Kunst als Medium psychodynamischer Therapie mit Jugendlichen [1 ed.] 9783666405754, 9783525405758


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Kunst als Medium psychodynamischer Therapie mit Jugendlichen [1 ed.]
 9783666405754, 9783525405758

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Gerd Lehmkuhl / Ulrike Lehmkuhl

Kunst als Medium psychodynamischer Therapie mit Jugendlichen

V

Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Gerd Lehmkuhl/Ulrike Lehmkuhl

Kunst als Medium psychodynamischer Therapie mit Jugendlichen

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 21 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40575-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Paul Klee, Enterprise, 1938/Bridgeman Images © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2 Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung . . . . . . . 19 3 Zur Funktion künstlerischen Gestaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1 Kreativität, Phantasie und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2 Kunst als Entwicklungsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4 Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten . . . . . . . . . 49 4.1 Kunst und soziale Medien im therapeutischen Prozess . . . . 49 4.2 Kunst als Erfahrungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5 Kunst – ein Weg zur Identitätsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.1 Der narrative Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5.2 In Beziehung treten: Selbst- und Fremdwahrnehmung . . . . 60

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6 Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs . . . . . . . . . 63 6.1 Wie kommt die Kunst in die Psychotherapie? . . . . . . . . . . . 64 6.2 »Die meisten halten am Leiden fest« – klinische Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 7 Fazit: Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

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Inhalt

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrund­lagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 60 bis 70 Seiten je Band kann sich der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen. Themenschwerpunkte sind unter anderem: ȤȤ Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung. ȤȤ Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet­ 7

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basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen. Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen. Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie. Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Kunst eröffnet den meisten Menschen einen Bedeutungsraum, in dem der Gestaltungswille für das eigene Leben angeregt und gestärkt wird. Kunst besitzt damit die »Funktion eines therapeutischen Mediums« (Botton und Armstrong, 2013), das den Zugang zum Eigenen erlaubt. Authentische Gefühle, Wünsche, Phantasien und Hoffnungen können sich ausbreiten. Die sozialen Fassaden und zwischenmenschlichen Regeln brechen auf und machen einer Selbstentfaltung Platz, die Neuausrichtungen und Perspektivenwechsel ermöglicht. Kunst und psychodynamische Psychotherapie verfolgen somit vergleichbare Zielsetzungen: die Auseinandersetzung mit tiefen emotionalen Erfahrungen bis hin zu seelischen Verletzungen und die Erarbeitung von Lösungen für unlösbar scheinende Konflikte. Die individualpsychologisch geschulten Kinder- und Jugendpsychiater Ulrike und Gerd Lehmkuhl, die über Jahrzehnte in ihren Kliniken in Köln und Berlin die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen beispielgebend gestaltet haben, legen in diesem Buch eine ihrer tiefen Erfahrungen im therapeutischen Feld vor. Ausgehend von Kunstprojekten mit Jugendlichen machen sie das künstlerische Element für die Behandlung fruchtbar. Nach einer Begriffsbestimmung von Kunst und Psychotherapie leiten sie zum Thema Kreativität über. Anders als in der Kunsttherapie, in der die Tätigkeit mit Material im Zentrum steht, geht es in diesem Buch um die Auseinandersetzung mit Kunstwerken als ein die Therapie begleitendes und ergänzendes Medium. Ästhetisch-künstlerische Denk- und Handlungsprozesse sollen angeregt werden. Solchen Techniken kann besonders dann ein Wert zukommen, wenn in 9

der Sprache der Zugang zum symbolischen und/oder emotionalen Erleben versperrt erscheint. Die Funktionen künstlerischen Gestaltens werden erläutert, wobei Kunst als Entwicklungsförderung im Zentrum steht. Schließlich kann Kunst als ein Weg zur Identitätsfindung beschrieben werden. Diese Erweiterung des therapeutischen Repertoires steht im Lichte der Frage: Wie kommt die Kunst in die Psychotherapie? Ein erhellendes Buch, das durch Fallbeispiele bereichert wird und im Fazit von Kunst als Lebenskunst gipfelt. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zum Band

Danksagung

Unsere Beschäftigung mit dem Thema »Kunst und Psychotherapie« hat eine längere Vorgeschichte. Sie wurde angeregt durch Kunstprojekte, die Frau Müller-Rösler über mehrere Jahre mit Jugendlichen im Rahmen einer stationären Behandlung durchführte. Sie stießen nicht nur auf eine große Akzeptanz und Begeisterung bei den Teilnehmenden, sondern erzielten auch erstaunliche Ergebnisse. Es gelang den Betroffenen, neue Perspektiven und biografische Zugänge zu entdecken, die in der 2012 veröffentlichten Monografie »Entwicklung neu denken. Mit Kunst lernen und lehren« (Müller-Rösler, Lehmkuhl u. Oelsner, 2012) ausführlich dargestellt werden. Das methodische Vorgehen bestand in einer intensiven Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Kunstwerken, angeregt durch häufige Museumsbesuche. Dr. Andreas Blüm, Dr. Marcus Dekiert, Dr. Roland Krischel und Dr. Stephanie Sonntag vom Wallraf-Richartz-Museum & Foundation Corboud sowie Dr. Stefan Kraus und Dr. Marc Steinmann vom Kunstmuseum des Erzbistums Köln »Kolumba« unterstützten mit großer Aufgeschlossenheit und hohem Engagement die inhaltlich unterschiedlichen Vorhaben, ebenso viele Mitarbeiter der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik und der angeschlossenen Johann-Christoph-Winters-Schule der Universität zu Köln, u. a. Ulrike Busse-Mainzer, Hakseung Shin und Pascal Fendrich. Ihnen allen und besonders den beteiligten Jugendlichen, deren Erfahrungen wir aufgreifen und darstellen durften, sei herzlich gedankt! Gerd und Ulrike Lehmkuhl

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1 Einleitung

Die Feststellung, dass Kunst für das Wohlbefinden und die Gesundung von Menschen einen wichtigen Beitrag leisten kann, ist durch eine Vielzahl von Projekten und Untersuchungen belegt (Schuster, 1986; Richter-Reichenbach, 2011). Doch wie wirkt und was bewirkt Kunst, welche Erfahrungen werden durch sie vermittelt? Für Keller (2012, S. 127) macht Kunst sichtbar, »was wir fühlen, denken, fürchten oder wünschen«. Ihr zentrales Anliegen besteht nach Keller darin, etwas Sichtbares zu kreieren, das über die Welt und das Leben, das Lieben und Leiden etwas so Einzigartiges und Berührendes ausdrückt, das andere es als wahr oder schön empfinden. Kurz gesagt, stellt Kunst die Folie dar, auf der sich alle therapeutisch relevanten Themen abbilden und auffinden lassen. Aus diesen Gründen kommt ihr ein spezieller therapeutischer Wert zu, den es zu nutzen gilt. In der Publikation des Beyeler-Museums (2012) »Was ist Kunst?« werden mögliche Wege und Ansatzpunkte hierzu aufgezeigt. Auf die Fragen »Warum ist Kunst so interessant?« und »Was vermag sie uns zu vermitteln?« werden u. a. folgende Antworten gegeben: ȤȤ »weil man mit ihr in die Vergangenheit reisen kann; ȤȤ weil sie inspiriert; ȤȤ weil sie den Horizont erweitert; ȤȤ weil sie mir zeigt, was ich bisher noch nie gesehen habe; ȤȤ weil sie mein Innerstes trifft; ȤȤ weil in ihr Sehnsüchte, Träume, Ideale und der Sinn unseres Daseins aufgehoben sind; ȤȤ weil sie mich ärgert und provoziert; ȤȤ weil sie zeigt, was sein könnte« (S. 126). 12

Kunst eröffnet ebenso wie Poesie einen Raum, »in dem die Regeln wanken lernen« (Rauterberg, 2016) und der Gestaltungswille für das eigene Leben angeregt und gestärkt wird. So rührt uns Pieter de Hoochs Bild »Ein Junge bringt Brot« (ca. 1665) an, weil es einen starken Kontrast zu jenen Gefühlen bildet, die gewöhnlich unsere Tage prägen: »Das sanfte Wesen der Mutter und der vertrauensvolle, pflichtbewusste Gesichtsausdruck ihres Sohnes lassen uns den eigenen Zynismus, die eigene Schroffheit spüren« (de Botton, 2008, S. 149). In diesem Sinne fordert Barbara Welzel (2016) »Schüler in die Kunstausstellung!«, um Orte des Wissens, der Welterkundung und der kulturellen Debatten zu erleben. Hier fänden sie, wenn man es ihnen zeige, das Bildgedächtnis unserer Gesellschaft. Hier ließen sich ästhetischer Eigensinn sowie Eigenlogik von Kunst und Fiktion erfahren. Für de Botton und Armstrong (2013) besitzt Kunst die Funktion eines therapeutischen Mediums: Man kann sich durch sie leiten lassen, einen Weg zu finden; sie fordert den Betrachter heraus, vermag ihn zu trösten und bietet ihm einen Zugang zu eigenen Wünschen, Gefühlen und Phantasien. In ihrer Monografie »Art as Therapy« gehen die Autoren den zugrunde liegenden Wirkprozessen nach und identifizieren sieben bedeutsame Faktoren, die durch Kunst angeregt und unterstützt werden: ȤȤ Sie schärft die Erinnerung und hilft, sich auf wichtige Aspekte und Themen zu fokussieren. Sie hält Dinge fest, die wir lieben und die sonst drohen, verloren zu gehen. ȤȤ Sie vermittelt Hoffnung und Optimismus, ermutigt und bringt uns in Kontakt mit der heiteren, fröhlichen und sorglosen Seite des Lebens. ȤȤ Sie vermittelt Gefühle von Leid und Trauer als allgegenwärtige Phänomene, denen wir uns stellen müssen. Bei bedrohlichen und belastenden Erfahrungen kann Kunst Antworten und Perspektiven zur Bewältigung anbieten. ȤȤ Die Beschäftigung mit Kunst vermag dazu beizutragen, emotionale Spannungen und konflikthafte Positionen wieder in ein Gleichgewicht zu bringen (»Rebalancing«). Diese NeuausrichEinleitung

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tung und -gewichtung erreichen die Künstler, indem sie unsere Augen für neue, ungewohnte Themen und Sichtweisen öffnen und sensibilisieren. ȤȤ Kunst fördert die Selbsterkenntnis und stellt eine exzellente Möglichkeit dar, sich über innere und äußere Themen mit anderen Personen auszutauschen. Bislang unbewusste Anteile und Haltungen werden deutlicher, und dies trägt zu einem besseren Selbstverständnis bei. ȤȤ Kunst regt an, sich mit neuen und uns bisher fremden Sichtweisen und Standpunkten auseinanderzusetzen. Sie bereichert uns und weist auf ungewöhnliche Ideen und Perspektiven hin (»Growth«), die uns bislang unvertraut waren und unsere Weltwahrnehmung erweitern. ȤȤ Eine weitere Aufgabe von Kunst besteht darin, dem Betrachter auch die weniger spektakulären und erfreulichen, alltäglichen Ereignisse nahezubringen und sich mit ihnen abzufinden. Nicht nur das Glamouröse verdient Beachtung, sondern auch das Unscheinbare, wenig Attraktive. Damit konfrontiert zu werden, relativiert vorhandene Idealvorstellungen und versöhnt uns mit dem bislang Erreichten. Ihre Überlegungen zu den zugrunde liegenden Wirkmechanismen von Kunst untermauern de Botton und Armstrong mit einer Vielzahl von europäischen und außereuropäischen Kunstwerken aus allen Jahrhunderten. In ihnen finden sie alle wichtigen Themen, mit denen sich Menschen während ihres Lebens auseinandersetzen müssen, und Ansätze für deren Bewältigung. Der therapeutische Effekt und Nutzen von Kunst bestehe darin, die zuvor dargestellten psychologischen Funktionen zu stärken. Damit legen die Autoren den Fokus nicht auf vorhandene Defizite, sondern weisen auf hilfreiche Ressourcen hin. Kunst, so verstanden und wahrgenommen, kann dazu beitragen, wichtige Lebensfragen zu klären und sich selbst besser zu erkennen. Museen werden zu Orten der Lebenshilfe und Selbstbefragung. Dieser Kunstzugang und diese Kunstverwertung stellen die therapeuti14

