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German Pages 408 Year 2018
Christiane Dätsch (Hg.) Kulturelle Übersetzer
Edition Kulturwissenschaft | Band 103
Christiane Dätsch (Hg.)
Kulturelle Übersetzer Kunst und Kulturmanagement im transkulturellen Kontext
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Teilnehmer einer Führung des Projekts »Multaka: Treffpunkt Museum« im Vorderasiatischen Museum © Staatliche Museen Berlin, Museum für Islamische Kunst, Foto: Kaveh Rostamkhani Lektorat: Dr. Susanne Mädger, Speyer Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3499-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3499-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Zu diesem Sammelband Christiane Dätsch | 9
I. W elcher K ultur -, welcher K unstbegriff ? Kultur als Übersetzungsprozess Annäherungen an einen Begriff Florian Mittelhammer | 21
Der Fall des Campanile Transkulturalität, Hyperrealität, multiple Authentizität Thomas Knubben | 37
Imagination, Joy & Trust – Collective Wisdom Kulturelle Übersetzung im Feld internationaler Kulturarbeit Elke aus dem Moore | 53
II. K ünstler als Ü bersetzer : D iachrone T ranskulturalität Wer sind die Übersetzer? Transkulturell Handelnde im Musikbetrieb Christina Richter-Ibáñez | 67
Der Maler Osman Hamdi Bey und die Translation der westlichen Moderne Buket Altınoba | 81
Nam June Paik: Catching up with the West? Institutionelle Bedingungen und Grenzen transkulturell konstituierter Autorschaft Franziska Koch | 97
Fotografie – ein transkultureller Verhandlungsraum Eine Analyse der Arbeiten von Ravi Agarwal (Delhi) Cathrine Bublatzky | 115
III. E uropa und die W elt : P ostkoloniale P erspek tiven Korrektiver Blickwechsel Postkoloniale Einflüsse auf die Programmpolitik spezialisierter Filmfestivals Verena Teissl | 135
Unübersetzbarkeiten? Ombres d’espoir von Wilfried N’Sondé. Eine Auftragsproduktion des Festivals africologne 2013 Annette Bühler-Dietrich | 153
Literatur auf zweiter Stufe Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung von Kamel Daoud Christiane Dätsch | 171
Kolonialismus im Kasten? Ein alternativer Museumsguide Franziska Wegener | 191
IV. E inwanderungsl and D eutschl and : W andel des K anons ? Kulturerbe über-setzen Neue Formate für die Vermittlungsarbeit der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg Karin Stober/Cem Alaçam | 209
»Wir müssen aus unserem Elfenbeinturm raus.« Gespräch mit dem Schauspieler Murat Yeginer, Mainz Christiane Dätsch | 225
Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache? Gespräch mit dem Projektmanager Frank W. Albers, Stuttgart Christiane Dätsch | 239
Kulturelle Übersetzung in der Bibliothek Gespräch mit Dr. Jan-Peter Barbian und Yilmaz Holtz-Ersahin, Duisburg Christiane Dätsch | 251
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.« Gespräch mit dem Kunsthistoriker Dr. Tayfun Belgin, Hagen Christiane Dätsch | 265
V. D eutsche W illkommenskultur ? P artizipation und P rojek te Freiheitsstimmen und Konzertpatenschaften Die Öffnung des Konzertwesens am Beispiel von Elbphilharmonie und Laeiszhalle Hamburg Dorothee Kalbhenn | 283
Zaide. Eine Flucht: Die Kunst, mit Oper kulturell zu übersetzen Gespräch mit der Mezzosopranistin Cornelia Lanz, Stuttgart Steffen Pross | 301
Multaka: Treffpunkt Museum Kulturelle Übersetzer im Deutschen Historischen Museum (DHM), Berlin Brigitte Vogel-Janotta | 311
Teachers for Life Transkulturelle Bildung in der Arbeit mit Geflüchteten Gernot Wolfram | 325
VI. I nter - oder transkulturell ? E rkenntnisse des K ulturmanagements Multi-, Inter- und Transkulturalität (als Begriffe) in der empirischen Kulturbesucherforschung Vera Allmanritter | 339
Management zwischen Kulturen Ein Ansatz jenseits von Hofstede Lena Schmitz | 355
Internationalisierung des Kulturmanagements Zwischen effizientem Handeln auf globalisierten Märkten und Aushandlungsprozessen neuer transkultureller Identitäten Birgit Mandel | 369
Interkulturelle versus transkulturelle Räume des Kulturtourismus Anja Saretzki/Carola May | 383
Die Beiträgerinnen und Beiträger | 401
Zu diesem Sammelband Christiane Dätsch
Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist keine Erfolgsgeschichte. Der Wunsch der Menschen, sich mit einem himmelhohen Turm einen Namen zu machen, wird von Gott persönlich unterbunden (Gen 11, 4-9). Statt gemeinsam an einem Ort zu leben und eine Sprache zu sprechen, werden die Menschen in verschiedene Regionen der Welt verstreut und erleben eine Kulturen- und Sprachenvielfalt. Die Stadt mit dem Turm heißt seitdem »Wirrsal« (Babel). Die biblische Parabel liefert Hinweise auf zwei Konsequenzen des metaphysischen Kräftemessens, die auch den Kontakt von Kulturen bis heute prägen: die Betonung des Eigenen und die Erfahrung des Anderen oder Fremden. Damit verknüpft ist die Frage, wie die Menschen mit der entstandenen Verschiedenheit von Kultur(en) umgehen – sowohl in der Ferne als auch in der eigenen Gesellschaft. In welches Verhältnis setzen sie sich dazu?
Abb. 1: Lucas van Valckenborch: Der Turmbau zu Babel, 1594, Paris. Foto: Grandes énigmes de l’humanité/éditions Larousse
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Z ur F r agestellung und K onzep tion dieses B andes Der vorliegende Band konkretisiert das Modell der kulturellen Übersetzung für den deutschen Kulturbetrieb in einem transkulturellen Kontext. Gerichtet an eine Leserschaft aus Kulturschaffenden, -wissenschaftlern und -managern will er mit diesem Konzept eine Brücke zwischen Theorie und Praxis, Kulturwissenschaft und Kulturmanagement schlagen. Der Band versteht sich interdisziplinär und gibt eine Bestandsaufnahme jüngster transkultureller Forschungsansätze sowohl aus den Kulturwissenschaften als auch aus dem Bereich des Kulturmanagements. Darüber hinaus befragt er Kulturbetriebe, inwiefern sich ihre Aufgaben und Programme, ja möglicherweise ihr Selbstverständnis angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen wie Globalisierung, Migration und Flucht verändern. Der Titel des Buches personalisiert den Begriff der Übersetzung zum kulturellen Übersetzer. Darunter werden Einzelpersonen des Kunst- und Kulturbetriebs (Künstler, Vermittler und Kulturmanager) verstanden, aber auch Kultureinrichtungen und Mittlerorganisationen, die als Akteure der Mesoebene zwischen künstlerischen Perspektiven, wissenschaftlichen Justierungen, politischen Vorgaben, gesellschaftlichen Stimmungen und Publikumsinteressen »übersetzen«. Kulturelle Übersetzer gestalten nach diesem Verständnis nicht nur die Handlungsfelder der Interpretation, Darstellung und Repräsentation ihrer Organisationen, sondern auch deren Kontakt zur Gesellschaft (Van den Berg 2007). Angesichts einer solchen Definition wird unmittelbar einsichtig, dass das Kulturverständnis, das ein Akteur von seinem Gegenstand und seinem Aufgabenfeld entwickelt hat, seine (Übersetzer-)Tätigkeit maßgeblich beeinflusst. Da die Praxisbeiträge des Bandes vor allem auf den öffentlichen respektive öffentlich geförderten deutschen Kulturbetrieb fokussieren, spielt ein Kunst- und Kulturverständnis eine große Rolle, das gemeinhin als jenes der europäischen Hochkultur bezeichnet wird (vgl. den Beitrag von Florian Mittelhammer in diesem Band). Diesem Kunst- und Kulturverständnis, das ideengeschichtlich im deutschen Idealismus wurzelt, ist Innerlichkeit eingeschrieben: Indem sich der Betrachter zum ästhetischen Werk oder zur Geschichte seines Territoriums in Bezug setzt, reflektiert er das Eigene, das er als universal oder kommun ansieht. Nicht erst in Zeiten großer Migrationsbewegungen und weltweiter Globalisierung ist dieses bürgerliche Kunst- und Kulturverständnis unter Druck geraten. Der Blick auf eine heterogene deutsche Gesellschaft erweckt den Eindruck, dass nicht mehr von einer fraglos kommunen Handlungs- und Gesinnungsgrundlage für dieses Eigene in Kunst und Kultur ausgegangen werden kann. Vielmehr sind neue Referenzsysteme vonnöten: Das (kollaborative) Verständnis von Kunst als Kommunikation, das ältere kunstautonome Positionen ablösen will, stellt eine Antwort auf diese Entwicklung dar (vgl. den Beitrag von Elke aus dem Moore in diesem Band; Lang 2015); das Interesse an der Agency der Postcolonial Studies und eine Neujustierung im Rahmen der Erinnerungskultur sind zwei weitere Reaktionen (vgl. den Beitrag von Franziska Wegener in diesem Band). Das postkoloniale Verständnis von Kultur, vermittelt durch die europäische Ethnologie, holt unter dem Stichwort der Machtasymmetrie nicht nur die einstigen kolonialen Großmächte Frankreich, Großbritannien und Spanien ein, sondern auch Deutschland. Seit der Jahrhundertwende, so konstatiert Thomas Thiemeyer, habe sich hierzulande ein unübersehbares Interesse für postkoloniale Dynamiken entwickelt. Er nennt da-
Zu diesem Sammelband
für vier Gründe: »die Transformation Deutschlands zum Einwanderungsland; die öffentlichkeitswirksamen Debatten um das Berliner Humboldt-Forum; eine sich verändernde deutsche Erinnerungskultur und die Diskussionen um Eigentumsrechte an Kulturbesitz aus Unrechtskontexten, namentlich der NS-Raubkunst und der kolonialzeitlichen Sammlungen« (Thiemeyer 2016: 34). Vor allem die Transformation Deutschlands zum Zuwanderungsland und die sich verändernde Erinnerungskultur sind Entwicklungen, auf die auch dieser Band reagiert. Deutschland nimmt in den kommenden Jahren für sich nicht nur nachhaltige demografische, sondern auch kulturelle und soziale Veränderungen an. Dieser Umstand erfordert einen neuen Modus der Selbstwahrnehmung, der erkennt, dass das Fremde nicht nur auf Reisen in ferne Länder, sondern auch im eigenen Land (neu) gelernt werden muss (vgl. den Beitrag von Anja Saretzki und Carola May in diesem Band). Mehr denn je steht das Modell einer herkunftskulturellen Identität angesichts einer in Deutschland lebenden Bevölkerung, von der etwa ein Fünftel einen Migrationshintergrund hat, auf dem Prüfstand. Nicht zuletzt deshalb gewinnt ein Kulturkonzept an Bedeutung, das gleichermaßen anthropologische wie philosophische Wurzeln hat: jenes der Transkulturalität. Transkulturalität versucht nicht, kulturelle Verschiedenheiten zu nivellieren oder zu ignorieren, sondern eine andere Perspektive auf die Vielfalt von Kulturen zu entwickeln. Statt herkunftskultureller Kriterien nimmt sie die historische und synchrone Vernetztheit von Kulturen in den Blick. Im vorliegenden Band spielt Transkulturalität dort eine Rolle, wo Produktions- und Rezeptionsvorgänge von Künstlern beschrieben werden. Die Beiträge zeigen, wie sehr sie von fremden Kulturen angeregt wurden, machen allerdings auch deutlich, dass die Idee der künstlerischen Universalität durch persönliche Erfahrungen und kulturelle Grenzen bisweilen wieder relativiert wird. Dessen ungeachtet ist die Tatsache eines Vorhandenseins von Transkulturalität in den Künsten – ihren Objekten, Programmen und Kommunikationsprozessen – nicht abzustreiten. Daher soll die Frage leitend sein, wie die Kultureinrichtungen die Chancen und Grenzen von transkulturellen Ansätzen in ihren eigenen Praxis- und Handlungsfeldern einschätzen. In den Fallbeispielen aus Kulturwissenschaften, Vermittlungspraxis und Kulturmanagement in diesem Band fallen die Antworten durchaus unterschiedlich aus. Während sich die Transkulturalität in künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Konzepten bereits einen festen Platz erobert hat, erweist sich ihr prozessuales Kulturverständnis für die meisten Kultureinrichtungen als eher schwierig: Transkulturalität wird mehr als eine Idee denn als ein operatives Konzept verstanden. Gleiches gilt für die Disziplin der empirischen Kulturforschung als wichtiger Bezugswissenschaft des akademischen Kulturmanagements. Wie von den Praktikern wird auch von vielen empirischen Kulturforschern der Begriff der Transkulturalität kaum angewendet; sie bevorzugen das Konzept der Interkulturalität, das von Personen oder Gruppen als Trägern von Kultur ausgeht. Interkulturalität bezeichnet die – sozialpsychologisch grundierte – Vorstellung, dass kulturelle Identitäten über Enkulturationsprozesse entstehen, bei denen sich Individuen in Wechselwirkung mit sozialen, kulturellen und sonstigen Prägungen ihrer Umgebung befinden. Interkulturalität setzt somit, anders als der Begriff der Transkulturalität, nicht bei einem »Bedeutungsgewebe« (Clifford Geertz) an, sondern beim konkreten Kulturträger (vgl. den Beitrag von Lena Schmitz in diesem Band). Die unterschiedlichen Auffassungen über die Voraussetzungen kultureller Identi-
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tät werden in den einzelnen Beiträgen immer wieder aufscheinen; es kann als ein erstes Ergebnis dieses interdisziplinären Ansatzes angesehen werden, dass er den derzeitigen Status quo der Begrifflichkeit in den Einzeldisziplinen festhält. Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Gemengelage zur Trans- und Interkulturalität prüft der vorliegende Band die Anwendbarkeit des Konzepts der kulturellen Übersetzung. Als Begriff von Homi K. Bhabha eingeführt, wurde das Konzept in Deutschland von der Literaturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick für die Interpretation kultureller Kontexte fruchtbar gemacht (Bachmann-Medick 2016 u.v.a.). Ihr ethnografischer Ansatz geht davon aus, dass kulturelle Übersetzungen sowohl einen Bedeutungstransfer vollziehen als auch, auf der Ebene des Übersetzungsaktes, eine grenzüberschreitende Interaktion darstellen. Übersetzer rekurrieren auf eine bestimmte soziale und kulturelle Praxis; daher hängen Übersetzungen (auch) stets vom Standpunkt des Übersetzers, seinen Repräsentationsund Bezugssystemen ab. Semantisch zielen kulturelle Übersetzungen nicht auf eine deckungsgleiche Wiedergabe der Herkunftskultur durch die Zielkultur (dies wäre aus vielen Gründen unmöglich), sondern stellen eine »allegorische Form der Übertragung, Darstellung und Vermittlung« dar, »bei welcher der ethnologische wie literarische Übersetzer seine eigenen Akzente setzt« (Bachmann-Medick 1997: 6). Die Aneignung fremder Kulturen ist folglich ein kreativer Prozess der Interpretation und Kontextualisierung. Missverständnisse und Brüche sind fruchtbare Zwischenschritte; durch sie handelt der Übersetzer in seiner Beschäftigung mit der fremden Kultur gleichfalls Bedeutung aus. Übersetzer, die sich überwiegend an eigenen Repräsentationsinteressen orientieren, können dazu beitragen, fremde Kulturbilder zu verfestigen; solche wiederum, die sich der fremden Kultur aus einer transkulturellen Perspektive nähern, können Fremdbilder auf brechen. Vor allem der interaktionale Aspekt macht das Modell der kulturellen Übersetzung für Kultureinrichtungen interessant: Es kann Aufschluss darüber geben, wo sich Kulturvermittler und -manager im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Eigenem und Fremden positionieren, und welches Bewusstsein sie vom Einfluss und der Wirkmacht ihrer eigenen (Repräsentations-) Strategien in diesem Spannungsfeld haben. Die Theorie der kulturellen Übersetzung ist unter Kulturschaffenden und -managern bislang nur wenig bekannt. Gleichwohl ist der Begriff ein vielgebrauchter Terminus sowohl in der Wissenschafts- als auch der Alltagssprache (vgl. Wolf 2010: 44; Schreiber 2017).1 Der vorliegende Band will zur Schärfung des Konzepts der kulturellen Übersetzung beitragen, indem er zwei theoretische Aspekte herausarbeitet, die auch für die Praxis relevant sind: zum einen die Frage der Darstellung bei der Vermittlung von Inhalten (etwa der Art der Inszenierung oder der Konzeption einer Ausstellung), zum anderen die Frage nach den Repräsentationsstrategien (etwa von Intendanten, Kuratoren, Dramaturgen oder Lektoren und auch der Kulturpolitik); sie spiegeln das normative Selbstverständnis der Übersetzer 1 | So findet sich der Terminus »Übersetzung« in jüngster Zeit zunehmend im Kontext von praxisnahen Vorträgen und Symposien, die eine Beschreibung der künstlerischen, vermittelnden und kulturmanagerialen Tätigkeiten im Kunst- und Kulturbetrieb vornehmen; etwa in der Festspielrede der Journalistin Carolin Emcke zur Ruhrtriennale 2016 (Vom Übersetzen) oder im Titel eines Symposiums der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg am 20. Oktober 2017 (Kulturerbe über-setzen).
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wider. Es zeigt sich, dass die befragten Einrichtungen erstens als kulturelle Übersetzer agieren, wenn es um die Vermittlung des Eigenen – des kulturellen Erbes oder Kanons – an ein Publikum geht, dem dieses Eigene fremd ist, etwa Migranten und Flüchtlingen. Sie sind zweitens als Übersetzer von kulturell fremden Inhalten für ein heimisches Publikum tätig, beispielsweise von Programmen in einem postkolonialen Kontext, und sie entwickeln drittens durch die (Neu-)Befragung von Beständen, die Einladung fremder Künstler als Kuratoren oder die Einbindung von migrantischem Führungspersonal neue Perspektiven auf das vermeintlich Eigene. Dass dabei auch (gewandelte) Selbstbilder von Kunst- und Kultureinrichtungen eine wichtige Rolle spielen, ist unmittelbar einsichtig. In diesem dreifachen Sinne – als Frage nach dem Umgang mit fremden Inhalten, fremden Darstellungsstrategien und sozialen Interaktionen – bildet der Begriff der kulturellen Übersetzung den roten Faden, der die Beiträge in diesem Band verbindet. Auch die Kulturmanagementforschung zu diesem Thema hat bereits begonnen (Lang 2015; Henze/Wolfram 2014; Wolfram 2012). Transkulturelle Kulturkonzepte wirken sich auf den Beruf des Kulturmanagers insofern aus, als er sich nicht mehr nur als organisatorischer Dienstleister, sondern als Mitwirkender an Prozessen kultureller Bedeutungsproduktion versteht. Der Kulturmanager, ob im In- oder Ausland tätig, benötigt neben Kommunikations-, Finanzierungs- und Marketingkenntnissen auch ein profundes Verständnis von der jeweils anderen Kultur und ihren gesellschaftlichen Implikationen (vgl. den Beitrag von Birgit Mandel in diesem Band). Daher muss auch er einen Perspektivwechsel vollziehen: Ein Kulturmanager als Übersetzer versucht, querzudenken und »künstlerische Denk- und Handlungsprinzipien in das Management einzubringen« (Mandel 2008: 57). Der Kulturmanager wirkt einerseits als Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Systemen wie Kultur und Ökonomie, andererseits als Organisator und Moderator von Plattformen, auf denen ein »polyphoner Austauschprozess« (Lang 2015: 16) möglich ist. Darin zeigt ein transkulturelles Management Synergieeffekte mit einer kritischen Kunst- und Kulturvermittlung und mit einem Selbstverständnis, wie es derzeit auch in der freien Szene anzutreffen ist. Kulturmanager als Übersetzer gestalten demnach nicht nur betriebswirtschaftliche, sondern auch kulturelle Kontexte aktiv mit.
Z u den B eitr ägen dieses B andes Diesen Grundgedanken nähern sich die Beiträge des Bandes in sechs thematischen Abschnitten. Das erste Kapitel greift die Problematik einer Begriffsdefinition noch einmal auf. Im ersten Beitrag skizziert Florian Mittelhammer die derzeitige Forschung zum Begriff der Kultur, aber auch jenem der Transkulturalität und der kulturellen Übersetzung; in einem Ausblick gibt er erste Hinweise auf den (potenziellen) Einsatz des Konzepts in der kulturellen Praxis. Dass transkulturelle Dynamiken, wie sie hier angeklungen sind, auch für kulturelle Erscheinungen sorgen können, die mit der heute zur Verfügung stehenden Terminologie nur schwer zu beschreiben sind, macht der Beitrag von Thomas Knubben über den Fall des Campanile deutlich: Anhand des venezianischen Wahrzeichens und seiner Reproduktion durch eine amerikanische Hotelkette zeigt er den Balanceakt zwischen kultureller Identität, Glokalisierung und »Kulturimperialismus« phänomenologisch auf. Die
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Frage, ob es sich bei solchen Praktiken um ein cultural sampling handelt (vgl. Ernst/ Freitag 2015: 21), oder ob Originalitäts- und Authentizitätspostulate vielmehr einer wahrnehmungsgesteuerten Zuschreibung entspringen, lässt der Beitrag bewusst offen. Elke aus dem Moore regt an, dass die Organisation von der Kunst lernen möge: Sie expliziert einen kommunikativen Kunstbegriff, der Dialoge, Öffnungen und Übersetzungen als künstlerische Handlungen versteht, und zeigt, wie Kunst als Kommunikation unmittelbar in die Gesellschaft hineinwirken kann. Dafür ist jedoch vielerorts noch ein Umdenken der vermittelnden Institutionen notwendig, worauf ihr institutionelles Manifest zielt. Das zweite Kapitel thematisiert die transkulturelle Verflochtenheit künstlerischer Arbeit aus einer diachronen Perspektive. Anhand des Künstlers Cameron Carpenter und der Geschichte der Melodie El cóndor pasa macht Christina RichterIbáñez transkulturelle und -mediale Anverwandlungen von Musik aus Deutschland und Lateinamerika sichtbar. Buket Altınoba beschreibt in ihrem Beitrag die Rückübersetzung der französischen Orientmalerei im 19. Jahrhundert durch den osmanischen Orientmaler Osman Hamdi Bey, den ersten Direktor der Istanbuler Akademie der Schönen Künste. Franziska Koch folgt mit Nam June Paik der Spur eines international agierenden Künstlers des 20. Jahrhunderts, der als Vertreter der Fluxus-Künstlergruppe ein universelles Kunstverständnis propagiert, in Bezug auf seine Person jedoch auch Grenzen der Transkulturalität artikuliert. Cathrine Bublatzky beleuchtet im Anschluss, wie der zeitgenössische indische Fotograf und documenta 11-Teilnehmer Ravi Agarwal als Vermittler zwischen Dokumentar- und Kunstfotografie einerseits und zwischen westlichen und östlichen Kulturen andererseits changiert. Der dritte Abschnitt legt den Fokus auf postkoloniale Positionen. Dies impliziert auch eine – teilweise politisch motivierte – Infragestellung des Modells der kulturellen Übersetzung und der Transkulturalität. Am Beispiel der international agierenden Kunstform Film zeigt Verena Teissl die Programmpolitik von Filmfestivals und deren problematische Gatekeeperfunktion für die Verbreitung westafrikanischen Filmschaffens außerhalb des afrikanischen Kontinents auf. Annette Bühler-Dietrich erläutert anhand des Kölner Festivals der afrikanischen Künste africologne und des Theaterstücks Ombres d’espoir (2012) von Wilfried N’Sondé die Schwierigkeiten des Kulturkontakts zwischen Afrikanern und Deutschen, ihre Desillusionen angesichts ungleicher gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse und von kulturellen Übersetzungsproblemen. Christiane Dätsch analysiert den Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (2013) des algerischen Autors Kamel Daoud, der als Antwort auf Albert Camus’ Erzählung Der Fremde (1942) angelegt ist, und vergleicht ihre Lektüre mit zwei Theateraufführungen des Romans in Deutschland. Dass postkoloniale Ansätze nicht nur dazu führen, Künstler von den einstigen »Rändern« der Welt zu Wort kommen lassen, sondern auch Repräsentationsformen im Zentrum zu reflektieren, zeigt Franziska Wegener, indem sie den alternativen Audioguide Kolonialismus im Kasten? für die Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin vorstellt; dort wird der deutsche Kolonialismus bis heute nur als marginaler Teil der Geschichte des Deutschen Kaiserreiches begriffen. Das vierte Kapitel macht den deutschen Kulturbetrieb, sein Selbstverständnis und seine Aufgaben zum Thema: Wie können und sollen Theater, Museen, Bibliotheken, Verlage und Denkmalschutz-Einrichtungen ihre Aufgabe wahrnehmen,
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europäisches Erbe sowohl zu tradieren als auch zu vermitteln? Was soll gesammelt, gedruckt und aufgeführt werden – und für wen? Ein Beitrag und vier Interviews beleuchten diese Frage an der Migration sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland. Cem Alaçam und Karin Stober stellen für die Staatlichen Schlösser und Gärten in Baden-Württemberg die Frage, wie das von ihrer Institution verwaltete Erbe an eine türkischstämmige Besucherschaft vermittelt werden kann und präsentieren dafür zwei Konzepte. Mit Tayfun Belgin, Direktor des Kunstquartiers Hagen und Leiter der Fachabteilung Kultur der Stadt Hagen, sowie Murat Yeginer, dem ehemaligen Schauspieldirektor des Theaters Pforzheim, geben zwei Deutsche türkischer Herkunft ihre Sichtweise auf die Möglichkeiten und Grenzen transkultureller Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit. Ihre Einschätzung fällt, nicht zuletzt bedingt durch die von ihnen vertretenen Kunstformen, unterschiedlich aus. Dass Literatur transkulturelle Themen bearbeitet, ist offensichtlich; dass sich der deutsche Literaturbetrieb allerdings nicht immer für Migrantenliteratur zuständig gefühlt hat, macht Frank Albers, Projektmanager der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, deutlich. Auf die wichtige Funktion mehrsprachiger Literatur für Migranten in der Stadt Duisburg weist der Leiter der Interkulturellen Bibliothek der dortigen Stadtbibliothek, Yilmaz Holtz-Ersahin, hin: Während er die großen Möglichkeiten betont, die Literatur als Kunstform für Identitätsprozesse und fremdkulturelle Empathie bietet, betont Bibliotheksdirektor Jan-Pieter Barbian die Grenzen der transkulturellen Bibliotheksarbeit. Der fünfte Schwerpunkt wendet die kulturelle Übersetzung auf mehrere partizipative Projekte im Rahmen der sogenannten »Willkommenskultur« der Jahre 2015/16 an: Dorothee Kalbhenn zeigt anhand des Projekts Freiheitsstimmen der Hamburger Musik gGmbH, wie Mitarbeiter der Kultureinrichtung Laeiszhalle die Partizipation von Flüchtlingen am Konzertgeschehen möglich machten. Die Stuttgarter Opernsängerin Cornelia Lanz stellt im Interview mit Steffen Pross ihren Ansatz vor, Flüchtlinge als Darsteller in das Mozart-Opernprojekt Zaide – eine Flucht einzubinden. Dem von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin gemeinsam durchgeführten, mittlerweile bundesweit bekannten Projekt Multaka: Treffpunkt Museum liegt das Konzept zugrunde, syrische Flüchtlinge durch Syrer, die bereits in Deutschland leben, in ihrer Muttersprache durch die Sammlungen führen zu lassen. Die Idee dieses in zweifacher Hinsicht übersetzenden Führungsformats skizziert Brigitte Vogel-Janotta für das DHM. Die transkulturellen Bildungsansätze aus der Arbeit des Berliner Forschungsprojekts The Moving Network erläutert Gernot Wolfram: Ziel seines Projekts war es herauszubekommen, durch welche Formen einer unterstützenden Arbeit Flüchtlinge selbstständig Lösungsansätze im Bereich der kulturellen Bildung finden können, um daraus Rückschlüsse auch für ein transkulturelles Kulturmanagement zu ziehen. Der sechste Themenbereich widmet sich kulturmanagerialen Handlungsfeldern, die sich sowohl im internationalen Kontext als auch im deutschen Kulturbetrieb auftun. Vera Allmanritter betrachtet das migrantische Kulturpublikum und macht bei der Frage nach der kulturellen Identität dieser potenziellen Besucher deutlich, dass Begrifflichkeiten wie Inter-, Multi- oder Transkulturalität mittels Methoden der empirischen Sozialforschung nur bedingt auf Kulturbesucher mit Migrationshintergrund anzuwenden sind. Sie zeigt zudem, dass für das Interesse an Kulturveranstaltungen sowohl ethnisch-religiöse als auch sozial-intellektuelle
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Gründe ausschlaggebend sein können. Die Frage nach der Zusammensetzung des Kulturträgers und den Voraussetzungen für einen internationalen Vergleich von Managementkontexten stellt Lena Schmitz: Sie dekonstruiert den weit verbreiteten kulturrelativistischen Ansatz von Geert Hofstede und kontrastiert sein nationalistisches Modell mit der Kollektivtheorie von Klaus P. Hansen. Den Blick auf das Kulturmanagement als Fach mit internationalen Handlungsfeldern weitet Birgit Mandel, indem sie auf der Grundlage einer empirischen Studie das Selbstverständnis von Kulturmanagern in internationalen Teams und Kooperationsprojekten vorstellt. Inwiefern sich auch im Feld des internationalen Kulturtourismus Handlungsformen und -felder finden lassen, die als trans- oder interkulturell zu bezeichnen sind, thematisieren Anja Saretzki und Carola May: Sie rücken die Funktion von Reiseführern als cultural broker ins Zentrum und fragen nach, inwiefern diese dazu beitragen, den Kulturtourismus zu einem Raum der doppelten Alteritätserfahrung zu machen. Die Beiträge nutzen, sofern nicht explizit anders ausgezeichnet, die maskuline Form für beide Geschlechter; damit ist keine gesellschaftspolitische Aussage verbunden, sondern lediglich der Wunsch nach bestmöglicher Lesbarkeit. Den Autorinnen und Autoren gebührt der größte Dank für ihre Bereitschaft, an diesem Band mitzuarbeiten. Herzlich gedankt sei auch Florian Mittelhammer und Dr. Susanne Mädger für die hilfreiche Unterstützung bei Lektorats- und Korrekturarbeiten. Torsten Dreyer gilt ein besonderer Dank für seine Gastfreundschaft während eines Rechercheaufenthaltes in Nordrhein-Westfalen, ebenso wie Jennifer Barton, die mit großer Sorgfalt die Interviews der Herausgeberin transkribiert hat. Ohne die konstruktiven Gespräche mit Dr. Gunilla Eschenbach und Dr. Irene Boose wären viele gute Gedanken nicht geboren und verfolgt worden. Ihnen ist dafür ebenso zu danken wie Johanna Tönsing und Carolin Bierschenk vom transcript Verlag, die den Band sachkundig betreut haben.
L iter atur Bachmann-Medick, Doris (Hg.) (2016): The Trans/National Study of Culture. A Translational Perspective, Berlin. Bachmann-Medick, Doris (Hg.) (1997): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin. Ernst, Jutta/Florian Freitag (2015): Einleitung. Transkulturelle Dynamiken – Entwicklungen und Perspektiven eines Konzepts. In: Ernst, Jutta/Florian Freitag (Hg.) (2015): Transkulturelle Dynamiken. Aktanten – Prozesse – Theorien (Mainzer historische Kulturwissenschaften 19), Bielefeld, S. 7-31. Henze, Raphaela/Gernot Wolfram (Hg.) (2014): Exporting Culture. Which Role for Europe in a Global World?, Wiesbaden. Lang, Siglinde (2015): Partizipatives Kulturmanagement. Interdisziplinäre Verhandlungen zwischen Kunst, Kultur und Öffentlichkeit, Bielefeld. Mandel, Birgit (2008): Vom Kulturverwalter im Kulturstaat zum Kulturunternehmer der Kulturgesellschaft. Neue Herausforderungen an die Ausbildung von Kulturmanagern – 7 Thesen. In: Keller, Rolf u.a. (Hg.) (2008): spiel plan. Schweizer Jahrbuch für Kulturmanagement 2007/2008, Bern, S. 51-60.
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Schreiber, Michael (2017): Quo vadis, Übersetzungsbegriff? Tendenzen und Paradoxien. In: Heller, Lavinia (Hg.) (2017): Kultur und Übersetzung. Studien zu einem begrifflichen Verhältnis, Bielefeld, S. 51-64. Thiemeyer, Thomas (2016): Deutschland postkolonial. Ethnologische und genealogische Erinnerungskultur. In: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 70, H. 806, S. 33-45. Van den Berg, Karen (2007): Impresario, Künstler, Manager oder Fuzzi? Rollenmodelle des Kulturmanagers. In: Markowski, Marc/Hergen Wöbken (Hg.) (2007): Oeconomenta. Wechselspiele zwischen Kunst und Wirtschaft, Berlin, S. 129-146. Wolf, Michaela (2010): »Kulturelle Übersetzung« – Spielwiese für übersetzerische Beliebigkeiten oder Spielarten von Übersetzung »nach Babel«? In: Yamamoto, Hiroshi/Christine Ivanovic (Hg.) (2010): Übersetzung – Transformation. Umformungsprozesse in/von Texten, Medien, Kulturen, Würzburg, S. 44-55. Wolfram, Gernot (Hg.) (2012): Kulturmanagement und Europäische Kulturarbeit. Tendenzen, Förderungen, Innovationen. Leitfaden für ein neues Praxisfeld, Bielefeld.
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I. Welcher Kultur-, welcher Kunstbegriff?
Kultur als Übersetzungsprozess Annäherungen an einen Begriff Florian Mittelhammer
1. A nnäherung In Zeiten einer inflationären Verwendung des Begriffs der Kultur scheint es geboten, die Reflexion über den Gegenstand nicht abbrechen zu lassen. Der Berliner Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba wies bereits 1995 unter dem Schlagwort »Kulturalismus« auf die Gefahren einer ausufernden Verwendung des Kulturbegriffs hin: Im wissenschaftlichen wie im gesamtgesellschaftlichen Diskurs würden soziale Probleme immer mehr zu kulturellen Problemen umetikettiert. Wenn über Geschichte, Gesellschaft oder Politik gesprochen werde, geschehe dies meist in terms of culture (Kaschuba 1995). Kaschubas Kritik scheint heute aktueller denn je, denn der Kulturbegriff hat Hochkonjunktur in von Globalisierungsprozessen und Migrationsbewegungen geprägten Gesellschaften. Angesichts von massenhafter Mobilität, weltweiter Migration und Globalisierung durch Handel und Digitalisierung wird von der modernen Welt gemeinhin von einem global village (McLuhan/Powers 1995) gesprochen. Allerdings sind die Auswirkungen dieser weltweiten Vernetzung unterschiedlich: Forciert sie einerseits Prozesse kultureller Angleichung, ruft sie andererseits die Entwicklung von Strategien der Differenzierung hervor, die sich auf eine vermeintlich eigene Kultur berufen. Diese äußern sich in einer intensivierten institutionellen Pflege des (nationalen) kulturellen Erbes, oder auch in der immer wieder neu belebten Diskussion um eine sogenannte »Leitkultur« (De Maizière 2017; Jessen 2016). Angesichts dieses Konfliktpotenzials, das die Instrumentalisierung des Kulturbegriffs als Interpretament, als eines sich selbst genügenden Erklärungsschemas von Handlungen birgt (vgl. Kaschuba 1991: 32, 36-43), scheint es angebracht, über die Bezüge und impliziten Semantiken eines aktuellen Kunst- und Kulturbegriffs nachzudenken. Dabei würde sich unter anderem zeigen, dass Kunst und Kultur nicht immer auf denselben Konzepten fußen, auch wenn dies bisweilen unterstellt wird. Kunst berührt Kultur mitunter dort, wo künstlerische Praxen einer Vermittlungsebene in die Gesellschaft hinein bedürfen, etwa mittels Kultureinrichtungen. In Theatern, Konzertsälen, Literaturhäusern, Museen, Galerien, Archiven oder Bibliotheken werden ästhetische Werke aufgeführt oder mit historischen Relikten Konzepte des Eigenen und des Fremden verhandelt. Dabei ist das Selbstverständnis ebenso wie die Aufgabe von Kultureinrichtungen zweigeteilt: Zum einen sind
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sie Orte, an denen die Welt- und Selbstreflexion durch ihre Programme, Konzepte, Inszenierungen oder Darstellungen möglich wird, zum anderen sind sie als Institutionen Teil des gesellschaftlichen Systems »Kulturbetrieb« und unterliegen seiner Logik. In diesem Kontext haben sie auch einen gesellschaftlichen Auftrag – jenen, Mittler eines Kunst- und Kulturverständnisses zu sein, das für die Mitglieder der Gesellschaft als relevant erachtet wird. Dass dabei sowohl individuelle als auch kollektive Vorstellungen von Kultur, von Identität und Herkunft, von Kunstgeschmack und Besucherinteresse, von Politik und Förderinteressen zum Tragen kommen – kurz: eine Gemengelage von Faktoren, die den Kulturbegriff mitgestalten –, ist evident. Im Folgenden soll ein Überblick über jene Begriffe von Kultur gegeben werden, die in aktuellen künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Diskursen nach wie vor zur Anwendung kommen. Ziel des Beitrags ist es, die Fundamente dieser gängigen Kulturbegriffe kritisch zu hinterfragen und für ein Verständnis von Kultur als Übersetzungsprozess zu plädieren. Es wird angenommen, dass ein solches Verständnis nicht nur in der akademischen Diskussion, sondern auch für die Praxis von Kultureinrichtungen fruchtbar gemacht werden kann. Dafür gilt es einige Prämissen zu prüfen; diese fassen bestehende kulturwissenschaftliche wie kulturpolitische Diskussionen zusammen, die im Nachfolgenden partikular aufgegriffen werden sollen. Erstens muss gefragt werden: Kann der jeweilige Kulturbegriff, der angewendet wird, integrativ sein? Das heißt, kann er die ästhetischen Konzepte und Programme von Künstlern ebenso wie jene von Kulturinstitutionen und kulturellen Programmen, die sich vor allem Vermittlungsziele gesetzt haben (zum Beispiel im Bereich der Erinnerungskultur und der Soziokultur), adäquat mit einbeziehen? Zweitens stellt sich die Frage, ob der Terminus auch das Kriterium der Inklusion erfüllen, also die Teilhabe aller Gesellschaftsgruppen prinzipiell ermöglichen kann.1 Drittens ist zu fragen, ob dieser Kulturbegriff präzise genug ist, um Aufgaben- und Themenbereiche des Kulturmanagements zu bezeichnen und sie von anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern argumentativ und aussagekräftig abzugrenzen. Viertens darf ein solcher Kulturbegriff seinerseits keine Hierarchien aufstellen oder Machtverhältnisse reproduzieren; fünftens sollte er eine pragmatische Handlungsfolie für Kulturbetriebe bieten und einen konkreten Bezug zu deren Umfeld herstellen. Anhand dieser Anforderungen soll ein Kulturbegriff, der sich als Übersetzungsprozess versteht, nun auf seine Plausibilität als theoretische Kategorie und als praktische Handlungsrichtlinie überprüft werden.
2. K onkurrierende K ulturbegriffe Der Begriff »Kultur« wird seit Jahrhunderten dazu verwendet, um Realitätskonstruktionen zu beschreiben und diese mehr oder minder verbindlich auf ein Kollektiv anzuwenden. Dies hat zu einer unüberschaubaren Anzahl von Auffassungen geführt. Um eine systematische Ordnung in das Nebeneinander vorherrschen1 | So bekannte sich etwa die Große Koalition der Legislaturperiode 2013-2017 im Koalitionsvertrag zu dem Ziel, jedem Einzelnen unabhängig von seiner sozialen Lage und ethnischen Herkunft gleiche kulturelle Teilhabe in allen Lebensphasen zu ermöglichen (vgl. Koalitionsvertrag der CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode 2013: 129).
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der Kulturbegriffe zu bringen, wird in fast allen wissenschaftlichen Einführungen eine straffe Reduktion auf zwei Kulturverständnisse vorgenommen: erstens auf den normativen (oder engen) Kulturbegriff und zweitens auf den deskriptiven (oder erweiterten) Kulturbegriff (vgl. Hansen 1999: 9-16; Bolten 2015: 42-54). Der normative Kulturbegriff beschreibt vor allem jene künstlerischen Tätigkeiten sowie deren Artefakte, die gemeinhin als »Hochkultur« bezeichnet werden und dem »Wahren, Schönen, Guten« dienen sollen. Er verweist – mit der Kunst und über die Kunst hinaus – auf einen universal geltenden Anspruch von Bildung und Moral. Dem deskriptiven oder erweiterten Kulturbegriff hingegen liegt die Vorstellung zugrunde, jegliche Formen menschlicher Praktiken wie Sitten, Brauchtum, Lebensweisen mit einzubeziehen. Es handelt sich beim deskriptiven oder erweiterten Kulturbegriff somit um jenen der Anthropologie oder der Ethnologie; er kann sowohl in geschlossener als auch in offener Form vorliegen. Im ersten Fall wird zur Beschreibung eine Terminierung (Nation, Sprache, Geografie, Religion) angenommen; in letzterem Fall überwiegt die Vorstellung von kultureller Vernetzung und Prozessdenken (vgl. Bolten 2015: 48). Seit die Sozial- und Kulturwissenschaften in den 1970er-Jahren damit begannen, sich mit der operativen Seite der Kultur, genauer gesagt ihrer Vermittlung zu beschäftigen, stellte sich auch für sie die Frage nach dem Begriff der Kultur neu. Kulturpolitik und -verwaltung, aber auch das Kulturmanagement folgten zunächst weitgehend – meist in der Tradition der Ersten Moderne – einem engen Kulturbegriff. Dementsprechend ist im Lexikon Kulturmanagement von A bis Z nachzulesen, dass der Kulturbegriff des Kulturmanagements »keinesfalls identisch […] mit dem […] Kulturbegriff der Anthropologie« (Heinrichs/Klein 2001: 178) sei, da er weit weniger umfasse; allerdings sei er auch nicht so eng gefasst wie jener der Kunst (vgl. Heinrichs/Klein 2001: 179). Auf eine positive Definition des Kulturbegriffs wurde hier allerdings verzichtet. An anderer Stelle wurde der Kulturbegriff mehr im Kontext von Kulturpolitik und -betrieb definiert: So merkte der Ludwigsburger Kulturwissenschaftler Werner Heinrichs an, der Kulturbegriff könne in seinen verschiedenen Dimensionen nicht isoliert vom jeweiligen Kulturbetrieb betrachtet werden; der institutionelle Kulturbegriff lasse je nach Haus und Sparte durchaus auch ein gemeinsames Auftreten der künstlerisch-ästhetischen und anthropologischen Dimension zu (vgl. Heinrichs 1997: 5). Dennoch finde der Kulturbetrieb die meisten seiner Anknüpfungspunkte in einem Kulturbegriff, der sich an der Hochkultur orientiere. Diese zweite Begriffsbestimmung trägt in gewisser Weise der Öffnung des institutionellen Feldes hin zu populärkulturellen und soziokulturellen Kunstformen und Kulturpraktiken Rechnung. Von künstlerischer Seite wurde der Begriff zudem mit neuen Selbstpositionierungen konfrontiert, wie sie die Zweite Moderne formulierte. Ihre Folge war nicht nur die Weitung des Gegenstandes Kunst und Kultur, sondern auch des Auftrags der Institutionen. Vor diesem Hintergrund konkurrierender Kulturbegriffe kann konstatiert werden, dass auf die heutige Kunst- und Kulturpraxis weder der normative noch der erweiterte Kulturbegriff vollständig zutrifft. Wird ein normativer Kulturbegriff vertreten und auf Institutionen, Förderer und Vermittler angewendet, sind die oben formulierten fünf Prämissen kaum einzulösen. Denn der normative Kulturbegriff denkt nicht inklusiv und schließt Bereiche wie Migrationskultur, Gedächtnis- und Erinnerungskultur oder Populärkultur aus. Patrick Föhl und Gernot Wolfram weisen zudem darauf hin, dass auch von förderungspolitischer Seite Kunst kaum noch
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isoliert von anderen gesellschaftlichen Diskursen behandelt werden könne. So rücken sogenannte Schnittstellenprojekte, die »Kultur und soziale Projekte, Kultur und Umweltschutz, Kultur und Tourismus, Kultur und Wissenschaftstheorie, Kultur und Recht sowie Kultur und Integration/Migration« verbinden, immer mehr ins Zentrum kommunaler, nationaler wie auch europäischer Kulturförderungspolitiken: [K]ulturelle Arbeit [wird] nicht mehr ausschließlich als etwas Genuines begriffen […], sondern als wirksames Navigationsinstrument zwischen verschiedenen Gesellschaftsdiskursen. […] [E]s vollzieht sich eine massive Erweiterung künstlerischen Handelns, die auch Konsequenzen für das Kulturmanagement hat. (Föhl/Wolfram 2014: 27)
Allerdings hat auch ein weites Verständnis von Kunst und Kultur, das prinzipiell alles menschliche Handeln sowie alle Produkte menschlichen Handelns umfasst (und häufig von der auswärtigen Kulturpolitik vertreten wird)2, seine Tücken – jene nämlich der Beliebigkeit. Kultur- respektive Sozialanthropologen wie Lila Apu-Lughod und Chris Hann plädieren deshalb für die Abschaffung des Begriffs der Kultur in der Kulturanthropologie und Ethnologie (Hann 2007; Apu-Lughod 1991), da er nur Dichotomien hervorbringe, zudem politisch hochgradig instrumentalisierbar sei und die realen Bedingungen der Lebenswirklichkeiten eher verschleiere als dass er sie erklären könne.
3. D er normative K ulturbegriff Der normative Kulturbegriff, der für die europäische Kunstrezeption und Kanonausbildung nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, ist das Ergebnis einer bis heute im Begriff der »Hochkultur« fortwirkenden (Sprach-)Tradition; seine Wurzeln sind politisch in der gesellschaftlichen Ermächtigung des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert, ideengeschichtlich in der Aufklärung und im deutschen Idealismus zu verorten. »Kultur« wurde zum Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins, das sich im Reich des »rein Geistigen«, in Bildung und Kunst artikulieren konnte, denn von der Politik war das Bürgertum weitgehend ausgeschlossen (vgl. Elias 1939/1997: 120). Die damit verbundene moralische Aufladung des Begriffs findet sich bereits bei Immanuel Kant, der »Kultur« im Kontext der Kritik der Urteilskraft als »die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)« bezeichnet (Kant 1790/1977: 390). Kultur wird sowohl als das Resultat als auch als die Praxis der Kultivierung des Menschen definiert, als das Mittel zur Vervollkommnung der »Naturanlagen des Menschen als Zweck setzendes Wesen« (Kant 1790/1977: 390). Über die Herausbildung der »Kultur der Geschicklichkeit« mit ihren höchsten Formen, Kunst und Wissenschaft, und der »Kultur der Disziplin«, die Kant als Bildung denkt, wird der Weg für eine »Kultur des Willens« bereitet, welche in der Selbstbestimmung der Vernunft durch die moralische Pflicht im Sinne Kants praktischer 2 | Vgl. zum Beispiel das Kulturverständnis des Goethe-Institutes. Hier werden auch »Medien«, »Mode«, »Gesellschaft und Zeitgeschehen« und »modernes Leben« unter Kultur subsumiert (Andere Quellen: Nr. 1).
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Philosophie den Menschen in seiner Freiheit markiert (vgl. Kant 1790/1977: 387393; Heinz 2012: 76f.). Zugleich wurde mit der Entdeckung des Kulturellen ein Moment nationaler Einheit entworfen, das im Gegensatz zur politischen Realität im Bereich des »Geistigen« gelebt werden konnte. Auf dieses Kulturelle konnte man schließlich 1871 zurückgreifen, als es um den Auf bau eines nationalen Selbstbewusstseins ging. Mit der ideellen Überhöhung des Kulturbegriffs wurde jedoch nicht nur die Grundlage einer bildungsbürgerlichen, deutschen Identität geschaffen, sondern auch die für einen universalistischen Wertemaßstab, der auch die Werke und Praktiken anderer Gesellschaftsgruppen wie insgesamt anderer Gesellschaften nach dem Grad ihrer »Kultiviertheit« bewertete und in ein hierarchisches System einpasste. Dieser bürgerliche, »idealistisch normativ geprägte« Kulturbegriff bildete mit seiner universalen moralischen Dimension einen »humanistische[n] Gegenpol zu ›Zivilisation‹« (Hann 2007: 126). Während sich der ursprüngliche Distinktionscharakter des Kulturbegriffs, der die bürgerliche Lebensweise vom Sittenverfall des »zivilisierten« Adels abgrenzte, im Zuge der politischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts unweigerlich verschob (vgl. Reckwitz 2010: 21), blieb seine normative, moralisch-ästhetische Dimension erhalten. Zwar wurde diese spezifisch deutsche Begriffstradition seit 1968 einer gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Kritik unterzogen, welche die im »affirmativen Kulturbegriff« (Marcuse 1965: 63) transportierte Hierarchie infrage stellte und mit einer politischen und wissenschaftlichen Öffnung verbunden war. Durch diesen geweiteten Kulturbegriff wurde das normative Verständnis jedoch nicht ersetzt, sondern lediglich eine weitere Begriffsdimension eröffnet: Begriffe wie »Populärkultur«, »Soziokultur«, »Jugendkultur«, »Subkultur« – die Reihe lässt sich endlos fortsetzen – konnten sich sprachlich etablieren. Die darunter subsumierten Formen, Praktiken und Objektivationen wurden jedoch in den seltensten Fällen in die schwergewichtige Kategorie »Kultur« (im Singular) integriert und mit in den (Hoch-)Kulturkanon aufgenommen. Vielmehr liegt diesen ein differentes Kulturverständnis zugrunde, welches sich in hohem Maße aus dem deskriptiven Kulturbegriff, dem Kulturbegriff im Plural, speist. So können beide Verwendungsweisen nebeneinander existieren, ohne sich aufzuheben.
4. D er deskrip tive K ulturbegriff Während der normative Kulturbegriff einen universalistischen, inhaltlichen Maßstab transportiert, ist der deskriptive Kulturbegriff relativ. In seiner geschlossenen Form unterscheidet der klassische ethnologische Kulturbegriff zwischen den Kulturen verschiedener »Völker« respektive, in heutiger Aufladung des Begriffs, den »Kulturen verschiedener Länder«. »Kultur bezieht sich hier auf die Ausdehnung derjenigen Gruppe (oder Gesellschaft oder Zivilisation), für welche die betreffenden kulturellen Inhalte beziehungsweise Praktiken charakteristisch sind.« (Welsch 2010: 294) Auf diese Weise postuliert der ethnologische Kulturbegriff nach innen Homogenität, nach außen Abgrenzung und Differenz. Er schreibt Angehörige einer Ethnie auf bestimmte, vorausgesetzte Verhaltensweisen fest. Der Ursprung dieses Kulturbegriffs wird meist auf Johann Gottfried Herder und seinen berühmten Satz zurückgeführt (Welsch 1997; Hann 2007; Reckwitz
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2010): »Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.« (Herder 1774: 56, zit.n. Hann 2007: 127) Aufgrund dieses Zitats aus Herders Antwort auf die Akademiefrage »Welches in der Geschichte wohl das glücklichste Volk gewesen?« (Maurer 2012: 37) wird dem Philosophen gemeinhin eine kulturrelativistische Haltung zugeschrieben, die später vielfach als Ethnozentrismus3 kritisiert wurde. Dies wird Herders Kulturphilosophie allerdings nicht ganz gerecht, zumal dabei sein universalistischer Humanitätsbegriff ausgeklammert wird, der ihn als einen Denker im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Kulturrelativismus verortet (vgl. Löchte 2005: 13-18). Nichtsdestotrotz ist die Wirkmächtigkeit des herderschen Kulturbegriffs in seiner auf kulturrelativistische und -deterministische Komponenten reduzierten Form nicht zu leugnen. Die komplexen Ideen des Weimarer Theologen, Dichters, Übersetzers und Kulturphilosophen können hier nur angerissen werden; um Herders Argumentation zu verstehen, ist jedoch wichtig zu betonen, dass er als einer der Gründerväter der Kulturphilosophie keinem uneingeschränkten historischen Fortschrittsglauben mehr anhing, wie ihn etwa noch Schiller in seiner Idee zu einer Universalgeschichte (1789) propagiert hatte. Stattdessen entwickelte er in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) ein Geschichtsbild, das aus organisch aufeinander auf bauenden historischen Epochen bestand. Mit diesem Geschichtsbild war auch eine Pluralisierung des Kulturbegriffs verbunden, denn nach Herders Ansicht war die Welt von einer Vielzahl gleichzeitig bestehender und in ihrer Ausprägung gleichberechtigter Kulturen bevölkert. »Kultur« existierte folglich nur als »Kulturen«, die sich in der Verortung substanzieller Territorien äußerten. Herders Verdienst zu seiner Zeit war es, gegenüber dem rationalistischen Menschenbild des 17. und 18. Jahrhunderts auch die empirische Bedingtheit des Menschen zu betonen. Die Einheit des Menschengeschlechts im Humanitätsideal, der sich Herder in seinem Hauptwerk, den Ideen zur Geschichte der Menschheit (1784-1791) widmet, zeigt sich bei ihm gerade in der und durch die empirisch erfahrbare kulturelle Vielfalt.4 Die Vorstellung, dass die kulturellen Praktiken territorial erfassbarer Kollektive spezifisch und differenzierbar wären, führte Herder auch dazu, aus ihnen für den einzelnen »Volkskörper« charakteristische Eigenschaften abzuleiten, die ihn unverwechselbar machten. Für den empirisch denkenden Wissenschaftler brachte dies den Auftrag mit sich, die Vielzahl der (fremden) Kulturen, ihre Sprachen und Ausdrucksformen zu beschreiben und zu erforschen. Herders Bestrebungen, fremde Kulturen in der Übersetzungsarbeit einerseits und die eigene Kultur in der Traditionsarbeit andererseits zu bearbeiten, 3 | Michael Maurer führt dieses »Zerrbild« von Herder als »Vertreter einer Ideologie des Zentrismus und Chauvinismus« auf frühere nationalistisch geprägte Herder-Interpretationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück und setzt dieser Rezeption Herders offenen Begriff von Sprache und Übersetzung entgegen, der interkulturelle Austauschprozesse auch aufzugreifen und zu inkludieren vermag (Maurer 2012). 4 | Leo Kreutzer vertritt die These, dass sich die universalistische Perspektive des Humanitätsbegriffes und die kulturrelativistische Perspektive bei Herder nicht widersprechen, sondern sich im Sinne eines von Spinoza inspirierten »dialektischen Humanismus« zusammendenken ließen. Statt um eine »Differenz trotz Einheit« oder eine »Einheit trotz Differenz« zu streiten, bilden nach Kreutzer Universalismus und Partikularismus bei Herder eine »Einheit durch Differenz« (Kreutzer 2016).
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etwa durch das Sammeln von Volksliedern, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Nicht zuletzt deshalb sind bei Herder selbst die Begriffe des »Nationalcharakters« und der »Nationalliteratur« noch positiv besetzt.5 Zweifellos hat die (post-)moderne Rezeption vor allem Herders angebliches kulturelles »Containerdenken« herausgearbeitet und die damit verbundene verkürzende Synonymie zwischen Kultur und Nation. Wie langlebig solche verkürzenden Vorstellungen selbst noch in postnationalen Migrationsgesellschaften sind, zeigt nicht nur die schon erwähnte »Leitkultur«-Debatte, sondern auch das Konzept der sogenannten Multikulturalität: Zwar stellt es der Beschreibung fremder Kulturen auf fremden Territorien die Beschreibung einer Vielfalt von Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft entgegen, doch wird Kultur nach wie vor als eine Vielheit von Kugeln innerhalb der Kugel »deutsche Nation« gedacht (vgl. Welsch 1997: 69f.). Das Konzept lässt zudem unberücksichtigt, dass sich Kultur(en) nie aus sich selbst heraus, sondern nur in einem Prozess der Auseinandersetzung zwischen Eigenem und Fremden und in der Aushandlung kultureller Differenzen konstituieren. In dieser Vorstellung setzt sich kulturelle Identität aus einer Vielzahl heterogener kultureller Muster zusammen, die nicht auf die Herkunft reduziert werden können. Allerdings ist es auch ein herderscher Kerngedanke, fremde Kulturen als gleichberechtigte Gebilde menschlicher Lebensart und Geschichte anzuerkennen und sie nicht zu hierarchisieren (vgl. Maurer 2012: 37). Diese Gleichberechtigung ist in der relativistischen Komponente des Kulturbegriffs impliziert. Im Gegensatz zum normativen Kulturbegriff, der mit der Aufstellung eines Hierarchiesystems anhand eines universalen Wertemaßstabes vertikal differenziert, schreibt der deskriptive, aber geschlossene Kulturbegriff gleichsam horizontale Positionen im gesellschaftlichen Koordinatensystem fest. Nur im Sinne dieser Gleichwertigkeit knüpft Wolfgang Welsch an Herder an, während er mit seinem Konzept der Transkulturalität ansonsten allen Versuchen entgegnet, moderne (Migrations-) Gesellschaften mit essenzialisierenden Kulturbegriffen zu beschreiben (Welsch 1997).6 Welsch möchte mit seinem Konzept der Transkulturalität einen Gegenentwurf zu geschlossenen Kulturbegriffen geben und rekurriert dafür auf zwei Grundgedanken der Zweiten Moderne – jene der Vernetzung und der Lebensform: »Heutige Kulturen sind aufs stärkste miteinander verbunden und verflochten.« (Welsch 1997: 71) Migration und Medialisierung hätten es unmöglich gemacht, sich die Menschheit noch in räumlich getrennten, kulturell unterschiedlichen Gruppierungen vorzustellen. Die Komplexität eines Kulturbegriffs, der dem Faktum der Verbundenheit gerecht wird, besteht nach Welsch nicht mehr in der Feststellung von Einzigartigkeit, sondern in deren Vernetzung. Nicht zuletzt eine konstante Veränderungsdynamik führt dazu, dass in der Zweiten Moderne keine Kulturträger mehr denkbar sind, wie sie noch Herder beschrieb und wie sie allen nach ihm kommenden essenzialistischen Begriffsdefinitionen eigen sind. Ebenso wenig kann von charakteristischen Eigenschaften im Sinne von Alleinstellungs5 | Der Verfasser möchte sich an dieser Stelle bei Christiane Dätsch für die konstruktive Kritik und die zahlreichen Hinweise insbesondere zur herderschen Kulturphilosophie bedanken. 6 | Zu ihnen gehören für Welsch neben der Multikulturalität auch die Konzepte der Interkulturalität (vgl. Welsch 1997: 68). Sie lassen nach Welsch zwar Begegnungen zwischen den Kulturen zu und fordern diese auch ein Stück weit ein, reflektieren aber keinen Raum für Vermischungen.
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merkmalen ausgegangen werden: »Zeitgenössische Kulturen sind generell durch Hybridisierung gekennzeichnet.« (Welsch 1997: 72, Hervorhebung im Original) Vernetzung führt zu Hybridisierung und bringt ein Kollektiv um homogenisierende Eigenschaften. Sichtbar wird die interne Differenzierung des Kollektivs nach Lebensformen, die sich ihrerseits wiederum durchdringen, was Welsch zu der diskussionswürdigen Folgerung bringt: »Daher gibt es schlechthin nichts Fremdes mehr.« (Welsch 1997: 72) Ebenso wie das vernetzte Kollektiv ist auch das Individuum von mehrfachen Bezügen geprägt (vgl. Welsch 1997: 72). Das Bewusstsein über diese Dynamik und die eigene Verortung in einem Netz aus Bezügen verändert nicht nur das eigene Selbstverständnis, sondern auch den Kulturbegriff und das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft, sofern sie dies zulässt: Sagt man uns – wie der alte Kulturbegriff es tat –, daß Kultur eine Homogenitätsveranstaltung zu sein habe, so werden wir uns entsprechend verhalten und die gebotenen Zwänge und Ausschlüsse praktizieren. […] Sagt man uns oder den Heranwachsenden hingegen, daß Kultur gerade auch Fremdes einbeziehen und transkulturellen Komponenten gerecht werden müsse, dann werden entsprechende Integrationsleistungen künftig zur realen Struktur der Kultur gehören. In diesem Sinne ist die ›Realität‹ von Kultur immer auch eine Folge unserer Konzepte von Kultur. (Welsch 1997: 75)
Ein zeitgemäßer Kulturbegriff wäre nach Welsch ein Begriff, der hierarchisierende und deterministische Gedanken aus dem Kulturkonzept ausschließt; er würde hingegen die Überlappungen und Vermischungen mit einbeziehen, die nicht nur durch die Begegnung und Verschmelzung »fremder Kulturen« entstehen, sondern auch durch die Vernetzung binnendifferenter Lebensformen. Welsch entsorgt somit die Vorstellung eines holistischen Kulturträgers. Allerdings, so argumentieren seine Kritiker, bleibt er mit seinem Transkulturalitätsverständnis trotz seiner inhaltlichen Kritik an Herders Kulturen methodisch in dessen binärer Logik verhaftet: Er argumentiere semantisch, indem er alte Dichotomien negiere, Transkulturalität aber nicht als methodisches oder perspektivisches Erkenntnis- und Handlungsmodell beschreibe (vgl. Juneja in Gasparini 2013).7 Dass Kultur, die in ihrer Erkenntnis- und Erfahrungsdimension je schon hybrid verfasst ist, durch die Aufnahme und das Aushandeln von Differenzen bestimmt wird, haben andere Ansätze nach Welsch und das Modell der kulturellen Übersetzung deutlich gemacht (vgl. Bachmann-Medick 1998: 248).
7 | Vgl. Monica Juneja, Professorin für Global Arts History an der Universität Heidelberg: »This attention to uncovering the dynamics of those formations both in the past and the present constituted through regimes of circulation and exchange distinguishes our understanding from studies of globalization or the more recent expositions of transculturality by the German philosopher, Wolfgang Welsch, who regards border-crossing and cultural mixing as unique attributes of modernity.« (Gasparini 2013)
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5. V orschl ag für einen zeitgemässen K ulturbegriff : K ultur als Ü berse t zung Ausgehend von der Rezeption postkolonialer Theorien wurde ein weiterer Zugang zur Neudefinition des Kulturbegriffs vorgeschlagen, der mit seinem Leitbegriff der Übersetzung den Fokus stärker auf die Praxis des Aushandelns von kultureller Differenz legt. Hybridisierung lässt sich demnach als (je vorläufiges) Ergebnis permanenter Übersetzungsprozesse denken. Doris Bachmann-Medick konstatiert mit der Aufnahme des Übersetzungsbegriffs als Leitkategorie einen Translational Turn, der die Notwendigkeit der Analyse kultureller Übersetzungsprozesse in Zeiten der Globalisierung aufnimmt, sie aber nicht nur in interkulturellen, sondern auch in historischen, innergesellschaftlichen und interwissenschaftlichen Kontexten verortet (vgl. Bachmann-Medick 2006: 238f.). Übersetzung expandiert zu einer Leitperspektive für das Handeln in einer komplexen Lebenswelt, für jegliche Formen des interkulturellen Kontakts, für Disziplinenverknüpfung und für eine methodisch geschärfte Komparatistik im Zeichen einer Neusicht des Kulturenvergleichs. (Bachmann-Medick 2006: 239)
Der Translational Turn nimmt das Ziel postkolonialer Theorien auf, in Bezug auf Kontakte zwischen Kulturen einen Begriff des kulturellen Übersetzens sowie einen Kulturbegriff zu schaffen, der den Machtdiskurs der alten, traditionellen Kulturbegriffe nicht wieder von selbst reproduzieren würde. Damit verbunden war der Abschied von einem essenzialistischen Kulturverständnis, gleichzeitig aber auch ein Festhalten am »Prinzip kultureller Übersetzbarkeit« (Bachmann-Medick 2004: 162), das der These von der (konfliktversprechenden) Unvereinbarkeit von Kulturen entgegengestellt werden kann. Dies benötigt zugleich ein neues Verständnis von Übersetzung, denn Kulturen und deren Objektivationen können nach der Verabschiedung eines essenzialistischen Kulturverständnisses nicht mehr als statische Übersetzungsgegenstände betrachtet werden, die im Sinne eines dichotomen Übersetzungsprinzips äquivalent von »A« nach »B« übertragen werden (vgl. Wolf 2003: 86). Wenn Übersetzung als rein linear und dem Äquivalenzprinzip folgend betrachtet wird, bleiben zudem jene Hierarchieverhältnisse verborgen, die im Übersetzungsprozess reproduziert werden. Kulturelles Übersetzen ist daher immer auch ein Aushandeln von kulturellen Differenzen und ein Aushandeln von Machtverhältnissen.8 Walter Benjamin hat schon früh in seinem 1923 als Vorwort zu seiner Übersetzung von Baudelaire-Gedichten veröffentlichten Aufsatz zur Aufgabe des Übersetzers (Benjamin 1923/1972) darauf aufmerksam gemacht, dass eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere nie ein Übertragen identischer Inhalte sein kann. Sie stellt das Übersetzte immer neu dar, sie kann damit gar nicht den Anspruch haben, dem Original zu gleichen, das selbst dem Wandel der Sprachen ausgesetzt ist. So kann das Ideal einer äquivalenten Übersetzung nicht erreicht werden: Das Abbild kann nie das Original sein, jedoch auf das Original verweisen. Aufgabe 8 | Ein vielzitiertes Beispiel der Reproduktion von Machtverhältnissen in der Konstruktion des »Anderen« ist hier sicherlich Edward Saids Orientalismuskritik. Lepenies weist zudem auch auf das Übersetzungsprivileg des Englischen hin (vgl. Lepenies 1997: 102).
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der Übersetzung muss es nach Benjamin sein, auf die Intention zu zielen, auf die das Original auf seine Art verweist, um über diese Intention selbst in der der Übersetzung eigenen augenblicklichen Ausdrucksform auf das Original deuten zu können. Übersetzung ist also nicht einfach »Abbild«, sondern etwas wesentlich Eigenes, in dem das Original »wiedererklingt« (Benjamin 1923/1972: 16). Jede Übersetzung kann damit immer nur eine vorläufige sein. Sie steht immer in Bezug zur jeweiligen Kommunikationssituation, dazu, was diese verlangt, welche Intentionen ihr zugrunde liegen. Übersetzung zeigt sich damit als ein Transformationsprozess, der auch das Übersetzte tangiert und verändert. So befinden sich sowohl die eigene Sprache als auch das Original in einem unabgeschlossenen Prozess der Erweiterung von Sinn. Benjamin führt deshalb eine dritte Dimension jenseits von Original und Übersetzung ein, eine »reine« Sprache, in der sich Original und Übersetzung aufeinander zubewegen (vgl. Benjamin 1923/1972: 19f.; BachmannMedick 1998: 19). Benjamin dachte damit schon etwas an, das der indische Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha in Bezug auf das kulturelle Übersetzen und den Prozess kultureller Hybridisierung später als den »Dritten Raum« bezeichnen sollte: All forms of culture are continually in a process of hybridity. But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge. (Bhabha 1990: 211)
In diesem »Dritten Raum« können sich die Originale im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenzen neu begegnen. Sie lassen sich in der Überwindung vorherrschender Machtstrukturen als neue Formen mit inhärenten Ambivalenzen denken (vgl. Bonz/Struve 2006: 146). Als scheinbare Metapher, tatsächlich aber als Realisation eines solchen Raumes, führt Bhabha die architektonische Installation Sites of Genealogy der Künstlerin Renée Green am Institute of Contemporary Art (1991) in New York an, deren Herzstück eine Treppe bildet: The stairwell as liminal space, in-between the designations of identity, becomes the process of symbolic interaction, the connective tissue that constructs the difference between upper and lower, black and white. The hither and thither of the stairwell, the temporal movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from settling into primordial polarities. This interstitial passage between fixed identifications opens up the possibility of a cultural hybridity that entertains difference without an assumed or imposed hierarchy. (Bhabha 1994: 5)
Solch eine Konzeption betont die Standortgebundenheit kulturellen Übersetzens, aber auch die Annahme, dass diese immer neu verhandelt und modifiziert wird und sich auf diese Weise erst konstituiert. So vermag sie es nicht nur, kulturelle Distanzen zu respektieren, sondern auch Platz für Gemeinsames, Vermischtes, Hybrides zu bieten, ohne gleichzeitig ein hierarchisches System aufzuspannen. Bhabha wendet sich hierbei dezidiert gegen die Rede von der kulturellen Vielfalt (cultural diversity): »Cultural diversity is also the representation of a radical rhetoric of the separation of totalized cultures that live unsullied by the intertextuality of their historical locations.« (Bhabha 1994: 50) Gegen eine cultural diversity macht er die »kulturelle Differenz« stark, die bei ihm gerade nicht für die Inkommensurabi-
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lität von Kulturen steht, sondern Gegenstand kontinuierlicher Verhandlungen ist. Kulturelle Differenz avanciert somit zum Ausdruck des prozesshaften Charakters von Kultur und wird nicht als hierarchische, essenzialistische Festschreibung im kolonialen Diskurs aufgefasst. Verhandlungen kultureller Differenz repräsentieren selbst Kultur, indem die Differenzen im Grenzbereich der Kulturen als Problem zur Sprache kommen, wenn sie in Form von gegenseitigem Missverstehen evident werden: »Culture only emerges as a problem, or a problematic, at the point at which there is a loss of meaning in the contestation and articulation of everyday life, between classes, genders, races, nations.« (Bhabha 1994: 50) Mit dem Prozess der Hybridisierung wird folglich nicht eine Vermischung von zwei getrennten Kulturen postuliert, die sich im Übersetzungsprozess angleichen oder in ihm aufgehoben werden, sondern es wird gefordert, immer schon hybride Ausgangslagen anzunehmen, gegen ein dichotomes Übertragungsmodell (vgl. Bachmann-Medick 2007: 203-207). Die Perspektive des Translational Turn eröffnet damit nicht nur ein anderes Verständnis von Übersetzungspraxen, sondern auch von Kultur selbst: Wenn Kultur als etwas verstanden werden soll, das wesentlich durch Heterogenität, Veränderungen, Überlappungen und Überschneidungen gekennzeichnet ist, kommt man nicht umhin, bei »Kultur« immer auch »Übersetzung« im Sinne eines Vermittlungsprozesses mitzudenken. Kulturen können nicht statische Objekte von Übersetzung sein, sondern konstituieren sich als ein ständiger Übersetzungsprozess, und zwar in Formen der Hybridisierung. »Kulturen werden nicht nur übersetzt, sie konstituieren sich vielmehr in der Übersetzung und als Übersetzung.« (Bachmann-Medick 2004: 162) Es muss somit betont werden, dass spätestens mit Bachmann-Medick vom »Übersetzen« als einer zentralen Kategorie der Kulturwissenschaften gesprochen werden kann, die auch jenseits postkolonialer Diskurse ihre Bedeutung hat: »Kulturanthropologie und Postkolonialismus haben die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Differenzen und Übersetzungen zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb der Kulturen gelenkt.« (Bachmann-Medick 2004: 162, Hervorhebung im Original) Kulturen sind somit je schon prozesshafte Ergebnisse permanenter Übersetzungs- und Transformationsprozesse in räumlicher, aber auch zeitlicher (historischer) Dimension (Burke 2012). Im interkulturellen Bereich, in einer Erfahrung des »Fremden«, treten Übersetzungsprozesse in ihrer Notwendigkeit bloß offener zutage und werden problematisiert. Der Rückgriff auf Homi Bhabha erscheint nicht nur wegen der Kritik an essenzialistisch-statischen und Machtverhältnisse reproduzierenden Kulturbegriffen vielversprechend, sondern insbesondere auch hinsichtlich der »Verortung« von Kultur in konkreten Bezügen. Kulturen, verstanden als Übersetzungsprozesse, sind letztlich das Resultat konkreter lokaler Aushandlungsprozesse, gerade auch in Zeiten der Globalisierung. »Globalization, I want to suggest, must always begin at home.« (Bhabha 2004: XV) Demnach greift es zu kurz, die Welt im Zeitalter der Globalisierung als global village (McLuhan/Powers 1989) zu bezeichnen, in dem sich die Distanz zu den Nachbarn immer mehr verkleinert und die Welt schließlich friedlich als ein einziges, gemeinsames, globalisiertes Dorf zusammenwächst. Vielmehr ist eher eine Welt der Vernetzung zu konstatieren, in der das Lokale nicht untergeht (Hannerz 1995). Globale Narrative werden gerade auch auf lokaler Ebene ausgehandelt und mit lokalen Deutungsmustern vermittelt. Auch Bhabhas »Dritter Raum« braucht seine konkrete Realisation zwischen vorherrschenden lokalen
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und globalen Bedingungen. Kulturelles Übersetzen in globalisierten Verhältnissen bedeutet also nicht einen schrittweisen Prozess der Angleichung kultureller Praktiken und ihre Entkoppelung vom Konkreten, sondern (kreative) Transformation, Ausdifferenzierung, Schaffung neuen Sinns und neuer Differenzen insbesondere in lokalen Bezügen.
6. D ie V erortung von K ultur als Ü berse t zungsprozess in K ulturinstitutionen Das Aufeinandertreffen von einander als fremd wahrnehmenden Lebenswelten wird in einer von Vernetzung und Migrationsbewegungen geprägten Welt mehr und mehr als alltägliches Phänomen erlebt. Damit solche Begegnungen gelingen, müssen Strukturen geschaffen werden, in denen sich so etwas wie ein Dialog »ohne übernommene Hierarchien« (Bhabha 2000: 5) auch entfalten kann. Das bringt die Kulturinstitutionen ins Spiel. Theater, Museen, Konzertsäle oder Orte der freien Szene, aber auch soziokulturelle Zentren und Künstler selbst können in diesem Sinne als potenzielle »Übersetzungsbetriebe, -orte und -institutionen« verstanden werden, da sie das gemeinsame Ziel haben, Orte der Vermittlung, der Begegnung und der Reflexion zu sein: zwischen Geschichte und Gegenwart, Idealität und Realität, Kunst und Politik, Unterhaltung und Bildung, globalen Narrativen und lokalen Objektivationen. Sie wären »Übersetzungsinstitutionen« nicht in dem Sinne, dass sie Fremdes in vertraute Lebenswelten hinein übersetzen, sondern dass sie Räume schaffen, in denen diese Kategorisierungen verhandelt werden. Ein Museum könnte sich beispielsweise die Frage stellen, ob es unter Berufung auf das kulturelle Erbe auf die Darstellung von Homogenität und Kontinuität verzichten kann und stattdessen auf die Darstellung von Vielstimmigkeit und Brüchen im historischen Übersetzungs- und Erinnerungsprozess setzt (Assmann 2013). Die Übersetzungsleistung von klassischer Musik als weltweit verbreiteter Kunstform ist unbestritten, doch wird ihre Umsetzung in künstlerischen oder Vermittlungsformaten häufig noch nicht mitgedacht. Das Verständnis von Kunst als Teil einer Kultur, die sich als Übersetzungsprozess versteht, wäre weitaus leichter zu denken, als es bislang oft geschieht. Als Raum zwischen vertikalen (hierarchischen) und horizontalen (essenzialistischen, ethnischen) Festschreibungen revidiert ein derartiges Verständnis nicht nur den deskriptiven, aber geschlossenen Kulturbegriff, der insbesondere in Debatten um »Flucht«, »Migration« und »Integration« zum Tragen kommt und Begegnungen auf Augenhöhe erschwert, sondern auch den normativen Kulturbegriff, indem es dessen tradierte Hierarchien in Frage stellt. Gerade die verstärkte Hinwendung zu ästhetischen und diskursiven Qualitäten in ihren Programmen und in ihrem Selbstverständnis könnte für Kulturinstitutionen ein geeignetes Mittel sein, um Herkunftsdiskurse aufzubrechen, die mit dem Etikett des essenzialistischen Kulturbegriffs behaftet sind. »Künstlerische und kulturelle Identität werden […] am Grad der Teilhabe an Werten, Normen, Ästhetiken bemessen und nicht an der kulturellen Herkunft.« (Wolfram 2015) Hier entsteht letztlich eine neue Perspektive für Kulturinstitutionen im Diskurs um Teilhabe, Integration und kulturellen Dialog: Sie könnten als Orte fungieren, an
Kultur als Überset zungsprozess
denen Übersetzungsprozesse stattfinden.9 Kultur, verstanden als Übersetzungsprozess und angewendet auf die Tätigkeit von Kulturinstitutionen, stellt damit kein Gegenmodell zur Kunst dar, sondern verortet sie schlicht in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Übersetzungsprozesse sind auch in der Kulturpolitik jenseits von »Integration« oder »Kulturbegegnung« denkbar, sofern der Wunsch nach Homogenisierung und Anpassung an die »eigene Kultur« verabschiedet wird und Kultur stattdessen als Ort der Aushandlung von Differenzen begriffen wird. In der Anwendung auf Kunst- und Kultureinrichtungen als »Übersetzungsorte« ist der Begriff präzise genug, um auch die Tätigkeitsbereiche des Kulturmanagements zu beschreiben. So wurde in jüngster Zeit auch die Rolle des Kulturmanagers als Übersetzer herausgearbeitet, indem das betriebswirtschaftlich geprägte Verständnis von Kulturmanagement hin zur Vermittlung erweitert wurde: Martin Zierold definiert Kulturmanagement als »die Kunst des Übersetzens und der Transformation« (Zierold 2014: 40) und macht dies ebenfalls am Übersetzungsbegriff des Translational Turn fest. Aufgabe des Kulturmanagements sei es, »unterschiedliche Akteure mit ihren jeweiligen Handlungslogiken so miteinander in Verbindung zu bringen, dass sehenswerte Kunst entstehen kann« (Zierold 2014: 40). Ähnlich argumentieren Patrick Föhl und Gernot Wolfram, wenn sie den »Kulturmanager der Zukunft« als »Meister der Zwischenräume« verstehen (Föhl/Wolfram 2014). Kulturmanager könnten sich jedoch nicht nur in der Rolle des Übersetzers verstehen, sondern – in Anlehnung an Gerhard Mortiers Verständnis von Kulturmanagement als Management für Kultur (vgl. Mortier zit.n. Klein 2011: 1) – auch als Manager für den Übersetzungsprozess, den Kulturinstitutionen als Orte des kulturellen Handelns leisten. In ihnen nehmen eine Vielzahl von Akteuren Übersetzungsaufgaben wahr und gestalten Transformationsprozesse mit, so zum Beispiel die Künstler, Aktivisten, die Mitarbeiter der Institutionen und der öffentlichen Verwaltung und, nicht zu vergessen, die Besucher und Rezipienten selbst. Kulturmanagement als die »Kunst, Kultur zu ermöglichen« (Bendixen 2006) wäre damit – neben der Kunst der Übersetzung – die Kunst, Räume zu ermöglichen, in denen Übersetzungsprozesse, so wie sie hier verstanden werden, möglich werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Chancen dieses Kulturbegriffs darin liegen, dass er die in der traditionellen binären Logik verhaftete Denkordnung verlässt, Dichotomien auflöst und gleichzeitig kulturelle Differenzen nicht leugnet, sondern deren konstitutive wie konstruktive Kraft anerkennt, indem er den Blick auf die konkrete kulturelle Praxis im Kulturbetrieb lenkt. Er kann die oben genannten, von verschiedenen Seiten betonten Kriterien der Aussagekraft, Inklusion, Integration und der Überschreitung von Hierarchien im Gegensatz zu essenzialistischen Kulturbegriffen erfüllen, insbesondere durch seine reale Verortung. Die Inhalte des tradierten Hochkulturbegriffs, europäische Kunst- und Kulturformen, fallen hier keineswegs einem übersetzenden Kulturbegriff zum Opfer, vielmehr zeigt dieser die Chance auf, die Perspektive auf die »eigene« Tradition zugunsten der Darstellung von Vernetzung und Transformations- und Übersetzungsprozessen anzupassen, die je schon die kulturelle Realität bestimmten. Der 9 | Gernot Wolfram machte bereits auf die Notwendigkeit von »transkulturell« ausgerichteten Kulturbetrieben aufmerksam und zeigte zudem konkrete Schritte zur Realisierung auf (Wolfram 2015).
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»Dritte Raum« kann als »Utopie« nicht funktionieren, aber vielleicht als ein Kulturpraxis, Kulturwissenschaft und Kulturpolitik verbindendes Programm.
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Der Fall des Campanile Transkulturalität, Hyperrealität, multiple Authentizität Thomas Knubben
1. D rei T ürme Einerlei, ob man sich Venedig mit dem Zug, mit dem Vaporetto oder auf einem der überdimensionalen Kreuzfahrtschiffe nähert, immer wird man aus der Silhouette der Stadt den imposanten Campanile herausragen sehen, der den Markusplatz überwacht und den Eingang zum Canal Grande markiert. Seit über 1000 Jahren steht er an dieser Stelle, seit mehr als 500 Jahren in der heutigen Form mit seiner modern anmutenden, geometrisch zulaufenden Turmspitze und der golden strahlenden Engelsfigur. Tausendfach gemalt und Millionen Mal fotografiert, wirkt der Campanile wie eine sichere Bastion im Wandel der Zeit, ein Monument, das allen Stürmen standgehalten hat. Doch genau das hat er nicht. Am Morgen des 14. Juli 1902, kurz vor 10 Uhr, war das imposante Bauwerk, nachdem zuvor die der Markuskirche zugewandte Fassade herausgefallen war, in sich zusammengestürzt. Zurück blieb ein gigantischer Trümmerhaufen aus Stein und Ziegel (Giussani 1992; Rosada 2002; Abb. 1). Das Unglück war menschengemacht: Im Bemühen, den Besuchern den Aufstieg zur Aussichtsplattform im Glockengeschoss bequemer zu machen, war man auf den Gedanken verfallen, einen Aufzug einzubauen und hatte dafür Metallanker im Turminneren, die das Bauwerk zusammenhielten, entfernt und so den Einsturz provoziert. Noch am Abend des Unglückstages beschloss der Stadtrat von Venedig, den Turm originalgetreu wiederaufzubauen, was im Lauf von zehn Jahren bis zum 25. April 1912, dem Markustag, gelang. Damit schrieben die Stadtväter von Venedig ein weiteres Mal Turmgeschichte. 8 000 Kilometer weiter und 87 Jahre später, am 3. Mai 1999, öffnete in Las Vegas das Venetian Resort Hotel seine Pforten. Mit seinen über 4 000 Suiten und 18 Restaurants gehört es zu den größten Hotelkomplexen der Welt. Seine Besonderheit besteht darin, dass es die Szenerie von Venedig mit Kanälen (freilich nur knietief), Rialtobrücke, Markusplatz (samt künstlichem Himmel) und auch dem Campanile originalgetreu nachbildet (Andere Quellen: Nr. 1). Gerade beim Markusturm war man darauf bedacht, dass er dem Vorbild in den Maßen auf den Zentimeter genau entspricht. Da das Konzept aufging, wiederholte man die Unternehmung auf der anderen Seite der Weltkugel und errichtete 2007 in Macao (Volksrepublik China) mit dem Venetian Macao-Resort-Hotel noch den dritten originalgetreuen Markusturm (Andere Quellen: Nr. 2).
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Abb. 1: Die Trümmer des Campanile am 14. Juli 1902. Quelle: Shchusev State Museum of Architecture, Moskau
Was haben die drei Türme miteinander zu tun? Welcher ist das Original? Gibt es, nach dem Einsturz des venezianischen Wahrzeichens, überhaupt noch ein Original? Oder nur noch Kopien, Kopien womöglich erster und zweiter Ordnung? Und wie sind die Prozesse zu benennen, die bei den verschiedenen Transaktionen der (Re-)Produktion abliefen? Handelt es sich bei der Nachbildung des Turmes in den beiden Hotelanlagen um einen relativ neuen, der vielzitierten Globalisierung geschuldeten Prozess oder lediglich um eine Variante altbekannter kultureller Transfers? Anders gefragt: Liegt mit ihnen eine skrupellose, geschichtsvergessene Adaptation, ein erfolgreiches touristisches Abziehbild vor oder die vielleicht außergewöhnliche, aber legitime Rezeption eines Weltkulturerbes? Droht durch Fälle wie diese womöglich am Ende die Disneyisierung der Welt mithilfe allenthalben verfügbarer und auch ubiquitär genutzter Versatzstücke? Die Fragen, die sich anhand des vorliegenden Falles stellen, sind grundsätzlicher Natur, sie verlangen daher eine grundsätzliche Antwort. Nur: Aus welchen Perspektiven, auf welchen theoretischen Grundlagen und mit welchem Erkenntnisgewinn lässt sich die Geschichte dieser mehrfachen Transformation beschreiben? Dieser Beitrag prüft verschiedene Ansätze und nähert sich dem Problem phänomenologisch: Er geht zunächst der Frage der Relevanz materialer Substanz nach und fragt nach der Bedeutung funktionaler Bestimmungen für die Bewertung des Vorgangs. Er betrachtet den Fall anschließend im Kontext traditioneller kunst- und kulturhistorischer Zuschreibungen und kontrastiert diese mit poststrukturalistischen Betrachtungen sowie transkulturellen Ansätzen, um schließlich eine Einordnung unter der Maßgabe eines erweiterten Authentizitätsbegriffs vorzunehmen.1
1 | Für Anregungen und Kritik bei der Entwicklung der Überlegungen danke ich Christiane Dätsch.
