Godard, Jean-Luc 179 Goebbels, Joseph 258 Gogos, Manuel 245 Goldbeck, Eva 112 Götsch, Georg 101 Gramsci, Antonio 40 Gratzer, Thomas 303 Grosz, George 199, 202, 204 Guarinonius, Hippolytus 124, 125, 126 Guevara, Che 204, 208 Gursky, Andreas 37

H Haden, Charlie 111 Haider, Karl 60 Halm, August 101 Han, Byung-Chul 184 Händel, Georg F. 105 Hanslick, Eduard 92 Haydn, Joseph 94 Hegel, Georg F. W. 92 Heidegger, Martin 233, 236 Heine, Thomas T. 200 Helnwein, Gottfried 152 Hensel, Walter 101 Herder, Johann G. 94, 99 Hesse, Hermann 200 Heydrich, Reinhard 114 Hindemith, Paul 101, 102, 111 Hitler, Adolf 104 Hochhuths, Rolf 77 Hofer, Andreas 85, 201, 202 Hofer, Franz 277, 278 Holiday, Billie 112 Holl, Maria 120

Personenregister

Holloway, John 217 Hotho, Heinrich G. 62 Huntington, Samuel 127

I Imesch, Kornelia 44

J Jagger, Mick 208 Janet, Pierre 29 Jencks, Charles 38 Jöde, Fritz 100 Judd, Donald 41

K Kafka, Franz 120 Kant, Immanuel 17, 152, 281 Kawakubo, Rei 138, 139, 139 Keil, Richard 86 Keil, Robert 86 Kestenberg, Leo 101 Kiyonaga, Torii 182, 183 Klimt, Gustav 137 Kolloff, Eduard 62 Konfuzius 85 Koolhaas, Rem 35, 36, 37, 39, 41, 45, 46, 47, 48, 49 Koons, Jeff 39 Kracauer, Siegfried 173, 174 Kramer, Heinrich 120 Kraus, Karl 109 Kubin, Alfred 199 Kuen, Christian 75 Kugler, Franz 62 Kuster, Brigitta 165, 166, 167, 167, 168, 169

L Lang, Fritz 114 Langbehn, Julius 18, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69 Le Corbusier 46, 48

329

Leibl, Wilhelm 60 Leibniz, Gottfried W. 172 Lenin, Wladimir I. 103 Lennon, John 106 Lenz, Jakob M. R. 199 Levin, Julo 202 Lissitzky, El 46 Lukács, Georg 113 Luther, Martin 62, 115 Lyotard, Jean-François 36

M Mabouna, Moïse M. 165, 166, 167, 168, 169 Machiavelli, Niccolò 124 Mailer, Norman 23 Malevich, Kasimir 46 Manet, Edouard 223 Martins, Raimundo 148 Marx, Karl 24, 112 Mascelli, Joseph V. 175 Mayakovsky, Vladimir 103 McCartney, Paul 106, 214 McKee, Robert 175 McLuhan, Marshall 214 Meeropol, Abel 112 Meier, Sid 178 Melville, Herman 225 Mendelssohn, Jakob L. F. 105 Merkel, Angela 303, 304 Merkel, Reinhard 121, 122, 128 Misik, Robert 37 Miyazaki, Hidetaka 178 Moffitt, Peggy 141, 142 Mosen, Julius 62 Mozart, Wolfgang A. 105 Mr. Brainwash 21, 22, 23, 32 Muehl, Otto 198, 203 Müller, Jürgen 62 Mussolini, Benito 104 Muthesius, Anna 136 Muthesius, Hermann 136

330

Kunst als gesellschaftskritisches Medium

N

S

Nancy, Jean-Luc 28 Nebreda, David 152 Nestroy, Johann 116 Neumann, Carl 65 Nietzsche, Friedrich 59, 60, 62, 262 Nissen, Momme 60