Einleitung

sche Wirkung in den Mittelpunkt. Rauterberg (2014): »Museen sind Apotheken – hier hilft Rembrandt gegen Liebeskummer und Vermeer gegen Depressionen. Hier wird der reparaturbedürftige Mensch ein wenig gepäppelt, bevor er dann wieder hinausgeht in die raue, die unveränderliche Wirklichkeit.« Eine vergleichbare Zielsetzung verfolgen psychotherapeutische, insbesondere psychodynamische Ansätze. Ihr Ziel besteht ebenfalls darin, sich mit emotionalen Erfahrungen auseinanderzusetzen und Lösungen für vielfältige Konflikte und Nöte zu finden. Insofern erscheint es naheliegend, diesen Prozess mithilfe von Kunsterleben zu unterstützen. Erste persönliche Erfahrungen, wie Kunst den psychotherapeutischen Zugang verändert, bestärkten uns, über viele Jahre zahlreiche Kunstprojekte in der Kölner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ihrer Klinikschule gemeinsam mit dem Kölner WallrafRichartz-­Museum & Foundation Corboud sowie dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln »Kolumba« durchzuführen. Die beteiligten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigten hierbei nicht nur eine große Begeisterung und hohe Motivation, sondern die von ihnen gestalteten Inhalte bereicherten auch die psychotherapeutische Arbeit in besonderer Weise. Kreativität und spielerische Aktivitäten trugen entscheidend dazu bei, ein besseres Verständnis für wichtige Lebensund Entwicklungsthemen zu finden. In der Monografie »Entwicklung neu denken« (Müller-Rösler et al., 2012) haben wir erläutert, wie über einen gezielten Umgang mit Kunst Achtsamkeit und Aufmerksamkeit im Erfahrungsraum von Kindern und Jugendlichen wieder einen wichtigen Platz einnehmen können. Eine Frage besteht zunächst darin, welche Erwartungen Besucher mit ihren Museumseindrücken verbinden und wie sie sich hiermit beschäftigen. Für Alain de Botton (2008) lohnt es sich, ein Museum für moderne Kunst aufzusuchen, um uns gegen die Geringschätzung alltäglicher Dinge zu immunisieren und »vertrauensvoll eine andere, eher meditative Einstellung zu den Objekten heranreifen zu lassen« (S. 78). Er sieht hierin einen wichtigen Anstoß, die Bedeutung und Einleitung

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Ästhetik alltäglicher Dinge mehr zu schätzen und intensiver wahrzunehmen. Über welche Anregungen berichten die an den Kunstprojekten beteiligten Jugendlichen? Die 16-jährige Tanja1 z. B. betrachtet »Kunst als eine Art von Zuflucht. Eine Unterkunft, wo das Äußere keine Rolle spielt. Wie eine nicht identifizierbare Person, die im Verborgenen liegt. Wie ein Schatz, der an der Gesellschaft vorbeigleitet. Kunst ist wie ein neu gewonnenes Element, das selbst durch den Fluss der Zeit nicht verweht. Unverwechselbare Phantasie, deren Grenzen nicht festgelegt sind.« Und eine andere Teilnehmerin fasst ihre Eindrücke wie folgt zusammen: »Kunst bedeutet für mich viel. Wenn es mir schlecht geht, kann ich es einfach aus mir herausmalen. Aber manchmal finde ich dann auch bunte Farben besser, manchmal bewirkt das ganz viel Phantasie in mir und Träume. Bei der Kunst kann man sich selbst finden, vielleicht nicht immer, aber man übt sich selbst. In Museen hängen mal dunkle und mal helle Bilder, aber selbst die hellen Bilder sind oft tief im Inneren dunkel. Durch die Kunst, egal in welcher Form, Malen, Zeichnen, Musik oder Steinehauen, findet jede Emotion ihren Platz« (Hanna, 16 Jahre). Sich selbst besser kennenzulernen, die Phantasie anzuregen, eine Zuflucht zu finden – die vielfältigen Möglichkeiten, die Museumsbesuche und die Begegnung mit Kunst vermitteln, werden von den Beteiligten bereitwillig und kreativ aufgegriffen. Und sie treten hierüber in einen Dialog, der in psychotherapeutischen Prozessen aufgegriffen und fortgeführt werden kann. Allerdings gilt es zunächst, für das Thema Kunst zu sensibilisieren, wie eine Studie des Kulturwissenschaftlers Martin Tröndle belegt (nach Rauterberg, 2012). Er maß mit einem Datenhandschuh Herzfrequenz und Hautleitfähigkeit von 500 Museumsbesuchern. Das ernüchternde Ergebnis ist nicht nur, dass der durchschnittliche Besucher gerade mal elf Sekunden einem Kunstwerk widmet, sondern 1 Alle Namen von Patientinnen und Patienten sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert. 16

Einleitung

dabei meist auch »gepflegte Langeweile« empfindet. Auch die vermeintlichen Museums-Highlights der Kunstikonen vermögen ihre Betrachter nicht zu erregen. Besonders dann nicht, wenn fachkundige Besucher die gängige Hängung entlangschlendern. »Im Gefühl, eigentlich schon das Meiste zu kennen, versäumen sie leicht das Wesentliche: Sich den Bildern und ihren Reizen zu öffnen«, so Rauterberg und er folgert: »Unterschwellig votiert die Studie für Konzentration und eine neue Intensität.« Die wäre dann »nicht so sehr Kopfsache. Sie ist vor allem eine körperliche Erfahrung.« Was sehen die Besucher, wenn sie sich mit Kunstwerken beschäftigen? Was nehmen sie mit? Es wird darauf ankommen, inwieweit es dem Betrachter möglich ist, sich zeitintensiv und neugierig z. B. mit einem Gemälde zu beschäftigen, sich von ihm berühren, affizieren zu lassen. Es kann einem gleichgültig bleiben, jedoch auch ganz unterschiedliche Fragen anstoßen, innere Themen spiegeln und vielfältige Gefühle und Wahrnehmungen hervorrufen. Dies verlangt jedoch die Bereitschaft, sich auf eine solche Begegnung einzulassen. In psychotherapeutischen Prozessen kann dieses nichtsprachliche Material dazu genutzt werden, frühere und/oder aktuelle emotionale Erfahrungen wiederzubeleben und überhaupt erst zugänglich zu machen. Es ist z. B. die Symbolik einer holländischen Landschaft mit nahendem Seesturm, die eine junge Patientin mit der eigenen inneren Unruhe und Unsicherheit in Kontakt bringt (siehe Abbildung 1): »Ein Unwetter zieht auf, obwohl das Meer ruhig erscheint. Es sieht bedrohlich aus. Als würde die dunkle Wolkenwand das Land überrollen und verschlucken.« Damals wie heute beflügeln Meer, Strand und Windmühlen die Phantasie (Vignau-Wilberg, 1993). Sie rufen Erinnerungen an erlebte Gefahren und Ängste hervor, verstärken das Bedürfnis, sich zu schützen und Sicherheit zu finden. Heute erleben wir durch den Klimawandel immer stärker, wie sehr wir Naturgewalten ausgeliefert sind und ihnen häufig hilflos gegenüberstehen. Wie kann es gelingen, mit dieser Ohnmacht zu leben und sich ihr zu stellen, ohne unterzugehen? Einleitung

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So vermag ein Bild des 17. Jahrhunderts uns mit sehr persönlichen und aktuellen Themen in Kontakt zu bringen. Es wird ganz unterschiedliche Reaktionen und Gefühle hervorrufen und uns vielleicht verdrängte Themen wieder bewusst machen. Für Martin Schuster (2016) besteht eine wichtige Funktion der Kunst darin, Phantasiebefriedigungen anzuregen und zu ermöglichen (S. 278). Bilder rufen in uns entsprechende Themen, Stimmungen und Wahrnehmungen hervor und machen sie uns zugänglich.

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Einleitung

2 Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

Künstlerische Prozesse in all ihrer Vielfalt stellen einen zentralen Erfahrungs- und Entwicklungsraum über alle Altersstufen hinweg dar. Hier ergibt sich die Möglichkeit, kreative Fähigkeiten zu entdecken, inneren Themen und äußeren Herausforderungen eine Gestalt zu geben und Antworten darauf zu finden. Dies beginnt bereits in der frühen Kindheit, denn ohne ein »Begreifen« und »Verarbeiten« lässt sich die Flut von Eindrücken, Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht bewältigen. Alfred Adler (1933/1973) spricht in diesem Zusammenhang von der »schöpferischen Kraft«, die bewirkt, dass jedes Individuum seinen Lebensstil gestaltet und im Austausch mit der Umgebung prägt. Er postuliert damit, dass unsere Umgebung eine aktive Stellungnahme verlangt. Neugier und Phantasie besitzen einen besonderen Stellenwert für die menschliche Entwicklung, da sie entscheidend dazu beitragen, eigene Lösungen zu finden. Dabei bilden sich in den ersten Lebensjahren individuelle, oft unbewusste Verarbeitungsmuster aus, die im späteren Leben unsere Reaktionen und Haltungen bestimmen, auch hemmen können und uns dann belasten und blockieren. Die Kreativität gehört nach Winnicott (1971, dt. 1973) zur Grundeinstellung des Individuums gegenüber der äußeren Realität (S. 81): Mit ihr gelingt es, die täglichen Herausforderungen zu bewältigen. Sie hilft ihm, lebendig zu bleiben und seine Persönlichkeit auszubilden. Dabei kommen Anregungen, Förderung und einem wohlwollenden Umfeld entscheidende Bedeutung zu. Ohne eine vertrauensvolle, emotional unterstützende Atmosphäre gelingt die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit nur bedingt. 19

Eltern spüren dies intuitiv und reagieren entsprechend: Sie freuen sich über die Schöpfungen ihrer Kinder, hängen deren erste Kritzeleien und Bilder auf, bestärken sie in ihren spielerischen Aktivitäten. Die seelische Gesundheit ist dabei eng mit »der kreativen Lebensfähigkeit eines Menschen« (S. 81) verknüpft. Entsprechend ist nach Winnicott alles Reale, Bedeutsame, Persönliche, Ursprüngliche und Schöpferische bei schweren psychischen Störungen verborgen und verkümmert. Dem Psychotherapeuten kommt in solchen Fällen die Aufgabe zu, kreative Impulse und Phantasien zu wecken, um Ressourcen und Selbstheilungskräfte zu stärken. Im Gestalten und kreativen Schaffen ist das aktuelle Leben, ist die Persönlichkeit im Hier und Jetzt gegenwärtig, findet Entwicklung statt und werden die notwendigen Veränderungen angestoßen. Dabei beginnt Kunst für Kraus (1996) mit der Wahrnehmung, »mit dem bewussten Hinschauen, mit einem Sehen, das mit den Augen greift und das Hören und das Riechen keineswegs ausschließt. Kunst ist eine Sprache jenseits der Sprache, jenseits der Begrifflichkeit. Kunst bietet einen Freiraum für Phantasie, für Gefühl und Empfindung, sie bietet Erfahrung aus erster Hand.« Damit sind wichtige Elemente und Ziele angesprochen, die in der Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gleichermaßen einen zentralen Stellenwert einnehmen. Im symbolischen Spiel – so Laiblin (1962) – ist es möglich, über die ureigene Bildersprache innere Konflikte und Ängste zu thematisieren: »Als spielendes Kind beginnt der Mensch seine Erdenlaufbahn. Als homo vere ludens vollendet er seine Kunstwerke, schafft er die Werke der Technik. So sehr sind schöpferische Phantasie und Spiel, tief genug verstanden, Grundlage, Mittelpunkt, ja Ziel menschlichen Handelns und menschlicher Reife« (S. 216). Aus pädagogischer Sicht sollten nach von Hentig (1998) Kinder und Jugendliche das Prinzip Kunst bereits in der Schule näher kennenlernen. Dabei komme dem Erfahrungsbereich »Wahrnehmen und Gestalten« eine besondere Bedeutung zu, um für den Umgang mit Sachen, mit Menschen und mit dem eigenen Körper zu sensibi20

Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

lisieren: »Hier ging und geht es um Übung der aisthesis2 der Kinder und jungen Menschen an Gegenständen, die die Lust, den Ernst und das Wagnis des Sehens und Hörens, des Erprobens, des Simulierens, des spielerischen Verwandelns und, alles in allem, des kontrollierten Hervorbringens von Wirkungen zu wecken vermögen. Die Kinder erfahren dabei, was Kunst anders macht als Technik, Wissenschaft, Politik und Religion« (S. 43). Die psychodynamische Behandlung will nicht nur die vordergründigen Symptome beseitigen, sondern die weitere soziale und emotionale Entwicklung und Befindlichkeit der Betroffenen positiv beeinflussen. Welche Veränderungen und Fähigkeiten müssen hierfür im Behandlungsprozess erreicht bzw. gestärkt werden und welche Rolle kann die »Kunst« dabei spielen? Kunstübungen und die sie ermöglichende Kreativität besitzen für von Hentig (1998) eine befreiende Funktion und damit eine heilsame Kraft: »Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen und Konsens – diese Elemente der Kunst – sind nicht Tugenden, die die funktionalisierte Welt erst aushaltbar machen, es sind die Tugenden, ohne die sie nicht funktionieren würde« (S. 45). Zusammengefasst bedeutet dies, dass schöpferisches Wirken eine wichtige Kraft darstellt, die hilft, Krisen und Entwicklungsblockaden zu überwinden. Sie kann als Motor Veränderungen anstoßen und zu neuen Perspektiven beitragen. Zum Beispiel beschäftigte sich eine Gruppe jugendlicher Patienten in der Ausstellung »Noli me tangere!« des Kolumba-Museums im Jahr 2010 mit dem Thema »Empfindlichkeit und Zerbrechlichkeit« unter dem Motto: »Ich bin aus Glas.« Sie erschlossen neue Bedeutungsinhalte und Möglichkeiten der Selbstbegegnung: »Ich war überrascht von mir. Hätte mir das nicht zugetraut« (Raphaela, 17 Jahre). 2 Lehre der sinnlichen, körperlichen Wahrnehmung und Empfindung nach Aristoteles und Platon. Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