Der Fall des Campanile
2. M ateriale S ubstanz und Z uschreibung von B edeutung Aus Sicht der Denkmalpflege lässt sich der Sachverhalt vergleichsweise leicht einordnen. Ihr Prüfstein ist die Frage, ob es sich bei dem wiedererrichteten Bau um ein Denkmal handelt. Die Entscheidung darüber hängt letztlich davon ab, ob noch genügend Originalsubstanz vorhanden ist. Als solche sind nicht nur die Steine und Ziegel, sondern auch deren Verbindungs- und Oberflächenmaterial – Mörtel, Putz, Bemalung – und ihr integraler Zusammenhang anzusehen (vgl. Hubel 2006: 310324; Vereinigung der Landesdenkmalpfleger 2016). Angesichts des Trümmerhaufens, in den sich der Campanile verwandelt hatte, kann von einem integralen Zusammenhang, das heißt einer Überlieferung als geschlossenes Ganzes, nicht mehr die Rede sein, weswegen der Turm nach seiner Wiederrichtung in der strengen Terminologie der Denkmalpflege als eine Rekonstruktion, also als eine Nachbildung von einem gänzlich oder teilweise zerstörten Objekt (vgl. Vereinigung der Landesdenkmalpfleger 2016: 50) zu bezeichnen ist. Das verbindet ihn mit anderen Rekonstruktionen wie der wiederhergestellten Frauenkirche in Dresden. Immerhin wurde in Venedig wie in Dresden ein Teil des Originalmaterials verbaut, sodass sich hinsichtlich der materialen Substanz zumindest graduell ein Unterschied zu den beiden venezianischen Campanile in Las Vegas und Macao vermerken lässt. Dass eine solche materiale Grundlegung für die Zuschreibung von Bedeutung nicht unerheblich ist, belegt Gregor Schneiders Kunstaktion Entkernung, 2014 (Schneider 2014; Schneider 2015). Schneider, der mit seinen de- und rekonstruierten Räumen international bekannt geworden ist und für seine Installation Totes Haus u r, 2001 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig erhalten hat, erwarb für die Entkernungsaktion eigens ein Haus in seiner Heimatstadt Mönchengladbach-Reydt. Freilich kein beliebiges Haus, sondern das Geburtshaus des NS-Propagandaministers Goebbels, das bis dahin völlig unbeachtet an der Durchgangsstraße gestanden hatte. Er fotografierte die Räume, riss danach sämtliche Wände und Böden heraus, verfrachtete das gesamte Material in Baucontainer und schüttete es im November 2014 in der Nationalgalerie Zacheta in Warschau – also in einer Stadt, die von den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche gelegt worden war – wieder auf. Diese Transaktion erregte große Aufmerksamkeit und einigen Widerspruch.2 Sie interessiert hier jedoch nur im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Material beigemessen wird. Wie beim Campanile von Venedig handelt es sich schlicht um Bauschutt. Während dessen Authentizität jedoch im Fall von Venedig bei strenger Betrachtung nicht hinreicht, dem wiederaufgebauten Turm den Rang eines originalen Denkmals zu verleihen, scheint es bei den Resten von Goebbels’ Geburtshaus genau umgekehrt. Sie auszubauen und auszustellen ergibt nur Sinn und erzielt nur dann den gewünschten Effekt, wenn sie nicht nur als authentisch angesehen, sondern gleichsam als kontaminiert begriffen werden. Dies freilich nicht in physikalischer, chemischer oder biologischer Hinsicht, sondern in einem metaphorischen Verständnis. Die Steine selbst sind so unschuldig wie das Kind, das in diesem Haus zur Welt gekommen ist. Die Kontaminierung stellt daher nicht eine Eigenschaft des Materials, sondern eine Zuschreibung der Nachgeborenen, des Künstlers und der Betrachter, dar, wie dies – freilich mit um2 | Vgl. als Auswahl an Rezensionen: Hülsmeier 2014; Gerth/Thoma 2014; Hoffmanns 2014; Neuendorf 2014; Czöppan 2014.
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gekehrtem Vorzeichen – gemeinhin auch bei Reliquien der Fall ist. Das Kunstwerk hätte folglich auch dann funktioniert, wenn der Container auf dem Bauhof versehentlich vertauscht und Schutt aus einem anderen Haus geliefert worden wäre und niemand davon erfahren hätte. Es kam hier nur auf die glaubhafte Behauptung an. Die materialorientierte Referenz ist demnach für die Konstitution von Bedeutung und Bewertung nicht ohne Belang3, sie gewinnt ihre Relevanz und Gültigkeit letztlich jedoch durch den Akt der Zuschreibung, wobei dieser kommunikative Akt sich in geschichtlichen Prozessen als ideologisches oder mediales Konstrukt verselbständigen und wiederum in beliebiger Form materialisieren kann.4
3. K onte x t und F unk tionswandel Nun handelt es sich bei dem Campanile von Venedig nicht um einen x-beliebigen Turm, sondern um eine architektonische Ikone, die schon im 17. und 18. Jahrhundert zum Vorbild für andere Türme wurde.5 Seinen Rang gewann er dabei nicht nur, wie etwa der Pariser Eiffelturm, aus seiner einzigartigen ästhetischen Erscheinung, seine Strahlkraft lag auch in der Herrschaftsausdehnung der venezianischen Kaufmannsrepublik begründet und ist nicht zuletzt durch sein Eingebundensein in das Ensemble des Markusplatzes und in die Silhouette Venedigs bedingt. Wie Dogenpalast und Rialtobrücke ist er untrennbar mit dem Stadtbild verbunden. Dies erklärt auch, warum er nicht als Solitär, sondern als beherrschendes Element eines ganzen Ensembles, gleichsam als Totalerfahrung nach Las Vegas übertragen wurde. Trotz dieser Übertragung als Ensemble hat sich der urbane Kontext des Campanile indes radikal verschoben. Im alten Venedig war er wesentliches Element einer arbeitsteiligen Stadtstruktur, in der sich die Funktionen von Handel und Wohnen, von Politik und Religionsausübung, von Verkehr und öffentlicher Sicherheit in städtebaulicher Differenzierung artikulierten (Benevolo 2007). Dem Turm fielen in diesem Funktionszusammenhang sowohl präventive und repräsentative als auch – mittels seiner Glocken – zeremonielle Aufgaben zu. In den Hotelkomplexen von Las Vegas und Macao hat das Ensemble aus Nutzersicht hingegen vorrangig eine unterhaltende, aus Betreibersicht eine rein ökonomische Funktion: Im Bestreben um die Generierung von Freizeiterlebnissen und die Maximierung von Gewinnen wird das Ensemble reduziert auf eine Kulisse und der Turm auf die dekorative Funktion. Dies gilt freilich schon lange auch für den Campanile in Venedig selbst. Auch er dient seit geraumer Zeit nicht mehr der Gefahrenabwehr noch überkommenen zeremoniellen Aufgaben und erfüllt im Kontext der Gesamterscheinung von Vene3 | Dies gilt beispielsweise für Gipsabgüsse von Skulpturen, die als Originale verschwunden sind oder nur in dieser Form Gegenstand der weiteren Betrachtung wurden (vgl. Falser 2013: 81-100). 4 | Ein Musterbeispiel für solche Prozesse der Verselbständigung sind Wunderverehrungen (Walz u.a. 2006). 5 | Vgl. den Kirchturm der St. Georgs-Kathedrale im slowenischen Piran (1608) und für das 20. Jahrhundert den Kieler Rathausturm, die Venezianischen Türme in Barcelona und den Metropolitan Life Tower in New York.
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dig die gleichen touristischen Funktionen wie seine Abbilder in den Hotelresorts, also die Generierung ökonomischen Mehrwertes und die Vermittlung von Erlebnissen im Zuge von Reiseunternehmungen. Und doch ist ihm im Unterschied zu seinen Adepten durchaus noch seine Herkunft aus anderen funktionalen Zusammenhängen eingeschrieben – Zusammenhänge, die ihm im Erscheinungsbild des Spielerparadieses von Las Vegas gänzlich abhandengekommen sind und ihn zusätzlich durch die Platzierung in das denkbar weitest entgegengesetzte natürliche Umfeld – hier eine Insel im Meer, dort die blanke Wüste – wie eine Fata Morgana erscheinen lässt.6
4. F ak toren der A nschlussfähigkeit Sosehr sich die drei Campanile nicht nur in der Gestalt, sondern auch in ihrer aktuellen Funktion also gleichen, sosehr stellt sich die Frage, warum sich das venezianische Ensemble für den Transfer besonders gut zu eignen scheint. Weder die Gestalt des Turms alleine und noch seine ursprünglichen Funktionen können dies erklären. Sowohl aufseiten der Investoren, die viel Kapital für das Projekt aufbringen mussten, als auch seitens der Besucher, die das Geld buchstäblich wieder einspielen sollten, bestand und besteht offensichtlich Einigkeit darin, dass sich die Investition lohnte. Worin aber liegt diese Erwartung begründet, worin besteht der besondere Reiz der Duplizierung, ja Triplizierung des Campanile? Welche Faktoren bedingen den zumindest äußerlichen Erfolg? Die ökonomische Gleichung liegt auf der Hand: Die Befriedigung der Erlebniserwartung der Besucher dient der Befriedigung der Gewinnerwartung bei den Investoren. Worin aber kann das Erlebnis bestehen? Welche Erwartungen, welche Bilder verbinden sich gerade mit Venedig? Zwei Zugänge mögen die spezifische Positionierung Venedigs in der Wahrnehmung von außen erläutern: zum einen seine gleichermaßen anerkannte wie singuläre Stellung als touristische Destination, zum anderen seine Referenzfunktion zur Charakterisierung spezifischer Stadtanlagen. Beide Momente hängen unmittelbar zusammen. Schon seit dem Beginn touristischer Reiseformen und -zwecke, wie sie sich in der Kavaliers- oder Grand Tour als Bildungsinstrument zumeist adliger Kreise seit dem 16. Jahrhundert artikulierten, gelang es Venedig, sich neben Rom und Florenz als feste Station auf solchen Rundreisen durch Italien zu etablieren. Während Rom sich insbesondere als Sitz des Papsttums und durch seine antiken Denkmäler, also durch den katholischen, das heißt weltumspannenden Geltungsanspruch und den Hauch von Ewigkeit auszeichnete, bestach Florenz durch seine kunsthistorische Bedeutung im Kontext der Renaissance. Mit Venedig verband sich hingegen gleich ein ganzes Bündel potenzieller Erfahrungen. Venedig war nicht nur etwas Besonderes, es war auch immer das Andere: die Stadt im Wasser, imposant, aber auf schwankendem Grund gebaut und ständig vom Untergang bedroht; die geschlossene Stadt, aber groß geworden aufgrund ihrer Öffnung 6 | Der Hinweis auf die natürliche »Logik« läuft allerdings fehl, sobald man sich vor Augen führt, wie sehr die Stadtanlage Venedigs selbst einen höchst gewagten künstlichen Eingriff in eine widerspenstige Natur darstellt, woraus ein erheblicher Teil ihrer anhaltenden Faszination erwächst.
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gegenüber anderen Ländern und Kulturen; die republikanische Stadt mit aristokratisch-oligarchischen Strukturen, in jedem Falle aber eine geheimnisvolle Stadt mit vielerlei Facetten und attraktiven Erlebnis- und Erfahrungsangeboten, die den Kavalieren eine spannungsvolle Kombination ästhetischer, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und sexueller Erfahrungen vermittelte.7 Welche dieser möglichen Erfahrungen am nachhaltigsten wirken, ist von individuellen Einschätzungen und Perspektiven abhängig. Als Bild global verfestigt hat sich im Falle Venedigs in jedem Fall die Lage der Stadt im Wasser. Sie war und ist der Referenzpunkt, warum andere Städte mit Grachten und Kanälen wie Stockholm, Kopenhagen, Petersburg, Brügge als Venedig des Nordens oder Breslau, Bangkok, Suzhou, Osaka als Venedig des Ostens bezeichnet und vermarktet werden. Und da auch im Süden und Westen Städte an Flüssen und Kanälen liegen, gibt es dort ebenso eine Vielzahl venezianischer Appellationen. Venedig als Ganzes wie in einzelnen Elementen8 hat sich ohne Zweifel zu einem Mythos und Megatopos entwickelt, der auf alle Kontinente übertragbar und für alle Belange nutzbar ist. Indes: So wie die Stadtanlage Venedigs eine ungeheure statische und technische Konstruktion darstellt, so ist auch der Mythos Venedig keineswegs gleichsam naturwüchsig entstanden, sondern in einem mittlerweile Jahrhunderte andauernden Prozess als touristische Destination gezielt geformt, in seine heutige Erscheinungsform und zu der aktuellen Wirkungsmacht gebracht worden. Rund 30 Millionen Besucher kommen jährlich in die Lagune, mit schwerwiegenden Folgen für die Stadt: »Die Stadt ist wie ein ›Disneyland‹, die Geschäfte sind nur noch auf die Touristen ausgerichtet, sie verkaufen Glaswaren und Masken, Handtaschen, die in Hongkong hergestellt werden, also alles Trash für den Tourismus.« (Kleinjung 2012) Fassen wir die Befunde bis hierher zusammen: In der Gestalt des Campanile di San Marco tritt dem Betrachter ein Bauwerk entgegen, das als Symbol Venedigs zunächst in Europa Vorbild für andere Türme im Herrschaftsgebiet oder Wirtschaftsraum der Kaufmannsrepublik war und Ende des 20. Jahrhunderts an Orten in den USA und Asien, die in keiner historischen Verbindung zur Lagunenstadt standen, detailgetreu kopiert und so in seinem ikonischen Rang bestätigt wurde. Der Campanile besteht seit 1902 nicht mehr im Original, sondern stellt selbst eine Rekonstruktion und damit letztlich auch eine Kopie des historischen Bauwerks dar. Zum Zeitpunkt seines Zusammenbruchs hatte er seine die Baugestalt bedingenden historischen Funktionen bereits verloren und diente als Stadtzeichen wie seine Nachbildungen in Übersee vornehmlich touristischen Zwecken.
7 | Montaigne wunderte sich bei seiner Italienreise 1580/81 über die große Zahl der Kurtisanen in Venedig und den Umstand, dass sie einen Aufwand wie Prinzessinnen trieben. Ein um 1574 gedruckter Katalog der gesuchtesten und angesehensten Kurtisanen von Venedig weist 215 Namen aus (vgl. Montaigne 1988: 97, 308, Anm. 93). Zur generellen Charakterisierung vgl. Redford 1996. 8 | Dazu zählen insbesondere der venezianische Karneval, der seinen Niederschlag unter anderem in der 1699 entstandenen Barockoper von André Campra Le Carnaval de Venise gefunden hat, wie auch die Venezianische Messe, die auf touristische Erlebnisse des württembergischen Herzogs Carl Eugen zurückgehend von 1768 bis 1793 am württembergischen Hof ausgerichtet und 1993 in Ludwigsburg wiederbelebt wurde (Andere Quellen: Nr. 3).
Der Fall des Campanile
Wie lässt sich nun vor diesem Hintergrund der Fall des Campanile kulturwissenschaftlich genauer bestimmen? Welche von den Kunst- und Kulturwissenschaften bereitgestellten Kategorien können helfen, die abgelaufenen Prozesse zu verstehen und angemessen zu bewerten? Gibt es überhaupt Konzepte und Perspektiven, die ein neutrales Urteil ermöglichen, oder leiden sie alle unter einem blinden Fleck?
5. O riginal und R eproduk tion – R el ativierung des A uthentizitätspostul ats Für die Kunst- und Denkmalwissenschaften stellen sich die Verhältnisse wie beschrieben scheinbar klar dar. Sie operieren mit den Kategorien von Original und Reproduktion, die sich im Begriff des Authentischen verdichten. Der Begriff des Originals wirft freilich in vielerlei Hinsicht Abgrenzungsprobleme auf. Im Hinblick auf den gestalterischen Entwurf ist der Campanile von Venedig gewiss das Original, die Hotelkomplexe in Las Vegas und Macao hingegen Reproduktionen. In ihrer materialen Substanz sind alle drei Rekonstruktionen oder Repliken, da eine Identität von geschichtlicher Gestalt und Materialität selbst im venezianischen Bau nicht mehr gegeben ist. In ihrem bautechnischen Charakter und ihrem zeithistorischen Bezug sind sie zugleich aber jeweils auch authentische Bauwerke aus den Jahren 1910, 1999 und 2007, also aus unterschiedlichen Dezennien im Zeitraum von einem Jahrhundert, was sich unter anderem am verwendeten Material und seinem technischen Gebrauch ablesen lässt. Der Originalitätsbegriff ist daher in Fällen wie diesen schillernd und mehrdeutig.9 Angemessener erscheint es daher im vorliegenden Problemkontext, ihn durch Begriffe wie Übersetzung oder Ableitung zu ersetzen. Sie beschreiben lediglich das Beziehungsverhältnis zwischen Vorbild(ern) und Ableitung(en) beziehungsweise zwischen Ausgangswerk und Übersetzung. In diesem Sinne wäre der Campanile von Venedig das Vorbild für den Turm in Las Vegas, der von Macao hingegen eine Ableitung von Las Vegas. Für die Transferentscheidung wie für die allgemeine Rezeption spielt die Frage, ob und inwiefern es sich jeweils um ein Original handelt, indes keine wesentliche Rolle. Sie ist für die politischen Entscheider, für die Investoren und die Nutzer gleichermaßen vernachlässigbar, da deren Kernbedürfnisse – Anschaulichkeit, Repräsentation, Kapitalrendite und Erlebnisversprechen – offensichtlich nicht von ihr abhängen. Und auch im historischen Zusammenhang erweist sie sich als nachrangig. Das belegt die Rolle von Reproduktionen im Kunstdiskurs. Wie Wolfgang Ullrich materialreich dargelegt hat, geschah über Jahrhunderte hinweg und geschieht auch heute die Rezeption von Kunstwerken und anderen Artefakten nur ausnahmsweise über die Betrachtung der Originale (Ullrich 2009). Ihre Wahrnehmung und ihr Studium erfolgten und erfolgen zum überwiegenden Teil über Reproduktionen, sei es über Abbildungen in den Massenmedien, sei es über Faksimiles oder gar 9 | Dies konzediert, mit ironischem Unterton, auch Achim Hubel, wenn er im Hinblick auf jüngere, seiner Ansicht nach unstatthafte Rekonstruktionen bemerkt: »Sie können höchstens in der nächsten Generation Denkmalstatus erlangen, wenn sie von zukünftigen Denkmalpflegern als typische Beispiele für das vordergründige Schaubedürfnis des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts definiert werden sollten.« (Hubel 2006: 321)
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umfassende Rekonstruktionen.10 In einzelnen Fällen, wenn das Original verloren gegangen oder der Zugang gänzlich verwehrt ist, besteht in der Reproduktion gar die einzige Möglichkeit der Anschauung. Im Fall der Höhle von Lascaux hat sich dieses Konzept als so attraktiv und überzeugend erwiesen, dass es mit erheblichem Aufwand bereits selbst reproduziert und perfektioniert wurde und mittlerweile als eine durchaus angemessene Form der Vergegenwärtigung gilt.11
6. K ulturindustrie : G egenwart ohne S ubstanz , S imul ation durch H yperre alität ? Wenn Reproduktion und Rekonstruktion gängige, lange praktizierte und eingeübte Formen der Aneignung historischer Artefakte und Zusammenhänge sind, bedeutet es dann einen kategorialen Unterschied, ob diese Aneignung über die Distanz von Zeit oder über die Distanz von Raum erfolgt? Anders gefragt: Ist eine Rekonstruktion, die in der Nähe des Ortes erfolgt, wo sich das ursprüngliche Geschehen zutrug, von prinzipiell höherer fachlicher oder historiografischer, gar moralischer Qualität als an entfernteren Orten? Oder konstituieren räumlicher und zeitlicher Abstand äquivalente Distanzen mit der Folge, dass ein Besucher des zentimetergenau kopierten Venetian Resort Hotels in Las Vegas dem venezianischen Vorbild in der historischen Erfahrung gar näher sein könnte als ein heutiger Bürger von Knossos dem ursprünglichen kretischen Palast, der zwar am Originalstandort, aber ansonsten höchst fragwürdig rekonstruiert wurde? Die europäische Kulturkritik hat solche Überlegungen immer für völlig absurd gehalten. Kulturindustrie, zumal wenn sie sich aufklärerisch gab, erschien den Vertretern der Kritischen Theorie »als Massenbetrug« schlechthin (Horkheimer/ Adorno 1986: 108-150, hier 108), sodass sich eine differenzierte Betrachtung ihrer Bedingungen und Hervorbringungen von vornherein erübrigte. Jean Baudrillard prägte für die Praktiken der Entzeitlichung und Dekontextualisierung, der Ablösung der Welt von Zeit und Raum, gar den Begriff der Museifizierung, der nicht von ungefähr den Klang und das Bild der Mumifizierung aufgreift. Er konstatierte darin eine »Spirale der Künstlichkeit«, in der das Reale mehr und mehr durch Simulation ersetzt würde (Baudrillard 1978). Der Prozess, der für ihn in mehreren Stufen abläuft, endet schließlich in der Hyperrealität. In ihr wird das Reale durch »Zeichen des Realen« ersetzt, die ihre Überzeugungskraft dadurch gewinnen müssen, dass sie noch »realer«, das heißt noch beeindruckender, noch überwältigender, noch besser beglaubigt sind als ihre realen Vorbilder. Die Beschreibung trifft auf das Phänomen des Campanile von Las Vegas, der sich unter anderem das zentime10 | Vgl. als bekannte Fälle die Rekonstruktion des Palastes von Knossos auf Kreta durch Arthur Evans, die Pfahlbauten in Unteruhldingen am Bodensee oder die Villa Rustica in Hechingen-Stein. 11 | Vgl. die Einschätzung von Joseph Hanimann anlässlich der 2016 eröffneten Höhle Lascaux 4: »Die Qualität dieses Faksimiles ist so hervorragend, dass selbst Forscher für ihre Untersuchungen damit arbeiten können«, ein Projekt, »in dem Täuschung die Wirklichkeit erfolgreich übertrumpft.« (Hanimann 2016) – Ob und inwieweit die Attraktivität und Rezeption historischer Artefakte in größeren Besucherkreisen an Originale gebunden sind, ist ein Desiderat der Forschung.
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tergenaue Aufmaß zugutehält, ohne Zweifel zu. Die Betreiber des Hotelkomplexes The Venetian Las Vegas, dessen Markenname groteskerweise unter Copyrightschutz steht, unterstreichen in ihrer Selbstdarstellung nicht nur den ikonischen Rang des Vorbilds und seine einzigartige Konzentration von Kunst und Handwerk auf engstem Raum, sie versuchen den Eindruck der überbordenden Fülle, immer unter Verweis auf das Original, noch zu steigern, indem sie ihn verdichten und anreichern: »The Venetian offers all the romance and grandeur of its namesake and more.« (Andere Quellen: Nr. 4) Umberto Eco bestätigte Baudrillards Befund weitgehend anlässlich einer Reise durch die USA »ins Reich der Hyperrealität«, die er Mitte der 1970er-Jahre, also noch vor der Duplizierung des Campanile, unternahm (vgl. Eco 1985: 36-99). Die Reize beim Flanieren durch die Welt einer bizarren Präsidentenbibliothek, der Echtes und Reproduziertes vermischenden Sammlungen, der monströsen Wachsfigurenkabinette, überbordenden Vergnügungsparks, merkwürdigen Friedhofsanlagen und Natürlichkeit simulierenden Zoos erweckten klare Reaktionen. Das absolut Falsche, was Eco hier entgegentrat, war nur als der »krampfhafte Wunsch nach dem Quasi-Echten«, als »neurotische Reaktion auf Erinnerungsleere«, als »unglückliches Bewußtsein einer Gegenwart ohne Substanz« zu verstehen (Eco 1985: 67). Doch mengt sich bei Eco sogleich auch ein leiser Zweifel in die Reflexion: Hatten nicht auch die Wunderkammern und Kuriositätenkabinette im Europa der frühen Neuzeit, die seit einiger Zeit ihre museumsdidaktische Wiederauferstehung feiern, »ohne Unterschied Einhorn-Hörner neben Kopien griechischer Statuen« versammelt, hatte das Deutsche Museum in München nicht auch »ein ganzes Bergwerk aus dem 19. Jahrhundert« nachgebaut – »mit Bergleuten, die zusammengekrümmt in den Stollen liegen, und Grubenpferden, die an Winden und Seilen in den Schacht hinuntergelassen werden«, und gibt es tatsächlich einen kategorialen Unterschied zwischen dem Schloss des Pressezaren William Randolph Hearst und »Neuschwanstein, das zur Gänze aus spätromantisch nachempfundener Gotik besteht« (Eco 1985: 38, 49, 71)? Was Eco verstört, sind offensichtlich weniger die Einzelphänomene für sich genommen als die gesamte Haltung, »der gefräßige Verbrauch von Gegenwart und der unaufhörliche Ausstoß von ›immer neuen‹ Vergangenheiten«, die »wahllose Raffgier«, die »imperialistische Effizienz« und der Umstand, dass die »ganze Maschinerie zur Reproduktion der Vergangenheit« an den meisten Orten »auf Profitzwecke ausgerichtet ist« (Eco 1985: 43, 59, 77, 76). Kulturkritik wird hier zur Kapitalismuskritik, die freilich sofort zurückschlägt auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen, wo der nimmersatte Tourismus in Form wolkenkratzerhoher Kreuzfahrtschiffe den Campanile von San Marco bereits überragt und Venedig auch substanziell aufzufressen droht. Eco legt daher nahe, die amerikanische Realität zum Anlass für eine Gewissensprüfung des europäischen Kunstgeschmacks zu nehmen – nicht um »die Kult- und Weihestätten des Falschen freizusprechen«, sondern um »die Mittäterschaft der europäischen Kult- und Weihestätten des Echten« zu beleuchten (Eco 1985: 77). Die Stellungnahmen Horkheimers und Adornos wie – weniger eindeutig – Ecos basieren auf der Diagnose einer Dialektik von Oberfläche und Tiefe, Leere und Substanz, Schein und Sein, die mit der Kluft zwischen den so gänzlich unterschiedlichen Kulturen von Amerika und Europa korrespondieren. Damit wird freilich dem Trennenden eine übermäßige Bedeutung zuerkannt und die gegenseitige
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Einflussnahme der Kulturen wie auch die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Reizen und Herausforderungen der Moderne unterbelichtet.12 Für das Verständnis und die kulturelle Einordnung der drei Campanile ist es daher vonnöten, nach Verbindungen zu suchen, wie sie die Überlegungen zur Transkulturalität bereitstellen.
7. B estimmungen von Tr anskultur alität Das Konzept der Transkulturalität hat einen besonderen Reiz, da es die Vorstellung in sich geschlossener kultureller Handlungs- und Entwicklungsräume überwindet. Kernpunkt des Verständnisses von Transkulturalität, wie es insbesondere von Wolfgang Welsch eingeführt und bekannt gemacht wurde, ist die Verabschiedung des traditionellen Kulturkonzeptes in der Prägung durch Johann Gottfried Herder. Nach Herder wird Kultur als Kennzeichen eines geschlossenen Personenkreises (Volk, Ethnie) in Abhängigkeit von einem gemeinsamen geografischen (Herrschafts-)Raum und einer gemeinsamen Sprache begriffen (vgl. Welsch 1995: 3944; Welsch 2009: 39-66). Dieses als Insel oder Kugel vorgestellte Bild einer Kultur ist in zweierlei Hinsicht kritikbedürftig. Es konstituiert eine Idee von Geschlossenheit, innerer Konformität, um nicht zu sagen innerer Reinheit, sowie eine Abgrenzung nach außen, die in ihren nationalistischen respektive separatistischen Ausformungen Anlass zu unzähligen Konflikten und Kriegen gegeben haben und noch immer geben. Es ist insofern schon aus normativen Gründen zu verwerfen. Darüber hinaus ist es aber, so Welsch, auch deskriptiv falsch, da »die Kulturen […] de facto nicht mehr die unterstellte Form der Homogenität und Separiertheit« haben (Welsch 1995: 41) und auch in der Vergangenheit angesichts vielfältiger Austauschprozesse mit anderen Völkern und Kulturen nie hatten. Dieses geschlossene Kulturkonzept wie auch die mit ihm verwandten Konzepte der Inter- und Multikulturalität13 sucht der Begriff der Transkulturalität zu überwinden. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass Kulturen im Ganzen wie auch die ihnen angehörenden Individuen durch eine »Pluralisierung möglicher Identitäten« gekennzeichnet sind und nach außen »grenzüberschreitende Konturen« aufweisen, was sich in einer »Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen und Lebensstile« artikuliert. Diese strukturell in fast allen Kulturen schon immer gegebene, aber unterschiedlich stark wirksame Transkulturalität äußert sich in der Moderne in »neuartigen Verflechtungen« als »Folge von Migrationsprozessen sowie von weltweiten materiellen und immateriellen Kommunikationssystemen […] 12 | Nebenbei bemerkt werden in solchen Oppositionen auch signifikante künstlerische Hervorbringungen wie etwa die Arbeiten Andy Warhols oder Elaine Sturtevants, Preisträgerin des Goldenen Löwen bei der Biennale von Venedig 2011, ignoriert, die sich solchen systemischen Einordnungen entziehen oder sie geradezu unterlaufen. 13 | In beiden Begriffen sieht Welsch die Grundidee der »Kugelverfassung« von Kulturen fortwirken: »Die Misere des Konzepts der Interkulturalität rührt daher, daß es die Prämisse des traditionellen Kulturbegriffs unverändert mit sich fortschleppt […]. Ähnliches gilt vom Konzept der Multikulturalität […]. Es geht von der Existenz klar unterschiedener, in sich homogener Kulturen aus – nur jetzt innerhalb ein und derselben staatlichen Gemeinschaft.« (Welsch 1995: 40f.)
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und von ökonomischen Interdependenzen« (Welsch 1995: 41ff.). Dieser zuletzt genannte Befund ist für das Fallbeispiel dieses Beitrags bedeutsam. Er definiert die Übernahme von kulturellen Übungen (wie etwa das Feiern von Halloween) oder Artefakten (wie den Campanile) aus anderen historischen und sozialen Zusammenhängen nicht als unangemessene, gar »artfremde« Appropriation, die sich an der Scheidelinie von eigen und fremd oder echt und unecht festmacht, sondern als eine zwangsläufige Konsequenz aus verstärkten kommunikativen und ökonomischen Verflechtungen in einer globalisierten Welt, die sich schlicht an diversen Interessen und Bedürfnissen orientiert oder sich mitunter auch aus zufälligen Konstellationen ergibt. Welschs Verständnis von Transkulturalität hat indes auch Kritik erfahren und Differenzierungen nach sich gezogen. Die Kritik richtet sich zum einen gegen seine Fokussierung des Modells auf das Verständnis moderner Gesellschaften und damit zusammenhängend eine Reduktion des Kulturbegriffs auf seinen ideologischen Konstruktcharakter, sodass mannigfaltige historische transkulturelle Prozesse mit ihren sowohl inklusiven wie exklusiven Implikationen aus dem Blick geraten (vgl. Falser/Juneja 2013a: 17-34). Zum anderen wendet sie sich gegen die Vorstellung von »Transkulturalität im Sinne einer statischen Eigenschaft, einer bloßen Beschreibung der Merkmale von Kultur und der pluralen Identitäten der Menschen, die ihr angehören« (Falser/Juneja 2013a: 19). Damit wird die Prozessualität und Dynamik des transkulturellen Konzeptes vernachlässigt. Auch hier gilt es, stattdessen die Vielfalt und Komplexität der Strategien und Aushandlungsvorgänge im kulturellen Austausch genauer zu untersuchen. Monica Juneja und Michael Falser schlagen daher ein ausgedehnteres und differenzierteres Verständnis von Transkulturalität in historischer Perspektive vor. Die Denkfigur der Transkulturalität kann aus ihrer Sicht als analytisches Mittel dazu dienen, Räume und Prozesse zu identifizieren, in denen kulturelle Verflechtungen und Überlagerungen in ethnisch-religiöser Pluralität mit konstitutiver Wirkung vor sich gingen. Voraussetzung dafür ist allerdings, eingefahrene territoriale und soziale Grenzziehungen wie auch Bewertungskriterien und Werturteile infrage zu stellen. Diese hatten sich bei der Herausbildung und Institutionalisierung der Fachwissenschaften – allen voran der Historiografie und Kunstgeschichte – vor dem Hintergrund der Nationalstaatsidee seit dem 19. Jahrhundert festgesetzt, wurden im Prozess der Kolonialisierung global exportiert und erfuhren auch im postkolonialen Diskurs eine Fortsetzung. Ihre transkulturelle Perspektive verlangt eine Neukonstitution der Untersuchungseinheiten nicht anhand vorgegebener Konstrukte, sondern »nach der Logik der an den Zirkulationsprozessen und historischen Beziehungen beteiligten Akteure« (Falser/Juneja 2013a: 22f.), und dies unter gleichzeitiger Berücksichtigung lokaler, nationaler und globaler Bezugsebenen. Auf den Fall des Campanile bezogen wäre aus dieser Perspektive also nicht die scheinbar offensichtliche Dialektik von jahrhundertealtem kulturellem Erbe auf der europäischen Seite und kulturindustrieller, quasi plagiatorischer, an reiner Gewinnmaximierung orientierter Indienstnahme auf der amerikanischen und asiatischen Seite in den Blick zu nehmen.14 Vielmehr gälte es den Raum zu eruieren, 14 | Dieses traditionelle Lamento kritisiert auch der Historiker Valentin Groebner in seinen Überlegungen zum touristischen Geschichtsgebrauch: »Man mag den industrialisierten Fremdenverkehr als Phänomen unschön finden, aber er ist nicht einfach ›zerstörerisch‹ oder
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in dem sich die Inter- oder Transaktion rund um den Campanile vollzieht, und die unterschiedlichen Bezüge zu erkunden, welche die Beteiligten, Investoren wie Nutzer, dazu bringen, sich gerade das venezianische Szenario für ihre Belange anzueignen – und die europäischen Beobachter, sich dagegen zu verwahren.
8. M ultiple A uthentizität Die zentrale Erkenntnis, die sich aus den vorliegenden Überlegungen ergibt, besteht darin, dass es diese Scheidelinie bei Artefakten im strengen Sinne gar nicht gibt, ja nicht geben kann und dass die Vorstellung einer einmal errungenen und dann bewahrten Identität, die sich in der Folge als authentisch bezeichnen ließe und gleichsam eingefroren erhalten werden könne, eine Schimäre darstellt. Gerade der Akt des Einfrierens, der in jeglicher Form der Konservierung oder Musealisierung stattfindet, verändert den Aggregatszustand eines Objektes grundsätzlich, wie Marcel Duchamp mit seinem genialen Handgriff der Mutation eines Urinoirs zur Fontäne 1917 unwiderruflich gezeigt hat. Wird indes auf die Glasglocke verzichtet und darf das Objekt weiterhin am Leben teilhaben, so verändern sich seine Gestalt und sein Charakter gleichfalls mit jeder Nutzung und erst recht mit jedem Funktionswandel. Manche Schichten schleifen sich ab, andere legen sich darüber – im materiellen wie im metaphorischen Verständnis. Dieser Prozess, und um einen unendlichen Prozess handelt es sich dabei, vollzieht sich auch im Akt der Vervielfältigung. Er stellt eine Ausdehnung des Objektes in andere Räume und Kontexte dar, die nicht ohne Rückwirkung auf das Objekt selbst bleibt, sei es, dass sie dessen Bekanntheit und Wertschätzung steigert und damit neue Begehrlichkeiten der Betrachtung und mit ihr auch neue Gefährdungen schafft, sei es, dass das Original hinter die Reproduktion zurückfällt, echte oder vermeintliche Unzulänglichkeiten offenbart und so Enttäuschungen produziert.15 So oder so verändert sich die Wahrnehmung. Auf die Wahrnehmung aber kommt es an, auch und gerade wenn einem Objekt der Rang eines Denkmals, also eine beispielhafte Stellung und Leitfunktion, zugesprochen wird. Dessen Authentizität konstituiert sich immer aus mehreren Komponenten (vgl. Seidenspinner 2006: 5-39; Seidenspinner 2007). Auf der einen Ebene, als Objekte oder Artefakte, sind die drei Campanile substanziell, das heißt in ihrer Materialität, Gestaltung und Funktion, gleichermaßen authentisch. Jeder steht für sich allein und für die Bedingungen seiner Entstehung und Nutzung. Auf einer zweiten Ebene, im Vergleich, können sie in Bezug zueinander gesetzt, können Abhängigkeiten – Vorbildcharakter, Ableitungen oder Übersetzungen – konstatiert werden. Solche beschreibenden Bezüge erweitern möglicherweise das ›parasitär‹, wie Generationen seiner Kritiker – gewöhnlich selbst fleißig Reisende – geschrieben haben. (Die Klage über Verflachung, Vermassung und Künstlichkeit hat diese Dienstleistungsbranche seit ihren Anfängen vor eineinhalb Jahrhunderten treu begleitet.) Im Gegenteil, Tourismus erzeugt Neues, und zwar ziemlich viel davon.« (Groebner 2013: 419f.) 15 | Ullrich versammelt mehrere Fallbeispiele solcher Erfahrungen, darunter auch Wilhelm von Bode, Generaldirektor der Berliner Museen, der in seiner Autobiografie gestand, ihm sei bei Ankäufen, die er auf der Basis von Fotografien getätigt habe, »nicht immer […] eine Enttäuschung erspart« geblieben (vgl. Ullrich 2009: 7).
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Verständnis für die Entstehungsbedingungen. Sie sind aber bereits an der Schwelle zur Deutung, da sie zur Beschreibung und Analyse Vergleichskategorien benötigen, die den Untersuchungsobjekten nicht immanent sind, sondern von außen an sie herangetragen werden. Die Bedeutungen und Wertschätzungen, die den Objekten in der Folge als dritte Ebene der Konstruktion von Authentizität zugesprochen werden, sind in jedem Fall arbiträr. Sie ergeben sich nicht zwingend, schon gar nicht automatisch aus dem Material, sondern sind Resultat kultureller Aushandlungsprozesse. Bester Beweis dafür ist der Authentizitätsbegriff selbst in seiner historischen Genese und teilweise sich widersprechenden Bedeutungsvielfalt (vgl. Barck u.a. 2005: 40-65; Lethen 1996: 205-231; Will 2006: 82-93). Wenn sich im Laufe der Zeit die Bedeutung und Wertschätzung eines Objekts ändert, wie beim Funktionswandel des Campanile di San Marco geschehen, dann verändert sich auch dessen Identität und es wächst ihm eine weitere Schicht in der Authentizität zu – etwa als touristische Landmarke, Aussichtsplattform oder als Musterbeispiel einer modernen Rekonstruktion. Die gleiche multiple Authentizität besitzen auch die Campanile von Las Vegas und Macao: Sie sind authentische Bauwerke ihrer Zeit, gebunden an ihre spezifische Lokalität und an ihre Funktion. Zugleich sind sie Ausdruck eines Konzepts von universellem Kulturerbe, das Sehnsüchte weckt, sich mit Ikonizität paart und sich in immer neuen touristischen wie medialen Produkten reproduziert. Und vielleicht haben sie ja über kurz oder lang tatsächlich die Potenz, selbst zum Weltkulturerbe zu werden? Alles also dasselbe? Das auch wieder nicht, denn die Differenz zwischen den Türmen bleibt bestehen, sie ist auch ansichtig und beschreibbar. Man mag die beiden Campanile in Las Vegas und Macao für grotesk und bizarr halten, ja für hässliche Ausgeburten des schieren Mammons erachten. Für Überheblichkeit in ästhetischer oder gar moralischer Hinsicht besteht jedoch kein Grund. Die Bewertung ist und bleibt eine Frage des Standpunktes und der Definitionshoheit, also letztlich der Macht. Und die ist wie der Geschmack dem Wandel unterworfen.
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Imagination, Joy & Trust – Collective Wisdom Kulturelle Übersetzung im Feld internationaler Kulturarbeit Elke aus dem Moore Die eigentliche geistige Aufgabe der Bildung ist doch, das Verständnis zwischen Menschen weiterzuentwickeln, als Bedingung und Garant für die intellektuelle und moralische Solidarität der Menschheit. (M orin zit.n. H artkemeyer u. a . 2015: 49)
Im Jahr 2017 blickt das ifa – Institut für Auslandsbeziehungen mit Hauptsitz in Stuttgart und einer Dependance in Berlin – auf sein 100-jähriges Bestehen zurück. Als ein Institut, das sich weltweit für ein friedliches und produktives Miteinander der Menschen und Kulturen einsetzt, konzipiert und organisiert das ifa Ausstellungen bildender Kunst aus Deutschland, die auf mehrjährigen Tourneen in internationalen Museen präsentiert werden. Ebenso werden in den ifa-Galerien in Stuttgart und Berlin regelmäßig Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst, zu Architektur und Design aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa gezeigt. Die Kunstvermittlung des ifa zielt in vielfältigen Programmen, die beide Formate begleiten, darauf ab, die Kunstwelten in kollaborativen Prozessen zu vernetzen. In den vergangenen Jahren haben sich diese Programme deutlich verändert – weg vom reinen Export fertiger, repräsentativer Konzepte deutscher Kunst und Kultur und hin zu einer ko-kreativen Entwicklung von Vermittlungsprogrammen und zur Begleitung der Tourneeausstellungen, die lokale Vermittlerpositionen bewusst einbeziehen und ein gemeinsames Lernen ermöglichten. Sowohl in der Galeriearbeit als auch in der Kunstförderung und in den Tourneeausstellungen setzt das ifa auf Diskursivität und Vernetzung, den Dialog zwischen den Disziplinen. So hat sich die Abteilung Kunst zu einem Instrument der transkulturellen Vermittlung entwickelt, das ko-kreative Entstehungsprozesse und Diskurse fördert ebenso wie die Verknüpfung verschiedener Perspektiven, Disziplinen und Formen zeitgenössischer Kunst. Diese kunst- und kulturvermittelnde Arbeit des ifa findet anhand von vier programmatischen Schlüsselbegriffen statt, die im Folgenden dargestellt werden: Unübersetzbarkeiten, Dialoge, Öffnungen, Kollektivitäten. Auf diese grundsätzlichen Überlegungen folgt am Ende des Beitrags der Wiederabdruck eines Manifests aus dem Jahr 2014 zum notwendigen Wandel westlicher Kulturinstitutionen im Zeichen der Globalisierung.
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1. U nüberse t zbarkeiten Die Übertragung von Vorstellungen, Denk- und Verhaltensmustern sowie von Praktiken eines kulturellen Kontextes in einen anderen ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit einer international vernetzten und arbeitenden Kulturinstitution. Übersetzungen sind laut Homi K. Bhabha »die performative Natur der kulturellen Kommunikation« (Bhabha 2000: 341). Sie sind permeabel, fließend und veränderbar, immer abhängig von der jeweiligen Perspektive, Konstellation und Narration. Der Ansatz einer transkulturellen Bildungsarbeit basiert auf dem Verständnis, dass sich Kulturen ständig im Wandel befinden. Angebote, wie sie das ifa verwirklicht, schließen die Anerkennung und Aktivierung verschiedener Perspektiven mit ein. Beteiligte werden dementsprechend nicht nur als Teilnehmende, sondern auch als Akteurinnen miteinbezogen.1 In der Praxis bedeutet dies, dass jeder anwesenden Person im jeweiligen Angebot eine Stimme oder eine Bühne gegeben werden sollte. Diese grundsätzlichen Überlegungen entspringen dem Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie des Philosophen und Soziologen Bruno Latour und sind Bestandteil einer jeden erfolgreichen Kulturarbeit (Latour 2007).2 Denn nur im Ernstnehmen aller beteiligten Perspektiven, so Latours These, können Räume eines Miteinander-Denkens geschaffen und eine kollektive Erfahrbarkeit möglich gemacht werden. Internationale Kulturarbeit ist heute geprägt von Kooperation und Ko-Kreation sowie von einer Dialogkultur, die einhergeht mit einer neuen Lernkultur. Sich gegenseitig verstehen zu wollen heißt auch, bereit zu sein für ein permanentes Lernen, für ein Erkennen und Verlernen von Gelerntem, von Normen und Stereotypen. Erforderlich sind Offenheit, die Bereitschaft zur Anerkennung verschiedener Sichtweisen respektive der Begrenztheit der eigenen Sichtweise, Empathie und Respekt. So hat es auch der französische Philosoph Edgar Morin ausgedrückt, als er auf die besondere Bedeutung von Empathie für den denkenden Menschen und die westliche Ideenkultur des 20. und 21. Jahrhunderts hinwies: Perspektivwechsel und Einfühlungsvermögen gehören zu den effektivsten und wirkungsvollsten Methoden und Fähigkeiten der Denk-Gymnastik in der Ideenkultur unseres Jahrhunderts. Dadurch werden Denkprozesse ausgelöst, welche die eingefahrenen Muster verlassen. (Morin zit.n. Hartkemeyer u.a. 2015: 52)
Kulturelle Begegnungen sind offene und dynamische Prozesse; sie gehen kulturellen Übersetzungen voraus. Übersetzungsprozesse können jedoch auch von Störungen begleitet sein, von Auslassungen, Brüchen oder Missverständnissen. Sie sind ebenfalls Teil des Austausches und sollten als solcher anerkannt werden. Der französische Schriftsteller und Philosoph Edouard Glissant fordert in einem Interview mit Kathrin Schrader gar ein regelrechtes »Recht auf Opazität«: Die Transparenz war immer ein kultureller Anspruch des Westens. Der Westen war bestrebt, andere, ihm fremde Kulturen auf die Transparenz seiner eigenen Kultur zu reduzieren. Man 1 | Der vorliegende Beitrag verwendet die feminine Form für beide Geschlechter. 2 | Ich danke Carol Tulloch, die mich erstmals mit den Ideen Bruno Latours vertraut machte (vgl. Tulloch 2007: 152-179; Aus dem Moore 2009).
Imagination, Joy & Trust – Collective Wisdom sollte aber akzeptieren, mit anderen zu leben, auch wenn man sie nicht immer versteht. Den Anderen auf die eigene Transparenz, auf sein eigenes Modell zu reduzieren, ist eine Form der Barbarei. Zu akzeptieren, dass man den Anderen nicht vollständig versteht, ist eine Form der Zivilisation. […] es ist ein Glück, es ist Poesie, den anderen nicht vollständig zu verstehen. Es ist doch langweilig, wenn ich immer sagen kann: Ich verstehe dich und du verstehst mich. Das grenzt doch aus. Es grenzt nämlich alles aus, was ich nicht verstehe. Deshalb sollte das Recht auf Opazität ein grundlegendes Menschenrecht sein. (Schrader 2006)
Bisweilen erscheinen diese Brüche und kulturellen Missverständnisse unübersetzbar – doch selbst dann tragen sie zu einem Verstehen bei. Im Hin- und Herübersetzen, in dem vieles umgedeutet wird und manches verloren geht, entstehen neue Erzählungen. Das Fehlen von allumfassender Transparenz und einem unbedingten Verstehenwollen sowohl bei den Übersetzerinnen als auch den Übersetzten kann in diesem Kontext als Chance begriffen werden; es weist auf die Möglichkeit einer Kommunikation hin, die dem westlichen Kommunikationsmodell entgegenläuft (vgl. Aus dem Moore 2007a: 27).
2. D ialoge Das Unvorhersehbare, das in Prozessen kultureller Übersetzung mittels der Kunst entsteht, hat eine wichtige Bedeutung für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Der Kunst ist das Potenzial eingeschrieben, Grenzen zu überschreiten. Sie wirkt transmigrierend, was Zeit, Raum und Menschen betrifft. Doch was heißt dies konkret für die programmatische Ausrichtung einer Kunstinstitution wie das ifa, das mit seinen Ausstellungen und seiner Programmarbeit Vermittlungs- und Übersetzungsprozesse mitgestaltet? Welche Ansätze und Herangehensweisen sind nötig, um die Werte und ästhetischen Systeme verschiedener Kulturen zu vermitteln, um sie zum Zentrum eines Gesprächs, einer Begegnung dieser Kulturen zu machen? Und wie bezieht man die unterschiedlichen Denksysteme und Wissensbestände des Publikums, das seinerseits diverse Perspektiven hat, mit ein? Ein inklusives, transkulturelles und ganzheitliches Verständnis von Kunstvermittlung geht davon aus, dass Kunst das Potenzial besitzt, Denk-Räume, Räume kollektiven Wissens und Narrationen zu schaffen, in denen viele subjektive und gemeinschaftliche Perspektiven zusammengeführt werden können. Um einen solchen gemeinsamen Verständnishorizont zu eröffnen, ist es allerdings notwendig, unterschiedliche Wissens- und Denksysteme erst einmal anzuerkennen. Hilfreich sind hierbei die neuen Erkenntnisse und Entwicklungen der Dialog-Forschung und -Praxis (Hartkemeyer u.a. 2015; Bohm 2005): Als Begriff grenzt sich der Dialog von jenem der Diskussion oder der Debatte ab. Seine zentrale Bedeutung wird in seiner etymologischen Herleitung deutlich: Dia-logos – Fließen von Sinn oder der Fluss von Bedeutung (diá: hin, durch; lógos: Wort, Sinn, Bedeutung, Rede) – steht für das Suchen und Entwickeln neuer Bedeutungen in einer Gruppe von und für Menschen. Der Dialog führt vom schon Gedachten zum neuen Denken ( from Thought to Thinking), indem er im Miteinander Kreativität und unbekannte, neue Potenziale freilegt (vgl. Hartkemeyer u.a. 2015: 59). Nach David Bohm umfasst Denken nicht nur die rationale Ebene, welche die Realität nach historisch geformten Paradigmen interpretiert, zergliedert und regelhaft erfasst, sondern auch das Feld der Emotio-
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nen, Gefühle, Wünsche, Absichten, Unterstellungen und Ängste (Bohm 2005). So ist es von besonderer Bedeutung, diese Ebenen auch in Programme der kulturellen und künstlerischen Bildung miteinzubeziehen und dem, was in Gruppen unterschwellig vorhanden ist, auf den Grund zu gehen – Sichtweisen, Annahmen, Gefühle, Ideen und Überzeugungen. Nur dann sind Interaktionen verständlich. Dabei kommt dem Einüben von Präsenz eine besondere Rolle zu: Für Bohm bedeutet Gegenwärtigsein einen Weg, um vom Gedachten, dem Vermächtnis des Gestern, zum Heute, zu neuem Denken zu kommen: Die Vorstellung oder das Bild ist […] das eines freien Sinnflusses, der unter uns, durch uns hindurch und zwischen uns fließt. Das macht einen Sinnstrom innerhalb der ganzen Gruppe möglich, aus dem vielleicht ein neues Verständnis entspringen kann. Diese Einsicht ist etwas Neues, das zu Beginn möglicherweise gar nicht vorhanden war. Sie ist etwas Kreatives. (Bohm 2005: 33)
Radikaler Respekt als eine Form, die weitaus aktiver zu verstehen ist als Empathie, ist die Grundlage für ein solches neues »pluriversales« Miteinander.3 Radikaler Respekt bedeutet, eine andere Person in ihrer Art, ihrem Wesen als legitim anzuerkennen und uns darauf einlassen das Gegenüber in seinem geworden-sein [sic!] nachzuvollziehen. […] Ich akzeptiere nicht nur wer du bist. Ich versuche auch, die Welt aus deiner Perspektive zu erkennen. (Hartkemeyer u.a. 2010: 79)
Diese Grundlagen einer sich verändernden Dialogkultur lassen sich am besten mit den Begriffen »Offenheit«, »Lernende Haltung«, »Radikaler Respekt«, »Von Herzen sprechen«, »Generatives Zuhören«, »Erkunden«, »Annahmen und Bewertungen suspendieren«, »Produktiv plädieren«, »Verlangsamung« und »Beobachtung des beobachtenden Anderen« zusammenfassen (vgl. Hartkemeyer u.a. 2015: 115150). Sie können in ihrer praktischen Anwendbarkeit als Grundsätze einer transkulturellen Bildung gelten, die nicht nur veränderbare kulturelle Identitäten miteinschließt, sondern auch unterschiedliche Wissens- und Denkformen.
3. Ö ffnungen In einer Zeit, in der europäische Kulturinstitutionen wie beispielsweise Museen in einer tiefen Krise stecken, unter anderem deshalb, weil sie ihre Angebote zentral auf ein Bildungsbürgertum ausgerichtet haben, stellt sich die folgende Frage umso dringlicher: Wie können sich Institutionen für diverse Öffentlichkeiten öffnen? Und vor allem: Wie können sie ihr Publikum erreichen? Bisher fungierten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst als Anstöße zur Veränderung, die meist von den jeweiligen Kunstschaffenden und Kuratierenden ausgingen, nicht aber von den In3 | Zum Begriff der »Pluriversalität« vgl. u.a. Mignolo (2013). Als argentinischer Literaturwissenschaftler geht Mignolo von einer notwendigen Ergänzung der westlichen Philosophie und Hermeneutik durch andere Denkweisen aus, da ihnen eben nur eine – die westliche – Kosmologie zugrunde liege: »Pluriversality is not cultural relativism, but entanglement of several cosmologies connected today in a power differential.« (Andere Quellen: Nr. 7)
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stitutionen selbst. Doch wie können sie auch zum Ort der Auseinandersetzung, des Dialogs mit den Rezipientinnen werden, verschiedene Perspektiven miteinschließen und aktivieren? Im Grunde wäre dafür ein vollkommen neu zu strukturierendes System von Kunstinstitutionen und Kunstausstellungen notwendig. Es setzte zugleich einen Weg der Öffnung voraus, den die meisten Institutionen derzeit noch nicht bereit sind zu gehen. Viele Kunstproduzierende und -vermittelnde in aller Welt machen sich derzeit dazu Gedanken. Aus Brasilien kommen gegenwärtig interessante Impulse. So sprach Marcelo Rezende, der ehemalige Direktor des Museu de Arte Moderna in Salvador de Bahia, Brasiliens drittgrößter Stadt, beispielsweise mit Besucherinnen, Angestellten des Museums und Vertreterinnen des Staates über Hierarchien und forderte seine Gesprächspartnerinnen dazu auf, an den öffentlichen Programmplanungen seines Hauses teilzunehmen. Auch Paulo Herkenhoff, der 1998 als leitender Kurator der 24. Biennale von São Paulo die Ideen der Antropófagia ins Zentrum gesetzt und später Direktor des neuen Museu de Arte do Rio (MAR) geworden war, dachte ähnlich und folgte der radikalen kulturellen Strategie der Antropófagia.4 Diese Herangehensweise, die eine Ausrichtung brasilianischer Künstlerinnen und Künstler der Moderne im Umgang mit dem Fremden darstellt, übertrug Herkenhoff auf die Institution Museum. Anlässlich der Eröffnung des Museu de Arte do Rio (MAR) im Jahr 2013 schlug er vor, dass das Museum »sich fressen lassen« solle – ganz im Sinne seiner radikalen Öffnung für die Besucherinnen und für die Nachbarschaften. Die Frage bleibt: Wie könnten sich auch europäische Kunstinstitutionen öffnen und die Schwellenangst vieler Besucherinnen vor dem Betreten der Einrichtungen senken? Viele Institutionen entwickeln neue Formate, um neue Öffentlichkeiten zu erreichen. Die ifa-Galerien in Stuttgart und Berlin setzen in ihren Programmen auf Kooperationen, etwa mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband, mit Schulen oder auf die Zusammenarbeit mit dem Netzwerk der Kulturagenten der Kulturstiftung des Bundes und der Mercator Stiftung (Andere Quellen: Nr. 1).5 Um das Anliegen der institutionellen Öffnung jedoch noch nach4 | Die Antropófagia geht auf das Movimento Antropófago in den 1920er-Jahren zurück und kritisiert den »dominanten Einfluss europäischer Kultur auf die brasilianische Gesellschaft, der die Bildung einer eigenen nationalen Identität verhindert. […] Bedingungslos und konsequent wird hier ein neues Selbstbewusstsein postuliert, das den Einfluss fremder, kolonialer Kulturen selbstbestimmt reguliert.« Einer der wichtigsten Vertreter war der Schriftsteller Oswald de Andrade, der 1928 das Manifesto Antropófago verfasste. »Fressen oder gefressen werden. So radikal formuliert Andrade eine kulturelle Strategie, die für einen ausgleichenden Stoffwechsel sorgen könnte. Metaphorisch wählt er die Menschenfresserei, die direkteste Form des Einswerdens mit dem Anderen, des Aneignens und Annehmens. Der Indianerstamm der Tupis verschlang seine Feinde, doch nur die mutigsten und stärksten, um sich so die herausragenden Eigenschaften der Feinde anzueignen, sich ihrer zu bemächtigen. So schlägt er einen radikalen Umgang mit dem europäischen Erbe vor, ein gesundes Einverleiben dessen, was bereichernd und genüsslich ist und der Rest, der wird ausgeschieden! Sein Vorschlag ist, das Fremde zu fressen, anstatt es wegzuschieben.« (Aus dem Moore/Ronna 2005: 15) 5 | Exemplarisch sei eine Kooperation des ifa mit den Kulturagenten und der Berger Schule in Stuttgart-Ost genannt, einer Förderschule für Lernschwierigkeiten mit dem Angebot der ganzheitlichen Erziehung. Das Projekt Inside-Outside bezog soziales Lernen, den musischen und den ethischen Bereich ein. Kinder mit traumatischen Erlebnissen (zum Beispiel ehema-
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drücklicher zu verdeutlichen und zu gestalten, müssen auch Formate neu gedacht und entwickelt werden. In ihnen soll das Wissen Einzelner nicht nur miteinbezogen werden, sondern regelrecht im Vordergrund stehen. Solche Formate sind etwa das World Café oder die Evolutionären Dialoge (vgl. Walther Kohn u.a. 2017: 34-38), die eine nicht festgelegte Gesprächskultur und damit eine neue Form der Kommunikation in Kollektiven und Organisationen ermöglichen (Andere Quellen: Nr. 2), oder das Format des offenen Raums (Open Space), in dem Künstlerinnen agieren, ohne von der Institution Vorgaben zu erhalten. Ein solcher Open Space wurde 2016 in der Berliner ifa-Galerie ermöglicht, als im Rahmen des Projekts Politics of Sharing vier Wochen lang das indonesische Künstlerkollektiv Kunci den Galerieraum in eine temporäre Radiostation verwandelte (Aus dem Moore 2017): Das Kollektiv lud lokale und internationale Akteurinnen und Initiativen ein, ihre Perspektiven auf das Teilen in unterschiedlichen geopolitischen Situationen zu verhandeln. Die Veranstaltungen und Gespräche wurden zu Radiosendungen zusammengestellt, die Radio KUNCI in wöchentlichen Themenschwerpunkten aus dem Galerieraum sendete, sodass auch ein internationales Publikum an dieser Aktion und Diskussion teilhaben konnte (Andere Quellen: Nr. 3).6 Indem sich das ifa diesem Format zur Verfügung stellte, praktizierte es selbst eine radikale Öffnung der Institution ifa (vgl. Syafiatudina 2017: 6f.).
4. K ollek tivitäten Eine zentrale Frage im transkulturellen Feld lautet: Wie lassen sich die Räume des Miteinander gestalten? Notwendig sind Räume, die ein gemeinsames Denken und Entwickeln ermöglichen, die einen common ground schaffen, in dem ergründet werden kann, auf welcher Ebene das gegenseitige Verstehen überhaupt erst möglich ist – Räume, die getragen sind von Imagination, Freude und Vertrauen. Imagination ist nicht nur eine Quelle des neuen Denkens, sondern kann als kollektive Praxis eine vitale und entwicklungsfähige Rolle spielen. Arjun Appadurai (1996) verweist auf die Kraft und das Potenzial der Imagination für gesellschaftsverändernde Prozesse und postuliert, Imagination als zentralen Aspekt kultureller Praxis anzuerkennen: »I propose(d) that the imagination is a vital resource in all social processes and projects, and needs to be seen as a quotidian energy, not visible only in dreams, fantasies, and sequested moments of euphoria and creativity.« (Appadurai 2013: 287) In seinem Buch The Future as a Cultural Fact führt er Imagination und Hoffnung als wegweisende kulturelle Praktiken an: »Hope is the political counterpart to the work of imagination.« (Appadurai 2013: 293) Weiter betont er die Bedeutung von liminalen Praktiken und Ritualen und die Bereitschaft zu Risiko lige Kindersoldaten) sollten Wege finden sich auszudrücken. Sie reflektierten mit Skizzenbuch und Fotoapparat die Werke der Ausstellung By now – Zeitgenössische Fotografie aus Belarus. Die Kooperation hatte zur Folge, dass zur Vernissage im März 2015 in die Stuttgarter ifa Galerie auch Publikum kam, das die Galerie zuvor nicht besucht hatte (Andere Quellen: Nr. 4). 6 | Das ifa hält auf seiner Website einige Podcasts von Radio KUNCI bereit. Der Blog Yeast – Art of Sharing stellt die indonesische Performerin Syafiatudina im Kontext des Projekts vor (Andere Quellen: Nr. 5).
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und Spekulation. Ich möchte noch auf eine weitere Dimension hinweisen, die oft nicht angesprochen wird und die dennoch die Basis eines gelungenen kulturellen Ereignisses ist, jene des Vertrauens. Vertrauen basiert auf nichtrationalen Elementen und überschreitet oft die Sphäre des Wissens. Der Philosoph Alfonso Lingis beschreibt die Kraft des Vertrauens in seinem Buch Trust: But to trust you is to go beyond what I know and to hold on to the real individual that is you. […] Knowledge induces belief, belief in what one sees clearly or in a coherent and consistent account that supplies evidence or proof. Trust, which is as compelling as belief, is not produced by knowledge. In trust one adheres to something one sees only partially or unclearly or understands only vaguely or ambiguously. One attaches to someone whose words or whose movements one does not understand, whose reasons or motives one does not see. […] Trust is a break, a cut made in the extending map of certainties and probabilities. The force that breaks with the cohesion of doubts and deliberations is an upsurge, a birth, a commencement. It has its own momentum, and builds on itself. How one feels this force! […] The act of trust is a leap into the unknown. It is not an effect of ideological, cultural, historical, social, economic, or ethnobiological determinisms. But trust is everywhere – in the pacts and contracts, in institutions, in forms of discourse taken to be revealing or veridical, in the empirical sciences and in mathematical systems. Everywhere a human turns in the web of human activities, he touches upon solicitations to trust. (Lingis 2004: ix [Preface]; 64-66; Hervorhebung im Original)
Überträgt man diese Gedanken auf das praktische Feld der internationalen Kulturarbeit, stellt sich die Frage, wie sich hier Dialoge gestalten lassen, die darauf abzielen, die Welt nicht fragmentiert wahrzunehmen, sondern die Verbindungen einzelner Sachverhalte und möglicher Lösungsansätze in den Vordergrund zu stellen. Eine neue Form, die bereits auf Konferenzen7 und größeren kulturellen Veranstaltungen angewendet wurde, ist der im vorigen Kapitel erwähnte Evolutionäre Dialog; er versucht, das nichtrationale, nichtkognitive Verstehen zu aktivieren und einen kreativen Raum entstehen zu lassen, der zu einer Art kollektiven Denkens führen kann. Der Philosoph Thomas Steininger beschreibt es so: Wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen, trifft Bewusstsein auf Bewusstsein. In welchem Bewusstsein treffen wir uns? Oft prallt eine getrennte Welt auf eine andere getrennte Welt. Manchmal entsteht zwischen Menschen ein kreativer Raum – jener Bewusstseinsraum, den wir eine lebendige Begegnung nennen. Der evolutionäre Dialog ist eine Bewusstseinspraxis […]. Er fokussiert sich auf dieses kreative Potenzial zwischen uns, das Potenzial, das in jeder wirklichen Begegnung auflebt. Wenn unser Fokus nicht auf dem trennenden Bewusstsein, sondern auf diesem Begegnungsfeld, auf diesem dialogischen Prozess und seinem kreativen Potenzial liegt, entsteht zwischen uns ein neues, menschliches Miteinander. (Andere Quellen: Nr. 2)
7 | Als Beispiel sei das von ifa und Goethe Institut gemeinsam initiierte Symposium Curating under Pressure genannt, das sich mit der Ethik des Kuratierens auf Biennalen beschäftigte (05.-08.11.2015). Es fand in Neuseeland in Kooperation mit dem Arts Council Neuseeland und der Universität Canterbury statt und wurde vom Auswärtigen Amt unterstützt (Andere Quellen: Nr. 6).
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Indem sich die Teilnehmenden einer Begegnung, sei sie kommunikativer oder künstlerischer Art, auf diesen Prozess einlassen und annehmen, dass der Austausch mit einem anderen Bewusstsein nicht abgrenzend oder konflikthaft verläuft, sondern in erster Linie auf Vertrauen und der Bereitschaft zum Dialog basiert, kann Kreativität entfaltet werden. Bewusstseinsprozesse, die auf der Basis eines solchen Vertrauens nicht nur die eigene, sondern auch die Kreativität des Anderen zu entdecken versuchen, können kollaborativ verlaufen; sie bergen neue Potenziale.
5. M anifestationen Zum Abschluss dieser Überlegungen sei ein Manifest der Verfasserin vorgestellt, das die Dringlichkeiten und Herausforderungen für europäische Kulturinstitute noch einmal programmatisch benennt. Es werden zentrale Gedanken und Ursachen des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels formuliert, der stark von den Auswirkungen der Globalisierung geprägt ist. Was sind die Reibungen und Konfliktherde zwischen den Kulturen? Wie reagiert und wie verändert sich eine Institution, wie gestaltet sie den Wandel produktiv und im Kollektiv? Welche Strategien sind notwendig, um inklusive, transkulturelle Vermittlungsangebote zu erarbeiten und anzubieten? Alle sieben Jahre ist es Zeit für ein Manifest.8 Das folgende Manifesto of Change//Manifesto institutionale (2014) ist zu lesen als ein Manifest, das von Veränderungen und Dringlichkeiten spricht, als ein künstlerischer Impuls, der von Kunst- und Kulturvermittlerinnen und von Institutionen aufgegriffen werden kann, um selbstreflexiv und kritisch mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen – sei es in der Programm- oder der Vermittlungsarbeit. Es folgt einem sieben Jahre zuvor entstandenen Manifest (Aus dem Moore 2007b), das neue Ansätze des Kuratorischen zusammenfasste. Nun ist es an der Zeit für ein Manifest für kulturelle Institutionen, deren Denken und Arbeiten für die Öffentlichkeit einen Perspektivwechsel braucht.
Manifesto of Change/Manifesto institutionale 9 Die Formen des westlichen Denkens und der Wissensproduktion des Westens haben durch Ausgrenzung anderer Wissensformen und durch die Formulierung eines Universalitätsanspruchs eine Eindimensionalität und damit ihre Grenzen erreicht. Erst die politischen und ökonomischen Machtverschiebungen machen es sichtbar: Das okzidentale Denken befindet sich in einer Krise und ein Überdenken ist notwendig.
8 | Vgl. die Gedichtzeile Alle sieben Jahre wandelt sich Dein Wesen von Mascha Kaléko (Kaléko 2015: 9). Ich danke Gunilla Eschenbach für diesen Hinweis. 9 | Das Manifest erschien erstmals 2014 (vgl. Aus dem Moore in Gilges 2014: 21 f). Mein Dank gilt Arjun Appadurai, Annette Kaiser, Sarat Maharadj, Walter D. Mignolo, Gabi Ngcobo, Laura Romano und Sinethemba Twalo.
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Das Bewusstmachen von Unterschieden in den verschiedenen Wertesystemen ist unerlässlich. Die Anerkennung einer »Geopolitik des Wissens«10 ist unabdingbar. Unterschiedliche Formen der Wissens- und Theorieproduktion existieren. Verschiedene Subjektivitäten und ihre Narrative sind anzuerkennen im transkulturellen Miteinander und bilden die Voraussetzung für kulturelle Übersetzungen. Das Wahrnehmen und Anerkennen der Unterschiede diverser Gesellschaftssysteme mit ihren kollektiven und individualistischen Konzepten vom Subjekt in einer Gesellschaft ist Voraussetzung eines Wandels. Der Westen hat sich in dem Konzept der Individualgesellschaft von der Bedeutung des Menschen als Gemeinschaftswesen, als Teil einer sozialen Entität weit entfernt. Das führt an Grenzen. Die Auffassung einer Getrenntheit beispielsweise von Ich und dem/der Anderen, Mensch und Natur ist eine maßgebliche Ursache der Krise. Es ist notwendig, sich den nichtrationalen Wissenssystemen zu öffnen, Techniken miteinzubeziehen und zu entwickeln, die altes Wissen aktivieren und die Eigenwelt der Dinge anerkennen. Grundlegend ist, Opazität anzuerkennen und nicht von dem Alles-ergründen-Wollen getrieben zu sein, sondern eine Praxis des Sich-führen-Lassens zu entwickeln. Institutionen stehen als kulturelle Bildungseinrichtungen in großer Verantwortung und können den Wandel gestalten. Sie können eine Praxis des transkulturellen Miteinanders entwickeln, einen offenen Ort der Transparenz schaffen und sich – in anthropophager Manier als kulturelle Strategie – fressen lassen, okkupieren lassen, sich bespielen lassen. Institutionen haben die Aufgabe, kollaborative und kollektive künstlerische Praktiken zu fördern und herauszufordern, neue Formen der Wissensproduktion zu ermöglichen und zu fördern, Formen des »Rhizomatischen« dem »KontinentalTerritorialen« vorzuziehen und gestaltende Akteure statt Teilnehmende einzuladen. Sie sind die Garanten der Multiperspektivität! Die kuratorische Praxis des Nichtwissens ist die Grundlage des Wandels, eine Praxis, die nicht vom eigenen bestehenden Wissen ausgeht, sondern sich öffnet für das noch Unbekannte, oder bekanntes, neu zu lesendes Wissen aufgreift. Bisher bestehende Definitionen von Zeit, Arbeit und Verbindlichkeit sind zu überprüfen und neu zu verhandeln. Auch hier geht es um die Anerkennung von differenten Ansätzen. Die Zukunft ist als kultureller Faktor anzuerkennen. Imagination ist eine kollektive Praxis und ermöglicht das Denken von Neuem, von Wandel der Gesellschaft. Liminale Momente und Praktiken sind eine subversive und Transzendenz ermöglichende Wissensproduktion.
10 | Walter Mignolo prägte den Begriff einer »Geopolitik des Wissens« (vgl. Mignolo 2002: 56-96).
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L iter atur Primärliteratur Aus dem Moore, Elke (2014): Manifesto of Change/Manifesto Institutionale. In: Gilges, Simone (Hg.) (2014): freier. Magazine for the Mental State, H. 6: Austausch/Exchange/Échange, S. 21-22. Aus dem Moore, Elke (2007b): Kuratorisches Manifest. Vorgestellt im Workshop What is a curator?, gehalten von Petra Reichensberger in Kooperation mit der Silpakorn University/Goethe Institut Bangkok in Bangkok 2007 (unveröffentlicht).
Sekundärliteratur Appadurai, Arjun (2013): The Future as a Cultural Fact – Essays on the Global Condition, London/New York. Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis. Aus dem Moore, Elke (Hg.) (2017): Politics of Sharing. On Collective Wisdom, Stuttgart. Aus dem Moore, Elke (2009): Prêt-à-partager – A Transcultural Exchange in Art, Fashion and Sports, Stuttgart, Nürnberg. Aus dem Moore, Elke (Hg.) (2007): Les Histoires Communes, Stuttgart. Aus dem Moore, Elke (2007a): Einleitung. Les Histoires Communes, Prozesse und Erzählungen. In: Aus dem Moore (Hg.) (2007), S. 10-33. Aus dem Moore, Elke/Giorgio Ronna (Hg.) (2005): Entre Pindorama. Zeitgenössische brasilianische Kunst und die Antropofagia, Nürnberg. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur (Stauffenburg Discussion, Bd. 5), Tübingen. Bohm, David (2014): Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen, Stuttgart. Hartkemeyer, Martina u.a. (2015): Dialogische Intelligenz – Aus dem Käfig des Gedachten in den Kosmos gemeinsamen Denkens, Frankfurt a.M. Hartkemeyer, Martina u.a. (2010): Miteinander Denken. Das Geheimnis des Dialogs, Stuttgart. Kaléko, Mascha (2015): Liebesgedichte, hg. von Gisela Zoch-Westphal und Eva-Maria Prokop, München. Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. Lingis, Alphonso (2004): Trust (Theory out of Bounds, Bd. 25), Minneapolis/London. Mignolo, Walter D. (2002): The Geopolitics of Knowledge and the Colonial Difference. In: South Atlantic Quarterly, Bd. 101, H. 1, S. 56-96. Schrader, Kathrin (2006): Botschafter der All-Welt (Interview mit Edouard Glissant). In: Der Freitag online, 22.09.2006. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ botschafter-der-all-welt (24.03.2017). Syafiatudina (2017): Numpang as Inhabiting Thresholds. In: Aus dem Moore (Hg.) (2017), S. 6-7.
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Tulloch, Carol (2007): Interconnecting Routes. Networks, Dress and Critical-Creative Narratives: In: Aus dem Moore (Hg.) (2007), S. 152-179. Walther Kohn, Miriam u.a. (2017): SAID TO CONTAIN: Thinking Public Session. In: Aus dem Moore (Hg.) (2017), S. 34-38.
Andere Quellen Nr. 1: www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/programme/kunst_der_vermitt lung/agenten.html (10.03.2017). Nr. 2: www.tomsteininger.de/bewusstsein-im-gespraech/ (10.03.2017). Nr. 3: www.ifa.de/de/kunst/ifa-galerien/ausstellungen/radio-kunci.html (09.03. 2017). Nr. 4: www.ifa.de/kunst/ifa-galerien/ausstellungen/klasse-schule.html (09.03. 2017). Nr. 5: www.ifa.de/de/kunst/ifa-galerien/ausstellungen/radio-kunci/syafiatudinaim-interview.html (09.03.2017). Nr. 6: www.curating-under-pressure.com/ (09.03.2017). Nr. 7: http://waltermignolo.com/on-pluriversality/ (09.03.2017).
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II. Künstler als Übersetzer: Diachrone Transkulturalität
Wer sind die Übersetzer? Transkulturell Handelnde im Musikbetrieb Christina Richter-Ibáñez
1. Tr anskultur alität und M usikwissenschaf t Seit dem 19. Jahrhundert bestimmte eine normative Haltung die historische Musikforschung. Im Mittelpunkt standen große Komponisten – im Zuge der Kanonisierung oft als Trias, so die Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven, oder die großen »B«: Bach, Beethoven und Brahms – sowie ihre Werke als notierte Texte: große Partituren, Meisterwerke. Die Fokussierung auf diese Heroen und ihre Werke, die musikalische Epochen, Stile und Gattungen perfekt zu repräsentieren schienen, schloss lange Zeit unzählige Musikpraxen und die Frage nach der Vermischung von Musikstilen aus. Heutige Forscher vergegenwärtigen sich zwar die eigene Fachgeschichte, unterdessen wirkt der normative Musikbegriff weitgehend unhinterfragt in Lehrwerken, Konzertprogrammen und populären Musikgeschichten weiter (vgl. Unseld 2012: 93). Was nicht dazugehörte, überließen Musikhistoriker zunächst der Vergleichenden Musikwissenschaft, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als Musikethnologie etablierte, bis der Cultural Turn in den 1980er-Jahren eine angloamerikanische New Musicology entstehen ließ und Auswirkungen auf die gesamte Musikwissenschaft zeitigte. Dennoch waren es Musikethnologen und -anthropologen, die das Konzept der Transkulturalität zuerst und explizit aufgriffen, indem sie ihre Fachrichtung in zunehmendem Maße dahingehend umbenannten: Die ehemals musikethnologischen Profile an der Hochschule für Musik Weimar oder der Universität Würzburg heißen nun Transcultural Music Studies, der anthropologische und soziologische Schwerpunkt an der Humboldt-Universität Berlin Transcultural Musicology (Andere Quellen: Nr. 1). Der Fokus der früheren Forschungen verschob sich dabei von der Musikpraxis der Ethnien und als geschlossen angesehenen Kulturen zu dem dynamischen Prozess der Veränderung von Musikpraxen. Spanische Musikethnologen hatten bereits in den 1990er-Jahren die Zeitschrift Trans. Revista Transcultural de Música gegründet, die sich speziell der Rolle von Musik und ihrer Veränderung in zeitgenössischen Gesellschaften verschrieben hatte (Andere Quellen: Nr. 2). Dabei kann man die Anwendung des Begriffs auch in der (Musik-)Ethnologie durchaus hinterfragen, wie es Julio Mendívil in einem Grundsatzbeitrag im Band Transkulturalität und Musikvermittlung tat. Mendívil stellt die »Modelle für kulturelle Kontakte in der Ethnologie« vergleichend nebeneinander und macht Folgen-
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des sichtbar: Während beim Modell der »Akkulturation«, entworfen von Richard Thurnwald (1932), eine führende Kultur A, zum Beispiel die Kolonialmacht, bei ihrer Vermischung mit einer Kultur B, hier die Kolonie, über die Kultur B dominiert, geht das Modell der »Transkulturation«, das Fernando Ortiz (1940) vertritt, von einer gleichberechtigten Vermischung aus; allerdings versteht auch er Kultur weitgehend als homogenes Gebilde. Mendívil sieht darum im Begriff der »Transkulturalität« von Wolfgang Welsch (1997) den bedeutenden Vorzug, dass dieser verschiedene Dimensionen der Kulturbegegnung berücksichtigt, also sowohl Prozesse zwischen nationalen oder geografisch dispers verorteten Kulturen fasst, als auch solche zwischen Sub- oder Teilkulturen in der gleichen Region – und zwar ohne Hierarchisierung. Dennoch verweist Mendívil auch dieses Konzept in seine Schranken: Obwohl Welsch bemerkt habe, »dass Transkulturalität kein neues Phänomen in der Geschichte ist« (Mendívil 2012: 57; vgl. Welsch 1997: 74), fällt auf, dass er »die Problematisierung des Kulturbegriffs in der Ethnologie und in den Cultural Studies […] konsequent ignoriert« (Mendívil 2012: 57). Dabei, so Mendívil, habe die Ethnologie längst erkannt, dass kein neuer Kulturbegriff nötig sei, vielmehr sei hinlänglich bekannt, dass jede Kultur »das Resultat von kulturellem Austausch« (Mendívil 2012: 57) war und ist. Betrachtet man die genannte institutionelle Verortung und die Agenten des Diskurses über die Transkulturalität in der Musikwissenschaft, entsteht möglicherweise der Eindruck, das Thema betreffe vor allem Musikethnologen und -pädagogen. Letztere verstehen sich als Vermittler, denen in Transferprozessen eine Schlüsselrolle zukommt, wie Michaela Wolf dargelegt hat (vgl. Wolf 2003: 93). Allerdings muss unter dem Begriff der »Vermittler« weitaus mehr verstanden werden als in didaktischen, institutionellen oder sozialen Kontexten tätige Musikpädagogen. Wird Musik nicht als verschriftlichtes Werk, sondern als vielfältiges Beziehungsereignis mit vielen Beteiligten verstanden, wie es besonders die musikwissenschaftliche Genderforschung tut (vgl. Borchard 2016: 3), sind Menschen, die komponieren, interpretieren, über Musik schreiben oder reden, sie abschreiben, bearbeiten, drucken, sammeln, organisieren oder finanzieren, sie hören oder zu ihr tanzen, allesamt in musikalische Transferprozesse eingebunden und somit Vermittler. Es darf darüber hinaus nicht übersehen werden, dass die Frage nach dem Transfer von musikalischen Praktiken seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auch in der historischen Musikwissenschaft ein lebendiges Forschungsfeld darstellt, ohne dass der Terminus »transkulturell« verwendet wird. Fast immer, wenn es um Einflüsse auf und Prägungen von Komponisten geht, oder wenn die Migration, Rezeption, Interpretation, Bearbeitung und Adaption von Musik untersucht werden, stehen derartige, verschiedene Grenzen überschreitende Prozesse im Mittelpunkt. Im »transkulturellen« Raum werden Identität und Differenz neu verhandelt, indem sich die musikalisch Agierenden mit früheren oder »fremden« Kulturen, deren Traditionen, Stilen, Musiksystemen und vorhandenem Material auseinander und diese zu eigenen Ausdrucksformen in Beziehung setzen. In diesem Sinne ist Homi K. Bhabhas »Dritter Raum« (Third Space) jener Äußerungsraum, in dem Musiker Neuinterpretationen schaffen; er ist überall und nicht unbedingt mit geografischer Bewegung verbunden (vgl. Bhabha 2000: 56f.). Historisch gesehen verstärkten aber besonders Kolonisierung und Migration die Konfrontation mit fremden Praktiken und brachten durch die erforderliche Vermittlung und Übersetzung mehr Komplexität in den »Dritten Raum« und entsprechend Neues in das Musikleben.
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Aneignungsprozesse, aber auch die Probleme, denen sich Künstler durch diese – freiwilligen oder unfreiwilligen – Bewegungs- und Übersetzungsprozesse gegenübersahen, werden in der Musikgeschichte jüngst vielfach beschrieben (EhrmannHerfort/Leopold 2013). Die Themen reichen von Migrationsprozessen im Europa der frühen Neuzeit (Nieden/Over 2016) über italienische Einwanderer und urbane Musikkulturen in Lateinamerika (Grosch/Kailuweit 2015) bis zur schon länger existierenden, aber längst nicht abgeschlossenen musikalischen Exilforschung, die die Biografien der aus dem »Dritten Reich« vertriebenen Musiker untersucht.1
2. B e wegung und M edialität : I nterpre ten als Ü berse t zer Diesen Forschungen geht es nicht primär um die Beschreibung eines Musiktransfers von einer als holistisch angesehenen Kultur in eine andere, sondern um die Bedingungen und Ergebnisse des musikalischen Austauschs über geografische und zeitliche Räume hinweg. So inspirierten harmonische und rhythmische Folgen oder ganze Motive Musiker schon immer dazu, Variationen über fremde Werke zu verfassen. Dabei mussten sie die Musik noch nicht einmal hören – mit der Notenschrift und, verstärkt, dem Notendruck reichte dafür ein kursierendes Notenblatt aus. Aber auch dieses Notenblatt musste von Menschen hergestellt werden und sich von einem Ort zu einem anderen bewegen, das heißt von Menschenhand verschickt oder transportiert werden. So waren es schon im 16. Jahrhundert die fahrenden Interpreten, die für die Verbreitung von Liedern sorgten, mit Drucken handelten und die notierte Musik aufführten, um die Zuhörer zum Kauf der Musikalien anzuregen (vgl. Grosch 2013: 51). Mit dem durch Notation und Druck erfolgten Medienwechsel ging ein soziokultureller Standortwechsel einher (vgl. Grosch 2013: 86): Lieder – und das ist auf Musik generell übertragbar – verbreiteten sich schneller in verschiedenen Räumen und sozialen Schichten und koppelten sich so auch von der Aufführung ab. Im einfachsten Fall ist auch heute noch der geografische und historische Transfer ein aktiver Aneignungsprozess »fremder« Musik, der zu einer Neuinterpretation führt: Das Notenblatt einer vergangenen Zeit trifft im Raum X auf Person Y mit ihrer jeweiligen Vorbildung und ihren ästhetischen Vorlieben sowie auf ein wie auch immer geartetes Instrument Z; das musikalische Produkt ist das Ergebnis dieser Bedingungen. Dieses Produkt – realisiert als Interpretation, Bearbeitung oder neue Komposition – kann wiederum auf die Wahrnehmung der historischen Noten und ihrer ursprünglichen Kultur rückwirken, oder es kann Teil des Musiklebens der neuen Kultur werden und hier weitere Kommunikations- und Übersetzungsprozesse verursachen (vgl. Wolf 2003: 92). Gegenstände respektive Medien – etwa in Form von Instrumenten, Noten und Aufnahmen – sind zwar Teil des transkulturellen Raums, aber sie können darin nicht handeln. Dies obliegt allein den Menschen.
1 | Exemplarisch sei das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit genannt, das seit 2005 von Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen unter Mitarbeit von Sophie Fetthauer und Nicole Ristow herausgegeben wird und an dem alle Wissenschaftler mitarbeiten, die zur musikalischen Exilforschung Beiträge leisten (Andere Quellen: Nr. 3).