Sachs, Tom 37 Salomon, Charlotte 202 Sanborn, John 50 Sartre, Jean-Paul 17 Schalkova, Malvina 202 Schewe, Martin 60 Schiele, Egon 202 Schneider, Maria 147 Schönberg, Arnold 101, 109, 110, 112, 115 Schopenhauer, Arthur 233, 281 Schostakowitsch, Dimitri D. 115, 116 Schreiber, Horst 74, 75 Schubart, Christian F. D. 19, 86, 87, 88, 90, 92, 93, 94 Schultze-Naumburg, Paul 136 Schumpeter, Joseph A. 24 Schwartzman, Allan 23 Schwarzen, Emil 86 Seger, Linda 175 Sen, Amartya 127 Shakespeare, William 62, 125 Sherman, Cindy 143 Shonibare, Yinka 143 Silone, Ignazio 112 Simmel, Georg 140 Smail, David 30 Somol, Robert 39 Sontag, Susan 19, 150, 212 Steiner, Rudolf 136 Steyerl, Hito 31, 32, 160, 161, 162, 163, 169 Stocker, Gerald 303 Strauss, Richard 104 Strindberg, Johan A. 60 Superstudio 46 Swyngedouw, Erik 44

O O’Doherty, Brian 41 Olschewski, Malte 203 Ottwalt, Ernst 111

P Palitzsch, Peter 73 Parisini, Violetta 302 Pels, Andries 64 Pfitzner, Hans 102 Picasso, Pablo 207, 209, 210 Pilgrim, Richard B. 183 Piscator, Erwin 77 Pius XII 77 Popper, Karl 282 Prada, Miuccia 37, 39 Pudor, Heinrich 136

Q Qu, Mond 50, 52

R Ramsay, Hans 166 Rancière, Jaques 35, 39, 45, 262 Ranisch, Axel 176 Reckwitz, Andreas 37, 45 Reichardt, Johann F. 91, 94 Rellstab, Felix 80 Resnais, Alain 116 Rhein,Boris 259 Rolling Stones 97, 106, 208 Rubens, Peter P. 57

T Tanizaki, Jun’ichirō 179 Tanzer, Sepp 277 Tarkowski, Andrei 184 Trivas, Victor 111 Tucholsky, Kurt 111, 116

Personenregister

U

Z

Usteris, Johann M. 86

Zeh, Juli 19, 119, 120 Zenghelis, Elia 46 Žižek, Slavoj 51 Zühlke, Anne 77 Zukin, Sharon 26, 27

V van Beethoven, Ludwig 62 van der Rohe, Mies 46 van der Velde, Henry 137 van Rijn, Rembrandt H. 57, 60, 62, 63, 64, 64, 65, 66, 66, 67, 68, 68, 69 Virno, Paolo 29, 30 von Arnim, Achim 91, 94 von Bismarck, Otto 61, 62, 69 von Gerlach, Helmut 59 von Goethe, Johann W. 115 von Sandrart, Joachim 65 von Seidlitz, Woldemar 60 von Treitschke, Heinrich 68 Vosmaer, Carel 65

W Wachowski, Andy 51 Wachowski, Lana 51 Warhol, Andy 38, 48, 207, 213, 214 Weber, Max 24 Wedekind, Frank 200 Weerasethakul, Apichatpong 184 Weibel, Peter 203 Weill, Kurt J. 102, 111 Weiss, Peter 77 Weissman, Dick 261 Welzenbacher, Lois 271 Weßling, Stephan 77 Whistler, James M. 223 Whiting, Sarah 39 Wiener, Oswald 202 Wigman, Mary 136 Wilhelm II 61 Wyss, Beat 140

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Über diesen Code bzw. Link sind die Aufnahmen der Performances nachzuhören: https://bit.ly/2HBOTZx

Kunst- und Bildwissenschaft Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)

Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3

Heike Engelke

Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson Oktober 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7

Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen Oktober 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Juli 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)

Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Juli 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4

Monika Leisch-Kiesl, Max Gottschlich, Susanne Winder (Hg.)

Ästhetische Kategorien Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie Juni 2017, 440 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3591-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3591-5

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