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Es wird deutlich, dass psychische Entwicklung und Veränderung eng mit dem Erzählen und Darstellen verbunden sind. Patienten, so Boothe (2011, S. VI), »sprechen von Beschwerden und Problemen, und sie tun das erzählend. Sie erzählen vom Beginn ihrer Beschwerden, ihrer Biographie und ihren Belastungen. In den Erzählungen gibt es Ort und Zeit, Figuren und Handlungen. Der Protagonist stattet die Figuren mit Eigenschaften und Merkmalen aus, lässt sie handeln und auf einer narrativen Bühne auftreten. Der Erzähler ist Regisseur.« Und im Museum finden sich eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, die eine bislang vermisste biografische Orientierung erschließen helfen. Im psychotherapeutischen Prozess findet sich vieles von dem wieder, was auch die Kunst auszeichnet: kreatives Wahrnehmen und Gestalten, Umsetzen eigener Vorstellungen und Ideen, die Ausbildung von Intuition und Wissen und schließlich das Umsetzen, Üben und Durcharbeiten, um Lösungen für Konflikte und Entwicklungsblockaden zu finden. Und die Ausdrucksmöglichkeiten und -bereiche sind vielfältig: bildende Kunst, Literatur, Musik, darstellende Kunst, Fotografie, neue Medien. Wie dies in der Praxis möglich und umsetzbar ist, soll am Beispiel der bildenden Kunst mit gestalterischen Arbeiten und Texten, die überwiegend im Rahmen von Museumsprojekten entstanden sind, verdeutlicht werden. Welche Voraussetzungen sind hilfreich, wie sollte ein solches Vorgehen initiiert und begleitet werden und wie kann man es parallel in der Psychotherapie aufgreifen und nutzen? Abweichend vom Ansatz der Kunsttherapie – wo das künstlerische Material im Mittelpunkt steht und darin ein bedeutsamer therapeutischer Faktor gesehen wird (Dannecker, 2006) – nutzt das hier vorgestellte Vorgehen die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Kunstwerken als ein die Therapie begleitendes und ergänzendes Medium. Ergänzend können künstlerische und gestalterische Aktivitäten zu einer »ganzheitlichen Selbstfindung und Selbstbildung« beitragen. Das Ziel besteht darin, Kompetenzen und Fähigkeiten durch »ästhetisch-künstlerische Handlungsprozesse« aufzubauen und somit 22

Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

die Persönlichkeitsentwicklung zu stärken« (Richter-Reichenbach, 2011, S. 9). Im tiefenpsychologischen/psychodynamischen Behandlungssetting kann nonverbalen Techniken immer dann ein besonderer Stellenwert zukommen, wenn mit sprachlichen Möglichkeiten ein unmittelbarer Zugang zum symbolischen und emotionalen Erleben nicht möglich ist. Diese wichtige »schöpferische Erfahrung« (Winnicott, 1971, dt. 1973) kann mithilfe verschiedener Ausdrucks-, Darstellungs- und Verstehensmodalitäten (Richter-Reichenbach, 2011) zu einer verstärkten Einsicht, Selbstwahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit beitragen. Ohne therapeutische Absichten kann ein auf die Bedürfnisse von Schülern eingehender Kunstunterricht ähnliche Effekte hervorbringen. Dabei haben die Kunsttherapie im engeren Sinne und die hier vorgestellte Einbeziehung und Beschäftigung mit Kunst in der Psychotherapie eine ähnliche Grundlage: Die gestalterische Aktivität, die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, ihre gemeinsame Reflexion und Bearbeitung durch Patient und Therapeut, das Erschließen von Bedeutungsinhalten stellen den entscheidenden Ausgangspunkt dar. Auch bei Erwachsenen kann es hilfreich sein, sich über die Kunst wichtigen Themen in der therapeutischen Arbeit anzunähern. Dies ist im Grundsatz für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten nichts Neues. Sie sind vertraut mit Zusatzmaterialien und greifen in der Behandlungssituation gern auf Medien wie Spiele, Malen, Puppenfiguren usw. zurück. Mit diesen Ausdrucksmitteln werden Geschichten erzählt, Spiele erfunden und innere Befindlichkeiten verdeutlicht. Es gibt verschiedene Konzepte, künstlerisches Arbeiten in den therapeutischen Prozess zu integrieren. Allen Ansätzen ist gemeinsam, Patienten anzuregen, für die ihnen wichtigen Themen einen künstlerischen Ausdruck zu finden, ein Bild, ein Symbol, das zum Verständnis beiträgt und sowohl auf Krisen und Konflikte als auch auf neue Perspektiven hinweist. Eine unterschiedliche Haltung besteht jedoch hinsichtlich der Interpretation und der Einbeziehung des kreativen Materials und Gestaltens in den Behandlungsablauf. Während frühere Ansätze Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

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vor allem versuchten, seelische Störungen aus Kinderzeichnungen zu erkennen (Stahel, 1977), bestimmten Symbolen eine spezifische Bedeutung beizumessen (Iten, 1994) oder aus ihnen innere Konflikte abzulesen (Baumgardt, 1985), treten heute die interaktiven und kommunikativen Aspekte in den Vordergrund. Denn wichtiger als das Deuten und Einordnen von bestimmten Symbolen in Kategorien ist ein gemeinsames Erschließen der Inhalte im Gespräch. Kunstwerke erzählen eine Geschichte, die zusammen verstanden und fortgeführt werden will, oft über einen längeren Zeitraum hinweg mit ihren vielfältigen Facetten und damit verbundenen Phantasien. Von einer hilfreichen Beziehungsdynamik ist vor allem dann auszugehen, wenn es dem Therapeuten gelingt, nachzuempfinden, was den Patienten unbewusst bewegt. Das Kunstwerk soll berühren, den Betrachter/Therapeuten affizieren, etwas zum Schwingen und in Bewegung bringen und damit sowohl Einsicht als auch Veränderungen ermöglichen. Ästhetisch-künstlerischen Prozessen kommen nach Richter-Reichenbach (2011) kompensatorische Funktion und therapeutische Wirkung zu. Was löst eine Zeichnung/ein Bild in mir aus, welche Geschichte will sich mir mitteilen, welche Lebenswirklichkeit des Patienten wird vermittelt, welche Botschaften gelten möglicherweise mir als Therapeuten? Dies sind nur einige Fragen, die einen Dialog mit dem Patienten und ein weites therapeutisches Feld eröffnen. Sie sollten unser Interesse anregen und dafür sorgen, dass wir bereit sind, einen roten Faden aufzunehmen und mit dem Patienten gemeinsam weiterzuverfolgen. Das Bild eines 14-jährigen Mädchens soll uns näher mit dem methodischen Zugang vertraut machen: In die Behandlung führte die Jugendliche eine Essstörung und ein zwanghaftes Verhalten, das ihre sozialen Freiheiten beträchtlich einschränkte. Es gelang ihr nur mit Mühe, sich in der Therapiestunde verbal mitzuteilen, sodass sie eines Tages spontan eine Zeichnung mitbrachte, in der sie ihre aktuelle Situation intuitiv höchst künstlerisch und ästhetisch verschlüsselt mitteilte (siehe Abbildung 2). 24

Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

Die Vielzahl der Symbole, die genaue und perfekte Art des Darstellens rufen beim Betrachter eine Fülle von Empfindungen, Einfällen und Phantasien hervor. Das Bild als künstlerische Umsetzung der emotionalen Befindlichkeit des Mädchens erlaubt einen unmittelbaren intensiven Zugang. Es war Ausgangspunkt für weitere gemeinsame Gespräche und Erkundungen mit verbalen und gestalterischen Methoden. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ergab sich durch das Bild »Ohne Hoffnung« (siehe Abbildung 3) von Frida Kahlo. Die Patientin hatte es in einem Ausstellungskatalog entdeckt, fühlte sich durch die Darstellung gleichermaßen erschreckt und stark angesprochen und brachte die Abbildung mit in die Therapiestunde. Das Leiden der in ihrem Bett mit Tränen in den Augen liegenden Person erinnerte sie an ihren eigenen Zustand. Es drückte ihre Befürchtungen aus, zwangsweise ernährt werden zu müssen und sich dagegen nicht wehren zu können. Während in ihrem eigenen Bild alles noch in einer zwanghaften Ordnung verharrt, löst sich bei Frida Kahlo die Ordnung auf: Die trockene, zerklüftete Landschaft wirkt abweisend und trostlos, durch einen übergroßen Trichter laufen kalorienhaltige und ungenießbar wirkende Speisen in den Mund der Frau, die verlassen und unbeweglich in ihrem Bett liegt. »Mir bleibt nicht mehr die geringste Hoffnung […], alles bewegt sich im Takt dessen, was sich der Bauch einverleibt«, schrieb die Malerin auf die Rückseite dieses Bildes in Anspielung auf die kräftigende Kost, die sie zu sich nehmen musste, weil ihre Appetitlosigkeit eine ernsthafte Abmagerung verursacht hatte (Westheider u. Müller, 2006, S. 100). Die Patientin verstand nun die perfekte Ordnung ihres Bildes als Ausdruck, alles so belassen zu wollen, wie es ist, um keine Veränderungen und Irritationen zuzulassen. Sie hatte scheinbar alles im Griff und unter Kontrolle, doch sie spürte, wie bedroht diese Idylle war und wie wenig lebensfähig. Die Auseinandersetzung mit bislang nicht zugelassenen Ängsten und Phantasien gelang über die Einbeziehung dieser beiden Darstellungen, auf die auch im weiteren Therapieverlauf immer wieder zurückgegriffen werden konnte. Kunst und Psychotherapie – eine Begriffsbestimmung

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3  Zur Funktion künstlerischen Gestaltens

Welche Erfahrungen ermöglichen uns Kunstobjekte? Keinesfalls versprechen sie Sicherheit oder dienen gewohnter Wissensvermittlung. Eher lösen sie Irritationen und Fragen aus, wirken fremd und herausfordernd, machen ratlos, rufen aber auch Neugierde hervor. Bilder sprechen zu uns, jedoch in einer »anderen Sprache«. Sie bilden Wirklichkeit ab, bleiben dennoch nur ein Konzept dieser Wirklichkeit, das es von uns zu ergründen gilt (Müller-Rösler et al., 2012, S. 44). Bis ein Kunstwerk sich uns erschließt, bedarf es Wege der Aneignung, etwa durch Malen, Fotografieren, kreatives Schreiben oder eine andere intensive Beschäftigung. Jugendliche – auf deren Erfahrungen aus mehreren thematisch ganz unterschiedlichen Kunstprojekten wird im Folgenden immer wieder näher eingegangen – wollen selbst aktiv werden, eigene Fähigkeiten erproben und Ideen gestalten. Dies gelingt durch den Einsatz verschiedener Medien und Techniken, die ihnen einen erlebnishaften emotionalen Zugang zu den Kunstwerken erlauben. Es gilt, Neues zu entdecken, sich kritisch zu hinterfragen, durch das eigene kreative Handeln Autonomie und Selbstständigkeit auszubilden und einen Bezug zur eigenen Lebenssituation herzustellen. Allen Kunstprojekten mit den jugendlichen Patienten waren folgende Ziele gemein (Müller-Rösler et al., 2012, S. 46): ȤȤ Jugendliche anregen, kulturelle Angebote als Chance zur Ressourcenerweiterung anzunehmen; ȤȤ ihre gesellschaftliche Teilhabe an Kultur als bereichernd und identitätsbildend zu empfinden;

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ȤȤ Anregungen zur Erweiterung des Selbstbildes und neue Wege zur eigenen Gefühlswelt zu finden; ȤȤ soziale Kompetenzen zu erweitern und das Selbstwertgefühl zu stabilisieren; ȤȤ das eigene Lebensumfeld besser zu erkennen und zu erkunden; ȤȤ sich eigener und fremder ästhetischer Bedürfnisse bewusst zu werden und in der Projektarbeit umzusetzen. Eine wichtige und zusätzliche Vertiefung erfolgte durch weiterführende Gruppengespräche und das Reflektieren und Durcharbeiten der Erfahrungen im psychotherapeutischen Einzelkontakt.