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(Trans-)Kulturelle Räume werden immer von mehr als nur zwei Kulturen geprägt und von jedem Individuum unterschiedlich wahrgenommen. Welsch unterscheidet daher eine Makro- und eine Mikroebene der Transkulturalität (vgl. Welsch 1997: 71ff.). Er weist darauf hin, dass die Wahrnehmung der eigenen kulturellen Hybridität auch den Blick auf die Verfasstheit des kulturellen Umfelds beeinflusst (vgl. Welsch 1997: 76). Bezogen auf die musikalische individuelle Disposition gibt es Modelle in der Musiksoziologie und -psychologie, welche die Sozialisierung und die Ausbildung von Präferenzen erklären (Neuhoff/De la Motte-Haber 2007; Behne 2007; Kloppenburg 2005): Grundlegende Prägungen erfolgen demnach durch die Familie, durch Peers und das Lebensumfeld, durch Bildungsinstitutionen (im Speziellen Musikunterricht), Gesellschaft und Medien. Dauerhafte oder kurzzeitige Ortswechsel, von Reisen und Umzügen bis hin zu Flucht und Exil, bringen Erfahrungen mit sich, die frühere Prägungen modulieren. Die musikalische Disposition wird so ständig erweitert und ist bei jedem Menschen anders. Die Prägungen sind unterschiedlich stark (also individuell durchaus hierarchisch) und nur teilweise bewusst gewählt. Was das Individuum musiziert und hört (Fernsehen, Radio, im Alltag) und wie es dazu agiert (tanzt oder darüber redet), konstituiert das Repertoire seiner musikalischen Handlungsweisen und Vorlieben. Würde man die musikalische Sozialisierung eines Individuums mit der Reaktion auf ein musikalisches Ereignis vergleichen, wären Reaktionsmuster in Teilen vermutlich erklärbar: Fremdes oder in der eigenen transkulturellen Verfassung Unterdrücktes wird bekanntlich eher abgelehnt (vgl. Welsch 1997: 76), Eigenes und Akzeptiertes goutiert. Die Kombination der Mikroebenen eines ähnlich geprägten Kollektivs ergibt eine Matrix musikkultureller Prägungen, die durch empirische Forschung und Milieustudien annähernd beschrieben werden kann; individuell fassbar wird sie dennoch nicht. Freilich variieren individuelle wie kollektive Prägungen je nach Land, Einzugsgebiet, demografischen Faktoren wie dem Alter oder Moden in den Medien und sind ständig im Fluss. Obwohl Künstler bei ihrem Tun oft nicht primär an das Publikum denken, konstituiert es doch ihren kulturellen Handlungsraum und nimmt Einfluss auf das künstlerische Produkt. Besonders offenbar wird dies, wenn Interpreten den Raum verlassen, von dem sie selbst am meisten geprägt sind, sei er geografischer, sprachlicher oder soziokultureller Art: Um andernorts erfolgreich zu sein, bedarf es verschiedener Anpassungsstrategien. Die folgenden Beispiele sollen zeigen, inwiefern die geografische oder mentale Bewegung von Musikern über kulturelle Räume hinweg dazu führt, dass einerseits vor Jahrhunderten komponierte Musik in verschiedenen Zeiten immer wieder neu erklingt, und dass andererseits Lieder aus einer Region in eine andere wandern, Übersetzung und Neuinterpretation erfahren und manchmal ein Eigenleben entwickeln, das sie zu häufig nachgespielten Standards macht.
3. A lte M usik in neuem G e wand : B ach tr anskulturell und global Johann Sebastian Bach galt lange und gilt mancherorts noch immer als Inbegriff des deutschen Komponisten: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er neben Beethoven zum wichtigsten Verankerungspunkt der deutschen Musik geworden (vgl.
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Heinemann/Hinrichsen 1999a: 22ff.). Man pflegte seine Wirkungsstätten besonders in Leipzig, sorgte für die erste Ausgabe seines Gesamtwerks und schuf Institutionen zur Pflege und Erforschung seiner Musik. Im 20. Jahrhundert wurde er zum Vater der klassischen Musik überhaupt – rituell gefeiert und erinnert. Der Blick in die neueren deutschen Schul- oder populärwissenschaftlichen Musikbücher zeigt, dass diese lange Tradition der Geschichtsschreibung ungebrochen fortgesetzt wird. Die Stätten seines Wirkens in Mitteldeutschland werden ebenso thematisiert wie formale (Kanon und Fuge), religiöse (Orgel und Oratorium) sowie didaktische Aspekte seiner Lehre an der Thomasschule (Detterbeck/SchmidtOberländer 2011). Darüber hinaus ist Bach aber auch zu einem globalen Phänomen geworden, wie Patrice Veit konstatiert: Bach ist eine Gestalt, die schon lange nicht mehr auf Deutschland reduziert werden kann. Er ist in großem Umfang international geworden. Diese Internationalisierung wird durch die Medien und die global operierende Musikindustrie noch beschleunigt. Im Vergleich noch zu den 1960er Jahren sind die Interpreten der Musik Bachs heute in der Mehrheit Nicht-Deutsche, ob sie nun Nikolaus Harnoncourt, Philippe Herreweghe, John Eliot Gardiner, Ton Koopman, Gustav Leonhardt, Joshua Rifkin oder Masaaki Suzuki heißen. Bach-Festivals und Bachakademien gibt es inzwischen überall auf der Welt […]. Der Bach-Kult hat sich so weit ausgebreitet, daß er – vielleicht etwas voreilig – als weltweit etikettiert wird. (Veit 2001: 256)
Veit hebt zunächst die Bedeutung der Interpreten hervor, bezieht an anderer Stelle darüber hinaus aber auch Komponisten und Arrangeure mit ein: Er ist auch der Komponist, dessen Werke bis auf den heutigen Tag die größte Zahl von Bearbeitungen und Interpretationen erfahren haben. […] Schließlich ist Bach von allen Komponisten wohl derjenige, dessen Musik sich am besten zu den unterschiedlichsten Experimenten eignet. Das reicht von neuen Interpretationen durch Jazz (Jacques Loussier, Swingle Singers) bis hin zu traditioneller afrikanischer Musik […]. (Veit 2001: 256f.)
All diesen Bearbeitungen und Interpretationen ist gemeinsam, dass sie historische Musik in einen neuen zeitlichen Kontext übersetzen, sie verändert hörbar machen, fortschreiben. War es im 19. Jahrhundert Charles Gounod, der Bachs Präludium in C-Dur (BWV 846) das bekannte Ave Maria hinzufügte und damit einerseits einen wahren Schlager fabrizierte, andererseits jedoch auch harsche Kritik von Puristen erntete (vgl. Reininghaus 2007: 11ff.), folgte um die Jahrhundertwende eine wahre Flut von Bearbeitungen. In den 1960er-Jahren verjazzten und popularisierten Jacques Loussier und die Swingle Singers die Werke von Bach, wie Veit schreibt. Diese Interpreten handelten transkulturell, indem ihre eigene hybride kulturelle Matrix genauso die neuen Produkte beeinflusste wie technische Entwicklungen oder die Erwartungen des Publikums. Schließlich definieren eben auch die Zuhörer den Raum und die Wahrnehmung des Produkts: Eine Kantate von Johann Sebastian Bach wird in der Leipziger Thomaskirche mit einem anderen Erfahrungshorizont und Verständnis gehört als in einem fremdsprachlichen oder kirchenmusikfernen Umfeld. Einige Interpreten sind sich dieser Differenzen bewusst und betonen sie zusätzlich, indem sie eigene individuelle Bezugspunkte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Cameron Carpenter beispielsweise ist ein Amerikaner mit punkigem Aussehen, er lebt in Berlin, ist gleichzeitig Orgelvirtuose
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und technikaffin. Er reißt die Orgel aus dem kirchlichen Umfeld, modernisiert sie in Form eines neuen, portablen Instruments, kombiniert sie mit Pop. Gleichzeitig spricht er als Künstler nicht primär das Kirchenmusikpublikum an, sondern erregt über Frisur und Kleidung subkulturelles Aufsehen. Das wird auch medial in Bildern, Interviews und Berichten transportiert; er wird quasi als Popstar gefeiert, und sein Bild hat es sogar in ein aktuelles Schulbuch geschafft (vgl. Detterbeck/ Schmidt-Oberländer 2015: 69). Die dort gleichfalls abgedruckte Rezension der Berliner Zeitung aus dem Jahr 2012 vergleicht ihn mit Franz Liszt, der im 19. Jahrhundert ein wichtiger Bach-Interpret und -Bearbeiter war (vgl. Heinemann 1999). Neben der Musik, die Carpenter spielt, bieten somit sein Aussehen und seine Biografie willkommene Anlässe, um Menschen an das Instrument Orgel heranzuführen. Im Jahr 2016 hat sich Carpenter ein neues elektronisches und portables Instrument bauen lassen, mit dem er touren kann und das über mehr Register und Möglichkeiten verfügt als alle Orgeln der Welt. Auf seiner CD All You Need Is Love (Carpenter 2016) spielt Carpenter auf diesem Instrument ausschließlich Bach, wenngleich er, wie der Titel suggeriert, mit dem letzten Stück einen Mix der bachschen F-Dur-Invention (BWV 779) mit dem bekannten Beatles-Song All You Need Is Love gibt. In Artikulation und Präzision des Spiels der Invention spiegeln sich Carpenters Kenntnisse der historischen Aufführungspraxis. Dennoch liegt eine Bearbeitung eines Cembalowerks für Orgel vor, die durch die Wahl verschiedener Register (Klangfarben) im Vergleich zu einer Klavierinterpretation noch plastischer durchhörbar wird. Der hinzugesetzte Schlagzeugtusch sowie einige Phrasen aus dem Song All You Need Is Love verknüpfen Bachs historische Komposition mit den Möglichkeiten einer neu gebauten Orgel und einem Song, den viele Zuhörer vermutlich kennen. Carpenter versteht sich selbst als Advokat eines neuen Orgelspiels: Er versetzt die Orgel aus der sakralen Umgebung in Bewegung, wodurch sie in wechselnde Räume gelangt. Er bleibt den Kompositionen Bachs einerseits verbunden, transportiert aber dessen Musik in eine neue Zeit und kombiniert sie mit anderen kulturellen Artefakten – macht sie anders hörbar. Dabei zählt er darauf, dass die melodischen Phrasen aus All You Need Is Love seinen Zuhörern bekannt sind. Das funktioniert sicher in einer Generation, die die Beatles noch live bejubelt hat, wohl auch noch in der nachfolgenden Generation, zu der Carpenter selbst gehört. Jedenfalls eroberte er damit 2016 die deutschen Klassikcharts, was eine Kritikerin lapidar kommentierte: »Über den Titel hinaus ist die bloße Existenz des Albums eine logische Konsequenz der neuen Routine, dass, wer in der Klassik ein Star sein will, auch ein bisschen Popstar sein muss […].« (Liebert 2016: 19) Erkennt man die Bezüge zu Bach und den Beatles nicht und ist mit den Klangregistern einer Orgel nicht vertraut, erscheint das Produkt jedoch schnell als »Zirkusmusik« – etwas überdreht, nicht Fleisch, nicht Fisch. Abhängig sind aktuelle Adaptionen damit stets von denjenigen, die ihnen vorausgingen und die im kulturellen Gedächtnis bewahrt wurden, wie der genannte Vergleich Carpenters mit Liszt zeigt. Die Interpreten und Bearbeiter bewegen sich also selbst in einem kulturell geprägten hybriden Raum, den sie immer wieder auf der gezielten Suche nach dem »Neuen« oder einfach bei Konzert- und Studienreisen verlassen. In der Geschichte gibt es genügend Beispiele, wie Musik von einem Raum in einen anderen übertragen und dabei verändert werden kann. Dies sei gleichfalls am Beispiel von Bachs Musik und ihrer Rezeption in Brasilien illustriert: Wie überall
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auf der Welt spielten Pianisten in Brasilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bachs Präludien und Fugen. Der Austausch zwischen Europa – zunächst Portugal, später speziell Paris – und Brasilien war von jeher intensiv. Zudem erlebte Brasilien eine Masseneinwanderung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, mit der auch vermehrt deutsche Instrumente, Noten und mündlich tradierte Musik in das Land gelangten. Von dem Komponisten Heitor Villa-Lobos wird erzählt, dass er schon als Kind um 1900 Bachs Klavierwerke bei seiner Tante Zizinha, einer Pianistin, hörte, ohne dass überliefert ist, wie sie zu ihrer Bach-Verehrung kam (vgl. Mariz 1983: 25). Der junge Villa-Lobos zeigte zunächst mehr Interesse an der populären Musik seiner Landsleute, reiste durch das riesige Land und spielte in Kinosälen, um Geld zu verdienen. Er verdankte seine Entdeckung dem reisenden europäischen Pianisten Artur Rubinstein und lebte mithilfe von dessen Förderung seit 1923 überwiegend in Paris, wo er der Rückkehr zu klassischen Formen und speziell zu Bach bei Komponisten wie Igor Strawinsky, Paul Hindemith oder Darius Milhaud beiwohnte (vgl. Tarasti 1995: 47ff., 169ff.). Nach der Rückkehr nach Brasilien wurde Villa-Lobos selbst zum bekanntesten Kombinierer von Volksmusik mit bachschen Formen in seinen neun Bachianas Brasileiras (1930-1945) und bezog sich in seinem Wirken regelmäßig auf Bach als universelle Quelle der Musik aller Nationen (vgl. Villa-Lobos 1965: 143). Seine Kompositionen wirkten in Brasilien nicht nur identitätsbildend, sondern zählen auch in Europa zu den bekanntesten lateinamerikanischen Werken überhaupt. Dass sie Bach im Titel tragen, hilft dem Rücktransfer marketingtechnisch, denn an der Oberfläche klingen sie primär brasilianisch – und je nach Interpretation eher romantisch als barock. Der Verweis auf Villa-Lobos’ Bach-Adaption fehlt nie, wenn heute Bachs Musik in Brasilien reflektiert wird. Zum 250. Todestag erschien die CD Bach in Brazil (2000), auf der bekannte Instrumentalstücke von Bach für Zupfinstrumente neu arrangiert und mit brasilianischem Choro sowie Jazz-Elementen gemischt wurden. Das Ensemble Camerata Brasil unter der Leitung von Henrique Cazes interpretiert in der Bearbeitung des Doppelkonzerts für zwei Violinen in d-Moll (BWV 1042) beispielsweise bachsche Sechzehntel-Reihen im Stil des Choro mit spezieller Betonung und Phrasierung. Tiago de Oliveira Pinto vermutet, dass dieses microtiming aus der Musikwelt Rio de Janeiros wohl auch schon Villa-Lobos auf die Musik Bachs übertrug, was in der bekannten Aria aus den Bachianas Brasileiras No. 5 in den Noten sichtbar und noch mehr in der genannten Einspielung der Camerata Brasil ohrenfällig sei: Die Notation und Besetzung dieser Aria für Violoncelli und Gesangsstimme gehöre zwar in die Welt der klassischen Musik, doch würden berühmte europäische oder nordamerikanische Interpreten das eigentliche Charakteristikum der Komposition verkennen. Nur wirkliche Choro-Musiker könnten nämlich das microtiming im Sinne von Villa-Lobos korrekt ausführen (vgl. Oliveira Pinto 2012: 264f.). Indem sie es zusätzlich »brasilianisch« mit Sopransaxofon, Mandoline und Zupfinstrumenten statt der Celli instrumentieren, tritt der ursprüngliche Choro-Bezug wieder deutlich hervor. Oliveira Pinto ist allerdings zu entgegnen, dass die Aria auch in den kritisierten klassischen, nicht-brasilianischen Interpretationen weltweit beliebt ist und gerade in der Vielfalt der möglichen musikalischen Interpretationen vielleicht ihre besondere Genialität liegt. Die CD Bach in Brazil endet wie Carpenters All You Need Is Love mit einer Fassung der F-Dur-Invention (BWV 779). Der Griff nach diesem Schlussstück könnte in seiner Bekanntheit liegen, da die Invention im Klavierunterricht besonders gro-
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ße Verbreitung hat. Auch der schon erwähnte Jacques Loussier nahm diese Invention in einer Play Bach-Fassung auf. Das Arrangement von Leandro Braga gestattet sich im Vergleich zu Carpenter und Loussier jedoch noch größere Eingriffe und ein stärkeres Ineinandergreifen von Original und Bearbeitung: Nach den ersten elf Takten durch das Zupforchester folgt ein Intermezzo von Kontrabass und Klavier mit Jazz-Elementen, danach beginnt die Invention erneut von vorn, einzelne Phrasen wandern jetzt durch das Zupfensemble, ab Takt 12 übernimmt das Klavier, dann wieder die Saiteninstrumente, Harmonien werden auf den Schwerpunkten orchestral verstärkt. Diese Instrumentation ermöglicht dynamische Abstufungen und eine Steigerung, die auf einem einzelnen Instrument mit einer oder wenigen Klangfarben wie dem Klavier oder dem Cembalo nicht möglich wären. Instrument und Klangfarbe, Artikulation und Brechung des Originals sowie improvisatorisches Weiterspinnen machen die Übersetzung aus. Ähnliche Verfahrensweisen finden sich in der Filmmusik der deutschen Komödie Bach in Brazil (2015), die – natürlich – einen Verweis auf Villa-Lobos’ BachRezeption enthält. Die Produktion nimmt einen sich zwar geografisch, aber vorerst nicht mental bewegenden Musiker ordentlich aufs Korn und zeigt, wie kurios musikalisches Handeln wirkt, wenn ein Nachdenken über die kulturelle Differenz ausbleibt: Der deutsche Musiklehrer Marten, aufgewachsen in den 1950er-Jahren, liebt Bach und spielt dessen Melodien – skurril genug – in Bearbeitungen auf dem Euphonium. In der aktuellen Musikfestivalszene, welche die historische Aufführungspraxis auf Instrumenten des 18. Jahrhunderts und in entsprechender Stimmung favorisiert, hat er darum keine Chance. Nach dem Tod eines Freundes aus Kindheitstagen reist er überstürzt und unvorbereitet nach Brasilien, wo er eine Handschrift bachscher Musik erbt, er wird jedoch überfallen und beraubt. Bei dem Versuch, sein Hab und Gut mitsamt dem wertvollen Musikstück zurückzuerhalten, gerät er in die Rolle eines Musiklehrers für straffällig gewordene brasilianische Straßenkinder. Zunächst versucht er ihnen im Gesangsunterricht deutsche Notennamen beizubringen und beginnt mit dem Choral Wachet auf, ruft uns die Stimme, was aufgrund der mangelnden Sprach- und Notenkenntnisse der Kinder urkomisch erscheint. Erst von dem Moment an, in dem er eine Bach-Bearbeitung auf der Straße hört und sich selbst für die brasilianische Kultur, die musikalischen Talente der Kinder und die Sprache öffnet, gelingt überhaupt etwas, ja entsteht sogar etwas Neues. Die Komponisten der Filmmusik arrangieren dafür – ähnlich wie auf der vorgestellten CD Bach in Brazil, wenngleich aus vorwiegend deutscher Perspektive – bachsche Themen und kombinieren verschiedene Werke mit SambaRhythmen. Natürlich ist dabei manches von den Drehbuchautoren Ansgar Ahlers und Soeren Menning so konstruiert und überzeichnet, dass der Eindruck entsteht, erst die brasilianischen Kinder würden Bachs Musik in der Verknüpfung mit Samba mit Leben erfüllen und Marten musikalisch belehren. Wie auch immer man diesen amüsanten, manchmal auch träumerischen Blick bewerten möchte, spiegelt der Film doch, wie musikalisches Material aus einer Kultur auf eine andere trifft und dort erst übersetzt werden muss, um als Hybrid erfahr- und verstehbar zu werden. Räume, in denen solche Übersetzungen stattfinden, sind reale Regionen und Städte, Bildungs- und Kulturinstitutionen, aber auch Medien und virtuelle Welten.
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4. E ine peruanische M elodie in nord - und südamerik anischer sowie europäischer A dap tion War und ist die Beschäftigung mit der Musik Johann Sebastian Bachs heute wie vor 200 Jahren meist an die notierten Werke und deren Interpreten gebunden, profitierten Transferprozesse seit dem 20. Jahrhundert auch von der Tonaufzeichnung und den Massenmedien als Katalysatoren. Im 21. Jahrhundert beschleunigt die digitale Welt die Verbreitung von Hits durch Online-Klicks und Reproduktionen, wie etwa in verschiedene Kanäle hochgeladene Cover. Theoretisch wird die physische Bewegung von Musikschaffenden, Komponisten und Interpreten dadurch weniger notwendig. Allerdings wird die Bindung besonders von Liedern an bestimmte Interpreten trotz dieser technischen Veränderungen häufig nicht aufgehoben. Die Bewegung der Musizierenden in neue Räume – und seien diese nur virtuell oder kommerziell – kontextualisiert auch ihre Musik neu: Der Interpret wählt den Auftrittsort, lässt sich von Altem oder Neuem inspirieren, nutzt ein Medium und schleust damit »seine« Musik in neue Räume ein: in Sprachräume, Klangräume, Rezeptionsräume. Um diese These zu erklären, sei ein Beispiel gegeben, bei dem transkulturelle und transmediale Vorgänge konvergieren. Das Duo Simon and Garfunkel veröffentlichte auf seiner LP Bridge Over Troubled Water (1970) den Song If I Could, der ein internationaler Hit wurde und bis heute tausendfach nachgespielt worden ist. Dabei handelt es sich um ein Cover des Liedes El cóndor pasa. Die Geschichte dieses Liedes begann vor über einhundert Jahren in Peru und ist hinsichtlich der Entstehung und Urheberrechtslage gründlich aufgearbeitet worden (Salazar Mejía 2013): Selbst Neutextierung und Komposition auf der Grundlage eines peruanischen Volkslieds, war El cóndor pasa aus der Hand von Daniel Alomía Robles erstmals 1913 als Zarzuela im Theater in Lima zu hören. Der Komponist lebte von 1919 bis 1933 jedoch in den USA, wo Fassungen für Militärbands und Klavier von El cóndor pasa aufgenommen und urheberrechtlich geschützt wurden. Auf welchen Wegen die Melodie nach dem Tod von Alomía Robles 1942 Eingang in das Repertoire anderer lateinamerikanischer Musiker fand, ist nicht abschließend geklärt (vgl. Salazar Mejía 2013: 148). Mitte der 1950er-Jahre erlangte sie neue Popularität unter den lateinamerikanischen Einwanderern in Paris, wo sich zum Beispiel die Gruppen Conjunto Achalay und Los Incas gründeten.2 Achalay veröffentlichten 1958 auf ihrer LP Musique indienne des Andes eine Version von El condor paso (sic!) ohne Nennung eines Autors, Los Incas eine weitere 1963 auf ihrer LP Amérique du Sud in der Plattenreihe Voyages autour du monde (Philipps). Hier wurde als Arrangeur »J.M. Inca« genannt, hinter dem sich der Argentinier Jorge Milchberg verbirgt. Er war ursprünglich Pianist und in Buenos Aires zuvor in Avantgardekreisen aufgetreten (Richter-Ibáñez 2014); erst nach seiner Emigration nach Paris avancierte er zu einem Charango-Virtuosen und Folkloremusiker, stieß zur schon bestehenden Gruppe Los Incas und wurde deren Leiter und Arrangeur, als der er heute bekannt ist. Unter dem Eindruck des politischen Wandels in Kuba und besonders nach dem Tode Ché Guevaras entwickelten Europäer und Nordamerikaner ein immer stärkeres Interesse an Lateinamerika. In diesem Kontext hörte auch der US-amerikanische Musiker Paul Simon (geb. 1941) die instrumentale 2 | Zur Entstehung, den Mitgliedern und einer Diskografie von Los Incas finden sich die meisten Informationen auf einem Blog im Internet (Andere Quellen: Nr. 4).
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Fassung des Liedes von Los Incas und coverte es gemeinsam mit der Gruppe noch einmal. Das zu dieser Zeit bereits erfolgreiche Duo Simon and Garfunkel nahm das Lied El cóndor pasa mit dem neuen englischen Text If I Could schließlich in ihr fünftes Album auf. Die Mitwirkung von Los Incas sorgte für die Prise Exotik; die erfolgreiche Medienplatzierung machte das Lied international bekannt. Milchberg wird landläufig vorgeworfen, dass er mit dem Arrangement von El cóndor pasa eine Urheberrechtsverletzung begangen habe, die mit der wachsenden Bekanntheit des Themas durch Paul Simons Cover weitere juristische Folgen nach sich zog. Allerdings gab Milchberg im Druck seines Arrangements beim Pariser Verlag Tutti 1964 durchaus noch Robles als Autor und dessen amerikanischen Verlag als Rechteinhaber an; erst auf der Platte von Simon and Garfunkel fehlte dieser Hinweis (vgl. Salazar Mejía 2013: 149f.). Das Beispiel zeigt, dass mehrfache Wanderungsbewegungen und Übersetzungsleistungen hinter dem Erfolg von El cóndor pasa stehen. Paul Simons Version ist zum einen nicht denkbar ohne die Wanderung unzähliger lateinamerikanischer Musiker, zuerst wie Robles nach Nordamerika, dann wie Milchberg und andere in den 1950er-Jahren nach Paris. Zum anderen wurde die ursprüngliche Orchesterkomposition an verschiedene Besetzungen angepasst und strukturell verändert: Zunächst in den USA für Militärkapelle und Klavier arrangiert, wurde sie in lateinamerikanischen Ländern und dann in Paris mit folkloristischen Instrumenten interpretiert und von Simon schließlich mit einem Text versehen, neu kontextualisiert und internationalisiert (vgl. Salazar Mejía 2013: 31f.). Diese Fassung von Simon and Garfunkel ist heute diejenige, die am häufigsten nachgespielt wird, auch wenn der Text wieder in den Hintergrund getreten ist. Möglicherweise sind es die zehn Töne des Motivs, die Luis Salazar Mejía bereits für die Entstehungszeit angesichts ihrer Anschlussfähigkeit analysiert hat (vgl. Salazar Mejía 2013: 21ff.), und die noch immer dazu führen, dass das Stück weltweit Anklang findet. Offensichtlich ist an diesem Beispiel, dass die kommerziell bereits erfolgreichen Interpreten mit ihrem Zugang zu einem großen Markt für die Verbreitung des Songs eine entscheidende Rolle spielten. Ähnliche Beispiele ließen sich in vielen anderen Situationen finden. Dies mag mit Blick auf die populäre Musik nach wie vor oft negativ konnotiert sein, prägte aber auch frühere Jahrhunderte. So verdankt das weltweit bekannte und mehrfach übersetzte Weihnachtslied Stille Nacht seinen Erfolg der »professionelle[n] Bearbeitung und kommerzielle[n] Verbreitung […] durch Tiroler Sängergruppen« (Grunewald 2011: 95) im 19. Jahrhundert, die die Herkunft des Liedes aus dem Salzburger Raum und die wahren Urheber verschwiegen.
5. E rkenntnisse : D ie R olle der V ermit tler Während das Lesen originaler historischer Werke und die Betrachtung eines Bildes individuelle Handlungen sind und jeder Rezipient direkt Bezüge zu seinem Erkenntnishorizont herstellt, ist die Neuinterpretation von Musik häufig sowohl intertextuelles als auch transkulturelles und transmediales Handeln und am ehesten der sprachlichen Übersetzung von Literatur oder deren Darstellung auf der Bühne vergleichbar. Daher nehmen in der Musik die Interpreten eine besondere Vermittlungsrolle ein, da Musik sonst nicht erklingen könnte und nicht gehört
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würde. Die Wahl der hier gegebenen lateinamerikanischen Beispiele verdeutlicht diesen Prozess anhand einer geografischen, sprachlichen und kulturellen Differenz, welche die Notwendigkeit des kulturellen Übersetzens und einer Neukontextualisierung deutlich hervortreten lässt. Zudem ist signifikant, dass die neuen musikalischen Produkte medienwirksam vermarktet werden, musikalische Interpretation daher oft nicht losgelöst von sprachlicher, biografischer, filmischer oder sonstiger medialer Translation betrachtet werden sollte. Die Reflexion transkultureller Prägungen im eigenen Leben und in demjenigen der Zuhörer ermöglicht musikalischen Vermittlern dreierlei: erstens den eigenen Standpunkt als Übersetzer unterschiedlichster musikalischer Einflüsse und Traditionen klarer zu sehen, zweitens die Zielgruppe genauer wahrzunehmen, die ihrerseits transkulturell konstituiert ist – dies nicht zuletzt in den modernen Migrationsgesellschaften des 21. Jahrhunderts –, und drittens die musikalischen Produkte entweder besser an mögliche Schnittstellen anzupassen oder aber Differenz zusätzlich zu betonen und künstlerisch zu bearbeiten. Oft tun Künstler dies ohnehin bewusst oder unbewusst, doch das Management heutiger Musikdarbietungen kann diesen Diskursen zusätzlich Raum geben, sie anstoßen und fördern – immer wieder und wieder.
L iter atur Primärquellen Cameron Carpenter (2016): All You Need Is Love, Sony (LC 06868). Camerata Brazil (2000): Bach in Brazil, Emi (LC 6646). Simon and Garfunkel (1970): Bridge Over Troubled Water, Columbia (CS 9914). Los Incas (1963): Amérique du Sud, Philips (Voyages autour du monde, 842.101 PY). Musique indienne des Andes interprètée par l’ensemble Achalay (1958), BAM (LD 349).
Sekundärliteratur Behne, Klaus-Ernst (2007): Aspekte einer Sozialpsychologie des Musikgeschmacks. In: De la Motte-Haber/Neuhoff (Hg.) (2007), S. 418-437. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur (Stauffenburg Discussion, Bd. 5), Tübingen. Binas-Preisendörfer, Susanne/Melanie Unseld (Hg.) (2012): Transkulturalität und Musikvermittlung. Möglichkeiten und Herausforderungen in Forschung, Kulturpolitik und musikpädagogischer Praxis. Unter Mitarbeit von Sophie Arenhövel (Musik und Gesellschaft, Bd. 33), Frankfurt a.M. Borchard, Beatrix (2016): Musik(vermittlung) und Gender(forschung) im Internet – ein erstes Resümee. In: Borchard, Beatrix u.a. (Hg.) (2016): Musik(vermittlung) und Gender(forschung) im Internet. Perspektiven einer anderen Musikgeschichtsschreibung, Hildesheim, S. 3-20. De la Motte-Haber, Helga/Hans Neuhoff (Hg.) (2007): Musiksoziologie (Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Bd. 4), Laaber.
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1. Ü berse t zer z wischen O st und W est Walter Benjamins Überlegungen zur Aufgabe des Übersetzers sind für die Translations- und Kulturwissenschaften bis heute von Bedeutung. Werden Inhalte von einer Sprache in eine andere übertragen, kommt es nie zu einer vollständigen Identität von Original und Übersetzung (Benjamin 1923/1969). An diese Überlegungen knüpft der vorliegende Beitrag an, indem er das Leben und Wirken des osmanischen Reformers Osman Hamdi Bey (1842-1910) im Kontext sogenannter Okzidentalisierungsprozesse im späten Osmanischen Reich beleuchtet. Es soll gezeigt werden, wie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Ost und West eine Kunst und auch ein Kunstbetrieb entwickelten, die einander wahr- und aufeinander Bezug nahmen. Osman Hamdi Bey, Gründer der Istanbuler Kunstakademie und späterer Direktor des Archäologischen Museums, kann in diesem Diskurs als ein wichtiger Mittler zwischen den Kulturen und auch als kultureller Übersetzer verstanden werden. Doris Bachmann-Medick, die den Translationsvorgang als lebensweltlich kulturelle Praxis beschreibt (vgl. Bachmann-Medick 2011: 455), macht deutlich, was auch am Beispiel Hamdi Beys im kunstwissenschaftlichen Diskurs interessiert: Es lohnt, einen kritischen Blick auf die Formen der Repräsentation und Rezeption künstlerisch-ästhetischer Praktiken zu werfen, die sich bei der Anverwandlung im zu beschreibenden Kulturaustausch vollziehen. Eine Aneignung der westlichen darstellerischen und konzeptionellen Praktiken ist im 19. Jahrhundert mit der Zunahme längerer Künstleraufenthalte von osmanischen Künstlern im Westen feststellbar: So wurden beispielsweise das europäische Tafelbild und die Skulptur als Gattungen in die osmanisch-türkischen Künste eingeführt. Neben der formalen Übernahme waren dabei vor allem gattungsspezifische und themengebundene Merkmale interessant. Die Nachahmung westlicher Kunstgattungen stieß allerdings auch an Grenzen eigener Ausdrucksmöglichkeiten, was zu Anverwandlungen und Hybridisierungen führte. Ebenso stellte die Übertragung von Inhalten aus einem kulturellen Kontext in den anderen die Künstler vor besondere hermeneutische Herausforderungen, die in manchen Fällen zu Fehl- oder Neuinterpretation führten. Stilistisch schöpften sie für diese »Übersetzungen« aus einer Vielzahl an heimischen visuellen Repräsentationsformen wie geometrischen Kachelmosaiken (girih), Kalligrafie-Variationen und
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Wandmalereien mit Landschaften und Stilleben. Im höfischen Kontext hatte sich zudem das Herrscherporträt als imperiale Bildstrategie etabliert. So beschäftigte der Sultan neben den osmanischen Miniaturmalern (nakkaş) zunehmend auch nicht-muslimische Osmanen als Künstler (gayri müslim), wie etwa die armenischstämmige Manas-Familie, die den Hof mit Porträtarbeiten in Form von Gemälden oder Miniaturen auf Gegenständen (Medaillen, Schatullen) belieferten (Altınoba 2017). An diese Situation knüpft der Beitrag an, wenn er zunächst in einem monografischen Teil den Künstler und Kunstvermittler Hamdi Bey als Person vorstellt. Es folgt eine Analyse der Folgen und Verflechtungen seines institutionellen Amtes für die eigene und die fremde Kulturreflexion. In einem vierten und letzten Abschnitt werden die genannten Aspekte mit dem Begriff der Translation in Verbindung gebracht.
2. A k ademischer O rientalismus : O sman H amdi B e y in Paris Osman Hamdi Bey, 1842 in Istanbul geboren, war der Sohn von İbrahim Eldem Paşa, einem osmanischen Staatsfunktionär griechischer Herkunft. Nach seinem Studienabschluss der Rechte an der Mekteb-i Maarif-i Adliye im Jahr 1856 verbrachte er einige Zeit in Paris, um sich weiterzubilden. Bei seiner Ankunft in Paris war Osman Hamdi 15 Jahre alt: Er, der aus einer bildungsnahen Familie der Istanbuler Oberschicht stammte und sehr gut Französisch sprach, muss recht schnell Zugang zur dort gezeigten Kunst gefunden haben, die er mit großer Wahrscheinlichkeit in den damaligen Ausstellungen und Museen sah. Der junge Osman Hamdi meldete sich für die Kurse an der ÉcBA Paris an und studierte Archäologie und Malerei, letztere bei Gustave Boulanger und Jean-Léon Gérôme. Die Kunsthistoriker Mustafa Cezar und Ferit Edgü gehen von hunderten Zeichnungen, Skizzen sowie einigen wenigen Lithografien aus, die in diesen Lehrjahren entstanden und von denen der Künstler selbst nur wenige aufbewahren konnte (vgl. Cezar/Edgü 1986: 8). Beim Betrachten der Blätter fällt auf, dass die Figuren plastisch ausgearbeitet sind. Gerade darin unterscheiden sich diese Darstellungen von den bekannteren, später in Istanbul entstandenen »orientalistischen« Gemälden (vgl. Cezar/Edgü 1986: 8), in denen die Figuren eher wie Staffagen vor einem ornamental-flächigen Hintergrund wirken. Die Vermutung liegt nahe, dass der Maler hier noch als Schüler auf der Suche nach seinem eigenen Stil war, dass er jedoch die wesentlichen Elemente seiner akademischen Ausbildung bereits verinnerlicht hatte. Nur kurze Zeit später, im Jahr 1867, nahm Osman Hamdi mit drei Genrebildern an der Pariser Weltausstellung teil, die in den Ateliers der französischen Orientalistenmaler entstanden waren: Rast der Zigeuner, Ein Soldat hält liegend Wache und Tod eines Soldaten (vgl. Shaw 2011: 50). Wie die Titel dieser verschollenen Gemälde vermuten lassen, stellten sie einen Bezug zum Stil seiner Lehrer Gérôme und Boulanger her, weshalb der künstlerische Reifeprozess zunächst unter den Gesichtspunkten des technischen Könnens und des thematischen Einflusses der französischen Orientalistenschule zu werten ist. Laut Shaw besteht kein Zweifel daran, dass Gérôme seinen Schüler im Atelier persönlich aufgefordert hat, den Orient vom nativen Standpunkt eines Einheimischen aus bildnerisch darzustellen. Darüber hinaus soll der osmanische Schüler auch Modell für ein orientalistisches Gemälde seines Lehrers Boulanger gestanden haben (vgl. Shaw 2011: 67). Bevor Os-
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man Hamdi also selbst künstlerisch tätig wurde, diente er »weiße[n] Blicke[n]« als Charakterstudie (Hölz u.a. 2004). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass der Pariser Salon, noch bevor er dessen Werke erblickte, den Maler selbst als Bildobjekt in einem Gemälde des Orientalistenkünstlers Gérôme zu Gesicht bekam. Die erste Bekanntschaft mit dem Orientbild des Westens machte Osman Hamdi somit in Paris. Vielleicht war es ein Moment kultureller Differenz (SchmidtLinsenhoff 2002), das er damals verspürte und das ihn erkennen ließ, dass er als Maler aus dem sogenannten Orient wohl besser in der Lage sei, seinen eigenen Herkunftsort darzustellen.1 Nicht anders muss es den muslimischen Besuchern – höhere Beamte, Funktionäre oder Staatsoberhäupter – während ihrer Europareisen ergangen sein, denen meist eine offizielle Mission zugrunde lag. Ein spektakulärer Programmpunkt war für viele Reisende aus dem Orient in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Besuch einer Weltausstellung. Allein die bereits erwähnte Exposition universelle de Paris im Jahr 1867 bildete für mehr als 6,8 Millionen Besucher und 52.000 Aussteller aus 44 Ländern einen großen Anziehungspunkt; in der Folge sollte sich diese Zahl sogar noch vergrößern (vgl. Wörner 2000: 10). Die exotische Vorstellung des Europäers vom Orientalen wurde insbesondere während der vierten Pariser Weltausstellung im Jahr 1889 durch die von französischen Architekten errichteten Länderpavillons, zu denen Menschen in landestypischer Tracht gehörten, durch die Inszenierung der Rue du Caire (Straße von Kairo) und durch eine Vielzahl ausgestellter Artefakte aus der ganzen Welt perpetuiert. Entsprechend ausführlich berichtet die Architekturhistorikerin Zeynep Çelik über das theatralische ZurSchau-Stellen des Orients in einzelnen Länderpavillons der Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: »Whatever their own motives for visiting the expositions, Muslim sovereigns who attended immediately became part of the display, often as the major attraction.« (Çelik 1992: 17) Führt man Çeliks Gedanken weiter, so muss die eigene Integrierung in dieses Ausstellungsdisplay im deleuzeschen Sinne (vgl. Butin 2014: 69-72) zu einer »sensationellen« Erfahrung ihrer exotischen Besucher beigetragen haben.2 Dieser sicherlich seltsame Blickwinkel auf sich selbst wurde für sie zum Anlass einer Auseinandersetzung der besonderen Art – schließlich führte die spezifische, die Identität des Besuchers bestimmende Fremdheitserfahrung zu einer produktiven Handlungsweise. Spätestens mit der Rückkehr in die Heimat galt es, das Gesehene und Erlebte in unterschiedliche Lebensbereiche medial zu transferieren: Whereas official visitors to the fairs brought their lives and cultures to Europe and America, independent travellers in their reports took the expositions to audiences back home. Exposition fever was widespread, and literature on the fairs included travel accounts, newspaper and
1 | Im Jahre 1910 bescheinigte Adolphe Thalasso, der als erster Historiker und Zeitgenosse über die Entwicklung der Malerei im Osmanischen Reich schrieb, Osman Hamdi zumindest mehr Authentizität als den europäischen Orientalisten (vgl. Thalasso 2008: 38; Duben 2007: 42). 2 | Deleuze verwendet den Begriff der ›Sensation‹ angesichts der intensiven Bilder des englischen Malers Francis Bacon und deren epistemologischer Wirkung auf den Betrachter (Deleuze 1995).
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Buket Altınoba magazine articles, novels, and even poetry, all in tones ranging from the didactic to the lyrical. (Çelik 1992: 17)
Auch im Falle Osman Hamdi Beys können Themen wie die Fremde, Rückkehr in die Heimat und die dortige Erwartungshaltung unter dem Gesichtspunkt von Zentrum und Peripherie verhandelt werden. Nach seiner Rückkehr widmete er sich zwar zunächst dem Staatsdienst (Vilayeti Umur-ı Ecnebiye Müdüriyeti), den er zwischen 1869 und 1871 leistete und der ihn unter anderem für zwei Jahre nach Bagdad führte. Jedoch war er nur kurze Zeit später erneut im Namen der Kunst unterwegs und trat eine weitere Europareise an. Diese führte ihn 1873 als Ausstellungskommissar im Auftrag des Osmanischen Reiches nach Wien. Sein Vater, der Großwesir, hatte dort den türkischen Pavillon in Auftrag gegeben, für dessen Auf bau sowie für den Transfer der osmanischen Exponate aus dem Regierungsschatz des Sultans Osman Hamdi verantwortlich zeichnete (vgl. Altınoba 2016: 161). Der in diesem Zusammenhang gemeinsam mit seiner späteren Frau, der Französin Marie de Launay (alias Naile Hanım), herausgegebene zweibändige Katalog L’Architecture Ottomane (Usul-i Mimari- yi Osmani) und Les costumes populaires de la Turquie en 1873 (Elbise-yi Osmaniyye) ist insofern interessant, als er auf Französisch, Deutsch und Türkisch erschien. Bezeichnend ist ebenso, dass für die Bebilderung und die Kostümdarstellungen im Band Fotografien von dem in Istanbul ansässigen Studio Sébah verwendet wurden (vgl. Altınoba 2016: 161). Diese Fotografien können selbst als mediale Reproduktion des in der osmanischen Kapitale vorherrschenden Orientalismus gewertet werden. Den Exotismus der Istanbuler Oberschicht und vieler Touristen galt es in Form von Requisiten und Modellen in dekorfreudigen Kostümen in den dort ansässigen Fotoateliers zu bedienen. Ein ähnliches Projekt stellte der in diesem Zusammenhang gemeinsam mit Gustave Mendel publizierte Catalogue des figurines Grècques de terre cuite dar: Seine Bilder zeigten nicht zwingend die Realität des osmanischen Lebens, obgleich sie als solche Abbildungen rezipiert wurden. Ähnlich wie die Reisefotografien, die in europäischen Bildbänden publiziert wurden, trugen sie zur Herausbildung und Prägung von Stereotypen bei und bestärkten eine bereits verschobene Sichtweise auf das Land und seine Menschen. Diese von Linda Nochlin als narrativer Realismus in der orientalistischen Malerei kritisierte Mode nahm Länder wie Nordafrika, Ägypten und die Hauptstadt des Osmanischen Reiches sowie andere islamisch geprägte Länder in ihr Blickfeld auf (vgl. Nochlin 1983: 37f.). Die jeweils landestypische Tradition, Kleidung und Dekoration übte einen besonderen Reiz auf die Maler aus, die bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch romantisch oder neoklassizistisch gemalt hatten3, was Osman Hamdi sowohl in den französischen Künstlerateliers als auch auf den europäischen Weltausstellungen zu sehen bekam.
3 | Nochlin erklärt den Orientalismus jedoch als eine Gattung, die nicht vollständig losgelöst werden kann aus der akademischen Praxis, weshalb sie Gegenstand für ähnliche Kritiken sei (Nochlin 1983).
Der Maler Osman Hamdi Bey und die Translation der westlichen Moderne
Abb. 1: Osman Hamdi: Debattierende Hodschas vor der Moschee, 1908-10, Öl auf Leinwand, Staatliches Gemälde- und Skulpturenmuseum Istanbul. Foto: Renda u.a. (1989), Bd. 4: 116
Allerdings sollten Osman Hamdi Beys Orientszenen im Zuge der Neuordnung im eigenen Land (Tanzimât) von diesem Mainstream-Orientalismus abweichen, insbesondere unter thematischen Gesichtspunkten. Zur Erhaltung des Patrimoniums strebten die Reformer im Land eine Verbindung von europäischem Denken und islamischer Tradition an, und so praktizierte auch Osman Hamdi die in Paris erlernte Malerei mit dem Ziel, europäische Orientalismus-Tropen, die Gewalt, Despotismus, Harem oder Hamam-Erotik reproduzierten, zugunsten einer positiveren Sichtweise des Islam im Stil der Orientmalerei zu unterwandern: The late nineteenth- early twentieth-century Ottoman painter Osman Hamdi, whose artistic career centers on speaking back to Orientalism. His response takes place within the very norms and artistic format of the school he addresses his critique to. (Çelik 2002: 21)
Osman Hamdi Beys Malerei kann als eine kritische Antwort auf die in Europa vorherrschende Idee vom Orient gewertet werden. Vor allem durch die Auswahl seiner Bildmotive machte er seine kritische Haltung nach außen hin deutlich und wehrte sich gegen die in dieser Zeit gängige Stereotypisierung des Orients, die sich in Bildthemen wie religiösem Fanatismus, sinnlichen Exzessen oder kriegerischer Gewalt offenbarte. Im Gegensatz zu seinen orientalistischen Malerkollegen im Westen
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stellte Osman Hamdi Bey die Religion des Islam als eine Förderin der intellektuellen Wissbegierde dar, die zu Diskussion, Debatte, aber auch Kritik anregte, wie in dem Gemälde Debattierende Hodjas vor der Moschee (1908-1910, Istanbul; Abb. 1). So kann die aufrechte Körperhaltung der drei dargestellten Imame, die hier vor einer bis ins Detail sorgfältig ausgearbeiteten Architektur platziert sind, als Ausdruck ihrer menschlichen Würde interpretiert werden. Dabei folgte der »östliche Orientalist« (Mackenzie 1995: 61) mit seinem Naturalismus, der Detailgenauigkeit und den narrativen Elementen dem westlichen Akademismus: Er führte die ersten großformatigen Figurenkompositionen in die osmanisch-türkische Malerei ein (vgl. Altınoba 2016: 161) und begründete die akademische Gattung des Porträts, die sich bis dahin ausschließlich auf den Hof konzentriert hatte. Repräsentative Herrscherbildnisse waren über einen langen Zeitraum bei nichtmuslimischen Künstlern, die im osmanischen Istanbul ansässig waren, sogenannten gayri müslim, in Auftrag gegeben worden, ebenso bei ausländischen Hofmalern und ihren Werkstätten (etwa der Veronese-Schule im 16. Jahrhundert). In Gemälden wie Der Waffenhändler porträtierte sich Osman Hamdi in einer Genreszene selbst (Abb. 2), in anderen Arbeiten zeigte er seine Frau, Naile Hanım, in der italienischen Tradition des Halbprofils vor einem goldfarbenen Hintergrund. Letztere malte er naturalistisch, bezog sich allerdings durch den Einsatz von Blattgold auf das byzantinische Erbe der osmanischen Kultur. Osman Hamdi ging jedoch noch einen Schritt weiter, nicht zuletzt, weil auch der Wunsch nach einer kulturellen Verortung in der abendländischen Tradition aus einem Selbstvergleich der osmanischen Reformer mit den europäischen Industriestaaten und ihren Errungenschaften resultierte. In einer Reihe von Gemälden, die Moscheetore zeigen, machte er mit der Darstellung von Gebetshäusern nicht nur seine islamisch geprägte Umwelt zum Thema, sondern benutzte die traditionelle Architektur auch als Kontrastfolie, um auf die tiefgreifenden Modernisierungsprozesse in seinem Land aufmerksam zu machen. Dementsprechend stellen in dem 1891 entstandenen Bild Vor dem Eingang der Moschee (Cami Kapısında) die europäisch gekleideten Figuren (insbesondere die Frauen) auf den Stufen vor dem Portal der Moschee die gesellschaftliche Vielfalt in der damaligen Metropole dar. Sie lassen eine intellektuelle Auseinandersetzung des Künstlers mit sozialtheoretischen Texten vermuten. Das neue Menschen- beziehungsweise Frauenbild wird hingegen in dem aufsehenerregenden und mittlerweile verschollenen Gemälde La Genèse (Tekvin, auch Yaradılış) nachvollziehbar, das im Jahr seiner Entstehung 1901 in Berlin und zwei Jahre später in London auf der Summer Exhibition der Royal Academy of Arts ausgestellt wurde.4 Die später von Kunstkritikern als Verunglimpfung5 problematisierte Darstellung einer Frau mit tiefem Dekolleté, die mit dem Rücken zur Gebetsrichtung in einer Nische (Mihrab) auf einem Haufen von aufgeschlagenen Koranbüchern thront, verweist – unter Berücksichtigung der ikonografischen Elemente im Bild – auf die damaligen Modernisierungsbestrebungen im Land (Eldem 2009).
4 | Shaw schreibt, dass es sich hierbei lediglich um eine symbolische Wandlung auf politischer Ebene handelt. Im Alltag änderte sich wenig im Leben der Frauen (vgl. Shaw 2011: 68). 5 | Vgl. die Stellungnahmen von Vasif Kortun (1987), Ipek Duben (1987) und Eldem (2009) in Shaw 2011: 68.
Der Maler Osman Hamdi Bey und die Translation der westlichen Moderne
Abb. 2: Osman Hamdi: Der Waffenhändler, 1908, Öl/Leinwand, Staatliches Gemälde- und Skulpturenmuseum Ankara. Foto: Renda u.a. (1989), Bd. 4: 123
3. H ybridisierung , »S elbstorientalisierung «? D ie A k ademie der S chönen K ünste in I stanbul Das politische Klima in der osmanischen Metropole am Vorabend der Republik ermöglichte auch neue Räume für die Künste. Durch gezielte staatliche Planung und Lenkung trugen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die reformierten militärischen Bildungsinstitutionen auf breiter Ebene zur Förderung der perspektivischen Zeichnung (Kartografie, Schiffsbau etc.), der Fotografie und der Herstellung von druckgrafischen Erzeugnissen bei. Angesichts der fortschreitenden Säkularisierungsprozesse erklärt sich auch, welche Rolle Intellektuelle aus Offiziers- und höheren Beamtenkreisen dabei spielten, dass Strömungen, die in Frankreich, England und Deutschland im 19. Jahrhundert vorherrschten, in die spätosmanische Kultur der Oberschicht Einzug hielten: So konnte sich ab 1891 beispielsweise die westliche Strömung des Realismus in Literatur und bildender Kunst entfalten. Aus diesen militärischen Reihen stammten auch die ersten osmanischen Maler, die ihre Ausbildung zum Teil in Frankreich absolviert hatten, unter ihnen Şeker Ahmet Paşa (1841-1907) oder Süleyman Seyyid (1842-1913): Sie waren wie Osman Hamdi Zeitzeugen umwälzender soziopolitischer Ereignisse, die in Europa zur
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Herausbildung neuer souveräner Staatsformen wie der Troisième République in Frankreich geführt hatten. Mit einem neu geformten Gedankengut, das von den Idealen der Aufklärung und staatsphilosophischen Grundsätzen geprägt war, trugen sie nach ihrer Rückkehr auf unterschiedliche Weise zu den kulturellen Veränderungen in ihrem Land bei. Im Gegensatz zur oben beschriebenen akademischen Ausrichtung der Malerei Osman Hamdis zeigte sich Şeker Ali Ahmet Paşa von dem künstlerischem Anarchismus eines Gustave Courbet beeindruckt. Jedoch blieb dieser Einfluss auf die eigene Malerei bis auf einige wenige Stilelemente, die in die Richtung der Schule von Barbizon verwiesen und die er (auf kluge Weise) mit der östlichen Ästhetik verband, beschränkt (vgl. Duben 2007: 134; Berger 2001: 307). Ali Ahmet stand im Dienste des Sultans, für den er als Künstler, Ausstellungskommissar und Auslandskorrespondent tätig war. Zwar fanden die Reformen im Land auf staatliche Anordnung, also von oben statt, doch bildete sich 1889 an der Kaiserlichen Medizinschule (Mekteb-i Tıbbiye-i Şahane) mit den nationalistisch gesinnten Jungtürken (Machtübernahme 1908), die weitgehend aus den revolutionären Jungosmanen (1865-1876) hervorgegangen waren, eine oppositionelle Bewegung gegen das hamidische Regime (vgl. Mardin 1962: 404). Seyyid, der in Istanbul Zeichenunterricht gab (vgl. Boyar 1948: 42) und sich schon zuvor, während seiner Zeit in Paris, eine neue kritische Sichtweise angeeignet hatte, fühlte sich in seinem Denken sicherlich durch die revoltierenden Jungtürken bestätigt (vgl. Yetik 1940: 69). Für seine rebellische Natur bekannt (Arsal 2000: 66), war Seyyid in seiner Haltung antiautoritärer als Ahmet Ali, der im Namen des Sultans operierte. So spricht Shaw gar von einem Zerwürfnis zwischen den beiden Akteuren, von denen der eine den gesellschaftlichen Aufstieg zum Paşa verzeichnen konnte, während der andere Kunstlehrer an einer Oberschule blieb (vgl. Shaw 2011: 60). Dennoch hatten sie die Gemeinsamkeit, antiakademisch zu sein, und so schufen beide im Gegensatz zu Osman Hamdi keine großformatigen Figurenkompositionen, obwohl vermutlich genau dies von ihnen erwartet wurde. Seyyid, der wie Ahmet Ali Landschaften mit einer Vorliebe für Waldbilder malte, legte einen Schwerpunkt auf die westliche Gattung des Stilllebens, das er mit Motiven wie einheimischen Pflanzen, Früchten oder Artefakten symbolisch auflud, die dem osmanischen Betrachter vertraut waren. Alle zusammen jedoch waren sie verantwortlich für die Übertragung der im Ausland erlernten Malerei in die eigene Bildsprache, die sie dadurch gezielt erweiterten. Im Kontext der Aneignung westlicher Praktiken stellt Shaw, die sich hier auf John Clark bezieht, kritisch fest, dass es dabei nicht um das reine Nachahmen kolonialistisch geprägten Handelns geht. Viel stärker im Vordergrund stehe jener Aspekt, der in der Aneignung westlicher Praktiken »a kind of victory over the imperium, one which is subversive in the long run of the imperium’s claims to cultural dominance over its own styles« sieht (Shaw 2011: 68; vgl. Clark 1998: 24). Dementsprechend erklärt sich auch die Gründung der Kaiserlichen Akademie der Schönen Künste (Mekteb-i Sanâyi-i Nefîse-i Şahâne) im Jahr 1882 als politisches Ereignis, dem die Reformphasen im Land (Tanzimât, 1839) und die Einführung der ersten konstitutionellen Monarchie (Meşrutiyet, 1876) vorangegangen waren: Noch am Vorabend der türkischen Republik erteilte die hamidische Regierung einen Bildungsauftrag, der sich in hohem Maße mit den politischen und ökonomischen Zielen des Staates in der Phase des neuzeitlichen Imperialismus deckte, und mit dem sie an die Erfolge der westlichen Großindustriestaaten anzuknüpfen gedach-
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te. Die ersten Schritte in Richtung einer akademischen Kunstausbildung tat zwar der Staatsmann und Reformer des osmanischen Bildungssystems (Maarif Naziri), Mehmet Tahir Münif Paşa, am 17. September 1874; doch erst mit dem von Osman Hamdi Bey am 4. September 1881 gestellten Antrag zur Gründung einer ersten Kunstakademie in Istanbul wurde das Reformvorhaben realisiert. Mit der Kaiserlichen Kunstakademie, die ab dem Jahr 1883 die Bereiche Architektur, Malerei und Bildhauerei lehrte, ermöglichte Osman Hamdi erstmals die säkulare Ausbildung in den Künsten für den neu geordneten Staat. Bereits im ersten Monat nach Antragstellung hatte er unterhalb des Top-Kapı-Serails ein leer stehendes Gebäude für sein Vorhaben ausfindig gemacht. Mit der Fertigstellung dieses Gebäudes im NeoRenaissance-Stil und der Einrichtung einer Bibliothek, deren Bücher im Dezember 1882 aus Frankreich bestellt worden waren, nahm die Institution am 2. März 1883 den Unterricht nach westlichen Maßstäben mit 8 Lehrern und 20 Schülern auf (vgl. Altınoba 2016: 36). Während es in den führenden Ländern Europas seit mehr als einem Jahrhundert solche künstlerischen Berufsausbildungseinrichtungen gab, stellte diese Hochschule die erste ihrer Art im türkisch-muslimischen Kulturraum dar. Burcu Doğramacı merkt an, dass die »1883 in Istanbul eröffnete[n] ›Sanayi-i Nefîse Mektebi‹« die »einzige Kunstakademie der Türkei und somit der Motor für die künstlerische Entwicklung der Nation« (Doğramacı 2008: 285) gewesen sei, der schließlich auch den Weg für die Gattung der Skulptur ebnete.6 Nicht nur das politische Umfeld hatte in der osmanischen Kapitale einen Raum für die westliche Kunst und deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit geschaffen; auch lokale Agenten, die wie Osman Hamdi eine Ausbildung im Ausland erhalten hatten, verhandelten die neuen kulturellen Ansprüche in Verbindung mit den Anforderungen politischer Identität. Gerade weil es bis zu ihrer Gründung im Osmanischen Staat keine systematische Kunstausbildung gegeben hatte, etablierte sich die Akademie der Schönen Künste im Auftrag des Sultans unter der Federführung des frankophilen Osman Hamdi Bey als ein Pendant zu den französischen Akademien und wurde in kürzester Zeit zu einer wichtigen Stätte nationaler Bildproduktion. Von Beginn an verstand sich die Kaiserliche Kunstakademie, die im Zuge der Nationsbildung später in Staatliche Kunstakademie (und noch viel später in Mimar Sinan Universität der Schönen Künste) umbenannt wurde, als Stätte neuer künstlerischer Ausdrucksmittel, deren Ursprung überwiegend im Kontext der europäischen Kunstgeschichte und Archäologie zu suchen ist. Kein Jahrzehnt nach dieser Gründung, im Jahr 1891, wurde Osman Hamdi zum ersten osmanisch-türkischen Direktor des Imperialen Museums ernannt. Unter seiner Ägide vergrößerte sich die einst kleine Waffen- und Schatzkammer der Sultane zu einer großen Sammlung archäologischer Artefakte, die im Zuge von Geländeerkundungen, wie sie Osman Hamdi Bey im Auftrag der osmanischen Antikenverwaltung in Lykien und der Levante leitete, systematisch zusammengetragen 6 | Auch wenn diesen Ausführungen nichts entgegenzusetzen ist, sei angemerkt, dass insbesondere im Fall der Bildhauerei erst unter dem Reformer Mustafa Kemal Atatürk in der frührepublikanischen Periode (1923-1937) eine konsequente Förderung stattfand. Es mussten erst 40 Jahre vergehen, bis die türkische Gesellschaft Skulpturen im öffentlichen Raum zu Gesicht bekam. Denn obwohl die Kunstakademie 1883 ihre Pforten der Bildhauerei geöffnet hatte, wurde im besagten Zeitraum keine einzige Skulptur an öffentlichen Plätzen aufgestellt (vgl. Erbay 1997: 137).
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wurden.7 Die sachgerechte Erschließung der materiellen Relikte und das Sammeln von Altertümern in den damaligen Gebieten des spätosmanischen Reiches stellte, obwohl sie damals noch in den Kinderschuhen steckte, ein Politikum dar. Ziel war es, das bis dahin von osmanisch-türkischer Seite kaum beachtete klassisch-antike Altertum – und somit die Archäologie als westliche Disziplin – zusammen mit den bis dahin ebenfalls nicht erforschten osmanischen Relikten ins Bewusstsein zu rücken. Im Kontext der Aneignung anatolischer Geschichte und der patriotischen Stimmung ging es nicht nur um die identitätsstiftende Wirkung von Kulturgütern im Land. Vielmehr zielte die Etablierung eines Türkischen Humanismus (Türk Hümanizmi) durch osmanische Intellektuelle, die den Westen unter Bewahrung der eigenen Kultur zur Leitkultur deklariert hatten, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf tiefgreifende gesellschaftliche Modernisierungsprozesse ab. Die Kultivierung des eigenen Erbes praktizierte Osman Hamdi mittels der neuen künstlerischen Praktiken, wodurch er gleichzeitig zur Entstehung einer hybriden Kunst beitrug. Die in den verschiedenen Regionen des damaligen Reiches zutage beförderten Objekte wurden nicht nur in das neu eröffnete Imperiale Museum transferiert, sondern auch als Motive in die Gemälde integriert. Während also Technik und Stil vom westlichen Akademismus zeugten, war deren Inhalt »osmanisch-historisch«. Mit dem ihm eigenen Naturalismus füllte Osman Hamdi zahlreiche Bilder mit autochthonen Gegenständen und Motiven, die das damalige Leben in der osmanischen Hauptstadt realistisch wiedergeben sollten. Gerade weil seine Gemälde sowohl als verdichtende Erfahrung seiner Erinnerung an Orte und Begegnungen als auch seiner Kenntnisse aus französischen Ateliers gewertet werden können, entsprechen sie – um Nochlins Beispiel mit Gérôme anzuwenden – dem narrativen Realismus der Orientalisten. A ›naturalist‹ or ›authenticist‹ artist like Gérôme tries to make us forget his art is really art, both by concealing the evidence of his touch, and, at the same time, by insisting on a plethora of authenticating details, especially on what might be called unnecessary ones. […] Such details, supposedly there to denote the real directly, are actually there simply to signify its presence in the work as a whole. (Nochlin 1983: 38)
Folglich kann eine Rezeption des europäischen Historismus als imperialer Stil konstatiert werden, insofern es sich um eine Form der Vermittlung osmanischer Identität und staatlicher Repräsentation durch die Konstruktion der eigenen Geschichte handelt: »However, his representation of Ottoman identity through the depiction of a timeless past and his realism, grounded in museum objects from various eras and photographs of his models wearing period costumes, also repeats the essentializing tropes of Orientalist painting.« (Shaw 2011: 68) Die translationale Handlung des Malers, Archäologen und Museumsdirektors kann als ein Widerstand gegen ein Denken entlang essenzialistischer Kategorien im Sinne des orientalistischen
7 | Die Relikte, die heute den Hauptbestand der antiken, altorientalischen und islamischen Sammlungen
des Archäologischen Museums in Istanbul bilden, stammen aus dem Taurusgebirge (1883), dem heutigen Libanon/Sidon (1887) und der Südwest-Ägäis/Lagina (18911892) (vgl. Kızıltan 2010: 19).
Der Maler Osman Hamdi Bey und die Translation der westlichen Moderne
Diskurses als »Summe von Aussagen über den Orient«8 verstanden werden. Sie ist gleichsam als ein intellektueller Versuch zu werten, sich in einen Gegendiskurs einzuschreiben. Besonders interessant ist Dubens Feststellung eines solchen Bewusstseins, das sich auch auf formalästhetischer Ebene erkennen lässt, insofern es sich bei der Malerei Osman Hamdis um eine intensive Auseinandersetzung mit der westlichen perspektivischen Darstellung und der tradierten Perspektive osmanischer Miniaturen handelt. Noch vor der modernen Malerei des Fin de Siècle in Europa (Nabis oder Wiener Sezession) kann bei ihm eine malerische Qualität und Raumauffassung konstatiert werden, die sich in der Zusammenführung beider Perspektiven auf der Leinwand ergab (vgl. Duben 2007: 47). Osman Hamdi demonstrierte zum einen seine Kenntnis westlicher Perspektivmalerei, die er en détail beherrschte, zum anderen äußerte er das Bedürfnis, diese auf ontologischer und epistemologischer Ebene um Aspekte der östlichen Rhetorik zu erweitern. Im Falle von Osman Hamdi kam es nicht nur zu einer Amalgamierung unterschiedlich genormter Wertevorstellungen. Vielmehr kann in einem kulturtheoretischen Sinne auch von einer mehrfachen Identitätsbrechung ausgegangen werden, die sich in ein und derselben Person vollzog (vgl. Bachmann-Medick 2011: 455). Entsprechend hatte sich die sinnliche Erfahrung der Räume, Orte und Topografien in der Fremde auf die Wahrnehmung und intellektuelle Arbeit Osman Hamdis ausgewirkt. Aufgrund der Distanz zum Ort, welcher in jenem Moment zur »Heimat« wurde, verstärkte sich die Auseinandersetzung mit der im eigenen Land vorherrschenden künstlerischen Tradition, und es konnte eine neue, kritische Sichtweise eingenommen werden, die bis hin zur »Selbstorientalisierung« führte. Gerade in diesem Zusammenhang ist es wichtig, noch einmal auf die am Vorabend der türkischen Republik vorherrschende Stimmung unter den Kulturschaffenden zu verweisen. Osman Hamdi lebte in einer Zeit der aufgeklärten Denker im Land, die noch vor dem Übergang der spätosmanischen Kultur in die republikanische Gesellschaft zwischen Ost und West, zwischen kaiserlicher Tradition und nationaler Modernisierung standen. Letztere vollzog sich im Zeichen der aufklärerischen Reformdiskurse, die stark vom Wunsch der Osmanen geprägt waren, an den industriellen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritten des Westens teilzuhaben.9 Dabei nahmen vor allem die patriotisch gestimmten Politiker, Funktionäre und Intellektuellen eine Orientalisierung ihrer eigenen Kultur aus westlicher Perspektive wahr. Die eigene, mittlerweile als orientalisch-islamisch aufgefasste Vergangenheit sollte vor allem durch die revolutionären Maßnahmen der Jungtürken zurückgelassen werden, da sie von diesen selbst in vielen Bereichen mit Rückstand, Passivität und Degeneration verbunden wurde. Der Wunsch, sich auf Augenhöhe mit den westlichen Großmächten zu treffen, führte in einzelnen Bereichen dazu, dass eine orientalisierende Sichtweise auf die eigene Kultur durch »Selbstorientalisierung« 8 | Jürgen Osterhammel verweist dabei auf eine über diese Summe hinausgehende »überpersönliche […] und gleichsam transzendentale […] Erkenntnisschranke« des Orientalismusdiskurses (Osterhammel 1997: 599). 9 | Noch bevor die Vertreter der modernen türkischen Republik auf der Bühne erschienen, waren im 19. Jahrhundert die Jungosmanen, aus denen später die Jungtürken hervorgingen, in ihrer säkularen und wissenschaftlichen Haltung der Aufklärung verpflichtet, wie sie in Europa zunächst von den Jakobinern und dem von ihnen eingeleiteten Reformismus ausging (Mardin 1962).
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kompensiert wurde. Dabei wurden insbesondere dem arabischen Anteil in der Kultur Qualitäten abgesprochen, nicht zuletzt, weil die Osmanen, in Analogie zum imperialen Verständnis des Westens, gerade in den arabischen Provinzen ihr eigenes Anderes definierten (Makdisi 2002). Inwiefern dieser Aspekt auch auf das Werk Osman Hamdi Beys zutrifft, kann angesichts der Ergebnisse nur vermutet werden. Zunächst einmal stehen sich bei ihm zwei unterschiedliche Auffassungen komplementär gegenüber. So ist die Darstellung der materiellen Hinterlassenschaften im Bild als Hinweis auf eine glorreiche, islamische Vergangenheit zu werten; sie steht im Gegensatz zur kulturellen Metamorphose mit Blick auf eine moderne Zukunft. Aspekte der modernen Praxis wissenschaftlicher Forschung, westlicher Disziplinen (etwa Archäologie) und der Etablierung von Institutionen (etwa Museen) werden hier mit einer verherrlichten und stark idealisierten Vergangenheit in Verbindung gebracht. In letzter Konsequenz jedoch blieb die Kunst Osman Hamdis im Vergleich mit den von französischen Realisten beeinflussten Offiziersmalern Ahmet Ali und Süleyman Seyyid weniger revolutionär und erfüllte auch nicht im strengeren Sinne die Kategorien des Nationalen. Einerseits kann aufgrund Osman Hamdis entscheidender Rolle als Museumsdirektor und Kunstakademiegründer im spätosmanischen Staat sowie seines eigenen malerischen Schaffens eine »Widerstandshandlung« (BachmannMedick 2011: 455) gegen den orientalistischen Diskurs im Westen konstatiert werden. Andererseits ist zugleich der paradox erscheinende Aspekt der »Selbstorientalisierung« angesichts der erfolgreichen Umsetzung der Reformen im Land zu betonen, womit auf die unterschiedlich wirkenden hegemonialen Effekte innerhalb gesellschaftlicher Strukturen verwiesen wird. Folglich kommt als weitere Ebene, welche sich auf die Übersetzung und die Qualität des Übersetzten beziehungsweise auf dessen Aussage und Botschaft auswirkt, die hierarchische Ebene hinzu, die ein Resultat der vorherrschenden Klassenunterschiede ist. Osman Hamdi Bey kann dementsprechend nicht im Kontext der Subalterität (im Sinne Gramscis) diskursiv verhandelt werden, zumal seine Wurzeln und sein familiärer Hintergrund eine Zugehörigkeit zu Palast und Sultan legitimierten. Auch sah er sich zusammen mit den anderen Stellvertretern der Elitekultur, die sich durch ihre Nähe zu Frankreich und England auszeichneten, in der Verantwortung, die Zivilisierung durch die Begründung der akademischen Kultur auf die Gesellschaft zu übertragen. Die von ihm gegründete und geleitete Kunstakademie, aber auch viele andere säkulare Bildungsinstitutionen in der Türkei können als Resultat dieser Bemühungen verstanden werden. Dabei spielte die französische Sprache eine essenzielle Rolle, da die französischsprachigen Zeitschriften im osmanischen Istanbul über Kunstausstellungen und kulturelle Ereignisse berichteten, was anderen Schichten als den Eliten nur bedingt einen Zugang zum Diskurs ermöglichte. Angesichts dieser Einordnung erklärt sich die ambivalente Rezeption Osman Hamdi Beys in der Republikzeit durch türkische Kunsthistoriker: Sie reicht von decadent (Ahmet Münip Dıranas) über unsullied perspective (Nurullah Berk) bis hin zu expression of national pride (Ipek Duben) (vgl. Shaw 2011: 68).
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4. Tr ansl ation : I nstitutionen als O rte künstlerischer Tr ansferprozesse Die kulturtheoretische Feststellung von Überlappungen und dem Immer-schonÜbersetztsein als Phänomen künstlerischer Transferprozesse erschließt sich im Schaffen des in Paris in Kunst und Archäologie ausgebildeten Osman Hamdi Bey auf besondere Weise. Seine Gemälde können nicht nur als Zuspitzung der Polarisierung von Eigenem und Fremden verstanden werden, sondern darüber hinaus auch als Übersetzungen im Kontext historischer Resonanzen und zeitgenössischer Theorien des Postkolonialen. Ein vollständiges Bild osmanischer und, etwas später, »türkischer« kultureller Identität ergibt sich in letzter Konsequenz erst in der Zusammenschau der vielfältigen Richtungen, die von osmanischen, aber auch levantinischen, griechischen, armenischen und muslimischen Künstlern praktiziert wurden, die im osmanischen Istanbul lebten. Weil das Konzept der Übersetzung im benjaminschen Sinne auch nach Bachmann-Medick eine »nicht-holistische Struktur« (Bachmann-Medick 2011: 453) aufweist, gilt es an dieser Stelle, auf Brüche und Leerstellen in Verbindung mit der Übertragung von der in Europa vorherrschenden Kunstauffassung in die gesellschaftlichen Kreise im späten Osmanenreich zu verweisen. Für Walter Benjamin ergaben sich angesichts der Übersetzungen der Gedichte von Charles Baudelaire ähnliche Herausforderungen, sodass er wie folgt konkludierte: »Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.« (Benjamin 1923/1969: 193) Gerade deshalb muss der Aspekt des Kopierens einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Wie aus den vorangegangenen Ausführungen resultiert, konnte die Übersetzung, verstanden als kulturelle Praktik und Aneignung von Wissensformen, im Falle Osman Hamdis Aspekte der Passivität, die tief im westlichen Diskurs über den Orientalen verankert sind, unterminieren. Osman Hamdi erweiterte die Bildund Formensprache angesichts einer gemeinsamen Vorstellung von der europäischen Moderne, welche sich bestimmt durch die eigene Fremdheitserfahrung veränderte und die spezifische Identität des Künstlers und dessen Wahrnehmung sowie die künstlerische Vorgehensweise betraf. Gerade angesichts der neu angeeigneten westlichen Kulturpraktiken und des Wunsches, sie in den eigenen kulturellen Habitus zu übertragen, galt es, das Erlernte zu interpretieren und neu zu kontextualisieren. Damit reiht sich Osman Hamdi Bey in eine lange Liste von Reisenden oder Migrierenden ein, die ihre in der Ferne angeeignete Weltsicht auf unterschiedliche Handlungsebenen übertrugen und in der Heimat anwendeten. Ihre Praktiken, die in der Folge auch auf die Institutionen übergingen, verankerten sich sodann in der kollektiven Identität. Angesichts der hier zur Debatte gestellten politischen Themen der Modernisierung und des Kapitalismus soll mit Dipesh Chakrabarty aus der postkolonialen Perspektive auf die asymmetrisch verlaufenden Transformationsprozesse der Kulturübersetzung verwiesen werden: »The problem of capitalist modernity cannot any longer be seen simply as a sociological problem of translation, as well.« (Chakrabarty 2000: 17) Ähnlich wie im Europa der Aufklärung kann hier von einer »Monarchisierung gesellschaftlicher Verhältnisse« gesprochen werden (vgl. Held/Schneider 2007: 443). In den Fokus gerieten die damaligen künstlerischen Prozesse durch
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den sich gerade vollziehenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im spätosmanischen Staat. Sie können als Voraussetzung für die Modernisierungs-, Säkularisierungs- und Nationalisierungsprozesse verstanden werden, die in der frührepublikanischen Türkei einen Höhepunkt erlebten. Denn neben der Istanbuler Kunstakademie als »kultureller Kontaktzone« (Bachmann-Medick 2011: 452) und als Ort der Übertragung eines westlich aufgefassten Kunst- und Kulturbegriffs galt es, der spezifischen, die Identität des Malers und Archäologen Osman Hamdis betreffenden künstlerischen Vorgehensweise nachzugehen. Wie sich herausstellte, trug das Wirken Osman Hamdi Beys nicht nur strategisch zur Etablierung moderner säkularer Bildungsstätten bei; ebenso war angesichts der im Kontext der Weltausstellungen konstatierten Ereignisse davon auszugehen, dass imperiale Beauftragte wie Osman Hamdi durch ihr Schaffen im Ausland auch Impulse aus der Heimat an das dortige Umfeld weitergaben. Gerade daran können Schnittmengen zwischen der westlichen und der osmanischen Kultur verdeutlicht werden. Vor dem Hintergrund dieser »Beziehungs- und Kontaktgeschichte« (Bachmann-Medick 2011: 452) können bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kunstsoziologische Bedingungen ausgemacht werden, welche die gesellschaftlichen Veränderungen jener Gruppen betrafen, die Kunst und Künstler unterstützten – zum Beispiel den Hof und die Eliten, aber auch eine zunehmend erstarkende Bürgerschicht. Die aus dem Aufeinandertreffen der Kulturen hervorgegangenen liberalen und säkularen Entwicklungen zogen die Reorganisation intellektueller Handlungen im spätosmanischen Staat nach sich, die sich in der Folge auf unterschiedliche Weise künstlerisch fortsetzten. Das Interesse in der Bevölkerung an der Malereiausbildung war geweckt, wofür erste öffentliche Ausstellungen mit Ölgemälden von ausländischen und osmanischen Künstlern sowie die Tätigkeit kaiserlicher Kunstberater verantwortlich waren. Die Notwendigkeit einer institutionellen Einrichtung zur Lehre von Kunst im Land war von unterschiedlicher Seite, jedoch vor allem vom Staat erkannt worden. Dies schlug sich in der Etablierung der akademischen Lehre von Kunst nieder, was mit der Gründung der Istanbuler Kunstakademie endgültig geschah.
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Der Maler Osman Hamdi Bey und die Translation der westlichen Moderne
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Nam June Paik: Catching up with the West? Institutionelle Bedingungen und Grenzen transkulturell konstituierter Autorschaft Franziska Koch
1. Tr anskulturelle A utorschaf t in F lux (us) Sucht man nach einschlägigen Verbindungen von (post-)modernem Kunstverständnis und transkulturellen Praktiken in der internationalen Kunst der Nachkriegszeit, drängt sich ein Blick auf das Fluxus-Netzwerk und seinen einzigen koreanischen Protagonisten auf, den Künstler Nam June Paik (1932-2006). Der dynamischen Assoziation von mehreren Dutzend Künstlerinnen und Künstlern, die vorwiegend in Westeuropa (unter anderem im Rheinland), den USA (maßgeblich in New York) und in Japan (vor allem in Tokio) agierten, ging es in ihren gemeinschaftlichen und partizipatorischen Aktionen in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem darum, problematische Konventionen der Moderne infrage zu stellen. In dieser Hinsicht knüpfte das Fluxus-Netzwerk an ästhetische und kunsttheoretische Positionen an, wie sie vor allem Dada in den 1930er-Jahren in Europa entwickelt hatte. Dazu gehörte, dass sie singuläre Autorschaft ebenso wie das Verhältnis moderner Kunst zur Gesellschaft kritisierten. Ihre Aktionen unterliefen kreativ viele bürgerliche Institutionen der Kunstrezeption und -kanonisierung, allen voran das Museum mit seinen nationalen Kategorisierungen, hierarchisierenden Gattungsordnungen, seinem statisch-materiellen Begriff vom autonomen (Meister-)Werk und einer geschlechtlich wie ethnisch diskriminierenden Ausstellungspraxis. Fluxus-Künstler vertraten stattdessen eine dynamische, gattungssprengende, aktionistische und prozessuale Praxis ästhetischer Kommunikation mit häufig ephemeren Resultaten, die Kunst und Leben spannungsvoll zusammenbrachte. Vor diesem Hintergrund nimmt der Beitrag den Künstler Nam June Paik in den Fokus, betrachtet exemplarisch seine (Selbst-)Positionierung in der Auseinandersetzung mit den taxonomischen Mechanismen eines Museums und zeigt die institutionellen Bedingungen und Grenzen seiner transkulturellen künstlerischen Strategien auf.1 Eingangs wird die These vertreten, dass Fluxus-Protagonisten der 1960er- und 1970er-Jahre – so wie der in Korea gebürtige, in Japan und Deutsch1 | Der vorliegende Beitrag versteht sich als Teil eines Habilitationsprojekts mit dem Titel The artist works (trans-)culturally: Nam June Paik and other Fluxus artists negotiating colla-
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land studierte und schließlich in die USA migrierte Paik – transkulturelle Künstler avant la lettre waren. Im zweiten Teil des Beitrags wird in diesem Kontext ein sowohl kulturpolitisch als auch institutionell bezeichnender Konflikt des bereits weltweit arrivierten Paik mit dem Guggenheim Museum New York im Jahr 1994 beleuchtet.
2. D er I nternationalismus der F luxus -B e wegung : E uropa , die USA und J apan Besonders charakteristisch für die frühen Aktionen der Fluxus-Aktivisten zu Beginn der 1960er-Jahre sind einige durch die Neue Musik und John Cage inspirierte Fluxus-Partituren, in denen zu einfachen (gemeinschaftlichen) Handlungen aufgerufen wurde; zu ihnen gehören etwa George Brechts Drip Music (1959-1962), in der einer oder mehrere Akteure dafür sorgen sollen, dass »Wasser in ein Behältnis tropft«, oder Yōko Onos Cut Piece (1964), in dem ein Akteur das Publikum auffordert, seine Kleidung mit einer Schere zu zerschneiden. Während diese Aktionen noch auf einer Bühne stattfanden und das Publikum durch (kurze) Provokationen zur Reaktion brachten, luden diverse Fluxus-Objekte, -Boxen und -Mail-Art den Betrachter dazu ein, auch mit den Dingen direkt und kreativ zu interagieren. In der Interaktion konnte sich auch der Betrachter als Teil einer weltweiten FluxusGemeinschaft imaginieren. Ein Beispiel dafür ist Paiks Briefaktion mit dem Titel Monthly Review of University for Avantgarde Hinduism N. J. Paik Fluxus-A (1963) oder sein Klavier Intégral (1963), dessen Tasten er mit Fundstücken wie einem Büstenhalter, Eierschalen, Stacheldraht und Spielzeug manipulierte, sodass beim Spielen beispielsweise eine Glühlampe oder ein Radio angeht beziehungsweise andere verfremdete Töne erklingen (Andere Quellen: Nr. 1).2 Auf seiner ersten Einzelausstellung 1963 in der Galerie Parnass Wuppertal luden derartig »präparierte Klaviere« und andere umfunktionierte Gegenstände viele Besucher zum vergnügten Experimentieren mit der »ausgestellten Musik« ein und verwirklichten so den Ausstellungstitel Exposition of Music – Electronic Television (Neuburger 2009). Sein Mail-Art-Projekt der Monthly Review benötigte hingegen erst gar keinen Ausstellungsraum (Abb. 1). Vielmehr beschrieb Paik den Inhalt dieser Revue in einem ironisch-humorvollen Werbetext. Darin werden eloquent und mehrsprachig Alltägliches und Persönliches mit den schlimmsten Ereignissen der jüngeren Geschichte unvermittelt zusammengebracht, Gattungsgrenzen auf den Kopf gestellt, ein transatlantisches Versandnetz imaginiert und die Fluxus-Publikation für ein Jahresabonnement von »8 Dollars« angepriesen:
borative authorship, gefördert durch das Eliteprogramm für PostdoktorandInnen der BadenWürttemberg Stiftung. 2 | Der kurze Film zeigt Manon-Liu Winter, die eine Eigenkomposition auf Nam June Paiks Klavier Intégral (1958-63) spielt im Museum für Moderne Kunst, Stiftung Ludwig Wien (2009).
Nam June Paik: Catching up with the West?
Abb. 1: Nam June Paik: Vorder- und Rückseite eines Briefumschlags aus der Mail-Art-Serie Monthly Review of University for Avantgarde Hinduism/N. J. Paik/Fluxus A, ca. 1964. Archiv Hanns Sohm, Staatsgalerie Stuttgart, Inventarisierungsnummer: AS 2017/2515. Foto: bpk/Staatsgalerie Stuttgart To the subscriber of the Monthly Review of the University for Avant-Garde Hinduism sometimes comes something by mail. once, or twice, or thrice, you will find a tiny 1 cent coin in a white envelope. or you will be attacked by the bleeding dog’s cadaver via express package … or you will be frightened by a night-telegramme, saying ›good night, Helene!‹ … wer liefert was? who supplies what? qui peut livrer quoi? As Spiegle. Co. in Chicago or Neckerman Versand in Frankfurt FLUXUS macht es moeglich Wir liefern Musik, we supply music, that is, the genuine water from Dukerque, in organic glass bottle, the red earth from Auschwitz in an unbreakable polyethylene tube, or dirty nails of John Cage cut in 1963, or Cortisone bottle of G. Maciunas, or arm-pit hair of a Chicagoan negro prostitute etc. … (Hendricks 1988: 432)
Neben der Multimedialität gilt die Internationalität als Hauptmerkmal des Netzwerks, dessen Rahmendaten in der Forschung unterschiedlich angesetzt werden (vgl. Daniels 1991: 100). Dass Maciunas’ Aufruf »PURGE THE WORLD OF ›EUROPANISM‹!« im Fluxus-Manifest von 1963 durchaus ernst gemeint war, zeigt unter anderem der Einbezug von zahlreichen ostasiatischen, aber auch einigen osteuropäischen Künstlern und einem afroamerikanischen Künstler (vgl. Daniels 1991: 101f.; Künstlerhaus Bethanien 2007; Merewether 2007): So kam der selbstproklamierte »erste Vorsitzende« des Fluxus-Netzwerks George Maciunas (1931-1978) aus Litauen (Berger/Berger 1996), fiel der afroamerikanische Ben Patterson (19342016) als nichtweißer Künstler besonders bei Auftritten in Europa stets ins Auge (Gruhn 2013) und wurden beim Festum Fluxorum 1963 in Düsseldorf neben Paik acht japanische Kollegen auf dem Ankündigungsposter gelistet (vgl. Armstrong 1993: 27). Außerdem beteiligten sich mit Alison Knowles (geb. 1933), vgl. Yōko Ono (geb. 1933), Shigeko Kubota (1937-2015) oder Charlotte Moorman (1933-1991) auch Frauen an Fluxus.3 3 | Der hohe Anteil an Künstlerinnen weist Fluxus als die erste Nachkriegs-Gruppierung aus, der es gelang, die patriarchale Grundstruktur der internationalen Kunstwelt aufzubrechen
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Der Bezug auf die westliche Kritik am Modernismus in der Nachfolge Duchamps einerseits und auf Konzepte aus dem Bereich des Zen-Buddhismus sowie anderer asiatischer philosophischer Traditionen andererseits initiierte einen kulturellen Übersetzungsprozess, der es beiden Seiten – europäischen und amerikanischen ebenso wie asiatischen Künstlern – ermöglichte, an die schon viel weiter zurückgehende, verwobene Geschichte der Avantgarden kritisch anzuknüpfen (Volk 2010; Schieren 2016). Zentrale Grenzgänger, die unter den verschärften ideologischen Grenzziehungen des Kalten Krieges für die aktive Vernetzung von Fluxus zwischen Japan und dem Westen sorgten, waren neben dem japanischen Komponisten Ichiyanagi Toshi (geb. 1933) und seiner Frau Yōko Ono auch der Koreaner Nam June Paik (vgl. Munroe 1994: 218). Innerhalb des Netzwerks der Fluxus-Akteure waren sie besonders transkulturell versierte, dynamische Akteure und Übersetzer, ohne welche die auffällig internationale Ausbreitung von Fluxus nicht möglich gewesen wäre.
3. N am J une Paik : M edienkünstler und K ulturnomade Paradoxerweise ist der auf mehrfache Weise peripher situierte Paik einerseits ein Hauptvertreter der kollaborativen Fluxus-Haltung zu Beginn der 1960er-Jahre gewesen, andererseits ist er als herausragende Einzelgestalt in die Kunstgeschichtsschreibung eingegangen – dies, obwohl auch seine späteren Performances, Multimedia-Projekte und Installationen noch maßgeblich auf Kollaborationen beruhten, die der Künstler selbst deutlich als solche auswies.4 Im Sinne postkolonialer Theorie lässt sich Paiks Position insofern als »peripher« situiertes Subjekt zu verschiedenen, teilweise verknüpften hegemonialen »Zentren« verstehen (vgl. Mishra/ Hodge 1991: 399), als er in den 1950er-Jahren in Japan Musik- und Kunstwissenschaften studierte (1952-1956, mit einer Abschlussarbeit über Arnold Schönberg). Auch dass er nur kurz nach dem Ende der gewaltsamen japanischen Kolonialherrschaft über Korea (1945) im Land der ehemaligen Besatzer lebte, ist ein Indiz für seine periphere Position. Als jüngster Sohn eines wohlhabenden, mit den Japanern kollaborierenden Geschäftsmanns, der Korea 1950 bei Ausbruch des Bürgerkriegs verlassen musste, erlebte Paik in direkter Anschauung die bereits auf vormoderne Zeiten zurückgehenden japanisch-koreanischen Ressentiments und Rassismen, die im Kontext des Kalten Krieges eine neue Komplexität gewannen. Gleichzeitig profitierte er von den Bildungsmöglichkeiten, welche die Vormachtstellung Japans in Ostasien mit sich gebracht hatte. Japan hatte sich 1854 international öffnen müssen, was einen Modernisierungsschub auslöste und dazu führte, dass sich im Land (O’Dell 1997; Stiles 2003). Die Kanonisierung von Fluxus in kunsthistoriografischer, ökonomischer und musealer Hinsicht verdeckte und beschränkte die Wirksamkeit weiblicher und nichtwestlicher Protagonisten jedoch rasch wieder, wie Dorothee Richter in ihrer Studie herausarbeitete (vgl. Richter 2012: 36). 4 | Exemplarisch seien hier Paiks Performances mit der experimentellen Cellistin Charlotte Moorman (seit den 1960er-Jahren), das Coyote III-Konzert mit Joseph Beuys (1984), die Gemeinschaftsarbeit am Videosynthesizer 1969/70 mit Shuya Abe oder seine über SatellitenTV global ausgestrahlte kollaborative Aktion Good Morning, Mr. Orwell (1984) genannt (Paik 1974/2005).
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schon vor den Weltkriegen eine nicht nur an Amerika und Europa, sondern auch eine innerasiatisch ausgerichtete Avantgarde entwickelt hatte. Diese Entwicklung ermöglichte Paik eine graduelle, produktive Integration in die dort wieder auflebenden avantgardistischen Aktivitäten (vor allem 1964). Zum weiteren Musikstudium kam Paik 1956 nach Westdeutschland (München, Freiburg und Köln) und fand sich erneut in einem besiegten Land wieder, das zu dieser Zeit gerade gegen den sogenannten Ostblock ausgebaut wurde. Im Umfeld des Studios für elektronische Musik studierte er bei Karlheinz Stockhausen Komposition und lernte John Cage und La Monte Young bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt kennen, die er von 1958 bis 1963 besuchte. Seine musikalischen Experimente mit Zufallsmechanismen führten ihn schließlich zur Beteiligung an den ersten Fluxus-Konzerten, die George Maciunas im Rheinland organisierte. In diese Zeit fiel auch sein Wandel zum Medienkünstler, der sich mit Fernsehtechnologie auseinanderzusetzen begann und der nach seinem Umzug ins kosmopolitische New York (1964) mit frühen Videoarbeiten debütierte. Daneben ermöglichte es ihm unter anderem seine Professur an der Düsseldorfer Kunstakademie (1979-1996) bis zu seinem Schlaganfall, seine Kunst auch weiterhin transkulturell zu verorten (Andere Quellen: Nr. 2; Paik 1991; Lee 1993; Neuburger 2009; Rennert 2010). Es ist daher nicht verwunderlich, dass zwei Motive die internationale PaikRezeption bestimmen: Zum einen werden seine Leistungen für die Genese der Medienkunst betont, was ihm den Beinamen »Vater der Video-Kunst« (Eimert 2010: 127) einbrachte. So titelten fast alle Zeitungsberichte anlässlich Paiks Tod. Zum anderen wird Paik als zentraler Vertreter und Pionier einer Kunsthaltung charakterisiert, der es mit künstlerischen Mitteln um den globalisierten Dialog der Kulturen geht, und die zumindest teilweise auch für Fluxus kennzeichnend ist. Dies spiegelt sich im geflügelten Wort von Paik als »Kulturnomade« (Titel von Decker 1992) wider. Diese Haltung wurde 1993 einmal mehr betont, als Paik zusammen mit Hans Haacke (geb. 1936) ausgewählt wurde, um den deutschen Nationalpavillon auf der Biennale in Venedig zu gestalten. Denn in seinem Biennale-Beitrag Marco Polo (Andere Quellen: Nr. 3; 4) thematisierte er die kulturellen Verflechtungen von Asien und Europa, die ihn seit seinem Studium in Japan beschäftigten (Paik in Decker 1992; Oliva 1993; Zeller/Reich 2007). Der moderne Kulturnomade überwindet, im Gegensatz zum internationalen Künstler, nicht nur (wie ein Tourist) kurzzeitig nationale Grenzen, sondern setzt sich tiefergehend mit kulturellen Grenzen auseinander, spürt kulturellen Identifikations- und Differenzprozessen nach, reflektiert sie bewusst oder sogar kritisch in seinen Werken. Der Kulturnomade vermeidet oder verweigert dabei gerne eindeutige kulturelle Zuschreibungen und Einordnungen. Statt an einem einzigen Ort sesshaft zu sein oder zu werden, wählt der Kulturnomade das Umherziehen, das durchaus zyklisch und in Übereinstimmung mit bestimmten natürlichen und arbeitstechnischen Zwängen geschieht. Das Wandern zwischen den Orten bedingt eine anhaltende Erfahrung der Differenz, mit der der Nomade im Verhältnis zu den Sesshaften immer wieder konfrontiert wird. Diese Erfahrung bestärkt die Einsicht, dass kulturelle Bedeutungen relativ und letztlich nicht eindeutig, sondern dynamisch und befruchtend sind, und dass Übersetzen zu einer notwendig ungenauen, konfliktreichen, letztlich kreativen Kunst führen kann, die nicht aus absoluter Gewissheit resultiert. Dementsprechend richtet sich eine konstruktive transkulturelle Kunstpraxis mehr auf die Verflochtenheit der verschiedenen kulturellen
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Kontexte und nicht auf das Herausarbeiten von absolut verstandenen Unterschieden. Sie macht vielmehr die komplexe Spannung zwischen Identifikations- und Differenzprozessen deutlich. Wie beide Motive, das medientechnologische Interesse an Kommunikation und die Suche nach grenzüberschreitendem Kulturaustausch, von Paik ästhetisch verknüpft wurden, zeigte sich auch an der Multimonitor-Videowand Electronic Superhighway, die er 1993 im deutschen Pavillon-Seitenflügel der Biennale in Venedig installierte (Abb. 2). Auf ihr liefen simultan verschiedene geloopte Videoclips, die unter anderem ein Interview mit John Cage wiedergaben, mit dem Paik die philosophische Reflexion über Asien und Amerika respektive Europa verband, sowie frühere Arbeiten wie das Videotape Global Groove (1974).5 Der Künstler blieb sich damit in Venedig treu und setzte beide Motive monumental in Szene, was internationale Kunstexperten mit der Verleihung des »Goldenen Löwen« für die Gestaltung des deutschen Nationalpavillons an ihn und Haacke honorierten (Andere Quellen: Nr. 5).
Abb. 2: Nam June Paik: Electronic Superhighway, Multimonitor Videowand, installiert im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig, 1993. Foto: artdoc.de/Roman Mensing
4. D ie A usstellung J apanese A rt A fter : S cream A gainst the S k y 1945 Wendet man sich mit diesem Wissen über einen bereits international arrivierten Paik im Hinterkopf der Überblicksausstellung Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky zu, die 1994 und 1995 als internationale Gemeinschaftsschau japanischer und amerikanischer Museen konzipiert und gezeigt wurde, wird deutlich: Aus Sicht der Kuratoren schien sich der Künstler als Kommentator wegen seiner vermittelnden Position und weltweiten Bekanntheit geradezu anzubieten. So war 5 | Illustrationen von Paiks Exponaten im deutschen Pavillon finden sich auf Medien Kunst Netz (Andere Quellen: Nr. 3).
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Paik ein Jahr nach der Biennale in Venedig von der Kuratorin der Ausstellung, Alexandra Munroe, eingeladen worden, die Ausstellung über japanische Avantgardekunst mit einem Essay im Katalog zu begleiten und darin die künstlerischen Verflechtungen der Fluxus-Bewegung zwischen Europa, den USA und Japan einzuordnen. Laut dem mitfinanzierenden Präsidenten der Japan Foundation, Shin’ichirō Asao, war dies die erste je in den Vereinigten Staaten gezeigte Ausstellung, die der Geschichte der japanischen Avantgardekultur der Nachkriegszeit gewidmet war (vgl. Asao zit.n. Munroe 1994: 7), wobei man durchaus auf wichtige Vorgänger verwies (vgl. Munroe 1994: 10, Fußnote 2). Ein Alleinstellungsmerkmal war, dass die Schau von Japan aus organisiert wurde, wo sie ebenfalls als erste Überblicksschau der Nachkriegskunst der Nation galt (vgl. Munroe 1994: 12). Als Gastkuratorin hatte die in Japan aufgewachsene und teilweise dort auch studierte amerikanische Kunsthistorikerin Munroe die Ausstellung von 1991 bis 1993 am Yokohama Museum of Art entwickelt (Andere Quellen: Nr. 6). Die Japan Foundation war der maßgebliche Finanzier zusammen mit den beiden beteiligten amerikanischen Museen, dem Guggenheim in New York und dem San Francisco Museum of Modern Art.6 Auch die leicht abweichende Variante, die dem amerikanischem Publikum 1995 in diesen Häusern gezeigt wurde, hatte Munroe schon frühzeitig mitkonzipiert und den separaten englischen, an akademischen Maßstäben orientierten Katalog geschrieben. Munroes Ansatz konstatiert im Wissen um postmoderne Kritik eine Dekade, in der das kuratorische Interesse an »Japan as ideal site for the current phenomenon known as ›transculturalism‹« (Munroe 1994: 19) zugenommen habe, obwohl die Erforschung moderner japanischer Kunst im Westen noch immer in den Kinderschuhen stecke. Die fachlich äußerst beschlagene Kuratorin sah die Forschung behindert von eurozentrischen beziehungsweise kulturessenzialistischen Aspekten herkömmlicher kunsthistorischer Moderne- und Avantgardebegriffe, die das Nachdenken über eine alternative, nichtwestliche, in diesem Fall japanische Moderne erschwerten. Sie betonte in ihrer Einleitung die Eigenständigkeit und Handlungsmacht der japanischen Künstler im Austausch mit westlichen Kunstströmungen und behandelte zentrale lokale Ereignisse in einer verwoben gedachten Moderne: While the work here reveals a learned and contemporary engagement with the principles of modern and postmodern art – may indeed be original within a certain international movement or style – this study presents the confluence of international ›isms‹ and Japanese activity in a comparative context focusing on the artists’ individual and cultural experience as the source of expression. Whereas other histories have seen the interaction between Japanese and Euro-American artist as a process of assimilation, this history highlights the Japanese artists’ creative will to differentiate themselves from the dominant culture in an attempt to establish an autonomous modernity. Although frequently criticized for being derivative, the international work presented in ›Scream against the Sky‹ should prove the contrary: Originality, not imitation, guides the Japanese avant-garde way. (Munroe 1994: 23)
6 | Laut Katalog-Impressum lief die Ausstellung vom 05.02.–30.03.1994 im Yokohama Museum of Art, vom 14.09.–08.01.1995 im Guggenheim Museum SoHo New York und vom 31.05.–27.08.1995 im San Francisco Museum of Modern Art sowie dem Center for the Arts at Yerba Buena Gardens.
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Damit bringt Munroe ihre kuratorische Position und Deutung des Zusammenhangs von westlicher und japanischer Fluxus-Kunst klar zum Ausdruck, offenbar auch unter dem Einfluss postkolonialer Kunstdebatten: Statt den japanischen Künstlern eine Assimilation an westliche Gegenwartskunst zu unterstellen (imitation), plädiert sie für deren Wahrnehmung als eigenständig schöpferische (originality), differente und differenzierte (to differentiate) Künstler in der internationalen Fluxus-Bewegung; gezeigt werden soll, so ihre Argumentation, Japans autonome Moderne (autonomous modernity). Auch wenn sie es nicht explizit macht, versteht die Kuratorin »Autonomie« und »Originalität« hier keinesfalls im kulturessenzialistisch ontologischen oder absoluten Sinne. Vielmehr zeigt ihre detaillierte Analyse in allen Kapiteln die differenzierte und selbstbewusste kreative Auseinandersetzung mit modernen westlichen wie japanischen Kunstkonzepten als komplexen und wechselseitig verbundenen Prozess. Im Katalog präsentiert Munroe die Werke der insgesamt 90 im Anhang aufgeführten Künstler und Künstlergruppen in zwei Teilen mit insgesamt 14 Kapiteln, die überwiegend von Munroe selbst sowie einigen japanischen und westlichen Kunstwissenschaftlern kontextualisiert werden. Die Autoren behandeln Künstler des Butoh-Tanztheaters, der Gutai-Gruppe oder des Hi Red Centers, aber auch zahlreiche andere performative und aktionistische Kunstformen sowie interdisziplinäre Strömungen in Malerei, Skulptur, Musik und Film.7 Beide Katalogteile werden durch je einen Essay eines Prominenten eingeleitet: Der erste stammt aus der Feder des japanischen Architekten Isozaki Arata (geb. 1931), der zweite von Nam June Paik (To Catch Up or Not to Catch Up with the West: Hijikata and Hi Red Center; Paik 1994: 77-82). Damit nutzte die Kuratorin Munroe einerseits die Berühmtheit Paiks, der als »Zeitzeuge« der japanischen Gegenwartskunst aufgerufen wurde, verdeckte aber ein wenig, dass er zwar zeitweise in die japanische Kunstszene involviert war, jedoch durch seine koreanische Herkunft, seinen Wohnsitz in New York und seine langen Schaffensphasen in Deutschland eine distanzierte Perspektive zu Japan einnahm und nicht den gleichen »Insider«-Status innehatte wie etwa Arata.
5. D er E ssay To C atch U p or N ot to C atch U p with the W est Wie porträtiert Paik die japanische avantgardistische Nachkriegskunstszene – und wie positioniert er sich selbst in und zu diesem Feld? Zunächst scheint Paik auf den fünf Katalogseiten einzulösen, was der Titel seines Essays erwarten lässt. Er beschäftigt sich mit seiner flüchtigen persönlichen Bekanntschaft und der zunehmenden westlichen Anerkennung für den japanischen Butoh-Begründer Tatsumi Hijikata (1928-1986) und bespricht das Künstlerkollektiv Hi Red Center, das zwischen 1963 und 1964 in Tokio aktiv war und von Maciunas bald als Tokyo Fluxus kategorisiert wurde. Die zahlreichen Happenings von Hi Red Center im öffentlichen 7 | Butoh ist eine expressive moderne Tanztheaterform, die von Tatsumi Hijikata und Ohno Kazuo nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Japan entwickelt wurde. Sie umfasst eine groteske Bildsprache, tabubrechende Motive, extreme und absurde Szenen und wird gewöhnlich mit weiß bemalten Körpern in sehr langsamen, stark kontrollierten Bewegungen aufgeführt.
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Raum waren initial von drei Künstlern ausgegangen, deren japanische Anfangszeichen zusammengesetzt den Namen der Gruppe bilden: Genpei Akasegawa (1937-2014), Natsuyuki Nakanishi (geb. 1935) und Jirō Takamatsu (1936-1998). Ihren Aktionen und vor allem der Karriere Akasegawas widmet sich Paik im Detail. Er schildert die gemeinschaftliche Aktion Shelter Plan, an der Paik im Januar 1964 in Tokio selbst teilnahm, was ein Fotodokument belegt, das seinem Essay im Katalog vorangestellt wurde (vgl. Munroe 1994: 74), und verweist dann auf den spektakulären Prozess, in dem man Akasegawa aufgrund einer anderen Kunstaktion der Geldfälschung bezichtigte. Abschließend kommentiert er die Verleihung eines renommierten japanischen Literaturpreises Mitte der 1970er-Jahre an Akasegawa als erfolgreichen und rehabilitierenden Kanonisierungsschritt. Die Titelfrage, ob sich diese radikalen japanischen Nachkriegskünstler in einer Art Aufholjagd mit den westlichen Avantgarden und ihren Idealen befanden (to catch up or not to catch up with the West), oder ob sie – im Gegenteil – eine Auseinandersetzung mit der Hegemonie der euro-amerikanischen Kunstwelt und ihrem eurozentrischen Modernekonzept ablehnten, scheint Paik mit seinen persönlichen Porträts dahingehend zu beantworten, dass er die Unabdingbarkeit des japanischen Kontextes für das Verständnis ihrer Arbeiten betont – ganz im Sinne der munroeschen Argumentation: Mehrfach nennt er die Kollegen »earth-bound« (Paik 1994: 77, 81), »unexportable geniuses of Japan« (Paik 1994: 79) or »impossible to transplant […] into another cultural milieu« (Paik 1994: 81). In diese Richtung deutet auch der letzte Satz des Essays: »The Japanese economy and society is geared to catch up with the West. Therefore, Japanese society also expects their artists to catch up with the West. But maybe catching up, or down, is not culture’s business. This also applies to Diter Rot’s [sic!] Iceland.« (Paik 1994: 81) Paik scheint hier einerseits zu argumentieren, dass sich weder die Künstler in einer Aufholjagd mit westlichen Zentren und Kunstidealen sahen, noch dass Kultur und in der Konsequenz auch Kunst an sich die Aufgabe hätten, eine solche Aufholjagd zu befördern. Vielmehr sah er die Künstler in kritischer Opposition und den Kultursektor als kritische Opposition zu anderen Gesellschaftsbereichen. Andererseits zeigt der abrupte vergleichende Hinweis auf den in Hannover geborenen schweizerischen und streckenweise auf Island lebenden Aktions- und Objektkünstler Dieter Roth (1930-1998), dass er die Vorstellung einer Aufholjagd, damals auf das dominante Kunstzentrum New York ausgerichtet, eben doch nicht völlig von der Hand weisen konnte, weshalb sie als Spannungsverhältnis auch prominent im Titel firmiert. Die Strahlkraft dieses Zentrums brachte so unterschiedliche Länder wie Japan und Island auf einen Nenner, insofern sie aus westlicher Sicht zur verzögert agierenden »Peripherie« gezählt wurden – eine letztlich kolonial und imperialistisch grundierte Zuschreibung, die man im Modernismus geografisch wie zeitlich begründet hatte, und die nun mit der Unterstellung einer notwendigen Aufholjagd einherging. An mehreren Stellen des Essays deutet Paik an, dass er seine eigene Karriere sehr wohl von den Spielregeln einer Aufholjagd erfasst sah – und sei diese Jagd auch nur eine, die durch führende internationale Kunstinstitutionen oder wirtschaftliche Dynamiken des Kunstmarktes angenommen und befördert wurde. Hier wird in seiner Argumentation eine bezeichnende Ambivalenz spürbar: So sieht er in dem genannten Konzeptkünstler Akasegawa »eines jener unexportierbaren Genies Japans«, wie dies auch der auf Island lebende Dieter Roth sei. Gleichzeitig widerspricht diese Rezeption eines Künstlers unter dem Siegel der singulä-
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ren Autorschaft Paiks Verständnis von Fluxus und anderer Aktionskunst. Letztere folgten dem Ideal kollaborativer Autorschaft und kulturelle Grenzen überschreitender Partizipation, um damit letztlich nicht nur die konventionelle Kunstrezeption zu verändern, sondern auch national strukturierte, kolonial oder imperialistisch geprägte Institutionen und ihre Netzwerke: Of course, such indigenous and unexportable geniuses exist not only in Japan; they exist in Bangladesh, or the Sudan, or Wyoming, or Iceland, or in New York City. See the case of Diter Rot [sic!] from Iceland. It is also unfair to single out Akasegawa from Hi Red Center, because the group consists of three artists. (Paik 1994: 79)
Akasegawa ist also kein singulärer japanischer Ausnahmekünstler in Paiks Lesart, sondern Teil einer gemeinschaftlichen Haltung und Praxis, die – von Japan bis nach Island – die modernen Kunstprämissen revolutionieren wollte. Paik positioniert sich an dieser Stelle insofern selbst, als er sich implizit in die Reihe jener Künstler stellt, die einerseits nicht ohne ihre Herkunft und den Bezug zum lokalen kulturellen Kontext verstanden werden können – wie die japanischen Aktionskünstler Hijikata, Akasegawa oder auch »Rot [sic!] aus Island«. Andererseits folgten sie aber auch der Macht und Attraktivität der westlichen internationalen Kunstzentren, in Paiks und temporär auch in Roths Fall New York. So zieht sich durch Paiks Anekdoten also der Hinweis auf unterschiedliche Reaktionen, mit denen regional situierte Künstler auf den Machtzuwachs der westlichen Kunstzentren in der Nachkriegszeit antworteten. Im Gegensatz zu den beiden japanischen Kollegen, die er vorrangig behandelt, konturiert sich Paik mit dem zweimaligen plötzlichen Verweis auf den zwischen Island, Österreich, der Schweiz, Deutschland und Abstechern in die USA pendelnden Roth als zugehörig zu jener besonderen Künstlergruppe, die wiederholt respektive langfristig und weiträumig migrierten. Damit macht sein Narrativ ingesamt deutlich, dass es sich dem Selbstverständnis nach zumindest bei dieser Gruppe um politisch transnational denkende und ästhetisch transkulturell agierende Akteure im Netzwerk der Aktionskunst handelte.
6. Paiks V erhandlung von Tr anskultur alität Geradezu programmatisch verortet sich Paik in diesem Sinne auch auf der ersten Seite seiner Essays, die er mit Flashback 1 und Flashback 2 untertitelt. Der erste Flashback beschwört die Fluxus-Bewegung als von der offiziellen Kunstwelt lange missachtete, aber »best-documented and the best-cross-indexed art movement in history« (Paik 1994: 77). Den zweiten Flashback eröffnet Paik mit der Anekdote, dass er in New York anlässlich von Beuys’ Tod die New York Times gekauft habe, um schockiert festzustellen, dass man auf der Seite mit Beuys’ Nachruf auch dem gerade gestorbenen Hijikata gedachte: »Beuys and Hijikata shared the same characteristics – each a kind of watchdog of the Siberian night at the two ends of the Steppe.« (Paik 1994: 77) Er führt diese in seinen Augen emblematische Koinzidenz weiter aus, indem er die Gemeinsamkeit beider Künstler mit dem als Fremdwort zitierten deutschen Wort »unheimlich« benennt: »Both were unheimlich – inscrutable and scary.« (Paik 1994: 77, Hervorhebung im Original) Das starke Bild zweier Wachhunde, die an den gegenüberliegenden Enden eines gemeinsam geteilten Eu-
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rasiens aktionskünstlerisch tätig waren, bringt Paiks Vision einer transkulturell verflochtenen kreativen Gemeinschaft auf den Punkt. Mit »unheimlich« scheint hier auf den schamanistischen Aspekt hingewiesen, insofern sich Beuys selbst als Schamane inszenierte und in seiner »individuellen Mythologie« – den Begriff hatte Harald Szeeman 1972 auf der documenta 5 geprägt (Grasskamp 2017) – Eurasien als verbundenen Kulturraum aufrief, während Hijikatas Butoh Anleihen beim japanischen Schamanismus machte. Beide verbanden dabei transzendentale Vorstellungen mit einer körper- wie tatsächlich erdgebundenen ästhetischen Ausdrucksweise, die nationalistische oder andere kulturessenzialistische Identitätspolitiken zu entgrenzen half, zugleich aber nicht frei von universalistischen Ansätzen war (vgl. die kritische Analyse von Beuys’ Arbeiten in transkultureller Perspektive bei Wienand 2015: 65-97). Eine auffallende textuelle Strategie, seine Vision einer transkulturellen Künstlerschaft zu artikulieren, zeigt Paik im Essay auch in der kritischen Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden, die er sehr wohl spürte und klar benannte. So ging es ihm offensichtlich darum, die Beteiligten in einen Dialog zu bringen und Grenzen infrage zu stellen; wo Differenzen unüberbrückbar oder Phänomene unübersetzbar erschienen, ließ er sie jedoch stehen und markierte sie als produktive, rational unergründliche Triebkraft. Diese Strategie weist deutliche Ambivalenzen auf, insofern Paik mit ihr einerseits (ihm) Unergründliches aufzeigt und damit Differenzen markiert, der Unübersetzbarkeit andererseits aber eine höhere, transzendierende Kraft zuspricht. Das erlaubt ihm im Zweifelsfall auch, sich elegant jeglicher (rationaler) Erklärung zu enthalten. In diesem Kontext ist die erwähnte Reminiszenz an den Butoh-Künstler Hijikata und dessen Beschreibung mit dem deutschen (freudschen) Begriff des »Unheimlichen« sowie die Verwendung einer weiteren Dunkelheits-Metapher, wie sie schon in der »sibirischen Nacht« anklang, noch einmal interessant: »It [Hijikatas Auftritt] was quite original, fresh, and touched on the dark source of the deep Asian soul, I use the German word unheimlich which combines the feelings of inscrutable, mysterious, profound, scary and quiet.« (Paik 1994: 78, Hervorhebung im Original) Paik insinuiert hier einerseits die »dunkle Quelle der tiefen asiatischen Seele« als ein mystisches und damit letztlich unfassbares Anderes und beschreibt die damit zusammenhängende Performancepraxis Hijikatas zusätzlich als unübersetzbar »unheimlich«. Andererseits zeigt er gleich fünf Übersetzungsannäherungen und Bedeutungsfacetten auf, um das deutsche Fremdwort verständlich zu machen und grenzt seinen Standpunkt in dieser Anekdote deutlich von (früheren) Vermittlerfiguren wie dem japanischen Lyriker und Maler Takiguchi Shūzō (1903-1979) ab: Shūzō hatte das Werk von Marcel Duchamp sowie die Surrealisten in Japan bekannt gemacht und experimentelle Gruppen wie Hi Red Center und den Butoh von Hijikata kunstkritisch unterstützt (vgl. Munroe 1994: 148, 215-216): On the way out, I met Takiguchi Shūzō in the lobby. Takiguchi is the Grand Daddy of the Japanese avant-garde […]. He visited Henri Michaux in postwar Paris. He wrote surrealistic poems and quite dandy art criticism and reviews. I told him rather enthusiastically, what I felt and that I wished, ›Tokyo was at least as close as Cairo is to Paris so that this kind of genius [Hijikata] could be appreciated by the Western audience.‹ Takiguchi said with a charming smile, ›This far is just about right (chōdo ii desuyo)‹. (Paik 1994: 78, Hervorhebung im Original)
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Während Paik beim Vergleich von Beuys mit Hijikata seine transkulturelle Positionierung als Autor mit der Integration von deutschen Fremdwörtern bis auf die Wortebene bekräftigte und so das erweiternde, inspirierende Potenzial des einbezogenen Fremden im Essay deutlich zu machen sucht, zeigt er sich an dieser Stelle zwar des Japanischen mächtig, zitiert die Fremdsprache jedoch in einer Textklammer. Dadurch wird der internationalen lingua franca und übergeordneten Katalogsprache zwar der Vorrang eingeräumt. Die eingeklammerte japanische Aussage signalisiert und visualisiert jedoch auf der Textebene Shūzōs klar erkennbar abgrenzende Haltung zu jenen international agierenden, transkulturell versierten und letztlich migrierenden (japanischen) Künstlern, mit denen Paik sich am meisten identifizierte. In einer weiteren Anekdote, die Paik erst nach den Flashbacks wiedergibt, demonstriert der Künstler selbstironisch, dass er den Bedingungen und Konsequenzen der eigenen transkulturellen Praxis durchaus skeptisch gegenübersteht und prinzipiell Verständnis, ja Bewunderung für Kollegen hat, die bisweilen auf Differenz und Distanz beharren. An dieser Stelle wird deutlich, dass es eine transkulturelle Meta-Reflexion und Positionierung unmöglich macht, sich lokal oder personal eindeutig oder dauerhaft zu situieren. Vielmehr verlangt diese Haltung und Position, die Relationalität und Relativität der eigenen Positionen mit zu artikulieren. Eine normative Kritik am Anderen respektive Fremden wird unmöglich: I told (Takehisa) Kosugi, when I stay in Tokyo for two weeks, I dream about a hamburger. Kosugi laughed. He did not miss the greasy hamburger. When Kosugi came to New York, he said, ›I came to New York to teach New Yorkers how to be shy‹. I have not heard a more pertinent cultural critique than this one. (Paik 1994: 78)
Insgesamt positioniert sich Paik mit seinen Anekdoten als grenzüberschreitend tätiger Künstler und Vermittler, der sich für die internationale Wahrnehmung und künstlerische Kollaboration sowohl der weniger reisenden, »erdgebundenen« japanischen Kollegen als auch für jene Fluxus-Künstler einsetzte, die – wie er selbst – erfolgreich migrierten. Sein Engagement für die internationale Rezeption beider Fraktionen, der migrierenden wie der tendenziell sesshaften, wirkt wie das Anathema zum eingangs herausstechenden Thema des Originalitätanspruchs und der kulturellen Spezifik der genannten japanischen Kollegen. So lässt sich vorläufig die Schlussfolgerung ziehen, dass Paik die Realität einer »Aufholjagd mit dem Westen« mehr in Zusammenhang mit den internationalen Gesetzen von Markt und institutioneller wie medialer Rezeption sah, denn als Teil der künstlerischen (Selbst-)Positionierungen. Vielmehr vermerkte er wie ein Seismograf der Kanonisierung und Globalisierung jene Indizien, die auf ein gestiegenes gesellschaftliches und institutionelles Ansehen sowohl der migrierenden als auch der in Japan gebliebenen Fluxus-Künstler hindeuteten, und versammelt Anekdoten, die das ambivalente, aber produktive Austausch- und Spannungsverhältnis beider Gruppen andeuten. Er zeichnete damit künstlerische Produktion und ökonomische, soziale und institutionelle Rezeption als komplexes Dispositiv, dass die kulturellen Austauschprozesse formierte. Als Künstler sah Paik sich offenbar nicht als ohnmächtiges Rädchen im Getriebe, sondern als Akteur, der mit transkulturellen Strategien und in Kollaboration mit Kollegen das Dispositiv beeinflussen konnte.
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7. I nstitutionelle Z uschreibungen : G renzen und D ifferenzen Hatte Paik sich einerseits bereiterklärt, einen Katalogbeitrag für die Ausstellung Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky zu schreiben, um auf diese Weise und in eigenen Worten seine Sicht auf die japanische (Fluxus-)Kunst, aber auch seine eigene Position als international agierender, kulturell migrierender Künstler zwischen Ostasien, Europa und den USA zu verorten, wehrte er sich andererseits vehement dagegen, dass eine kleine Werk-Serie von ihm mit ausgestellt wurde. Er hatte offensichtlich erst im Rahmen eines Telefonats mit der Kuratorin, in dem es wohl um den Katalogbeitrag ging, beiläufig und kurzfristig von ihrer Absicht erfahren. Die Gründe seiner Ablehnung sind zwei Briefen seines Anwalts Jerald Ordover zu entnehmen, die in den Nam June Paik Archives in Washington auf bewahrt werden.8 Der erste Brief datiert auf den 10. Januar 1994 und adressiert Thomas Krens, den damaligen Direktor des Guggenheim. Darin konstatiert Ordover, dass Paik sich gegen den Einschluss eigener Arbeiten in die Ausstellung Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky verwahre, die in Yokohama kurz vor der Eröffnung stand. Der Anwalt erwähnt, dass Paik gegenüber Munroe einen Essay für den Katalog zugesagt und geschrieben habe, aber schockiert gewesen sei, als er in einem Telefonat mit der Kuratorin erfahren habe, dass die Schau in Japan und der geplante englische Katalog auch Exponate (wie Abb. 1) von ihm beinhalten solle: The work in question is a series of mail art pieces which Mr. Paik mailed from Cologne, Istanbul, Athens, Tokyo and New York in the course of a worldwide trip in 1963-64. While Mr. Paik received his formal education at Japanese schools during the 1950’s, this was before he ever thought of becoming an artist. During the entire decade of the 1960’s, his time in Japan on various visits added up to no more than 13 months. Major artists like John Cage, David Tudor and Stan Vanderbeck each performed and gave a number of concerts in Japan during those years and would be more worthy of inclusion in the exhibition than Mr. Paik, who performed but one concert in Japan during that time. All of this was pointed out to Ms. Munroe. This is therefore Mr. Paik’s formal and urgent request that neither this 1960’s work nor any other work by him be included in the upcoming Guggenheim exhibition of Japanese art and […] the catalogue […]. Mr. Paik has no wish to publicize the issue or to embarrass the Museum or Publisher or any of the parties involved. He feels that it is too late to do anything about the Yokohama exhibition. But he feels strongly about this that he would feel obliged to make a public outcry if his work were left in the show when it opens at the Guggenheim or was so listed in the catalogue […] As you know, Korea and Japan have had a complicated history going back many decades. This history has not affected Mr. Paik’s admiration and love of Japanese art and he has not hesitated to participate in exhibitions in Japan, but to include his work and thus treat him as part of Japanese art since 1945 would open past wounds and expose Mr. Paik to much pain and embarrassment needlessly. It would involve him in political and social issues that he has heretofore remained above […]. (Ordover 1994: 1-2) 8 | Ich danke Jeremy Ordover, dem Sohn und Nachlassverwalter des verstorbenen Jerald Ordover, für die Erlaubnis, verbatim aus beiden Dokumenten zitieren zu dürfen, und den Nam June Paik Archives in Washington, namentlich Christine Hennessey und Hanna Pacious, für ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit.
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Der Brief ist in mindestens zweierlei Hinsicht bezeichnend: Erstens beleuchtet er schlaglichtartig die unterschiedlichen und ambivalenten Positionen der Kuratorin und des Künstlers. Zwar ist im Lichte der in Kapitel 4 dargestellten kuratorischen Mission Munroes zu betonen, dass die Ausstellung generell auf eine breite Inklusion japanischer Kunst in den dominanten westlichen Kanon und seine Museumslandschaft angelegt war und der Einbezug von Paiks Werken in den Ausstellungsraum einer nationalen oder kulturessenzialistisch verstandenen Inszenierung von Japaneseness vorgebeugt hätte – ja die japanische Nachkriegs-Avantgarde am Beispiel von Fluxus gerade als transkulturelles Netzwerk betont worden wäre, wie Munroe dies in ihrem Katalogartikel zu »Tokyo Fluxus« selbst untermauert (Munroe 1994: 215-256). Dennoch macht Paiks kritische Nachfrage, warum dann nicht auch Cage oder andere westliche Kollegen einbezogen worden seien, mehr als deutlich, dass er sich nicht durch die Zugehörigkeit zur künstlerischen Gemeinschaft der Fluxus-Bewegung, sondern durch die – für ihn nicht gültige – kulturell eindimensionale Zuordnung zum japanischen Raum bewertet sah; der kuratorischen Entscheidung lag in seinen Augen demnach ein Muster zugrunde, das nicht transparent gemacht und vielleicht sogar institutionell verdrängt worden war. Wie sich zeigen sollte, hatte er mit dieser Befürchtung nicht ganz unrecht: In der Folge produzierten tatsächlich einige Ausstellungskritiker, die Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky rezensierten, die amerikanische Variante eines Asianismus, der Paik unreflektiert und umstandslos mit Japan assoziierte, ebenso wie öffentliche Fehldeutungen wie die von Mark Stevens, der die Ausstellung im September 1994 rezensierte. Unter der Überschrift Made in Japan fasste er Munroes Konzept verkürzt und plakativ als »a significant argument that some worldclass art has been wrongly overlooked« zusammen und bestätigte Paiks Befürchtungen: »The Japanese themselves have worried about being provincial; some of the country’s most prolific artists, such as Nam June Paik [sic!] and On Kawara have chosen to live outside Japan. But that is hardly the whole story.« (Stevens 1994: 109) Zweitens macht Ordovers Brief deutlich, dass Paik versuchte, »über« den politischen und sozialen Realitäten zu stehen, wenn es um verschiedene offizielle Nationalismen in Asien, Europa und den USA ging – obwohl oder gerade weil er als Künstler asiatische Motive nutzte, um gezielt und kontinuierlich auf transkulturelle Verflechtungen hinzuweisen. Bezeichnenderweise verordnete er sich selbst mit den Worten Ordovers als »part (of the art communities) of New York, Germany and Korea« (Ordover 1994: 1). Diese drei Referenzen sind umso interessanter, weil Paik nicht von der amerikanischen Kunstszene insgesamt, sondern nur von der des kosmopolitischen New York spricht, andererseits aber Deutschland als Ganzes nennt und schließlich auf Korea als sein Geburtsland verweist, obschon er letzteres als gerade Volljähriger verlassen musste und erst 1988 im Zuge der Olympischen Spiele als im Ausland gereifter Künstler wieder betrat. Unklar bleibt allerdings auch bei dieser Interpretation, warum es Paik tolerierte, dass seine Arbeiten in der Ausstellung in Yokohama gezeigt wurden; sein Einwand war einige Wochen vor der Vernissage gekommen, weshalb seine Arbeiten rechtzeitig hätten entfernt werden können. Offenbar sah Paik sein eigentliches Publikum weniger in Japan und konnte pragmatisch auch mit den antizipierten nationalistischen Reaktionen dort leben. Hingegen war es ihm wichtig, seine Arbeiten auf keinen Fall in New York in der Ausstellung zu sehen; hier ging es ihm offenbar darum, vor den Augen der Öffentlichkeit in New York seine Praxis und Haltung als eine transkulturelle
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fortzuschreiben, die über nationalen oder gar nationalistischen, engen politischen oder geografischen Zuschreibungen stand.
8. Tr anskulturelle künstlerische P r a xis als kritischer und koll abor ativer P rozess Der Kontrast zwischen Paiks transkultureller Positionierung als Fluxus-Künstler im Essay und seinem kritischen Umgang mit den Praktiken des Museums zeigt, dass kulturelle Zugehörigkeitsfragen zentrale Aspekte auch für grenzüberschreitend tätige und migrierende Künstler wie Paik waren. Es wird deutlich, dass die häufig emphatisch vertretene und in den Werken auch bewusst reflektierte transkulturelle Verortung ebenso wie die Betonung einer kollaborativen Autorstrategie keine konfliktarme Positionierung in den liberalen pluralistischen westlichen Kunstszenen garantierte, ebenso wenig wie in den aufstrebenden radikalen Kunstszenen Ostasiens, sondern dass sie einen unbequemen, nicht immer gelingenden Balanceakt erforderten. Während sich die institutionellen Taxonomien im Zuge der Globalisierung veränderten, für nichtwestliche Positionen öffneten und – wie das Beispiel der Ausstellung Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky zeigen sollte – den Reigen der kanonisierten Künstler erweiterten9, verlief der Einschluss von bereits erfolgreichen Künstlern wie Nam June Paik in diesem institutionellen Diskurs nicht geradlinig und reibungslos. Vielmehr zeigt sich an seiner Auseinandersetzung mit dem Guggenheim, dass die Bedingungen für seinen Einschluss auch mit internationaler Bekanntheit nicht abschließend als kulturell multipel verorteter Fluxus-Veteran mit koreanischen Wurzeln und einer Karriere zwischen Tokio, dem Rheinland, Seoul und New York festgeschrieben war, sondern weiterhin zur Verhandlung stand. Das Guggenheim nahm Paiks Einwurf zwar ernst, wie der englische Katalog nahelegt, in dem keine Exponate von ihm aufgelistet werden, und demonstrierte damit, dass es die Mitbestimmungsansprüche der Künstler respektierte.10 Nicht konfliktfrei, aber nachhaltig wurde daher die Vermittlerrolle von transkulturell arbeitenden und migrierenden Fluxus-Künstlern wie Paik wirksam. Das kritischproduktive Potenzial von Paiks transkultureller künstlerischer Haltung und Praxis, die letztlich einen relationalen Kunstbegriff vertritt, ist damit aber nicht ein für alle Mal historisch und institutionell obsolet geworden. Es ist vielmehr nach wie vor gefragt, wenn Markt-, Museums-, und mediale Vermittlungsmechanismen und ihre Akteure, Künstler und ihre Werke vorschnell mit eindimensionalen und essenzialistischen kulturellen Wertzuschreibungen taxieren und dazu beitragen, problematische Machtkonstellationen zu stabilisieren.11
9 | Neben japanischen galt dies unter anderem auch für chinesische Positionen (vgl. Koch 2016: 127-152). 10 | Leider gelang es vor Abschluss des Beitrags nicht, eine Stellungnahme von Alexandra Munroe zu erhalten. 11 | Die Autorin möchte Christiane Dätsch ganz herzlich für ihr kritisch-konstruktives Feedback danken – auch die Transkulturalitätsforschung ist ein Projekt, das nur in Kollaboration gelingt.
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Fotografie – ein transkultureller Verhandlungsraum Eine Analyse der Arbeiten von Ravi Agarwal (Delhi) Cathrine Bublatzky
Fotografieren heißt sich das fotografierte Objekt anzueignen. Es heißt sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt setzen, die wie Erkenntnis – und deshalb wie Macht – anmutet. (S ontag 2003: 10)
1. E inleitung Ein Sich-in-Beziehung-Setzen mit der Welt und die Frage nach Authentizität, wie es Susan Sontag Ende der 1980er-Jahre mit kritischem Blick auf die gesellschaftspolitische Rolle von Fotografie proklamierte, stellt in heutigen Zeiten zunehmender globaler Verdichtung und Komplexität der Welt eine der wesentlichen Herausforderungen in der Auseinandersetzung mit Fotografie dar. Die von Sontag beschriebene Problematik der Fotografie als modernes Massenmedium lag unter anderem darin begründet, dass Fotografie in ihrem Wesen als ein Akt der Nichteinmischung verstanden werden konnte (vgl. Sontag 2003: 17). Mit Blick auf einen Bereich der Fotografie des 21. Jahrhunderts, der an der Schnittstelle zwischen Dokumentation und Kunst verortet wird, beschäftigt sich dieser Beitrag mit der Frage, inwiefern Fotografie ein Medium der Gesellschaftskritik und der zivilrechtlichen Bewusstseinsbildung darstellt, und warum es notwendig ist, eine transkulturelle Perspektivierung in der Diskussion über die Frage nach der Rhetorik des Bildes (Barthes 2009) zuzulassen – kurz: darüber, »was Bilder wollen« (Mitchell 2005). Ziel ist es, Bedeutung und Wirksamkeit von Fotografien und fotografischer Praxis in einem transkulturellen Produktions- und Rezeptionskontext zu analysieren und Fotografie im Kontext komplexer kultureller Pluralität und Mobilität als transkulturellen Verhandlungsraum zu verorten. In kulturwissenschaftlichen Diskursen des 20. Jahrhunderts wurde bereits eine kulturspezifische Authentizität »nichtwestlicher« Kunst als Konstruktion des Westens kritisch hinterfragt (u.a. Geertz 1976; Clifford 1988), wobei Kultur als ein nichtisoliertes und in sich geschlossenes System verstanden wurde. Eine transkulturelle Perspektivierung bedeutete hierbei einen weiteren Schritt, Kultur nicht
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länger als ein reines, unveränderliches System zu sehen (Welsch 1999). Um Fotografie als kulturelle Praxis zu verstehen, die sowohl den Gegenstand als auch das Medium fortwährender Aushandlungen darstellt, wird in diesem Beitrag Transkulturalität als ein analytisches Tool aus der Perspektive der Ethnologie angewendet. Dies scheint umso dringlicher, weil Fotografie als zentraler Bestandteil moderner visueller Kulturen (Mirzoeff 2009a) und des alltäglichen sozialen Lebens (Mirzoeff 2002; Dikovitskaya 2005) verstanden wird. Fragen nach der Bedeutung einer Fotografie, die durch Vervielfältigung und Zirkulation kulturübergreifend kontextualisiert wird, nehmen hierbei einen ungebrochen hohen Stellenwert ein, will man beispielsweise verstehen, wie Familienfotos persönliche Erinnerungen und Beziehungen aufrecht erhalten (Rose 2003), fotojournalistische Dokumentationen wichtige Informationskanäle generieren (Hariman/Lucaites 2016) oder, wie es das Beispiel in diesem Beitrag zeigen wird, künstlerische Fotografie gesellschaftliche Themen in Museen und Galerien für globale Betrachtergruppen zugänglich macht. Hierbei ist der Gedanke grundlegend, dass durch Fotografie als kulturelle Praxis ein sich In-Bezug-Setzen des Selbst als soziales Wesen mit einem ebensolchen Anderen ein relationales Netz an Zugehörigkeiten, Differenzen und Identifikationen entstehen lässt. Dass kulturelle Pluralität und Differenz in einem ständigen Prozess ausgehandelt werden und dadurch die Auffassung von »Kultur« als separate, stabile und gleichbleibende Einheit durchkreuzt wird, um somit Aspekte von Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Vordergrund zu stellen (vgl. Benessaieh 2010: 18), wird als zentrale These verstanden. Wenn Fotografie, die zwischen Kunst und Sozialdokumentation rangiert, lokale gesellschaftliche Themen aufgreift und sie einem nationalen wie internationalen Publikum zugänglich macht, so entsteht eine sich im ständigen Prozess befindliche Auseinandersetzung, sowohl mit der jeweiligen fotografischen Arbeit als auch mit den behandelten Themen. Dieser Prozesshaftigkeit liegen verschiedene Formen der Übersetzung zugrunde: auf der Inhaltsebene etwa, wenn soziopolitische Themen in die ästhetische Sprache der Fotografie übersetzt werden, oder auf der räumlichen Ebene, wenn durch die Zirkulation von fotografischen Arbeiten eine Übersetzung von einem Ort (zum Beispiel dem des Fotografierens) in einen anderen (zum Beispiel den der ausstellenden Institution) stattfindet (und zurück). Durch diese Übersetzungen, so das Argument, kann im Idealfall eine Sensibilisierung für Themen stattfinden, die zwar allgemein bekannt sind, aufgrund einer allgegenwärtigen Medienberichterstattung jedoch an Brisanz eingebüßt haben, wenn auch nicht an Aktualität. Gerade Fotografien, die sich mit lokalen Ereignissen wie Krisen, Naturkatastrophen, Umweltverschmutzung oder Kriegen beschäftigen, ermöglichen durch die Übersetzung von dramatischen Ereignissen in eine ästhetische Sprache einen Zugang zu Situationen und betroffenen Menschen, die dem Betrachter über eine massenmediale Dokumentation zumeist verwehrt bleibt. Eine künstlerisch-fotografische Auseinandersetzung erzeugt neue Stellenwerte und Aufmerksamkeit, die in diesem Beitrag mit besonderem Blick auf die kulturübergreifende transkulturelle Mediation der Fotografie, ihre Vermittlungsleistung also, im Mittelpunkt stehen. Mit dem Fotografen Ravi Agarwal (Delhi, Indien) und seiner Praxis als Künstler und Umweltaktivist liegt der Schwerpunkt auf dem Bereich der Kunst- und Sozialfotografie. An Agarwals Œuvre soll beispielhaft die Aushandlung einer gesellschaftswirksamen Funktion von Fotografie gezeigt werden, die zum einen mit
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einer Transformation von reiner Dokumentation hin zur Gegenwartskunst in Verbindung gebracht wird. Zum anderen legt sie den Fokus auf die Mobilität des Fotografen und die Zirkulation seiner Arbeiten als zentralen Ansatzpunkt für einen kulturübergreifenden Aushandlungsprozess ihrer Bedeutung. Die Fokussierung auf die Genres der Dokumentation und der künstlerischen Fotografie erfolgt nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Arbeiten des Fotografen Ravi Agarwal international in unterschiedlichen institutionellen Kontexten ausgestellt werden, und, damit verbunden, jeweils andere Bedeutungszuschreibungen durchlaufen.
2. Tr anskulturelle P erspek tivierung von F otogr afie Mit Blick auf ihre globale Mobilität und die Vielzahl von visuellen (Re-)Produktionen kann Fotografie bestehende Distanzen und Beziehungsgeflechte zwischen an sich räumlich getrennten Gesellschaften, Individuen und Orten grundlegend beeinflussen und sichtbar machen. Hierbei gilt es, das fotografische Ereignis (Azoulay 2012) über geografische und gesellschaftliche Grenzen hinweg als ein komplexes Geflecht und Gegenstand fortdauernder Aushandlungen zwischen beteiligten Personen zu verstehen. Gerade bei lokalen Ereignissen in Zeiten politischer Umbrüche, andauernder Krisen und Kriege, Umwelt- und Naturkatastrophen, die letztlich immer auch in Zusammenhang mit globalen Entwicklungen gesehen werden müssen, bieten fotografische Aufnahmen für den Betrachter die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Ereignissen auf die ein oder andere Weise in Bezug zu setzen. Die Notwendigkeit, eine Perspektive auf Fotografie zu eröffnen, die den Zusammenhang von Affekt und soziopolitischer Wirksamkeit aufzeigt, kann hierbei wichtige Einblicke in zivilgesellschaftliche Entwicklungen geben (Azoulay 2008; 2012). Die Theoretikerin Ariella Azoulay schreibt hierzu Folgendes: When and where the subject of the photograph is a person who has suffered some form of injury, a viewing of the photograph that reconstructs the photographic situation and allows a reading of the injury inflicted on others becomes a civic skill, not an exercise in aesthetic appreciation. (Azoulay 2008: 14)
Es gibt unzählige Beispiele für historische und zeitgenössische Fotografien, die auf der ganzen Welt Reaktionen der Trauer, Ohnmacht und Forderungen nach einem Ende von Kriegen, menschenunwürdigen Handlungen und Verletzungen von Menschenrechten oder Umweltkonventionen hervorrufen, darunter viele, welche einen ikonenhaften Status erlangt haben. Durch den Iconic Turn (Mitchell 1995; Bachmann-Medick 2008) wurde erkannt, dass Bilder, neben Sprache und anderen Zeichen, einen zentralen Beitrag zur Konstruktion und Sichtbarmachung von sozialen Realitäten leisten (vgl. Mitchell 2005: 47). In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen nach der einhergehenden Vermittlung beispielsweise von Wissen und politischen wie humanitären Werten. Während der Begriff der Mediation auch die Bedeutung von »Schlichtung« zwischen zwei polarisierenden Parteien haben kann, wird er hier einer kunsthistorischen Diskussion über die Rolle des Kuratoren (Brenson 1998; Ramírez 1996; Mosquera 1994) und der Idee der pädagogischen Vermittlung entliehen, die damit eine über den Akt der medialen Translation zu erreichende Zugänglichkeit von Kunst für den Betrachter im Museums- und Aus-
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stellungswesen bezeichnet. Der translational turn (Bachmann-Medick 2009) bietet hierbei eine wichtige theoretische Grundlage, um dies auf andere Kontexte und Praktiken zu übertragen, denn »translation becomes, on the one hand, a condition for global relations of exchange (›global translatability‹), and on the other, a medium especially liable to reveal cultural differences, power imbalances and scope for action« (Bachmann-Medick 2009: 2). Um Fotografie als ein Medium der Vermittlung und Translation zu verstehen, ist es angebracht, über die kuratorische und mediale Repräsentation im Museumskontext hinauszugehen und transkulturelle – und damit verbunden translokale – Aushandlungen und Bedeutungszuschreibungen als zentrales Element des Austauschs zu verstehen. So muss das Spektrum der teilnehmenden Akteure im Kontext einer Mediation erweitert werden. Gemeint ist damit, dass neben der Repräsentation einer Fotografie in einem Museum oder einer Galerie bereits der Akt des Fotografierens, der Fotograf und die fotografierte(n) Person(en) sowie die Betrachter in die jeweilige Analyse einbezogen werden müssen. Von zentralem Interesse für die nachfolgende Argumentation sind die Austauschbeziehung zwischen lokalen und globalen Ereignissen und Personen sowie die damit verbundene Offenlegung von kulturellen Gemeinsamkeiten und Differenzen. Der Begriff der Transkulturalität bildet hierbei die Basis, wenn aus ethnologischer Perspektive heraus die Frage gestellt wird, wie verschiedene »Lesarten« ein und derselben Fotografie in sich ändernden Kontexten verhandelt und transformiert werden. Welches Wissen lässt sich durch die Betrachtung eines fotografischen Bildes vermitteln? Und welche Rolle spielen der institutionelle Kontext und die Materialität des fotografischen Objektes in diesem Zusammenhang? Transkulturalität (Welsch 1999; Benessaieh 2010; Juneja/Kravagna 2013; Ernst/Freitag 2015) als analytische Perspektive stellt eine konzeptuelle Betrachtungsweise in den Vordergrund, wonach Kulturen als relationale Netze und Strömungen in der aktiven Interaktion untereinander verstanden werden (vgl. Benessaieh 2010: 11). Demzufolge bedeutet Transkulturalität »a cross-cultural competence, a cohesive identity that transcends frontiers or time, a cohesive identity of self for individuals and communities who see themselves as continuously shifting between cultural flows and worlds« (Benessaieh 2010: 28). Das Verständnis der Transformation des Selbst, die unter anderem auch künstlerische Praxis durch kulturelle Begegnungen und Beziehungen konstituiert (vgl. Juneja 2011: 281), werden ebenfalls als wesentliches Element in der Fotografie verstanden. Wenn in diesem Zusammenhang neben dem Fotografen auch die fotografierten Personen sowie die Betrachter als aktiv Teilnehmende in einem fotografischen Ereignis verstanden werden, so spielen nicht nur Dynamiken der Zirkulation und Mobilität der Akteure oder der Fotografien eine wichtige Rolle. Während das Konzept der Transkulturalität es erlaubt, Kulturen als relationale Netze mit starker Betonung auf Gemeinsamkeiten und Verbundenheit zu verstehen, wobei sie in enger Interaktion durch Aushandlung und Wandel entlang von Widersprüchlichkeiten operieren (vgl. Benessaieh 2011: 19), bezweckt eine transkulturelle Forschung laut der Kunsthistorikerin Monica Juneja, to investigate the multiple ways in which difference is negotiated within contacts and encounters, through selective appropriation, mediation, translation, re-historicising and re-reading of signs, alternatively through non-communication, rejection or resistance – or a succession/
Fotografie – ein transkultureller Verhandlungsraum co-existence of any of these. Exploring the possible range of transactions built into these dynamics works as a safeguard against polar conceptions of identity and alterity, or against dichotomies between complete absorption and resistance, when discussing relationships between cultures. (Gasparini 2014)
Die beschriebene mögliche Vielfalt einer Transaktion eröffnet neue Perspektiven, wenn man ein fotografisches Ereignis als eine solche transkulturelle Interaktion versteht. Es geht dann nicht mehr um die Frage nach der Konstruktion eines bestimmten Wahrheitsgehaltes durch eine Fotografie (vgl. Sontag 2003: 11), vielmehr will man die Aushandlung und Produktion innerer Differenzierung und Komplexitäten von Kulturen verstehen, welche durch die Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren und Fotografien entsteht. Demzufolge ist es ein zentrales Argument, dass Fotografien die Aushandlung – und auch eventuelle Infragestellung – kultureller Zugehörigkeiten, Identitäten sowie Machtbeziehungen befördern, wobei auch Bilder selbst Gegenstand von unterschiedlichen Machtkonstellationen, Wissensproduktionen und Vermittlung werden können. In diesem Kontext erscheint es zentral, sich auch mit Aspekten der Politik des Ästhetischen (Rancière 2013) zu beschäftigen. So gilt die Annahme, dass Fotografie eine ästhetische Praxis und somit eine künstlerische Art des »Tuns und Machens« darstellt, »that intervene in the general distribution of ways of doing and making as well as in the relationships they maintain to modes of being and forms of visibility« (Rancière 2013: 8). Politische Interventionen von Künstlern, so Rancière, können aufgrund des Zusammenhangs zwischen Ästhetik und Politik als eine Ebene verstanden werden, auf welcher ein Sinn (distribution of the sensible) dessen verbreitet wird, was einer Gemeinschaft (unter anderem an Werten) gemein ist, sowie dessen Formen der Sichtbarkeit und Organisation (vgl. Rancière 2013: 13). Fotografen kann eine besondere gesellschaftspolitische Rolle zugesprochen werden, wenn sie durch ihre Praxis gesellschaftspolitische Ereignisse und Themen in eine ästhetische Form übersetzen. Sind diese Ereignisse zwar lokalen Ursprungs, erlangen aber durch die Verbreitung und Zirkulation der Fotografie eine transregionale politische Bedeutung, so lässt sich schlussfolgern, dass über diese Entwicklung mit dem Ereignis verbundene Zusammenhänge erst sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Von besonderem Interesse ist dabei, dass Fotografien es vermögen, beim Betrachter ein grenzübergreifendes Bewusstsein, eine »kritische Transregionalität« (Adajania/Hoskote 2010) zu erzeugen und dadurch Räume einer transkulturellen Auseinandersetzung zu schaffen, in denen Reaktionen wie Solidarität oder politische Teilhabe möglich sind. Fotografie wird zum Objekt des Affekts, zu einem sensorischen Regime, in welchem das Orale mit dem Taktilen und dem Haptischen (vgl. Edwards 2012: 221) verwoben ist. Begreift man Fotografie vor dem Hintergrund einer Politik des Ästhetischen, so muss deren Vielfalt und Komplexität erneut mit Blick auf verschiedene Bedeutungszuschreibungen verstanden werden. So kann auch erst eine bestimmte Rezeption einer Arbeit in einem veränderten institutionellen oder politischen Kontext deren politische Bedeutsamkeit in den Blick rücken (vgl. auch die Dikussion über Videokunst in Bublatzky 2015). Dies erlaubt, eine weitere Facette von Übersetzung und Vermittlung zu betrachten, in welcher sich wandelnde Betrachtungskontexte und Akteure als Rezipienten einer Arbeit eine zentrale Rolle erlangen.
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Wenn Wolfgang Welsch argumentiert, dass Kulturen tief verwoben sind und sich kontinuierlich gegenseitig durchdringen (vgl. Welsch 1999: 1), so liegt die eigentliche Herausforderung darin, klassische kulturelle Grenzen in ihrer Rechtfertigung und gleichzeitiger Auflösung durch die Betrachtung von fotografischen Arbeiten zu hinterfragen. In der nachfolgenden Diskussion der Arbeiten des indischen Fotografen Ravi Agarwal zeigt sich beispielsweise die Notwendigkeit, über eine kulturspezifische Rezeption hinauszugehen und trotz einer Verortung der fotografischen Auseinandersetzung in lokalen gesellschaftsökologischen Entwicklungen ihre transkulturelle Bedeutung zu analysieren. Diese Herausforderung und ein sich ständig ändernder Umgang mit ihr ermöglicht es, das fortwährende Aushandeln und eine nicht festzulegende Bedeutungszuschreibung von Agarwals Arbeiten in Katalogen und Ausstellungen im internationalen wie indischen Kontext nachzuzeichnen. Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass Agarwals Arbeiten sich nicht eindeutig in eine bestimmte Kategorie zeitgenössischer Kunstproduktion und Fotografie einordnen lassen; so wurden vor allem seine frühen Arbeiten in Indien zwischen Fotojournalismus und Straßenfotografie, die Werke seiner aktuellen Praxis auch in der performativen Fotografie angesiedelt. Dass Ravi Agarwal seine internationale Bekanntheit hingegen als Gegenwartskünstler erlangte, indem er im Jahr 2001 zur documenta 11 eingeladen wurde, stellt eine interessante Gegenperspektive dar: Während seine Praxis zwischen verschiedenen Genres der Gegenwartskunst, Aktivismus und Dokumentation changiert, eröffnet seine Beschäftigung mit einer »persönlichen Ökologie« und mit Themen des Umweltaktivismus sowie seine forschungsorientierte Methodik weitere Aspekte, die in ihrer transkulturellen Dimension verstanden werden müssen. Die Ökologie des Wassers – repräsentiert beispielsweise durch künstlerisch-fotografische Projekte über den Fluss Yamuna oder durch die Beziehung von Fischern im südindischen Staat Tamil Nadu mit dem Meer – ermöglichen zwar indienspezifische Einblicke, lassen sich aber aufgrund der ästhetischen Form von Performanz und Dokumentation nicht als kulturspezifische »indische« Gegenwartskunst bezeichnen. Vielmehr gewinnen die hiermit verbundenen Fragen nach Transformationsprozessen und transkulturellen Wissensproduktionen zentrale Bedeutung. Das Konzept der Transkulturalität erlaubt es, Aspekte der künstlerischen Medialität und Rezeptionsform anhand ausgewählter Beispiele seiner Arbeiten hinsichtlich folgender Fragen zu diskutieren: Inwiefern bietet das Medium der Fotografie die Möglichkeit einer kritischen überregionalen Auseinandersetzung mit der Ökologie und der Mensch-Umwelt-Beziehung? Schafft die Betrachtung bestimmter Wissensinhalte in einer künstlerisch-fotografischen Sprache einen Raum für eine demokratische und zivilrechtliche Diskussion, auch über geografische Distanzen hinweg? Diesen Fragen soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden, der sich Ravi Agarwal und dessen künstlerischem Werdegang widmet. Anhand einer Auswahl von Arbeiten wird im Anschluss die soziale Rolle der Fotografien aus einer transkulturellen Perspektive diskutiert.
Fotografie – ein transkultureller Verhandlungsraum
3. R avi A garwal – U mweltak tivist, F otogr af, K ünstler , D okumentarist Ravi Agarwal (geb. 1958) lebt und arbeitet als Künstler, Umweltaktivist, Autor und Kurator in Neu-Delhi (Andere Quellen: Nr. 1). In seinen Arbeiten vereint er Fotografie, Video und Installationen im öffentlichen Raum und setzt sich thematisch mit den Verflechtungen von Ökologie und Gesellschaft, dem urbanen Kontext und der Auswirkung einer globalen Investitions- und Finanzwirtschaft auf lokale gesellschaftliche Zusammenhänge auseinander. Mit seinen frühen Arbeiten aus den 1990er-Jahren lässt sich Agarwal in einem Bereich der Fotografie verorten, der als sozial-dokumentarisch (Millian 2011) bezeichnet wird.1 Neben Arbeiten im Bereich der Straßenfotografie wie der Serie A Street View (1993-1995) schuf Agarwal in dieser Phase seine Fotoserie Down and Out – Labouring under Global Capitalism (19972000), die aus einer Kollaboration mit dem Soziologen Jan Breman entstand und als gleichnamiges Buch veröffentlicht wurde (Breman/Das 2000). Für dieses Projekt fotografierte Agarwal über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren in der Stadt Surat im Süden Gujarats das Leben von Wanderarbeitern im sogenannten informellen Sektor, dokumentierte die Arbeitssituation und die teilweise prekären Lebensbedingungen, unter denen die Arbeiter oft mit ihren Familien und ihrem gesamten Besitz lebten. Über seine persönlichen Erfahrungen während dieser Zeit schreibt Agarwal: As I found myself in the company of some of the most politically and economically marginalized people, the process left me personally transformed at many levels. At one level was a sharing of the experience of their very quiet dignity and uprightedness [sic!] despite a very sparce [sic!] material existence. At another, I could not but interrogate and negotiate my own position as a photographer trying to represent another, especially where I was clearly privileged in many ways. (Agarwal 2016)
Diese selbstreflektierende Stellungnahme über die Transformation und Veränderung seiner Position als Fotograf wurde zu einem Leitgedanken in seiner Arbeit. Wie Ravi Agarwal in einem Interview erklärt, ist er seitdem zunehmend von dem Wunsch geprägt, aus dem Genre der Dokumentation herauszutreten und sich mit neuen fotografischen Formen zu beschäftigen, in denen das Selbst in seiner Beziehung zur Umwelt in besonderem Maße in Erscheinung tritt (Sood 2010). Der Versuch, sich künstlerisch-fotografisch einer »persönlichen Ökologie« (personal ecology) (vgl. Agarwal 2003: 34; Adajania 2012) anzunähern, bedeutet für Agarwal, die sich ständig im Wandel befindlichen Beziehungen des Selbst zu einer sich ebenso verändernden Umwelt fotografisch zu erfassen. Auf diese Weise unternimmt Agarwal den Versuch, sich mit den Auswirkungen von globalen, politischen, kapitalistischen und ökologischen Veränderungen auf das Individuum in seiner lokalen Situation auseinanderzusetzen. Diese »persönliche Ökologie«, nach der Agar1 | Sozialdokumentarische Fotografie befasste sich im Europa und Amerika des 20. Jahrhunderts mit sozialen und ökologischen Aspekten mit dem Ziel, die Öffentlichkeit auf soziale Missstände und Ungerechtigkeiten gegenüber marginalisierten sozialen Klassen, wie Arbeitern, Slumbewohnern und armen Menschen, aufmerksam zu machen. Einer ihrer berühmten Vertreter ist der brasilianische Fotograf Sebastiao Salgado mit seinen Arbeiten über globale Migration und Industriearbeiter.
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wal in vielen seiner Arbeiten in Form von Performanz, sozialer Dokumentation, Installation mit Video, Poesie und Fotografie strebt, und die sowohl seine eigene als auch andere Personen mit einschließt, reflektiert eine Ästhetisierung des Politischen und eine Politisierung des Ästhetischen (Adajania 2012). Dabei spiegeln sich künstlerische Reaktion und Auseinandersetzung mit ökologischen Missständen in Agarwals Arbeiten, in die er auch seine Expertise als Ingenieur und als Umweltaktivist einfließen lässt. Letztere steht in engem Zusammenhang mit seiner Funktion als Gründer und Direktor der Nichtregierungsorganisation Toxics Link (Andere Quellen: Nr. 2), die sich für eine giftfreie Umwelt und eine damit verbundene Informationspolitik und Aufklärung in Indien einsetzt. In einer Gesprächsrunde mit TJ Demos und Filmemacher Sanjay Kak über Kunst und ökologische Politik in Indien verweist Ravi Agarwal bei der Frage, wie eine künstlerische Reaktion auf ökologische Missstände aussehen könne, auf die Notwendigkeit, persönliche Sichtweisen und Erfahrungen miteinzubeziehen. Er erklärt: As part of my art practice I try to address some of these urgent concerns, for example, through my work on the river in Delhi (eg After the Flood, 2011, and Alien Waters, 2004-2006), and on the farming of marigolds (Have You Seen the Flowers on the River, 2007), and in the documentation of labour in Gujarat (Down and Out: Labouring under Global Capitalism, 1997-2000), which is locally situated but reflective of the global capital flows and new global imaginations. I see these as deeply interconnected, not caused by some ›foreign hand‹, but as an internalization of the idea of a global identity. (Demos 2013: 156)
Die Verbindung von sozialem Aktivismus und fotografischer Ästhetik bis hin zur Verinnerlichung der Idee einer globalen Identität verlangt es, Agarwals Arbeiten in Hinblick auf ihre Vielfältigkeit von Transaktionen und Vermittlungen zu betrachten. Die bereits geschilderten, sich je nach Ausstellungskontext ändernden Bedeutungszuschreibungen stellen hierbei eine wesentliche Dimension dar. Dass Agarwal seinen Durchbruch nicht in Indien, sondern durch die Einladung von Kurator Okwui Enwezor zur documenta 11 in Kassel erfuhr, wo er Werke aus der Serie Street View (1993-1995) sowie aus Down and Out – Labouring under Global Capitalism (1997-2000) zeigte, kann als globaler Moment von Bedeutungszuschreibung bezeichnet werden. Denn dies bedeutete nicht nur seine Anerkennung als Künstler, sondern auch eine sich verändernde Rezeption seiner Praxis: Seine bis dahin als sozialdokumentarisch geltende Fotografie wurde nunmehr dem Feld der Kunst zugeordnet. Wie Agarwal in einem Interview mit der Autorin erklärte, war zu dieser Zeit die Rezeption seiner Fotografie als Kunst in Indien noch nicht vollzogen, auch weil sein inhaltlicher Schwerpunkt auf die Mensch-Umwelt-Beziehung keine einfache Zuordnung zuließ (Bublatzky 2011). Es folgten zahlreiche Einladungen, zunächst zu internationalen Gruppenausstellungen über indische Fotografie und Gegenwartskunst. Je nach Ausstellungskontext lag der Schwerpunkt der Rezeption entweder auf einer kulturspezifischen Zuschreibung indischer Kunst beziehungsweise Fotografie oder auf seiner Tätigkeit als Umweltaktivist. Für ihn selbst stellte dies keinen Gegensatz dar: I hope to unravel [with this conversation] some of my engagements in life, and how they lead to some of the work I do. Some of which lead to the art world, but some also to other forms. I think my being called an artist should be a combination of these, since it is not about production of art alone but also about engagement and thinking about that. (Sood 2010: 642)
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Abb. 1: Ravi Agarwal: Alien Waters. Serie 1. Foto: Ravi Agarval
In seiner Serie Alien Waters (2004-2006) setzt sich Agarwal mit der zunehmenden Urbanisierung und den Veränderungen der Mensch-Natur-Beziehung auseinander (Abb. 1). Die Arbeiten entstanden an dem für die Hindus heiligen Fluss Yamuna, welcher durch Delhi fließt, und dokumentieren Menschen, die dort leben und arbeiten, Behausungen, Landschaftsszenen und Gegenstände, die entweder vom Fluss angespült oder von Menschen an seinen Ufern zurückgelassen wurden: Der Fluss Yamuna wird durch die expandierende Stadt zurückgedrängt, verschmutzt, abgetötet, umgeleitet. Durch globale-urbane Entwicklungsstrategien und städtebauliche Maßnahmen wird er zu etwas Neuem stilisiert, verliert seine Funktion als Lebensader der Stadt, muss Landgewinnungsmaßnahmen weichen, genau wie die Armen der Stadt, welche bislang an den Ufern von und mit dem Fluss gelebt haben und deren Zukunft ungewiss ist. Liest man die Schriften, die Ravi Agarwal häufig begleitend zu seinen Arbeiten verfasst, so erfährt man auch etwas über die Suche des Fotografen und den Versuch, die Beziehung seines Selbst zu diesem Fluss – seine »persönliche Ökologie« – in einer Form zu fassen: Regaining personal ecologies as a photographer/activist. My organic body now extended by the inorganic body of the city. Water on a filtered tap. The river is alive, throbbing in my veins. The unresolved questions of spirit and sense. Wherein lies my reality? The engagement with the triad of the self, the city and the river, becomes a reclamation of the self. I photograph even as I experience other human abandonment. I go back, again and again, endlessly, searching. (Agarwal 2016)
In der internationalen Wanderausstellung Indian Highway (2008-2012) wurde unter anderem eine Fotografie der Serie Immersion. Emergence (2007) mit dem Titel Shroud (2007) gezeigt (Abb. 2). Diese Arbeit, die den Fotografen eingehüllt in ein weißes Leichentuch und an einem Flussufer stehend in mehreren Aufnahmen zu verschiedenen Tageszeiten zeigt, ist ein experimentales Selbstporträt. Sie thematisiert, ähnlich wie Alien Waters, den Verlauf von Leben und Tod, und das komplexe
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Beziehungsgeflecht der Menschen, der Stadt und des Flusses Yamuna. Nancy Adajania erklärt hierzu: His work is a good example of how an artist can aestheticise the political and politicise the aesthetic in the same gesture, one without the other would make an inadequate impact. This predicament is expressed in his set of performance photographs from the series ›Immersion/ Emergence‹ where he appears covered in a shroud on the banks of a river. (Adajania 2012)
Der Tod des Flusses ist die Folge der Verschmutzung und Zurückdrängung durch die Stadt. Diese ökologischen Veränderungen stehen im Kontrast zum Lebenszyklus des Menschen, dessen Lippen, mythischen Erzählungen folgend, bei seiner Geburt als erstes mit dem Wasser des heiligen Flusses benetzt werden, welchem er nach seinem Tod als Asche übergeben wird. Für Ravi Agarwal stellt dieses Projekt die erste selbst-performative Arbeit dar: It was a freeing of the self. It was no longer about anyone medium, photography or otherwise, but about the idea of something. To me, a medium as skill is a boundary that is meant to be broken. Boundaries have discipline but that discipline is not a limitation; rather, it’s a way of moving ahead. (Sood 2010: 645f.)
4. F otogr afie im gegenwärtigen I ndien In Indien nimmt der Aspekt der Performanz einen wichtigen Stellenwert in der Fotografie und somit in der visuellen Kultur ein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Europäern in Indien eingeführt, stand sie vor allem im Dienst kolonialer Herrschafts- und Expansionsansprüche des British Empire (Pinney 1997). Zugleich fand innerhalb der indischen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts eine rasche indigene Adaption statt, in der indische Fotostudios eine wichtige gesellschaftliche Rolle einnahmen. Sie boten Menschen aus subalternen und mittleren Gesellschaftsgruppen eine lukrative Alternative zur Malerei (vgl. Sinha 2009: 282) und erlaubten mit kolorierten und theatralisch in Szene gesetzten Studioaufnahmen in der Porträt- und Hochzeitsfotografie neue Formen der künstlerischen Repräsentation und Selbstdarstellung. Die soziale Komplexität der Funktion der Studiofotografie beruht auf dem »Paradigma des Fiktiven« (Sinha 2009: 289) und erlaubte es, die Fotografierten in einer ihrer realen sozialen Stellung nicht entsprechenden Erhabenheit zu inszenieren. Fotostudios wurden zu »Kammern der Träume« (chambers of dreams), in welchen, wie Christopher Pinney beschreibt, Personen sich mithilfe von verschiedenen Accessoires oder Hintergründen mit einem idealisierten Selbst darstellen konnten (vgl. Pinney 1997: 178ff.). Die fotografische Inszenierung des Narrativen und performativen Selbst fand auch außerhalb der kommerziellen Fotostudios statt, wie die Kunstkritikerin und Kuratorin Gayatri Sinha mit den Arbeiten des Künstlers und Pioniers der indischen Fotografie, Umrao Singh Sher-Gil (1870-1954), als einem besonderen Genre der performativen Fotografie aufzeigt (vgl. Sinha 2009: 291). Während performative Fotografie in der modernen Kunstgeschichtsschreibung Indiens zunächst keinen herausragenden Stellenwert hatte, sondern eher der visuellen Kultur zugeordnet wurde, kann sie ab den 1990er-Jahren als eigenständiges Genre definiert werden, das besonders
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unter dem Aspekt kultureller und politischer Zuschreibungen an das fotografierte Subjekt immer mehr Bedeutung gewann (vgl. Sinha 2009: 282).
Abb. 2: Ravi Agarwal: Shroud. Serie Immersion. Emergence (2007). Foto: Ravi Agarval
Es ist interessant zu beobachten, dass sich Ravi Agarwals Arbeiten aus den späten 1990er-Jahren zwar durch einen dokumentarischen Charakter auszeichnen, aber zuerst international als künstlerische Praxis an der Schnittstelle sozialer Dokumentation und Umweltaktivismus rezipiert werden, bevor diese Perspektivierung auch in Indien aufgegriffen wird. In seinen jüngeren Arbeiten wird die Dokumentation zunehmend durch die Performanz der »persönlichen Ökologie« als wichtigem Element seiner Praxis ergänzt. Auch wenn Agarwal nicht der Tradition des indischen Fotostudio-Realismus folgt, stellt die fiktive Performanz ein für ihn zentrales Feature dar, um sich mit dem für ihn wichtigen Thema einer sich globalisierenden Welt und der daraus resultierenden Mensch-Umwelt-Beziehung auseinanderzusetzen. So verwendet er gezielt performative Elemente in der Fotografie und Videoarbeit, um die Konstruktion kulturspezifischer indischer Identitäten in der gegenwärtigen Gesellschaft zu hinterfragen und globale Entwicklungen als wichtige Einflüsse der Gegenwart in der indischen Gesellschaft zu verstehen. Die hieraus entstehende In-Beziehung-Setzung mit der Welt vermag dabei auch einem kulturfremden Betrachter Raum für eigene Interpretation zu geben. Dies bedeutet, dass ein transkultureller Ansatz die Möglichkeit eröffnet, Agarwals Arbeiten an Schnittstellen verschiedener Aushandlungsprozesse und Rezep-
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tionsmuster zu lokalisieren. Wurde seine Karriere als Künstler durch die Anerkennung in einem westlich orientierten Kunstsystem einerseits erst möglich, half ihm dies andererseits, seinen persönlichen fotografischen Stil zu entwickeln und sein Wissen über lokale urbane, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen als ökologischer Aktivist in Indien künstlerisch umzusetzen. Ihn beschäftigen grundsätzliche Fragen der Nachhaltigkeit im urbanen Kontext Delhis, wie beispielsweise der Markt für Ringelblumen, die im religiösen und privaten Kontext eine wichtige Rolle im alltäglichen Leben einnehmen. Die Arbeit Have you seen the flowers on the River (2007-2011) dokumentiert über einen Zeitraum von fünf Jahren anhand von Feldnotizen, Videos und Installationen die Reise der Ringelblumen von den kleinen Farmen am Ufer des Yamuna zu dem 200 Jahre alten Markt in Alt-Delhi, wo die Blumen täglich verkauft werden (vgl. Demos 2013: 156). Wie Agarwal im Gespräch mit TJ Demos und Sanjay Kak erklärt, wollte er mit diesem forschungsorientierten Projekt ein nachhaltiges Leben inmitten der dichtbesiedelten Stadt aufzeigen. So dokumentierte er anhand von Interviews, Fotografien und Videos, wie Agrarflächen für neue stadtplanerische Entwicklungen und unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit für enorme Preise im Zuge der Globalisierung der Stadt verkauft wurden. Dabei war es ihm wichtig herauszufinden, ob Nachhaltigkeit allein durch die Einführung und Umsiedlung »neuer Märkte« funktionierte, oder ob diese nicht bereits im Leben derjenigen Menschen verankert waren, die von der Ringelblumen-Wirtschaft lebten (vgl. Demos 2013: 156). Er bemerkt, dass ›sustainability‹ is being interpreted by all (corporations, governments, NGOs) for their own uses. Both through my activist and artistic involvements, I am interested in it from a groundup perspective of equality and rooted in the question of ›what is a good life?‹. (Demos 2013: 156-157)
Agarwal offenbart die direkte Beziehung der globalen Metaebene aus Finanzen, Technologien und Märkten mit den Entwicklungen des sogenannten Fortschritts auf der Mikroebene und stellt Menschen in den Mittelpunkt des Geschehens, die, obwohl direkt betroffen, im öffentlichen Diskurs sonst unsichtbar bleiben. Indem er Installationen und Veranstaltungen im öffentlichen Raum am Flussufer inszeniert, bezieht er interessierte Menschen der Stadt Delhi in das Projekt mit ein und versucht, über seine künstlerisch-aktivistische Praxis einen sozialen Raum der kritischen Auseinandersetzung und Bewusstseinsschaffung zu erzeugen, der seiner Meinung nach in Delhi nicht existiert: The city lacks conversations, real conversations. It lacks a real social space. It’s such a divided city. If you are not an architect, you cannot talk to an architect. If you’re not an urban planner, you cannot talk to an urban planner. If you’re not an environmentalist, you cannot talk to an environmentalist. The citizen as one who inhabits multiple spaces of the city is completely missing. (Sood 2010: 646)
In diesem Punkt nimmt Agarwal eine Position an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik ein, und zwar nicht nur, indem er seine Fotografie von einer rein dokumentarischen in eine ästhetisch-politische Praxis überführt. Vielmehr verfolgt er eine Strategie, die mit Rancière als »the distribution of the sensible« (Rancière 2013) verstanden werden kann, und derzufolge Agarwal selbst für sich die Verant-
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wortung sieht, einen Beitrag zur Stärkung gemeinsam geteilter zivilrechtlicher Werte der Bürger zu leisten. Um das Ausmaß der Wirksamkeit nicht nur der Fotografie als Endprodukt, sondern auch der im Vorfeld stattfindenden künstlerischen Handlungen zu verstehen, ist es notwendig, damit verbundene transkulturelle Verschränkungen und Austauschprozesse zwischen Netzwerken von Akteuren und Instituten ebenso mit einzubeziehen wie Interviews mit Farmern oder Dokumentationen auf dem Markt. Um die Bedeutsamkeit seiner Praxis im Sinne von Rancière zu verstehen, muss auch Agarwals aktive Teilhabe an einer zunehmenden Vernetzung von internationalen und lokalen Akteuren aus der Kunstszene und dem Umweltaktivismus Beachtung finden. Seine Rezeption als Gegenwartskünstler in der lokalen Kunstwelt in Indien fördert nicht nur die Anerkennung und Unterstützung seiner Vorhaben, sondern auch die Wahrnehmung bislang unbeachteter Themen wie Klimawandel, Umweltschutz oder gesellschaftliche Missstände. Dabei spiegelt sich in Agarwals Position der Wunsch nach einer Sichtbarmachung diskursiver Demokratie im öffentlichen Raum wider: It’s hard to define who the citizen of the city is today. Democracy is not only about knowledge, there is something more – more than elections or the rights of citizens. I deeply miss that. I miss it driving on the roads; I miss it in the art world and in the environmental world. In institutional public space, ideally there are multiple conversations – it’s discursive, empathetic. We have only semblances of this. (Sood 2010: 646)
Es wird deutlich, dass Künstler wie Agarwal als Mediatoren zwischen Menschen fungieren, die sonst nicht miteinander ins Gespräch kommen würden. Es lässt sich eine Vermittlung oder Transformation erkennen, die eine Bewusstwerdung (Sinn-Verbreitung) über sonst nicht sichtbare Bevölkerungsgruppen, gesellschaftlich brisante Themen und global-lokale Verstrickungen avisiert. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, sich neben der künstlerischen Intention auch mit der Funktion der von ihm geschaffenen Fotografien zu beschäftigen, und dies bedeutet, mit deren Materialität und Narration. Hierfür ist nicht nur ihre Zirkulation zentral, sondern auch, was Elizabeth Edwards mit dem Begriff des »Sensorischen Fotos« beschreibt: The understanding of photographs cannot be contained in the relation between the visual and its material support but rather through an expanded sensory realm of the social in which photographs are put to work. The shifts from meaning alone to mattering and from content to social process are integral to material approaches to photographs and have demanded an analytical approach that acknowledges the plurality of modes of experience of the photograph as tactile, sensory things that exist in time and space and are constituted by and through social relations. (Edwards 2012: 228)
Die von Edwards proklamierte Notwendigkeit, eine Fotografie als ein taktisches sensorisches Objekt zu verstehen, das durch soziale Beziehungen konstituiert wird (und damit an deren Produktion beteiligt ist), lässt sich auf Agarwals Arbeiten und die Auseinandersetzung mit seiner »persönlichen Ökologie« konkret übertragen. Beispielhaft kann hierfür die Arbeit Shroud (2007) genannt werden, mit der Agarwal sich explizit als Teil bestehender, realer wie mythischer Mensch-Umwelt-Beziehungen positioniert. Dabei wäre es erneut zu kurz gegriffen, seine Arbeit über
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eine kulturspezifische Rezeption zu verstehen, wie dies in internationalen Überblicksausstellungen über indische Gegenwartskunst teilweise geschieht. Der Einwand darf aber auch nicht missverstanden werden: Ravi Agarwal verfolgt nicht das Ziel, sich von der indischen Kultur abzuwenden. Vielmehr versucht er, eine Form der kulturellen Pluralität zu schaffen, indem er mit seinen Arbeiten den Blick auf Gemeinsamkeiten mit und Differenzen zu anderen Kulturen öffnet, wobei trotz »gemeinsam-geteilter« Erfahrungen, beispielsweise im Kontext weltweiter ökologischer Entwicklungen, eine lokale Kontextualisierung unerlässlich bleibt. Somit erfährt die eingangs beschriebene Funktion der Fotografie als ein Mittel des Sich-in-Beziehung-Setzens mit der Welt (vgl. Sontag 2003: 10) in und mit Agarwals Werk eine neue Aktualität und führt darüber hinaus zu der Bestätigung, dass seine Arbeit als politisch-künstlerische Intervention verstanden werden muss.
5. S chlussbemerkung In diesem Beitrag wurde eine transkulturelle Perspektivierung vorgestellt, um Gegenwartsfotografie in ihrer Funktion eines Sich-in-Beziehung-Setzens und einer gesellschaftspolitischen Intervention über kulturelle Grenzen hinweg zu diskutieren. Mit dem Fotografen Ravi Agarwal und seinen Arbeiten im Bereich des künstlerischen Umweltaktivismus in Indien wurde exemplarisch aufgezeigt, dass global-lokale Beziehungsverflechtungen und Mobilitäten eine transregionale Verbreitung von Sinnhaftigkeit und von Aspekten der Nachhaltigkeit, des Umweltschutzes oder der »persönlichen Ökologie« maßgeblich unterstützen. Durch die Rezeption von Fotografie als einer Kunstform, die sich an der Schnittstelle von Umweltaktivismus und Sozialdokumentation verortet, werden Prozesse der Transaktion und Vermittlung als zentrales Element der Bedeutung und Wirkung von Fotografie verstanden. Eine transkulturelle Sichtweise erlaubt es, die fotografischen Praktiken, deren Bedeutung und Rezeption an Schnittstellen historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu lokalisieren und auf diese Weise eine sozialkritische Rolle von Fotografie über geografische und kulturelle Grenzen hinweg in den Vordergrund zu stellen. Somit stellen die Arbeiten von Ravi Agarwal ein konkretes Beispiel für Prozesse einer transkulturellen Mediation dar. Dies liegt in der Tatsache begründet, dass Agarwal in seinen Arbeiten gesellschaftspolitische Ereignisse und Themen in die ästhetische Sprache einer dokumentarisch-performativen Fotografie übersetzt, die zwar lokal verortet, aber von globaler Bedeutung sind. Die Entwicklung seiner fotografischen Form ermöglicht es ihm, das Konzept der »persönlichen Ökologie« umzusetzen und das eigene Selbst mit der immer komplexer werdenden Verflechtung von Umwelt, globalem Kapitalismus und humanitärer Ausbeutung in Beziehung zu setzen. Bei der Verschränkung von Lokalem und Globalem, Mythos und Realität, Subjektivität und Gemeinschaft nimmt Agarwal eine transkulturelle Perspektive ein. Mit seinen Arbeiten erzeugt er einen Raum für eine kritische Transregionalität, die es allen an dem fotografischen Ereignis beteiligten Akteuren erlaubt, sich mit Themen wie Politik, Katastrophen, Kriegen oder Umweltschutz über geografische und kulturelle Distanzen hinweg nicht nur in Beziehung zu setzen, sondern sich auch einer jeweils persönlichen »Ökologie des Selbst« bewusst zu werden.