3.1  Kreativität, Phantasie und Spiel Für Winnicott (1971, dt. 1973) stellt das Spielen die Grundlage dar für die gesamte menschliche Entwicklung. Erfahrungen würden in der aufregenden Verflechtung von Subjektivität und objektiver Beobachtung gemacht und »in einem Bereich, der zwischen innerer Realität des Einzelmenschen und wahrnehmbarer Realität außerhalb des Individuums angesiedelt ist« (S. 77). Phantasie und Kreativität tragen dazu bei, diesen Übergangsraum zu füllen, ihn zu gestalten und begreifbar zu machen. In diesem Sinne bietet das Museum eine außergewöhnliche Möglichkeit, relevante Fragen und Themen aufzugreifen und aus einer anderen Perspektive zu erfahren. Eine Gruppe von 14- bis 18-jährigen Patienten, die sich in stationärer psychotherapeutischer Behandlung befanden, besuchte regelmäßig das Kolumba-Museum in Köln. Die dortige Ausstellung »Noli me tangere! – Berühre mich nicht/Halte mich nicht fest« behandelte ein Thema, das die Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz, Körperwahrnehmung, Verletzlichkeit und Frauen-/Mutterbild anregt. Die in der Ausstellung entstandenen digitalen Fotografien, Videos, Texte und die nachträglichen Reflexionen bildeten dann die Grundlage für Kreativität, Phantasie und Spiel

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künstlerische Umsetzungen, vergleichende Bildbetrachtungen und Gespräche in der wöchentlich stattfindenden Projektgruppe sowie in der Einzelpsychotherapie (Müller-Rösler et al., 2012, S. 49). Die Themenschwerpunkte ergaben sich aus den persönlichen Lebensmustern und biografischen Bezügen der Jugendlichen. Neue Perspektiven für die Körper- und Selbstwahrnehmung wurden von ihnen gesucht und auf verschiedene Weise in Szene gesetzt. Eine 15-jährige Teilnehmerin beschreibt z. B. den Museumsbesuch folgendermaßen: »Wir waren an dem Tag sozusagen ›Teil‹ oder ›Ausstellungsstücke‹ vom Museum, was mir Spaß bereitet hat. Ganz am Anfang sollten wir uns vor eine Glasvitrine stellen, in der zerbrechliche Gefäße, Tassen, Schüsseln und Gläser aus ganz dünnem Glas ausgestellt waren. Thema war ›Berühr mich nicht‹ und ›Zerbrechlichkeit‹ und unsere Aufgabe war, sich in dieses Körpergefühl hineinzuversetzen und reinzufühlen. Dabei haben wir uns abwechselnd gefilmt und fotografiert. Diese Aufgabe ist mir schwer gefallen, vor allem weil es ganz am Anfang war und deswegen auch noch zunächst etwas unangenehm. Mit der Zeit hat sich mein Schamgefühl aber gelegt, und es hat Spaß gemacht, etwas Neues auszuprobieren. Unsere nächste Aufgabe, unsere Hauptaufgabe zusammen als Gruppe, war, dieses Körpergefühl und ›Berühr mich nicht‹ nur mit einer durchsichtigen Folie nachzustellen und authentisch rüberzubringen. Jeder hat etwas anderes mit der Folie gemacht. Einer hat sich hingelegt und die Folie wurde drüber gespannt, eine wurde mit der Folie als ›Geschenk‹ verpackt, und einer wollte nach einer Blume greifen, die aber durch die Folie abgetrennt und nicht erreichbar war. Insgesamt war es ein wirklich spannender Tag mit vielen neuen Erfahrungen.« Die 16-jährige Raphaela »schreitet wie ein Pfau« und ist »auf der Suche«: »Nach was? Nach wem? Wohin?« (siehe Abbildung 4 und 5), während Viola mit Atemstößen eine Rose auf der Folie als Symbol für Hoffnung und Schönheit bewegt (siehe Abbildung 6). Intensiv beschäftigten sich die Teilnehmenden auch mit Stefan Lochners Gemälde »Madonna mit dem Veilchen« (vor 1450). Das 28

Zur Funktion künstlerischen Gestaltens

Bild löste eine Reihe von Fragen aus: »Wie vertraut oder wie fremd ist uns diese Frau? Abbild einer Frau in der damaligen Gesellschaft? Idealisiertes Frauenbild – ein Marienbild eben? Was bedeutet kindliche Unschuld, was Reinheit? Was bedeuten die Gesten und das üppig geraffte Gewand Marias? Wie könnte diese Frau heute denken und fühlen? Wie möchte sie in unserer Zeit leben?« (Müller-Rösler et al., 2012, S. 81). Im Dialog mit der »Veilchen-Madonna« ging es um eigene Wünsche, Ansprüche und Erwartungen an die Frauenrolle. Wie möchte ich gerne sein, bin ich für andere attraktiv? Welche Ziele lohnt es zu verfolgen? »Auf der Suche. Nach was? Nach wem? Wohin?« (s. Abbildung 5). Vom Thema Nähe und Distanz handelt auch eine Fotoarbeit der Künstlerin Bettina Gruber »TagDämmerungNacht«: An einem langen Tisch sitzt ein traurig wirkender Junge und von ihm deutlich entfernt eine ältere Frau, die ihn über eine Fütterungsmaschine mit Nahrung versorgt. Das Bild löst Irritationen und eine wahrnehmbare Spannung aus, die sich auf eine sehr direkte Art und Weise auf die Betrachter überträgt. Und es berührt ein zentrales Thema der essgestörten Patientinnen: Wie freiwillig nehme ich Mahlzeiten ein? Kann ich sie genießen? Fühle ich mich dabei kontrolliert und beobachtet? Andere Gedankenassoziationen wurden von der dargestellten Distanz zwischen Mutter und Kind ausgelöst: Wie erlebe ich meine familiären Beziehungen? Erfahre ich Zuneigung und Unterstützung? Wie gehen meine Eltern mit mir um? Die Fotoarbeit führt zu ganz unterschiedlichen Reaktionen bei den Beteiligten. Sie evoziert Erinnerungen und Gefühle, die in der Psychotherapie aufgegriffen und bearbeitet werden können. Die Jugendlichen betrachten schließlich die Terrakottafigur »Stehende im weißen Kleid« von Leiko Ikemura, einer japanisch-schweizerischen Künstlerin. Es fällt ihnen schwer, die Figur auf eine Ausdrucksweise festzulegen. Es gibt hier viele »Wahrheiten«. Zögernd werden verschiedene Sichtweisen geäußert (Müller-Rösler et al., 2012, S. 58): ȤȤ Wirkt zerbrochen, zerbröselt. ȤȤ Sehe sie hilflos und leidend. Kreativität, Phantasie und Spiel

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ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ

Macht, was sie will, streckt mir die Zunge raus. Sie wirkt so krumm, gebeugt, schief. Lacht über die Welt. Weg von der eigentlichen Welt, losgelöst. Erlöst wovon? Ich finde sie nur nachdenklich. Ist sie krank? Was ist mit ihren Armen? Sie sind zu kurz.

Alle sehen die gleiche Figur, aber sie ruft verschiedene Ideen und Empfindungen hervor.

3.2  Kunst als Entwicklungsförderung Wie kann es gelingen, sich mit belastenden Konflikten und Symptomen auseinanderzusetzen, sie wahrzunehmen und zu reflektieren? Welche Antworten finden sich auf herausfordernde Krisen und schwierige Lebenssituationen? Der Hiob-Altar aus dem 15. Jahrhundert im Wallraf-Richartz-Museum war Ausgangspunkt, sich mit schweren individuellen Schicksalsschlägen zu beschäftigen und sich mit Themen wie Angst, Leid, Tod, Zweifel und Unsicherheit auseinanderzusetzen. Das Triptychon mit Szenen aus dem Leben Hiobs verdeutlicht den Jugendlichen, dass biblische Themen trotz aller technischen Fortschritte ihre Aktualität über die Jahrhunderte nicht verloren haben. Da es Jugendlichen heute oft schwerfällt, ihre Biografie in einen historischen Kontext einzuordnen, schärft der »Blick zurück« die Sicht auf die Gegenwart und das eigene Los (Müller-Rösler et al., 2012, S. 124). Welche Assoziationen und Fragen rufen die mittelalterlichen Altartafeln hervor? Welche Symbole lassen sich in ihnen auffinden und welche Botschaft stellen sie für uns heute dar? Museumsbesuche, Recherchen im Internet zum Verständnis mittelalterlicher Malerei und die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bildeten die Grundlage für die eigene künstlerische Gestaltung: Kopien des Retabels werden zu eigenen Bildergeschichten. Mit30

Zur Funktion künstlerischen Gestaltens

telalterliche Comics nehmen Gestalt an. Bildinhalte und Positionen werden nachgestellt, Gedichte und Texte formuliert, passendes Material gesammelt, Fragen an Hiob entwickelt. Großformatige Zeichnungen und Fotografien entstehen, die mittels Ensemble-Technik, Collage-Technik und Acrylmalerei zu 6- und 8-teiligen Leporellos zusammengefügt werden (siehe Abbildung 7‒9). Das schicksalhafte Ausgeliefertsein, aber auch die stoische Gelassenheit von Hiob beschäftigen die Jugendlichen. Sie spüren in der Gruppe und im gemeinsamen Gespräch über ihre Erfahrungen, dass sie mit Kunst Zusammenhänge mit eigenen Gefühlen, Sehnsüchten, Konflikten, Bedürfnissen und Ängsten herstellen können. Es offenbart sich eine starke Sehnsucht nach Trost und Gemeinschaft. Es entwickeln sich Fragen, die im Gruppen- und Einzelgespräch weiter geklärt werden: Was und wer tröstet uns? Wann ist der Trost ausreichend? Welche Alltagsrituale helfen uns? Die Collagen und Leporellos belegen eindrucksvoll, wie die intensive Beschäftigung mit dem HiobAltar und -Thema eigene Ängste und frühere Erfahrungen lebendig und in der symbolischen Darstellung sichtbar macht. So äußert eine Teilnehmerin zum dritten Leporello (siehe Abbildung 9): »Es brennt, Häuser stürzen ein, blanker Terror, die Welt löst sich auf. Die letzten Monate in meinem Leben kann ich darin wiedererkennen. Vieles war schrecklich und belastend, wie kann ich damit fertigwerden?« Der Austausch über universelle Lebensthemen und Leiderfahrungen wird als wichtiger Anstoß für die eigene Orientierung und Bewältigung von Problemen verstanden. Auf die Frage »Was würde ich tun, wenn ich Hiob wäre?« finden die Jugendlichen sehr persönliche Antworten: ȤȤ »Ich könnte seine Situation zwar aushalten, allerdings aus Überlebensinstinkten heraus. Mit wenig Hoffnung auf ein besseres Leben nach altem Standard. Ich wäre wütend auf Gott und verzweifelt. Meine Verzweiflung würde sich mit jedem Tag, den ich ohne meine Familie und Reichtümer verbringen müsste, steigern.« ȤȤ »Wenn ich Hiob wäre und in seiner Notlage stehen würde, dann würde ich mich als Erstes fragen, was ich Falsches oder Unrechtes Kunst als Entwicklungsförderung

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getan habe. Ich würde aber trotzdem weiterhin beten. Ich würde bestimmt irgendwann alles zurückbekommen. Denn das Leben ist mir das wichtigste Gut, der Reichtum war mir nie so wichtig. Meine einzige Hoffnung wäre, dass Gott meine Gebete hört und, was auch immer ich angestellt habe, mir vergibt und mich am Leben lässt und Gnade walten lässt.« ȤȤ »Wenn ich Hiob wäre, dann würde ich mich hintergangen fühlen und Gott nicht länger treu sein. Ich würde auf meine Freunde hören und das Glück, das ich habe, nicht länger herausfordern. Dann würde ich mir Gedanken darüber machen, warum es gerade mich trifft. Ich hätte keinen Bock mehr auf mein Leben. Spätestens an dem Punkt, wo meine Kinder sterben müssten, würde ich mein Leben beenden wollen.« ȤȤ »Wenn ich Hiob wäre, würde ich mich ungerecht behandelt fühlen und mich fragen, warum mir das alles passiert. Ich würde versuchen, etwas zu ändern, um meinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Ich als Hiob würde ein sorgloses Leben führen und hätte nur noch einen Wunsch: einen guten Tod. Ich würde Freunde und Familie ehren und behüten. Mein Leben ist einfach toll. Wenn ich Hiob wäre, würde ich Gott verabscheuen und meinen Glauben an ihn verlieren.«

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Zur Funktion künstlerischen Gestaltens

Abbildungen

Abbildung 1: Jugendliche vor dem Gemälde »Fischerboote im Mondschein« (Aelbert Cuyp, ca. 1650)

Abbildung 2: »Der Herzpavillon« – Zeichnung einer 14-Jährigen

Abbildung 3: »Ohne Hoffnung« (Gemälde von Frida Kahlo, 1945)

Abbildung 4: »Schreite wie ein Pfau« – kommentiertes Szenenfoto zu »Berühr mich nicht/ Zerbrechlichkeit«

Abbildung 5: »Auf der Suche« – kommentiertes Szenenfoto zu »Berühr mich nicht/­ Zerbrechlichkeit«

Abbildung 6: »Die Rose bewegt sich und mich« – Szenenfoto zu »Berühr mich nicht/­ Zerbrechlichkeit«

Abbildung 7‒9: Von Jugendlichen erstellte Hiob-Leporellos – Themen: Gewalt, ­Ohnmacht, blanker Terror

Abbildung 10: »Rubens, Du & Ich« zum Thema Freundschaft

Abbildung 11: »Wir Mantuaner Freunde heute« – vor Rubens’ »Mantuaner Freunde« von 1604

Abbildung 12: Inszenierung eines eigenen »Freundschaftsbildes«

Abbildung 13: Beim Zeichnen eines »Freundschaftsbildes«, angeregt durch das ­Rubens-Bild

Abbildung 14: Sich Spiegeln im Barock

Abbildung 15 und 16: Zwei Collagen zum Thema »Barockwelten – damals und heute«

Abbildung 17 und 18: Zwei Szenenfotos aus der Performance »Wenn ich Hiob wäre: Trauer und Trost«

Abbildung 19: Übermalung »Ich in Manets ›Frühstück im Grünen‹«

Abbildung 20: Manets »Frühstück im Grünen« in Szene gesetzt

Abbildung 21: »Der Lichtschein, der hinter den Bergen hervorkommt« – Jugendliche vor einem Landschaftsbild

4 Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten

Den Prozess der kreativen Gestaltung und Selbstfindung definiert Boothe (2011, S. 1) folgendermaßen: »All dies geschieht im Ringen um Form. Form soll gewinnen, was sich ereignet hat, vor kurzem, vor langem, und was noch Eindruck macht auf den, der darin oder dabei gewesen ist. Es macht noch Eindruck. Oder wieder Eindruck. Erzählend gewinnt der Eindruck Gestalt für den Betroffenen und sein Publikum. Das ist narrative Formgebung im Nachhinein, Darstellungsarbeit in Nachträglichkeit. Die Darstellung soll zu Herzen gehen, das heißt, sie soll Wirkung haben auf den anderen und auf die psychische Verfassung des Erzählers.« Die Begegnung mit Kunstwerken löst »tausend Gedanken und Gefühle« aus, wie eine Patientin feststellt, und regt an, diesen Eindrücken eine »Gestalt« zu geben, sich mit ihnen intensiv auseinanderzusetzen, sich über sie in der Therapie auszutauschen und zu verstehen, was sie in uns auslösen.

4.1 Kunst und soziale Medien im therapeutischen Prozess Die »tausend Gedanken und Gefühle« wirken nach und können somit in der Therapie aufgegriffen und genutzt werden. Warum ruft mein Lieblingsbild Erinnerungen an Kindheitserlebnisse hervor? Welche Darstellungen berühren mich am stärksten und worauf reagiere ich mit Ablehnung und Irritation? 49

Wie bereits eingangs ausgeführt, besitzt Kunst für de Botton und Armstrong (2013) die Funktion eines »therapeutischen Mediums«. Die Frage bleibt, wie wir es nutzen und therapeutisch einsetzen. Oftmals berichten Patienten über Kunstwerke, von denen sie beeindruckt sind, die sie nicht mehr loslassen. Für Therapeuten bietet sich dadurch die Möglichkeit, nachzuvollziehen, welche bewussten und unbewussten Themen den Patienten beschäftigen. Kunst dient so als Brücke und trägt dazu bei, sich schwierigen Fragen zu nähern, die sonst nicht zu verstehen sind. Bilder z. B. verschlüsseln häufig symbolhaft anstehende Lebensaufgaben und -herausforderungen. Mit ihrer Hilfe gelingt es dann leichter, sich diesen Problemen anzunähern. Umgekehrt fördern Kunstwerke die Symbolisierungsfähigkeit des jungen Menschen, Kunst bietet ihnen Muster und Beispiele. Angesichts einer bei Jugendlichen heute oft beklagten Neigung zum Konkretistischen und affektiven Ausagieren scheint das kein unwichtiger Aspekt zu sein. Freundschaften, Nähe und Geborgenheit stellen grundlegende Bedürfnisse in jeder Altersgruppe dar. Während auf Facebook täglich jede Menge Kontakt stattfindet, wächst durch den digitalen Austausch von Intimität die Gefahr, »die Fähigkeit zu verlieren, Gefühle von Mensch zu Mensch zu kommunizieren« (Kurianowicz, 2014). Für viele Patienten sind die Angst vor Verletzlichkeit, der Rückzug aus sozialen Beziehungen und enttäuschende Zweierbeziehungen ein wichtiger Grund, eine Psychotherapie aufzunehmen. Viele befürchten, dass wir in einer zunehmend narzisstisch geprägten Gesellschaft leben, »in der soziale und familiäre Verbände an Bedeutung verlieren und die Ich-Modellierung immer wichtiger wird« (Praschl, 2013). Im »Selfie« zeigt sich der Zwang zur Selbstdarstellung und Selbstoptimierung. Die damit verbundenen Ansprüche sind nur schwer einzuhalten, sodass sich Vorstellungen, Phantasien und Träume über uns selbst in der Realität nur begrenzt wiederfinden. Selfies haben den Sinn, sich in sozialen Netzen zu präsentieren, um möglichst viele »Likes« einzufahren. Was aber hat das mit dem Thema Kunst zu tun? 50

Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten

Die Begegnung von Kunstwerk und Selfie nimmt zu, denn immer mehr Menschen posieren im Museum vor der »Mona Lisa« oder modernen Skulpturen (Lorch, 2014). Dabei zeigen besonders viele Selfies im Hintergrund Gemälde: »Die wenigsten stellen sich vor eine Landschaft, die meisten konkurrieren direkt mit einem anderen Portrait, was die alten Gesichter in Spitzenkragen noch einmal blasser wirken lässt. Kunstgeschichte und Kunstkritik haben schon lange ihre Betrachtung auch auf zeitgenössische Bildmedien ausgedehnt – aber selten sahen Welten so unvereinbar aus wie auf den vielen Schnappschüssen« (S. 11). Die Porträts im Museum folgen einer eigenen formalen Logik, »mit eigenen Erzählmustern und strukturellen Regeln, und das Genre kann so lange überleben, bis alle Aspekte der Fragestellung, die seine Entstehung begründet hat, abschließend verhandelt sind« (Saltz, 2014). Ausgehend von Peter Paul Rubens’ Freundschaftsbild (»Mantuaner Freunde«, 1604), einem Hauptwerk der Barocksammlung des Wallraf-Richartz-Museums und Eckpfeiler in der persönlichen Biografie des Malers, der seine glanzvolle Karriere noch vor sich hat und voller Zuversicht in die Zukunft blickt, entwickeln junge Erwachsene und Jugendliche ihre Vorstellungen von Freundschaft (siehe Abbildung 8). Dazu verabredete sich eine Gruppe von »Freunden« im Museum zu einem Fotoshooting vor diesem Gemälde. Es wurde von den Jugendlichen nachgestellt und fotografiert (siehe Abbildung 11), Video-­ dokumentiert, spielerisch in Szene gesetzt (siehe Abbildung 12) oder zeichnerisch aufgegriffen (siehe Abbildung 13). Danach entwickelte die Gruppe gemeinsam eigene, zeitgemäße Freundschaftsideen und -bilder und stellte ihre Ergebnisse auf Facebook vor. Dies führte zu einer Vielzahl von Kommentaren und Ideen zum Thema Freundschaft, die eigene Erfahrungen und Wünschen schildern: ȤȤ »Hier meine Sätze über Freundschaft: Freundschaft ist eine Tür zwischen zwei Menschen. Sie kann manchmal knarren, sie kann Kunst und soziale Medien im therapeutischen Prozess

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klemmen, aber ist nie ganz verschlossen. Es hat mich gefreut, mitzumachen« (Jana, 19 Jahre). ȤȤ »Echte Freunde helfen einander und lassen sich nicht im Stich. Sie füllen die Schwächen und Ängste gegenseitig mit neuer Energie und eigenem Wissen und Erfahrungen aus. Wie in einem Puzzle, in dem ein Teil das andere perfekt ergänzt. Wie in dem Kinderbuch, in dem ein Schwein, eine Maus und ein Hahn durch gegenseitige Hilfe und Unterstützung es schaffen, zusammen Fahrrad zu fahren. Ich glaube, das Buch heißt sogar ›Freunde‹. Außerdem ist Freundschaft auch das Teilen von Kleinigkeiten wie Keksen oder auch von Erfahrungen und gemeinsamen Erinnerungen. Darum ist für mich das Wichtigste in einer Freundschaft die gegenseitige Unterstützung und das Haltgeben, was auch immer auf einen zukommen mag, egal, welche Wege gegangen werden« (Jana, 16 Jahre). ȤȤ Eine 17-jährige Teilnehmerin schreibt: »Das Rubens-Bild hat mich am Anfang nicht so sehr beeindruckt, aber als ich mich selbst in die Rolle der Protagonisten versetzen musste, verstand ich, dass das Bild wirklich etwas mit Freundschaft zu tun hat.« ȤȤ Und eine andere: »Das Bild ist total anziehend. Man hat das Gefühl, dass Rubens jeden Moment aus dem Bild treten würde, das macht es sehr lebendig. Er will sich auf den Weg des Lebens machen, und seine wichtigsten Freunde stehen hinter ihm, egal wie ›weit‹ weg sie sind.« Soziale Netzwerke und Museumsbesuche ergänzen sich gut, wenn es darum geht, sich intensiv mit dem Thema enger Beziehungen auseinanderzusetzen. Das Internet kann den Jugendlichen eine Plattform und Möglichkeit bieten, sich über ihre im Museum gemachten Erfahrungen und Eindrücke mit anderen auszutauschen und sie künstlerisch zu inszenieren (z. B. auf Instagram). Dort gibt es keine Bevormundung, und man kann sich absolut frei fühlen. Gute Arbeiten (Fotos) werden beachtet und anerkannt. Doch was bei allem Austausch im Internet nicht möglich ist, gelingt im Museum: Man kann sich in den Bildern und Objekten 52

Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten

spiegeln, sich von ihnen abgrenzen und sich darin wiederfinden, daraus Neues entwickeln und inszenieren. Denn im Museum lässt sich Neues generieren. Wir lernen und werden angestoßen, Dinge neu zu betrachten und zu entdecken – auch unsere eigenen Emotionen und biografischen Bezüge. Denn die Kunstinstitutionen verfügen über – und das bringen sie uns unmittelbar nahe – das notwendige historische Gedächtnis (Groys, 2016). Auf diesem Weg vermitteln sie dem Betrachter einen Zugang zur eigenen Lebens­ geschichte und -wirklichkeit.

4.2  Kunst als Erfahrungsraum Was kann Kunst über das Lebensgefühl früherer Epochen vermitteln? Und welche Anregungen ergeben sich daraus für unsere heutige Lebenssituation? Barockbilder des Wallraf-Richartz-Museums – »Fischerboote beim Mondschein« von Aelbert Cuyp, »Canal Grande in Venedig« von Canaletto, »Dovedale bei Mondlicht« von Joseph Wright of Derby – waren Ausgangspunkte, der Entstehung und dem Hintergrund von natürlichem und künstlichem Lebensstil nachzuspüren. Das Barockthema wurde dabei als Projektionsfläche für eigene Emotionen, Wünsche, Lebenspläne, Phantasien, Normen und Werte genutzt, um die Beschäftigung mit aktuellen Lebensfragen anzuregen: ȤȤ Wie entstehen Bilder, die unsere Gesellschaft und ihre (scheinbaren) Bedürfnisse spiegeln? Welche Absichten verbergen sich hinter diesen Bildern? ȤȤ Was bedeuten Moden für mich? Wie kann ich mich dagegen abgrenzen und behaupten bzw. eigene Vorstellungen entwickeln? ȤȤ Was erfahre ich als künstlich und was erlebe ich als authentisch? ȤȤ Welche Rollen spiele ich im Alltag? ȤȤ Wie inszeniere ich mich? Die Teilnehmenden suchen sich in der Barockabteilung des WallrafRichartz-Museums ein »Lieblingsstück« aus. Sie sollen es aufmerksam Kunst als Erfahrungsraum

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betrachten und mit wenigen Worten ihre ersten Eindrücke beschreiben. Im Gespräch darüber wird deutlich, wie unterschiedlich die Wahl der »Lieblingsstücke« ausfallen kann und wie sehr das Medium die Dualität in der emotionalen Betrachtungsweise aufzubrechen vermag. Unbelastet von historischen Bedeutungen wird gemeinsam herausgefunden, welche Gedanken, Erinnerungen, Gefühle und Reize zu der persönlichen Auswahl des Bildes verlockt haben. »Die junge Frau, die mich mit wachen Augen aus dem Bild heraus anblickt, ist nicht dieselbe Person wie ich. Aber irgendwo ist sie mir vertraut und sucht so meine Aufmerksamkeit. Ihr Blick fordert mich auf, ihr in die tieferen Schichten des Bildes zu folgen, und in meiner Imagination wird das Leben einer jungen Frau lebendig, die sich mit großer Selbstverständlichkeit in ihr von harter Arbeit geprägtes Leben fügt. Meine Blicke wandern über ihre Figur, über ihre prallen Körperformen und vermitteln mir eine Ahnung von damaligen Schönheitsidealen« (Sara, 18 Jahre; siehe auch Abbildung 14). Die ausgesuchten Bilder rufen eine Vielzahl von Assoziationen und Fragen hervor: ȤȤ Die auf einem Gemälde ganz in Schwarz gekleidete Frau fesselt den Blick von Luisa (16 Jahre). Sie kommuniziert mit ihr in einem fiktiven Interview: »Wie alt bist du? Warum trägst du Schwarz? Ist dein Kind gestorben? Warum geht dein Blick in die Ferne? Bist du traurig? Wo ist dein Mann? Hast du eine Freundin, mit der du reden kannst? Wer hat dein Trauerkleid genäht? Wo wohnst du? In welchem Land bist du geboren?« ȤȤ Nadine (18 Jahre) verweilt lange vor dem Gemälde »Fischerboote im Mondschein« (um 1650) von Aelbert Cuyp und gibt ihrem Lieblingsstück einen neuen Titel: »Die Stille trügt«. »Als Erstes fällt mir der Mond auf und zieht meinen Blick näher zum Bild hin. Der Mond, welcher halb hinter den Wolken verschwindet, und der Nebel, der sich durch das Bild zieht, wecken mein Interesse. Ich sehe: ein Schiff, das an einer vom Mond beschienenen Anlegestelle liegt. Rechts davon ist eine Windmühle. Weiter draußen auf dem Meer bemerke ich drei weitere Schiffe, die aber schon im 54

Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten

Nebel verschwinden. Das Bild ist in Grautönen gehalten. Ich spüre etwas Geheimnisvolles und eine Ungewissheit. Diese Ungewissheit macht aber mehr Angst, als sie Neugier erweckt. Mein Gefühl wird bestimmt von Angst, Neugierde und Unsicherheit. Das Bild erinnert mich stark an meine momentane Situation. Ich habe Angst, wenn ich in das Boot steige und losfahre. Durch den Nebel weiß ich nicht, wohin ich fahre, erkenne nur schwer einen Weg und weiß nicht, was mich erwartet, wenn der Nebel sich lichtet. Angst vor einer ungewissen Zukunft. ›Die Stille trügt‹ und das bedeutet nichts Positives« (siehe Abbildung 1). ȤȤ Lina (18  Jahre) erinnert sich beim Betrachten von Canalettos »Canal Grande in Venedig« (um 1742) »an einen Urlaub in Italien mit Snudi und Flo, an den Geschmack von Zitronensorbet, an den Geruch von geschmolzenem Mozzarella, an das Schreien der Tauben und an ihr Spiegelbild im Wasser«. Sie spürt eine Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit. ȤȤ Selma (18 Jahre) hat sich ein Landschaftsbild von Joseph Wright of Derby »Devendale bei Mondlicht« (um 1785) ausgesucht. Als unsichtbare Besucherin betritt sie die nächtliche Landschaft und beschreibt ihre Wanderung: »Erst schien mir das Bild in seiner sehr dunklen Landschaftsbeschreibung eher langweilig. Aber etwas daran zog mich magisch an. Nach einiger Zeit erschien mir das Bild in seiner polarisierenden Darstellung von hell (Mond) und dunkel (Landschaft) fast mystisch. Bei längerem Hinsehen entdeckte ich in der fast schwarzen Landschaft immer mehr Details, die meine Phantasie beschäftigten. Es ist kalt, mich friert’s und ich fühle mich unbehaglich. So düster, wie es ist, sehe ich meine Hand vor Augen kaum, sehe nicht, wo ich meine Füße hinsetze. Schon stolpere ich, kann mich aber doch noch halten und bemerke, dass es ein abgebrochener, morscher Ast war, der mich beinahe zu Fall gebracht hätte. Es ist wohl von dem Baumstumpf, der da so leblos, seiner einstmals prächtigen Baumkrone beraubt, und abgestorben vor mir steht. Am liebsten würde ich weglaufen, drehe mich nach links. Doch dann: Ein Licht im Augenwinkel zieht mich an. Ein Kunst als Erfahrungsraum

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helles, schönes Mondlicht, von dem ich meine Augen nicht fortwenden kann. Wie verzaubert erscheint ein kleiner See, Wasser und damit Leben, baut sich vor mir auf. Zwischen silbrigem Schein und Schatten, die stille Mystik verbreiten, spüre ich Hoffnung und weiß, dass es weitergeht. Immer mehr gibt es zu entdecken, was mich begeistert. Schaurig schön ist die Stimmung, große Wolken trüben das Licht. Auch wenn ich ein wenig Angst habe, verringert oder verdunkelt das meine Neugier nicht, ich bleibe stehen und betrachte ruhend die Natur, die so viel mehr verbirgt, als man zu glauben wagt. Langsam sowie fragend schreite ich weiter, dem Horizont entgegen.« Beeindruckend sind Fülle und Reichhaltigkeit der Perspektiven und Einfälle. Die »Lieblingsstücke« waren Ausgangspunkt, um sich eigenen wichtigen Themen zu nähern. Beim Betrachten der Gemälde werden Überfluss und Pracht des Barocks deutlich, der »äußere Schein«. Die Jugendlichen erkennen darin eine auch für sie hochrelevante Problematik: ȤȤ Was verstärkt unser Erscheinungsbild? ȤȤ Welche Prioritäten setze ich für mich? ȤȤ Welche Leitbilder aus den Medien beeinflussen meine »Inszenierungen«? Die aufgetretenen Phantasien und Wünsche finden ihre Umsetzung in verschiedenen Gruppenarbeiten, Collagen und Arrangements (siehe Abbildung 15 und 16; Müller-Rösler et al., 2012, S. 139–141). Es geht um den persönlichen Zugang zu den jeweiligen Kunstwerken, spontane Eindrücke und Ideen. Die Jugendlichen betrachten langsam und konzentriert eine Abbildung von Jan Vermeers »Briefleserin am offenen Fenster« (1657). Was sehen sie? Eine junge Frau, die einen Brief in der Hand hält. Ihr Gesicht spiegelt sich im geöffneten Fenster. Sie wirkt traurig und verloren. Etwas ist aus dem Gleichgewicht geraten. Die Obstschale kippt 56

Die Entdeckung eigener schöpferischer Fähigkeiten

zur Seite. Was steht in dem Brief? Die Jugendlichen phantasieren (Müller-Rösler, 2012, S. 152) – mal in »barocken« Briefen, mal in SMS: ȤȤ »Meine liebste Antonia, ich bedauere es zutiefst, dir mitteilen zu müssen, dass ich in naher Zeit nicht zurückkehren werde. Ich werde daheim von meiner Familie gebraucht und werde sie mit Herz und Seele unterstützen. Es schmerzt mich am ganzen Körper, nicht bei dir sein zu können und dir das zu bieten, was du verdienst. Ich hoffe, du verzeihst mir bei gegebener Zeit und kannst mein Handeln nachempfinden. Lebe wohl – in Liebe Klaus« (Brief Annabel). ȤȤ »Hey Antonia, alles klar bei dir? Ich denke, wir sehen uns erst mal nicht. Ich muss umziehen, weil es Stress in der Familie gibt. Ich find’s echt Scheiße und kann nichts dafür. Ich hoffe, wir hören mal was voneinander. Bitte sei nicht böse, hab dich echt gern! Klaus« (SMS Annabel). ȤȤ »Meine liebe Freundin, ich schreibe dir in notgedrungener Eile. Der von uns so ersehnte Besuch kann nicht stattfinden, mein Herr Vater lässt mich keinen einzigen Augenblick unbeobachtet. Diese Zeilen an dich – man stelle es sich vor! – verfasse ich auf der Toilette, hier wird mir wenigstens noch ein Moment für mich gegönnt. Sobald sich eine Möglichkeit abzeichnet, ich vielleicht dann doch wieder das Privileg des Vertrauens habe, werde ich dir Bescheid geben! Mutters Magd ist ein verlässlicher Bote, sie verlangt lediglich einen Gulden für ihre Gänge. In tiefster Freundschaft und dir das Beste wünschend« (Brief Selma). ȤȤ Süße! Sorry, ich kann doch nicht kommen. Mein Dad stresst total – melde mich, wenn’s wieder besser aussieht! Kuss« (SMS Selma).

Kunst als Erfahrungsraum

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5  Kunst – ein Weg zur Identitätsfindung

Auch wenn Thomä und Kächele (1988) aus psychoanalytischer Sicht eine rein sozialpsychologische Ableitung der Identitätsentwicklung ablehnen (»von außen nach innen«), sehen sie ernste Konsequenzen für das Verständnis der zwischenmenschlichen »Spiegelung«, wie sie z. B. Luckmann (1979, S. 299) vertritt: »Insofern aber nun die Erfahrungen des Anderen auf ihn selbst zurück gerichtet sind, ›spiegelt sich der Mensch im Mitmenschen‹. In sozialen Beziehungen, die in einem gemeinsamen Umfeld stattfinden, erfährt der Mensch sich selbst auf dem Umweg über Mitmenschen. Die Fähigkeit zu wechselseitiger ›Spiegelung‹ ist die Grundvoraussetzung dafür, dass der einzelne Mensch eine persönliche Identität ausbildet.« Dieses Verständnis von Spiegelung lasse Freuds Spiegelmetapher, so Thomä und Kächele (1988, S. 89), im Sinne einer vermittelten Selbstreflexion begreifen. In der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken – ob allein oder in eine Gruppe – eröffnen sich neue Wege der Selbst- und Fremdspiegelung. Hierbei geht es nicht primär um die Wahrnehmung bisher unbewusster Inhalte und der mit ihnen verbundenen Emotionen, die der Patient erfährt: »Entdeckung oder Wiederentdeckung vollziehen sich im Rahmen einer besonderen Kommunikation, die es ermöglicht, eine neue Beziehung zu sich selbst zu finden« (Thomä u. Kächele, 1988, S. 89). Diese durch die Begegnung mit Kunstwerken vermittelten neuen Eindrücke können dann den psychotherapeutischen Prozess bereichern. 58

5.1  Der narrative Zugang Es gibt keine andere Möglichkeit, gelebte Zeit zu beschreiben, als die narrative Form (Siefer, 2015a, S. 178). Die eigene Geschichte hilft, Antworten auf zentrale Lebensaufgaben zu finden: Wer bin ich, wohin wird sich mein Leben entwickeln? Diese Sinnfragen bewegen uns besonders in Zeiten seelischer Krisen. Die Begegnung mit Bildern kann hier zu mehr Klarheit führen, wie die Auseinandersetzung von Patienten mit dem Hiob-Altar zeigt. Er ist Anlass, über persönliche schwierige Situationen und belastende Lebensereignisse nachzudenken. Frühere Erfahrungen tauchen auf, werden lebendig und mitteilbar. Beziehungen zur eigenen Biografie ergeben sich, Erinnerungen an bedrohliche Ereignisse werden präsent, Demütigungen von früher haben tiefe, schmerzhafte Spuren hinterlassen. Ereignisse der Lebensgeschichte können in einen Zusammenhang gebracht und es kann ihnen eine Form gegeben werden: »Erzählen ist also nichts anderes, als Schauspieler mit innerem Antrieb auf die Bühne des eigenen Bewusstseins zu stellen. Was andere wollen, kann niemand wissen, das ist die Conditio humana und war es seit Anbeginn der Menschheit« (Siefer, 2015b). In der Beschäftigung mit dem Hiob-Altar versuchten die Teilnehmenden, ihr Erleben von Schmerz und Trost in einer Performance darzustellen (siehe Abbildung 17 und 18). Die Fotos zeigen, worum es ihnen dabei geht: das Streben nach Zuspruch, Normalität der Beziehungen und Freundschaften. Hiob gab wichtige Anstöße, über das Leben intensiver – sowohl in der Gruppe als auch im therapeutischen Dialog – nachzudenken und zu reflektieren. Nur auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass die zeitliche Distanz zur historischen Thematik eine Nähe im Zugang ermöglicht. Allzu plakative Aktualität kann auch Widerstände verstärken. Im Dialog mit einer historischen oder fiktiven Person müssen Jugendliche für ihre Entäußerungen weniger Verletzbarkeit oder Peinlichkeit fürchten. Und sie spüren, dass sie mit ihren Fragen und Unsicherheiten nicht allein dastehen, nicht Der narrative Zugang

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»aus der Welt fallen«, sondern sie über alle Zeiten hinweg mit vielen anderen teilen.

5.2 In Beziehung treten: Selbst- und Fremdwahrnehmung Kunstwerke können einen Zugang zum eigenen Erleben vermitteln und eine Projektionsfläche für Wünsche, Phantasien, Ängste und Befürchtungen darstellen, vor allem dann, wenn sie eine Thematik evozieren, die den Betrachter in besonderer Weise berührt und betrifft. So löste die Auseinandersetzung mit Manets »Frühstück im Grünen« bei den überwiegend an Essstörungen leidenden Patientinnen eine Vielzahl von Fragen aus: ȤȤ Warum ist die Frau nackt? Hat sie sich dort im Grünen ausgezogen? ȤȤ Gehört sie dazu oder ist sie zufällig dort? ȤȤ Sind es zwei Paare oder kämpfen beide Männer um die nackte Frau? ȤȤ Ist der Mann links im Bild blind? ȤȤ Hat die Frau gebadet? ȤȤ Bestimmt der Mann rechts im Bild, was die Frau tun soll? ȤȤ Das Essen wird vorerst verachtet! ȤȤ Sieht man hinten die gleiche Frau? ȤȤ Warum picknicken sie mitten im Wald? ȤȤ Warum liegen die Kleider beim Essen? ȤȤ Über was reden sie? ȤȤ Was macht die Frau im Hintergrund? ȤȤ Warum haben die Männer eine schwarze Kopfbedeckung und schwarze Kleidung? ȤȤ Warum ist die Frau im Hintergrund so erschöpft? ȤȤ Will der Mann mit dem Boot wegfahren? ȤȤ Ist es Nacht? ȤȤ Welches Leid geschieht hier? (nach Müller-Rösler et al., 2012, S. 64), 60