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Andere Quellen Nr. 1: www.raviagarwal.com/index.php (12.04.2017). Nr. 2: http://toxicslink.org/ (12.04.2017).
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III. Europa und die Welt: Postkoloniale Perspektiven
Korrektiver Blickwechsel Postkoloniale Einflüsse auf die Programmpolitik spezialisierter Filmfestivals Verena Teissl
There is a strange kind of tragic enigma associated with racism. No one, or almost no one, wishes to see themselves as racists; still, racism persists, real and tenacious. (M emmi 2000: 3)
1. B lickwechsel Der Stellenwert postkolonialer Einflüsse auf den europäischen und deutschsprachigen Filmfestivalbetrieb ist hoch – auch und gerade in Zeiten der Globalisierung. Als Auflehnung gegen eurozentrische Denk- und Handlungsmuster haben insbesondere die Schriften von Frantz Fanon (1925-1961) und Aimé Césaire (19132008) politische Diskurse begründet, die in die Programmpolitik von spezialisierten Filmfestivals ab den 1960er-Jahren einflossen. Der Film, so die These, ist eine Kunstform, die sowohl Zuschreibungen als auch (Selbst-)Repräsentationen sichtbar macht. Als künstlerisches Medium, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ästhetisch ausdifferenziert und global verbreitet hat, hat es in seinen diversen Erscheinungsformen zudem die Verfasstheit des 20. Jahrhunderts quasi aufgesogen. Dieser Beitrag nimmt allerdings nicht die bekannte Marktdominanz von Hollywood und Bollywood in den Blick, sondern fokussiert den kulturellen Transfer der Filmtechnik in außereuropäische Kulturen, ihre dortige Anverwandlung und die (Rück-)Vermittlung der unabhängigen Filmszene nach Europa insbesondere über Festivals (Teissl 2014) mit einem exemplarischen Fokus auf das westafrikanische Filmschaffen. Filmfestivals fungieren, ähnlich wie europäische Verlage für die Übersetzung von (globaler) Literatur, als entscheidende Institutionen und Gatekeeper (vgl. Radhakrishnan 2016: 209), sie betreiben darüber hinaus Agenda-Setting, Diskursstiftung und Internationalisierung (u.a. De Valck 2007; Iordanova/Rhyne 2009; Teissl 2013). Für die Vermittlung internationaler Filme auf Festivals ist sowohl die Ermächtigung außereuropäischer Filmschaffender zur Selbstrepräsentation bedeutsam als auch die räumliche Dezentralisierung der Festivals selbst. Denn die Film-
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festivalwelt hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts ausdifferenziert; neben den repräsentativen Festivals etwa in Cannes, Venedig und Berlin ermöglichen spezialisierte Festivals Gegendiskurse zur Hierarchisierung von Kunst- und Kulturprodukten nach Herkunftsländern und stellen Selbst- vor Fremdrepräsentation. Ziel der folgenden Rekonstruktion ist es insbesondere, das Narrativ des Eurozentrismus in seiner Tragweite am Beispiel des Filmbetriebs aufzudecken. Der Beitrag stützt sich dabei auf die Erkenntnisse der Filmfestivalforschung (u.a. De Valck 2007; Iordanova/Rhyne 2009; Dovey 2015; Radhakrishnan 2016; De Valck u.a. 2016; Andere Quellen: Nr. 1), aber auch auf die professionelle Erfahrung der Autorin, die in den Jahren 1992 bis 2008 an zahlreichen weltweiten Festivals teilgenommen und selbst auf ihnen gearbeitet hat.
2. P ostkolonialismus als politisches P rojek t In seinem Radiovortrag Die Heterotopien beschrieb Michel Foucault Kolonialreiche als extreme Typen von Heterotopien, als Raumentwürfe, in denen kompensiert wird, was in der eigenen Kultur aufgrund der herrschenden Gesellschaftsordnung nicht offen existieren durfte (vgl. Foucault 1992: 45). Dieses »Auslagern«, Imaginieren und Spiegeln von (unterdrückten) Aspekten der eigenen gesellschaftlichen Ordnung hat eine strukturelle Ähnlichkeit zum Konzept des Othering, wie es Edward Said am Beispiel des Orients (Said 1978) beschrieben und Gayatri Spivak als solches benannt hatte (vgl. Spivak zit.n. Thomas-Olalde/Velho 2011: 28). Othering meint nicht die Differenzbetrachtung auf humanistisch basierender Neugier, sondern einen Vorgang der Abwertung zugunsten der eigenen, europäischen Aufwertung und Identitätsstiftung. Diese Abwertung ist zugleich Ausdruck eines Machtverhältnisses und -missbrauchs, wie er in der Geschichte der Neuzeit keinen gewaltvolleren Ausdruck fand als im Kolonialismus. Kulturbegegnungen fanden unter politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen statt: Die in den kolonialisierten Ländern vorherrschenden Sprachen, Religionen und Gesellschaftsstrukturen wurden unterdrückt und zerstört, um europäische Werte zu implementieren. In Europa selbst brachte das kolonialistische Denken tiefsitzende, über Jahrhunderte gewachsene Narrative von Rassismus und Diskriminierung mit sich. Wesentliche Instrumente zu deren kollektiver Verankerung waren die Entwicklung stereotypisierter Fremdbilder (Said 1978; vgl. Lüsebrink 2012: 83ff.) sowie die Inszenierung des Fremden als des Anderen, Subalternen. Eindringliches Beispiel dafür waren die menschenverachtenden Spektakel, wie sie die Völkerschauen, die »ethnologischen Dörfer« (im Französischen sprechender als zoo humain bezeichnet) und die Kolonialausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts boten. In Deutschland fanden zwischen 1875 und 1900 auf Initiative des Hamburger Zoodirektors Carl Hagenbeck zahlreiche, von einem Millionenpublikum besuchte Völkerschauen statt, bei denen »zwischen drei und hundert Angehörige fremder Kulturen importiert« und zur Schau gestellt wurden (vgl. Zanella 2003: 16). Für die »ethnologischen Dörfer« in Frankreich und Österreich wurden Afrikanerinnen1 und Asiatinnen, »die den ganzen Tag dem neugierigen Publikum eine Aufführung ihres Alltagslebens geben mussten, ausgestellt. Pazifische und afrikanische 1 | Der vorliegende Beitrag verwendet die feminine Form für beide Geschlechter.
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Dörfer wurden importiert, um die Einwohner in ihrem natürlichen ›Habitat‹ auszustellen.« (Zanella 2003: 19) Auf diesen Schauplätzen des bestenfalls als exotisch und schlimmstenfalls als »unzivilisiert« Wahrgenommenen wurden Menschen zu Objekten gemacht und eine Form der Unterhaltung inszeniert, die zugleich der europäischen Selbstvergewisserung und ihrer Überlegenheit über außereuropäische Kulturen diente. Aus dem Blickwinkel der europäischen »Zivilisation« schien dieser ethnologisch inszenierte Raum des Anderen den Beweis zu erbringen, dass die Moderne Europa vorbehalten sei. Die komplexen gesellschaftlichen Auswirkungen des Kolonialismus wurden in Europa erstmals durch die Schriften des afrokaribisch-französischen Politikers und Schriftstellers Aimé Césaire und des aus Martinique stammenden Politikers und Psychiaters Frantz Fanon wahrgenommen. Ihre massive Kritik am Kolonialismus begründete in den 1950er- und 1960er-Jahren den postkolonialen Diskurs im Sinne einer politischen Bewegung mit unterschiedlichen Theoriekonzepten, Strömungen und Phasen. Grundlegend ist für alle die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Herrschaftsstrukturen in den ehemaligen kolonialisierten Gesellschaften: Dazu zählen der Umgang mit dem mehrfachen, massiven Kontinuitätsbruch kultureller Identitäten, der damit verknüpfte, schwierige Aufbau neuer gesellschaftlicher Institutionen, die Durchsetzung außenorientierter Anerkennung und innenorientierter Implementierung der Souveränität. Fanons zornige Anklage Die Verdammten dieser Erde (1961, dt. 1966) erregte durch seine schockierenden Fallstudien von physisch und psychisch zerstörten Menschen im Getriebe der kolonialen Gewalt und seinem darauf auf bauenden Verständnis für Gegengewalt heftige Kontroversen (Fanon 2015; Conrad 2012). Fundamental ist allerdings die Erkenntnis, dass Postkolonialismus keine auf die ehemaligen Kolonien beschränkte Angelegenheit ist: Das Gesamtphänomen Postkolonialismus umfasst die Auswirkungen der imperialistischen Handlungs- und Denkstrukturen auf außereuropäische und europäische Gesellschaften (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 24). Dieser Ansatz forderte von Europa eine aktive Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Kolonialgeschichte und, in der Konsequenz, ein neues Geschichtsverständnis (vgl. Bhabha 2000: 61f.). Der Postkolonialismus provozierte die Aufdeckung stereotypisierter, rassistischer Denkweisen in Europa, die sich durch Spektakel wie die Völkerschauen tief ins kollektive Bewusstsein hatten eingraben können, während Selbstrepräsentation und Dialog verweigert wurden. Der Kameruner Postkolonialismus-Theoretiker Joseph-Achille Mbembe schrieb über die imperiale Phase des Kolonialismus: »Der zweite Eckpfeiler des imperialen Bewusstseins war von jeher der gewaltige Wille zur Unwissenheit […], eine ungenierte und frivole Unwissenheit, die von vornherein jede Möglichkeit einer Begegnung und Beziehung ausschließt.« (Mbembe 2015: 137) Dies betraf auch die Wissenschafts- und Kunstproduktion aus den (ehemaligen) Kolonien, welche bis ins vorgerückte 20. Jahrhundert kaum Eingang in europäische Märkte und Angebote fanden oder rezipiert wurden.2 2 | 1767 kam der Wissenschaftler Francisco Javier Clavijero (1731-1787) nach der Vertreibung der Jesuiten aus Mexiko nach Italien, wo sein Werk zu Geschichte und Gesellschaft Mexikos publiziert wurde und den Charakter einer Verteidigungsschrift gegenüber Cornelius de Praws rassistischer Schrift über die »degenerierten Völker« Indiens erhielt. Ein weiterer Vordenker war der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz (1881-1969), der von Hybridität
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Ein frühes antikolonialistisches Engagement in Europa ist von den Surrealistinnen und Surrealisten dokumentiert: In Reaktion auf die vorletzte Kolonialausstellung 1931 in Paris organisierten Luis Aragon, Paul Eluard, Yves Tanguy und andere, unterstützt von der Kommunistischen Partei, die Gegenausstellung La vérité sur les colonies (1931-1932). Darin kritisierten sie den imperialen Gestus der Kolonialausstellungen und präsentierten in einer Mischung aus politischer und ästhetischer Herangehensweise Fotografien (eigene und solche von Frida Kahlo und Manuel Álvarez Bravo) sowie kultische Objekte. Für ihre Kritik an der rationalen abendländischen Entwicklung galt den Surrealistinnen und Surrealisten die Kunst aus lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern als maßgebliche Inspiration; als Begründerinnen des Exotismus nahmen sie damit außereuropäische Gesellschaften auch mit einem ethnologischen Blick wahr, was eine Spielart eurozentrischer Betrachtungsweise des Anderen darstellte. Für eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit der Kunst außereuropäischer Kulturen bedurfte es im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert daher des merkbaren Eintritts lateinamerikanischer und afrikanischer Kunstformen in europäische Märkte und Kulturbetriebe; erst dies ermöglichte diskursive Wendepunkte und einen Blickwechsel. Im Filmbetrieb setzte die Internationalisierung von Programmangeboten ab Mitte des 20. Jahrhunderts ein, Festivals spielten dafür eine zentrale Rolle.3
3. A ussereuropäisches F ilmschaffen im postkolonialen K onte x t Die weltweite Ausdifferenzierung der Filmproduktion im 20. Jahrhundert ermöglichte neben den kommerziellen Traumfabriken Hollywood und Bollywood4 die Entfaltung von Strömungen, Formaten und Gattungen, die den Film als ein komplexes künstlerisches Medium mit gesellschaftspolitischem Anspruch zu nutzen suchten. Zu ihnen gehört auch der postkoloniale Film, in seiner politischen Ausprägung als Third Cinema bezeichnet (vgl. Radrakrishnan 2016: 209f., mit Bezug auf Thomas Elsässer 2005). Die frühe Verbreitung der Filmtechnik durch die Verkaufsvertreter der Brüder Lumière hatte zahlreichen Ländern deren Adaption ermöglicht und sie zur Selbstdarstellung ermächtigt.5 Indien, Mexiko und Brasilien sind Beispiele nicht nur für Filmindustrien seit dem frühen 20. Jahrhundert, und Transkulturalität in der kubanischen Gesellschaft sprach (vgl. Lüsebrink 2012: 14ff.). Sprechend ist auch die koloniale Gesetzgebung in Bezug auf Kunstproduktion: Im Vizekönigreich Neuspanien unterlag epische Literatur dem Index, sie durfte weder verfasst noch verbreitet werden. 3 | Internationalisierungstendenzen von Kulturangeboten in den anderen Sparten im 20. Jahrhundert sind nicht übergreifend recherchiert; als Schlaglicht gilt im deutschsprachigen Raum der sogenannte »Boom« lateinamerikanischer Literatur in den 1970er- und 1980er-Jahren. 4 | Seit einigen Jahren wird auch Nollywood dazugezählt, das jedoch für den DVD-Markt produziert. 5 | Beispielhaft hat Dissayanake den Adaptionsprozess anhand des indischen Kinos erläutert (Dissayanake 2006). Diese Adaptionsprozesse schlossen dabei nicht aus, dass sich hollywood-ähnliche Phänomene wie Hegemonialstrukturen gegenüber der repräsentierten Gesellschaft entwickelten (vgl. Teissl 2014).
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sondern auch für nachfolgendes alternatives, politisches oder Independent-Filmschaffen. In Indien wurden gesellschaftspolitische Positionen insbesondere von dem bengalischen Regisseur Ritwik Ghatak (1925-1976) und Filmschaffenden aus dem Bundesstaat Kerala vertreten, die sich der postkolonialen Kritik weniger gegenüber Europa als gegenüber der hegemonialen Hindi-Filmindustrie (in Europa als Bollywood bekannt) bedienten. Die für den postkolonialen Diskurs höchst einflussreiche westafrikanische Filmproduktion begann hingegen erst Anfang der 1960er-Jahre mit dem filmischen Schaffen von Ousmane Sembéne (1923-2007), der als Wegbereiter und Vater des afrikanischen Films bezeichnet wird. Sein vierter Film, La Noire de … (1966), erregte auf europäischen Festivals große Aufmerksamkeit und wurde auch in Cannes gezeigt (vgl. Dovey 2015: 48f.). Das westafrikanische Filmschaffen entstand unter dem Einfluss der Négritude, einer postkolonialen Strömung nach Aimé Césaire und Senegals erstem Präsident Léopold Sédar Senghor (1906-2001), die die postkoloniale Selbstbehauptung schwarzer Kulturen in Kunst und Philosophie postuliert. Als wesentliches ästhetisches Merkmal des westafrikanischen Kinos gilt die vom afrikanischen Kunst- und Erzählverständnis inspirierte Filmsprache, die sich unter anderem in einer chronologischen Erzählweise, in einer rhythmischen, aber langsamen Montage, einer ruhigen Kameraführung und wenigen Close-ups (Naheinstellungen) äußerte.6 Die postkoloniale Ausrichtung dieses Filmschaffens macht die Diskriminierung durch Europa, aber auch die kulturelle Auf bauarbeit als Kritik an den Hegemonien der Herrschenden im eigenen Land sichtbar. Bei Sembéne äußerte sich dies in Filmen zum europäischen Rassismus (La Noire de …; Camp de Thiaraux, 1989), in Gesellschaftssatiren zur afrikanischen Bourgeoisie (Xala, 1974) oder in antipatriarchalem Erzählkino (Molaade, 2004). Thematisch, ästhetisch und gesellschaftspolitisch bot der westafrikanische Film für seine Regisseurinnen und Produzentinnen ein »Medium der Entdeckungsreise ins eigene Innere, der künstlerischen Erfindung und Darbietung« (Diawara 2010: 98), und so mancher Film hatte den Charakter eines Manifests. So auch Sembénes erster Film, Borom Sarret (1963), der erst 2013 in Cannes in einer von Martin Scorseses World Cinema Foundation restaurierten Fassung präsentiert wurde (Khaldi 2009). Die Eröffnungssequenz erinnert an Fanons Debütwerk, Schwarze Haut, weiße Masken (1952, dt. 1980), in dem der Kolonialismuskritiker die Mechanismen der Überformung der schwarzen Identität durch die weiße dargestellt hatte: Die Maske, die sich bei Sembéne ein Junge vom Gesicht nimmt, ist allerdings eine traditionelle afrikanische, keine weiße. Mit dieser Szene visualisierte Sembéne seine Absage an das europäische Stereotyp eines ethnologisch gezeichneten Afrikanertums und artikulierte zugleich seine Vision eines modernen Afrika auf der Basis eigener, postkolonial beeinflusster Identitäten. Zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren entwickelte das alternative Filmschaffen insgesamt und unter dem Einfluss des postkolonialen Kinos ein progressives und subversives Potenzial, das von seinen europäischen Vermittlern – Verleihern und Arthouse-Kinos, Weltvertrieben, Festivals und deren Produktionsstiftungen (vgl. Teissl 2012: 81f.; Falicov 2016: 211f.) – ge- und befördert wurde. Besonders Filmfestivals spielten für die Wahrnehmung des außereuropäischen Films eine Schlüsselrolle. 6 | Zu Entwicklung und Strömungen des afrikanischen Films vgl. die umfassende Darstellung von Diawara (2010).
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4. W achstum und I nternationalisierung des F ormats F ilmfestival In Europa hatte der Filmfestivalbetrieb bereits 1932 mit der Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica di Venezia seinen Anfang genommen, die im Rahmen der 1895 gegründeten Biennale stattfand (vgl. De Valck 2007: 14, 19, 123f.). Das Filmfestival in Cannes, das seit 1946 als der Nabel der Filmfestivalwelt gilt, präsentierte bereits in den ersten Jahren seiner Existenz außereuropäische beziehungsweise nichtwestliche Produktionen. Die Auswahl der Filme erfolgte dabei nach einem nationalen Showcase-Schema – ein Ansatz, der bis in die späten 1960er-Jahre die Festivalpolitik dominierte (vgl. De Valck 2007: 19ff.; Loist 2016: 54). Seit den 1950er-Jahren wurden Filmfestivals auch weltweit gegründet, beispielsweise in Indien (International Film Festival India, 1952), in Argentinien (Festival Internacional de Cine Mar del Plata, 1954) oder Tunesien (Les Journées Cinématographiques de Carthage, 1966). Programmatische postkoloniale Ansprüche verknüpften sich aber erst mit dem Festival Panafricain du Cinéma et de la Télévision de Ouagadougou FESPACO in Burkina Faso (1969, seit 1979 biennal) und dem Festival Internacional del Nuevo Cine Latinoamericano in Havanna, Kuba (1978). Im indischen Kerala wurde 1995 das International Film Festival Kerala zur Stärkung des Malayalam Kinos als Teil des politischen Films aus Asien, Afrika und Lateinamerika gegründet. Diese Festivals fungierten als filmpolitische, auch postkoloniale Zentren, dienten der Politisierung der Zuschauerinnen und forderten die Programmgestaltung europäischer Festivals in zunehmendem Maß heraus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und verstärkt seit den 1970er-Jahren erfuhr die Festivalwelt eine Ausdifferenzierung, die zu dem heute bestehenden komplexen System mit weltweit über 6.000 gelisteten Festivals führte (vgl. Loist 2016: 49). Die Politisierung des Kunst- und Filmbetriebs läutete eine gesellschaftspolitisch und ästhetisch bestimmte Programmpolitik ein und veränderte den Charakter der repräsentativen Festivals ebenso, wie sie die Entstehung kleinerer, spezialisierter Festivals beförderte. Als das erste spezialisierte Filmfestival gilt die Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro, das 1965 entstand und zur Plattform für Spiel- und Dokumentarfilme »of an experimental and invariable political nature« wurde (De Valck 2007: 28). Gezeigt wurden »revolutionäre« Filme (De Valck 2007: 28), darunter frühe Werke des »Kinos des Hungers«, so benannt von Cinema-Novo-Regisseur Glauber Rocha (1939-1981), und des »Dritten Kinos«, für das unter anderen die argentinischen Regisseure Octavio Getino und Fernando E. Solanas (Hacia un Tercer Cine, 1969) Pate standen. Mit dem als »Pesaro-Faktor« (De Valck 2007: 27) bezeichneten Phänomen begann eine neue Ära der europäischen Filmfestivals: Länderrepräsentationen rückten zugunsten ästhetischer Auswahlkriterien und gesellschaftspolitischer Absichten in den Hintergrund (vgl. De Valck 2007: 27ff.; Loist 2016: 57ff.). In der Folge entstanden zahlreiche identity-based Festivals, wie etwa die »women’s film festivals, indigenious, gay and lesbian, and Black/African American film festivals« (Loist 2016: 57). Weitere Festival-Profile wandten sich an die imagined communities der Diaspora und an ethnische Gruppen (vgl. Loist 2016: 57, mit Bezug auf Benedict Anderson 1991). Menschenrechts-Filmfestivals unterstützten politischen Aktivismus in der Gesellschaft (vgl. Loist 2016: 57), und postkolonial orientierte Festivals legten ihr Augenmerk auf Filme aus Lateinamerika, Asien und Afrika. Das ers-
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te Festival dieser Art war das Festival des 3 Continents in Nantes (1979), weitere folgten in den 1980er- und 1990er-Jahren in Großbritannien, Italien, der Schweiz, Deutschland, Österreich sowie in Kanada und den USA (vgl. Dovey 2015: 111). Diese dynamische Entfaltung führte zu Austauschformen in der internationalen Festivallandschaft: Unter Festivals ähnlicher Programmatik etablierten sich die sogenannten Circuits als globale Verbreitungsnetzwerke abseits des kommerziellen Filmbetriebs. Das Wachstum der Festivallandschaft führte aber auch zu einer Hierarchisierung: Durch den (bereits 1933 gegründeten) Dachverband FIAPF (Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) wurden und werden Festivals reglementiert. Die größten und einflussreichsten Festivals erhalten einen »A«-Status, was ihnen das Uraufführungsrecht im Wettbewerb und damit auch die größte mediale Aufmerksamkeit und den Anspruch der Repräsentativität zusichert. Loist ortet eine prowestliche Ausrichtung in diesen Ordnungsstrukturen: Im Zentrum blieben Festivals in Europa, während jene in der »Peripherie« – der Rest der Welt im eurozentrischen Verständnis – mit weniger Stellenwert bedacht wurden (vgl. Loist 2016: 55): Von den 15 A-Festivals finden heute sieben in Mitteleuropa statt, drei in Osteuropa und weitere drei in Asien; jeweils eines ist in Afrika beziehungsweise in Lateinamerika angesiedelt (Andere Quellen: Nr. 2). Weder FESPACO noch das Festival in Havanna sind als A-Festivals kategorisiert, was ein Ausdruck ihres realen Stellenwertes in der Filmindustrie ist: Sie sind die Zentren an den Rändern.
5. P rogr ammpolitik z wischen A mbivalenz und A k tivismus Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte sind repräsentative Festivals zwar eng mit den kommerziellen Interessen der westlichen Filmindustrie verknüpft, sie waren jedoch immer auch Plattformen der Avantgarde und der internationalen Filmproduktion. Filmfestivals entstanden als dialektische Handlungsorte abseits von high-lowculture (De Valck 2007: 17f.); sie etablieren Mainstream, propagieren aber zugleich ästhetische und thematische Vielfalt. In Cannes wurde bereits in den 1950er-Jahren das iranische Kino mit einem Fokus bedacht (vgl. Ostrowska 2016: 20f.), und seit seinem Bestehen erfuhren Werke von wegweisenden Regisseuren wie Abbas Kiarostami (1940-2016) oder Satyajit Ray (1949-1992) dort ihre Uraufführungen. Bis heute ist Cannes seiner Ausrichtung treu geblieben, außereuropäische Filme zu würdigen. Seinem Interesse an neuen ästhetischen Formen verlieh das Festival in den vergangenen Jahren unter anderem dadurch Ausdruck, dass es die Strömungen des neuen argentinischen und des neuen rumänischen Films beförderte. Auch bei der Berlinale wurde die Verleihung des Goldenen Bären an Fatih Akin für Gegen die Wand (2004) als gesellschaftspolitisches Signal interpretiert, ebenso wie die nachfolgenden Auszeichnungen iranischer, brasilianischer und peruanischer Werke. Durch Stiftungsgründungen wie der Cinéfondation (1998, Cannes) und dem World Cinema Fund (2004, Berlinale) wurden darüber hinaus Filmschaffende aus ökonomisch benachteiligten Ländern in ihren Produktionen kontinuierlich unterstützt (vgl. Teissl 2012: 81; Falicov 2016: 211f.).7 Dieses Engagement bleibt 7 | »Gemeinsam mit der Kulturstiftung des Bundes und in Zusammenarbeit mit dem GoetheInstitut, dem Auswärtigen Amt und deutschen Produzenten engagiert sich der ›World Cinema
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ebenso im Hintergrund der medialen Wahrnehmung wie nichtwestliche Filme auf den ranghöchsten Festivals oft wenig Publikumszuspruch erfahren und erst durch Auszeichnungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Der repräsentative Charakter von Cannes äußert sich aus Sicht der kritischen Festivalforschung in seiner bürgerlichen Verortung, der hohen Geltung von Hollywood und den fehlenden Diversitäts-Prinzipien (vgl. Dovey 2015: 45ff.; Ostrowska 2016: 18ff.). Zu Letzteren zählt auch die im Gesamtbild geringe Präsenz außereuropäischer Filme, insbesondere im Wettbewerb, wobei bislang keine Studien zur Internationalisierung des im medialen Fokus stehenden Wettbewerbsprogramms von Cannes (und anderen repräsentativen Festivals) vorliegt. Dovey kritisiert zudem eine Vereinnahmungsstrategie außereuropäischer Filme durch die Art der Preisvergabe am Beispiel von Cannes. So wurde die Produktionsförderung von Sembénes La Noire de … einerseits vom französischen Bureau du Cinéma abgelehnt (es verwaltet den 1963 vom Ministère de la Coopération eingerichteten Etat zur Unterstützung afrikanischer Filme), weil der Film als Angriff gegen Frankreich gewertet wurde. Andererseits wurde La Noire de … in Cannes mit dem Prix Jean Vigo ausgezeichnet, der jungen Filmschaffenden mit »unabhängigem Spirit« zugedacht ist (Abb. 1). Diese Ambivalenz interpretiert Dovey kritisch als Konsensherstellung (manufacturing consens, vgl. Dovey 2015: 48f. unter Bezugnahme auf Noam Chomsky). Folglich wird in der Festivalforschung die Zugkraft repräsentativer Festivals für außereuropäische Filmemacherinnen ambivalent bewertet: Als Bühne sind sie im Sinne eines globalen Kinos wirkungsmächtig, doch die Strukturen hinter und vor den Kulissen geben eurozentrische Denkmuster preis. Trotz und gerade wegen dieser Kritik zeigen sich repräsentative Filmfestivals seit den 1960er-Jahren als ein Feld, in dem diese Auseinandersetzungen geführt werden. Der Postkolonialismus war dafür ein wesentlicher Motor; ebenso wie für die Entscheidung von zivilgesellschaftlichen Akteuren, unterpräsentiertes Filmschaffen in spezialisierten Filmfestivals zu vermitteln und die Begegnungen mit Kunstschaffenden zu ermöglichen.
6. S pezialisierte F estivals : I ntentionen und K onflik tpotenziale Spezialisierte Festivals haben das Selbstverständnis, Korrektive repräsentativer Festivals zu sein und thematische sowie ästhetische Fokussierungen abseits des Mainstreams zu gewährleisten. Sie richten ihren Wirkungsradius meist regional, nicht international aus (vgl. De Valck 2016a: 1ff.) und sind oft in der Peripherie, nicht in Zentren angesiedelt. Periphere Orte waren die bevorzugte Wahl von Festival-Initiatorinnen seit der Entstehung des modernen Formats »Festival« im späten 19. Jahrhundert und blieben es bis nach dem Zweiten Weltkrieg; sie ermöglichten den gesuchten Freiraum für Neues und Experimentelles (vgl. Teissl 2013: 35ff.). Das erklärte Ziel von spezialisierten Festivals war und ist es, die Selbstbilder der außereuropäischen Filmschaffenden vor die europäischen Fremdbilder zu stellen, die Sehgewohnheiten des Publikums zu ändern, der politischen Diskussion Raum zu geben und vorhandene Eurozentrismen aufzubrechen. Fund‹ für die Entwicklung und Förderung des Kinos in filminfrastrukturell schwachen Regionen und für kulturelle Vielfalt in den deutschen Kinos.« (Andere Quellen: Nr. 3)
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Abb. 1: Ousmane Sembéne: Filmszene aus La Noire de ... (1966). Foto: Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, Wien
Die Schriften von Fanon und Césaire waren dafür zentrale Referenzen ebenso wie die Filmemacherinnen selbst, die sich neben dem Filmschaffen auch dem Verfassen von Manifesten widmeten und in Publikumsdiskussionen als vehemente Verfechterinnen eines egalitären Kulturverständnisses bei Anerkennung unterschiedlicher Ästhetiken auftraten. Man sprach von »Kulturvermittlung« und meinte das, was heute »interkultureller Dialog« heißt; Filmvermittlung wurde betrieben, ohne dass dieser Begriff zirkulierte oder dass an methodische Vorgehensweisen angeknüpft wurde – diese entstanden im Tun. Während zwar auf der einen Seite enthusiastisch die Vorstellung von einer universellen Verständlichkeit von Filmbildern propagiert wurde,8 wurden zugleich in einer gemeinsamen Anstrengung aller Akteurinnen ausführliche begleitende Publikationen, Interviews mit Filmemacherinnen, Rahmen- und Schulprogramme erarbeitet und organisiert. Das Bewusstsein um die Gefahr, Kunstwerke als Botschaften zu missbrauchen, war dabei ebenso allgegenwärtig wie das Wissen um den Einfluss eurozentrischer Narrative. Aus diesem Grund versuchten die Veranstalterinnen, ethnische Zuschreibungen zu vermeiden und die globale ästhetische und thematische Vielfalt kinematografischer Kunst hervorzuheben. Hinter und vor den Kulissen bargen die spezialisierten Festivals dennoch zahlreiche Konflikte. Die kolonialistische Vereinnahmung als europäische Denkbahn führte zu Misstrauen bei den Filmschaffenden. Sembéne kultivierte geradezu seine Ablehnung gegenüber Europa: »Europe is not my reference.« (Sembéne zit. in Dovey 2015: 48) Auf diese Weise brachte er zum Ausdruck, dass er seine Filme nicht in erster Linie für ein europäisches, sondern für ein afrikanisches Publikum drehte. Dadurch sind die europäischen Kinogängerinnen aufgerufen, sich in die Position des afrikanischen Zielpublikums zu versetzen, an dessen Ansprache teilzuhaben und den Diskurs über Selbstbilder und Selbstrepräsentationen für sich zu entdecken. Die ungewohnten Ausdrucksstile 8 | Wie sehr erst das Wissen um die zahlreichen symbolischen, produktionsbezogenen und anderen kulturellen Kontexte von Filmen deren Genuss erhöht, zeigt u.a. der Band Indiens Kinokulturen (Marschall/Bieberstein 2014).
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und Erzählweisen erfordern eine neue Form der Rezeption und verdeutlichen die Wirkungsmacht von Sehgewohnheiten. Die Bereitschaft zum Konflikt (besonders der Veranstalterinnen) und zur visuellen Irritation (besonders des Publikums) erschienen als Grundvoraussetzungen, um Programme unter postkolonialem Einfluss zu gestalten.
7. F inanzierungsdispositive Die Finanzierung von Filmen in ökonomisch schwachen Ländern sowie deren Präsentation in den ökonomisch reichen haben eines gemeinsam: Sie benötigen Unterstützung außerhalb üblicher Finanzierungsformen, was zu Ambivalenzen führen kann. So wäre das westafrikanische Kino wohl ohne die Unterstützung der Francophonie nicht im selben Ausmaß entstanden; trotzdem kritisierten die afrikanischen Filmschaffenden die Erwartungshaltung europäischer Geldgeber als einflussnehmend hinsichtlich positiver Bescheide (vgl. Dovey 2015: 47). Zwar schien ihre Kritik weniger eine getätigte Zensur als vielmehr eine evozierte Selbstzensur der Filmschaffenden zu artikulieren, denn die Erwartungshaltung und Entscheidungsstrategie der Geberinstitution hing mit dem Potenzial der Filme für Festivals und fallweise mit der Kinoauswertung in Frankreich zusammen. Dennoch war die Kompatibilität mit dem europäischen Markt gerade nicht das Anliegen der afrikanischen Künstlerinnen und passte nicht zu ihren Anstrengungen, eine Filmsprache und relevante Themen für afrikanische Publika zu entwickeln. »Der Kulturimperialismus der Franzosen treibt einen formalen und ästhetischen Keil zwischen afrikanische Regisseure und ihr einheimisches Publikum«, resümiert Diawara (vgl. Diawara 2010: 88). Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und politisiert durch die Gründungsschriften des Postkolonialismus war auch die Realisierung spezialisierter Filmfestivals kein neutrales, sondern ein aktivistisches Unterfangen. Für die Finanzierung der Programm- und Vermittlungsgestaltung fanden die Veranstalterinnen häufig Partner in weltweit tätigen Kulturinstituten wie der OIF (Organisation internationale de la Francophonie), dem Goethe-Institut oder der Politischen Akademie der SPÖ in Österreich, sofern den kommunalen Kulturämtern der regionale Zusammenhang zur Subventionslegitimierung fehlte. Dass die Festivalorganisatorinnen in Finanzierungsfragen auch bei Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit vorsprachen, barg weitere Missverständnisse. In der Außenwahrnehmung trug der Veranstalter das Risiko, dass die gezeigten Filme mit den gängigen Themen der Entwicklungszusammenarbeit – Hunger, Krieg und das Narrativ der »Rückständigkeit« – in Verbindung gebracht wurden, während die Ästhetik der kinematografischen Werke unbeachtet blieb. Wiederholt nahmen Beiträge aus dem Publikum in den Q&As9 nicht auf die Filme Bezug, sondern erschöpften sich im Interesse an Spendenmöglichkeiten (vgl. Diawara 2010: 74f.). Auch die Filmschaffenden gingen in Abwehrhaltung, besonders afrikanische Regisseurinnen wollten nicht mit Entwicklungspolitik assoziiert werden: »Das Dilemma des afrikanischen Films kann nach meiner Auffassung metapho9 | Kurz für die als Publikumsdiskussionen mit den Filmschaffenden bezeichneten Question & Answer Sessions.
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risch für die Paradoxien der gesamten Entwicklungsfrage stehen. Es entspringt einem ›kolonialen Missverständnis‹ zwischen Nord und Süd«, so Diawara unter Bezugnahme auf Jean-Marie Tenos Dokumentarfilm Das koloniale Missverständnis (2004) über die deutschen Kolonien. Teno argumentiert darin, dass die Gegenwart von Europäern und Amerikanern in Afrika bis heute nichts mit Entwicklung oder Menschenrechten auf dem Kontinent zu tun hat, sondern ausschließlich mit dem eigenen inneren Ringen zwischen Vernunft und Glauben, Wissenschaft und Dogma, Kapitalismus und Sozialismus, universellen Menschenrechten und Gleichheit einerseits, Sklaverei und Rassismus andererseits (Diawara 2010: 88f.).
In Österreich konnten die Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit mit den spezialisierten Filmfestivals deshalb zusammenarbeiten, weil es einen innenpolitischen Auftrag gab, »der entwicklungspolitischen Bildungs-, Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit in Österreich professionell zur Seite zu stehen« (Andere Quellen: Nr. 4). Aufgrund ihrer Interessenlagen waren die Festivals und die Entwicklungszusammenarbeit jedoch nicht nur Zweckpartner, sondern ideologische Verbündete. Die Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit gaben nicht nur Geld, sie waren auch Akteure des sogenannten Nord-Süd-Dialogs und speisten einen kulturübergreifenden, politisierten Kultur- und Kulturvermittlungsbegriff. Selbstdarstellung vor Fremdbilder zu stellen und so eine nachhaltige Veränderung von Kulturbewusstsein im internationalen Austausch zu ermöglichen, war ihr überzeugter Ansatz für diese Fördertätigkeiten.10 Heute haben die Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit globales Lernen im Bildungsbereich auf ihre Agenden gesetzt; eine vergleichbare Entwicklung hin zu globaler kultureller (Kunst-)Bildung ist in der (österreichischen) Kulturpolitik nicht zu beobachten. Diese Sachlage verleitet zu einer kulturpolitischen Bemerkung: Wenn für die Präsentation westlicher Kunst die Kulturpolitik, für jene aus nichtwestlichen Kulturen hingegen eine Teilzuständigkeit in der Entwicklungspolitik gesehen wird, so lässt dies eine Interpretation bezüglich der Umfangsbestimmung des kulturpolitischen Bildungsauftrags zu. Die Bedeutung von internationaler Kunst- und Kulturvermittlung für ein globales, egalitäres und vielfältiges Kulturbewusstsein wird hier ignoriert und nichtwestliche Kunst in einen Zusammenhang gestellt, der mehr an ethnologische denn an ästhetische Wertigkeit zu appellieren scheint. Spezialisierte Festivals wollten genau das Gegenteil: ihre Selbstauflösung durch eine selbstverständliche Aufnahme internationaler künstlerischer Vielfalt im Kulturbetrieb und deren Annahme beim Publikum.
10 | Konrad Kuhn hat die Dritte-Welt-Bewegungen in der Schweiz wissenschaftlich aufgearbeitet und unterscheidet innerhalb dieser drei Gruppen: etablierte Hilfswerke, Solidaritätskomittees und »politisch aktive Gruppierungen, welche die Verhältnisse des Nordens zum Süden in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Finanzplatz, Kultur und Aussenpolitik kritisch thematisierten und auf Veränderung drängten« (Kuhn 2011: 13).
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8. V om F estival ins K ino : N achhaltige R ezep tion aussereuropäischer F ilme Im 1. Interkulturellen Kulturbarometer (Keuchel 2012)11 erweist sich der Befund bezüglich des Interesses an Kunst aus außereuropäischen Kulturräumen bei der deutschen Bevölkerung als niederschmetternd: Der Bevölkerungsanteil ohne Migrationshintergrund interessiert sich zu 17 % für den angloamerikanischen, zu 15 % für den asiatischen, zu 13 % für den afrikanischen Raum und zu 3 % für den arabischen Raum. Der hispanoamerikanische Raum ist bei »Andere« zu vermuten, mit insgesamt 3 % (vgl. Keuchel 2012: 87). Keuchel kommentiert: Überraschend im Sinne der Frage nach einem ›kulturellen Kapitaltransfer‹ zeigt sich die deutschstämmige Bevölkerung noch nicht wirklich aufgeschlossen gegenüber anderen Kulturräumen, aus denen viele Menschen eingewandert sind, als vergleichsweise solchen, aus denen wenige migrieren. (Keuchel 2012: 88)
Dass dies nicht nur eine Angelegenheit der Nachfrage, sondern auch des Angebots ist, scheint naheliegend; korrelative Untersuchungen konnten mit Ausnahme der Studie Kulturwelten in Köln (vgl. Keuchel/Larue 2011) nicht gefunden werden.12 Auch lässt sich aus dieser Statistik nichts bezüglich der Wirkung von spezialisierten Festivals schließen, die, wie oben ausgeführt, Nischenveranstaltungen darstellen. So liegt der Schluss nahe, dass den spezialisierten Festivals eine fortbestehende Sinnhaftigkeit innewohnt, um eine Entwicklung hin zu kosmopolitischer Neugier und Bildung zu unterstützen. Mittels eines freundlichen Konkurrenzdrucks zielen spezialisierte Festivals auf die Veränderung der Programmpolitik repräsentativer Festivals ab, aber auch und vor allem auf eine Angebotserweiterung im Jahresbetrieb von Kinos. Für die außereuropäischen Filme fungieren die Verleiher als Gatekeeper in diesem Jahresbetrieb und die Kinos als Übersetzer der kulturellen Praxis. Den Kinobetrieb im deutschsprachigen Raum erreichten die oft als »Filme aus dem Süden« gelabelten Werke meist nur durch spezialisierte Verleiher wie die – wiederum kirchlich-entwicklungspolitische – Initiative EZEF/Evangelisches Zentrum für entwicklungspolitische Filme (seit 1985) mit Sitz in Stuttgart und den trigon-Filmverleih (seit 1986) im schweizerischen Ennetbaden. Auswertung gewährleisteten die Arthouse- beziehungsweise Programmkinos, die ab den späten 1970er-Jahren entstanden. Auch wenn es an entsprechenden umfassenden empirischen Studien fehlt, so zeigt die signifikant höhere Auslastung von nichteuropäischen Filmproduktionen im Jahresbetrieb in Innsbruck, wo ein spezialisiertes Festival stattfindet, im Vergleich zu Wien eine gewisse lokale Nachhaltigkeit.13
11 | Eine vergleichbare Studie für Österreich ist nicht bekannt. 12 | Die Studie folgt in ihrem Ansatz einem »internationalen« Programmangebot in direkter Verknüpfung mit Zuwanderungsgruppen. Ich verdanke den Hinweis Vera Allmanritter. 13 | Filmstarts von Filmen »aus dem Süden« erfahren in Innsbruck, wo seit 1992 das Internationale Filmfestival Innsbruck unter großem Publikumszuspruch stattfindet, eine relativ höhere Auslastung als in Wien, wo außereuropäische Filme bei den zahlreichen Festivals eine untergeordnete Rolle spielen.
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In Deutschland gibt es bei der Präsentation außereuropäischer Filme in Arthouse-Kinos ein Detail, das Beachtung verdient: Bis heute sind fremdsprachige Filme in deutschen Städten abseits der Metropolen immer noch wahlweise im Original mit Untertiteln und in synchronisierter Fassung zu sehen. Die Gründung von Arthouse-Kinos als Anbieter »künstlerisch anspruchsvoller Filme«, so die ebenso pauschale wie lapidare Definition, ging einher mit der Einführung von untertitelten Fassungen: Zum einen, da die Synchronisierung für die geringe Auflage der Filme zu aufwändig und zu teuer gewesen wäre; zum anderen aber vor allem, da die Originalsprache ein wesentliches Element der Kulturvermittlung darstellt. Die anfängliche Ablehnung des Publikums wurde in Österreich »ausgesessen« mit dem Langzeiterfolg, dass seit mehreren Jahren auch die kommerziell betriebenen Kinos der Major Studios wahlweise untertitelte Fassungen als State of the Art anbieten. »Der Prozess der Übersetzung ist dabei so weit gefasst, dass er nicht nur auf Texte, sondern auf die Gestaltung interkultureller Beziehungen selbst anwendbar wird« (Bachmann-Medick 2011: 452), was in diesem Fall gut auf die Situation der Filmrezeption als »kultureller Kontakt« (Bachmann-Medick 2011: 452 mit Bezug auf Turk 1991) übertragbar ist.
9. P olitik und K ultur arbeit – welche W elt ? E in A usblick Weltpolitische Veränderungen haben zu massiven Umbildungsprozessen und neuen Ausgangslagen geführt; sie tangieren auch den Kultur- und Filmbetrieb. So wird unter »Kulturvermittlung« zwischenzeitlich und auf der Basis von Kultursoziologie und Marketing eine kulturmanageriale Übersetzungs- und Aktivierungs(dienst)leistung verstanden (exemplarisch Mandel 2005) und Internationalisierung als neues Paradigma definiert (vgl. Henze 2017: 5-37). Durch die Konzentration auf hochkulturelle Einrichtungen im deutschen Kulturmanagementdiskurs fielen anschlussfähige kulturindustrielle Pionierleistungen wie im Filmbetrieb aus dem Betrachtungsrahmen. Und in der Kulturtheorie beherrscht seit Mitte der 1990erJahre das Konzept der Transkulturalität die Analyse und die Kontextualisierung von Kulturbegegnungen. Es stützt sich nur in geringem Maße auf postkoloniale Theorien, unter anderem auf die jüngeren Ansätze des indischen Theoretikers Homi K. Bhabha. Mit seinem Hybrid-Konzept scheint Bhabha rezeptionsfähiger zu sein als die Gründungsmanifeste von Fanon und Césaire, die mit NationalitätsKonstrukten argumentierten. Castro Varela/Dhawan kontextualisieren die frühe postkoloniale Ausprägung des Nationalismus als Antwort auf das Othering: Weil nun im Prozess der Kolonisierung […] auch die Kolonisierten, in dem Versuch, sie aus dem Projekt der Moderne auszuschließen, gewaltsam zu Anderen gemacht wurden, suchte der antikoloniale Kampf verständlicherweise nach neuen, machtvollen Identitäten, die den westlichen Repräsentationen der Anderen begegnen konnten. Das Projekt des Nationalismus geriet dabei […] zu einer planvollen, systematischen Mobilisierung für den Widerstandskampf, dessen Ziel die Befreiung aus kolonialer Beherrschung war. (Castro Varela/Dhawan 2005: 17, Hervorhebung im Original)
Die postkolonialen Grundaussagen, dass Kulturbegegnungen unter Macht- und Herrschaftsverhältnissen stattfinden und diese in Denk- und Handlungsstruktu-
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ren beidseitige, zerstörerische Wirkung über die Dauer der Beherrschung hinaus entfalten, finden in ihrem gewaltigen Ausmaß kaum Eingang in Transkulturalitätskonzepte. In der einschneidendsten Veränderung der vergangenen Jahrzehnte, dem Wandel Deutschlands und Österreichs zu Einwanderungsländern, wurden die Konsequenzen solcher Machtverhältnisse jedoch manifest. Gefesselt von einer jahrhundertealten Wertevermittlung, die rassistische Narrative und hierarchische Vorstellungen von zivilisierten und unzivilisierten Menschen, von Gesellschaften und Kulturen gleichermaßen tradiert, ist »die koloniale Kontinuität der Migrationspolitiken im europäischen Kontext oder auch die migrantische Erfahrung mit strukturellem Rassismus und Alltagsrassismus […] nicht in Frage zu stellen« (Castro Varela/Dhawan 2005: 130). Die Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinen Denkmustern ist im deutschsprachigen Raum noch marginal, das Wissen darüber wenig verbreitet.14 Über Nationalbezüge hinaus ist Eurozentrismus als ein Phänomen zu begreifen, das sich auch in Ländern durchgesetzt hat, die keine oder kleine Kolonialmächte waren (wie Österreich und Deutschland), und das sich in neokolonialen Haltungen fortsetzt: »Die oft gestellte Frage, ob postkoloniale Studien von Relevanz für den deutschsprachigen Kontext sind, erscheint uns als redundant, ignoriert sie doch den Hauptfokus postkolonialer Theorie, der auf neokolonialistische Strukturen und den ungehemmten internationalen Kapitalismus gerichtet ist.« (Castro Varela/Dhawan 2005: 129) Das Vorgehen bei der Gastarbeiterinnen-Rekrutierung für den Wiederauf bau in Deutschland und Österreich veranschaulicht diese Aussage: Durch Festlegung und Reduzierung auf ihre Funktion als flexible industrielle Reservearmee wurden diese Menschen ihrem Wesen nach entmenschlicht, was Max Frisch zu den geflügelten Worten ›Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen‹ veranlasste. Besonders der medizinische Selektionsprozess verletzte viele Frauen in ihrem Schamgefühl. (Kien Nghi Ha 2004: 27f.)
Patriarchale Philanthropie drückte sich in Fotografien von Deutschen mit Gastarbeitern aus, die unterschrieben waren mit »Das ist mein Türke« (Kien Nghi Ha 2004: 29). Sie unterstützte das Narrativ des selbstgegebenen Zivilisierungsauftrags und dessen Propaganda: Diese versuchte die harten Arbeitseinsätze in einer bemerkenswerten Wendung des tatsächlich sozio-ökonomischen Kosten-Nutzen-Verhältnisses als ›Entwicklungshilfe‹ für die Herkunftsländer zu rechtfertigen. Dadurch erschienen auch die angehenden MigrantInnen als ›unterentwickelt‹ und ›hilfsbedürftig‹. (Kien Nghi Ha 2004: 29)
Angesichts des bildungspolitischen Anspruchs geförderter Kulturbetriebe im deutschsprachigen Raum (vgl. Allmanritter 2017: 91f.) wurden Menschen mit Migrationshintergrund zunehmend als Subjekte geortet, deren Motive für Kulturnutzung im Mittelpunkt der entsprechenden empirischen Forschung standen. Kaum 14 | Niedrig/Ydesen führen die geringe Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte auf den Zerfall der Kolonien nach 1918 zurück (vgl. Niedrig/Ydesen 2011a: 19). Auch in Österreich sind die kolonialen Bestrebungen der Monarchie im 19. Jahrhundert nicht Teil des heutigen kollektiven Wissens (vgl. Kotrba/Sauer 2015).
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in den Fokus rücken die Besucherinnen ohne Migrationshintergrund und die Fragen danach, welche Narrative und Motive das Desinteresse an internationaler Kunst und »kulturelle(m) Kapitaltransfer« (Keuchel 2012: 88) als Horizonterweiterung beeinflussen. Angebotsorientierte Programme, wie sie die beschriebenen spezialisierten Festivals darstellen, stehen heute im Kreuzfeuer kulturmanagerialer Kritik (exemplarisch Mandel 2012). Die Demokratisierungsbestrebungen von Kulturangeboten und die wachsende Bedeutung empirischer Forschung über Nutzungsverhalten und -motive sind zu mächtigen Diskursen herangewachsen, die Kulturbetriebe als gesellschaftsrelevante Einrichtungen stärken, aber auch schwächen können. Diesem Anspruch ist mit der Frage nach der Haltung zu begegnen, die Kulturbetriebe je nach ihrer Trägerschaft vertreten. Sie manifestiert, dass es keine neutrale Kulturarbeit gibt, sondern unterschiedliche Zielsetzungen – kulturpolitische oder auch zivilgesellschaftliche Ansinnen. Postkolonialismus selbst ist keine neutrale Wissenschaft, sondern Teil des politischen Projekts der Cultural Studies (vgl. Marchart 2008: 11ff.) und nimmt als solches die Rolle von Kultur für Machtstrukturen in den Blick. Besonders dieser Aspekt erscheint unter den gegenwärtigen Prozessen der Immigration, zu denen auch Äußerungen eines im Eurozentrismus mitbegründeten Rassismus zählen, als bedeutsam. Wie Transkulturalität in der Tiefe nicht ohne Machtstrukturen gedacht werden kann, lässt sich auch die gesellschaftliche Relevanz kulturbetrieblicher Angebote schwer von politischen Haltungen lösen.
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1. E in F estival für das afrik anische The ater Das Festival africologne wurde 2011 von Gerhardt Haag, damals Leiter des Theaters im Bauturm in Köln, ins Leben gerufen. Es gründet auf einer 2010 begonnenen Kooperation mit dem burkinischen Festival Les Récréâtrales und verfolgt das Ziel, Künstlerinnen und Künstlern in Afrika und Europa eine Plattform für den Austausch zu geben (Andere Quellen: Nr. 1). Standen zunächst burkinische Theaterproduktionen im Zentrum des alle zwei Jahre stattfindenden Festivals, hat sich africologne inzwischen zu einem umfassenden »Festival der afrikanischen Künste« entwickelt, bei dem vermehrt anglo-, franko- und lusophone Produktionen zu sehen sind. Tanz, Film, bildende Kunst und Kolloquien treten neben das Sprechtheater. Seinem Publikum will africologne eine »inhaltliche und ästhetische Multiperspektivität« bieten und ihm zugleich ein »gleichberechtigtes Miteinander in einer globalen Weltgesellschaft« näherbringen. Ästhetischer und gesellschaftlicher Auftrag sollen sich in der Konzeption des Festivals somit ergänzen: Das zentrale Anliegen lautet, die »Durchdringung von gesellschaftlichen Entwicklungen« sichtbar zu machen, »die nicht mehr unabhängig voneinander, sondern nur universell zu begreifen« sind (Andere Quellen: Nr. 1). Seit 2016 wird africologne vom Verein afroTopia e. V. getragen. Für das Festival des Jahres 2013 entstand im Jahr 2012 das Theaterstück Ombres d’espoir (»Schatten der Hoffnung«) des kongolesischen, in Frankreich aufgewachsenen und lange Jahre in Berlin lebenden Schriftstellers Wilfried N’Sondé (geb. 1968) als Auftragsarbeit. Mit deutscher Finanzierung und als Koproduktion der Festivals africologne und Les Récréâtrales wurde es im Herbst 2012 in Ouagadougou ur- und im Juni 2013 in Deutschland erstaufgeführt.1 Im Zentrum steht, wie schon der Titel andeutet, die Angst als Schatten der Hoffnung – Angst, die sich zwischen den 1 | Africologne. Festival der afrikanischen Künste fand vom 12. bis zum 22. Juni 2013 an verschiedenen Kölner Spielorten statt. Wilfried N’Sondés Stück wurde am 18. und 19. Juni 2013 in der Alten Feuerwache aufgeführt; anschließend wurde die Filmdokumentation von Christian Hennecke gezeigt.
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Figuren einstellt, als die illegal Geflüchtete Fatou Anspruch auf Schutz und ein Leben in Sicherheit erhebt. Der Fokus, den N’Sondé auf die Angst als ein zentrales Element des Kulturkontakts legt, verbindet sein Stück mit aktuellen Reflexionen von Achille Mbembe und Sara Ahmed zum Postkolonialismus. Ausgehend von N’Sondés Theaterstück und dem darin aufgefächerten Beziehungsnetz zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen prüft der Beitrag kritisch, inwiefern die affektive Verfasstheit des Individuums eine kulturelle Übersetzung zulässt. Dafür stellt er den Begriff der Angst im postkolonialen Kontext vor und zeigt seine ästhetische Umsetzung in N’Sondés Theaterstück sowie in Dani Kouyatés Inszenierung. Abschließend untersucht er, inwiefern nicht nur im Stück, sondern auch im Proben- und Produktionsprozess stockende Übersetzungsprozesse zu erkennen sind und greift dafür auf die Filmdokumentation von Christian Hennecke zurück.
2. P ostkoloniale P erspek tiven Als im Mai 2017 das Festival Theater der Welt in Hamburg eröffnet wurde, hatten sich die Veranstalter für den heute in Europa wohl bekanntesten afrikanischen Theoretiker des Postkolonialismus, Achille Mbembe, als Eröffnungsredner entschieden. Im Kontext von Kulturvermittlung ist diese Wahl relevant: In seinem Vortrag2 betonte der Politikwissenschaftler erneut die zentralen Thesen seiner Zivilisations- und Kapitalismuskritik. Mbembe arbeitet zwar die weltweiten transkulturellen Verflechtungen heraus, thematisiert jedoch eher die Kehrseiten der Ausdehnung der westlichen Welt, nämlich Kolonialisierung, Sklaverei und Konzentrationslager. Mbembe insistiert: »Wir leben in einer Zeit ›planetarischer Verflechtungen‹« (Mbembe 2017: 32), doch macht er vor allem auf die Gegenbewegung dieser Verflechtungen aufmerksam: »Egal, wo wir hinschauen: Der Trend läuft eindeutig auf Verengung, Eindämmung und Abkapselung hinaus.« (Mbembe 2017: 32) Den Grund sieht er im Konflikt von Kapitalismus und Demokratie, dem die modernen Gesellschaften erliegen: Die Dogmen, welche die modernen Formen des Kapitalismus widerwillig mit der Demokratie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt hatten – individuelle Freiheit, marktwirtschaftlicher Wettbewerb, die Herrschaft von Waren und Eigentum sowie der Kult der Wissenschaft, Technologie und Vernunft –, sind gegenwärtig in Gefahr. […] Im Kern lässt sich die liberale Demokratie mit der inneren Logik des Finanzkapitalismus nicht vereinbaren. (Mbembe 2017: 36)
Eine Folge dieser Dominanz des Kapitalismus im 21. Jahrhundert ist laut Mbembe der Umstand, dass »immer weniger von der Herrschaft des Verstandes und immer mehr von einer allgemeinen Freisetzung von Leidenschaften, Emotionen und Affekten gekennzeichnet sein [wird]« (Mbembe 2017: 36). Unter diesen freigesetzten Emotionen und Affekten erkennt er Hass und Angst als wesentliche Äußerungen 2 | Achille Mbembes am 25. Mai 2017 in Hamburg gehaltene Eröffnungsrede trug den Titel Democracy, Mobility and Circulation in a Planetary Age: An Ethics of Consequences (Andere Quellen: Nr. 2). Unter dem Titel Negativer Messianismus und die Ethik der Konsequenzen wurde sie in der Zeitschrift Theater heute abgedruckt (vgl. Mbembe 2017: 32-37). Aus dieser Fassung wird zitiert.
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des menschlichen Miteinanders (Mbembe 2016). Diese emotionalen »Politiken der Feindschaft« setzen jene Ausgrenzungspolitik fort, deren Entstehung Mbembe in der Verbindung von Kapitalismus, Kolonialismus und Sklaverei ansiedelt (Mbembe 2016) und deren Struktur bis heute die Verfasstheit moderner Gesellschaften prägt. So ist der Fortschritt des Nordens seit dem 18. Jahrhundert laut Mbembe nur unter der Bedingung der Ausgrenzung und Verdinglichung eines Teils der Menschheit durch Sklaverei und Kolonisierung zu denken. Dies hat bis heute Folgen: »Kennzeichnend ist für die Zeit also vielleicht viel eher das Phantasma der Trennung, sogar der Vernichtung, als die Differenz. In ihr herrscht, was nicht zusammenführt, was kaum verbindet, was man nicht bereit ist zu teilen.«3 Symptome dieser Phantasmen der Trennung sind Rassismus und Nanorassismus; sie kommen zum Tragen, wenn es darum geht, denjenigen, den man nicht als ähnlich und als zugehörig betrachtet, herabzusetzen. Mit dem Begriff des »Nanorassismus« führt Mbembe eine Kategorie ein, die unterschwellige, beiläufige Herabsetzungen fassbar machen soll. Nanorassismus entwertet den Anderen durch einen Scherz, eine beiläufige Bemerkung und ergänzt den alltäglichen Rassismus der Bürokratie und des Staates, im Land und an den Grenzen (vgl. Mbembe 2016: 81-83). Verleugnet wird dabei, dass sich das Subjekt schon seit jeher in der Differenz zum Anderen konstituiert: »Dass wir im Grunde aus verschiedenen Anleihen fremder Subjekte gemacht sind und dass wir deswegen immer schon Grenzwesen gewesen sind – genau das ist es, was viele sich heute weigern zuzugeben.«4 Der dominante Affekt, den eine solche die Trennung betonende Beziehung zum Anderen erzeugt, ist jener der Angst (vgl. Mbembe 2016: 46). Mbembe nennt die von solchen Gefühlen bestimmte Gegenwart »anxiogène«. Sie verursacht Angst oder kann sie verursachen (vgl. Mbembe 2016: 89). Diese Angst entsteht häufig durch Gerüchte, durch die Nicht-Begegnung mit dem Anderen: Überdies finden die Verallgemeinerung des Affekts der Angst und die Demokratisierung der Furcht auf der Basis tiefgreifender Veränderungen statt, angefangen bei den Regimen des Glaubens und folglich der Geschichten, welche die einen und die anderen erzählen […] Erzählungen von Bedrohungen. 5
Emotionen und Affekte untersucht auch die feministische Wissenschaftlerin Sara Ahmed in Hinblick auf ihre politischen Implikationen. In ihrem Buch The Cultural Politics of Emotion (2014) analysiert sie unter anderem das Phänomen der stranger 3 | »Peut-être plus qu’à la différence, l’ère est donc au fantasme de séparation, voire d’extermination. Elle est à ce qui ne met pas ensemble; à ce qui ne réunit point; à ce que l’on n’est point disposé à partager.« (Mbembe 2016: 56; alle Übersetzungen aus dem Französischen: Annette Bühler-Dietrich) 4 | »Qu’au fond, nous sommes faits de divers emprunts à des sujets étrangers et que par conséquent nous avons toujours été des êtres de frontière – tel est précisément ce que beaucoup aujourd’hui refusent d’admettre.« (Mbembe 2016: 46, Hervorhebung im Original) 5 | »Par ailleurs, la généralisation de l’affect de crainte et la démocratisation de la peur ont lieu sur fond de profondes mutations, à commencer par les régimes du croire et par conséquent les histoires que les uns et les autres se racontent. […] Des histoires de menaces.« (Mbembe 2016: 46)
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danger und erkennt: »The immediacy of bodily reactions is mediated by histories that come before subjects, and which are at stake in how the very arrival of some bodies is noticeable in the first place.« (Ahmed 2014: 212) Wenn Geschichten und Gerüchte Angst erzeugen, hat dies zur Folge, dass die Begegnung mit dem Anderen von Angst geprägt wird, was wiederum zu potenziell gewaltsamen Reaktionen führen kann: »There can be nothing more dangerous to a body than the social agreement that that body is dangerous.« (Ahmed 2014: 211) Mbembe entfaltet sein Gegenmodell des en-commun, des Gemeinsamen, erstmals am Ende seines Buches Critique de la raison nègre (2013). In Politiques de l’inimitié fasst er dieses Modell wie folgt zusammen: »Das Gemeinsame setzt einen Bezug der Zugehörigkeit und des Teilens voraus – die Vorstellung einer Welt, die die einzige ist, welche wir haben, und die, um dauerhaft zu sein, von allen geteilt werden muss, die an ihr ein Anrecht haben, alle Arten inbegriffen.«6 Aus dieser Zusammengehörigkeit folgt für ihn: »Und wenn es wahr ist, dass diese Erde das Zuhause von allen ist, kann man von niemandem mehr, egal wer er ist, fordern, er solle zu sich nach Hause zurückkehren.« 7 Die Diagnose der »Politiken der Feindschaft« und das Postulat des en-commun stehen sich bei Mbembe gegenüber. Ausgehend von Frantz Fanon sucht er nach Wegen, die Beziehung zum Anderen wiederherzustellen, und kommt zu folgender These: Mensch-in-der Welt-Werden ist weder eine Frage der Geburt, noch der Herkunft oder der Rasse. Es ist eine Frage des Weges, der Zirkulation und der Verwandlung. […] Diese Erfahrung der Präsenz und des Abstands, der Solidarität und des Sich-Lösens, aber nie der Gleichgültigkeit – nennen wir sie die Ethik des Passanten. 8
Mbembe fordert eine Bewegung des Sich-Annäherns und Sich-Loslösens, in der Art des Passanten, der von einem Ort zum andern zieht. Ähnlich betont Judith Butler in ihren Büchern Precarious Life (2004) und Frames of War (2009) die existenzielle Beziehung zum Anderen, die in Ausschließungspolitiken verleugnet wird. Sara Ahmed setzt in ihrem Buch Queer Phenomenology (2006) den Kontakt zum Anderen darüber hinaus in Beziehung zur Kultur als sozialer Ordnungsform, wobei sie von Mary Louise Pratts Begriff der contact zone ausgeht: It is important here that we don’t consider ›cultures‹ as objects that are already given and that come into contact to create a hybrid from the mixture of pure forms. Rather, ›cultures‹ come to be lived as having a certain shape, or even a skin, as an effect of such contact […] contact is ongoing but is ›restricted‹ by the very restriction of what it is that we come into contact with. […] What we need to avoid is the presumption that ›contact‹ itself provides a common ground; 6 | »L’en-commun présuppose un rapport de coappartenance et de partage – l’idée d’un monde qui est le seul que nous ayons et qui, pour être durable, doit être partagé par l’ensemble de ses ayants droit, toutes espèces confondues.« (Mbembe 2016: 59) 7 | »Et s’il est vrai que cette terre est le chez soi de tous, alors il ne peut plus être exigé de qui que ce soit de retourner chez lui.« (Mbembe 2016: 121) 8 | »Devenir-homme-dans-le-monde n’est ni une question de naissance ni une question d’origine ou de race. C’est une affaire de trajet, de circulation et de transfiguration […] Cette expérience de présence et d’écart, de solidarité et de détachement, mais jamais d’indifférence – appelons-la l’éthique du passant.« (Mbembe 2016: 176f.)
Unüberset zbarkeiten? Ombres d’espoir von Wilfried N’Sondé or if we share this ground, then we are also divided, both by what we ›do‹ and ›do not‹ come into contact with. (Ahmed 2006: 148)
Kontakt allein reicht nach Ahmed nicht aus, um Kulturen in Beziehung zu bringen, weil es sich nicht um geformte Gebilde handelt, die einander in einer Kontaktzone begegnen, sondern um die unterschiedliche Orientierung von Einzelnen. An welchen Gegenständen, Ideen und Phantasien sich diese Orientierung ausrichtet, hängt von früheren Entscheidungen ab (vgl. Ahmed 2006: 148f.). Der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha arbeitete schon 1997 die unsettled negotiations im Kontakt mit dem Anderen heraus, als deren Basis er gleichfalls die anxiety erkennt, die in Mbembes anxiogène wiederkehrt (Bhabha 1997). Zwanzig Jahre später erweist sich diese Angst als ein Schlüssel zur Pathologie einer Gesellschaft, die krampfhaft ihr Eigenes festzuhalten versucht. Nicht nur die Angst als Affekt, sondern auch die Gewalt als Teil des Prozesses kultureller Aneignung ist hier zu reflektieren; beides ist vereinbar mit Ahmeds These, dass Kontaktzonen nicht automatisch zur Sphäre einer co-appartenance führen, sondern auch Orte des Nebeneinanders und der Trennung sein können – und eben darin auch Orte der Angst und der Feindschaft. Damit es zu co-appartenance, zu gemeinsamer Zugehörigkeit (vgl. Mbembe 2016: 59), kommen kann, muss die Sorge um den Anderen, »une relation de soin« (Mbembe 2016: 162, Hervorhebung im Original), diese Zugehörigkeit erst herstellen. Wenn spätkapitalistische Gesellschaften durch »Politiken der Feindschaft« geprägt sind, dann wäre Kulturvermittlung eine Arbeit auf potenziell feindlichem Terrain. Hier müsste die Kunst geradezu als Schibboleth wirken, als eine Art von sozialem Code, der im Geheimen oder unter der Bedingung der Angst Kontakt herstellt. Übersetzungsprozesse, wie sie die Kunst seit jeher zu leisten versucht, könnten dabei sowohl Zeugnisse erlittener Gewalt sein als auch das Bemühen manifestieren, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.9
3. O mbres d ’espoir – eine deutsch - burkinische P roduk tion Ombres d’espoir ist Wilfried N’Sondés erstes Theaterstück. Schon zuvor, in der Spielzeit 2010/2011, war sein erfolgreicher Erstlingsroman Le cœur des enfants léopards (2007) als Monolog inszeniert und beim Festival Récréâtrales in Ouagadougou sowie anschließend in Paris und Köln aufgeführt worden. Dass die Festivalorganisatoren Étienne Minoungou (Récréâtrales) und Gerhardt Haag (africologne) den Autor N’Sondé für ein Theaterstück anfragten, war somit naheliegend. Nach Abschluss der Textfassung fand im Sommer 2012 in Köln ein erster Workshop mit den Schauspielerinnen und Schauspielern Bernhard Bauer, Karin Kettling und Franziska Winterberg sowie Edoxi Gnoula und Sidiki Yougbaré statt. Edoxi Gnoula sollte die Rolle Fatous spielen, Sidiki Yougbaré die Rolle Moussas. Für das Bühnenbild wurde die Deutsche Flavia Schwedler gewonnen. Bühnenbildnerin und Dar9 | Welchen Herausforderungen sich künstlerische Arbeit in heutigen diversifizierten Gesellschaften stellen muss, wenn es ihr Ziel ist, gesellschaftliche Teilhabe und dadurch eine »resilienzfähige […] Persönlichkeit« (Liffers 2016: 251) zu erzeugen, zeigt der Soziologe und Kulturmanager Lutz Liffers.
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steller standen somit schon fest, als der burkinische Regisseur Dani Kouyaté Teil des Teams wurde (Haag 2015). Kouyaté, der vor allem im Medium Film arbeitet, hatte schon zuvor, in den Jahren 2004 und 2006, bei zwei Theaterproduktionen in Ouagadougou Regie geführt (Bühler-Dietrich/Badou 2017). Als Burkinabè, der in Schweden lebt, kennt er sowohl europäische wie afrikanische Lebensformen; das Leben zwischen den Kulturen macht er auch in seinem jüngsten Film Medan vi lever (While we live, 2016) zum Thema.
3.1 Das Stück: der Einbruch des Fremden In Ombres d’espoir erscheint eines Tages die Afrikanerin Fatou im Leben des deutsch-afrikanischen Paares Brigitte und Moussa. Fatou ist die Halbschwester Moussas und als Flüchtling illegal in Deutschland. Die einzige Möglichkeit, sie vor der Abschiebung oder den Gefahren der Illegalität zu bewahren, ist, dass Moussa sie heiratet. Da das Aufgebot bestellt ist, haben die deutschen Behörden die Blutsverwandtschaft der beiden nicht bemerkt – inwiefern diese Konstruktion realistisch ist, sei dahingestellt. Als theatrale Experimentanordnung eignet sie sich, weil sie den Tag vor der Hochzeit, an dem alle Konflikte zum Ausbruch kommen, ins Zentrum stellt und dafür auf Konfliktstrukturen des sozialen Dramas zurückgreift. Obwohl Brigitte und Moussa bislang eine harmonische Beziehung geführt haben, bringt die Ankunft Fatous das gegenseitige Vertrauen ins Wanken. Skepsis, ob es denn wirklich die Schwester sei (angesichts der breiten afrikanischen Verwendungsweise von frère nicht nur für Geschwister, sondern auch für enge Freunde), aber auch die begründete Angst vor dem Verlust der Zweisamkeit bestimmen Brigittes Gefühlslage. Obwohl Moussa den Verlust der Geliebten gleichfalls fürchtet (vgl. N’Sondé 2012: 2), ist sein Gefühl, der Familie verpflichtet zu sein, stärker. Fatou blickt vom Rand aus auf diese Zweierkonstellation: Nie kommt es zu einem Gespräch zu dritt, stets spricht Fatou nur mit Moussa. Sie versteht nicht, warum er mit der älteren Frau zusammenlebt, und sie verachtet die Emotionalität Brigittes. Sie betrachtet es als erniedrigend, dass das Paar ihre Anwesenheit ignoriert und insistiert in ihren Monologen daher auf ihrer Geschichte und ihrem Recht auf Glück. Es ist der Akt der Ehe mit ihrem Bruder, der sie ethisch stört, nicht aber, dass sie das Leben von Moussa und Brigitte in Aufruhr bringt. Der Konflikt zwischen Moussa und Brigitte ist privat. Erst als Karin und Sebastian, der Sohn Karins und städtischer Beamter, davon erfahren, wird auch die gesellschaftliche Dimension des Vorhabens sichtbar. Erneut prallen verschiedene Perspektiven aufeinander: Während Sebastian vor allem den Verstoß gegen das Gesetz vor Augen hat und mögliche Konsequenzen für sich selbst fürchtet, zeigt sich Karin solidarisch mit Brigitte, aber auch mit der gefährdeten Fatou. Hingegen kommt es zwischen ihr und Moussa zu keiner direkten Verständigung. Ihre Bereitschaft, für Moussa und Fatou als Trauzeugin zu fungieren, ist Teil ihrer privaten Geschichte wie ihres feministischen Kampfes – Karin trifft diese Entscheidung im Grunde unabhängig von einer persönlichen Begegnung mit Moussa und Fatou. Wilfried N’Sondés Stück ist stark monologisch, wodurch die Isolation der Figuren auch sprachlich deutlich wird. Zu Dialogen kommt es nur zwischen Mutter und Sohn, zwischen den Freundinnen, zwischen Moussa und Fatou und, an wenigen Stellen, zwischen Moussa und Brigitte. Häufig werden die Stimmen der Figuren parallel geführt; sie sind polyphon, nicht dialogisch aufeinander bezogen.
Unüberset zbarkeiten? Ombres d’espoir von Wilfried N’Sondé
Dass der Kontakt der Figuren nicht zu Gemeinsamkeit führt, zeigt sich nicht nur in der Verteilung des Dialogs, sondern auch darin, dass der Kontakt zu Moussa aus Fatou und Brigitte Konkurrentinnen macht, weil (oder obwohl) er für beide mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Sicherheit und Glück verbunden ist. Indem Karin einwilligt, Trauzeugin zu sein, verbindet sie Brigitte, Moussa und Fatou in der gemeinsamen Idee, dass Fatou ein lebbares Leben (vgl. Ahmed 2010: 97) ermöglicht werden muss.
3.2 Die Inszenierung: »J’ai mal« N’Sondé hat in seinem Stück weder einen Raum noch eine Bewegung im Raum (Proxemik) notiert. Die Herausforderung, die Polyphonie der Figuren räumlich umzusetzen, nimmt das Bühnenbild von Flavia Schwedler auf. Es korrespondiert mit der fehlenden Raumangabe, indem es abstrakt bleibt und variable geometrische Elemente zur Verfügung stellt. Im Zentrum befinden sich ein Kreis und ein Steg, der als Schaukel konzipiert ist. Die Figuren positionieren sich im Kreis oder auf der Schaukel; sie steht sinnbildlich sowohl für die Verbindung von Moussa und Brigitte als auch für ihr in Unruhe geratenes Leben: »Alles ist im Ungleichgewicht.« (»Tout a basculé.«/N’Sondé 2012a: 2) Die Zusammengehörigkeit der Figuren drückt sich darin aus, dass sie sich innerhalb des Kreises oder zusammen auf der Schaukel befinden oder nebeneinandersitzen. Doch hält die Inszenierung die Figuren auch auf Distanz: Wo der Text körperliche Nähe einfordert, bleibt es auf der Bühne bei der Berührung der Hände. Zusammengehörigkeit wird verbal beschworen (vgl. N’Sondé 2012a: 13), ist aber nicht sichtbar. Fatou geistert koboldhaft durch die Szene, die Kapuze über den Kopf gezogen, plötzlich aus dem Nichts auftauchend und das Gespräch der anderen belauschend. Im Kreis nimmt man die störende Fatou auch als Schatten wahr. Sie ist die nicht berechenbare Präsenz auf der Bühne (Abb. 1). So realisiert die Inszenierung der Figur die affektive Dimension des Verhältnisses von Brigitte zu Fatou und scheint in der ästhetischen Praxis das zu bestätigen, was Ahmed theoretisch ausgeführt hat: Fatou ist die Fremde, der man nicht traut. »To recognise somebody as a stranger is an affective judgement: a stranger is the one who seems suspicious; the one who lurks. […] The stranger is a dark shadowy figure.« (Ahmed 2014: 211f.) Die Inszenierung wechselt durch Auf- und Abblenden zwischen den Bühnenbereichen, die den Figuren zugeteilt sind und die vage als Brigittes und Karins Wohnungen erkennbar sind. Wenn Brigitte Karin anruft, nähert sie sich Karins Bereich, und wenn Karin Brigitte besucht, erscheint die Schauspielerin links von der Mitte. In einer Albtraumsequenz werden die Grenzziehungen der Bühne erschüttert: Fatou stellt das Schaukelbrett hochkant, es blockiert den Kreis und symbolisiert die Unmöglichkeit der früheren Beziehungsstruktur. Nach einem Moment der Ruhe, in dem sich die Hände von Brigitte und Moussa noch einmal berühren, rennen die Figuren in Aufruhr und Chaos durcheinander, von atonaler Musik und Stroboskoplicht begleitet. Diese Unruhe geht in eine Traumsequenz mit blauem Licht über, in der Sebastian und Fatou gemeinsam auf dem nun horizontal zur Bühne platzierten Schaukelbrett wippen und zu Sebastians Walzermusik tanzen. Beide Figuren sind auf der Suche nach dem Glück, doch die Begegnung mit dem Anderen wagen sie nur in der Vorstellung, und so werden die eigenen Phantasien auf Kosten der realen Begegnung erhalten.
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Abb 1.: Szene aus Ombres d‘espoir mit Sidiki Yougbaré, Edoxi Gnoula und Karin Kettling. Foto: Nicholas Meisel
Am Ende steht eine Replik des Anfangs: »Es geht mir schlecht.« (»J’ai mal.«/N’Sondé 2012a: 15) Zu Beginn spricht Moussa die Worte allein, nun sprechen sie Moussa und Brigitte zusammen. Die Veränderung der Figuren drückt sich in diesem gemeinsamen Sprechen aus, das darauf hindeutet, dass es am Ende des Tages möglich ist, ein Gefühl wie »Es geht mir schlecht« gemeinsam zu artikulieren. Beide leiden, weil sie nicht einander heiraten. Fatous Eindringen in die Zweisamkeit von Brigitte und Moussa lässt sich sowohl als Überlebensstrategie lesen als auch als impertinente Einforderung von biologischen Familienbanden ohne emotionale Grundlage, als Vereinnahmung ohne Respekt vor dem Leben der Anderen. Das Stück wirft die Frage auf, was höher zu bewerten ist: die Solidarität mit der Familie, der Anspruch des Unglücklichen auf ein sicheres Leben oder die Liebe. Die Antwort darauf bleibt offen.
3.3 Kulturkontakt und Angst Fast alle Figuren leiden unter ihren spezifischen Ängsten – vor der Abschiebung, dem Verlust des Partners, der beruflichen Abmahnung. Alle artikulieren diese Ängste, sie werden also nicht unterdrückt. Trotzdem bleiben die Ängste auch dort erhalten, wo sich die Figuren mit ihren Entscheidungen und jenen der anderen
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abfinden. Sie werden ausgelöst durch situative wie emotionale Veränderungen: »In ihren Augen habe ich mich verändert. Sie erkennt heute, dass ich von dort komme, einem Anderswo, das sie nicht kennt, das sie vielleicht nie verstehen wird«10, sagt Moussa. Fatou dagegen hat Angst vor der Polizei und der Abschiebung, eine fundierte Angst, die unmittelbar aus ihrem gefährdeten Status als illegaler Flüchtling resultiert. Diese Ängste werden, wie angedeutet, artikuliert, aber nicht dialogisch kommuniziert. Die Angst isoliert die Figuren; sie leben nebeneinander in einem Zustand der räumlichen und körperlichen Nähe, aber nur bedingt miteinander. Gleichzeitig verhindert die Angst einen gemeinsamen Zukunftsentwurf. Zwischen der isolierenden Angst des Einzelnen und dem Dialog, der zu ihrer Überwindung notwendig wäre, gibt es als dritten Raum die Kunst: Wenn sich Sebastian und Fatou im Traum zum imaginären Walzer zusammenfinden, ist eine Nähe möglich, die verbale Verständigung aufschiebt. In diesem dritten Raum, in dem der zwar einzeln artikulierte, aber von beiden geteilte Wunsch nach einer Paarbeziehung imaginiert wird, kann es zu neuen Identifikationen kommen. Allerdings zeigt sich, dass selbst die Imagination nur die Artikulation exotistischer und klischeehafter Wünsche erlaubt: SEBASTIAN: […] Die arme Frau, sie verdient ein besseres Schicksal, eine würdigere Behandlung. FATOU: Er würde mich wie eine Dame behandeln, mit Aufmerksamkeiten und zärtlichen Worten, mit Klasse. SEBASTIAN: Vor allem, wenn sie jung und schön ist und ein bisschen exotisch […].11
Das Paar Moussa und Brigitte hingegen, das versucht, seine verlorene Einheit zu beschwören, scheitert an seiner Nostalgie; sie verhindert als Form der Anrufung eines verlorenen Zustands den konkreten Entwurf einer Zukunft. So kommt es allein dort zum Dialog, wo Nähe bereits seit Langem hergestellt ist: zwischen Mutter und Sohn, Sebastian und Karin. Dort, wo die größte Vertrautheit besteht, werden Ängste benannt und diskutiert. Allerdings ist es hier auch nicht das direkte Gegenüber, das die Angst auslöst, sondern der oder die Fremde (Moussa und Fatou), die Sebastian nie persönlich getroffen hat. »Rather than the stranger being anyone we do not recognise, some bodies are recognised as strangers, as bodies out of place.« (Ahmed 2014: 211, Hervorhebung im Original) Die Angst übersetzt sich in Sebastians Rede dabei in jene Nanorassismen, die Mbembe kritisiert. Gerüchte ersetzen bei Sebastian die Begegnung mit dem Anderen: SEBASTIAN: Es ist nur, es gibt Typen, die alleinstehende und nicht mehr ganz junge Frauen wie deine Freundin benutzen, aber ja, sie nutzen sie aus wegen ihres Geldes, ihrer Staatsbürgerschaft oder was weiß ich … Das ist unschön, aber das gibt es. Ich bin nicht naiv, das ist alles.
10 | »Dans ses yeux j’ai changé. Elle réalise aujourd’hui que je viens de là-bas, un ailleurs qu’elle ne connaît pas, qu’elle ne comprendra peut-être jamais.« (N’Sondé 2012a: 2) 11 | »SEBASTIAN: […] La pauvre femme, elle mérite un meilleur destin, un traitement plus digne. FATOU: Il me traiterait comme une dame, avec des égards et des mots doux, de la classe […] SEBASTIAN: Surtout si elle est jeune et belle, avec un brin d’exotisme […].« (N’Sondé 2012a: 15)
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Annette Bühler-Dietrich Ich habe nichts gegen diesen Mann, wie heißt er noch gleich? Noch ein unaussprechbarer Name.12
Obwohl Moussa Ingenieur ist, wie Sebastian wissen könnte, und somit nicht auf die Einkünfte Brigittes angewiesen, und obwohl sein Name keineswegs schwierig auszusprechen ist, beruft sich Sebastian auf seine Position des Wissenden, die ihn über die »naiven« Frauen stellt. Seine spätere, administrativ durchaus berechtigte Ablehnung der nur zum Schein eingegangenen Ehe greift gleichwohl Argumente auf, die gerade die Logik der Trennung, der Nicht-Zusammengehörigkeit betonen, wie Mbembe herausstellt, und die sich auch in gesellschaftlich verbreiteten Positionen des Rechtspopulismus äußern: SEBASTIAN: Diese Leute kommen mit ihren Problemen zu uns und wir müssen die Folgen aushalten. Ich habe nichts verlangt, ich bin nicht für ihr Unglück verantwortlich. Aber bist du so unwissend, ist dir nicht bewusst, was für eine Gefahr das ist?13
Für diese Logik hat der Theaterkritiker Peter Kümmel den Begriff des »Seelengeizes« gefunden, der bedeutet: »Erst wir, dann alle anderen. Und wenn es nur für uns reicht, dann: sorry!« (Kümmel 2015) Auch Sebastian zeigt diese Form des Seelengeizes. Mbembes Beobachtung, eine Beziehung des Begehrens sei durch eine Beziehung ohne Begehren ersetzt worden (vgl. Mbembe 2016: 49), was zu den »Politiken der Feindschaft« führe, trifft hier zu. Ombres d’espoir bietet damit verschiedene Modelle der kulturellen Interaktion an. Das Stück zeigt, dass die grundsätzliche Anerkennung eines Rechts auf ein würdiges Leben nicht unmittelbar zur persönlichen Anerkennung des Anderen führt. Dies geschieht vor allem dann nicht, wenn die grundsätzliche Anerkennung im Konflikt mit eigenen Bedürfnissen steht – ganz in diesem Sinne beklagt sich Fatou wiederholt, dass man sie nicht wahrnehme, ja regelrecht ausblende, was das Lichtdesign der Bühne konkret umsetzt. N’Sondé zeigt auch, dass selbst eine nach den Regeln der Vernunft getroffene Entscheidung die Angst vor dem Fremden nicht verringert. Die Beziehung zwischen Moussa und Brigitte sowie zwischen Moussa und Fatou wird von Versicherungen des gegenseitigen Vertrauens begleitet, doch gerade die wiederholte Beschwörung dieses Vertrauens kreiert den Sprechakt über einem Abgrund der Angst. Einzig Karins Modell der solidarischen Handlung – »In meinem moralischen Code stehen Freundschaft und Liebe an erster Stelle«14 – erweist sich als tragfähig, doch erfährt der Zuschauer, dass sie diese Haltung erst nach eigenem Versagen erworben hat; sie steht also nicht bedingungslos zur Verfü12 | »SEBASTIAN: [S]eulement ça existe des types qui se servent de femmes seules et plus très jeunes comme ta copine, ben oui, ils les exploitent pour leur argent, des papiers ou je ne sais quoi … C’est moche, mais ça existe. Je ne suis pas naïf, c’est tout. J’ai rien contre cet homme, il s’appelle comment déjà? Encore un nom imprononçable.« (N’Sondé 2012: 10) In der Bühnenfassung wird »imprononçable« durch »bizarre« ersetzt (N’Sondé 2012a: 6). 13 | »SEBASTIAN: Ces gens-là arrivent avec leurs problèmes et à nous d’en subir les conséquences. Je n’ai rien demandé moi, je ne suis pas responsable de leur malheur. Mais tu es inconsciente, tu ne te rends pas compte du danger que ça représente?« (N’Sondé 2012a: 11) 14 | »Dans mon code moral à moi, l’amitié et l’amour sont au sommet de la pyramide.« (N’Sondé 2012a: 11)
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gung. Indem N’Sondé das hochaktuelle Thema der Ängste illegaler Immigranten in der Figur Fatous aufnimmt (und damit auch an seinen 2010 veröffentlichten Roman Le silence des esprits anknüpft), stellt er in seinem Stück zugleich die Tragfähigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Probe. Bhabha spricht 1997 in seinem Einführungsartikel zum Critical Inquiry-Sonderband Front Lines/Border Posts von »Minority Manoeuvers and Unsettled Negotiations« (Bhabha 1997). Es sind diese unabgeschlossenen und unabschließbaren Verhandlungen, die auch im Stück zur Sprache kommen. Jenseits aller Kognition betreffen sie die affektive Dimension kultureller Begegnung und Kommunikation. Ombres d’espoir benennt eben diese affektive Dimension als Schatten. Ein Schatten, der sowohl Genitivus subjectivus als auch objectivus ist: Es ist der Schatten, den die Hoffnung wirft, und es ist die Hoffnung, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Schatten und Hoffnung sind jedoch nicht statisch, sondern verweisen auf einen nicht abschließbaren Prozess (vgl. Bhabha 1997: 444).
4. K ulturelle Ü berse t zungsprozesse ? Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick hat für die Problematik des Kulturkontakts den Begriff der kulturellen Übersetzung stark gemacht und ihn dafür über die Translationswissenschaft hinaus erweitert (vgl. zur Systematisierung Schreiber 2017). Ihre These lautet: »Kulturen werden nicht nur übersetzt, sie konstituieren sich vielmehr in der Übersetzung und als Übersetzung.« (BachmannMedick 2011: 454) Diese Konstatierung des Übersetztseins von Kulturen führt für sie zu einem Abbau von Dichotomien: Die Vorstellung einer Übersetzung von Kulturen wird umso komplexer, je deutlicher an den ›deplatzierten‹ Existenzformen und an den Texten ablesbar wird, wie die verschiedenen kulturellen Zugehörigkeiten sich zunehmend selbst symbolisch, kulturell und ökonomisch durchkreuzen – wie sie also selbst immer schon übersetzt sind. Die Dichotomisierungen der Fremderfahrung und Fremdübersetzung sind hier nicht mehr gültig. (Bachmann-Medick 2011: 455)
Bachmann-Medick stellt Texte und Existenzformen in eine Reihe. Das mag angesichts der bei Homi Bhabha bereits herausgearbeiteten Hybridisierung von Kulturen nicht verwundern (Bhabha 1994), zumal Bachmann-Medick Bhabhas These zitiert: »Culture […] is both transnational and translational.« (Bhabha, zit.n. Bachmann-Medick 2011: 454) Dennoch ist zu fragen, ob hinsichtlich der »Dichotomisierungen der Fremderfahrung« nicht zwischen Texten, die an vielfachen intertextuellen, interkulturellen und intermedialen Bezügen teilhaben, und Kulturen zu unterscheiden ist. Sind nicht Texte und andere kulturelle Darstellungsformen gerade Symptome der kulturellen Übersetzung und Begegnung, die man bislang mit den verschiedenen Komposita von »inter« bezeichnet hat, während Gesellschaften und die ihr zugrundeliegenden kulturellen Ordnungssysteme zwar auf Übersetzungsprozesse gegründet sein mögen – Mbembe spricht von »Anleihen« (Mbembe 2016: 46) –, jedoch auf die weltweite Verflechtung oft mit Ausgrenzung reagieren, wie der Politikwissenschaftler diagnostiziert? Nicht nur die Reaktionen auf Übersetztes, auch der Akt des Übersetzens selbst ist zudem nicht frei von Macht oder Affekten. So betont schon die Forschung zur literarischen Übersetzung, dass die
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Übertragung von Texten aus einer Sprache in eine andere kein gleichberechtigter Prozess ist. Die Wissenschaftler Graham Huggan und Subha Xavier zeigen, welche Strategien der Angleichung von Werken an den kulturell dominanten Markt angewendet werden, um eine zahlende Leserschaft zu erreichen – sowohl von Seiten der Verleger als auch der Autoren (Xavier 2017). Vor diesem Hintergrund verwendet Huggan den Terminus der »Übersetzung« in seiner Untersuchung des postcolonial exotic als Begriff der Aneignung: »What do I mean here by cultural translation? I mean […] the superimposition of dominant ways of seeing, speaking and thinking onto marginalised peoples and the cultural artifacts they produce.« (Huggan 2001: 24) Kulturelle Übersetzung ist demnach ein potenziell unausgewogener Prozess, dessen Ungleichgewicht mitreflektiert werden muss – weswegen die Organisatoren des africologne-Festivals den »transkulturellen Dialog auf Augenhöhe« als Ziel betonen (Andere Quellen: 1).
4.1 Unübersetztes In Ombres d’espoir wird Übersetzung als Phänomen des Kulturkontakts in mehrfacher Hinsicht zur Herausforderung. Für die Realisierung der Produktion müssen die Sprachen Französisch und Deutsch berücksichtigt werden; bei der Aufführung des Stücks während des Festivals africologne in Deutschland tritt zusätzlich die Notwendigkeit einer deutschen Übertitelung hinzu. Aber auch kulturelle Unterschiede, etwa verschiedene Schauspielstile, Lehrformen oder schlicht Formen der Zwischenmenschlichkeit müssen vermittelt – oder »übersetzt« – werden. Insofern am Ende der deutsch-burkinischen Koproduktion eine erfolgreiche Inszenierung und Aufführung stand, scheinen diese Prozesse der Übersetzung geglückt. Dennoch zeugen einige Krisen im Produktionsprozess von den Reibungsverlusten dieses Übersetzungsvorgangs. Sie betreffen sowohl die Ebene der Sprache als auch jene der Kultur. N’Sondé schreibt auf Französisch. Die Inszenierung arbeitet zusätzlich mit kurzen Passagen auf Deutsch und Mooré, einer der burkinischen Nationalsprachen. Darin trägt sie dem Ort der Produktion Rechnung und lässt in der Inszenierung einen Rest, der dem burkinischen Publikum verständlich ist, während die wenigsten Nicht-Burkinabè die Sprache verstehen. Sie wird so zum Geheimcode zwischen Moussa und Fatou in der Fremde. Darüber hinaus integriert die Inszenierung auch deutsche Passagen, die wiederum bei der burkinischen Aufführung unübersetzt bleiben und sowohl den burkinischen Schauspielern als auch dem Publikum in Ouagadougou unverständlich sind. Auf diese Weise fungieren die inszenierte Sprachenvielfalt und die nicht geteilte Sprachsituation als Metonymie der Widerständigkeit des Unübersetzbaren von Sprache und Kultur. Sie erinnern an Bhabhas Raummetapher des »Dazwischen«, in dem eine Annäherung, aber keine vollständige Übersetzung möglich ist: The migrant culture of the ›in-between‹, the minority position, dramatizes the activity of culture’s untranslatability; and in so doing, it moves the question of culture’s appropriation beyond the assimilationist’s dream or the racist’s nightmare, of a ›full transmissal of subject-matter‹ (Walter Benjamin). (Bhabha 1994: 224)
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Bei aller Übersetzung bleibt also ein Rest. Dieser Rest ist, so zeigen es das Stück und der Probenprozess, nicht affektfrei. Er führt auch zu Abwehrbewegungen, die in eine Herabsetzung des Anderen münden können. Selbst wenn Bachmann-Medicks These, »Kulturen konstituieren sich vielmehr in der Übersetzung« (Bachmann-Medick 2006: 247), einleuchtet, bleibt das Problem, dass sie die affektive Dimension dieses Prozesses und seiner Widerständigkeiten ausblendet und kein Instrumentarium hat, eben diese affektiven Schatten zu fassen, die sich in Ausund Abgrenzungen verwandeln können.
4.2 Unübersetzbarkeiten In seinem Dokumentarfilm gibt Christian Hennecke einen Einblick in den fünfwöchigen Probenprozess des Ensembles in Ouagadougou und in die Zusammenarbeit des internationalen Teams, das im September und Oktober 2012 aufeinandertraf. Der Film wechselt zwischen Sequenzen im Quartier, Probenaufnahmen und Aussagen der an der Produktion Beteiligten, in denen sie die Erfahrung vor Ort thematisieren sowie die anderen Schauspieler und den Probenprozess beurteilen. Unterschiedliche Arten, mit dem Spiel und der Erarbeitung der Rolle umzugehen, werden in den Filmsequenzen benannt: Sidiki Yougbaré etwa beobachtet an den deutschen Kollegen ein tendenziell »akademisches« Spiel und eine gewisse Inflexibilität: »Wenn man von ihnen verlangt, vom gewohnten Weg abzugehen, sind sie verloren.«15 Edoxi Gnoula beklagt die Länge des Probenprozesses, die durch Sprachschwierigkeiten entsteht (vgl. Hennecke 2013: 25:00). Dani Kouyaté betont den anderen Erziehungsstil, den er in Afrika erfahren habe: Ein Kind frage hier nicht nach (vgl. Hennecke 2013: 36:00). Daher setzt er selbst auf Beobachtung, während die deutschen Schauspieler aus seiner Sicht häufig Erklärungen und Feedback brauchten. Auch inhaltliche kulturelle Unterschiede kommen zur Sprache: Das Verhältnis Mutter-Sohn ist in Deutschland anders. In Afrika zeige man seine Emotionen als Erwachsener nicht durch Tränen: »Bei uns weinen die Erwachsenen nicht einfach so«16, meint Edoxi Gnoula in Reaktion auf die häufigen Tränen Karin Kettlings, die Brigitte spielt. Die deutschen Schauspieler gehen wie ihre afrikanischen Kollegen von einer Differenz aus, die Bernhard Bauer als »zwei verschiedene Menschentypen« (Hennecke 2013: 7:00) fasst. Sidiki Yougbaré bestätigt kulturelle Differenzen: »Es ist nicht die gleiche Kultur.« (»Ce n’est pas la même culture.«/Hennecke 2013: 10:35) Die unterschiedliche Konzeption von Differenz – als tendenziell essenzialistischer Menschentyp respektive als ebenso abgeschlossene imaginierte Kultur – zeigt sich auch in den Aussagen, die eine andere Sicht- und Spielweise, besonders im Ausdruck der Emotionen, betonen. Für Karin Kettling entsteht der Eindruck: »Die afrikanischen Kollegen haben immer nur den Text gesprochen.« (Hennecke 2013: 27:54) Dass diese Differenz bis zum Ende des Probenprozesses bestehen bleibt, zeigt sich in der Sprache der deutschen wie der burkinischen Schauspieler. So kommt es bei den deutschen Interviews zu Aussagen wie: »bei den schwarzen Kollegen« oder: »die«. Doch auch die Burkinabè differenzieren nicht, sondern ma15 | »Quand on leur demande de faire autre chose qu’ils sont habitués, ils sont perdus.« (Hennecke 2013: 23:00-25:00) 16 | »Chez nous les grandes personnes ne pleurent pas comme ça.« (Hennecke 2013: 26:46)
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chen pauschale Aussagen. Allein Gerhardt Haag gibt den Schauspielern in seinen Aussagen einen Namen. Trotz der mehrwöchigen Zusammenarbeit steht die Differenz der Hautfarbe – nicht der Nation – als Indikator der kulturellen Differenz im Vordergrund. Angst voreinander haben die Schauspieler zwar nicht, doch die deutschen Schauspieler artikulieren die Sorge, ob die Inszenierung und ihr Spielstil in Ouagadougou funktionieren werden. Da es zum Konzept des Festivals Les Récréâtrales gehört, burkinische Innenhöfe des Quartiers Bougsemtenga in Ouagadougou zu bespielen, verleiht Karin Kettling ihren Bedenken Ausdruck, wie das Stück in einem solchen Rahmen wohl rezipiert werden würde. Diese Angst wird dadurch beseitigt, dass das Stück schließlich im Atelier Théâtre Burkinabè aufgeführt wird, einem stehenden Theater, und nicht in einem familiären Innenhof. Ästhetisch ist dies die richtige Entscheidung, weil das abstrakte Bühnenbild und seine komplexe Lichtregie im Rahmen eines familiären Hofes, in dem das Leben auch während der Aufführungen weitergeht, nicht realisierbar gewesen wäre. Insofern beharrt die Inszenierung auf einem Kunstraum als Schutzraum.
5. A fricologne : V isionen und G renzen eines F estivals Laut Gerhardt Haag ist es die Aufgabe transkultureller Projekte zu »lernen, sich gegenseitig zu kritisieren, sich wahrzunehmen, ästhetische Freiheit zu lassen, nicht auf Kompromisse zu zielen«. Zugleich sieht er in diesem Kontext transkultureller Kooperationen auch die »Gefahr von Automatismen, die unbewusst Macht herstellen« (Haag 2015). Haags Ziel mit dem Festival africologne ist es, die Zivilgesellschaft zu stärken, und, wie er beim Festival 2017 erneut betont, »unseren und Ihren Blick zu weiten, Empathie zu entwickeln und unseren Beitrag zu leisten für eine offene ›internationale Gemeinschaft‹« (Haag 2017: 3). Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ergänzt seine zivilgesellschaftlichen Gedanken: Es gehe bei Festivals wie africologne darum, »den transkulturellen Dialog auf Augenhöhe zu fördern«, sodass »das gegenseitige Verständnis füreinander wachsen« kann (Reker 2017: 4). Kritischer äußerte sich die Autorin und Regisseurin Lydia Ziemke, die in einem jüngst erschienenen Beitrag zum Theater geflüchteter Theaterkünstlerinnen und -künstler wie folgt zitiert wird: »Das Publikum kommt mit der Erwartung, dass ein Schicksal erklärt und nur Empathie verlangt wird – was aber eigentlich geschehen sollte, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeit.« (Wildermann 2017: 18) Gerade ästhetisch komplexe Arbeiten stoßen daher auf Unverständnis, wie 2017 die Kölner Rezeption von Dieudonné Niangounas Inszenierung Antoine m’a vendu son destin. Sony chez les chiens zeigte, die mit Texten von und über den kongolesischen Autor Sony Labou Tansi arbeitete. Darüber hinaus ist Jürgen Osterhammels Einwand zu berücksichtigen, der statt des Begriffs der »Übersetzung« jenen des »kulturellen Vergleichs« benutzt und hinsichtlich der Einfühlung schreibt: In multikulturellen Gesellschaften geht es daher im Kern nicht um Verständnis und Einfühlung, die keine verlässlichen Garantien verträglichen Handelns sind, sondern um die Anerkennung und staatlich geschützte Sicherung von Bürgerrechten. […] Hinter der Wünschbarkeit fried-
Unüberset zbarkeiten? Ombres d’espoir von Wilfried N’Sondé voller ›Interkulturalität‹ verbergen sich immer wieder antagonistische Interessen in der Auseinandersetzung um materielle Lebenschancen. (Osterhammel 2011: 55)
Das hier näher betrachtete Ombres d’espoir ist durchaus ein Stück, das sich mit Empathie rezipieren lässt und gleichzeitig Empathie zur Disposition stellt. In ihrer nicht-mimetischen Bühnenästhetik, Dialog- und Monologführung spricht die Inszenierung den Zuschauer als Leser an. Indem das Stück die Differenz zwischen den Gesellschaften thematisiert und alle Figuren die Gründe ihrer Handlungsweise erklären, bietet die Inszenierung keine inhaltlichen Widerstände. Sie provoziert jedoch durch die Entscheidung der Frauenfiguren, Moussa und Fatou zu unterstützen. Für Gesellschaften, die sich zunehmend durch »Politiken der Feindschaft« und durch »Seelengeiz« auszeichnen, enthält die Inszenierung von Ombres d’espoir eine geheime Order, die zur Veränderung des Verhaltens und zum Abbau der Angst auffordert. Sowohl der Text als auch die Inszenierung machen die Probleme kultureller Übersetzung und ihre Ursachen – Verstehen, Empathie, Abgrenzung und Angst – zum Gegenstand; in der Art des freudschen »Unheimlichen« kehren sie im Probenprozess wieder. Depression is about a certainty; anxiety about a possibility. However hidden under the impact of stress, the other side of anxiety is hope that the danger [›unpleasure‹] might in fact not come to pass. The ego has a choice. It can do something. In fact it must do something if it is to bring about what it wishes. Anxiety challenges it to do just that, to do what can be done to move from danger to safety [from ›unpleasure‹ to a kind of fulfillment]. (Rangell, zit.n. Bhabha 1997: 444)
Ausgehend von den anfangs dargestellten Reflexionen Mbembes wäre zu hoffen, dass die Handlung, die von Angst geleitet ist, eine ist, die am Ende in Mbembes gewünschte Ethik der gemeinsamen Zugehörigkeit führt und einen Raum der Gastfreundschaft eröffnet (vgl. Mbembe 2016: 158).
L iter atur Primärquellen Hennecke, Christian (2013): Dokumentation zu Ombres d’espoir – Schatten der Hoffnung, Ouagadougou, Sept.-Nov. 2012, DVD. Kouyaté, Dani (2016): Medan vi lever (While we live), Feature Film, Schweden, 91 min. N’Sondé, Wilfried (2012): Ombres d’espoir (unveröffentlichtes Manuskript). N’Sondé, Wilfried (2012a): Ombres d’espoir. Bühnenfassung (unveröffentlichtes Manuskript). N’Sondé, Wilfried (2010): Le silence des esprits, Arles.
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Annette Bühler-Dietrich
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Unüberset zbarkeiten? Ombres d’espoir von Wilfried N’Sondé
mit dem sichtbar werden, was sie auszeichnet: ihrer Kunst. In: Theater der Zeit, H. 4, S. 16-18. Xavier, Subha (2017): The Migrant Text. Making and Marketing a Global French Literature, Montreal/Kingston.
Andere Quellen Nr. 1: www.africologne-festival.de/idee/ (31.07.2017). Nr. 2: www.theaterderwelt.de/ (11.07.2017).
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Literatur auf zweiter Stufe Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung von Kamel Daoud Christiane Dätsch
1. E in algerischer R oman im deutschen The ater Mit seinem vielbeachteten Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung 1 entwarf der algerische Autor Kamel Daoud im Jahr 2013 eine postkoloniale Gegenstimme zu Camus’ weltberühmtem Roman Der Fremde (1942). Im Fremden tötet der algerienfranzösische Ich-Erzähler Meursault einen anonymen Araber – scheinbar, weil ihn die Sonne am Strand blendet. In Daouds Roman gibt der arabische Erzähler dem Toten einen Namen: Indem er seine Identität klärt und ihm eine Familie schenkt, behauptet er, auch seine Würde wieder herzustellen. Daouds Roman erregte nicht nur auf dem französischen, sondern auch auf dem deutschen Buchmarkt 2 erhebliches Interesse; darüber hinaus entschlossen sich zwei deutsche Theater, den Prosatext zu inszenieren. Als erster zeigte der niederländische Regisseur und Intendant Johan Simons seine Interpretation des Falls Meursault unter dem Titel Die Fremden bei der Ruhrtriennale 2016 in Marl. Kurz darauf, am 29. September 2016, hatte Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung an den Münchner Kammerspielen Premiere (Regie: Amir Reza Koohestani). Von Handlung und Aussage des Romans ergab sich für die Theaterbesucher an beiden Spielstätten ein höchst unterschiedliches Bild. Daher stellte sich die Frage, von welchem Standpunkt aus die beiden Regisseure auf den Roman geblickt hatten. Daoud selbst hatte eine Art kritische »Übersetzung«3 von Camus’ Text vorgenommen. Seine Aneignung verriet eine intensive Beschäftigung mit den Theorien 1 | Des besseren Verständnisses wegen wird aus der deutschen Übersetzung des Romans zitiert, die 2016 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien. 2 | Daouds Roman, 2013 in Algerien in der Edition Barzakh und 2014 in Frankreich im Verlag Actes Sud publiziert, wurde von der europäischen Literaturkritik überwiegend positiv aufgenommen und erhielt unter anderen den renommierten Prix Goncourt für eine erste Romanveröffentlichung. Seitdem wurde er in mehr als 30 Sprachen übersetzt. In Deutschland war er 2016 nicht nur eine der meistbesprochenen Neuerscheinungen, sondern stand auch mehrere Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste. 3 | In diesem Sinne beschreibt Doris Bachmann-Medick die literarische Aneignung europäischer Texte durch Autoren aus außereuropäischen Ländern als Strategie und »Praxis eines Rückübersetzens beziehungsweise Umschreibens kolonialer Texte des europäischen Kultur-
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des postkolonialen Write Back (Ashcroft u.a. 2002) ebenso wie mit der ästhetischen Tradition des modernen europäischen Romans; nicht zuletzt deshalb war seine Erzählung für ein westliches Publikum problemlos lesbar. Auf dieser Basis hatten die deutschen Theater ihrerseits seinen Text recht frei in ein anderes ästhetisches Medium übersetzt. Welche Vermittlungsabsichten verfolgten sie damit – möglicherweise auch in Hinblick auf aktuelle Migrations- und Globalisierungsfragen? Dieser Fragen nimmt sich der Beitrag an, indem er zunächst darstellt, wie Daoud Camus’ Roman des Fremden »rückübersetzt«. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Roman zahlreiche Aspekte aus Camus’ Erzählung aufgreift, sie durchscheinen lässt und seine Geschichte als »Literatur auf zweiter Stufe« (Genette 1993) konzipiert. Dies geschieht zum einen dadurch, dass Daouds Erzähler die Perspektive des namenlosen Arabers verteidigt, und zum anderen dadurch, dass er seine eigenen Konflikte in einer Zeit schildert, die Camus selbst nicht mehr erlebte, nämlich jene nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962). Spätestens seit der großen Zuwanderung muslimischer Flüchtlinge nach Deutschland im Jahr 2015 stehen die Themen Postkolonialismus und Migration verstärkt im Fokus deutscher Kultureinrichtungen. Auf die Frage, ob Daouds Werk für die Theater vor allem in diesem Kontext interessant war, geht der Beitrag nach der Romananalyse ein. Abschließend fragt er nach der grundsätzlichen Bedeutung von Schriftstellern wie Kamel Daoud als »kulturelle Übersetzer« zwischen Okzident und Orient. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Autor auch als Journalist zu Flüchtlingsfragen geäußert und vor naiven Vorstellungen der kulturellen Annäherung gewarnt hat. Vor allem in seinen Artikeln zur Kölner Silvesternacht 2015/2016 wies er die Europäer auf die Grenzen der kulturellen Verständigung hin. Mit einem kurzen Ausblick auf diese Debatte in den Feuilletons endet der Beitrag.
2. »L iter atur auf z weiter S tufe «: D as B uch D er Fall M eursault Daoud, 1970 in Mostaganem geboren und zuletzt als Journalist bei der französischsprachigen Tageszeitung Quotidien d’Oran tätig, repräsentiert jenen Typus des Intellektuellen, der sich in westlichen und östlichen Kulturkreisen gleichermaßen sicher bewegt. Seine geografische und kulturelle Mittlerposition fließt auch in seine schriftstellerische Tätigkeit und in die Romankonzeption ein. So gleicht seine Kritik an der Namenlosigkeit des Arabers bei Camus jener des postkolonialen Literaturwissenschaftlers Edward Said: Dieser sah in Camus einen Schriftsteller der Moderne, der aufgrund seiner Herkunft aus Algerien »von einer verspäteten, in gewisser Hinsicht behinderten kolonialen Sensibilität gesteuert« gewesen sei (Said 1994: 244). In seinen gesellschaftlichen Analysen nähert sich Daoud darüberhinaus Theoretikern wie Pierre Bourdieu (Algerische Skizzen, 2010), Frantz Fanon (Aspekte der Algerischen Revolution, 1959, dt.1969; Die Verdammten dieser Erde, 1961, dt. 1966) oder Albert Memmi (Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts, 1966, dt. 1980) an, die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren intensiv mit Algerien
kanons gleichsam ›vom Rande‹ her, das heißt aus dem verändernden Blickwinkel postkolonialer Erfahrung« (Bachmann-Medick 1997: 15).
Literatur auf zweiter Stufe
beschäftigt hatten. Wie sie will er die Situation der Kolonisierten sichtbar machen und die westliche Perspektive auf die kolonisierten Länder dekonstruieren. Diese Kritik ist ein wichtiger Aspekt des Romans. Allerdings geht Daoud über sie hinaus, indem er mit der Figur Haroun einen Ich-Erzähler kreiert, der in vielem jener Person gleicht, die er kritisiert: Meursault. In Harouns Ausführungen mischen sich postkoloniale Literaturkritik und fiktionale Autodiegese, was an manchen Stellen zur regelrechten Überschreibung des camusschen Prätextes durch Harouns eigene Geschichte führt. Der Roman wird so zum Hypertext – einem Metatext also, der sich aus einem anderen Text ableitet (vgl. Genette 1993: 14f.). Für diese Konstruktion bedient sich Daoud eines metafiktionalen Tricks: In seinem Text ist es nicht der historische Camus, der den Roman Der Fremde verfasst hat, sondern Camus’ Romanfigur Meursault, welche eine Erzählung mit dem Titel Der Andere geschrieben hat.4 Ebenso spielt der Autor mit dem fiktionalen Status des Textes und der Unzuverlässigkeit seines Erzählers. Dieser deutet an zu schwindeln, verletzt immer wieder die Logik der Erzählung und vergleicht sein Leben und seine Tat, aber auch die ganze Welt mit einem Theaterstück. Haroun hat offenbar ein panfiktionales Verständnis von Wirklichkeit (Blume 2004). Dadurch bleibt bis zum Schluss offen, ob er seine Geschiche wirklich erlebt oder nur erfunden hat. Diese für den ontologischen Status der Erzählung relevanten Beobachtungen können aufgrund der Fokussierung des Beitrags auf die kulturelle Übersetzung nur angedeutet werden; in der Erzähler-Leser-Kommunikation werfen sie jedoch immer wieder die Frage nach der Wahrheit des Erzählten auf.
2.1 Reden und erzählen Im Zentrum von Der Fall Meursault steht eine Gesprächssituation. Der 77-jährige Forstbeamte Haroun Ould El-Assase erzählt in einer Bar in Oran einem jungen algerischen Literaturwissenschaftler die Geschichte seiner Lektüre und seines Lebens. Für dessen Ohren rekapituliert er den Inhalt jenes Romans, der sein eigenes Leben in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf gestellt hat: Fassen wir zusammen. […] Ein Franzose tötet einen am einsamen Strand liegenden Araber. Es ist 14 Uhr, und es ist der Sommer 1942. Fünf Schüsse, gefolgt von einem Prozess. Der Mörder wird dafür zum Tode verurteilt, dass er seine Mutter beerdigt hat, und zwar mit zu großer Gleichgültigkeit. Rein technisch sind die Sonne und schierer Müßiggang schuld an dem Mord. Auf Verlangen eines Zuhälters namens Raymond, der auf eine Nutte sauer ist, schreibt dein Held einen Drohbrief, die Geschichte eskaliert und löst sich dann scheinbar in einem Mord auf. Der Araber wird getötet, weil der Mörder glaubt, dieser würde die Prostituierte rächen wollen, oder auch nur, weil er es unverschämterweise gewagt hat, einen Mittagsschlaf zu halten. Das
4 | Zwischen der algerischen (2013) und der französischen Ausgabe (2014) bestehen kleine Unterschiede, wie Alice Kaplan herausgearbeitet hat. In der algerischen Fassung wird der Vorname des Erzählers mit Albert Meursault benannt, ebenso kommen Straße und Hausnummer von Camus’ Wohnhaus in Algier vor. Der Roman trägt den Titel L’Étranger. In der französischen Fassung werden Vorname und Ortsangabe gestrichen und der Buchtitel in L’Autre umgeändert, angeblich, um Streitigkeiten um das geistige Eigentum zu vermeiden (vgl. Kaplan 2016: 337). Die deutsche Übersetzung folgt der französischen Ausgabe.
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Christiane Dätsch bringt dich aus der Fassung, was? Dass ich so dein Buch zusammenfasse? Und doch ist es die reine Wahrheit. (Daoud 2016: 81f.)
Der namenlose Forscher, mit dem Haroun über Meursault spricht, lebt in Frankreich, schreibt eine Doktorarbeit und ist zu Recherchezwecken nach Algerien gereist. Er hat den alten Mann nur aufgesucht, um ihm eine einzige Frage zu stellen: Er will wissen, ob der getötete namenlose Araber in Meursaults Roman tatsächlich Harouns Bruder ist. Dieser ist von der Frage nicht überrascht: Er hat deswegen bereits vor 50 Jahren einen ähnlichen Besuch von einer algerischen Promovendin namens Meriem erhalten und bei dieser Gelegenheit den Roman erst kennengelernt. Jetzt nutzt er seine Chance zur Gegendarstellung. Vordergründig versucht Haroun, die Frage des Wissenschaftlers zu beantworten und so seinen Bruder zu rehabilitieren: »Ein Mann bekommt jetzt, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod und seiner gleichzeitigen Geburt, einen Vornamen. Ich bestehe darauf.« (Daoud 2016: 27) Unklar bleibt jedoch, warum er diesen Nachweis nicht einfach erbringt, sondern statt dessen eine Kommunikationssituation schafft, die er dominiert und über mehrere Abende und Tage hinweg ausdehnt. Kurioserweise gibt er vor, sich kaum noch zu erinnern – aus dem denkwürdigen Grund, weil er die Geschichte schon so oft erzählt habe (vgl. Daoud 2016: 9) –, dann aber erweist er sich als äußerst scharfsinniger und gründlicher Erzähler. Seine Geschichte erzählt er nicht chronologisch, sondern assoziativ, indem er sie mit Flashbacks, Voraufgriffen, Einschüben und Kommentaren zersetzt. Darüber tritt die Auseinandersetzung mit Meursaults Roman immer mehr in den Hintergrund, während sich die eigene Biografie nach vorne schiebt. Ein Vergehen kommt zum Vorschein, das Haroun mit Meursault auf gleiche Stufe stellt: Auch er hat getötet, allerdings einen Franzosen. Die Erzählung dieser dunklen Seite des eigenen Lebens bestimmt den Diskurs in der zweiten Hälfte und weist dem Wissenschaftler eine aktive Funktion zu: Er soll in der Bar über Haroun zu Gericht sitzen und ihm helfen, symbolisch jenen Prozess nachzuholen, der ihm vor über 50 Jahren verwehrt worden war. »Ich habe vergeblich ein Gericht und einen Richter gesucht, sie aber nie gefunden.« (Daoud 2016: 129) Haroun erhofft sich von einem Prozess die Wiederherstellung seines seelischen Gleichgewichts – nicht zuetzt durch die Anerkennung seiner Motive und der Ursachen, die zu seiner Tat geführt haben, durch einen Dritten.
2.2 Lesen und kritisieren Haroun lässt keinen Zweifel daran, dass er die koloniale Vergangenheit als Unrecht ansieht. Seine Haltung geht sowohl auf seine Kindheit im französischen Kolonialsystem als auch auf seine Lektüre westlicher Literatur zurück. An Meursaults alias Camus’ Roman kritisiert er die unreflektierte Übernahme kolonialer Denkweisen, die sich in der Rezeptionsgeschichte des Buches ungeschmälert fortsetzt (vgl. Daoud 2016: 13). Das Argument, das er in der Kneipe äußert, entzündet sich dabei nicht an der – eigentlich schockierenden – Tatsache, dass Meursault einen Menschen getötet hat, sondern daran, dass dieser keinen Namen hatte. Stell dir das mal vor, es ist eines der meistgelesenen Bücher der Welt, und mein Bruder hätte berühmt werden können, wenn dein Autor sich nur dazu herabgelassen hätte, ihm einen Vorna-
Literatur auf zweiter Stufe men zuzuschreiben […]. Aber nein, er hat ihn nicht benannt, denn wenn er es getan hätte, wäre mein Bruder zu einem Gewissensproblem für den Mörder geworden: Man tötet einen Mann nicht so leicht, wenn man ihm einen Vornamen gegeben hat. (Daoud 2016: 81)
Das Recht auf einen Namen impliziert das Recht auf Individualität und eine Biografie. Der koloniale Machtgestus hebelt dieses Recht aus, indem er den Kolonisierten anonymisiert und im Niemandsland seiner Macht über Leben und Tod entscheidet. »Seit Jahrhunderten vermehrt unser Monsieur Kolonialherr seinen Reichtum und gibt den Dingen, die er sich ungefragt aneignet, Namen und entfernt sie dort, wo sie ihn stören.« (Daoud 2016: 26) Die so Behandelten sind ihrer Freiheit und ihrer Herkunft beraubt; der Kolonisator weist ihnen einen »Platz außerhalb der Geschichte und außerhalb der Bürgerschaft« zu (Memmi 1980: 90, Hervorhebung im Original). Als geschichts- und namenlose Wesen leben sie wie Schatten oder »Gespenster« in ihrem eigenen Land, »während die Kolonialherren es ausraubten und zwischen Glockengeläut, Zypressen und Störchen darin herumstolzierten« (Daoud 2016: 23). Das Fehlen des Namens bringt Desorientierung, Selbstentfremdung und kulturelle Amnesie. Um diesen Mechanismus zu stoppen, gibt Haroun allen Arabern aus Meursaults Buch nachträglich Namen: Zoubida, Larbi (der Araber), Moussa (vgl. Daoud 2016: 37, 94, 30). Meursault selbst ist für Haroun der Prototyp des klugen, doch unreflektierten kolonialen Intellektuellen. Die Namenlosigkeit der indigenen Bevölkerung geht bei ihm mit der Verwendung des Kollektivbegriffs »Araber« einher, der weder die ethnische und kulturelle Situation in Algerien repräsentiert – es lebten schon zu Zeiten des französischen Kolonialsystems Berber, Araber, Juden und andere ethnische Minderheiten in Algerien, wie auch Albert Memmi in seinem Porträt des Kolonisierten betont (Memmi 1980) – noch die Eigenschaften der Menschen charakterisiert, die mit ihm bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich um eine reduzierende Zuschreibung von außen: »Es brauchte also den Blick deines Helden [Meursault, Ch.D.], damit aus meinem Bruder ein ›Araber‹ wurde und er daran starb.« (Daoud 2016: 93) Insgesamt 25 Mal findet Haroun die Bezeichnung vor (vgl. Daoud 2016: 182), die er strikt ablehnt: »Araber, ich habe mich nie als Araber gefühlt, weißt du. Es ist wie die Négritude, die nur durch den Blick des Weißen existiert.« (Daoud 2016: 92, Hervorhebung im Original) Der Hinweis auf Léopold S. Senghors Theorie der Négritude zeigt nicht nur, wie belesen Haroun ist, sondern auch, dass er seine Argumente mit postkolonialen Diskursen abgleicht, die auf das negative Differenzdenken der westlichen Welt mit der These einer eigenständigen »schwarzen Kultur« reagiert haben. Im Gegensatz zu Senghor sieht Haroun in einer solchen Kategorie jedoch keinen Sinn. Er spricht sich vielmehr für die Individualperspektive aus: »Im Viertel, in unserer Welt, war man Muslim, man hatte ein Gesicht und Gewohnheiten. Punkt.« (Daoud 2016: 92) In diesem Zusammenhang erinnert er auch an ein diskriminierendes Verfahren in der Kolonialliteratur, indigene Figuren mit Kunstnamen zu bezeichnen. Ironisch schlägt er für seinen namenlosen Bruder eine Bezeichnung dieser Art vor: »Zoudj, die Zwei, das Duo, er und ich, gewissermaßen harmlose Zwillinge für jemanden, der die Geschichte dieser Geschichte kennt.« (Daoud 2016: 12, Hervorhebung im Original) »Zoudj« entspricht dem Zeitpunkt der Tötung des Arabers am Strand – 14 Uhr – und zugleich jener Namenskonstruktion, die auch der Ich-Erzähler in Daniel Defoes Robinson Crusoe für seinen »Neger« Freitag fand.
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Ironisch hebt Haroun hervor, wie westliche Zuschreibungsmodelle die Identität kolonisierter Menschen unterlaufen und tradieren, und wie der weiße Blick dem Kolonisierten die volle Subjektivität verweigert. Meursault wirft er neben dieser diskriminierenden Perspektive auf den Anderen auch eine epistemische Arroganz vor. Offensichtlich bedeutet ihm das eigene Bewusstsein mehr als der Tod eines Ureinwohners. »Es ist der Franzose, der da den Toten spielt und sich lang und breit darüber auslässt, wie er seine Mutter verloren hat […]. Guter Gott, wie kann man jemanden nur umbringen und dann auch noch seines Todes berauben? Mein Bruder hat die Kugeln abbekommen, nicht er!« (Daoud 2016: 13). Dass weder die europäische Literaturkritik noch die Leser Meursaults Eurozentrismus erkennen (und thematisieren), stellt für Haroun einen mindestens ebenso großen Skandal dar wie die Eitelkeit des Autors selbst: Ein Mann, der schreiben kann, tötet einen Araber […]. Und dann hat sich 70 Jahre lang die ganze Welt aus der Sache rausgehalten, um eiligst den Körper des Opfers verschwinden zu lassen und den Tatort in ein immaterielles Museum zu verwandeln. (Daoud 2016: 15f.)
Mit seiner Rede fordert Haroun sein Gegenüber somit dazu auf, die Lesart des Fremden als unreflektierte Fortsetzung struktureller Gewaltanwendung zu überdenken und in der Lektüre aufzubrechen. Vasco Boenisch und Tobias Staab sehen darin auch eine Haltung des Autors: »Indem Kamel Daoud dem bislang anonymen Moussa einen Namen gibt und dessen Familien erzählen lässt, wird die Gewaltanwendung gestoppt.« (Boenisch/Staab 2016: o. S.)
2.3 Erinnern und fingieren Die Erzählung beschränkt sich jedoch nicht nur auf postkoloniale Literaturkritik. Sie liefert – scheinbar – eine eigene Version von der Tötung des namenlosen Arabers. Ausgangspunkt ist die Frage, wie Haroun und seine Mutter von Moussas Tod erfahren haben. Die Faktenlage ist ungesichert, denn als der Bruder verschwindet, werden die Behörden nicht aktiv. »Niemand ist gekommen, uns zu befragen, nachdem Moussa getötet wurde. Es hat keine ernsthafte Untersuchung gegeben.« (Daoud 2016: 32) Die Erfahrung, dass ein Araber die Kolonialpolizei nicht sonderlich interessiert, hatte schon Meursault gemacht (vgl. Camus 2017: 83). Im Fall Meursault führt sie in völlige Dunkelheit: Wie haben wir von Moussas Tod erfahren? Mir fällt noch ein, wie eine unsichtbare Wolke über unserer Straße und lauter wütenden Erwachsenen schwebte, die laut sprachen und gestikulierten. M’ma erzählte mir zuerst, dass ein Gaouri einen der Söhne des Nachbarn getötet hätte, der versucht hatte, eine arabische Frau und ihre Ehre zu retten. (Daoud 2016: 41, Hervorhebung im Original)
Nicht Fakten, sondern ein Gespinst aus Gerüchten, Annahmen und Vermutungen verschafft der Familie »Gewissheit«: Ein »El-Roumi, ›Der Fremde‹« (Daoud 2016: 56), hat Moussa ermordet. Als Nachbarn der Mutter das Bild eines Mannes in der Zeitung zeigen, hält sie ihn für den Täter, ohne dass die Analphabetin das Bild wirklich einem Inhalt zuordnen könnte. Die Erzählung deutet an, dass es sich um eine Fotografie von Camus handelt (vgl. Daoud 2016: 56), doch kennt die Mutter weder den Autor
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noch den Unterschied zwischen Kunst und Leben. Für sie bedeutet das Verschwinden ihres Sohnes vor allem seelisches Leid, physische Bedrohung – sie muss sich ohne Beschützer vor sexuellen Übergriffen fürchten – und wirtschaftliches Elend. Denn da sie die Ermordung ihres Sohnes durch einen Kolonisten nicht beweisen kann, ist dieser in den Augen seines Landes kein offizieller Märtyrer, und sie hat keinen Anspruch auf eine entsprechende Witwenrente (vgl. Daoud 2016: 50, 88). Den einzigen Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang mit realen historischen Geschehnissen geben zwei Zeitungsausschnitte aus der Rubrik »Vermischtes« der örtlichen Tageszeitungen, die von der Tötung eines Arabers in zwei Absätzen berichten.5 »Man fand darin Moussa unter zwei mageren Initialen, dann hatte der Journalist sich zu einigen Zeilen über den Kriminellen und die Umstände des Mordes durchgerungen.« (Daoud 2016: 168) Dass es sich wirklich um Moussas Initialen handelt, nimmt der Erzähler später allerdings wieder zurück: »Die beiden Zeitungsschnipsel nahmen nur mit seinen Initialen auf ihn Bezug oder nicht einmal das, ich weiß es nicht mehr.« (Daoud 2016: 173) Später verschwinden sogar diese Beweise: »Was aus den beiden Zeitungsschnipseln wurde? Rate mal. Zerbröselt oder aufgelöst vom vielen Auf- und Zusammenfalten. Oder M’ma hat sie am Ende weggeworfen.« (Daoud 2016: 171) Insgesamt dreimal werden die Indizien zum Anlass einer Erzählung. Als erste reagiert die Mutter, indem sie »Fakten« und Erinnerungen zu einer fantastischen Erzählung verarbeitet: Als Kind hatte ich lange Zeit nur das Anrecht auf ein Märchen am Abend, das aber gar nicht so toll war. Das Märchen von Moussa, meinem getöteten Bruder, das, je nach Laune meiner Mutter, immer wieder neue Formen annahm. […] Die mütterliche Sicht drehte sich aber meistens um die Schilderung von Moussas letztem Tag, dem ersten Tag seiner Unsterblichkeit sozusagen. M’ma wusste diesen Tag in alle seine Einzelteile zu zerlegen und ihn atemberaubend und fast lebendig werden zu lassen. […] M’ma hatte tausendundeine Fassung und die Wahrheit zählte in ihrem Alter nicht mehr viel. (Daoud 2016: 29-31)
Die zweite Erzählung stammt von Haroun selbst. Kaum dass er Französisch lesen und schreiben gelernt hat, interpretiert er die Zeitungstexte, übernimmt den von der Mutter konstruierten Zusammenhang zwischen Moussa und Meursault und füllt die Leerstellen durch detailreiches Erfinden.6 M’ma bekam eine vollständig fiktive Nachstellung des Verbrechens, die Himmelsfarbe, die Umstände, die Worte zwischen dem Opfer und seinem Mörder, die Atmosphäre im Gericht, die Vermutungen des Polizisten, die Tricks des Zuhälters und der anderen Zeugen, die Plädoyers der Anwälte … Heute habe ich leicht reden, aber zu jener Zeit war es ein unbeschreibliches Durcheinander, eine Art Tausend und eine Nacht von Lüge und Betrug. (Daoud 2016: 170, Hervorhebung im Original)
5 | Laut Iris Radisch gab es im Sommer 1939 tatsächlich drei Mordprozesse in Algier, »bei denen die Sonne und der Alkohol eine Rolle spielten […]« (Radisch 2013: 140). 6 | Daher ist Lia Brozgals Beobachtung richtig, der Leser erfahre im Wesentlichen eher eine »meta story« als eine echte Story (Brozgal 2016: 41).
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Aus seinen Erzählungen entsteht im Lauf von zehn Jahren »ein seltsame[s] Buch«, »das ich übrigens vielleicht auch hätte niederschreiben sollen, wenn ich die Gaben deines Helden gehabt hätte: eine Gegendarstellung« (Daoud 2016: 170, Hervorhebung Ch.D.). Die dritte Erzählung wird der Familie von außen zugetragen: Die Doktorandin Meriem sucht Mutter und Sohn kurz nach dem Ende des Befreiungskrieges auf, um biografische Details zu erforschen, und bringt das Buch mit. Obwohl sie keine gesicherten Hinweise hat, dass Harouns Familie tatsächlich jene des Arabers ist (vgl. Daoud 2016: 175), und obwohl sie diese Hinweise auch von der Familie nicht erhält – »Ich [Haroun, Ch.D.] erklärte ihr, es sei ein altes Problem bei uns, weil wir ja kaum Familiennamen hätten …« (Daoud 2016: 181) –, ist die Familie (im Gegensatz zur Forscherin) fest davon überzeugt, dass mit dem Roman nun der definitive Beweis über den Verlauf des letzten Tages vorliegt: »Alles stand geschrieben!«, ruft die Mutter in ihrer Schicksalsgläubigkeit aus (Daoud 2016: 179). Der Leser weiß jedoch, dass ein Roman alles ist, nur kein definitiver Beweis (vgl. Daoud 2016: 182). Auch beantwortet die Erzählung die Frage nach dem toten Bruder nicht. In dieser Hinsicht ist der Roman also eine Enttäuschung. Doch er führt Haroun immerhin zu sich selbst: Er sieht sich beim Lesen in der Figur des Franzosen gespiegelt wie in einem Doppelgänger. Haroun erfährt, was Meursault aus denselben Zeitungsausschnitten, die er selbst jahrelang interpretierte, gemacht hat 7: Literatur. Meriem hilft ihm dabei, das Buch »auf eine bestimmte Art«, eben als Literatur, zu lesen (Daoud 2016: 184). Ob sein panfiktionales Verständnis von Wirklichkeit aus dieser Situation resultiert, in der Zuneigung und Lektüre, Leben und Literatur verschmelzen, lässt seine Erzählung offen.
2.4 Kopieren und überschreiben Haroun macht, wie Meursault bei Camus, die Erfahrung des Absurden. Es löst bei ihm jedoch keine Bewusstseinskrise aus, sondern das Gefühl, zu einem sinnlos langen Leben verurteilt zu sein – wie Sisyphos (Horton 2016). Das Gefühl einer absurden Existenz, »die darin besteht, einen Leichnam einen Berg hinaufzuhieven, bevor er wieder von neuem hinunterstürzt« (Daoud 2016: 75), wird durch seine Mutter geweckt und verstärkt. Anders als im Fremden begleitet sie ihren Sohn nicht nur im Geiste durchs Leben, sondern als eine lebendige Tote, die vom Hass zerfressen ist: »M’ma lebt – immer noch.« (Daoud 2016: 9) Harouns Beziehung zur Mutter ist von Anfang an ambivalent; sie ist von Moussas Verschwinden überschattet. Dieser Verlust erschüttert die Mutter so sehr, dass auch ihre Beziehung zu ihrem Zweitgeborenen darunter leidet. »Der Schrei zerstörte unsere Möbel, ließ unsere Mauern explodieren, dann das ganze Viertel und 7 | In Camus’ Der Fremde findet Meursault in seiner Zelle einen Zeitungsbericht, der über einen tschechischen Heimkehrer berichtet. Diese Begebenheit stellt den Nukleus von Camus’ späterem Theaterstück Das Missverständnis (1944) dar. Daoud konstruiert zwischen dem Detail des Prätextes und seiner Romanhandlung einen neuen Zusammenhang: Bei Daoud findet Meursault in seiner Zelle einen Zeitungsartikel, der über den Tod des Arabers berichtet, also denselben Artikel, den Haroun und seine Mutter für ihre Erzählungen nutzen (vgl. Daoud 2016: 169; Camus 2017: 104).
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ich blieb allein zurück.« (Daoud 2016: 41, Hervorhebung Ch.D.) Während sich die emotionale Bindung allmählich lockert, beobachtet Haroun das intensive Interesse der Mutter für seinen Körper. Sie, selbst eine vom Kolonialsystem Beschädigte, wird zur »Kolonisiererin« seiner Physis, indem sie diese als Projektionsfläche für ihre Erinnerungen an Moussa nutzt: »Mein Körper wurde so zur Spur des Toten und schließlich gehorchte ich diesem stummen Befehl.« (Daoud 2016: 67f., Hervorhebung im Original) In der Formulierung kommt eine Machtasymmetrie, vergleichbar einer kolonialen Konstellation, zum Ausdruck: Der Sohn ist der Mutter an Leib und Seele ausgesetzt. Er verliert den Kontakt zur Umwelt und wird sich selbst zum Fremden. Auch sein eigenes Verbrechen begründet Haroun mit dieser »inneren Kolonisierung«. Insgeheim ist mit der Tötung eines Anderen der Wunsch verbunden, die Kontrolle über den eigenen Körper (und die Freiheit) zurückzuerlangen. Offiziell erklärt Haroun seine Tat als eine politische: Als sich 1962 im Zuge des Befreiungskriegs die Machtverhältnisse in Algerien umkehren und sich die Gelegenheit ergibt, den Franzosen Joseph Larquais für Moussas Verschwinden zu bestrafen, tut er es. Es sei kein Mord, sondern die rechtmäßige Restitution eines im kolonialen Kontext verschwundenen Körpers, argumentiert er (vgl. Daoud 2016: 112). Ich drückte auf den Abzug und schoss zwei Mal. Zwei Kugeln. Eine in den Bauch und die andere in den Hals. […] M’ma stand hinter mir, und ich spürte ihren Blick wie eine Hand, die mich von hinten anschob, meinen Arm dabei lenkend und ganz leicht meinen Kopf in dem Moment bewegend, als ich zielte. (Daoud 2016: 111)
Das Opfer wird zum Täter, und es wird zugleich zum (literarischen) Kopisten, denn seine Tat ähnelt jener seines Vorgängers Meursault. So wird die aufgestaute Aggressivität des Erzählers durch eine im Text kursiv gesetzte Stelle deutlich, an der sich Text und Prätext überlagern: »Hätte er sich da bewegt, hätte ich ihn geschlagen und auf dem Boden plattgemacht, das Gesicht in die Nacht, während rings um seinen Kopf Blasen an der Oberfläche platzten.« (Daoud 2016: 123, Hervorhebung im Original; Camus 2017: 71f.) Ebenso finden sich, wie im Fremden, Hinweise auf eine Christusmetaphorik, mit der Haroun seine körperliche und seelische Selbsterlösung durch Mord konnotiert: »Ich schlief fast drei Tage lang, wie ein Stein […]. [M]ein Körper war wie neu und verzaubert.« (Daoud 2016: 141) Doch diese Form der Auferstehung misslingt; die Tat, die ihn befreien sollte, widerspricht in allem dem, was der Seele Ruhe und Frieden bringt. »Der ANDERE ist ein Maß, das man verliert, wenn man tötet.« (Daoud 2016: 132) Es ist das Kain-und-Abel-Problem, auf das der Erzähler hier rekurriert. Er weiß, wie Kain, um seinen Selbstbetrug und darum, dass sich seine individuelle Schuld nicht durch ein kollektives Heilsversprechen tilgen lässt. Im Rollenspiel Moussa/Meursault stellt sich Haroun innerlich gegen die religiöse Ideologie der Mutter. Er kann sie ebenso wenig nachvollziehen wie jene des völkisch-arabischen Nationalismus, der die Unabhängigkeit durch Krieg herbeigeführt hat (vgl. Daoud 2016: 16). Mit der Ideologie des Nationalismus kommt er im Gefängnis in Berührung: Unter dem Etikett »arabisch« werden nun all jene Menschen innerhalb der Staatsgrenzen zusammengefasst, die keine Kolonisten, sondern Indigene sind. Im Verhör wehrt sich Haroun erneut gegen einen derart verkürzenden und homogenisierenden Zugriff auf seine Person. Das verstehen die
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Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (F.L.N.) jedoch genauso wenig wie Camus’ christlicher Untersuchungsrichter es im Fremden verstand: »Er brüllte: ›Warum also hast du nicht zu den Waffen gegriffen, um dein Land zu befreien? Antworte! Warum?!‹« (Daoud 2016: 155; vgl. Camus 2017: 89f.) Haroun wird, wie Meursault, nicht wegen seiner Tat verhört und verurteilt, sondern wegen eines Details. Er hat einen Tag nach dem offiziellen Waffenstillstand getötet und damit gegen Militärrecht verstoßen; aus einer potenziellen Heldentat wurde so ein Verbrechen (vgl. Daoud 2016: 153). Auch wenn Haroun nun zu den Ausgrenzern und nicht mehr zu den Ausgegrenzten gehört: Die Haltung der Nationalisten erscheint ihm genauso absurd wie jene der Kolonialisten. Zwar kommt er, im Gegensatz zu Meursault, ohne Prozess und Verurteilung davon, doch kann er seine Fremdheit der neuen Ideologie gegenüber nicht leugnen (vgl. Daoud 2016: 154). Noch der alte Haroun wirft seinem dekolonisierten Land vor, die Freiheit der Menschen zugunsten der Ismen von Nation und Religion zu unterdrücken. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem System und dem gesellschaftlichen Stillstand, der die Ressourcen des Landes immer mehr »verschlingt« statt sie zu nutzen: »Alles wird gefressen, seit Jahren schon.« (vgl. Daoud 2016: 142) Harouns Ideologiekritik, dargestellt am Beispiel von Kolonialzeit, Religion und Nationalismus, führt ihn zur Einsicht in eine Wiederkehr des historisch immer Gleichen, die – frei nach Nietzsche – vom Willen zur Macht gespeist wird. Das Absurde entsteht dadurch, dass der Mensch nicht dazulernt, weder in seiner Biografie noch durch die Geschichte.
2.5 Übersetzen und interpretieren Haroun thematisiert nicht nur seine Tat, sondern auch seine Sprache. Er lernt Französisch, um die erwähnten Zeitungsnotizen zu lesen, aber auch, um Zugang zu einer Literatur zu erhalten, die seinen Horizont kritisch erweitert. Vor allem die stilistische Auseinandersetzung mit Meursault war intensiv: »Das Buch und die Sprache deines Helden [Meursault, Ch.D.] befähigten mich zunehmend, die Dinge anders zu benennen und die Welt in meinen eigenen Worten zu ordnen.« (Daoud 2016: 61) Die Sprache führt zur produktiven Aneignung der Welt des Anderen – den Ideen der Aufklärung, des Individualismus und Nihilismus – und zur Neujustierung des eigenen Menschenbildes; sie ist, dialektisch gedacht, die Kehrseite jener Kultur, die auch den Kolonialismus hervorgebracht hat. Haroun klagt diesen zwar an, befreit sich durch die Literatur aber auch von den religiösen Zwängen seiner Heimat, indem er den Zweifel als letztmögliches Maß in den Vordergrund stellt: »Und ich will schreien, dass ich frei bin und dass Gott eine Frage und keine Antwort ist und dass ich ihm ganz allein begegnen will […].« (Daoud 2016: 194f.) Haroun ist auch Meursaults philosophischer Zwilling: Zoudj. Bei aller Zustimmung ahmt er Meursault jedoch nicht einfach nach. Er variiert, adaptiert und übersetzt ihn so, dass er seine eigenen Erfahrungen und Reflexionen zum Ausdruck bringen kann: »Es war seine Sprache. Deshalb werde ich es genauso halten, wie man es in diesem Land seit seiner Unabhängigkeit macht: Stein um Stein von den ehemaligen Häusern der Kolonialherren nehmen, um mein eigenes Haus daraus zu bauen, meine eigene Sprache zu formen.« (Daoud 2016: 10) In einem dergestalt »übersetzenden« Umgang entwickelt er seine Antwort auf Meursault und das Absurde, die in der Idee einer universell gültigen, innerweltlichen
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Menschlichkeit besteht. Um sie zu illustrieren, greift Haroun auf eine prophetische Namenssymbolik zurück, die sich in allen mittelmeerischen Religionen – Christentum, Judentum und Islam – findet: Moussa (Moses), Haroun (Aaron), Meriem (hebräisch: Myriam, die Schwester von Aaron und Moses, deutsch: Maria/Marie), Joseph (Josef und seine Brüder) und Larbi (der Araber). Die Namenssymbolik verknüpft Haroun mit dem Begriff des »Bruders«, der in der arabischen Welt nicht nur die Bluts-, sondern auch die Glaubensgemeinschaft anzeigt. Moussa ist demnach sowohl Harouns leiblicher Bruder als auch sein »Menschenbruder«, ebenso wie die Frauen des arabischen Viertels allesamt »Schwestern« sind (vgl. Daoud 2016: 34). Die Brudermetapher ermöglicht es Haroun, sich zu allen Männern in der Bar in Beziehung zu setzen: »Ja, der Kellner heißt Moussa, für mich jedenfalls. Und den dahinten, ganz am Ende, den habe ich auch Moussa getauft.« (Daoud 2016: 42) Moses/Moussa ist jedoch mehr als das: Er ist auch der Prophet des Alten Testaments, der Gott auf dem Berg Sinai begegnet und sein Volk aus der Gefangenschaft befreit. In dieser Funktion steht er zwischen Himmel und Erde: »Mein Bruder Moussa, Moses, war imstande, das Meer zu teilen […].« (Daoud 2016: 22) Indem Haroun auf Moses rekurriert und nicht auf Mohammed, macht er deutlich, dass er seine Idee ein Stück weit panreligiös anlegt: »Die Leute in diesem Land haben die Angewohnheit, alle Unbekannten ›Mohammed‹ zu nennen, ich aber gebe allen den Vornamen ›Moussa‹.« (Daoud 2016: 39f.) Die Bruder- und Namensymbolik, die sich auch am Beispiel von Kain und Abel oder an Joseph und seinen Brüdern zeigen ließe, wird in die Opfer-Täter-Thematik des Textes integriert, und zwar bis zur völligen Verschmelzung der Perspektiven. So identifiziert sich Haroun nicht nur mit Meursault (dem Täter), sondern auch mit Joseph (dem Opfer). Er versetzt sich in dessen Perspektive, den er – wie einst die eifersüchtigen Brüder den biblischen Joseph (vgl. Gen 37,17) – in einem übertragenen Sinne in einen Brunnen geworfen hat. Er stellt sich vor, nun selbst in diesem Brunnen zu sitzen und Meriems Gesicht am Himmel zu erkennen (vgl. Daoud 2016: 164). Ähnlich imitiert Haroun Meursault, indem er die große Emanzipationsrede, die Meursault vor dem katholischen Priester hält, fast wörtlich übernimmt und als Gegenrede gegen den Herrschaftsanspruch des Islam nutzt. Er geht so weit, die Perspektiven beider Erzähler abzubilden, sodass eine Illusionsstörung entsteht: Die kleine Roboterfrau wäre genauso schuldig wie die Pariserin, die Masson geheiratet hatte, oder wie Marie, die gerne wollte, dass ich sie heiratete. Was wäre dann noch wichtig daran, dass Meriem ihren Mund heute einem anderen als mir schenkte? (Daoud 2016: 197f., Hervorhebung im Original) Die kleine Roboterfrau wäre genauso schuldig wie die Pariserin, die Masson geheiratet hatte, oder wie Marie, die gerne wollte, dass ich sie heiratete. […] Was machte es, dass Marie heute ihren Mund einem neuen Meursault darböte? (Camus 2017: 158, Hervorhebung Ch.D.)
Das Changieren und Überblenden der Perspektiven und Stimmen zeigt nicht nur die emotionale Nähe des erzählenden Ich zum Referenztext, sondern ist auch Abbild eines Bewusstseins, das zwischen Kolonisierer und Kolonisiertem in der Rolle des Täters keinen Unterschied mehr macht. Die Annäherung im Akt des Lesens führt zur Identifikation. Wenn auch nicht im Sinne einer Bluts- oder Glaubens-
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gemeinschaft, so sind Haroun und Meursault doch in gewisser Weise Brüder im Bewusstsein: Sie sind Aufklärer und Ankläger des Absurden.
3. D er Fall M eursault im The ater Mit den Bühnenfassungen von Daouds Roman entstand so etwas wie eine »Literatur auf dritter Stufe«: Durch die Überführung in eine andere Darstellungsform, das Theater, wurde der Hypertext medial anverwandelt und in ein räumliches Konzept übersetzt. Zwar ist dem Fall Meursault durch seine Erzählweise die dramatische Form in gewisser Weise bereits eingeschrieben. Dennoch bleibt die Frage, wie man einen so komplexen Roman für die Bühne adaptiert – und zu welchem Zweck? Was macht Daouds Roman, dem die Kritikerin der Süddeutschen Zeitung attestierte, »eine verbissene Suada« zu sein (Dössel 2016), für deutsche Theater attraktiv? Ist es seine postkoloniale Perspektive oder die Aktualität, die das Buch aufgrund der Migrationsbewegungen aus arabischen Ländern nach Europa erhalten hat? Sowohl die Inszenierung der Ruhrtriennale in Marl als auch jene der Münchner Kammerspiele traf offenbar einen gesellschaftlichen Nerv. Das zeigte auch die prominente Ehrengästeliste bei der Premiere am 2. September 2016 in Marl: Neben neben dem gesamten Feuilleton war auch der Bundespräsident zugegen, was dem Abend eine gewisse politische Bedeutung verlieh.
3.1 Ruhrtriennale 2016: Die Fremden Johan Simons, Regisseur und Intendant der Ruhrtriennale, inszenierte Daouds Roman (Bühnenfassung: Vasco Boenisch und Tobias Staab) in der einstigen Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria 3/7 in Marl als Musiktheater.8 Einen Schwerpunkt legte er auf die universelle Auseinandersetzung mit dem Fremden, weshalb er Haroun als einen durch Unfreiheit zur inneren wie äußeren Flucht gezwungenen Menschen interpretierte. Die »Fremdheit als Modus der Wahrnehmung« (Boenisch/Staab 2016: o. S.), wie es die Dramaturgen der Ruhrtriennale formulierten, sollte nicht nur die Klammer zwischen beiden Romanen, sondern auch zwischen Bühne und Zuschauerraum bilden. Einen zweiten Schwerpunkt stellte die postkoloniale und politische Deutung dar. Damit sollte den Besuchern ein Transfer der Thematik auf eigene Gesellschaftsverhältnisse angeboten werden. Neben historischen Bildern aus dem Algerienkrieg zeigte der niederländische Videokünstler Aernout Mik Aufnahmen, die Menschen in fiktiven Flüchtlingsunterkünften wiedergaben, um das Thema der Heimatlosigkeit als Fremdheit zu visualisieren; Mik hatte sie selbst mit Statisten in der Kohlenmischhalle gedreht (Abb. 1). Die Absicht des Regisseurs lag also nicht darin, Bilder der medialen Wirklichkeit zu kopieren, eine einfache Korrelation zu aktuellen Ereignissen herzustellen und so die Empathie der Zuschauer zu wecken, sondern darin, die Wirkung des Fremden zu illustrieren, das emotional oft Angst und Verstörung auslöst, das kognitiv jedoch nicht einfach zu fassen ist. Kann man es, fragte Simons, wirklich schaffen, eine fremde Perspektive einzunehmen? 8 | Das Orchester Asko | Schönberg (Leitung: Reinbert de Leeuw) spielte Kompositionen von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti.
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Abb. 1: Die Fremden: Arnout Miks Filminstallation in der Kohlenmischhalle in Marl. Foto: Julian Röder
Haroun, der schweifende, bisweilen unzuverlässige Erzähler, beschäftigte das Team intensiv. Wie sollten die Verwebung mit der camusschen Vorlage, seine erzählte Tat und die dialogische Erzählkonstellation in die Dreidimensionalität des Theaters umgesetzt werden? Die Darstellung der Erzählerfigur durch eine Person würde zwar den üblichen Erwartungen der Zuschauer entgegenkommen; sie hinge jedoch allzu sehr am Konzept der in sich geschlossenen Identität. Auch würde sie nach Ansicht des Teams die Struktur des Textes nicht angemessen repräsentieren, in dem es nicht nur eine Perspektive und eine Wahrheit, sondern viele Ebenen, Perspektiven und Wahrheiten gab: »Meusault ist nicht Camus. Haroun ist nicht Meursault. Wir sind nicht Haroun.« (Boenisch/Staab 2016: o. S.) Eine adäquate Lösung schien das Aufbrechen des Erzählermonologs und seine Verteilung auf mehrere Personen zu sein: Harouns Rolle wurde insgesamt fünf Schauspielerinnen und Schauspielern übertragen9, die ihn in verschiedenen Kommunikationsformen, in Gestik, Mimik, Körpersprache und Monolog repräsentierten. Mit dem Verzicht auf ein einfaches Personenkonzept sollte auch die schlichte Empathie des Zuschauers unterbunden werden. Trotz der Internationalität des Ensembles (die Künstler kamen aus den Niederlanden, aus Belgien, Estland und Deutschland) war die Sprache der Inszenierung Deutsch; englische Übertitelungen sollten Zuschauern aus dem Ausland beim Verstehen helfen. Um den Roman in den Raum zu überführen, entschied sich Simons für ein statisches Arrangement: Das Orchester war in der Mitte platziert und wurde in unterschiedlich großen Suchbewegungen vom Ensemble umkreist; es konzentrierte sich in der spärlich ausgeleuchteten Halle vor allem auf die Wiedergabe des Textes. In der zweiten Hälfte der Inszenierung nutzte der Regisseur die Weite des Raumes: Die Kohlenmischmaschine wurde langsam nach hinten bewegt, wodurch das Ausmaß der Halle sichtbar wurde; der immense Raum sollte zur Metapher jener metaphysischen Leere werden, der sich sowohl Meursault als auch Haroun zu stellen hatten. Dass Simons angesichts dieses Aufführungsortes auf jede Form 9 | Sandra Hüller, Pierre Bokma, Elsie de Brauw, Benny Claessens und Risto Kübar.
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von orientalischem Kolorit verzichtete, war stimmig. Auch die Begründung für eine Besetzung ohne arabische Schauspieler war postkolonial: Da »Araber« wie »Neger« keine Nationalität, sondern eine ethnische Zuschreibung sei, käme die Realisierung des Stücks mit arabischen Schauspielern einer Nachahmung jener Négritude gleich, die Daoud selbst kritisiert habe: »Das so genannte Blackfacing ist mittlerweile als rassistische Tradition bloßgestellt.« (Boenisch/Staab 2016: o. S.)10 Die Furcht vor politischer Unkorrektheit bei der Darstellung von Ethnizität war der Argumentation der Dramaturgen somit erkennbar eingeschrieben. Das »verkopfte Theaterstück, das Simons für Marl erfand«, befand die FAZ, war jedoch gerade durch dieses Denken und »nicht zuletzt durch die Musiken, der Gesamtheit europäischer Traditionen verpflichtet« (Hemmerich 2016). Anders ausgedrückt: In der Adaption des algerischen Romans in Marl begegnete der Zuschauer vor allem der europäischen Spiegelung des Postkolonialismus, kurz: sich selbst.
3.2 Münchner Kammerspiele: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung Anders in München: Hier inszenierte der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani Daouds Roman als episches Theater mit wechselnden Szenenbildern, wobei er ganz auf die Nachvollziehbarkeit der Handlung setzte (Dramaturgie: Katinka Deecke). Er vermied den großen geopolitischen Bogen ins Globale, stellte stattdessen die Figurenkonstellation des Romans ins Zentrum, machte die Zeitschichten und Orte des Romans sichtbar und setzte dafür vielfältig verwendbare Requisiten ein – etwa eine Sonne, die zum Mond mutierte, oder einen Strand, der zum Friedhof wurde. Das Bühnenbild unterschied sich völlig von Marl: Koohestani nutzte orientalische Teppiche, kleidete seine Schauspieler in Schleier, Fes und Henna-Muster und machte jene Welt lebendig, in der Haroun sozialisiert wurde. Auch der Held und seine perspektivischen Brechungen wurden in München anders inszeniert. Harouns Entwicklungsstufen stellte Koohestani mithilfe dreier Schauspieler – eines Kindes, eines jungen und eines alten Mannes11 – dar, die sich bisweilen zu dritt auf der Bühne befanden; so sollten die sich im Roman überlagernden Bewusstseinszustände des Erzählers für den Zuschauer anschaulich werden. Um einen Transfer der Kolonialthematik in die Gegenwart zu ermöglichen, erfand Koohestani Szenen, Dialoge und Spielorte dazu. So baute er als Seitenhieb auf neue Asymmetrien eine touristische Szene ein, in der ein Mädchen (Maya Haddad) am Strand Camus’ Roman Der Fremde liest. Die Begegnung mit der Mutter (Mahin Sadri), die Koohestani mit einem Bild des Sohnes unter dem Arm wie eine Rächerin über die Bühne ziehen lässt (Abb. 2), verwandelt die Leserin, die sich als verständnisvolle Europäerin gibt, in eine wütende, ja nachgerade rassistische Eurozentrikerin.
10 | Gegen diese Argumentation wandte die Theaterkritikerin Sonja Zekri ein: »Danach dürfte Onkel Wanja nur von Russen gespielt werden, es sei denn, diese Überlegung trifft nur auf Araber zu, dann aber wäre sie eine besonders feine Form der Ausgrenzung.« (Zekri 2016) 11 | Dennis Kharazmi/Jasper Kohrs (Kind Haroun), Samouil Stoyanov (junger Haroun), Walter Hess (alter Haroun).
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Abb. 2: Der Fall Meursault: Mahin Sadri und Dennis Kharazmi als Kind Haroun in den Münchner Kammerspielen. Foto: Judith Buss
Ein zentrales Anliegen, so Koohestani im Interview, sei es gewesen zu zeigen, wie sehr der Blick auf die Zukunft von der Interpretation der Vergangenheit abhänge (Koohestani 2016). Im Unterschied zur Ruhrtriennale sah er die Herausforderungen des Romans nicht in der Darstellung der aktuellen Flüchtlingsthematik, sondern in der Wiederkehr von Gewalt. Er konzentrierte sich daher auf die theatralische Darstellung des globalen »Zusammenspiel[s] historischer Kräfte« (Koohestani 2016: 9) und dessen Bedeutung für die Gemeinschaft. Wenn ich ›Der Fall Meursault‹ in Frankreich inszeniert hätte, wäre das wahrscheinlich anders geworden, völlig anders. Hier in Deutschland wollte ich keinen historisierenden, geopolitischen Theaterabend machen, der explizit auf die spezifische französisch-algerische Kolonialgeschichte eingeht, sondern eine Frage stellen, die im gesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen womöglich eine größere Rolle spielt als der Kolonialismus, nämlich die Frage nach der Ursache von Gewalt. (Koohestani 2016: 12)
Die Aussage, dass Koohestani in Frankreich anders gehandelt hätte, ist aufschlussreich für das Deutschlandbild des Regisseurs12: Den Deutschen hielt er einen Spiegel vor: als Touristen, Wirtschaftsglobalisten und Familienmenschen, nicht als Postkolonialisten. Ebenso wenig fürchtete er den sogenannten »Othello-Effekt« in einem multiethnischen und multilingualen Ensemble. Koohestani schreckte vor der Darstellung kultureller Unterschiede – auch exotischer Fremdheit – nicht zurück, ließ auf der Bühne verschiedene Sprachen sprechen (neben Deutsch auch Farsi, Bulgarisch, Lettisch und Arabisch), die übertitelt wurden, und sah die kulturelle und sprachliche Fremdheit als soziales Statement an: »Die vielen Sprachen, die bei uns auf der Bühne gesprochen werden, bilden zeichenhaft Vielfältigkeit und die 12 | Die SZ erklärte diesen Ansatz biografisch: Koohestani sei »als Iraner zwar mit dem Islam vertraut, aber nicht mit europäischen Kolonialhinterlassenschaften belastet« (Dössel 2016).
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diversen Identitäten ab, die in Gesellschaften vorkommen. Es gibt keine einfachen Zuordnungen.« (Koohestani 2016: 10) Ganz selbstverständlich arbeitete er auch mit Darstellern, die arabische Wurzeln hatten, mehr noch: Der Libanese Hassan Akkouch, Mitglied des Kammerspiele-Ensembles, wurde in seiner Inszenierung »so etwas wie der Araber vom Dienst«, konstatierte die Süddeutsche Zeitung (Dössel 2016). Koohestanis Inszenierung lebte vom Spiel mit Kulturen und Sprachen, von humorvoll inszenierten Übersetzungsschwierigkeiten und von Diversität. Er zeigte eine eher unbelastete Nähe zu Konzepten der nationalen Herkunft und Identität und suchte nur bedingt die philosophische Auseinandersetzung mit der Fremdheit. Und wenn doch, so bestand sie für ihn darin, Haroun als einen neuen Hamlet zu zeigen (vgl. Koohestani 2016: 17). Seine Vorliebe für Narrativität hat möglicherweise mit der Theatertradition seines Landes zu tun. Koohestani nutzte eine bildstarke Ästhetik, die sowohl an Filmszenerien als auch an die Erzählstrukturen aus 1001 Nacht erinnerte. Er, der in Teheran mit einer eigenen Theatergruppe arbeitet, zeigte kein postmodernes Theater im Sinne des Westens – möglicherweise auch deshalb geriet seine Fassung für manche Kritiker »eine Spur zu nett, zu einfach, zu unterkomplex« (Dössel 2016), erinnerte sie an »Schultheater« (Bahners 2016). Die Zuschauer, die den Fall Meursault in München erlebten, werden es Koohestani hingegen gedankt haben, dass sie dem Spiel auch ohne Kenntnis von Daouds Buch folgen konnten. Hier wurden sie mit einer Geschichte versorgt, die ihnen ein Fremder erzählte, und dadurch herausgefordert, weniger die eigene Position als jene des Fremden zu reflektieren.
4. G renzen der kulturellen Ü berse t zung ? Abschließend soll resümiert werden, inwiefern Daouds Roman tatsächlich als »kulturelle Übersetzung« angesehen werden kann. Harouns Geschichte berichtet vom Aneignungs- und Verwandlungsprozess eines Arabers, der die Werte der Aufklärung und der menschlichen Freiheit für sich entdeckt. Sein »Übersetzungsprozess« fördert koloniale Machtasymmetrien, Brüche und Unübersetzbares zutage, aber auch eine Transformation: Er, der als Kritiker der französischen Kolonialliteratur begonnen hat, endet als Befürworter der westlichen Individualphilosophie. Er, der sich mit dem Französischen bloß eine Zweitsprache neben dem Arabischen schaffen wollte, ist im Land der Fremdsprache geblieben. Harouns Erzählung spiegelt das Oszillieren zwischen Fremdheit und Identität, Nachahmung und Distanzierung. Dabei ist er sich der Grenzen der Übersetzbarkeit von Ideen, Systemen und Kulturen durchaus bewusst. Haroun bezahlt für die Freiheit, die er sich mit seiner »kulturellen Übersetzung« von Camus’ Meursault verschafft hat, den Preis der sozialen Außenseitertums. Es wird deutlich, dass sein »Übersetzungsprozess« nicht nur ein kulturell-epistemischer, sondern auch ein sozialer, mit Machtfragen verbundener schmerzhafter Vorgang ist. Dass Haroun autobiografische Züge seines Autors trägt – auch darin besteht eine Parallele zu Camus –, zeigt sich in Interviews und Beiträgen. Wie sein Erzähler versucht sich auch Daoud immer wieder als Übersetzer und Mittler zwischen westlichem und orientalischem Denken. Und wie er (aber auch wie Camus) macht Daoud wiederholt die Erfahrung »kultureller Missverständnisse«. In seiner arabischsprachigen Heimat erwarb er sich den Ruf, frankophil zu sein: Er lernte
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Französisch in der Schule, studierte die Sprache und war bei einer französischen Tageszeitung als Kolumnist tätig. Eine in Frankreich geäußerte Religionskritik im Rahmen der Buchvorstellung des Falls Meursault brachte ihm in Algerien schließlich eine »Facebook Fatwa« ein (Shatz 2015). Doch auch im Westen verstand man ihn nicht: Seine – bisweilen polemischen – Kommentare zu Migrationsfragen erregten in Frankreich Unmut. Anlässlich der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015 hatte Daoud in der Zeitung Le Monde den Verdacht geäußert, dass der Westen auf die großen Unterschiede zwischen seiner eigenen und der Kultur der Flüchtlinge nicht vorbereitet sei (Daoud 2016a; Daoud 2016b). Der Westen müsse sich klar darüber werden, dass er nicht nur die Alimentierung der Geflüchteten sicherstellen, sondern »auch die Seele« der Neuankömmlinge »von der Notwendigkeit einer Veränderung überzeugen« müsse. Die arabischen Flüchtlinge kämen aus einer Kultur, in der weder das Verhältnis zur Frau noch zur Sexualität oder Religion ähnlich geklärt sei wie im Westen. Einen Flüchtling aus diesem Kulturkreis aufzunehmen hieße nicht automatisch, ihn von seinen Vorstellungen »zu heilen« (Daoud 2016b).13 Auf Daouds Artikel reagierten 19 französische Linksintellektuelle mit einer Petition, in der sie ihm kolonialen Paternalismus und orientalistische Stereotypen vorwarfen (Zerofsky 2016). Daoud zog sich daraufhin vom aktiven Journalismus zurück (Blume 2016). Er stellt seine politischen Kolumnen als Chroniques Algériennes jedoch weiterhin auf seiner Facebook-Seite ein (Andere Quellen: Nr. 1). Als Journalist hatte Daoud einen ähnlichen »kulturellen Übersetzungsprozess« in den Westen hinein unternommen wie sein Held – und war im Grunde genauso gescheitert wie er. Die kritische Differenzierung, die er aufgrund seines sprachlichen und kulturellen Wissens vorgenommen hatte, schien Europa herauszufordern und zu überfordern. Vor diesem Hintergrund sind die beiden Theaterinszenierungen, als »Übersetzungen auf dritter Stufe«, aufschlussreich. Sie zeigen Interpretationen, die kulturelle Fremdheit mit philosophischer (Selbst-)Fremdheit zusammendenken (Simons) oder humorvoll, aber auf keinen Fall konflikthaft behandeln (Koohestani). Beide Inszenierungen gehen mit den Fragestellungen des Romans folglich viel behutsamer um als Daoud selbst – möglicherweise auch, um in Deutschland an einer offenen, versöhnlichen Haltung mitzuwirken. Die Diskussion über Kamel Daouds Roman ist noch nicht abgeschlossen; jene über die künstlerische Auseinandersetzung mit Fremdheit und ihre Übersetzung in einer Praxis des Aushandelns ebenso wenig.
L iter atur Primärliteratur Camus, Albert (1942/2017): Der Fremde. Roman, Reinbek. Daoud, Kamel (2016): Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Roman, Köln.
13 | Mit dieser Position trifft sich Daoud gewissermaßen mit jener des Soziologen Bassam Tibi, der darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die ethnisch-religiöse Weltwahrnehmung der Flüchtlinge oft unterschätzt werde (vgl. Tibi 2017: 67).
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Daoud, Kamel (2016a): Cologne, lieu de fantasmes. In: Le Monde online, 31.01. 2016. www.lemonde.fr/idees/article/2016/01/31/cologne-lieu-de-fantasmes_485 6694_3232.html (01.04.2017). Daoud, Kamel (2016b): Islam und Körper. Das sexuelle Elend der arabischen Welt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online, 18.02.2016. www.faz.net/aktuell/ feuilleton/islam-und-koerper-das-sexuelle-elend-der-arabischen-welt-14075502. html (30.04.2017). Daoud, Kamel (2014): Meursault, Contre-enquête. Roman, Arles.
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Kolonialismus im Kasten? Ein alternativer Museumsguide Franziska Wegener Im Museum lassen sich wie durch ein Brennglas gesellschaftliche Verhältnisse und Formationen von Wissen und Macht in den Blick nehmen – als Feld ihrer Abbildung, Produktion, aber auch konfliktträchtigen Aushandlung. (Baur 2010: 38)
1. R ückkehr des N ationalen ? Zwei Ereignisse rückten im Sommer 2006 den Begriff der »Nation« in den Mittelpunkt des deutschen Medieninteresses: Auf Bildschirmen und in den Stadien verfolgten Millionen Menschen die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland und erlebten ein Gastgeberland, dessen einheimische Fans ausgelassen die deutsche Flagge schwenkten und einen spielerischen »Partypatriotismus« demonstrierten. Etwa zeitgleich fand in der Öffentlichkeit und in den überregionalen Feuilletons eine zweite Debatte über die Reflexion und Repräsentation Deutschlands in der Öffentlichkeit statt: Sie adressierte die Dauerausstellung Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin, die kurz zuvor von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet worden war. Fast 20 Jahre hatte das Museum seit seiner Gründung im Jahr 1987 benötigt, um seine Dauerausstellung zu konzipieren und zu präsentieren. Von der Regierung Helmut Kohl initiiert, gingen die Pläne für das DHM selbst noch auf die frühen 1980er-Jahre zurück. Bereits diese Gründungsphase des Museums war von Diskussionen über seine Aufgabe, Bedeutung und Repräsentationsfunktion geprägt, und nachdem sich das Museum mit seinen ab 1991 gezeigten, »teils fulminanten, […] manchmal umstrittenen Wechselausstellungen« (Kocka 2006: 403) bundesweit einen Namen gemacht hatte, wurde die Dauerausstellung mit umso größerer Neugier erwartet. Erarbeitet unter der Leitung des damaligen Generaldirektors Hans Ottomeyer wollte sie zum einen dem Anspruch gerecht werden, deutsche Geschichte historisch genau, anschaulich und zugleich vielschichtig zu inszenieren, zum anderen die politische Vorgabe umsetzen, als das Museum für bundesdeutsche Geschichte eine Repräsentationsfunktion im wiedervereinigten Deutschland einzunehmen. Die mediale Kritik fiel indes ernüchternd aus: Oft
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wurde die Umsetzung an den anspruchsvollen Plänen gemessen und negativ bilanziert. Auch der eurozentristische Blick auf die eigene Geschichte wurde früh bemerkt. Diese Kritik äußerten in den Jahren 2009 und 2010 die fünf Historikerinnen Manuela Bauche, Dörte Lerp, Susan Lewerenz, Marie Muschalek und Kristin Weber: Anlässlich der antikolonialen Kampagne 125 Jahre Berliner Afrika-Konferenz riefen sie die Initiative Kolonialismus im Kasten? (KiK?) ins Leben, die den Umgang der Ausstellung mit dem deutschen Kolonialismus kritisierte. Die Kuratorinnen und Kuratoren der Dauerausstellung, so der Vorwurf, hätten den Stellenwert des Kolonialismus in der deutschen Geschichte marginalisiert und zugleich entkontextualisiert – »als gäbe es zwischen Kolonialismus und Populärkultur, Reichstagsdebatten oder Wissenschaften keinen Zusammenhang« (Andere Quellen: Nr. 1). Direkt thematisiert werde der deutsche Kolonialismus in dem umfangreichen Abschnitt zum Deutschen Kaiserreich nur in einer versteckten Vitrine – daher auch der Name des Projekts Kolonialismus im Kasten?. Um diese Defizite sichtbar zu machen, boten die Historikerinnen zunächst Rundgänge zur Geschichte des deutschen Kolonialismus durch das DHM an, bevor sie, ausgehend von diesem Format, einen unabhängigen Audioguide entwickelten, der seit 2013 von einer eigens dafür erstellten Website heruntergeladen werden kann. Als Ziel ihrer Intervention nannten sie die »Sichtbarmachung kolonialer Geschichte« und die Problematisierung einer scheinbar objektiven Inszenierung, die »Kolonialismus, wenn überhaupt, abgetrennt und disparat von allen anderen Entwicklungen, die in diesem Abschnitt thematisiert werden, darstellt« (KiK 2013: »Willkommen«). Mag diese Perspektive einer seit der Jahrtausendwende verstärkten postkolonialen Dynamik in der Hauptstadt geschuldet sein, die nicht zuletzt auf den Einfluss des entstehenden Humboldt Forums zurückgeht (vgl. Thiemeyer 2016: 81), kann sie im Fall des DHM auch als Anzeichen eines sich wandelnden Geschichtsverständnisses verstanden werden. Diesem Gedanken folgt der vorliegende Beitrag, indem er aus einer ethnografischen Perspektive1 der Frage nachgeht, wie der außerinstitutionell entstandene Audioguide als Interventionsform in dem spezifischen musealen Raum des DHM funktioniert, und wie er sich als Vermittlungsformat zum Medium Dauerausstellung, dessen Repräsentationssprache und visueller Rhetorik verhält. Da der Audioguide als Vermittlungsmedium nicht unabhängig vom Bedeutungssystem Ausstellung gedacht werden kann, ist auch die Ausstellung selbst Gegenstand der Analyse: Die auditive Ebene fügt ihrer visuellen Präsentation neue Kontexte und Inhalte hinzu. Zugleich wird der Audiokommentar, indem er sich an der vorgefundenen Inszenierung orientiert, sie bestätigt oder kritisiert, zu einem integrativen Teil von ihr. Um dieses Zusammenspiel der Vermittlungsformen zu analysieren, legt der Beitrag den Fokus auf die Gleichzeitigkeit und die Überlagerung der zwei Inszenierungs- und Narrationsebenen. Angesichts der Tatsache, dass Museen mächtige »Agenturen der Konstruktion, Inszenierung, Authentisierung von Geschichte und Geschichten« (Baur 2009: 36) sind, geht es 1 | Die empirische Grundlage des Beitrags bildet eine ethnografische Studie, die die Verfasserin im Rahmen ihrer Masterarbeit im Fach Europäische Ethnologie durchgeführt hat. Über ein Jahr forschte sie mittels teilnehmender Beobachtung und Wahrnehmungsspaziergängen im DHM, nutzte verschiedene Vermittlungsformate und führte Gespräche mit Besucherinnen, Aufsichts- und Museumspersonal sowie den Initiatorinnen von KiK? (Wegener 2014).
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um die Frage, ob die Techniken, die sie zur Repräsentation kollektiver Gedächtnisse einsetzen, unter Umständen auch subversiv genutzt werden können. Anhand von KiK? wird das Medium Audioguide auf sein Potenzial der »Erprobung von Möglichkeiten einer alternativen Wissensproduktion« hin befragt, »die sich mächtigen Wissensformen widersetzt, sie ergänzt, hintertreibt, unterwandert oder herausfordert« (Schnittpunkt 2013: 16). Es soll gezeigt werden, wie der Audioguide KiK? auf den im DHM geführten »Diskurs des Nationalen« Bezug nimmt und inwiefern so eine »Gegenerzählung« etabliert wird.