Kunst – ein Weg zur Identitätsfindung

Sich selbst in das Bild zu versetzen (siehe Abbildung 19), vertieft die inhaltliche Beschäftigung: Was bedeutet mir Essen? Kann ich es mit anderen gemeinsam genießen und teilen? Wie wirke ich dabei auf die anderen? Die Szene wird nachgestellt und vor allem mit körperlichen, nichtsprachlichen Mitteln im Sinne eines Enactments gestaltet (Streeck u. Leichsenring, 2009, S. 125). Folgende Punkte sind dabei von Bedeutung: ȤȤ Welche Fragen und Gefühle kommen beim Spiel auf? ȤȤ Welche Bedeutung weise ich durch meine Darstellung den Protagonisten in Manets Gemälde zu? ȤȤ Wie sehen mich die anderen? ȤȤ Bin ich sehenswert? ȤȤ Spiele ich meine Rolle gut? ȤȤ Was ist verführerisch? ȤȤ Bin ich im Moment begehrenswert? Die Teilnehmerinnen schlüpfen in die verschiedenen Rollen, probieren sie aus, erweitern und verändern ihre Perspektiven (siehe Abbildung 20). Auch das bereits angesprochene Freundschaftsbild von Peter Paul Rubens war Anlass, sich mit den Themen Sympathie, Vertrauen, nahe Beziehungen und Bedeutung sozialer Netze auseinanderzusetzen. Mithilfe von Fotoshootings vor dem Gemälde, Selfies, Austausch und Mitteilungen in einem speziellen Chat kamen die Teilnehmenden untereinander stärker in Berührung und wurden sich ihrer Erwartungen an Nähe und Freundschaft besser bewusst. Im Vordergrund des Gemäldes lädt der Künstler durch seine zugewandte Haltung den Betrachter dazu ein, mit ihm und einer Gruppe von Männern Kontakt aufzunehmen. Er setzt sich ins »rechte Licht«. Seine selbstbewusste Körperhaltung spiegelt uns das Porträt eines hoffnungsvollen, später äußerst erfolgreichen Mannes des 16. Jahrhunderts wider. Welche Assoziationen beschäftigen uns beim Betrachten heute? Was erzählen die Gesichter von den Freunden? Der mehrdeutige AusIn Beziehung treten: Selbst- und Fremdwahrnehmung

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druck der Protagonisten löst Unsicherheit aus, Bewunderung, Neid, Gleichgültigkeit, Sympathie und Zuwendung. Die »Mantuaner Freunde« regen zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema an, wie die Rückmeldungen der Jugendlichen deutlich zeigen, z. B. folgende: »Das Bild scheint sehr unscheinbar in dem großen Raum. Erst als ich mich mit dem Bild beschäftigt habe, fiel mir die tiefe Wirkung und Darstellung der Freundschaft auf. Es ist ein Bild der Freundschaft, in dem jede Person eine wichtige Rolle spielt, egal wie weit sie im Hintergrund erscheint. Freundschaft bedeutet für mich Vertrauen und Zusammenhalt. Dass man Verständnis und Respekt zeigt. Freundschaft ist für mich, nicht nur viel zu reden, sondern dass man auch miteinander schweigen kann, ohne dass es unangenehm wird.«

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Kunst – ein Weg zur Identitätsfindung

6 Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs

Welche Rolle kann Kunst im psychotherapeutischen Rahmen einnehmen? Verstärkt ihre Einbeziehung die Abwehrfunktionen, kommt sie einem Widerstand gleich, um wichtigen Fragen in der psychodynamischen Arbeit und Beziehung auszuweichen? Oder kann sie für eine »vermittelte Selbstreflexion« genutzt werden? Und wie wirkt es sich auf die therapeutische Arbeit aus, wenn sich Patient und Therapeut über ein »externes« Hilfsmittel austauschen und sie darüber kommunizieren? Die Erfahrungen belegen, dass Kunst immer dann ein hilfreiches Projektionsfeld darstellt, wenn allein mit sprachlichen Mitteilungen eine Klärung und Wahrnehmung eigener emotionaler Zustände schwer möglich ist. Hier kann die Kommunikation über ein den Patienten berührendes Kunstwerk den Zugang zur emotionalen Ebene erleichtern. Rüger (1993) sieht die Wirkmöglichkeit bildnerischer Methoden darin, dass sie ȤȤ durch eine relativ angstfreie Darstellung affektive innere Vorgänge verdeutlichen können, wobei ȤȤ den Erfahrungen im psychotherapeutischen Gespräch weiter nachgegangen werden sollte. Gemälde und andere Kunstobjekte können in verdichteter Form Lebensgefühle, Erinnerungen und Erfahrungen symbolisieren und bei der Rekonstruktion biografischer Ereignisse entscheidend helfen. Den wahrhaft großen Kunstwerken gelingt es, »in ihrer eigenwilligen, unkonkreten Sprache über die wichtigen Themen unseres Lebens 63

mit uns zu reden« (de Botton, 2008, S. 81). Mit ihnen lassen sich Geschichten entdecken und erzählen, geleitet von unterschiedlichen Interessen nach Selbstinszenierung. Zudem sind sie Ausgangspunkt für vielfältige Assoziationen und aktivieren unbewusste Inhalte. Auf diese Weise ist es möglich, schwer verständliche innere emotionale Zustände und Spannungen zu verdeutlichen. Diese Arbeit der Strukturierung, Konturierung und Integration geschieht nach Boothe (1994) im Gespräch – z. B. über Kunst: »Der Erzählende kann beispielsweise Stimmungsbilder zeichnen, Personen charakterisieren, die eigene Beziehung zu Anderen darstellen, er kann sich auch intellektuell distanziert Betrachtungen und Reflexionen hingeben; er kann bestimmte Situationen und Vorgänge überblicksartig zusammenfassend darstellen, kommentieren und erläutern; er kann das Gewöhnliche, das Alltägliche, das zur Gewohnheit Gewordene thematisieren« (S. 57). Kunst kann so ein Mittel und Weg sein, therapeutisch relevante Themen und Inhalte zu erschließen.

6.1  Wie kommt die Kunst in die Psychotherapie? De Botton und Armstrong (2013) schlagen vor, die musealen Ausstellungskonzepte zu reorganisieren und dabei einer »therapeutischen Vision« zu folgen. Nach ihrer Meinung muss sich die Art, wie Kunst präsentiert wird, radikal ändern: Der Fokus sollte nicht mehr auf Entstehungszeit und -land liegen, sondern sich nach grundlegenden inhaltlichen Themenschwerpunkten wie Liebe, Selbsterkenntnis, Angst, Leiden und Mitgefühl ausrichten – denn das Museum sollte uns Hinweise für unser eigenes Leben geben und dazu beitragen, dass wir uns und die Welt besser verstehen. Im Rijksmuseum in Amsterdam hat de Botton sein Konzept umgesetzt: »Abgesehen von einigen Themenräumen hat er die Sammlung des Rijksmuseums nicht umgehängt, er hat nur hier und dort einen seiner großen Notizzettel angebracht, lauter Aufforderungen an die Besucher, die Bilder nicht nur anzusehen, sondern ihnen nahe zu 64

Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs

kommen, sie zu betreten. Wie wäre es, wenn nicht Jesus dort auf dem Arm der Jungfrau säße, geschnitzt um 1400, sondern der Besucher es wäre, der so innig, so wissend angeschaut würde? Wie wäre es, sich von einem Landschaftsbild in die Ferne tragen zu lassen und für einen Augenblick von allem Vertrauten Abschied zu nehmen? Und wer vor einer Vitrine mit lauter kostbaren Gläsern steht, den fragte de Botton: Wie wäre es, wenn Du nicht nur deren Zerbrechlichkeit bewundern würdest, sondern auch Deine eigene?« (Rauterberg, 2014). Museen mangelt es nach de Botton an neuen Narrationen: Entweder sei der Besucher mit den kunsthistorischen Erzählmustern vertraut oder aber er treibe verloren auf dem weiten Bildermeer herum: »Anders als ein Buch oder ein Spielfilm entwickeln die wenigsten Kunstwerke eine Dramaturgie, die sich auch ungeschulten Besuchern auf Anhieb erschließt. Und auch deshalb appelliert de Botton an die inneren Bilder der Betrachter, an Intuition und Vorstellungskraft. Er hofft auf den persönlichen Blick – und das auf eine keineswegs unhistorische Weise« (Rauterberg, 2014). Die von uns überwiegend im stationären Rahmen durchgeführten Kunstprojekte mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen belegen eindrucksvoll den psychotherapeutischen Nutzen dieses Vorgehens. Dabei war die praktische Umsetzung durchaus unterschiedlich: Einerseits wurden, ausgehend von vorgegebenen Kunstwerken, bestimmte Themenschwerpunkte angeboten, andererseits sollten die Teilnehmenden mithilfe eines »Lieblingsbildes« den ihnen wichtigen Themen nachspüren und diese Themen mitteilen. Als hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig, erwies sich dabei die Gruppenarbeit mit gestalterischen Elementen wie Zeichnungen, Foto- und VideoArbeiten, Bildgeschichten und -inszenierungen. Es zeigt sich, dass die visuelle Konfrontation mit der bildhaften Gestaltung von Gefühlen und Konflikten die verbale Auseinandersetzung stärkt. Das Bild dient hierbei als »Anker«, sichert den Betrachter, gibt Halt und Struktur. In begleiteten Gruppen- und Einzelgesprächen konnten die im Museum gemachten Erfahrungen weiter geklärt und durchgearbeitet werden. So war es für einige Patienten überhaupt erst möglich, Wie kommt die Kunst in die Psychotherapie?

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auf diesem Weg innere Themen und Affekte wahrzunehmen und mitzuteilen. Das Medium Kunst kann also auf ganz unterschiedliche Weise mit der Psychotherapie verbunden werden: Therapeuten können sich nach Lieblingsbildern und nach dem ersten Kunsterlebnis ihrer Patienten und Patientinnen erkundigen, wenn deutlich wird, dass es ihnen schwerfällt, unbewusstes Material einzubringen, zu symbolisieren oder emotionale Vorgänge aufzugreifen. Begegnung und Erfahrungen mit Kunst sind häufig durch Affekte und Erinnerungen geprägt. Wie weitgehend der Einfluss des ersten Kunsterlebnisses auf das weitere Leben sein kann und wie es über einen längeren Zeitraum präsent bleibt, hat Wachter (2012) eindrucksvoll an vielen Beispielen belegt. Die Kunsterlebnisse werden durch narratives biografisches Erzählen vermittelt. Hierdurch kann der Therapeut als narrativer Experte Zugang zu den Präferenzen des Patienten finden (Boothe, 2011, S. VIII). Moser (2014) regt – ganz im Sinne von de Botton – an, den »normalen Blick des Museumsbesuchers zu verändern«. Der Betrachter sollte zu vermehrter Freude und Entdeckungslust animiert werden und die Bilder als Spiegel der Seele verstehen (Moser, 2014). Psychodynamisch zu arbeiten wäre ohne Assoziationen, Metaphern und die Verwendung innerer Bilder nicht möglich. Aber nicht nur Phantasie oder Einfälle des Patienten selbst, sondern auch Bilder können als projektives Material von Bedeutung sein (Moser, 2015). In einem Essay über Barbara Hepworths (1903–1975) Skulptur »Zwei Segmente und eine Kugel« (1936) erklärt der psychoanalytische Kunstkritiker Adrian Stokes deren Wirkung auf den Betrachter wie folgt: »Wenn uns die Skulptur bewegt, dann mag es daran liegen, dass wir darin unbewusst ein Familienportrait erkennen. Undeutlich erinnert uns das Ganze an ein zentrales Thema unseres Lebens. Wir ahnen eine in Stein gefasste Parabel über die mütterliche Liebe« (zit. nach de Botton, 2008, S. 82). Und Rauterberg (2012) fasst die Studienergebnisse des Kunstwissenschaftlers Martin Tröndle dahingehend zusammen, dass man nicht unbedingt großes Vorwissen mitbringen 66

Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs

müsse, um mit zeitgenössischen Werken etwas anfangen zu können: Mithilfe eines Datenhandschuhs, der Herzfrequenz und Hautleitfähigkeit aufzeichnete, konnte nachgewiesen werden, dass z. B. nicht eine klassische Venedig-Szene von Monet den Betrachter am stärksten fesselt, sondern ein Nagelbild von Günther Uecker. Wird nun durch die Einbeziehung von Kunst in die Psychotherapie der psychodynamische Rahmen verlassen oder kann ein solches Vorgehen mit einem kompetenten psychodynamischen Arbeiten im Einklang stehen? Für Kächele und Hilgers (2013) lautet die entscheidende und handlungsleitende Frage: Was fördert den psychodynamischen Prozess? Gefährlich sei eine realitätsferne, allzu rigide Haltung des Therapeuten, die einer entwicklungsfördernden Atmosphäre entgegenstünde. Herrmann (2016) gibt allerdings zu bedenken, dass die Frage, was speziell den psychoanalytischen Prozess fördere, zunächst einfacher klingt, als sie manchmal zu beantworten sei. Bei seiner Einschätzung, wie psychoanalytische Kompetenz zu verstehen sei, beruft er sich auf Renik (2003): »Was einige von uns als die kreative und nützliche technische Innovation eines Analytikers bewerten, sagt er [Renik], werden andere von uns für unverantwortliche Maßlosigkeit seitens des Analytikers halten; was einige von uns als ratsame Vorsicht und Zurückhaltung eines Analytikers betrachten, werden andere von uns als ein den Analytiker schützendes Hemmnis ansehen; was einige von uns als sensible Deutung der Hier-und-Jetzt-Erfahrung des Patienten beeindrucken mag, werden andere als Vermeidung der Übertragungssituation und eine Behinderung für die Entfaltung und das Auftauchen unbewusster Konflikte des Patienten ansehen; was manchen als Rekonstruktion zur rechten Zeit erscheint, werden andere als Aufforderung zur Intellektualisierung und zum Ruminieren über die Vergangenheit auffassen, usw.« (Herrmann, 2016, S. 603; siehe auch Tuckett, 2007). Entscheidend wird sein, wie es im psychodynamischen Prozess gelingt, durch eine flexible Behandlungstechnik die psychodynamische Arbeit zum Nutzen des Patienten zu verbessern. Dass hierbei dem Medium Kunst eine Funktion zukommen kann, lässt sich gut belegen. Wie kommt die Kunst in die Psychotherapie?

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Möglicherweise sind wir für Kunstwerke gerade dann besonders empfänglich – so de Botton (2008) –, wenn unser Leben am schwierigsten ist: »In den Zeiten größter Niedergeschlagenheit haben Architektur und Künste bei uns die besten Chancen, denn in solchen Momenten ist die Sehnsucht nach dem Ideal am größten« (S. 150).

6.2 »Die meisten halten am Leiden fest« – klinische Erfahrungen Beispiel 1 »Die meisten halten am Leiden fest«, das stellt Marvin (17 Jahre), im Museum vor dem Hiob-Alter sitzend, nachdenklich fest und Moritz (18 Jahre) pflichtet ihm bei: »Ja, aus mangelnder Auseinandersetzung mit sich selbst. Sich demütig und wie verblödet in sein Schicksal ergeben.« Marvin kommt wegen ausgeprägter Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen in die Klinik. Er besucht die Schule nur noch unregelmäßig, nachdem er im Schulbus bedroht und von seinen Klassenkameraden über einen längeren Zeitraum gemobbt und gehänselt wurde. Er bezeichnet sich selbst als Außenseiter, den mit gleichaltrigen Jugendlichen nicht viel verbindet. Seit gut einem Jahr habe er sich überwiegend in seinem Zimmer aufgehalten und das Haus nur sehr ungern und selten verlassen. Er beschäftige sich bis zu zwölf Stunden am Tag mit Computerspielen, meistens »Ballerspielen«. Einen guten Freund habe er nie gehabt und begegne anderen mit Misstrauen. In seinen Zeichnungen thematisiert er immer wieder Totenschädel, Monsterfiguren und eine bedrohliche Welt. In der Klinik gelang es ihm, zunehmend Kontakt aufzunehmen, doch es fiel ihm schwer, über seine Ängste und aktuellen Schwierigkeiten zu sprechen. Ein erster Schritt, sich diesen Themen zu nähern, stellte das Hiob-Projekt dar. Allein schon mit der Gruppe das Museum aufzusuchen, war nach langer Zeit der Isolation eine neue Erfahrung 68

Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs

und Herausforderung, die ihm schwerfiel, aber auch Mut machte. Die Hiob-Geschichte faszinierte und beschäftigte ihn sehr. In den parallel durchgeführten Therapiestunden berichtete er über seine Museumseindrücke, indem er fragte: Wie ist es möglich, trotz negativer Erfahrungen an seinem Glauben festzuhalten und den Mut nicht zu verlieren? Das sei bei ihm anders, und er berichtete über die vielen negativen Ereignisse, die bereits im Kindergarten begannen und sich in der Schule fortsetzten und die ihn nachhaltig geprägt hätten. Für ihn neu und überraschend war, dass er darüber berichten konnte und immer mehr Erinnerungen auftauchten, die vieles in ein neues Licht tauchten. Erstmals stellte er fest, dass auch er voller Aggressionen und Wut war und dass er sich vor allem in die Monster, die Hiob quälten, hineinversetzen konnte: »Monster 1: Das naive Kind in ihm (Hiob) werde ich austreiben, zerstören. Monster 2: Nur Schlechtes verbreite ich über ihn. Monster 3: Demütigen, demütigen kann ich ihn. Es wird mir viel Spaß machen. Monster 4: Ich schlage und quäle ihn Tag und Nacht. Monster 5. Seine trüben Gedanken sollen kreisen, kreisen, keine Ruhe soll er finden!« Seine Opferrolle bekam Risse, und das Thema Aggression beherrschte zunehmend unsere Gespräche. Er fühlte sich stärker und aktiver, traute sich mehr zu und wurde durch die positive Gruppenerfahrung kontaktbereiter und aufgeschlossener. Diese positive Entwicklung brach ein, als der Vater, zu dem er eine enge und vertrauensvolle Beziehung hatte, schwer erkrankte. Es ging jetzt nicht mehr darum, am Leiden festzuhalten, sondern es überhaupt erst zuzulassen. Auch hier gab ihm der Hiob-Altar wichtige Anstöße, die er jedoch nicht in der Gruppe aufgreifen konnte, sondern in den Therapiestunden einbrachte: Darf ich meine Traurigkeit zeigen? Wie schaffe ich es, auch ohne meinen Vater die Zukunft zu bewältigen? Können andere Jugendliche meine Gefühle verstehen? Wo und wie kann ich sie mitteilen? Durch die Beschäftigung mit der Kunst gelang es Marvin, einen Weg zu sich selbst zu finden, den er in den Gesprächen immer wieder »Die meisten halten am Leiden fest« – klinische Erfahrungen

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vertiefte und der uns wie ein roter Faden begleitete. Damit er zum Erzählen kam, brauchte er nicht nur eine vertrauensvolle Beziehung, sondern auch einen zunächst »neutralen« Ausgangspunkt, der aber viel mit ihm zu tun hatte. Beispiel 2 Ganz anders kam das Thema Kunst in der Behandlung von Johanna (17 Jahre) zur Sprache. Die Jugendliche fühlte sich in der Schule überfordert, trotz guter Leistungen zweifelte sie, die anstehenden Arbeiten zum Abitur zu schaffen. In der Familie galt sie als Vorzeigekind, immer habe alles geklappt, nie sei es zu Schwierigkeiten gekommen. Jetzt aber standen bedeutsame Veränderungen bevor: Nach dem Abitur plante sie einen Auslandsaufenthalt, die Trennung von zu Hause erfüllte sie mit Sorge. Eines Tages brachte sie eine Abbildung von Paul Klees »Die Zeit« mit. Sie wusste nicht genau, warum, aber diese Darstellung beschäftige sie sehr und mache sie unruhig. In den folgenden Therapiestunden stand das Bild im Mittelpunkt unserer Überlegungen: Wir sammelten ihre Einfälle hierzu und verstanden zunehmend, warum es sie so verunsicherte. Im Bild scheint die Zeit stillzustehen, obwohl sie doch weiterlaufen muss. Johanna erkannte, dass hier symbolhaft ihre eigene Ambivalenz ausgedrückt wurde: Die anstehenden Veränderungen waren verlockend, aber auch ängstigend. Sie hatte bislang immer alles bestens gemeistert, doch nun zögerte sie und schreckte vor dem Neuen zurück. Das getraute sie sich kaum einzugestehen, doch dieses Gefühl zuzulassen, war befreiend. Hier war es die Patientin, die spontan ein für sie wichtiges Bild mit in die Therapie brachte, da sie spürte, dass es etwas mitteilte, was ihr bislang nicht möglich war zu entdecken und mitzuteilen.

Die Museumsbesuche und die Beschäftigung mit Kunst stellen für die jugendlichen Patienten ein neues, für sie aber auch herausforderndes Erfahrungsfeld dar. Über die verschiedenen, sowohl vorgegebenen als auch gemeinsam spontan entwickelten Themenschwerpunkte ist 70

Kunst als Erweiterung des therapeutischen Zugangs

es ihnen möglich, sich miteinander auszutauschen und auseinanderzusetzen. Sie lernen sich in ganz neuen Bezügen kennen, und dies stärkt die Kohärenz und Akzeptanz. Die gemeinsamen Erlebnisse haben etwas Verbindendes, stiften Vertrauen und Nähe. Die thematische Arbeit und Auseinandersetzung tragen zu einem wechselseitigen Lernprozess bei, den alle Beteiligten als bereichernd beurteilen. Man tauscht sich gegenseitig stärker aus, erzählt und berichtet über frühere Erfahrungen und zukünftige Pläne. Wir vermuten, dass es dieser narrative, biografische Zugang ist, der die Jugendlichen anspricht und fesselt, sodass sie Zeit finden, sich zu vertiefen, Texte statt nur SMS zu schreiben und eine Form der Präsenz zu erleben, die sie in der alltäglichen Hektik vermissen. In der »narrativen Formgebung« mögen die therapeutischen Effekte liegen, die durch die Projekte evoziert wurden. Der eher pädagogische Begriff der Narration hat Schnittstellen mit dem, was in psychoanalytischer Entwicklungspsychologie unter »Mentalisierungsprozessen« und »Befähigung zum Symbolisieren« verstanden wird. Nicht unwichtig ist bei den Projekten die Tatsache, dass die Bilder und Objekte als historische oder aktuelle Museumskunst bereits einen »menschheitsgeschichtlichen Kulturfilter« durchlaufen haben. In dieser vermeintlichen Distanz liegt für Jugendliche die Chance zu einer individuellen Nähe, die ihnen Impulse für ihre eigene Entwicklung geben kann (Müller-Rösler et al., 2012, S. 169). Es gelang, sie für ein aktives Beobachten zu gewinnen: in kritischer Distanz, in respektvollem Abstand, in meditativem Schweigen, in überraschtem Innehalten oder manchmal – bei eingehender Betrachtung – mit Enttäuschung. Unabhängig von diesen verschiedenen Zugangsweisen wurden bei dem Betrachter immer innere Bilder aktiviert. Die Jugendlichen waren nach einer gewissen Erprobungsphase fast alle bereit, sich auf diese neuen Sichtweisen einzulassen, eigene Imaginationen zu entwickeln und die Werke in ihren gesellschaftlichen Bedingungsfeldern zu verstehen.

»Die meisten halten am Leiden fest« – klinische Erfahrungen

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7 Fazit: Lebenskunst

Für de Botton und Armstrong (2013) ist es notwendig, ab einem bestimmten Punkt die Auseinandersetzung mit der Kunst auszusetzen und das Museum zu verlassen. Es kommt darauf an, die durch Kunst vermittelten Einsichten und Erkenntnisse in das reale Leben zu übertragen und neue Erfahrungen im Alltag zu machen. Diese Notwendigkeit steht auch am Ende jeder Psychotherapie. Und es sind Elemente der Kunst, wie Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen und Konsens, »die die funktionalisierte Welt erst aushaltbar machen« (von Hentig, 1998, S. 45). Im günstigsten Fall ermöglicht Psychotherapie, ein besseres Verständnis für das eigene Leben zu gewinnen, seinen Sinn zu erschließen – und das gilt auch für die »Lebenskunst«. Derjenige, dem es gelungen ist, Lebenskunst zu erreichen, zeichnet sich nach Wilhelm Schmid (2000, S. 31) dadurch aus, »dass er ein erfülltes Leben führt. Er ist gründlicher als Andere, da er sich und sein Leben zu reflektieren und die ›Gründe‹ des Lebens zu verstehen sucht. Er ist vielleicht weitblickender als Andere, da er im weiteren Horizont der Vielfalt gemachter und möglicher Erfahrungen lebt.« Und für Schmid (1998) steht die künstlerische Bildung in einem engen Verhältnis zur Perspektive der Lebenskunst, die »eine fortwährende Arbeit der Gestaltung des Lebens und des Selbst« verlangt (S. 72). Sinnlichkeit, Kontextualisierung und Imagination sind zentrale Elemente dieser Bildung. Sie streben die ›Ganzheitlichkeit‹ der intellektuellen Fähigkeiten des Einzelnen an, auf die er angesichts einer problematischen Realitätsbewältigung mehr denn je angewie72

sen ist« (S. 134). »Wenn Kultur also Lebensgestaltung ist und Gesellschaft darauf gegründet werden kann, dann hat die Aktivität und Kreativität der Individuen, die auf vielfache Weise die Künste der Existenz zur Entfaltung und Anwendung bringen, diesen weiteren Sinn: Nicht nur das Selbst, sondern die Gesellschaft zum Kunstwerk zu machen« (S. 133). Auch wenn unsere Vorstellungen vom guten Leben und vom Glück etwas »Hochnebelartiges« haben – so Bauman (2010, S. 88) – und wir unter »Lebenskunst« häufig sehr verschiedene Dinge verstehen, kommt es darauf an, einen Lebensweg einzuschlagen, der eine bewusste Schöpfung darstellt. Für Baumann muss jeder seine Identität – die Antworten auf Fragen wie: Wer bin ich? Wo ist mein Platz in der Welt? Wozu lebe ich? – erst erschaffen, genau so, wie man ein Kunstwerk erschafft: »Ob wir unser Leben zum Kunstwerk machen können, oder genauer: Ob jeder sein Leben wie ein Künstler gestalten kann, ist eine rhetorische Frage; die bejahende Antwort steht von vornherein fest« (S. 89). Es sind häufig Bücher, Gedichte und Gemälde, die uns das Selbstvertrauen schenken, Empfindungen ernst zu nehmen, die wir ansonsten vielleicht nicht zulassen (de Botton, 2008; siehe Abbildung 21). Und wenn Kunst auch kein ethisches Therapeutikum mit Wirkungsgarantie darstellt – so Rauterberg (2015, S. 200) –, besitze sie doch für denjenigen einen bereichernden Charakter, der nach einem gelingenden Leben fragt.

Fazit: Lebenskunst

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Literatur

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