2. Z ur R olle muse aler R epr äsentation des N ationalen Seit sich das Museum im 18. Jahrhundert als öffentliche Institution etabliert und im 19. Jahrhundert zu einer bürgerlichen Bildungseinrichtung entwickelt hat, steht es in engem Zusammenhang mit der Konstruktion und Legitimierung des Nationalstaats. Diesen Zusammenhang hat Benedict Anderson in seinem Konzept der »Imagined Communities« erläutert, in dem er die Nation als imaginierte und konstruierte politische Gemeinschaft beschreibt, deren Erfolg vor allem durch eine kulturelle Fundierung gestützt wird (vgl. Anderson 1996: 95). Demnach kommt dem Museum als Ort der Inszenierung einer »organischen, gleichsam natürlichen Verbindung einer bestimmten Bevölkerung mit einer bestimmten Kultur und einem bestimmten geografischen Raum der Nation« (Baur 2009: 57) eine besondere Bedeutung zu. Gemeinsam mit dem Zensus und der Landkarte zählt Anderson das Museum zu den zentralen Herrschaftstechniken und Mechanismen der Imaginierung, der Produktion und Artikulation einer gemeinsamen nationalen Geschichte und Kultur. Auch die Kulturwissenschaftlerin Anke Te Hessen schreibt in diesem Sinn: Museen, die historischen wie die der Natur, Kunst und Technik, leisteten einen Beitrag zur Nationalstaatsgründung, dem das Verständnis der Nation als einer Kulturgemeinschaft zugrunde liegt: Diese Kulturgemeinschaft durch Überlieferungen und Objekte zu charakterisieren und vor Augen zu führen, war das vornehmliche Ziel. (Te Hessen 2012: 59)
Die Inszenierung einer nationalen gemeinschaftlichen Sinnstiftung in musealen Diskursen war stets auch mit der Abgrenzung des Eigenen von einem Anderen verbunden. Baur präzisiert, welche Bedeutung die Ausstellung als visualisierendes Medium für diese kollektive Selbstdarstellung und -vergewisserung hat: Über separierende Darstellungen ließen sich Vorstellungen von einer eindeutigen Abgrenzbarkeit verschiedener Kulturen kommunizieren und mittels evolutionistischer Reihung mit den Erzeugnissen der ›eigenen‹ Kultur an der Spitze kulturelle, technologische und moralische Überlegenheit proklamieren. (Baur 2009: 58)
Museen als Institutionen der Ersten Moderne erzählen demnach nicht nur von nationalstaatlicher Überlegenheit, sondern im gleichen Maße auch vom Kolonialismus (vgl. Kazeem u.a. 2009a: 7). Die »koloniale Aneignung« des Anderen manifestiert sich einerseits in den erzählten Ordnungen der Ausstellungen, andererseits in den Museumssammlungen (vgl. Kazeem u.a. 2009b: 172). So weisen die Autorin-
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nen des Netzwerks Schnittpunkt darauf hin, dass sich »in den Depots und Schausammlungen europäischer Museen bis heute zahlreiche Zeugnisse kolonialer Gewalt in Form von Beutegut und sogar Leichenteilen finden« (Kazeem u.a. 2009: 7). Diese Sammlungen, häufig Zeugnisse asymmetrischer Kulturbegegnungen, müssen ebenso wie die in ihnen wirksamen Strategien der Verschleierung ursprünglicher Bedeutungskontexte im Zusammenhang mit nationalen Sammlungspolitiken während des Kolonialismus gelesen werden (vgl. Kazeem u.a. 2009a: 8). Die Frage, wie dieser Umstand in der Zweiten Moderne verhandelt wird und welche Entwicklungen die Institution Museum im Umgang mit dem Erbe des Nationalismus und des Kolonialismus gegenwärtig durchläuft, ist aktueller denn je. Denn trotz seiner historisch belasteten institutionellen Genese ist das Konzept des Nationalmuseums auch heute noch ein kulturpolitisch bedeutsames Phänomen. Nicht zuletzt die Konjunktur, die das Geschichtsmuseum seit Mitte der 1980erJahre erfahren hat, zeugt von einer reaktualisierten Relevanz. Als herausragende Orte der kollektiven Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses haben Geschichts- und Nationalmuseen eher an Bedeutung gewonnen, argumentiert Lepenies (2003: 33). In diesem Sinn ist auch das Konzept des DHM als eines nationalen Museums im 21. Jahrhundert von gesellschaftlicher Bedeutung; es spiegelt die Selbstwahrnehmung einer Institution und ihrer Aufgabe wider, Ort nationaler Erinnerungskultur zu sein und in seiner Ausstellung deutsche Geschichte breiten Bevölkerungsschichten in der Zweiten Moderne (Beck/Grande 2007) zu vermitteln.
3. I nszenierung von G eschichte : A usstellungen Fragt man danach, wie Ausstellungen Deutungen von Kunst, Kultur und Geschichte vermitteln, stehen Auswahl und Kontextualisierung der Objekte und die gewählten Präsentationsformen im Vordergrund. Darunter ist im weitesten Sinne die Ausstellungsgestaltung zu verstehen, das heißt das Arrangement von Objekten, Vitrinen, Sockeln, Rahmen, Texten, Lichtquellen und audiovisuellen Medien; hinzu kommen nicht intendierte raumgestaltende Elemente sowie die Architektur der Ausstellungsräume und des Gebäudes. Wie die Aufzählung andeutet, sind Ausstellungen in ihren Formen und Ausdrucksweisen komplexe Medien, in denen sich vielfältige Darstellungsformen und -ebenen begegnen und zu einer dichten Textur verweben. Ausgehend von der Annahme, dass der Ausstellungsinhalt und seine mediale Inszenierung eine Einheit bilden, sind vor allem die Narrative in den Blick zu nehmen, die durch das Zusammenwirken der einzelnen Elemente entstehen. Dahinter steht der Gedanke, dass das Museum seine Objekte nicht nur zeigt, sondern auch und vor allem mit ihnen argumentiert. Maßgeblich für die Bedeutungskonstruktion erscheint insofern nicht das einzelne Objekt, sondern die Inszenierung, innerhalb derer sich eine Narration entfaltet (vgl. Baur 2009: 30). So liegt den meisten Studien von Ausstellungsinszenierungen, die sich auf semiotische oder semantische Analyseverfahren stützen, ein Verständnis von Ausstellungen als »Text« zugrunde, dessen »Grammatik« es zu lesen gilt (Bal 2006; Muttenthaler/Wonisch 2006; Scholze 2004). Eine solche Vorstellung ist für die Analyse hilfreich, birgt aber die Gefahr, eine Rhetorik des Visuellen zu reproduzieren und damit dem Phänomen der Ausstellung nicht gerecht zu werden. Wenn daher von einem »Text der Ausstellung« gesprochen wird, ist nicht Text im engeren alltags-
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sprachlichen Sinn gemeint, sondern im Sinne eines erweiterten Textbegriffs, wie ihn etwa Clifford Geertz oder Roland Barthes verwenden (vgl. Baur 2009: 72f.). Der »museale Text« besitzt eine spezifische Eigenheit: Zum einen ist er multisensorisch, denn er umfasst sichtbare Elemente ebenso wie Gerüche und Geräusche. Zum anderen positioniert er sich im begehbaren Raum und ist von einem »hohen Maß an Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente und Medien geprägt, die sich einer linearen Wahrnehmung entziehen, selbst dort, wo Laufrichtungen und -wege vorgegeben sind« (Baur 2009: 73). Ausstellungen verlangen somit eine Rezeption, die alle Sinne einschließt (vgl. Scholze 2004: 278). Sie lassen sich als Raumkonstruktionen charakterisieren, an denen Wissen nicht nur mithilfe von Sprache und der Aktivierung von Verstandeskraft vermittelt wird, sondern an denen motorisch, sinnlich und sensorisch vermittelte Erkenntnisweisen eine Rolle spielen, die nicht ohne Weiteres zu kalkulieren sind (vgl. Scholze 2004: 274; Te Heesen 2012: 10).
3.1 Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen Wendet man diese Überlegungen auf die Dauerausstellung des DHM an, so ist zunächst die Frage zu beantworten, ob es sich bei ihr um eine Fortschreibung klassischer musealer Nationalismuskonzepte handelt, oder ob bei diesem spätmodernen musealen »Nation-Rebuilding« (Götz 2011: 89) grundlegende Veränderungen stattgefunden haben, die von einem gewandelten Selbstverständnis der Institution Museum zeugen. Dafür soll auf zwei zeitgleich stattfindende Entwicklungen rekurriert werden, denen in der Analyse und Bewertung ein sehr unterschiedliches Gewicht beigemessen wird: die Veränderung und reflexive Hinterfragung ihrer diskursiven Ordnung auf der einen Seite und die zeitgleiche Erhaltung eben dieser Ordnung auf der anderen Seite. Museen sind heute, wie Baur schreibt, einerseits »weit entfernt von der Selbstgewissheit, die die Präsentationen ihrer Vorgänger im 19. Jahrhundert prägte« (Baur 2009: 60). Mit einer gewachsenen Sensibilität gegenüber Schauzusammenhängen (vgl. Te Heesen 2012: 28) werden sie seltener als objektiv und zeitlos verstanden, sondern zunehmend als »Teil eines kulturellen Systems der Produktion von Sichtbarkeit, Wissen und Identität« (Sommer 2013: 14). Einige Museen sind vor diesem Hintergrund auch praktisch in einen Reflexionsund Neudefinitionsprozess eingetreten (vgl. Sternfeld 2009: 67). Andererseits entspricht der Reflexionsgrad der kritischen Museologie, aber auch der spätmodernen Gesellschaftstheorie bei Weitem nicht dem tatsächlich vorgefundenen Museumswesen: Logiken und Praxen einer historischen Begründung und Verherrlichung der Nation sowie kolonialer Aneignung kommen nach wie vor zur Anwendung oder bilden zumindest den konzeptionellen Hintergrund für neue Ansätze (vgl. Sommer-Sieghart 2009: 75). Wie auch die Initiatorinnen von KiK? feststellen, ist das DHM gewiss kein Nationalmuseum mit dem Pathos des 19. Jahrhunderts, das in grellen Farben das Bild einer deutschen Schicksalsgemeinschaft zeichnet (Bauche u.a. 2013). Vielmehr wird deutsche Geschichte »von ihren Anfängen« bis zur Wiedervereinigung in fünf Großbereichen und auf 8.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche ausgestellt: Gezeigt wird eine ebenso beeindruckende wie erdrückende Masse von 7.000 Objekten, die nur wenig kontextualisiert sind. Das DHM postuliert in seinen programmatischen Texten das Primat der Originalobjekte: Sie sollen als vermeintliche Abbilder einer historischen Realität »für sich sprechen« und bedürfen daher aus
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Sicht der Kuratorinnen und Kuratoren kaum weiterer Kommentierung (Koschnik 2006). Das daraus resultierende Fehlen einer thematischen »Storyline« (vgl. Martinz-Turek 2009a: 15), etwa in Form übergreifender Fragestellungen oder quer zur Chronologie eingesetzter thematischer Oberbegriffe, macht es der von Gegenständen umgebenen Besucherin nicht einfach, sich zurechtzufinden.2 Das Fehlen eines dominanten Narrativs ist unter anderem auf die langwierigen politischen Debatten, die dem Museumsprojekt vorangingen, und auf die Angst vor dem Pathos einer »nationalen Meistererzählung«3 zurückzuführen. Daran anknüpfend könnte man mit Michael Jeismann vermuten, »dass es heute ungewiss erscheint, aus welcher Perspektive man denn erzählen soll« (Jeismann 2010: 59). Jedoch wird auf den zweiten Blick deutlich, dass sich das Museum gewisser tradierter »Technologien des Nationalen« (Harvey 1996: 53), wie sie in der Ersten Moderne üblich waren, erstaunlich unreflektiert bedient. Die Logik der dort in Szene gesetzten Erzählung beruht, wie zu erwarten, auf der Idee von Nation und Nationalstaat als »Ausgangs- und Fluchtpunkt deutscher Geschichte« (Baur 2009: 17). Diese werden weder als historische Phänomene kontextualisiert noch als symbolische oder »erfundene« Entitäten thematisiert. Die Territorien haben sich zwar im Laufe der Jahrhunderte verändert, das ihnen zugrundeliegende Prinzip scheint jedoch von zeitloser Evidenz. Der Umstand, dass es während des größten Teils dieser langen Geschichte weder eine deutsche Nation noch ein deutsches Nationalbewusstsein gab, dass es sich also problematisch gestaltet, den Anfang deutscher Geschichte zu bestimmen, wird nicht reflektiert. Erwähnenswert erscheint nicht an erster Stelle, dass nationalstaatliche Kategorien Anwendung finden, sondern vielmehr, dass diese, auch in Bezug auf die eigene Geschichte, nicht ausdrücklich thematisiert werden. Im Rückgriff auf tradierte Bilder der Ersten Moderne geht die Repräsentation davon aus, dass Gesellschaft und Kulturen nationalstaatlich organisiert sind, und dass jenes staatliche Gebilde durch privilegierte Institutionen und Bevölkerungsschichten konstituiert wird – vorrangig männliche, christliche und weiße –, während es andere ausschließt. Die »Wiederentdeckung des Nationalen« vollzieht sich nicht als selbstreferenzieller und ambivalenter Umgang mit der Nation, der plurale Formen der Re- und Denationalisierung einschließt und mit der Neukontextualisierung historischer Zitate spielt, sondern als ein Vorgang, der eine ungebrochene Kontinuität des Konzepts der Nation und ihrer grundlegenden Funktionsweisen suggeriert (vgl. Götz 2011: 20). Dieser Ansatz wird auch im Abschnitt über das Deutsche Kaiserreich im zweiten Obergeschoss des alten Marstallgebäudes sichtbar, der im Zentrum der Audioführung KiK? steht: Beim Durchstreifen der Räume bleiben vor allem Abbildungen von Politikern und Uniformen in Erinnerung (Abb. 1). Auffällig ist hier die Beschränkung auf privilegierte Gruppen oder Institutionen wie Staat, Hof, Militär, Kirche und Bürgertum – ein Befund, der sicherlich nicht nur, aber doch auch dem praktizierten Objektzentrismus zu verdanken ist, denn die materiellen Überreste, die das Museum verwaltet, stammen größtenteils von diesen dargestellten Gesell2 | Der vorliegende Beitrag verwendet die feminine Form für beide Geschlechter. 3 | Als Meistererzählungen bezeichnen Jarausch/Sabrow »eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt« (Jarausch/Sabrow 2002: 16).
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schaftsschichten. Dass die Mehrheit der Bevölkerung bis weit ins 19. Jahrhundert in einfachen Verhältnissen auf dem Land lebte, ist den Abbildungen von Herrschaftszeremonien und -figuren, Urkunden, Waffen und biedermeierlichen Möbelensembles ohne entsprechende Kontextualisierung nicht zu entnehmen. Matt ausgeleuchtete Pfeiler mit Informationstext, sogenannte »Meilensteine«, gliedern den Gang durch die Räume in chronologische Abschnitte, informieren über die großen Linien der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen des jeweiligen Zeitabschnitts und übernehmen die zentrale didaktische Aufgabe, Orientierung zu geben. Die »Meilensteine« sollen Zäsuren markieren und die Besucherin zur Auseinandersetzung mit Inhalten einladen; sie setzen der additiven Erzählung jedoch ein nur geringes Gewicht entgegen. Auch die Architektur der Ausstellung sieht keine nachhaltige Unterbrechung dieses Verlaufs vor; der Besucherin eröffnet sich meist nur eine plausible Gehrichtung. Semantisch entsteht so der Eindruck einer eher »konventionelle[n] politikhistorische[n] Grundstruktur« (Baur 2013: 452).
Abb. 1: Der Ausstellungsabschnitt Das Deutsche Kaiserreich: Blick auf eine wilhelminische Uniform. Foto: Franziska Wegener
4. A uditive I ntervention ? G eschichtsvermit tlung durch A udioguides Obwohl mittlerweile ein populärer und fest etablierter Bestandteil im Vermittlungsrepertoire von Museen, sind Audioguides in ihrer Wirkung bisher kaum erforscht. Es liegen nur einige wenige Arbeiten vor (Brandl 2011; De Teffé/MüllerHagedorn 2008; Eggert 2010; Popp 2013; Kunz-Ott 2012; Spiegl 2005; Ziaja 2005). Bei der Durchsicht dieser Studien fällt zudem auf, dass Audioguides oftmals als ein affirmatives Vermittlungsformat betrachtet werden, das die Narration der Ausstellung im Sinne des Museums bestätigt (Brandl 2011; Spiegl 2005; Ziaja 2005). Während die Nutzer die Verwendung dieses vermeintlich »neutralen« Vermittlungsformats eher selten kritisch reflektieren, ist seine theoretische Aufarbeitung
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von einer kontroversen Diskussion geprägt. Eine Argumentationslinie befürchtet, die Nutzung eines solchen Geräts gefährde die »Kraft des musealen Exponats« oder läute gar die »Bankrotterklärung an die eigene Kreativität« ein (Mühl 2012); eine andere argumentiert für den Audioguide als perfektes Szenario selbstbestimmter Kunstrezeption, sieht in ihm den Garanten für einen gesteigerten Erlebniswert im Museum und rühmt seinen Beitrag zur Barrierefreiheit. Als zentral erweist sich zudem die Frage nach der Vermittlung der Inhalte: Einerseits wird die Flexibilität der Besucherin beim Wissenserwerb gesehen, andererseits ihre Disziplinierung im Interesse des Museums. Einige Untersuchungen verweisen auf die starke, oftmals verschleierte Autorität einer »anonymisierten Stimme aus dem Off« (Ziaja 2005: 165), ohne deren konkrete Autorisierungsstrategien allerdings näher in den Blick zu nehmen. Auch sind Audioguides weder »neutral« noch unabhängig vom Bedeutungssystem Ausstellung, das sie begleiten: Vielmehr fügen sie dem »Erzählsystem Museum« (Jaschke 2005: 165) neue Kontexte und Inhalte hinzu, wollen Ausstellungsinhalte erschließen, übersetzen, erweitern oder kritisieren. Zugleich werden sie, indem sie sich an den vorgefundenen Narrativen orientieren und sich in diese einbetten, Teil dieses Erzählsystems. Sie sind Tonspuren zu etwas, das bereits seine eigene »Sprache spricht« (Kunz-Ott 2012: 56).
4.1 Der alternative Museumsguide Kolonialismus im Kasten? Dies gilt auch für den alternativen Audioguide von KiK?, der als MP3-Datei auf dem eigenen Smartphone verwendet werden kann. Er umfasst 30 Hörstücke, die anhand der gezeigten Objekte und der Begleittexte »die vielfältigen Verbindungen zwischen dem, was als deutsche Geschichte und was als Kolonialgeschichte gedacht wird, hör- und sichtbar machen« (Andere Quellen: Nr. 1). Ebenso wie die Ausstellung selbst bedient sich die durch den Audioguide vermittelte Erzählung bestimmter autoritativer Strategien, mit denen sie ihre eigenen Beschreibungen plausibilisiert und die Aufmerksamkeit auf Aspekte der Ausstellung lenkt, die für sie wichtig sind. Allerdings kann man »jene Mittel, mit deren Hilfe die Audiotexte ihre selektiven Beschreibungen der Objekte als angemessen ausweisen« (Popp 2012: 172), durchaus von den Mitteln der Autorisierung unterscheiden, mit denen die Dauerausstellung arbeitet. Im Folgenden werden fünf Thesen formuliert, die sich dem Zusammenwirken von Ausstellungs- und Vermittlungsebene nähern und deren jeweilige konkrete Autorisierungsstrategien sowie diskursive Verortung beleuchten: a. Der Audioguide stellt seine eigene Herangehensweise zur Diskussion, ebenso wie seine Texte passagenweise grundlegende Fragen zur Darstellbarkeit von Geschichte stellen: »Was kann man zeigen? Und wie kann man es zeigen und besprechen?« (KiK 2013: »Ein Fotoalbum«) Im Gegensatz zur Erzählung der Ausstellung, in der sich die erzählende Instanz der Rezipientin entzieht und hinter den Objekten verborgen, also unsichtbar bleibt, machen die Produzentinnen des Audioguides ihre Perspektive an mehreren Stellen explizit und versuchen ihr Vorgehen transparent zu gestalten: Bereits im »Willkommenstrack« stellen sie sich vor und sagen, welche Absichten sie mit ihrer Arbeit verfolgen:
Kolonialismus im Kasten? Herzlich Willkommen zu unserem Rundgang durch die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. Wir freuen uns sehr über das Interesse an unserem Audioguide. Wir, das sind fünf Historikerinnen: Manuela Bauche, Dörte Lerp, Susann Lewerenz, Marie Muschalek und Kristin Weber. Dieser Audioguide ist unabhängig vom DHM entstanden. Er befasst sich mit der Geschichte des deutschen Kolonialismus und damit, wie diese Geschichte im DHM dargestellt wird. […] Unser Audioguide will drei Dinge. Erstens: An den deutschen Kolonialismus erinnern. Zweitens: Im Blick haben, was er mit unserer Gegenwart zu tun hat. Und drittens: Aufmerksam machen auf die Lücken in der Darstellung des DHM. (KiK? 2013: »Willkommen«)
Ebenso werden die Sprecherinnen auf der Website der Initiative porträtiert und ihr persönlicher Bezug zu den eingelesenen Texten hergestellt (Andere Quellen: Nr. 1). Diese Offenlegung der Produktionsbedingungen der angebotenen Bedeutung führt zur Subjektivierung und Öffnung von Inhalten, wenngleich jene Sichtbarmachung der Kontexte durchaus noch stärker fokussiert werden könnte. b. Audioguide und Ausstellung gehen mit den gezeigten Objekten unterschiedlich um. Der Audioguide entzaubert die Aura der Objekte, adressiert die Objektdarstellung in kritischer Weise und unterläuft sie durch verschiedene »Gegenstrategien«. Das DHM zeigt, wie dargestellt, den Großteil der Objekte bewusst unkommentiert. Das Museum schöpft seine Überzeugungskraft aus dem rhetorischen Modus der Echtheit und sinnlichen Anmutungsqualität originaler Objekte und suggeriert damit eine unmittelbare Verbindung zu vergangenen Zeiten und entfernten Orten (vgl. Baur 2009: 31). Kritische Stimmen führen an, dass die Frage nach Realität und Rekonstruktion in einem historischen Museum bereits auf der Ebene der materiellen Substanz der dinglichen Zeugnisse zu erörtern wäre, denn der musealisierte, zur historischen Quelle gewordene Gegenstand ist in seiner Beschaffenheit selbst nicht immer gänzlich festgelegt (vgl. Korff 1990: 18f.). Da der »Erzähler« seine Position kaum zu erkennen gibt, bietet sich der Betrachterin wenig Angriffsfläche zur Reflexion und lässt sie umso leichter der Suggestion erliegen, anhand der gezeigten Gegenstände lasse sich eine einzige, real vollzogene Geschichte rekonstruieren. Dem Audioguide hingegen gelingt es in ausdrücklicher Abgrenzung zu dieser Ausstellungspraxis, solche »Wahrheits- beziehungsweise Naturalisierungseffekte« (Marchart 2005: 38) an mehreren Stellen zu durchbrechen. Sein Mittel ist die sprachliche Kommentierung der Objekte: Er versucht, das Gezeigte historisch einzubetten und greift dafür auch auf die Vertonung originaler Schriftzeugnisse zurück. Auch wenn die materielle Präsenz des historischen Fragments gewaltig bleibt (vgl. Martinz-Turek 2009a: 23), schafft es der Audioguide auf diese Weise anzudeuten, dass die Praxis des Auswählens und Ausstellens die Erscheinungsweise der Objekte verändert und dass die Ausstellungsgegenstände zugleich viele weitere potenzielle Geschichten erzählen könnten. Dafür rekontextualisiert er die Objekte als Ausdruck historischer und gegenwärtiger Subjektivitäten: Während sie in der Ausstellung primär der Illustration allgemeiner zeitgeschichtlicher Zusammenhänge dienen, wählt der Audioguide oft einen biografischen Ansatz: Viele seiner Ergänzungen bestehen aus der Schilderung individueller Lebenswege und alltäglicher Begebenheiten. Diese Konkretisierung geht mit einer emotionaleren Ansprache des Publikums einher, der es sich möglicherweise ähnlich schwer entziehen kann wie der scheinbaren Objektivität der »großen Erzählung« der Ausstellung selbst.
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c. Der Audioguide konterkariert die Ordnungsstrategien des Museums. Die räumliche Ordnung und der Auf bau der Präsentationen entfalten nicht zuletzt durch die chronologische Gliederung eine stark direktive Wirkung. Sie ordnet die Vergangenheit in eine Abfolge von Entwicklungsstadien, die einem linearen Zeitverständnis folgen, und sie verräumlicht Zeit in einem Parcours, den die Besucherin zu durchlaufen hat (vgl. Von Hantelmann/Meister 2010: 9). Die Audiotracks hingegen haben keine vorgegebene Reihenfolge. Die Zuhörerin ist aufgefordert, nach Belieben einzelne Ausstellungsstationen oder Objekte anzusteuern; ihr wird hier die Möglichkeit eröffnet, sich der Logik einer teleologischen Geschichtsschreibung zumindest zeitweise zu widersetzen. Auch will der Audioguide im Unterschied zur Ausstellung keine durchgängige Erzählung präsentieren, sondern erprobt vielmehr die selektive Kommentierung des Vorgefundenen, die auch gegenläufig zu der vom Museum vorgesehenen Reihenfolge funktioniert. Der Strategie der Vollständigkeit und dem inhaltlich bedingten Auf bau begegnet der Audioguide mit einer Praxis des Fragmentarischen, die durch das auditive Format begünstigt wird. d. Der Audioguide tritt in Konkurrenz zur herrschenden Blickrichtung der Ausstellung. Die Autorinnen fechten die unausgesprochene Gewissheit der Darstellung an, deutsche Geschichte könne aus sich heraus erklärt werden. Anhand konkreter Beispiele informieren sie darüber, welche konstitutive Rolle koloniale Interaktionen bei der Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins spielten, und dass diese zur Herausbildung einer bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert maßgeblich beitrugen (vgl. Conrad u.a. 2013: 29). Beispielsweise erläutern sie, dass die Auflösung des deutschen Parlaments und die Neuwahlen im Jahr 1907, die im DHM als ein Ereignis unter vielen verortet werden, auf den brutalen Krieg der deutschen Militärs gegen die Herero und Nama im heutigen Namibia zurückgehen. Die Wahl war notwendig geworden, nachdem der Reichstag dem Ausbau des Heeres nicht zugestimmt hatte und daraufhin vom Reichskanzler Otto von Bismarck aufgelöst worden war. […] Was folgte, war einer der erbittertsten Wahlkämpfe des Kaiserreichs. Die Kolonialpolitik wurde darin zu einem so zentralen Thema, dass die Wahlen von den Zeitgenossen als »Hottentottenwahlen« bezeichnet wurden, ein Begriff, der sich leider bis heute gehalten hat. (KiK? 2013: »Kolonialwahlen«)
Der Audioguide erinnert daran, dass Kolonialpolitik im Kaiserreich kein Randthema war, sondern dass innenpolitische Verhältnisse in einem direkten Zusammenhang mit der Situation in den Kolonien standen. Ein Rundgang mit ihm verschiebt die Perspektive und zeigt die Verwobenheit der europäischen mit der außereuropäischen Welt, gedacht als ein System von Abhängigkeiten und Austauschbeziehungen. e. Der Audioguide macht das Koloniale nach dem Kolonialen hörbar. Die Narrative von Ausstellung und Audioguide autorisieren sich jeweils über einen sehr unterschiedlich gearteten Bezug zur Gegenwart. Auffällig ist, dass die Dauerausstellung mit einer Fülle historischer Informationen aufwartet, diese jedoch kaum mit gegenwärtigen Themen in Verbindung setzt. Das ist umso erstaunlicher, als das Museum sich seiner identitätsstiftenden Funktion und der Bedeutung von Geschichtsschreibung für das Hier und Heute deutlich bewusst zu sein scheint. Die
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Auslassung explizierter, für die Besucherin greif barer Bezüge zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft hängt sicherlich damit zusammen, dass die Ausstellung insgesamt wenig fokussierte Perspektiven zu erkennen gibt, Fragen generiert oder Kontexte offenlegt. Dennoch wäre eine gegenwärtige Selbstverortung der Institution und dessen, was sie zeigt, möglich gewesen. Während das DHM seine politischen, sozialen und kulturellen Funktionen nicht explizit thematisiert, versucht der kritische Audioguide, sich über den Verweis auf seine aktuelle gesellschaftliche Relevanz zu autorisieren. Er versucht, wie das obige Beispiel zeigt, »im Blick zu haben, was Kolonialismus mit unserer Gegenwart zu tun hat« (KiK? 2013: »Willkommen«). Er ergänzt nicht nur detailliert recherchierte Fakten, sondern thematisiert auch das Fortbestehen und Nachwirken von Beziehungsmustern und Auswirkungen kolonialer Herrschaft. Afrika wurde als Ort der Natur und der Ursprünglichkeit gezeichnet. Wie wirksam diese Bilder waren, zeigt sich daran, dass sich bis heute nicht viel an der Art zu denken verändert hat. Immer noch beherrschen Savannen mit Schirmakazien und wahlweise Elefanten, Zebras oder Giraffen die Medienwelt und unsere Köpfe, wenn es um Afrika geht. Dass auf dem afrikanischen Kontinent eine sehr große Vielfalt an Landschaften, Vegetationen und Faunen existiert, interessiert oft genauso wenig, wie die Tatsache, dass dort derzeit die größten urbanen Zentren der Welt entstehen. Während der Fußballweltmeisterschaft 2010, die in den Metropolen Südafrikas stattfand, widmete sich ein Großteil der deutschen Berichterstattung eben nicht den Menschen, die in jenen Großstädten leben, sondern der Natur, ihren bedrohten Tieren, Pflanzen und Völkern. (KiK? 2013: »Kilimanjaro«)
Ein zentrales Motiv ist es demnach zu zeigen, dass der deutsche Kolonialismus bis heute Alltag, Bilder, Diskurse, Strukturen und Politiken in Deutschland nachhaltig prägt (vgl. Bauche 2010: 4). Der Audiokommentar macht durch Querverweise deutlich, wie koloniale Konstellationen durch exotisierende Repräsentationspraktiken und hegemoniale Blickregime fortwirken, und wie Museen auf diese Weise immer noch der postkolonialen Reinszenierung kolonialer Aneignungen dienen (Kazeem u.a. 2009). Anders als die Dauerausstellung verortet sich der Audioguide somit explizit innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse und macht diese zu seinem Verhandlungsgegenstand. Die Beschreibung des auditiven Formats von KiK? und seiner Potenziale kritischer Wissensproduktion zeigt, dass der Audioguide die kognitive Erschließung des Raumes beeinflusst und dabei eine nicht zu unterschätzende disziplinierende Wirkung erzielt. Spezifisch auditive Formen der Einflussnahme, wie etwa die Verstärkung emotionaler Zugänglichkeit, setzt er bewusst für seine Zwecke ein; nicht zuletzt möchte er so auch inhaltlich überzeugen. Aufschlussreich ist jedoch, dass er im gleichen Atemzug immer wieder zentrale Autorisierungsstrategien unterläuft und versucht, mit »Gegentaktiken« eben jene Strategien der Normierung und Objektivierung offenzulegen. Indem er sich ausdrücklich positioniert – seine Erzählerinnen vorstellt, seine Intention und Sprache transparent gestaltet, traditionelle Ordnungen wie Chronologie aufhebt und neben seinem narrativen Ansatz auch auf die Wirkungskraft des Fragments setzt –, gelingt es ihm in mehrfacher Hinsicht, die starke Autorität der Vermittlungsform produktiv zu wandeln. Der kritische Audioguide leistet somit nicht nur eine inhaltlich-historische Vermittlung, sondern ermöglicht gleichzeitig, Mechanismen der Repräsentation und
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Objektivierung zu erkennen. Die auditive Kommentierung bezieht sich gleichermaßen darauf, was die Besucher sehen und wie zu sehen sie aufgefordert werden. Als »grenzüberschreitender, öffentlicher Akteur, der sowohl gesellschaftliche Ordnungsmuster als auch die Routinen ihrer Beschreibungen kontingent erscheinen lässt« (Schillmeister/Pohler 2006: 332), macht die Kommentierung Strategien der Inszenierung sichtbar, die von der Ausstellung selbst verborgen werden, und hellt so Zusammenhänge zwischen visueller Kultur, Nationalismus und Kolonialismus auf. Mit der Wahl eines Ausstellungsortes, dessen Auftrag in der Verankerung einer offiziellen Version kollektiven Erinnerns besteht, läuft der Audioguide zwar Gefahr, dessen Bedingungen und Inhalte ungewollt zu bestätigen und weiterzutragen; gleichzeitig betont er aber die Bedeutung einer postkolonialen und -nationalen Erinnerungskultur für die gesamte Gesellschaft und wendet sich gegen eine Auffassung von Kolonialismus als Sondergeschichte, die auch räumlich gleichsam abgesondert wird. KiK? leistet mit vergleichsweise wenig aufwändigen Mitteln einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, museale Räume zu öffnen und zeigt, dass sich diese nicht nur auf die mächtige Funktion des »Zu-sehen-Gebens« beschränken.
5. A usblick : K olonialismus und G eschichte im J ahr 2017 Obwohl sich das DHM zum Vermittlungsangebot von KiK? zunächst nicht offiziell positionierte, kam das Museum infolge der Intervention und seiner medialen Resonanz nicht umhin, seine Darstellung des deutschen Kolonialismus zu überdenken. Eine grundsätzliche Revision der Dauerausstellung wurde schon vor längerer Zeit angekündigt, aber noch nicht konkretisiert – bisher beschränkt sich die Veränderung auf die Entfernung oder Neubeschriftung einiger Objekte. Allerdings hat sich das DHM mit der großen Sonderausstellung Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart im Oktober 2016 (Stiftung DHM 2016) dem Thema gewidmet.4 Ihr Projektleiter Arnulf Scriba beabsichtigte, in der thematisch angelegten Schau die komplexen Herrschaftsbeziehungen der kolonialen Eroberung und ihre Verflechtungen im globalen Kontext differenziert darzustellen und Bezüge zur gegenwärtigen Verhandlung des Themas Kolonialismus sichtbar zu machen. Begleitet wurde die Ausstellung von Tagungen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen, die unter anderem die Frage der Anerkennung des Völkermords an den Herero und Nama aufgriffen und mit Aktivistinnen diskutierten. Dies zeigt, ebenso wie die Anpassung der Dauerausstellung, dass sich das DHM der Notwendigkeit bewusst ist, seine Geschichtsdarstellung zu öffnen und verstärkt in den Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zu treten. Zugleich wird am Umgang mit dem Kolonialismus die Ambivalenz des Museums bezüglich der Neuausrichtung und Öffnung seiner Geschichtsdarstellung deutlich. Diese findet statt, aber nur in einem begrenzten Rahmen: Im Fall der Sonderausstellung zeitlich begrenzt und räumlich abgetrennt, im Fall der Dauerausstellung in (noch) unzureichendem Ausmaß. Die Initiatorinnen von KiK? bemängeln daher auf ihrer 4 | Schon vor der Eröffnung der Dauerausstellung hatte das DHM in Kooperation mit dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln eine große Sonderausstellung zur deutschen Kolonie Namibia im Pei-Bau gezeigt: Namibia – Deutschland: Eine geteilte Geschichte (25.11.200424.04.2005) (Förster 2004).
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Website, dass das DHM die Narration der Ausstellung nicht grundlegend verändert, sondern sich auf »kosmetische Eingriffe« beschränkt habe (Andere Quellen: Nr. 2). Dennoch ist die Tendenz erkennbar, dass historische Museen ihre Rolle als Übersetzer und Interpreten europäischer Geschichte kritischer wahrnehmen, indem sie auch von solchen historischen Episoden berichten, die lange Zeit ausgeblendet waren; dazu gehört neben dem Kolonialismus beispielsweise auch die Migrationsgeschichte. Hinzu kommt, dass sich historische Museen als indirekte Folge postkolonialer Aufklärungsarbeit und der öffentlichen Präsenz von Migrationsbewegungen verstärkt selbst reflektieren und sich ihrer Deutungsrolle für die Gesellschaft vermehrt bewusst werden. Dass sie ihren Blick dabei in Richtung kultureller und gesellschaftlicher Übersetzungsarbeit weiten, verdankt sich mit Sicherheit auch interventionistischen Projekten wie dem Audioguide Kolonialismus im Kasten?. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist der alternative Museumsguide von KiK? sowohl als kulturvermittelnder als auch als kulturpolitischer Vorgang bei der Übersetzung deutscher Geschichte im globalen Kontext bedeutsam.
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Andere Quellen Nr. 1: http://www.kolonialismusimkasten.de/ (07.03.2017). Nr. 2: http://www.kolonialismusimkasten.de/kik-revisited/ (07.03.2017).
IV. Einwanderungsland Deutschland: Wandel des Kanons?
Kulturerbe über-setzen Neue Formate für die Vermittlungsarbeit der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg Karin Stober/Cem Alaçam
1. K ulturelles E rbe und sein M ehrwert Kulturerbestätten schillern in geradezu aufregender Weise zwischen eigenen und fremden Traditionen: Der jahrhundertealte, universale Transfer von Wissen, Waren und Werten hat sich in den Architekturformen, der Dekoration und der Ausstattung der Monumente verewigt. Als Zeugnisse früherer Sitten, Herrschaften und Gebräuche stehen sie im Dienst der Erinnerung eines Kollektivs und helfen bei der Bestimmung der eigenen kulturellen Identität (Assmann 1999). Noch heute oszilliert der gesellschaftlich-politische Auftrag, den Institutionen des Kulturerbes erfüllen, zwischen der Bestimmung, das Eigene zu erklären und das Fremde zu vermitteln. Neuerdings jedoch stehen Identitätskonzepte, die auf die Idee einer räumlich abgrenzbaren, homogenen kulturellen Vergangenheit rekurrieren, zunehmend auf dem Prüfstand. Die Ursachen dafür sind vielfältig; herausragend ist jedoch die Beobachtung, dass solche Identitätskonzepte angesichts weltweiter Mobilität und Migration kategorisch an Gültigkeit verlieren. In Zeiten, in denen Entwurzelung zur Lebenserfahrung von Millionen Menschen gehört, stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Kulturräumen, von Kulturaustausch und kultureller Identität zwangsläufig neu. Lang anhaltende Kriege löschen nicht nur Familien aus, sondern auch Bindungen und Erinnerungen. In diesem Zustand der physischen wie psychischen Heimatlosigkeit kann das Kulturerbe Orientierung und Selbstvergewisserung geben (Steinmeier 2015). Insbesondere die Monumente der Hochkulturen erzählen augenscheinlich von ästhetischen Leistungen und vom Austausch mit anderen Kulturen – so besitzen sie stets auch plurale Momente. Die pluralen Eigenschaften treten dann zutage, wenn es gelingt, das eigene Kulturerbe aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Angesichts solcher Überlegungen gewinnt in der Vermittlungsarbeit von Hochkultureinrichtungen, zu denen auch die Staatlichen Schlösser und Gärten BadenWürttemberg gehören, der Begriff der Transkulturalität zunehmend an Gewicht.1 1 | Die Verfasser dieses Beitrags stehen dem Begriff der Transkulturalität wegen seiner Konturlosigkeit und seines Anklangs an andere Mainstream-Begriffe eher kritisch gegenüber.
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Er betrachtet die überlieferten Geschichtszeugnisse nicht auf das Bekannte, Kanonisierte hin, sondern auf das vermeintlich Fremde und zugleich Verbindende. Dabei liegt es der Idee der Transkulturalität fern, das Eigene zu verwerfen; vielmehr geht es darum, seine Verbundenheit mit dem Fremden und Fernen transparent zu machen (Welsch 1995; Welsch 2000; Falser/Juneja 2013). Ob bildende Kunst, Architektur, Musik, Poesie, Philosophie oder Wissenschaft: Wissen und Kultur entstehen durch Anregung und Austausch. Das Wissen um die weitreichende Verkettung des kulturellen Erbes in Europa und darüber hinaus ist freilich manchmal in Vergessenheit geraten; es muss daher neu recherchiert und rekonstruiert werden. Kulturelles Erbe besitzt Strahlkraft – sowohl in die Gesellschaft hinein wie auch über gesellschaftliche Schranken hinweg (Lammert 2016). Das zeigt sich heute überall dort, wo Gesellschaften darauf bauen, dass bei der Stiftung von Zusammenhalt und gegenseitigem Verständnis kulturelle Institutionen initiativ werden. Der folgende Beitrag skizziert, wie sich diese Überlegungen auf die Vermittlungsangebote der Staatlichen Schlösser und Gärten in Baden-Württemberg (SSG) auswirken. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Besucher stärker für das kulturelle Erbe der Region interessiert werden könnten, die sich vom Angebot der Staatlichen Schlösser und Gärten (SSG) bislang nicht angesprochen fühlen. Neue Vermittlungsformate fokussieren auf Besuchergruppen, die es nach derzeitigem Augenschein noch zu gewinnen gilt: jene mit Migrationshintergrund. Im Folgenden werden die Institution der Staatlichen Schlösser und Gärten (SSG) mit ihrem südwestdeutschen Einzugsgebiet sowie zwei Vermittlungskonzepte vorgestellt, die auf die genannte Zielgruppe fokussieren und sich derzeit in Planung befinden. Im Fazit wird hinterfragt, inwiefern und bis zu welcher Grenze die Ansätze den kulturellen Übersetzungsaspekt betonen und neue Perspektiven bieten.
2. D ie S ta atlichen S chlösser und G ärten B aden -W ürt temberg und ihr P ublikum Die Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (SSG) sind als nicht rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts und Teil des Landesbetriebs Vermögen und Bau Baden-Württemberg im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Finanzen angesiedelt. Sie sind für die konservatorische Betreuung und Vermarktung der historischen Liegenschaften des Landes zuständig, zu denen Schlösser, Burgen, Klöster, römische Ruinen und historische Gartenanlagen gehören. Aktuell sind es 60 Originalschauplätze der Geschichte, ausgestattet mit Kulturschätzen von höchstem Rang. Der geschichtliche Bogen dieser Monumente spannt sich von der Antike bis ins 20. Jahrhundert; zu ihnen gehört als UNESCO-Welterbestätte auch die ehemalige Zisterzienserabtei Kloster Maulbronn. Rund 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich darum, das kulturelle Erbe zu bewahren, mit Leben zu füllen und für zukünftige Generationen zu erhalten. 2016 wurden über 3,8 Millionen Besucher aus 50 Ländern gezählt; rund 150.000 Führungen und Veranstaltungen wurden durchgeführt. Die SSG nehmen damit einen zentralen Bil-
Ein Begriff, der die thematisierten Kontexte präziser zum Ausdruck bringen würde, existiert zurzeit jedoch noch nicht.
Kulturerbe über-set zen. Neue Formate für die Vermittlungsarbeit
dungsauftrag wahr, da die historischen Monumente als gefragte außerschulische Lernorte fungieren – rund 3.000 Schulklassen werden pro Jahr geführt. Der Auftrag der Staatlichen Schlösser und Gärten (SSG) lautet, die Monumente zu bewahren und für breite Bevölkerungskreise zu öffnen. Ihre Forschungsarbeit zur Bau- und Nutzungsgeschichte der historischen Gebäude hat zum Ziel, das Kulturerbe in seiner geschichtlichen und materiellen Authentizität zu erhalten, zu vermitteln und weiter zu entwickeln. Sie wirkt sich beispielsweise auf die Wiedereinrichtung historischer Interieurs aus, die im Lauf der Zeit oft verloren gegangenen oder zerstört worden sind und sukzessive – soweit es die Quellenlage und der Bestand an Einrichtungsgegenständen erlauben – rekonstruiert werden. Der Erhalt der historischen Substanz und der originalen Ausstattung ist für die Aura eines Monuments unersetzlich; sie wird geschützt, bewahrt und nach neuesten Standards und individuellen Anforderungen konserviert und restauriert. Für vereinzelt notwendige Anpassungen an zeitgemäße Ansprüche sind Richtlinien vorgegeben: Die ästhetische Qualität, die das Bauwerk aus seiner Vergangenheit mitbringt, gibt das Niveau vor, an dem sich neu hinzugefügte (Architektur-)Elemente messen lassen müssen. Die Staatlichen Schlösser und Gärten (SSG) sind darüber hinaus der größte kulturtouristische Anbieter im Land. Individuelle Bedürfnisse der Besucher, wie beispielsweise altersgerechte Angebote, Programme für Kinder und Familien, verschiedene Sprachen und Barrierefreiheit, werden besonders berücksichtigt. In der Vermittlungsarbeit sieht die Institution also eine ihrer Kernaufgaben. Wenn es gelingt, das öffentliche Interesse an den Monumenten weiterhin aufrechtzuerhalten und vielleicht sogar zu steigern, werden auch künftig die Grundlagen für den Schutz und den Erhalt des Kulturerbes gegeben sein. Im Jahr 2014 wurde hierfür eigens das Referat 23 »Vermittlung« eingerichtet. Die neuen Vermittlungsformate, die hier entwickelt werden, beabsichtigen, die Institution in den Dialog mit der Gesellschaft zu bringen. Bislang hatte die Vermittlungsarbeit vor allem gebildete Bürger, Touristen, Schüler und Familien im Blick. Sie wird nun mit neuen Schwerpunktthemen gedacht und auch gefüllt: Im Sinne der Inklusion sollen die Monumente verstärkt für behinderte Menschen erlebbar gemacht werden. Darüber hinaus wurde die Kommunikation mit potenziellen Besuchern, die einen Migrationshintergrund aufweisen, als eine neue Kernaufgabe erkannt. Vor diesem Hintergrund werden sowohl für die Schlösser als auch für die Klöster neue Vermittlungsformate entwickelt, die auf das alte Konzept der geschlossenen Kulturräume verzichten. Stattdessen wollen sie die grenzüberschreitende, sichtbare und spürbare Pluralität der Monumente betonen und zeigen, dass »wir auf einem Boden stehen, den andere, ausdrücklich auch andere Kulturen bereitet haben« (Steinmeier 2016: 7). Unmittelbar aus der Geschichte der Denkmäler heraus soll erzählt werden, dass sie Zeugnisse eines Kulturaustausches sind, der Bezüge zu vielen Kulturen herstellen kann. Aus diesem Grund wurden in den Jahren 2015 und 2016 mehrere Formate entwickelt, die zum einen den grenzüberschreitenden Aspekt von Kunst und Kultur betonen, und die zum anderen die Präsenz unterschiedlicher Kulturen in den Monumenten zum Thema haben. Als zivilgesellschaftlicher Akteur und als Kulturinstitution wollen die Staatlichen Schlösser und Gärten damit einerseits einen konkreten Beitrag zur Bildungsarbeit leisten und zu einem kulturgeschichtlichen Perspektivwechsel beitragen; andererseits wird die Vermittlungsarbeit als Teil eines strategischen Dialogs mit der Öffentlichkeit verstanden, der den gesellschaftlichen Wandel koordinieren und zum sozialen Frieden beitragen will.
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Ausdrücklich sollen mit diesen Formaten alle Bürgerinnen und Bürger des Landes angesprochen werden – besonders jedoch diejenigen mit Migrationshintergrund. Im Jahr 2015 hatten laut Statistischem Landesamt Baden-Württemberg rund 28 % der rund 10,7 Millionen Bürger im deutschen Südwesten einen Migrationshintergrund; Baden-Württemberg verzeichnet damit einen der größten Migrantenanteile unter den deutschen Flächenländern (Andere Quellen: Nr. 1). Unter jenen Menschen, die im Jahr 2016 mit fremder Staatsangehörigkeit im Bundesland lebten, stellten die knapp 260.000 türkischen Mitbürger die größte Gruppe dar; die neun weiteren meistvertretenen Nationalitäten kamen aus EU-Ländern wie Italien, Rumänien, Kroatien, Polen oder aus europäischen Nachbarländern wie dem Kosovo, aus Serbien, Bosnien und Herzegowina. Eine Ausnahme bildeten die rund 68.000 Syrer, die als Kriegsflüchtlinge in Baden-Württemberg eine erste Heimat gefunden hatten (Andere Quellen: Nr. 2). Auch wenn sich der Südwesten insgesamt durch einen hohen Anteil an Mitbürgern aus EU-Ländern auszeichnet, zeigt sich doch, dass die Mitbürger türkischer Herkunft die größte Gruppe bilden. Daher haben die SSG zwei Führungsformate entwickelt, mit denen sie verstärkt Menschen mit türkischen Wurzeln oder muslimischen Glaubens ansprechen wollen. Die Formate Kammertürken sowie Christen führen Muslime, Muslime führen Christen befinden sich noch im Konzeptstadium, doch ihre geplante Umsetzung soll hier schon vorgestellt werden.
3. V ermit tlungsansät ze bei den S ta atlichen S chlössern und G ärten – M e thoden und K onzep te Vorab soll durch einige Überlegungen für die Erstellung von Vermittlungsangeboten sensibilisiert und auf eine nicht einfach zu beantwortende Frage hingewiesen werden: Wie kann kulturgeschichtliches Interesse geweckt und nachhaltig wachgehalten werden? Wie macht man aus Gelegenheitsgästen Wiederholungsbesucher, die sich mit dem dargebotenen Kulturerbe identifizieren können? Und wie muss dieser Wissenstransfer angeboten und verpackt sein, um den Bogen aus der Vergangenheit auf attraktive Weise in die Gegenwart zu schlagen: Unterhaltend – als Kostümführung? Medial – mit Audioguide und Bewegtbild? Oder digital – mit App und Tablet? Methodisch gilt nach wie vor: Die Art der Aktionen und die zu vermittelnden Inhalte müssen aus den Monumenten heraus entwickelt werden. Sie sind mit einer jeweils eigenen und individuellen Geschichte ausgestattet, die immer wieder Anlass zu neuen, auch persönlichen Fragestellungen geben. Um nicht in visionäre Beliebigkeiten abzugleiten, sind historische Verlässlichkeit und persönliche Glaubwürdigkeit wichtig. Sie machen kulturgeschichtliche Wertigkeit nachhaltig vermittelbar. Auch wenn jedes Baudenkmal für sich besucht, aus sich heraus betrachtet und erklärt werden kann, ist für das tiefere Verständnis zudem ein übergeordneter Kontext wichtig: Was für eine Rolle spielten Naturraum und Landschaft für das Monument? Welche historischen Persönlichkeiten haben dort gewirkt und weshalb? Welche dynastischen Geflechte entfalten sich in der Zusammenschau mehrerer Bauwerke, und von welchem Kulturaustausch erzählen die Monumente? Welcher religiöse Lehrgedanke, welche machtpolitische Ansage verbirgt sich hinter einer Raumgestaltung? Erst in dieser Zusammenschau ist eine Einordnung möglich, denn sie verschafft dem Besucher Orientierung. Mit der inhaltlichen Vernetzung wachsen bei den meisten
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Besuchern auch Staunen und Neugier. Ein Wiedererkennungswert schafft Impulse für weitere Besuchserlebnisse. Nicht unterschätzt werden sollte dabei die Suggestivkraft der Unterhaltung: Veranstaltungen, die Spaß machen, werden von den meisten Besuchern sehr geschätzt. Bildung und Unterhaltung schließen sich zudem nicht aus: Vergnügliche, unverkrampfte Wissensvermittlung besitzt in vielerlei Hinsicht einen Mehrwert. Auch das Thema Partizipation rückt in diesem Kontext in den Vordergrund: So legten die SSG bei der Entwicklung der beiden vorgestellten Vermittlungskonzepte großen Wert darauf, dies in engem Austausch und in enger Zusammenarbeit mit türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu tun. Der partizipative Ansatz, der in den Vermittlungsformaten Kammertürken und Christen führen Muslime, Muslime führen Christen verwirklicht werden soll, wird im Folgenden genauer vorgestellt.
3.1 Partizipatives Theaterspiel: Vermittlungsformat Kammertürken Das Vermittlungsformat Kammertürken bewegt sich formal zwischen Theaterstück und Kostümführung und erzählt von der weitgehend unbekannten, wenngleich sehr bedeutungsvollen historischen Tatsache, dass seit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Heiligen Römischen und dem Osmanischen Reich im 14. und 15. Jahrhundert Tausende sogenannter »Türken« geraubt und ins christliche Europa verschleppt worden sind (vgl. Theilig 2013: 33).2 Die Schicksale, die diese Kriegsgefangenen zu erdulden hatten, konnten sehr unterschiedlich ausfallen: Besonders schlecht erging es den Gefangenen tendenziell in den umkämpften Grenzregionen, vor allem wenn sie niederen Ranges waren, wie eine exemplarische Untersuchung für den im Südosten des österreichischen Burgenlandes gelegenen Batthyàny-Grundbesitz in Güssing im 16. und 17. Jahrhundert zeigt (Varga 1995).3 Diejenigen, die tiefer ins »christliche Feindesland« verschleppt wurden, hatten oft bessere Lebensbedingungen. An den Höfen und Residenzen des Reiches machte man sie nicht selten zu Hof bediensteten, den sogenannten »Kammertürken«, was so viel bedeutete wie »Kammerdiener osmanisch-orientalischer Herkunft« (Theilig 2013). Obwohl sie de jure Leibeigene blieben und nur bei besonderer fürstlicher Gunst in die Freiheit entlassen wurden, entlohnte man sie für ihre Dienste in zum Teil beträchtlicher Höhe. Ohne die traumatischen Erfahrungen gänzlich auszusparen, die Gefangenschaft und Verschleppung in eine fremde Welt naturgemäß mit sich bringen, 2 | Bei der Bezeichung der Verschleppten als »türkisch« ist äußerste Vorsicht geboten: Ein so Bezeichneter musste keineswegs türkisch sein. »Vielmehr subsumierte der Begriff Menschen aus allen Regionen des Osmanischen Reiches, vornehmlich muslimischen Glaubens.« (Theilig 2013: 37) Es konnte mit anderen Worten durchaus sein, dass ein als »Türke« oder »Kammertürke« bezeichneter Gefangener de facto weder Türke noch Muslim war. 3 | Ausgenommen waren osmanische Gefangene, die einen hohen militärischen oder administrativen Rang besaßen oder wohlhabenden Familien entstammten. Da sich im Lauf der Türkenkriege ein reger Handel mit Kriegsgefangenen entwickelte – und zwar auf Seiten des Heiligen Römischen wie auch auf Seiten des Osmanischen Reiches – konnte man sich mit solchen »besonderen« Gefangenen ein hohes Lösegeld verdienen. Deshalb wurden sie im Allgemeinen besser behandelt und verstarben auch seltener im Zuge der Gefangenschaft als die »gewöhnlichen« osmanischen Kriegsgefangenen (vgl. Varga 1995: 145f.).
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konzentriert sich das neue Vermittlungsformat dezidiert auf die Karrieren und Erfolgsgeschichten, die manchem »Kammertürken« nachweisbar gelungen sind.4 Darüber hinaus gibt es eine Reihe interessanter Einzelstudien zu besonders hervorstechenden »Kammertürken«-Biografien, so etwa jene zu Mehmed Çolak Beǧ oder Leopold Freiherr von Zungaberg, wie er mit christlichem Namen hieß (Teply 1972). All diese Biografien dienten den Projektentwicklern als Anregung: Aus ihrem Vergleich ergaben sich Muster, in welchen Schritten sich die »Eingeliederung« der geraubten Türken in die christliche Gesellschaft vollzog beziehungsweise unter welchen Zwängen dieser Prozess insgesamt stand. Auch sie sollten im Theaterstück thematisiert werden – etwa, dass der gesellschaftlichen »Eingliederung« der geraubten Muslime meist das Ritual der sogenannten »Türkentaufe« vorausging (Heller 1987). Durch den Vollzug dieses Rituals wurden die Muslime nicht nur zwangsweise der christlichen Gemeinde vor Ort einverleibt, sondern als Zeichen erfolgreicher Konversion auch mit einem neuen christlichen Namen versehen.
Abb. 1: Gefangene Türken. Diego Francesco Carlone, 1716, Stuck. Östliche Galerie, Residenzschloss Ludwigsburg. Foto: SSG/Dieter Jaeger
4 | Einige dieser Erfolgsgeschichten finden sich für den fränkischen Raum bei Heller (1987; 2000), für Brandenburg-Preußen bei Theilig (2013).
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Bühne und zugleich Kulisse des Theaterstücks sind die Schlösser in Mannheim, Rastatt und Ludwigsburg – und das aus gutem Grund. Der Krieg mit dem Osmanischen Reich ist in der barocken Bilderwelt der drei Schlösser ikonografisch so fest verankert, dass ihre Ausstattung an sich schon Stoff genug böte, um die Türkenkriege in einer herkömmlichen Führung zu thematisieren: Mit gefesselten Türken und Kriegstrophäen in den Haupträumen der Beletage des Residenzschlosses Rastatt feierte etwa der »Türkenlouis« genannte Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden seine erfolgreiche Abwehr der osmanischen Expansionsversuche gen Westen. Im Treppenhaus des Mannheimer Schlosses sind Türkenköpfe in die Stuckdekoration eingearbeitet, und in der östlichen Galerie des Schlosses Ludwigsburg haben auf Podesten in Augenhöhe mit den Besuchern gefangene Türken Platz genommen (Abb. 1). Die Niederlage dieser einstigen Feinde ist damit vollends besiegelt: Nicht nur sind sie ihrer Waffen beraubt, auch ihre Körper sind beinahe völlig entkleidet.
Abb. 2: Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden in türkischer Tracht. Ludwig Ivenet zugeschrieben, um 1700-1706, Gouache auf Pergament, Schloss Favorite, Rastatt. Foto: SSG/Steffen Hauswirth
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Für das neu konzipierte Vermittlungsformat wurde bewusst der Modus der Theater- und Kostümführung gewählt. Mit den Mitteln des Theaters, so die Überlegung, lassen sich die Schicksale und Lebensgeschichten der »Kammertürken« auch dann als Geschichten erzählen, wenn diese in den Quellen nur bruchstückhaft aufleuchten. Auch kann über die Kostümausstattung mit »orientalischer« Kleidung auf das historische Phänomen der sogenannten »Türkenmode« Bezug genommen werden: Viele der bedeutendsten Fürsten der Zeit – ob sie nun tatsächlich auf den Schlachtfeldern im Osten gestanden hatten oder nicht – partizipierten am kulturgeschichtlichen Phänomen der Türkenmode. Der zweifellos bekannteste Liebhaber alles Türkischen war der sächsische Kurfürst August der Starke (1670-1733), der sich riesige Sammlungen mit Orientalika anlegte, die noch heute in Dresden betrachtet werden können. Auch zahlreiche »orientalische« Kostümfeste fanden während der Herrschaftszeit von August dem Starken statt. Doch auch Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden, eine der für die SSG sicherlich wichtigsten historischen Figuren überhaupt, legte eine berühmte Sammlung mit türkisch-osmanischen Waffen und Rüstungen, Teppichen oder auch Zelten an, die heute im Badischen Landesmuseum in Karlsruhe zu sehen ist (Petrasch 1991). Und wie August der Starke haben sich auch der »Türkenlouis« und seine Gemahlin Sibylla Augusta gleich mehrfach in »orientalischen« Kostümen porträtieren lassen (Abb. 2). Mit der Wahl des Theaterformats wurde auch das Ziel verfolgt, türkischstämmige Mitbürger als Schauspieler in das Projekt einzubinden. Hilfreich war dabei der Umstand, dass allein in Mannheim und Ludwigshafen gleich mehrere deutschtürkische Theatergruppen aktiv sind. Dafür gibt es – gleichfalls historische – Gründe: So hat das türkische Laientheater seit der Republikgründung im Jahr 1923 eine reiche Geschichte als Institution der Volksaufklärung aufzuweisen. Auch deshalb finden sich in allen deutschen Städten mit einem großen türkischstämmigen Bevölkerungsanteil Theatergruppen, die diese Tradition aufrechterhalten. Diesen Umstand will das Format Kammertürken für sich nutzbar machen, um einen Dialog zwischen Ort, Akteuren und Zielpublikum herzustellen. Die Aufführungsorte des Theaterstücks – die Schlösser in Mannheim, Rastatt und Ludwigsburg – sollen dabei nicht nur als Kulissen fungieren, sondern werden im Stück selbst zum Thema gemacht. Hierfür bieten die Schlossbauten reichhaltig Gelegenheit: In der Architektur, dem Baudekor, dem Mobiliar oder der sonstigen Ausstattung der drei Schlösser finden sich wie erwähnt zahlreiche Elemente, die den Kampf, aber auch den kulturellen Austausch referieren. Die Szenen des Stücks werden in die Zimmerfolgen der Appartements eingepasst, sodass die Figuren mit den Schlossräumen interagieren und Bezug auf sie nehmen. Für die Konzeption des Stücks ist dabei zu berücksichtigen, dass es für jede der drei Spielstätten auch Einzelszenen gibt, die aufgrund der individuellen Gegebenheiten vor Ort nur in jeweils einem Schloss zur Aufführung kommen werden. Der türkischstämmige deutsche Dichter, Theater- und Romanschriftsteller Hasan Özdemir hat mit Unterstützung der Verfasser dieses Beitrags die Lebensgeschichten von vier sogenannten »Kammertürken« – zwei fiktiven und zwei historisch bezeugten – miteinander verwoben. Die Autoren haben für den eigentlich ernsten Stoff die Form der Komödie gewählt und damit auf eine allzu forcierte Kritik an den historischen Ereignissen verzichtet. Im Zentrum des Stücks, das weder belehrend noch moralisierend sein möchte, steht der fiktive Besuch des »Türkenlouis« im Mannheimer Schloss: Der Markgraf möchte sich vom »Kammertürken«
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Carl Philipps von der Pfalz, der im Schneiderhandwerk versiert ist, ein Kleid nach türkischer Art nähen lassen. Es ist seine Absicht, in diesem Kleid prächtiger auszusehen als selbst der Sultan in Istanbul, doch es kommt anders: Statt eines authentischen türkischen Kleides bekommt er eines auf den Leib geschneidert, das zwar prunkvoll ist, ihn aber der Lächerlichkeit preisgibt, ohne dass er selbst es freilich merkt. Hierdurch – und das ist die Pointe des Stücks – nimmt der türkische Schneider eine späte, humorvolle Rache am »Türkenlouis« für seine Verschleppung nach Europa. Die Assoziation des Märchens Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen ist dabei durchaus gewollt. Neben den beiden fiktiven »Kammertürken« Carl Philipps von der Pfalz und Ludwig Wilhelms von Baden-Baden treten im Stück auch zwei historisch bezeugte Personen auf:5 Fatma, die durch Heirat mit Friedrich Magnus von Castell-Remlingen zur Gräfin von Castell aufstieg, und Yusuf, der als Joseph Borgk zum lutherischen Geistlichen wurde und in dieser Funktion andere lutherische Geistliche ausbildete und auf ihr Priesteramt vorbereitete. Ganz nebenbei thematisiert das Stück so auch die Schwierigkeiten, die Menschen hatten, sich in fremde Kulturen und eine fremde Gesellschaft einzugliedern, aber auch die »Etappensiege« und großen Erfolge, die sie dabei erzielten. Das Theaterstück berichtet also auch davon, wie die Fremde, in die man die »Kammertürken« verschleppte, irgendwann zur neuen Heimat, und wie Fremdes zu Eigenem wurde. Schon in der Entstehungsphase des Stücks wirkten die beteiligten Akteure als Multiplikatoren: Mehrfach wurden sie bei den Begehungen der Schlösser von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten begleitet. Ausgesprochen wichtig war darüber hinaus, dass alle in das Projekt Involvierten eine eigene Migrationsgeschichte mitbrachten und sich in die behandelte Thematik – den oft nur wenig geradlinigen Pfad der Orientierung in der Fremde, des Erwerbs von Sprache und kulturellem Wissen – auf Basis eigener Erfahrungen einfühlen konnten. Zugleich bietet das Stück gedankliche und emotionale Anknüpfungspunkte für all jene Zuschauer, die selbst Migrationserfahrungen gesammelt haben und die Herausforderung kennen, in einer anfangs fremden Welt allmählich heimisch zu werden. Und möglicherweise erschließen sich auch so manchem deutschen Zuschauer neue Aspekte im Selbstverständnis, denn es ist nach den neuesten Erkenntnissen sehr viel wahrscheinlicher, einen türkischen Vorfahren im eigenen Stammbaum zu finden, als von vielen vermutet. Dann hätte sich die Begegnung mit den Türken vor mehr als 300 Jahren nicht nur in das hiesige materielle Kulturerbe eingeschrieben, sondern sehr viel unmittelbarer und persönlicher noch in die eigene Familiengeschichte. Insgesamt will das Führungsformat einen Dialog ermöglichen, in dem sich historische Wissensbestände um den Kulturtransfer zwischen West und Ost vermitteln, um auf diese Weise das Thema stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Wie groß das Interesse an der Thematik ist, zeigte sich auch an den ersten Reaktionen der Schauspieler: Vielen war das historische Phänomen der »Kam5 | Zwar ist der im Stück auftretende »Kammertürke« fiktiv, dennoch erwähnt ein von Ernst Petrasch verfasster Führer zu Schloss Favorite aus dem Jahr 1992, dass Margraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden »nach alter Überlieferung« einen türkischen Leiblakai gehabt haben soll. Konkreteres allerdings weiß die Forschung – soweit zu überblicken – bisher noch nicht zu berichten (Petrasch 1991).
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mertürken« völlig unbekannt. Die Begegnung mit »osmanischer« Geschichte auf »deutschem« Boden illustriert, wie unvollständig oder undifferenziert historische Selbst- und Fremdbilder oft sind und zeigt, dass das Fundament der eigenen Kultur weniger homogen ist als zumeist angenommen, sondern in vielen Aspekten hybrid. Ganz in diesem Sinne können die drei Schlösser der SSG als materielle Zeugnisse sowohl der deutschen als auch der osmanischen Geschichte gelten und damit als ein geteiltes kulturelles Erbe.
3.2 Das Führungsformat Christen führen Muslime, Muslime führen Christen Neben dem Blick in die Geschichte, wie ihn das Theaterspiel Kammertürken wagt, stellt ein zweites, derzeit noch in der Konzeptionsphase befindliches Vermittlungsformat die Kommunikation zwischen den Kulturen ins Zentrum. Bei diesem zweiten Führungsformat, das unter dem Namen Christen führen Muslime, Muslime führen Christen firmiert, geht es um den Dialog der Religionen. Schon lange bieten beinahe alle größeren Moscheen in Deutschland Führungen für Interessierte an, die einen Einblick in die Architektur sowie in die Riten und Rituale des Islam gewinnen wollen. Mittlerweile ist man auf muslimischer Seite durchaus daran gewöhnt, interessierte Besucher in der eigenen Moschee zu empfangen. So gibt es bereits seit 1997 einen alljährlichen »Tag der offenen Moschee«, der am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, stattfindet. Auf der anderen Seite aber besuchen nur sehr wenige Muslime christliche Gotteshäuser. Insbesondere bei gläubigen Muslimen bestehen bisweilen erhebliche Hemmungen, eine Kirche zu betreten. Auch wird ein muslimischer Besucher in einer Kirche eher von einem Fremdenführer denn von einem gläubigen Mitglied der Kirchengemeinde geführt. Die Verhältnisse stellen sich also in gleich mehrfacher Hinsicht für beide völlig anders dar. Für die UNESCO-Welterbestätte Kloster Maulbronn wollen die SSG deshalb einen neuen Weg beschreiten, der (jugendliche) Mitglieder der beiden größten Religionsgemeinschaften in Deutschland anhand des kulturellen Erbes miteinander ins Gespräch bringen will. Die zentrale Idee ist, dass die Projektteilnehmer – eine Gruppe aus etwa gleich vielen christlichen und muslimischen Jugendlichen – nicht durch das eigene Gotteshaus, sondern durch dasjenige der jeweils anderen Glaubensgemeinschaft führen. In Zusammenarbeit mit zwei ortsansässigen Schulen soll das Format Christen führen Muslime, Muslime führen Christen zum Dialog der Glaubensgemeinschaften beitragen (Alaçam 2016b). Sollte es gelingen, nicht nur einzelne Schüler, sondern eine ganze Klasse oder Klassenstufe für das Projekt zu begeistern, kann die AG zu einem Klassen- oder Schulprojekt erweitert werden. Orte des Projekts sind die für die beiden angesprochenen Religionsgemeinschaften jeweils zentralen Sakralbauten in Maulbronn: die Klosterkirche auf der einen und die Mimar Sinan Moschee der türkisch-islamischen Ditib-Gemeinde auf der anderen Seite. Die Unterschiede zwischen den beiden Bauwerken könnten kaum größer sein, und auch die Nutzungsform der Gotteshäuser weicht diametral voneinander ab. Während man in der Moschee einem lebendigen Alltagsislam begegnen kann, steht im Fall der Maulbronner Klosterkirche die kulturtouristische Bedeutung zumeist im Vordergrund. Außerdem handelt es sich bei der Moschee um einen noch sehr jungen, kaum 20 Jahre alten Bau, während die Grundmauern der Klosterkirche aus romanischer Zeit stammen. Diese Unterschiede in Gestalt, Nutzung und
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Funktion des jeweils anderen Sakralraums sowie die jeweils andere gottesdienstliche Praxis, die dort zu erleben ist, soll mit den Jugendlichen im Verlauf des Projekts herausgearbeitet werden. Dass die Unvergleichbarkeit der beiden Orte auch Probleme methodischer wie inhaltlicher Art mit sich bringt, ist den Projektentwicklern bewusst und soll für den Erkenntnisgewinn fruchtbar gemacht werden. Anhand der Nutzungsweisen und zugrundeliegenden Vorstellungen von der eigenen Gebetsstätte lässt sich der unterschiedliche Status transparent machen, den die Religion, so zumindest die Überzeugung der Projektentwickler, für Christen und Muslime in Deutschland aktuell besitzt. Dennoch soll den Jugendlichen – jenseits von Klischees und Gemeinplätzen und unabhängig von den Perspektiven der Projektentwickler – Raum für eigene, auch abweichende Beobachtungen gegeben werden ebenso wie die Möglichkeit, diese ungefiltert zu artikulieren. Für den Pilotversuch des Vermittlungsformats sollen christliche und muslimische Schüler ab der Klassenstufe 8 des Maulbronner Salzach Gymnasiums und der Werkrealschule am Silahopp gewonnen werden. Zu Beginn gehen die Jugendlichen selbst auf Erkundung: die christlichen durch die Moschee, die muslimischen durch die Kirche, begleitet und angeleitet von Experten, die die Teilnehmer in die fremden Sakralräume einführen und ihnen etwaige Ängste und Hemmungen nehmen. Ein solcher Experte kann ein erfahrener und interreligiös sensibler Klosterführer oder ein Moscheeführer der islamischen Gemeinde in Maulbronn sein, im besten Falle der Pfarrer oder der Imam selbst. Den Experten kommt in einem ersten Schritt die Aufgabe zu, ihrer jeweiligen Gruppe in einer (mehrwöchigen) kleinen Arbeitsgemeinschaft das für die Durchführung des Projekts notwendige Wissen zu vermitteln und mit ihnen mehrfach den jeweiligen Sakralbau zu begehen. Von den Teilnehmern sind bei den Begehungen zu allererst natürlich die Gotteshäuser selbst in den Blick zu nehmen; die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Auf bau und Struktur von Kirche und Moschee stehen im Mittelpunkt. Dabei stellen sich zahlreiche Fragen: Weshalb geht dem islamischen Gebet ausnahmslos eine rituelle Waschung voran? Weshalb ziehen Muslime vor dem Betreten des Gebetsraumes ihre Schuhe aus, während dies bei Christen nicht der Fall ist? Weshalb besitzen so viele christliche Kirchen kostbarste Ausstattungen – man denke an reichverziertes Kirchengestühl, Altäre, Gräber, malerische oder auch skulpturale Bildwerke, während Moscheen demgegenüber fast »leer« erscheinen? Mit solchen und ähnlichen Unterschieden haben sich die Teilnehmer auseinanderzusetzen, ebenso wie mit der Situation der Gläubigen während des Gottesdienstes – etwa, ob sie der Predigt auf einer Kirchenbank sitzend oder vom Boden aus lauschen. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die für die jeweiligen Gebetsrituale notwendigen Hilfsmittel, die christliche Bibel etwa oder der islamische Gebetsteppich. Auch hier ist die Rolle der Experten wichtig, um die Beobachtungen der Jugendlichen ordnend zu begleiten und, wo nötig, zu ergänzen. Da die AG die Jugendlichen dazu befähigen will, das erlernte Wissen am Ende weiterzuvermitteln, das heißt zu Moschee- beziehungsweise Kirchenführern zu werden, widmet sie sich in einem zweiten Schritt auch praktischen Fragen. Zur Sprache kommen sollen Aspekte wie: Welche Informationen habe ich zu vermitteln? Wie strukturiere ich eine Führung? Wie muss ich vor der Gruppe sprechen? Wie positioniere ich mich? Welche Körpersprache will ich übermitteln? Von solchen Kenntnissen und Fertigkeiten werden die Schüler auch über das eigentliche Projekt hinaus profitieren. Diese Lehr- und Einübungsphase wird durch erste Füh-
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rungsversuche innerhalb der beiden Teilgruppen sowie eine Generalprobe abgeschlossen. Damit das ambitionierte Projekt ebenso wie der interreligiöse Dialog, den es anstoßen will, gelingen kann, muss auch das Gespräch mit den Eltern gesucht werden – etwa im Rahmen eines schon vor Projektbeginn terminierten Elternabends. Da gerade bei den Eltern die größten Vorbehalte zu erwarten sind, müssen die Organisatoren über einen solchen Elternabend hinaus stets bereit sein, Erklärungsarbeit zu leisten und aufkommende Missverständnisse auszuräumen. Von Bedeutung ist die frühe Einbindung der Eltern auch deshalb, weil auch sie, neben den eigentlichen Projektteilnehmern, Adressaten des gewünschten interreligiösen Austauschs sind. Als Höhepunkt des gesamten Projekts folgen die eigentlichen Führungen: Zu ihnen können sowohl Klassenkameraden als auch Schüler anderer Klassenstufen der beiden beteiligten Schulen eingeladen werden, ebenso wie die Eltern der beteiligten Schüler. Im Ergebnis will das beschriebene Führungs- und Vermittlungsformat dabei helfen, die Kommunikation zwischen Moschee und Kloster in Maulbronn sowie den jeweiligen Gemeinden zu intensivieren. Auf diesem Weg wird eines der wichtigsten Monumente der SSG stärker als bisher für den interreligiösen Dialog geöffnet. Hierfür muss sich auch das UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Maulbronn ein Stück weit transformieren. Es sollte nicht mehr nur der eigenkulturellen Selbstvergewisserung dienen, sondern sich auch als eine Plattform verstehen, auf der sich Eigenes und Fremdes – in diesem Fall die Religionen des Christentums und des Islam – dialogisch begegnen. Wünschenswert wäre es, wenn das Projekt nicht nur das SSG-Monument des Maulbronner Klosters in seiner Bedeutung als religiöser Ort stärker zum Vorschein brächte, sondern auch zu einer stärkeren Akzeptanz und Anerkennung der jeweils fremden religiösen Praktiken in ihrer Andersartigkeit beitragen würde. Der Blick in die Geschichte kann dabei die zugrundeliegenden Vorstellungen und Überzeugungen erhellen, sodass auch die vorhandenen Gemeinsamkeiten deutlicher hervortreten. Im Bewusstsein, dass diesbezüglich zu weit reichende Ambitionen zu Konflikten oder Überforderungen der Teilnehmer führen könnten, muss allerdings vorsichtig agiert werden, zumal besonders in gläubigen Familien eine Tendenz zur Abgrenzung von anderen Religionsgemeinschaften besteht. Sollten sich bei den Projektteilnehmern dennoch Einsichten in Gemeinsamkeiten von Christen und Muslimen einstellen, wäre ein Ziel erreicht. Ein solches Ergebnis soll aber unter keinen Umständen forciert werden.
4. K ulturelles E rbe – kulturelle Ü berse t zungen ? Die Aufmerksamkeit, die geschichtlichen Erinnerungsorten geschenkt wird, ist stark gestiegen. Offenbar scheint eine weit zurückreichende Tradition Verlässlichkeit zu bieten. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber auch: Geschichte ist ein Hin- und Herwogen kultureller Einflüsse und Rezeptionen, Grenzen sind fließend und Migration prägte immer schon die Geschichte der Menschheit. Kulturen sind offen, dynamisch, interaktional – und die Kulturerbestätten erzählen davon. Sie widersprechen damit im Grunde genommen dem immer noch gültigen Kulturverständnis, das sich hinter gegenwärtige Grenzlinien und Schlagbäume in »Kulturräume« zurückgezogen hat. Für eine Kulturinstitution, die kulturelles Erbe verwal-
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tet, bedeutet das Bekenntnis zu einem in diesem Sinne dynamischen Kulturbegriff keineswegs, das Rad neu zu erfinden, sondern vielmehr, an einen Diskurs der Moderne anzuknüpfen. Die Einsicht, Kulturen als sich wandelnd und beeinflussbar zu begreifen, schreibt sich in der deutschen Kulturgeschichte seit Johann Gottfried Herder (1744-1803) fort. Dass die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts für sich nicht nur fremde Kulturen, sondern auch das eigene kulturelle Erbe entdeckt und es mit einem hohen Bildungsanspruch belegt hat, gehört gleichfalls in diesen Kontext – es ist die andere Seite derselben Medaille. In diesem Spannungsfeld sind Kulturerbe-Institutionen heute mehr denn je aufgefordert, über den zukünftigen Umgang mit dem kulturellen Erbe nachzudenken. Nur wenn das Interesse an ihm in lebendiger Weise erhalten bleibt, kann ihm auch eine Zukunft eingeräumt werden. Dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Gesellschaft am Kulturerbe interessiert sein könnte, die in ihm nicht mehr nur das (kulturell homogene) Eigene, sondern auch das Eigene im Fremden suchen könnte, ist ein Gedanke, der sich in den Institutionen erst langsam durchsetzt. Sie sind gegenwärtig aufgefordert, im doppelten Wortsinn zu Übersetzern zu werden: zu denjenigen, die zu den ungewissen Ufern der Zukunft über-setzen, und zu denjenigen, die das scheinbar Eigene für scheinbar Fremde übersetzen. Zu erkennen, dass ein einst Fremdes fast unbemerkt im Eigenen – in Monumenten, Ikonografien, Bild-, Musik-, Literaturwerken oder Traditionen – schon aufgegangen ist, kann der Schlüssel zu einer gelungenen Übersetzung sein. Die Übersetzung soll den Dialog mit dem Publikum, mit Akteuren und Experten ermöglichen, die in mehreren Kulturen zu Hause sind. Der Dialog wiederum kann Wege zu Identifikationsmöglichkeiten aufzeigen und Gemeinsamkeiten aufdecken, wo sonst nur Unterschiede gesehen werden. Dies gilt auch für die Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Die vorgestellten Vermittlungsformate sollen auf das Fremde im Eigenen hinweisen und auf das Gemeinsame, das die verschiedenen Welten miteinander verband und noch immer verbindet. Besuchern mit Migrationshintergrund soll die Möglichkeit geboten werden, das hiesige Kulturerbe auch zu ihrem eigenen zu machen. Die historischen Berührungspunkte – ob sie nun mit dem Begriff der Transkulturalität belegt werden oder nicht – stärker hervorzuheben, ist der methodische und programmatische Ausgangspunkt. Zugleich ist dies eine Aufgabe, die aus Institutionen wie den SSG nicht mehr nur Bewahrer der Vergangenheit, sondern auch kulturelle Übersetzer mit Blick auf die Zukunft macht.
L iter atur Primärquellen Alaçam, Cem (2016a): Führungsformat »Kammertürken«, Projektbeschreibung (unveröffentlicht). Alaçam, Cem (2016b): Führungsformat »Christen führen Muslime, Muslime führen Christen«, Projektbeschreibung (unveröffentlicht). Hörrmann, Michael/Karin Stober (2016): Neue Vermittlungsformate der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Kabinettvorlage (unveröffentlicht).
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Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen. In: Migration und kultureller Wandel. Zeitschrift für Kulturaustausch, Jg. 45, H. 1, S. 39-44.
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»Wir müssen aus unserem Elfenbeinturm raus.« Gespräch mit dem Schauspieler Murat Yeginer, Mainz Christiane Dätsch
1. D ie darstellende K unst und ihr S tadt the ater Das deutsche Stadttheater geht, in seiner institutionalisierten Form, auf die Hofund bürgerlichen Privattheater des 18. und 19. Jahrhunderts zurück (Roselt 2013). Dieses Erbe ist und war für die darstellenden Künste beträchtlich: Bis heute verfügt Deutschland über eine Theaterlandschaft, die als die »dichteste, komplexeste und differenzierteste der Welt« (Schmidt 2012: 19) gilt. Neben privatwirtschaftlich geführten Theatern existieren rund 140 öffentliche Häuser mit mehr als 40.000 Beschäftigten, die in unterschiedlichen Organisationsformen und -strukturen mehr oder minder selbstständig agieren (Schmidt 2012). Trotz ihres breiten Spektrums an Rechtsformen sind die meisten öffentlichen Theater von den Entscheidungen einer föderal strukturierten Kulturpolitik abhängig – ebenso wie von deren Visionen und Kenntnissen, Förderbereitschaften oder Resistenzen. Der politische Zuspruch für das Theater ist dabei nicht selten an eine bestimmte sekundäre Erwartung gekoppelt: Erfolgreich ist ein Theater beispielsweise dann, wenn seine Vorstellungen nicht nur bilden und unterhalten, sondern auch ausverkauft sind. Dennoch gehen die Zahlen langjähriger Abonnenten und Besucher in vielen Städten zurück. Liegt es am demografischen Wandel – oder sind die Zuschauer des europäischen Kanons müde? Einen wichtigen Beitrag leistet ein Theater in den Augen der Politik auch, wenn es innovativ ist, gesellschaftlich relevante Aufgaben übernimmt und sich etwa an der ästhetischen Bildung beteiligt (vgl. Schmidt 2012: 19). Doch sind die Versuche auch effizient, ein nicht primär intrinsisch motiviertes Publikum für das Theater zu gewinnen? Und welche Bedeutung hat der Wandel an Aufgaben für die Kernkompetenz der Institution? Das Theater Pforzheim, an dem Murat Yeginer von 2008 bis 2015 als Schauspieldirektor tätig war, kennt solche Fragen nur zu gut. Geführt als Amt der Stadt mit einem Etat von jährlich rund 13 Millionen Euro und einem Stab von knapp 200 Mitarbeitern stemmte das Haus in der Spielzeit 2014/15 – der letzten, in der Yeginer in Pforzheim tätig war – 383 Vorstellungen an drei Spielstätten, dem Großen Haus, dem Podium und dem Foyer. Zu den Veranstaltungen in den Sparten Schauspiel, Oper und Operette, Ballett, Kindertheater und Sinfoniekonzert kamen insgesamt knapp 122.000 Zuschauer. Nach wie vor setzt das Theater auf ein treues Publikum,
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für das es zahlreiche Abonnementvarianten entwickelt hat (Dürigen 2015).1 Trotzdem sind in Pforzheim, wie in vielen anderen deutschen Theatern, die Abonnentenzahlen rückläufig – bei offenbar steigender Bereitschaft zum Kartenkauf an der Tageskasse (vgl. Dürigen 2015: 2). In der Goldschmiedestadt führte diese Beobachtung zu verstärkten Marketinganstrengungen bei der Akquise neuer Kunden.2 Zugleich stellte sich das Ensemble die Frage, was im Bereich des Spielplans getan werden könnte, um mehr Besucher zu erreichen. War es möglich, Publikum mit Migrationshintergrund anzusprechen – und damit Schichten neuer Theatergänger? Auf diese Fragen hatte Murat Yeginer, als er 2008 in Pforzheim begann, keine einfache, sondern eine vielschichtige Antwort. Mit mehr als vier Jahrzehnten Bühnenerfahrung war er in Pforzheim in jeder Hinsicht ein Mittler der besonderen Art: Als Deutscher türkischer Herkunft kannte er die Situation des Gastarbeiters, die er bei seinen Eltern und sich selbst erlebt hatte. Yeginer weiß, was Migration nicht nur für die Kunst, sondern auch für ein soziales Miteinander bedeutet. Als Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter hat ihn neben der Kunst deshalb immer auch die gesellschaftliche Verantwortung des Theaters interessiert. Besonders während der sieben Jahre in Baden-Württemberg stellte er sich viele Fragen: Wie kann man Menschen auf Theater neugierig machen, die diese Kunstform nicht kennen? Welche Verantwortung haben Theater in einer sich verändernden Gesellschaft – und welche Transformationsprozesse müssen sie selbst durchlaufen (Schmidt 2013)? Im Idealfall, so Yeginer, sollten sich die Kulturen von »Gastgeber« und »Gästen« gegenseitig befruchten. Dies setzt ein Interesse daran voraus, miteinander in einen Dialog zu treten. Aus diesem Grund ist der Dialog Murat Yeginers großes Thema – im Leben wie auf der Bühne. »Wir kennen uns nicht«, sagt er immer wieder. Es gebe im Alltag genügend Gelegenheiten für eine spannungsfreie Kommunikation, für ein kulturelles Miteinander; doch meistens würden diese Chancen gar nicht wahrgenommen, denn es fehle die Bereitschaft, sich einander anzunähern. Schon damals, in den 1960er-Jahren, als die sogenannten ersten Gastarbeiter in deutschen Wohnheimen wohnten und ganz unter sich waren, »hätte jemand aus der deutschen Nachbarschaft auf die Idee kommen können, beim Frisör im Männerwohnheim einen Tee mit den Gastarbeitern zu trinken. Man brauchte dafür noch nicht einmal ihre Sprache zu verstehen. Es hätte gereicht, einfach da zu sein« (Yeginer 2012: 3). Auch mehr als 50 Jahre später, so Yeginer, werde in Deutschland immer noch zu wenig Tee getrunken. Yeginer, 1959 in der Türkei geboren und in München und Hamburg aufgewachsen, studierte Schauspiel in Hamburg und blieb dem öffentlichen Theater treu. Er hatte Engagements in Saarbrücken, Kiel und Oldenburg, bevor er als Schauspiel1 | Damit folgt das Pforzheimer Theater einer Grundsatzaussage aus dem Entwurf der Fortschreibung der Kunstkonzeption Baden-Württemberg: »Das Abonnementsystem ist unverzichtbar und ermöglicht beziehungsweise sichert geradezu – im Gegensatz zu früheren Ansichten in dieser Frage – innovative Aufführungen und Zugriffe. In diesen Punkten hat also ein grundsätzliches Umdenken in Richtung eines Bewahrens von Vorhandenem und Bewährtem im Vergleich zu den Denkansätzen der früheren Kunstkonzeption stattgefunden.« (Dürigen 2015: 13) 2 | Im Abschlussbericht des Pforzheimer Stadttheaters wird die Abonnementwerbung in Gemeindeblättern erwähnt (vgl. Dürigen 2015: 12).
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direktor nach Pforzheim kam. Seit 2015 ist er wieder als Schauspieler am Theater Mainz engagiert. Als Regisseur inszenierte er in Oldenburg, Pforzheim, Meiningen, Hamburg und Ulm (Andere Quellen: Nr. 1). Als Bühnenautor übersetzte er das Theaterstück Ikili Oyun von Bilgesu Erenus (1982) ins Deutsche, spielte in dessen deutscher Uraufführung mit und schrieb selbst zwei handfeste Komödien über die deutsche Realität: Vom Winde verdreht (1992, Theater an der Glocksee, Hannover) und Vielleicht – Ein Spiel (1995, Oldenburgisches Staatstheater). Mit seinem Freund John von Düffel hatte er die Idee zur Komödie Ich, Heinz Erhardt (2009, Oldenburgisches Staatstheater, Theater Pforzheim), die den spießigen Geschmack der Wirtschaftswunder-Republik mit ihrer Parallelwelt, der Gastarbeiterkultur, verknüpft (Grund 2009; Jerichow 2009). »Mich hat das Theater in Deutschland integriert«, sagt Yeginer über sich selbst. Nicht zuletzt deshalb will er seine Erfahrungen an junge Menschen weitergeben: In Pforzheim hat er das Projekt Stage Enter installiert3 und gemeinsam mit dem Verein Goldader Bildung e. V. für Kinder im Grundschulalter das Goldader-Sommercamp entwickelt. 2011 wurde er in den Expertenbeirat für das bundesweite InterKultur-Barometer berufen. Auf dieses Engagement kommt Yeginer immer wieder zurück – etwa, wenn er die Wechselwirkung von Kunst und Gesellschaft am Beispiel des Theaters beschreibt. Kann das Theater unter den aktuellen Bedingungen ein Ort des transkulturellen Dialogs sein?
2. I ntervie w : Z wei K ulturen ? E ine B iogr afie Herr Yeginer, wann kamen Sie nach Deutschland – und wie war das damals für Sie? Mein Vater kam 1956/57 aus Mittelanatolien als einer der ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland. Er war Konditormeister und sah seine Chance darin, in München das erste türkische Restaurant aufzumachen. Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern kam ich im Alter von sechs Monaten nach. In München gab es damals praktisch keine Gastarbeiter in unserer Nähe, deshalb hatten wir gar keine andere Möglichkeit als Deutsch zu sprechen. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kleinkind mit meinen Eltern und meinem Bruder einmal kilometerlang fuhr, um eine Familie auf dem Land zu besuchen, die aus unserem Heimatdorf kam. Wir sollten eine Weile dort wohnen, damit wir so noch ein bisschen die Sprache lernen könnten. Das Türkische war also das Besondere. Ansonsten gingen wir in einen katholischen Kindergarten und einen katholischen Hort. Wenn ich überhaupt in irgendeiner Weise religiös sozialisiert worden bin, dann katholisch. Meine Eltern waren jedenfalls keine dogmatischen Muslime. Warum wollten Sie Schauspieler werden? Was hat Sie an diesem Beruf gereizt? Eine gute Frage. Es war ganz sicher kein Zufall, dass ich Schauspieler geworden bin. Aber es war auch keine reflektierte Sache, dass ich mich mit 15 oder 16 Jahren für diesen Beruf entschied. Damals habe ich ganz naiv gedacht: Ich will auch Kunst machen, weil ich merkte, die mögen sowas, die Deutschen. Dann gehört man in Deutschland leichter dazu – und dann klappt es auch mit der Freundin, um es mal ganz überzeichnet zu sagen. Mit diesen Ideen im Kopf habe ich mein Alter 3 | Ausschnitte von Stage Enter sind unter anderem auf Youtube einsehbar (Andere Quellen: Nr. 2).
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gefälscht und mich zum Vorsprechen auf einer Schauspielschule in Hamburg angemeldet, und natürlich gab es mit dieser Naivität dann auch nur eine Möglichkeit, nämlich die Aufnahmeprüfung zu bestehen und die Ausbildung zu machen. Mir ist erst viel später klargeworden, was ich da wirklich gemacht habe. Dass es ein psychologischer Bypass war. Ein ernstzunehmender Künstler wurde ich erst in dem Moment, als ich das begriffen hatte. Hat Ihnen der Beruf auch den Freiraum gegeben, Ihre beiden Kulturen zu leben? Das war ein bisschen komplizierter, denn als Jugendlicher hatte ich gar nicht das Gefühl, zwei Kulturen zu haben. Ich empfand mich als Deutscher und habe eigentlich alles, was türkisch war, erstmal verleugnet. Ich wollte dazugehören. Ich kam zum Beispiel in eine neue Schule und stellte mich dort als Ingo Sommer vor. Ingo Sommer war ein Freund, blond und blauäugig, und alle liebten ihn. Er hatte Sommersprossen und keine Probleme. Ja, und ich hatte immer das Gefühl, ich bin eigentlich vom Gemüt her auch so ein Ingo Sommer, aber irgendwie akzeptieren die Leute das nicht. Ich glaube, dass es in meiner Generation von Gastarbeiterkindern nicht unüblich war, dieses Leugnen der eigenen Herkunft und Kultur, einfach um dazuzugehören. Im Theater durfte ich von Anfang an so sein, wie ich mich fühlte: Wenn ich mich in Anführungsstrichen als Ingo Sommer empfand, dann war ich eben Ingo Sommer. Wie ist Ihre Familie mit der Situation zurechtgekommen, Gastarbeiter zu sein? Sie haben Deutschland vor mehr als 30 Jahren wieder verlassen. Der Auslöser war mein Bruder. Er verkündete eines Abends am Abendbrottisch, obwohl er nur gebrochen Türkisch sprechen konnte: »Ich gehe in die Türkei, ich mache dort mein Abitur.« Er war damals gerade 17 Jahre alt. Wir saßen alle sprachlos da. Dann sagte meine Mutter: »Ich auch.« Und plötzlich merkte ich, dass alle wahnsinnig unglücklich waren in Deutschland, und wie sehr auch meine Mutter darunter litt. Sie hatten keine Freunde. Mein Vater war Geschäftsmann und hatte Kontakt mit seiner deutschen Kundschaft. Aber wir hatten keine deutschen Bekannten, das gab es einfach nicht. Daraus kann man recht gut ersehen, dass sie hier nicht wirklich Fuß gefasst hatten. Mein Vater hat dann noch seine Geschäfte abgewickelt, seitdem leben sie wieder in Istanbul – und haben nie bereut, zurück in die Türkei gegangen zu sein. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie selbst eine neue Haltung entwickeln müssen? Ich blieb hier, spielte erfolgreich Theater, verliebte mich, war glücklich und beliebt. Mein Erwachen kam erst viel später. Ich wurde wieder zum Ausländer gemacht, als Helmut Kohl an die Macht kam. Da wurden diese zwei Kulturen plötzlich wieder ein Thema, zum Beispiel durch die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft.4 Wer ist Ausländer? Wer Deutscher? Ich dachte die ganze Zeit, ich bin doch Deutscher. Aber 4 | Bis heute hat weniger als ein Fünftel der in Deutschland lebenden Türken einen doppelten Pass; 1,5 Millionen Türken leben mit unbefristetem Aufenthaltsrecht und türkischem Pass in Deutschland, 800.000 haben die deutsche Staatsangehörigkeit, 530.000 die doppelte. Um bei der Einbürgerung den türkischen Pass behalten zu können, müssen die Antragsteller nachweisen, dass ihnen durch die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit in der Türkei unzumutbare Nachteile entstehen würden (Andere Quellen: Nr. 3.).
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jetzt wurde mir quasi von offizieller Seite klargemacht: Ich kann mich fühlen, wie ich will, wenn mein Gegenüber es nicht so empfindet, dann habe ich keine Chance. Damals fing es langsam an, dass ich ein Bewusstsein für kulturelle Differenz als gesellschaftlichen Faktor entwickelte. Ich hatte die Wahl: Entweder ziehe ich mich zurück in die türkische Community, was ich für einen großen Fehler halten würde, denn wir sitzen ja heute da und haben Probleme mit Kindern von Migranten, die genau das getan haben. Oder ich ziehe mich zurück in die deutsche Community, was auch ein Fehler ist, weil ich dadurch Verrat an mir selbst üben würde. Da kam mir der Satz: Ich sitze nicht auf einem Stuhl, sondern auf zweien. Manchmal rutschen sie auseinander, und ich falle unten durch. Dann rappel’ ich mich auf und setze mich wieder auf beide. Das versuche ich durchzuhalten.
3. Tr anskulturelle Ä sthe tik ? D er S chauspieler Wie verlief Ihre Auseinandersetzung mit den Stoffen, die Sie gespielt haben – dem westlichen Kanon? Am Theater habe ich trotz meiner Herkunft alle Rollen gespielt, die man sich wünschen kann: Von Shakespeares Puck im Sommernachtstraum über Rostands Cyrano de Bergerac, Tennessee Williams’ Figur des Stanley Kowalsky in Endstation Sehnsucht und Arthur Millers Willy Lohmann in Tod eines Handlungsreisenden bis hin zu Lessings Nathan der Weise. Im deutschen Filmbereich hingegen bekam ich nur Angebote als »türkischer Gemüsehändler um die Ecke«. Ich weigerte mich konsequent, der »Vorzeigemigrant« zu sein, obwohl mir klar war, dass ich genau das eigentlich bin. Das war nicht immer klug. Zum Beispiel sagte ich dummerweise auch ab, als mich Cem Karaca für ein Musical in Kassel engagieren wollte.5 Aber ich wollte mich einfach nicht vereinnahmen lassen, von keiner Seite. Noch heute will ich keine stereotypen Diskurse bedienen. Allerdings schätze ich es sehr, wenn sich eine kulturelle Rezeption durch eine ästhetische Entscheidung, also durch die Mittel der Kunst einstellt. Am Staatstheater Meiningen habe ich beispielsweise Goethes Iphigenie auf Tauris inszeniert und dafür sogar einen Publikumspreis bekommen. In dieser Regiearbeit hatte ich mich ganz auf Goethes Sprache konzentriert und eher nebenbei eine Musik ausgewählt, die mir sehr gut gefiel. Der Zufall wollte es, dass diese Musik aus dem Sufismus kam, also von den türkischen Mystikern. Sie glauben gar nicht, wie viele meine Bauchentscheidung für diese Musik als bewusste Reflexion meiner türkischen Wurzeln interpretiert haben! Wahrscheinlich schwingt auch bei unbewussten künstlerischen Entscheidungen etwas mit, und die Zuschauer spüren das. Das ist eines der großen Geheimnisse der Kunst. Sie setzt Prozesse in Gang, die mit dem Verstand nicht zu erfassen sind. Dieses Nichtwissen von Kunst ist etwas Großartiges. Wir müssen es nur zulassen. Genau das macht Kunst aus: einfach etwas zuzulassen.
5 | Cem Karaca (1945-2004), türkischer Rockmusiker, lebte seit 1979 in Deutschland und war nach dem Militärputsch 1980 aus der Türkei ausgebürgert worden. 1987 wurde er amnestiert und konnte in seine Heimat zurückkehren. Karaca beschäftigte sich unter anderem mit der Situation der Gastarbeiter; einzelne Konzertausschnitte sind auf Youtube abrufbar (Andere Quellen: Nr. 4).
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Gab es Momente, in denen Sie auch bewusst dachten: Mein künstlerisches Denken und Spielen ist nicht nur von der Ästhetik des westlichen Theaters, sondern auch von meinen kulturellen Wurzeln beeinflusst? Das Gefühl habe ich ständig. Gerade bei den Klassikern, wenn emotionale Passagen zu spielen sind. Da gehe ich oft ganz anders dran, als man es sonst im Land der Dichter und Denker von den Darstellern gewohnt ist. Ich glaube, das ist tatsächlich zu einer Art Alleinstellungsmerkmal geworden. Regisseure arbeiten gerne mit mir, weil ich vor Emotionen, vor Leidenschaft, Wut und Aggression gar keine Angst habe. Das führt auch dazu, dass ich mit der Sprache anders umgehe, auch als Regisseur. Mir ist wichtig, dass sich dem Zuschauer der Inhalt erschließt. Das ist wichtiger als Rhythmus und Versmaß. Manchmal mögen Sie es auch ganz konkret. In dem komödiantischen Ein-Mann-Stück Ich, Heinz Erhardt, das 2009 in Oldenburg und Pforzheim als Koproduktion aufgeführt wurde, spielen Sie die Hauptrolle. Es erzählt die Geschichte des Migrations-Deutschen Ahmet Erhardt, der im Namen des Goethe-Instituts integrationswillige Türken – also das anwesende Publikum – auf den Einbürgerungstest in Deutschland vorbereitet. Das Stück hat Ihnen Ihr Freund John von Düffel auf den Leib geschrieben. Es spielt mit zwei Einwanderungsgeschichten, jener des Vorzeigedeutschen Heinz Erhardt, der aus Riga kam, und jener des Türken Ahmet Erhardt. Ist Humor eine angemessene Form? Natürlich. Es ist immer eine Paarung von Humor und Provokation; das sind zumindest meine Mittel. Das Stück arbeitet in gewisser Weise mit einer Verdrehung der deutschen Tugenden, die ausgerechnet der zugezogene Vorzeigekünstler Heinz Erhardt verkörpert. Er kam als kinderreicher Familienvater nach Deutschland und schaffte es mit Humor und Fleiß, der Prototyp des guten WirtschaftswunderDeutschen zu werden. Meine Figur Ahmet, die behauptet, eines der neun Kinder des Komikers zu sein, ist auch ein solches Musterbeispiel sogenannter gelungener Integration. Auch wenn das für die Zuschauer eine groteske Vorstellung ist. Mit Humor wird jede Provokation erträglicher. Egal, ob ich spiele oder ob ich Vorträge oder Workshops gebe: Das ist etwas, das ich kann und das ich liebe.
4. K ulturelle Ü berse t zung ? D er The aterpädagoge Sie haben sich nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne mit den Kulturen auseinandergesetzt, als Regisseur und in Theaterprojekten mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Was war Ihr Ziel? In erster Linie habe ich das nicht getan, weil ich Migrant bin, sondern weil ich Theatermacher bin. Aber es ist schon richtig. Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund machen heute noch immer ähnliche Erfahrungen wie ich schon vor 50 Jahren. Irgendwann stehen die Jugendlichen vor dem Spiegel und merken, dass sie eben doch nicht dazugehören. Auch als erster Schauspieldirektor mit türkischen Wurzeln wurde ich in diese Außenwahrnehmung gedrängt. Heute habe ich für mich den Spieß umgedreht und nähere ich mich dem Thema aus einem gesellschaftlichen Verantwortungsgefühl heraus: Wenn ich mich schon als Deutscher fühle, dann muss ich mich auch mit dem wahrscheinlich brennendsten Zukunftsthema meines Landes auseinandersetzen. Also bin ich wieder zum Türken geworden und fühle mich diesem Land dadurch noch zugehöriger als je. Manchmal geht
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Integration seltsame Wege! Aber wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch von seiner Kultur und der seiner Eltern beeinflusst wurde und ebenso intensiv von der Kultur des Landes, in dem er aufwächst, dann muss daraus zwangsläufig etwas Befruchtendes entstehen, das der Gesellschaft Impulse gibt, das an ihrer Geschichte mitschreibt und irgendwann auch einen neuen Kanon bildet – also so ein neues kollektives Gedächtnis. Auch deshalb habe ich schon vor 15 bis 20 Jahren begonnen, mit Migrationsgruppen zu arbeiten, also mit Menschen, die schon länger im Land leben, und lange bevor es im Jahr 2015 die sogenannte »Flüchtlingskrise« gab. Eines Ihrer bekanntesten Projekte ist Stage Enter, ein Projekt mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die unter professioneller Anleitung Theater spielen. Wie ist das Projekt genau konzipiert? Stage Enter ist so etwas wie mein Flaggschiff geworden. Wir haben Stage Enter am Theater in Oldenburg etwa zwei Jahre lang entwickelt. Was lag da näher, als es in Pforzheim zu wiederholen, auszuarbeiten und ausreifen zu lassen? Das Prinzip von Stage Enter ist folgendes: Wir erarbeiten mit Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren eine professionelle Theateraufführung. Sie kommen aus verschiedenen sozialen Schichten, haben unterschiedliche Religionen und Bildungshintergründe. Ich sage mal: Ein türkischer Jugendlicher, der von einer Karriere als Türsteher träumt, trifft auf einen glattrasierten Deutschen mit nationalsozialistischen Tendenzen und einen gut behüteten Gymnasiasten. Diese Menschen würden im Alltag wahrscheinlich nie zusammenfinden, aber im Theater begegnen sie sich auf Augenhöhe. In den Proben werden sie mit sehr anspruchsvollen Texten konfrontiert, an denen sie sich gemeinsam abarbeiten. Zugleich lernen sie, als Team mit brisanten Situationen umzugehen. Der Beweis gelingt uns jedes Mal: Wenn sich Menschen aus unterschiedlichen Welten kennenlernen, kommt künstlerisch etwas Hochwertiges dabei heraus. Wir spielen in der Regel 20 Vorstellungen und sind quasi immer ausverkauft. Die Freundschaften, die durch Stage Enter entstehen, sind meist von Dauer. Auch diejenige zwischen dem türkischen Jugendlichen, der Türsteher werden wollte, und dem deutschen Neonazi. Der eine ist heute Polizist, der andere hat studiert und arbeitet in einer großen Firma.
Abb. 1: Murat Yeginer in Ich, Heinz Erhardt am Oldenburgischen Staatstheater, 2009. Foto: Andreas Etter
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Hat Ihr Migrationshintergrund bei den Beteiligten für höhere Glaubwürdigkeit gesorgt? Definitiv, aber ich würde das nicht darauf beschränken. Solche Erfahrungswerte hatte auch ein Regisseur, den ich mal geholt habe. Er war urdeutsch, klein und schmächtig und mehr oder weniger auf der Straße groß geworden. Er hat sich aber intellektuell gebildet und es geschafft, Regie zu studieren. Er konnte die Sprache der Jugendlichen genauso gut sprechen. Bei ihm wussten sie sofort, er erzählt uns nicht irgendwas vom Pferd. Deshalb akzeptierten sie seine Autorität. Der Zugang zu den Jugendlichen hat also nicht unbedingt etwas mit Migrationshintergrund zu tun. Das kann jeder, der eine Form von Außenseiterdasein gelebt hat. Welche Chancen gibt es für junge Migranten, die beispielsweise bei Stage Enter Gefallen am Theaterspielen gefunden haben, und die nun gerne professionelle Schauspieler werden wollen? Der Beruf des Schauspielers ist zweifelsohne interessant, und es gibt heute keine Schauspielschule mehr, die nicht irgendwelche Migranten in ihren Klassen hat. Inzwischen gibt es auch sehr gute ausgebildete Schauspieler mit Migrationshintergrund. Leider steht diese Situation konträr zur sozialen Realität, dass das Jobangebot insgesamt recht gering ist. Auch hat sich die »Typfrage« bisher noch nicht so recht verändert. Damit meine ich, dass Schauspieler mit Migrationshintergrund immer noch in die Migranten-Schublade gesteckt werden, und dass ihnen viele Rollen gar nicht erst angeboten werden. Kunst sollte meiner Meinung nach keine Grenzen haben. Aber das ist derzeit noch nicht die Realität, in der wir leben.
5. »Tr anskulturelles « The ater ? 6 D er S chauspieldirek tor Sie waren sieben Jahre lang Schauspieldirektor in Pforzheim, haben das Theater mitgestaltet. Wenn es um Transformation geht: Wie können Migranten zur Öffnung und Gestaltung des Theaters beitragen? Eigentlich nur durch die Kunst. Migrant zu sein, zeichnet einen noch nicht automatisch aus, ein besserer Künstler zu sein oder ein besseres Kunstverständnis zu haben. Ein integrierter Migrant kann auch ein spießiger Migrant sein. Davon bin ich absolut überzeugt. Nein, es muss auch immer eine Kunstentwicklung geben. Die Stöpsel müssen in den Köpfen gezogen werden. Vielleicht gibt es den einen Unterschied, dass es die deutschen Kultur-Stöpsel bei vielen Migranten noch nicht gibt. Dann nämlich, wenn sie aus einer Kultur kommen, in der sie mit dieser Kunstform noch gar nicht konfrontiert worden sind. Müsste man auch den Spielplan künstlerisch überdenken? Wäre es zum Beispiel eine Lösung, neue Stücke aufzunehmen, mehr Werke aus anderen Ländern? Ja, vermutlich. Aber bevor man etwas am Spielplan verändert, müsste man vielleicht erst einen Fortbildungskurs in Sachen Kunstverständnis für Stadt- und Kul6 | Zum Begriff des transkulturellen Theaters vgl. Heeg 2013: 229-242; Heeg 2014. Für Günther Heeg befindet sich das transkulturelle Theater in Opposition zum Stadttheater als einer Institution, die noch einen »symbolischen Kulturraum der Nation« darstellt (Heeg 2013: 231). Hingegen würden heutige Stadtgesellschaften die Auseinandersetzung mit dem Fremden als Teil des Eigenen auch im Theater herausfordern (Heeg 2013: 237).
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turpolitiker geben – beispielsweise darüber, dass Kunst eben Veränderung ist. Die Theaterszene scheitert genau daran, dass die Politik die Notwendigkeit des ständigen Wandels in der Kunst nicht wahrhaben will. Wenn schon unsere Politiker noch nicht verstehen, dass das, was da stattfindet, eine künstlerische Reaktion auf die Gesellschaft ist, dann wird es der Abonnent erst recht nicht verstehen. Wir brauchen aber die Rückendeckung, wenn sich die Kultur entwickeln soll. Es kostet Zeit, so eine Transformation zu begleiten, und man muss sich die Zeit dafür auch nehmen. Wir treten gemeinsam mit dem Publikum eine Reise an. Und diese Reise kann zwischendrin auch beschwerlich werden. Wenn man die Odyssee als Beispiel nimmt, kommt man zuerst an den Sirenen vorbei, dann an den Zyklopen, aber irgendwann ist man auch in Ithaka. Die Kunst-Odyssee kann lange dauern; ich rede hier nicht von 3 Jahren, nicht von 5 Jahren, noch nicht einmal von 10 Jahren, sondern durchaus von 15, 20 oder 30 Jahren. Aber nur so kann man eine künstlerische Transformation umsetzen und erreichen, dass sie in der Gesellschaft verankert wird. Welche Rolle spielen bei solchen Prozessen die internen Entscheider? Hängt alles am Intendanten? Ganz ehrlich: Die Intendanten schaffen das nicht alleine. Ich gehöre mit 58 Jahren im Kunstbereich ja auch schon zum alten Eisen. Jetzt multiplizieren Sie mich mal mit den Intendanten in ganz Deutschland und schauen Sie sich an, wo diejenigen sitzen, die um die 30 Jahre alt sind und für neue Ideen und Konzepte brennen. Da werden Sie in der Intendanten-Riege ganz wenige finden, ich glaube sogar, keinen. Je größer das Theater, desto mehr »Erfahrung« haben die Intendanten, und diese Erfahrung verteidigen sie mit Klauen und Zähnen. Das heißt, der 25-jährige Junge Wilde, der Regieassistent sein möchte, hat erstmal gar keine Chance. Dabei bin ich überzeugt, dass sich meine Kollegen – und ich nehme mich da selber nicht aus – für sehr modern und tolerant halten, für wissensdurstig und zukunftsorientiert, aber das sind wir nicht. Wir haben die Entwicklungen der letzten 20 Jahre verpasst. Wir entdecken erst jetzt die Videosessions, Live-Events und so weiter, dabei ist das alles im Grunde schon wieder out. Damals, vor 20 Jahren, hätten wir Leute ranlassen müssen, die vielleicht keine Ahnung hatten, wie Theater geht, aber die es bis heute durchaus gelernt hätten. Wir müssen aus unserem Elfenbeinturm raus, uns aufmachen und zulassen, dass es kompliziert wird. Wir mögen nur keine Komplikationen. Denn – das ist das nächste Problem – die politischen Entscheider, die uns den Auftrag geben, haben ja unsere Erfahrung engagiert und nicht irgendwelche Hirngespinste; also sitzen wir doppelt in der Klemme. Wenn Sie ein externer Kulturberater wären oder ein Theater hätten, das Sie nach Ihren Wünschen gestalten könnten: Welches Modell von Theater würden Sie für diese Gesellschaft entwerfen? Ich würde es machen wie der niederländische Theaterregisseur Ruud Breteler. Er war acht Jahre lang Generalintendant des Theaters am Zuidplein in Rotterdam.7 7 | Der Niederländer Ruid Breteler führte das Theater am Zuidplein von 1998 bis 2006. Entstanden sind unter seiner Ägide ein Theater und ein Programm, das er so umgestaltete, »dass es ein neues künstlerisches Profil mit Schwerpunkt auf nicht-westlichen darstellenden Künsten und Zuschauerbeteiligung erhielt« (Andere Quellen: Nr. 5).
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Zuerst hat er ein Inserat in die Zeitung gesetzt und gefragt: »Wer hat Lust, Theater von und für Migranten zu machen?« Natürlich kamen erstmal Leute, die von Theater gar keine Ahnung hatten, vielleicht höchstens Schultheatererfahrung, aber sie steckten voller Lust und idealistischer Konzepte. Breteler sagte: »Das Schwierigste war, auf seinen Händen sitzen zu bleiben und nichts zu tun, und ihnen einfach nur immer die Wege zu ebnen.« Es war wohl auch katastrophal am Anfang, aber es hat sich entwickelt und heute ist das Zuidplein ein Theater mit steigenden Zuschauer- und Abonnentenzahlen. Die Stadt hat fünf Jahre dahintergestanden. Und dann schrieb das Theater schwarze Zahlen. Entstanden ist daraus ein völlig neuer Spielplan und auch ein völlig anderes Theater. Auf diesem Spielplan stehen zum Beispiel Stücke, die vor allem für Tamilen interessant sind, die in den Niederlanden leben. An diesen Abenden wird auch tamilische Limonade serviert, die kein Europäer trinkt, weil sie schrecklich süß ist, aber jeder Tamile identifiziert sich sofort damit. Es hat mich sehr beeindruckt, was Ruud Breteler von seiner Theaterarbeit erzählt hat. Deshalb würde ich auch sagen: Komm, wir nehmen ein Theater, das gut funktioniert, mit einem Etat von vielleicht 17 Millionen Euro, und sagen: Macht was draus. Damit meine ich eben noch nicht mal den Intendanten, sondern die Künstler selbst: Ihr macht jetzt mal demokratische gemeinschaftliche Kunst. Macht doch mal!
6. M igr antisches A udience D e velopment ? D as P ublikum Wie waren Ihre Erfahrungen: Kann man migrantisches Publikum für das Stadttheater interessieren? Dafür muss ich noch einmal kurz auf das Theater am Zuidplein zurückkommen. Es hat einige einfache und inspirierende Ideen umgesetzt. Zum Beispiel hat es aus dem Zuschauerraum ein paar Sitzreihen herausgenommen, denn für Migranten fängt Theater nicht erst mit Vorstellungsbeginn an. Sie sind gerne eine Stunde vorher da, laufen durch die Gänge und sagen: »Oh, guck mal, das ist mein Cousin da oben. Mensch, wie geht’s dir denn?« Theater ist in anderen Kulturen auch ein Happening. Die strenge Atmosphäre der »ästhetischen Erziehung« in deutschen Theatern ist für alle, die das nicht kennen, eine Hemmschwelle. Viele glauben, es sei eine Institution für die Eliten. Ich denke, man muss deshalb mit der ganz simplen Frage anfangen: Wie baue ich die Hemmschwellen ab? Ich habe mit der türkischen Community gesprochen und gefragt: Was wünscht ihr euch denn, was können wir für euch tun? Die überraschende Antwort war: Das Stück ist erstmal egal, aber wir würden gerne eine Premierenfeier ausrichten. Wir haben dafür in der Spielzeit 2012/13 Gegen die Wand 8 ausgewählt. Die türkische Community hat Musik aufgelegt und türkische Leckereien serviert. Das war toll. Dann wurde mir klar, was daran so stimmig war. Es lief über Identifikation. Wenn Sie mich zum Beispiel zu sich einladen, können Sie von mir nicht erwarten, dass ich ohne eine Schachtel Lokum bei Ihnen ankomme. Ich bin so sozialisiert. Ich komme bei Ihnen an und werde versuchen, ein sehr guter Gast zu sein. Wenn Sie das zulassen, dann können sich daraus Aha-Erlebnisse vom Feinsten entwickeln – auf beiden 8 | Gegen die Wand in der Bearbeitung von Armin Petras nach dem Film von Fatih Akin. Theater Pforzheim, Premiere am 15. September 2012 (Andere Quellen: Nr. 6).
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Seiten. Aber das machen wir insgesamt viel zu wenig. Wir machen diese ganzen Hors d’œuvres nicht, sondern wir wollen, dass die Leute kommen und möglichst gleich ein Jahresabonnement kaufen. Aber wie soll das funktionieren? Also hilft die Kulinarik bei einer Art von kulturellem Audience Development? Ich würde sagen: Sie bringt Entspannung. Natürlich hatte ich ein Bewusstsein davon, dass ich meinem Publikum mit Gegen die Wand nicht gerade ein einfaches Stück vorgesetzt habe. Immerhin wird darin eine Türkin vergewaltigt. Aber es war mir wichtig, die Besucher nicht mit Folklore abzuspeisen, sondern sie mit zeitgenössischer Literatur zu konfrontieren. Die Reaktionen auf das Stück waren für mich spannend und überraschend. Während die Deutschen eher urteilten: »Ja, tolle Kultur!« oder: »Also das geht gar net!«, kam von den Türken schlicht und offen: »Wir haben ja gar nicht gewusst, dass sowas möglich ist am Theater.« Es war schön, diese Neugier zu entdecken. Ich habe an dem Abend einige Abonnenten gewonnen, die ihr Abo heute noch haben. Ich weiß schon, wie ich meine Leute holen und halten kann. War das Projekt Fremdraumpflege auch eine Art migrantisches Audience Development? Fremdraumpflege war in erster Linie ein Theaterprojekt, das wir in der Spielzeit 2012/13 mit Unterstützung durch den Innovationsfonds Baden-Württemberg und später als Koproduktion mit dem Badischen Staatstheater in Karlsruhe realisiert haben. Aber es hatte auch den Effekt, das Theater einer eher kunstfernen Community nahezubringen. Der Ansatz war: Kommt Ihr nicht zu uns, kommen wir zu Euch. Ich konnte den Autor, Arzt und Schauspieler Tuğsal Moğul engagieren, der ein Stück schreiben sollte, in dem sich Fiktion und Wirklichkeit vermischen. Die Vorstellung fand jeden Abend in einer anderen Wohnung bei einer Migrantenfamilie statt. Eingeladen waren jeweils zehn Zuschauer. Die Willkommenskultur der Gastgeber war Teil der Performance. Meistens hatten sie eine Menge zu essen vorbereitet, und man wartete gemeinsam darauf, dass das Stück bald beginnen würde. Doch dann hat plötzlich einer der Gäste einen Schwächeanfall – der Nachbar. Er ist mehr aus Höflichkeit eingeladen worden und nun seinerseits bemüht, seine Vorurteile gegen Ausländer nicht allzu deutlich werden zu lassen. Er »hat ja eigentlich nichts gegen Ausländer«, wie er immer wieder betont. Der herbei gerufene Notarzt entpuppt sich als Frau arabischer Herkunft. Obwohl sie fließend Deutsch spricht, ist das zu viel für den »toleranten« Nachbarn. Spätestens jetzt dämmert es den Zuschauern, dass die Vorstellung längst begonnen hat.9 Es geht also um Fremdheit und darum, wie man mit dem Fremden umgeht, es definiert oder ausgrenzt. Mit diesem Projekt habe ich auch neue Zuschauer für das Stadttheater gewonnen. Nachdem viele der Gastgeber Theater zu Hause erlebt hatten, war ihr Interesse geweckt. Man muss an ganz vielen kleinen Baustellen arbeiten, wenn man migrantisches Publikum gewinnen will. Dieser große Überwurf, dass man das mit einem Inserat in einer flächendeckenden Zeitung hinkriegt, daran glaube ich nicht.
9 | Fremdraumpflege wurde in der Spielzeit 2015/16 vom Badischen Staatstheater Karlsruhe und in der Spielzeit 2016/17 vom Theater und Orchester Heidelberg inszeniert (Andere Quellen: Nr. 7, 8).
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Würden Sie auch bei Marketingfragen auf transkulturelle Akteure setzen? Es wäre vermutlich ein erster Schritt, auch innerhalb der Community Akteure zu suchen und zu finden, bei denen man Karten kaufen kann, und die einen informieren, jenseits der Institution Theater selbst. Ich wollte das Vertriebssystem in die Communities hinein ausweiten, zum Beispiel ein Kontingent von Theaterkarten und ein Plakat beim Gemüsehändler oder beim Schlachter hinterlegen. Die beteiligten Händler hätte ich als Multiplikatoren schon zu den Proben eingeladen und sie von meinen Pädagogen zusätzlich begleiten lassen. Dann hätte der Händler an der Kasse seinen Kunden aus erster Hand berichten können. Das habe ich als Chance gesehen. Aber das war politisch leider nicht gewollt.
L iter atur Primärquellen Dätsch, Christiane (2016): Interview mit Murat Yeginer, Ensemblemitglied am Staatstheater in Mainz und freier Regisseur, am 21. Oktober 2016 im Theater Ulm (Tonband). Yeginer, Murat (2012): »Fremd-Bestimmt«. Fachvortrag von Murat Yeginer im Rahmen der »Führungs-Werkstatt« für Amts- und Abteilungsleiter der Stadtverwaltung Oldenburg, 08.06.2012, Mitschrift. In: www.murat-yeginer.de/res sources/downloads/Vortrag_Old_fuer_Internet.pdf (26.04.2017).
Sekundärliteratur Dürigen, Uwe (2015): Abschlussbericht des Stadttheaters Pforzheim für die Spielzeit 2014/15, 17 Seiten. In: www.theater-pforzheim.de/fileadmin/user_upload/ theater/theater_allg/spielzeitheft_2014 _2015_theater_pforzheim_web.pdf (28.05.2017). Grund, Stefan (2009): Noch’n Gerücht: Heinz Erhardt war Türke. In: Die Welt online, 16.11.2009. https://www.welt.de/kultur/theater/article5227987/Noch-nGeruecht-Heinz-Erhardt-war-Tuerke.html (27.03.2017). Heeg, Günther (2014): Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwissenschaft in Zeiten der Globalisierung. In: Baumbach, Gerda u.a. (Hg.) (2014): Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen, Berlin, S. 150-163. Heeg, Günther (2013): Die Auflösung des Stadttheaters. Die Zukunft des Stadttheaters liegt in einer transkulturellen Theaterlandschaft. In: Schneider (Hg.) (2013), S. 229-242. Jerichow, Regina (2009): Der Türke in Heinz Erhardt. In: Nordwest Zeitung online, 16.11.2009. www.nwzonline.de/kultur/der-tuerke-in-heinz-erhardt_a_1,0, 3245384006.html (27.03.2017). Schmidt, Thomas (2013): Auf der Suche nach der zukünftigen Struktur. Für eine Transformation des deutschen Theatersystems. In: Schneider (Hg.) (2013), S. 191-214. Schmidt, Thomas (2012): Theatermanagement. Eine Einführung, Wiesbaden.
»Wir müssen aus unserem Elfenbeinturm raus.«
Schneider, Wolfgang (Hg.) (2013): Theater entwickeln und planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der darstellenden Künste, Bielefeld.
Andere Quellen Nr. 1: www.murat-yeginer.de/ (27.03.2017). Nr. 2: www.youtube.com/watch?v=JfgToRoHxyM&feature=youtu.be (27.03.2017). Nr. 3: www.spiegel.de/politik/deutschland/doppelte-staatsbuergerschaft-und-dop pelpass-das-sind-die-fakten-a-1124805.html (12.04.2017). Nr. 4: https://www.youtube.com/watch?v=qZKPQE4r5FM&list=PL9RB_171CMyW X_48e3_J-8-RP_SyrQnIN (27.05.2017). Nr. 5: www.kulturundoekonomie.ch/de/ruud-breteler (28.03.2017). Nr. 6: www.theaterkompass.de/news-einzelansicht+M5dfe1632c1d.html (27.05. 2017). Nr. 7: http://spielzeit15-16.staatstheater.karlsruhe.de/programm/info/1693/ (28.03. 2017). Nr. 8: www.theaterheidelberg.de/produktion/fremdraumpflege/ (28.03.2017).
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Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache? Gespräch mit dem Projektmanager Frank W. Albers, Stuttgart Christiane Dätsch
1. A utoren fremder K ulturen Wer unter Literatur einen (belletristischen) Text versteht, der sich in einem Medienträger realisiert, muss den Literaturbetrieb mitdenken. Buch und Buchproduktion, Buchvertrieb und -rezeption sind Sache eines freien, kommerziell organisierten Marktes, in den die öffentliche Hand nur mit wenigen Maßnahmen indirekt eingreift (vgl. Heinrichs 2006: 170). An dieser Organisation des deutschen Literaturbetriebs hat sich seit seiner Entstehung im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht viel verändert: Wer Bücher schreibt, beabsichtigt, bestimmten Themen eine Stimme zu geben. Neben dem Autor spielen weitere wichtige Akteure – Verleger, Lektoren, Förderer – eine Rolle, wenn es darum geht, diese Stimme in der Öffentlichkeit hörbar zu machen. Laut Börsenverein des deutschen Buchhandels erscheinen in Deutschland jährlich rund 90.000 Neuerscheinungen, davon über 14.000 Titel in der Belletristik. Im Jahr 2015 wurden insgesamt über 10.000 Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Deutsche angeboten (Börsenverein 2016). Der Literatur als Kunstform ist die Auseinandersetzung mit dem Eigenen, aber auch mit dem Fremden seit jeher inhärent. Seit der Entstehung der sogenannten »schönen Literatur« im 18. Jahrhundert dient diese nicht selten als Ort der Erkenntnis und der Reflexion von Ich und Welt.1 Bisweilen sind die Themen von Literatur und Leben so eng verknüpft, dass sie einander simultan Orientierung geben. Die Flucht von Millionen Menschen, die im Herbst 2015 eine sichtbare Spur in Deutschland hinterließ, war beispielsweise ein Thema der Leipziger Buchmesse im darauffolgenden Frühjahr 2016. Man sollte uns zwingen, den Flüchtlingen zuzuhören, titelte Richard Kämmerlings in der Welt (Kämmerlings 2016). In seinem Beitrag wies er auf einen Preis hin, der in Deutschland seit Mitte der 1980er-Jahre an Autoren vergeben wird, die nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern von ihren Rändern stammen: den Chamisso-Preis. Dieser Preis sei mit seinen zahlreichen 1 | Nach Doris Bachmann-Medick sind literarische Texte »Medien kultureller Selbstauslegung, deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet« (Bachmann-Medick 1996: 9).
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Autoren mittlerweile ein Synonym oder ein Markenname für jene Literatur geworden, die heute gemeinhin als Einwandererliteratur oder als »Chamisso-Literatur« bezeichnet werde, so Kämmerlings. Sie sei nicht nur eine Chance, das Leben mit »fremden Köpfen« zu denken, sondern auch eine Form der Übersetzung, der gestalteten Transkulturalität. Allerdings muss es eine Literatur wie die »Chamisso-Literatur«, die von den sogenannten Rändern der Gesellschaft kommt, erst einmal in den Markt schaffen – und also in den Literaturbetrieb, andernfalls ist sie für den Leser verloren. Das war eine Vorstellung, der man mit der Auslobung des Chamisso-Preises vor über 30 Jahren entgegenwirken wollte. Sein Initiator, der Romanist Harald Weinrich, schlug 1984 vor, schreibende Gastarbeiter oder Schriftsteller fremder Herkunft auszuzeichnen, die sich der deutschen Sprache bedienten. Der Preis sollte ihnen ein Gesicht geben. In Stuttgart erklärte sich die Robert Bosch Stiftung bereit, das Konzept zu fördern und zu einem Wandel des weltweiten, aber auch des eigenen Bildes von deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beizutragen. Die Robert Bosch Stiftung – und mit ihr andere Partner (siehe Interview) – tat dies 32 Jahre lang, indem sie den mit 15.000 Euro dotieren Hauptpreis und zwei je mit 7.000 Euro dotierte Förderpreise finanzierte. Insgesamt 75 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus 20 Herkunftsländern sind seit der ersten Preisverleihung im Jahr 1985 an Aras Özen und Rafik Schami ausgezeichnet worden – unter ihnen Feridun Zaimoglu, György Dalos, Yoko Tawada, Terézia Mora, Ilija Trojanow und José F.A. Oliver. Im Jahr 2016 gab die Robert Bosch Stiftung bekannt, den Preis im Jahr 2017 einzustellen, da er sein gesellschaftliches Ziel erreicht habe: Man wolle die Literaturförderung künftig auf neue gesellschaftliche Ziele ausrichten, etwa auf Programme zur Förderung kultureller Teilhabe, wie sie bereits das Begleitprogramm des Chamisso-Preises verwirklicht hatte (Andere Quellen: Nr. 1). Die Kritik der »Chamisso-Autoren« an dieser Einschätzung ließ nicht lange auf sich warten, denn aus ihrer Sicht war das Ziel des Preises noch lange nicht verwirklicht. »Weil der Literaturbetrieb anfängliche Ressentiments gegen eingewanderte Autorinnen und Autoren abgelegt hat, soll dieses Phänomen nicht mehr beleuchtet werden?«, fragten Ilija Trojanow und José F.A. Oliver in einer öffentlichen Stellungnahme in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Paternalismus wurde der Stiftung unterstellt, »also genau das, was Migranten und Geflüchtete auf den Tod nicht ausstehen können«. Die Konflikte zwischen »Essenzialismus und Kosmopolitismus« seien noch keineswegs ausgestanden und das Phänomen der Mehrsprachigkeit weiterhin einen eigenen Preis wert (Trojanow/Oliver 2016). Die Kontroverse führte zum erneuten Nachdenken darüber, was Literatur beim Sammeln von (fremder) Lebenserfahrung leistet, und inwiefern für Autoren mit Migrationshintergrund von einer Chancengleichheit im Betrieb gesprochen werden kann – und in der Gesellschaft. Anders gefragt: Ist in deutschen Buchregalen vor allem solche Literatur zu finden, die den Exotismus bedient – oder haben die Deutschen tatsächlich ein Interesse an migrantischen und transkulturellen Lebenswirklichkeiten entwickelt, wie sie die »Chamisso-Autoren« durchweg in ihrer Literatur beschreiben? Im Interview erklärt Frank Albers, Senior Projektmanager für den ChamissoPreis bei der Robert Bosch Stiftung, die Entscheidung für das Ende des Preises. Mit seiner Förderung habe man viel erreicht; der Eintritt der Autoren in den Literaturbetrieb sei weitgehend gelungen. Das würde allerdings nicht bedeuten, dass
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die Stiftung annehme, für Migranten und migrantische Autoren sei gesellschaftliche Normalität schon vollständig erreicht. Albers, der Germanistik und Kulturwissenschaften studierte, war vor seiner Tätigkeit bei der Robert Bosch Stiftung als Redakteur für verschiedene Fernsehsendungen (RTL und SAT.1), als Referent bei der Berlinale und beim Goethe-Institut in Island tätig. Dank dieser verschiedenen Positionen hat er sowohl von außen als auch von innen einen Blick auf Deutschland entwickelt. Dabei hat er festgestellt, dass fremde Autoren als Produzenten deutschsprachiger Literatur und als Künstler schon etwas vollzogen haben, das Institutionen als gesellschaftlichen Mittlern zum Teil noch bevorsteht: die kulturelle Übersetzung von Inhalten mit zu denken – und nicht nur die wörtliche.
2. I ntervie w : D er C hamisso -P reis und seine E ntstehung Lieber Herr Albers, der Chamisso-Preis wurde in den 1980er-Jahren ins Leben gerufen. Warum wollte man diese Autoren gesondert auszeichnen? Was war die gesellschaftliche Relevanz? Der Chamisso-Preis war ein wichtiges Instrument, um einer Öffentlichkeit aufzuzeigen: Es gibt eine Gruppe von Autoren, die prägender Bestandteil unserer Gesellschaft und der Gegenwartsliteratur ist, die aber nicht wahrgenommen wird. Die gesellschaftliche Relevanz bestand darin, Akzeptanz für eine Gruppe von Autoren zu erreichen, die sich bewusst für das Deutsche als Literatursprache entschieden hatte. Diese Gruppe von Autoren empfand sich als eine Stimme für eine große Gruppe von Menschen, die in dieses Land eingewandert waren, und die in gewisser Weise eine Vorbildfunktion für ihre Landsleute hatten. In den 1980er-Jahren, als der Preis entstand, war dies vor allem die Gruppe der Gastarbeiter; man denke an Franco Biondi, der aus Italien nach Deutschland gekommen war und zunächst ganz klassisch in der Fabrik arbeitete.2 Es gab aber auch Gruppen, die Deutschland als Land des Exils begriffen; etwa Rafik Schami, der aus Syrien kam. Wieder andere wurden nicht wahrgenommen, weil sie von der erlesenen Öffentlichkeit als zu exotisch, als zu fremd angesehen wurden. Auch die Verlage waren insgesamt zögerlich, weil sie nicht glaubten, dass es irgendeine Marktchance für diese Autoren gäbe. Die Autoren begannen dann, in selbst organisierten eigenen kleinen Verlagen zu publizieren, aber die großen Plattformen, die sie brauchten, um als Bestandteil der Gegenwartsliteratur wahrgenommen zu werden, hatten sie nicht. Es bedurfte eines starken Partners, um in Form eines Preises eine Öffentlichkeit herzustellen. Einer dieser starken Partner waren wir, aber auch die Bayerische Akademie der Schönen Künste in München und das Goethe-Institut. Das Goethe-Institut beispielsweise entsandte die Autoren auf internationale Lesereisen und sorgte dafür, dass sie international als ein Teil der deutschen Gegenwartsliteratur wahrgenommen wurden, als wichtige Repräsentanten der deutschen Gegenwartsliteratur. Mit dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung in den 1990er-Jahren kamen dann 2 | Franco Biondi, geb. 1947, kam 1965 nach Deutschland, wo er in den ersten Jahren als Elektroschweißer und Chemiearbeiter in Fabriken der Mainzer Umgebung tätig war. Er holte seine Schulabschlüsse nach, studierte Psychologie, war als Familientherapeut und Dozent für Italiener zur Erlangung des Hauptschulabschlusses tätig. Für seine Texte und sein literarisches Engagement erhielt er 1987 den Chamisso-Preis (Biondi 1979).
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neue, weitere Autorengruppen hinzu, etwa aus Osteuropa. Diese Autorengruppen, die teilweise in der DDR lebten, wurden im Westteil Deutschlands kaum gelesen oder waren vollkommen unbekannt; aber auch sie bereicherten entscheidend den Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur. Welches Selbstbewusstsein hatten die ersten Chamisso-Preisträger? Spielte das Gefühl für sie eine Rolle, dass sie sich ihrer Situation als Fremde, als Gastarbeiter literarisch vergewissern mussten? Dieser Aspekt setzt sicherlich lange vor dem Preis ein. José F.A. Oliver, Franco Biondi oder Gino Chiellino zum Beispiel haben sich ganz bewusst als Gastarbeiter herausgestellt und den literaturwissenschaftlichen Begriff der Gastarbeiterliteratur mitgeprägt. Heute erscheint er uns inakzeptabel, negativ – damals war er bewusst gewählt und politisch, auch provozierend politisch besetzt. José F.A. Oliver war natürlich nie Gastarbeiter, aber er hat sich mit dieser Gruppe stark solidarisiert und identifiziert. Auch die ersten kleinen Verlage, die diese Gruppe gegründet hatte, waren primär politisch motiviert gewesen mit dem Ziel, auf sich als Gruppe aufmerksam zu machen. Diese Haltung änderte sich erst langsam mit zunehmender Akzeptanz, vor allem aber nach der deutschen Wende 1989. Das Kämpferische und Auf begehrende der 1970er- und 1980er-Jahre ging zwar nicht verloren, wurde aber dem literarischen Aspekt untergeordnet. Wenn man heute mit José F.A. Oliver spricht, schwingt das immer noch mit. Das, was wir Literaturvermittlung nennen – also die gesellschaftliche Wirkung von Literatur – ist für Autoren wie Oliver immer noch ganz integraler, zentraler Bestandteil seines Tuns und seiner Motivation. Wie Sie sagten, hat der Literaturbetrieb in den 1970er- und 1980er-Jahren sehr zögerlich auf die sogenannte Gastarbeiterliteratur reagiert. Wieso waren die Verlage so zurückhaltend? Wir sprechen hier nur von der Bundesrepublik: Sie war damals einfach noch nicht bereit, sich als Einwanderungsgesellschaft zu akzeptieren, sowohl in politischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht. Zugegeben, es gab eine Gruppe von Gastarbeitern, aber man nahm an, sie seien nur temporär im Land und würden wieder nach Hause zurückkehren. Als diese Gruppe irgendwann zu dem Punkt kam, sich künstlerisch äußern zu wollen, war kein breites Publikum da. Ich glaube, anders kann man diese Frage gar nicht beantworten, warum keine Bereitschaft, keine Neugierde da war. Wir haben in den 1980er-Jahren einfach festgestellt, dass weder auf Seiten der Verlage, sprich der kommerziellen Verwertung, noch bei der künstlerischen Verwertung, zum Beispiel durch Lesungen, die Bereitschaft da war, diese Autoren in die Breite zu tragen. Es kam, glaube ich, erst ein Wandel auf, als Autoren wie Rafik Schami kommerziell erfolgreich waren, weil sie einen populären Erzählton fanden und sich trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihres exotisch-orientalischen Namens gut verkaufen ließen: als Märchenerzähler, als Nachfahre der großen Scheherazade, der die Geschichten aus Tausendundeine Nacht weitererzählt. Das ist natürlich nichts, womit sich Rafik Schami am Ende wohlgefühlt hat, doch er konnte davon sehr gut leben, und er ist natürlich auch ein glänzender Erzähler. Und in diesem Fahrwasser kamen dann andere Autoren mit.
Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache?
Wann setzte dieser Wandel ungefähr ein? Und wer konnte ihn verstärken – waren es die Medien? Ich denke, dass einerseits die schon erwähnte Deutsche Einheit, andererseits der externe Blick auf Deutschland viel dazu beigetragen haben. Ganz konkret waren es die Auslandsgermanistik, mehr noch als die Inlandsgermanistik, und auch die Goethe-Institute, die einen wichtigen Beitrag zu diesem Wandel geleistet haben. Sie haben in starkem Maße Autoren aus dem »Chamisso-Umfeld«, also Autoren mit Migrationshintergrund, zu Lesereisen ins Ausland eingeladen, um ein Gesicht von Deutschland zu zeigen, das nicht selbstverständlich war, auch im Ausland – und das dann im Inland einiges bewirkt hat. Ich glaube, den Goethe-Instituten muss man daher dreimal großen Dank zukommen lassen.
3. F örderung einer tr anskulturellen L iter atur Der Preis trägt einen voraussetzungsreichen Namen: »Chamisso – viele Kulturen, eine Sprache«. Warum hat man sich in den 1980er-Jahren für Adelbert von Chamisso als Vorbild entschieden? Der Name war ein Vorschlag von Harald Weinrich. Es gab auch verschiedene andere Möglichkeiten, man hat sich aber ganz bewusst für Adelbert von Chamisso entschieden, um den frühen Zeitpunkt der literarischen Migration deutlich zu machen. Chamisso ist ein junger Franzose, der, religiös verfolgt, als Hugenotte nach Preußen kam, dann am Hof und in der Armee Karriere machte. Deutsch hat er vermutlich sein Leben lang mit starkem französischen Akzent gesprochen. Trotzdem war er einer der bekanntesten Schriftsteller und erfolgreichsten Naturwissenschaftler seiner Zeit, neben Humboldt. Das war auch ausschlaggebend für die Motivation in den 1980er-Jahren zu sagen: Chamisso charakterisiert das, was wir mit dem Preis eigentlich ausdrücken wollen. Er ist ein Franzose, der politisch und religiös verfolgt wurde, und der in Deutschland eine neue, nicht nur gesellschaftliche, sondern auch künstlerische Heimat fand und darüber hinaus zu einem der populärsten Preußen seiner Zeit wurde. Würden Sie sagen, Chamisso selbst war – avant la lettre – ein transkultureller Autor? Unbedingt. Chamisso hätte sich vermutlich weder als deutscher noch als preußischer Schriftsteller definiert, wahrscheinlich aber auch nicht als französischer, sondern einfach als Schriftsteller und Naturwissenschaftler. Ich glaube nicht, dass er sich überhaupt irgendeinem nationalen Begriff zugeordnet hätte. Einen europäischen Identitätsbegriff wird er in der Form, wie man ihn heute kennt, auch noch nicht gehabt haben. Das ist aber sicherlich etwas, das er mit den Trägern des Chamisso-Preises gemeinsam hat. Viele Autoren, die aufgrund ihrer Sprachwahl oder der Tatsache, dass sie in die deutsche Sprache hineingeboren wurden, in sie hineingewachsen sind, als deutschsprachige Schriftsteller bezeichnet würden, haben diesen nationalen Gedanken oder diese nationale Identifikation nicht; die Schriftstellerin Que Du Luu3 ist trotz ihrer deutschsprachigen Literatur weiterhin stark mit ihrer chinesischen Kultur verbunden, vielleicht aber auch mit der vietna3 | Que Du Luu, chinesischer Herkunft und 1973 in Südvietnam geboren, schreibt Romane, Erzählungen und Kurzkrimis. 1977 kam sie als Bootsflüchtling mit ihrer Familie nach
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mesischen, in die sie hineingeboren wurde. Das transkulturelle Element spielt in der Selbstdefinition dieser Autoren sicherlich eine sehr große Rolle, während der nationale Charakter, den Literatur auch haben kann, für sie wenig ausgeprägt ist. Was verstehen Sie selbst unter Transkulturalität? Und unter transkultureller Literatur? Mein Begriff von Transkulturalität impliziert den Gedanken, nationales Denken oder nationale Eigendefinitionen zu überwinden. Ihn teilen vielleicht jene Autoren am stärksten, die sich in Deutschland als im Exil befindlich begreifen. Der irakische Autor Hussain al-Mozany sagte von sich, er sei ein irakischer Autor deutscher Sprache und befinde sich in Deutschland im Exil. Sicherlich spielt hier noch eine Form von Transnationalität in die Begriffsdefinition hinein. Es gibt aber auch genügend Autoren mit Migrationshintergrund der zweiten oder dritten Generation, wie etwa Selim Özdogan, Sohn türkischer Eltern, der nie woanders gelebt hat als in Köln und trotzdem für sich in Anspruch nehmen würde, transkulturell zu sein, weil er aus den kulturellen Traditionen seiner Eltern und Großeltern schöpft, ohne sie selbst erlebt zu haben, ebenso wie aus Erzählungen, Erzählformen und der Erzähltradition der Türkei. Oder Zsuzsa Bánk, deren Eltern aus Ungarn stammen, die Ungarn selbst aber nur von Ferienreisen im Sommer kennt. Nichtsdestotrotz sagte sie, dass sie ihre Kreativität und ihre literarischen Stoffe aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über Ungarn schöpft, ohne das Land und seine Kultur selbst erfahren zu haben. Dieses Element einer – ich nenne es mal: indirekten – Transkulturalität ist natürlich auch künstlerisch sehr spannend. Neben den biografischen Aspekten war dieses Moment für uns und auch für die Jury immer wichtig: Inwieweit ließ sich Transkulturalität in den Texten wiederfinden, wurde entweder zum direkten Thema gemacht, also in die Handlungen eingeflochten? Oder inwieweit war sie indirekt vorhanden, in der Sprache, zum Beispiel durch neue Wortschöpfungen? Auch deshalb haben wir 2012 die Definition des Preises und den Kreis möglicher Beiträger erweitert. Für die Schriftsteller der zweiten oder dritten Generation ist der Sprach- und Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistisch prägend, aber er ist auch zu einem selbstverständlichen Teil der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Auf diesen beiden Ebenen bewegen wir uns, wenn wir von Transkulturalität in der Literatur sprechen: auf der Ebene der (fremden) Sprache und ihrer (transkulturellen) Inhalte. Welchen Unterschied macht es, ob Autoren übersetzt werden, wie es für die sogenannte Weltliteratur kennzeichnend ist, oder ob sie über ihre eigene Kultur in deutscher Sprache Literatur schreiben? Auch da gibt es zwei Ebenen, eine thematische und eine ästhetische. Die inhaltliche Ebene besteht darin, dass der Autor in diesem Fall seine kulturelle Übersetzung, also den Transfer semantischer Bezugsysteme, selbst vornimmt, dass er seine eigenen kulturellen (Fremd-)Erfahrungen überführt in Literatur. Er zeichnet Figuren und schafft Handlungen, die nicht zugänglich oder begreif bar wären, wenn er sich nicht aus seinem kulturellen Erfahrungsschatz bedienen könnte, den andere Autoren und oft auch seine Leser in der Form nicht haben. Damit wird zugleich ein kulturelles gedankliches Erbe in die deutsche Gegenwartsliteratur überführt, Deutschland, wo sie Philosophie und Germanistik studierte und auch heute noch lebt. Sie erhielt 2007 den Chamisso-Preis (Luu 2006).
Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache?
das wir ohne diesen Einfluss nicht hätten. Das Schreiben dieser migrierten Autoren ist also letztlich eine Bereicherung der eigenen Kulturerfahrung des Lesers, möglicherweise seiner genuin deutschen Kulturerfahrung. Auf der sprachlichen und ästhetischen Ebene ist es ähnlich: Autoren, die Deutsch nicht als Erstsprache sprechen, sondern in diese Sprache eingewandert sind, sie also bewusst als ihre Literatursprache gewählt haben, gehen viel freier mit der Sprache um. Sie verfahren etwas weniger nach Schemata, sind sehr viel kreativer und leichtfüßiger und haben auch weniger Hemmungen, die Sprache ästhetisch zu verändern. In Texten von »Chamisso-Autoren« finden wir immer wieder Wortschöpfungen, die eine Bereicherung unserer genuin deutschen Kultur sein können; diese ästhetische Kreativität wird auch von der Jury gefeiert. Darauf kann man es vielleicht konzentrieren. Ist Literatur als Kunstform nicht per se eine kulturelle Übersetzung, nämlich von Welt? Wenn wir im Kontext des Chamisso-Preises bleiben, ist die Übersetzung klar daran festzumachen, dass wir sagen, unsere Autoren übersetzen kulturelle Erfahrungen in die deutsche Gegenwartskultur mittels der deutschen Sprache. Das ist es auch, was ich selbst am Chamisso-Preis am faszinierendsten finde, und was, wie ich glaube, auch eine breite Lesergruppe fasziniert: Es geht gar nicht um einen klärenden, sondern mehr um einen aufzeigenden Blick, zum Beispiel eines arabischstämmigen Autors, der seine kulturellen Erfahrungen deutschen Lesern zugänglich macht. Er schildert etwa, wie eine Gesellschaft, politisch oder sozial, in der arabischen Welt funktioniert. Er erklärt sie einem deutschen Publikum in deutscher Sprache und leistet eine Übertragung. Und diese Transferleistung aus der arabischen, der ungarischen, der russischen, mongolischen Kultur und so weiter in die deutsche ist sicherlich die wichtigste und bedeutendste Übersetzungsleistung dieser Autorengruppe. Das findet literarisch auch weiterhin statt. Nun hätte man für eine solche Übersetzungsleistung sicherlich auch Goethe den ChamissoPreis verleihen können, etwa für seinen West-östlichen Divan 4, oder Günter Grass aufgrund seiner literarischen Verarbeitung eigener Minderheitenerfahrung, etwa als Sohn einer Kaschubin. Sicherlich sind auch das große Übersetzungsleistungen, aber sie entsprechen nicht ganz der Grundidee des Preises.
4. L iter aturförderung als kulturelle B ildung Sie sprechen von der Grundidee des Preises. Die Robert Bosch Stiftung versteht den Bereich Kultur allgemein als Teil ihres gesellschaftlichen Auftrags. Wie ist die Literaturförderung hier genau verankert? Grundsätzlich muss man vielleicht vorab sagen, dass sich die Robert Bosch Stiftung nicht explizit als Literatur- oder Kulturstiftung versteht. Kulturförderung wird als Instrument verstanden, um die großen Förderthemen der Stiftung – Völkerverständigung, Bildung, Jugend – voranzutreiben, wie sie im Testament von Robert Bosch niedergelegt und auch in unserem Leitbild festgeschrieben sind. Kultur wird als Türöffner für die großen Schwerpunktthemen angesehen. Am Beispiel der internationalen Völkerverständigung kann man das am deutlichsten 4 | In seiner umfänglichsten Gedichtsammlung nimmt Goethe auf die Werke des persischen Dichters Hafis Bezug (Goethe 1819).
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erkennen: Wir versuchen mit unserer Programmarbeit Regionen zu erschließen, neue, schwierigere Regionen, die man mit klassischen Austauschprogrammen, politischen Programmen nicht sofort erreichen kann, aber vielleicht mithilfe der Kultur. Dafür setzen wir Kultur als Instrument ein. Wir fördern also nicht l’art pour l’art, wie dies vielleicht andere Institute oder Stiftungen tun, auch wenn manchmal dieser Eindruck entsteht, etwa wenn Förderinstrumente wie der Chamisso-Preis lange laufen und so bekannt werden wie er. Wir fördern mit diesem Preis herausragende Werke deutscher Gegenwartsliteratur, aber mit einem anderen Fokus, nämlich dem auf die gesellschaftliche Wirkung. Was bedeutet das: Inwiefern ist der Autor ein Mensch mit gesellschaftlicher Wirkung? Der Autor als gesellschaftlicher Akteur ist aus unserer Perspektive ein zentraler Ansatz. Vor der Einführung des Preises fragten sich die damaligen Kollegen: Wie können wir durch die Literatur gesellschaftlich verändernd wirken? Es ging schon damals nicht um reine Literaturförderung. Sie spielte natürlich eine Rolle, denn unsere Jurys waren – in den verschiedensten Zusammensetzungen – sehr motiviert, herausragende Beispiele deutscher Gegenwartsliteratur mit dem Preis auszuzeichnen. Während die Jury ihre Auswahl also nach ästhetischen Kriterien traf, brachten wir als Stiftung den gesellschaftlichen Aspekt ein: Wir versuchten zu schauen, welche Rollen die Schriftsteller in der Gesellschaft übernehmen könnten. Ich kann Autoren verstehen, die sagen, sie wollen diese Rolle nicht, sie seien Literaten. Aber ich glaube, dass wir als Mitglieder dieser Gesellschaft – und das gilt auch für Künstler – diese Rolle haben, ob wir sie wollen oder nicht. Davon abgesehen gibt es viele Autoren, die sie ganz bewusst eingehen, wie etwa der schon genannte José Oliver, die mit großer Freude dazu bereit sind, beispielsweise Schreibwerkstätten für Schulen durchzuführen. Wir akzeptieren natürlich jeden Autor, der sagt, da sieht er seine Aufgabe nicht. Für uns aber ist es das zentrale Element aller unserer Förderungen. Wo haben die Preisträger in die Gesellschaft hineingewirkt und sie vielleicht verändert? Aus unserer Sicht auch durch das Begleitprogramm des Preises. Die Autoren sind als Literaturvermittler auf Lesungen oder in Schreibwerkstätten in Schulen, Bibliotheken und Kultureinrichtungen unterwegs und übernehmen in gewisser Weise eine Vorbildfunktion. Dadurch, dass wir mit der »Chamisso-Begleitförderung« explizit an Schulen gegangen sind, dort Schreibwerkstätten und Lesungen durchgeführt haben, zeigten wir den Klassen, die ja ebenso heterogen besetzt waren: Ihr seid nicht anders als der Rest der Gesellschaft. Die Schüler sahen: Hier ist jemand, der eine ähnliche Geschichte hat, der vielleicht aus der gleichen Region kommt wie die Eltern oder man selbst, der es geschafft hat und der für seine Sprache sogar noch Preise bekommt. Das ist etwas, was wir nie direkt forciert haben, was aber indirekt eine wichtige Rolle spielte. Möglicherweise war es eine der Motivationen, einer der Gründe, warum Schulen in den vergangenen 15 bis 20 Jahren verstärkt auf uns zugekommen sind und Autoren mit eigener Migrationsgeschichte zu sich einladen wollten, zu Schreibwerkstätten und zu Lesungen mit ihren Schülern.
Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache?
Gab es auch Schwierigkeiten bei der Präsentation der »Chamisso-Autoren« im Literaturbetrieb? Nun ja, es war natürlich immer auch ein Balanceakt, um nicht ins Folkloristische oder ins Esoterische zu kippen, vor allem bei Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern. Autoren wie Galsan Tschinag5 aus der Mongolei beispielsweise, der 1992 den Chamisso-Preis bekam, sind einer begrenzten Gruppe von Lesern bekannt, die seinem Schamanentum zugetan ist; von ihnen wurde er im exotischen-esoterischen Bereich wahrgenommen und verehrt. Dem restlichen Publikum blieb er oft suspekt, obwohl diese Sicht diesem Autor natürlich nicht gerecht wurde. Diesen Drahtseilakt hinzubekommen, zu schauen, dass die Autoren nicht nur in der Exotenecke landen, sondern dass sie als Bestandteil der Gegenwartsliteratur wahrgenommen werden, das war nicht leicht. Hinzu kam, dass einige Autoren, ähnlich wie Adelbert von Chamisso zu seiner Zeit auch, mit Akzent sprechen, wenn sie ihre Texte vorlesen, was die Akzeptanz manchmal ebenfalls erschwert hat. Die schlimmste aller Fragen für unsere Chamisso-Preisträger war in diesem Kontext eine Art positive Diskriminierung: »Wo haben Sie denn so schön Deutsch gelernt?« oder: »Sie sprechen ja so schön Deutsch.« Also das ist das Fatalste, was sie hören konnten und wollten. Aber das passierte ihnen natürlich permanent. Hier eine Form von Präsentation, von Zugänglichkeit und Selbstverständlichkeit zu erzielen, war ein langer Weg. Da haben die Buchhandlungen sicherlich eine wichtige Rolle gespielt.
5. Z ur Z ukunf t der L iter aturförderung Der Chamisso-Preis wird 2017 zum letzten Mal verliehen. Dafür gab es auch Kritik. Glauben Sie, dass das Ziel des Preises erreicht ist, deutschsprachige Autoren aus anderen Kulturen zu fördern? Nach über 30 Jahren kamen wir an einen Punkt, an dem wir uns fragten: Brauchen wir noch eine gesonderte Auszeichnung? Auch von den Autoren bekamen wir das gespiegelt. Sie fragten: Sind wir nicht mittlerweile ein integraler, selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft und auch der deutschen Gegenwartsliteratur? Ein Autor wie Feridun Zaimoglu sagt ganz klar von sich selbst – und zu Recht –, dass er ein deutscher Autor sei und keiner, der über einen wie auch immer gearteten türkischen Migrationshintergrund verfüge, nur weil er zufällig als Einjähriger die Türkei miterlebt hat. Nichtsdestotrotz blieb für uns lange Zeit das Element der kulturellen Auseinandersetzung als Inhalt dieser Literatur ein wichtiges Förderkriterium. Wir waren bereit zu sagen, dass diese kulturelle Erfahrung – sei sie durch die Familie oder durch die eigene Geschichte vermittelt – die Literatur dieser Autoren prägt und haben den Preis einige Jahre länger laufen lassen als ursprünglich geplant. Aber auch das sehen wir inzwischen nicht mehr so. Ein Großteil der Autoren, der eine wie auch immer geartete Migrationsgeschichte hat, lebt in der zweiten oder dritten Generation hier und kann heute jeden anderen Literaturpreis gewinnen. Wenn man sich die Shortlist des Deutschen Buchpreises anschaut, sind 5 | Galsan Tschinag, 1944 in Bajan-Ölgii-Aimag, Mongolei, geboren, studierte von 1962 bis 1968 Germanistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Er schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen. In seiner Heimat wirkt er auch als Schamane (vgl. Tschinag 2013: 127-155).
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viele der dort aufgeführten Autoren potenzielle oder ehemalige Chamisso-Preisträger. Auch die Wahrnehmung des Publikums ist in den vergangenen 30 Jahren eine ganz andere geworden: Eine Terézia Mora, ein Rafik Schami oder ein Feridun Zaimoglu werden ebenso selbstverständlich gelesen wie Autoren mit deutschen Namen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Motivation der 1980erJahre für den Preis nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, im Gegenteil: Sie könnte als positive Diskriminierung verstanden werden. Wir möchten also keine Autoren mehr auszeichnen, von denen wir meinen, sie seien besonders schutzbedürftig, weil wir glauben, dass es nicht mehr notwendig ist. Natürlich wurde auch das Argument geäußert, dass es noch viele Autoren gebe, die dieses Schutzes oder dieser besonderen Förderung bedürften. Und sicherlich gibt es Autorengruppen, etwa die Lyriker, die insgesamt einen etwas schwereren Zugang zum Markt haben; Lyriker mit Migrationsgeschichte und nicht deutschklingenden Namen haben es vielleicht noch schwerer. Trotzdem glauben wir, dass die Zeiten vorbei sind, Autoren fremder Kulturen auf eine Bühne zu stellen und sie als Autoren zu kennzeichnen, die anders sind. Gibt es also neue (gesellschaftliche) Herausforderungen für die Literaturförderung? Wir haben – und deswegen ist die Überschrift »Ziel erreicht« vielleicht etwas zu plakativ – natürlich neue Aufgaben und Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Wir haben zum Beispiel neue Einwanderungsgruppen, die als Flüchtlinge zu uns kommen; welche Autorengruppen, welche kreativen Kräfte sich dort freisetzen werden, das werden wir in den nächsten Jahren erleben. Wir glauben, dass wir neue Instrumente finden müssen, um diese zukünftigen neuen Autorengenerationen zu fördern und sie, ähnlich wie die Chamisso-Preisträger, irgendwann einmal in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Das ist es auch, was wir uns selbst als Aufgabe für die kommenden zwei, drei Jahre gestellt haben: neue Instrumente zu entwickeln, um diese neuen gesellschaftlichen Herausforderungen, mit neuen Gruppen in unserer Gesellschaft zu arbeiten, gut annehmen zu können. Wir arbeiten schon jetzt an einem neuen Förderprogramm, das es geben soll, und wir werden auch unsere Literaturvermittlung an das neue Programm anpassen; an den Bedarf, der uns kommuniziert wird.
L iter atur Primärquellen Dätsch, Christiane (2016): Interview mit Frank W. Albers, Senior Projektmanager im Programmbereich »Gesellschaft« der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart, am 01.12.2016 in der Robert Bosch Stiftung Stuttgart (Tonband). N. N. (2016): Die Preisträger von 2003-2016. In: Chamisso. Viele Kulturen – eine Sprache. Hg. von der Robert Bosch Stiftung, Nr. 15, Oktober, S. 28-29.
Der Chamisso-Preis: Viele Kulturen – eine Sprache?
Sekundärliteratur Bachmann-Medick, Doris (1996): Einleitung. In: Bachmann-Medick, Doris (Hg.) (1996): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M., S. 7-64. Biondi, Franco (1979): Nicht nur gastarbeiterdeutsch. Gedichte, Klein Winternheim. Börsenverein des deutschen Buchhandels e.V. (Hg.) (2016): Buch und Buchhandel in Zahlen 2016 (für 2015), Frankfurt a.M. In: www.buchmesse.de/images/ f bm/dokumente-ua-pdfs/2016/buchmarkt_deutschland_2016_dt.pdf_58507. pdf (26.04.2017). Goethe, Johann Wolfgang von (1819): West-östlicher Diwan, Erstausgabe, Stuttgart. Heinrichs, Werner (2006): Der Kulturbetrieb. Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film, Bielefeld. Kämmerlings, Richard (2016): Man sollte uns zwingen, den Flüchtlingen zuzuhören. In: Die Welt online, 08.02.2016. https://www.welt.de/kultur/literarische welt/article151957006/Man-sollte-uns-zwingen-den-Fluechtlingen-zuzuhoe ren.html (26.04.2017). Luu, Que Du (2006): Totalschaden, Roman, Leipzig. Trojanow, Ilija/José F.A. Oliver (2016): Ade, Chamisso-Preis? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online, 21.09.2016. www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso-preis-14443175.html (25.04.2016). Tschinag, Galsan (2013): Erinnerung an Pürwü und den Gesang der Geister. In: Aitmatow, Tschingis u.a. (2013): Die Kraft der Schamanen, Zürich, S. 127-155.
Andere Quellen Nr. 1: www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/70274.asp (26.04.2017).
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Kulturelle Übersetzung in der Bibliothek Gespräch mit Dr. Jan-Pieter Barbian und Yilmaz Holtz-Ersahin, Duisburg Christiane Dätsch
1. B ibliotheken : O rte der Ü berse t zung Bibliotheken sind der Geschichte nach die ältesten Orte der Bildung und des kulturellen Erbes – sofern man in der Bibliothek von Alexandria im 3. Jahrhundert v. Chr. ihren Anfang sieht. Wurde das Wissen dort in einem großen Schriftrollenbestand auf bewahrt, sind Bibliotheken heute mit einer Vielzahl unterschiedlicher Medien konfrontiert, auf die das kulturelle Gedächtnis ausgelagert wird: Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Noten, CDs, DVDs oder Blue-Rays. Längst spricht man nicht mehr vom gedruckten Buch als zentraler Bibliothekseinheit, sondern vom Text. Im heutigen Bibliothekswesen machen die Öffentlichen Bibliotheken den größten Anteil aus (Andere Quellen: Nr. 1). Sie sind es auch, die breiten Gesellschaftsschichten kostenlos oder zu geringen Gebühren den Zugang zu Bildungsangeboten vermitteln. Bibliotheken, so die Vorstellung, ermöglichen auch die Teilnahme am kulturellen Leben und an gesellschaftlichen Diskursen.1 Dies gilt selbst dann, wenn die deutsche Sprache nicht mehr automatisch zugrunde gelegt werden kann. Deutsche Bibliotheken stellen zahlreiche fremdsprachige Medien bereit, um durch Mehrsprachigkeit »wichtige Beiträge zur Integration von Zuwanderern in Staat und Kommunen« zu leisten (Andere Quellen: Nr. 1). Damit reagieren sie auf eine gesellschaftliche Realität: Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes hatten im Jahr 2016 rund 18,6 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund (Andere Quellen: Nr. 2). Die Vielfalt der (Mutter-, Zweit- oder gar Dritt-)Sprachen und Kulturen ist dementsprechend groß. Seit Deutschland das im Jahr 2005 verabschiedete UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen unterzeichnet hat, gibt es für öffentliche Kultur- und Bildungseinrichtungen zudem den expliziten politischen Auftrag, sich fremden Kulturen zu öffnen (Andere Quellen: Nr. 3). Die Bibliotheken reagierten als eine der ersten Kultur- und Bildungsein1 | Laut Deutscher Bibliotheksstatistik gab es im Jahr 2015 insgesamt 7877 Bibliotheken, davon 7623 öffentliche und 254 wissenschaftliche Bibliotheken. Ihr Bestand betrug 2015 insgesamt 375 Millionen Medien (HBZ 2016).
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richtungen auf das Abkommen und setzten die Konvention um. Der Dachverband der Institutionen- und Personalverbände des Bibliothekswesens »Bibliothek & Information Deutschland« (BID) verabschiedete im Jahr 2007 eine Stellungnahme und konkretisierte das UNESCO-Abkommen für die Bibliotheksarbeit. Er kündigte unter anderem die Sensibilisierung der Mitarbeiter durch Weiterbildung an, die vermehrte Einstellung von Bibliotheksmitarbeitern mit Migrationshintergrund oder mit Kenntnis »seltener Fremdsprachen« (BID 2007), die Einrichtung zentraler Beratungsstellen und die Anpassung der Medienbestände auf ausländische Mitbürger. Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) gründete eine Fachgruppe für interkulturelle Bibliotheksarbeit (Andere Quellen: Nr. 4); zugleich entwarfen immer mehr einzelne Bibliotheken, oft in städtischer Trägerschaft, konkrete und verbindliche Leitfäden für ihre eigene »interkulturelle Bibliotheksarbeit«.2 Nahmen die Bibliotheken bei der Umsetzung der UNESCO-Konvention unter den Kultur- und Bildungseinrichtungen also in gewisser Weise eine Vorreiterrolle ein, ist es unter den Öffentlichen Bibliotheken wiederum die Stadtbibliothek Duisburg, die als Pionier bezeichnet werden kann. Denn lange bevor die internationale Politik an gemeinsame Richtlinien dachte, wurde hier die erste Interkulturelle Bibliothek Deutschlands gegründet: Schon 1974 reagierte die Bibliothek auf den wachsenden Anteil von Migranten aus europäischen und außereuropäischen Ländern an der Duisburger Gesamtbevölkerung und begann mit dem Auf bau eines Bestands fremdsprachiger Literatur. Von 1974 bis 1977 folgte, als ein vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ermöglichtes Modellprojekt, der Einsatz eines Bücherbusses, der mehrere tausend Medien in türkischer, italienischer, spanischer, portugiesischer, griechischer, serbokroatischer und polnischer Sprache in die Vororte brachte, um den sogenannten Gastarbeitern die Literatur in ihren Heimatsprachen nahezubringen und die Kommunikation mit ihnen zu fördern. Im selben Jahr, 1974, entstand in den Räumen der Zentralbibliothek die sogenannte Türkische Bibliothek, die mit aktuell über 7.000 Medien bis heute zu den größten in Deutschland zählt (vgl. Barbian 2017: 171-188; Barbian 2014). Rund 37 Jahre später, im Jahr 2011, wurde mit der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek eine weitere mehrsprachige Einrichtung in der Duisburger Zentralbibliothek und in den zugehörigen Stadtteilbibliotheken geschaffen; noch im selben Jahr wurde die Einrichtung als eine von 50 hervorzuhebenden Projekten, Initiativen und Maßnahmen ins Online-Kaleidoskop der UNESCO-Konvention aufgenommen (vgl. HolzErsahin 2016: 111-117). Mit ihrem Rahmenprogramm aus literarischen Lesungen, Führungen und dem »Café Deutsch« für Erwachsene und Kinder verlängert die Bibliothek den Bildungsansatz in die Kulturarbeit hinein (Andere Quellen: Nr. 5). Duisburg, die kreisfreie Großstadt an der Mündung der Ruhr in den Rhein, entspricht mit ihrem ausländischen Gesamtbevölkerungsanteil dem bundesdeutschen Durchschnitt: In der rund 500.000 Menschen zählenden Stadt hatten Ende des 2 | Der Begriff der Interkulturalität, meist in Abgrenzung zur Multikulturalität, ist unter Bibliotheken weit mehr verbreitet als jener der Transkulturalität. So schreibt etwa die Stadtbücherei Stuttgart in ihren Leitlinien zur interkulturellen Bibliotheksarbeit: »Die kulturelle Vielfalt der verschiedenen Milieus wird respektiert und für die gemeinsamen Ziele nutzbar gemacht. Das ist zugleich die Absage an ein unverbindliches Nebeneinander der Kulturen (Multikulturalismus), aber auch an die Stigmatisierung der Migranten als kulturelle Fremde, die sich zu assimilieren haben.« (Stadtbücherei Stuttgart 2010)
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Jahres 2016 rund 20,8 % der Einwohner einen fremden Pass (Kronen/Richter 2017) aus mittlerweile rund 150 Nationen. Nach Angaben der Stadtbibliothek Duisburg beträgt der migrantische Anteil an der Gesamtbevölkerung inzwischen 32,7 %, womit er deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt; mit einem Anteil von rund 25 % sind Menschen mit türkischen Wurzeln am häufigsten unter den Migranten vertreten (Andere Quellen: Nr. 5). Der 44-jährige Historiker Yilmaz Holtz-Ersahin, der seit 2008 die Interkulturelle Bibliothek leitet, kam zum Studium aus der Türkei nach Deutschland, wo er seine Liebe für Bibliotheken als Orte des Wissens und der (Trans-)Kultur entdeckte, wie er selbst sagt. Er sieht große Chancen, mithilfe des Mediums Buch, aber auch des kulturellen Begleitprogramms eine Neugier auf die Bibliothek als deutsche Kultur- und Bildungsinstitution zu wecken. In Duisburg fungiert er als Mittler für die zahlreichen Klienten der interkulturellen Bibliothek und auch für seine Kollegen. Sein Chef, der Germanist, Philosoph und Historiker Dr. Jan-Pieter Barbian, der seit 1999 die Stadtbibliothek leitet, unterstützt die interkulturelle Bibliotheksarbeit nach Kräften. Doch zeigt er sich, was deren Möglichkeiten betrifft, etwas skeptischer. Er hat die sogenannte »Parallelgesellschaft« in Duisburg und Umgebung vor Augen, wenn er anmerkt: »Wir erreichen nur einen geringen Prozentsatz von Migranten.« Eine Frage steht im Raum: Sind Bibliotheken Institutionen, die sich andere Kultureinrichtungen zum Vorbild nehmen könnten, wenn es um kulturelle Übersetzung oder um »dritte Räume« der Begegnung geht? Beide Interviewpartner reagieren auf diese Frage unterschiedlich. Der Kulturwissenschaftler Holtz-Ersahin sieht die transkulturellen Stärken der Bibliotheksarbeit und attestiert ihr große Strahlkraft. Bibliothekdirektor Barbian hat als Manager der Institution mehr ihre politischen Implikationen im Blick. Dass es nach wie vor viel Trennendes gibt, vor allem in der Gesellschaft, lasse sich nicht leugnen, glaubt er.
2. I ntervie w : D ie A nfänge der I nterkulturellen B ibliothek Lieber Herr Holtz-Ersahin, in den 1970er-Jahren nahm die Interkulturelle Bibliothek ihre Anfänge. Warum war es so schwierig für Migranten, einfach selbst in die Bibliothek hineinzugehen? Im Zuge der ersten Anwerbeabkommen sind viele Menschen aus ländlichen Gebieten nach Deutschland gekommen, die große Probleme hatten, sich in einer Schriftkultur zurechtzufinden. Sie kamen aus Kulturräumen mit einer starken mündlichen Tradierung – orientalische Länder sind Erzählkulturen. In Duisburg hat man schnell verstanden, dass man den Menschen vermitteln muss, dass in der deutschen Gesellschaft wesentliche Informationen nicht mündlich, sondern schriftlich weitergegeben werden, dass also gelesen werden muss. Informationen verbreiten sich über Zeitungen, Bücher und Verträge, Schriftstücke also, die individuelle Lektüre erfordern. Diese individuelle Lektüre wollte man unterstützen, durch den Kontakt mit Büchern. Daher hat Duisburg in den 1970er-Jahren zusammen mit dem Deutschen Bibliotheksinstitut in Berlin und dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Bonn das Modellprojekt des Bücherbusses durchgeführt. Man fuhr vor die Zechen, wo die Menschen gearbeitet haben, und in die Stadtteile, in denen sie lebten. Später ist dann aus der fahrbaren Bibliothek ein fester Standort geworden, die heutige Türkische Bibliothek.
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Warum verlagerte sich schon wenige Jahre später der Fokus auf Migranten türkischer Herkunft? Zum einen gab es dafür pragmatische Gründe, weil sich zeigte, dass die größte Gruppe der Migranten aus der Türkei stammte und man sich auf sie konzentrieren wollte. Zum anderen muss man etwas über die Struktur der Migration aus der Türkei wissen. Aus der Türkei kamen in den 1970er-Jahren zwar viele Gastarbeiter, aber auch Intellektuelle nach Deutschland, die in dieser Zeit und noch in den 1980er-Jahrem während der Militärputsche politischen Verfolgungen oder Repressionen ausgesetzt waren. Hier, in Deutschland, sahen sie: Unsere Landsleute können ja gar nicht lesen, wir müssen ihnen helfen, es zu lernen. Sie waren die ersten Brückenbauer, da sie in der Lage waren, zwischen den deutschen Institutionen und den Gastarbeitern zu vermitteln. In Duisburg war das beispielweise der Lehrer und Schriftsteller Fakir Baykurt. Er wurde in der Türkei verfolgt, verhaftet und kam deshalb 1979 nach Duisburg. Die Stadt Duisburg verleiht seit 2014 einen Kulturpreis, der seinen Namen trägt.3 Welche Aufgabe übernahm die Bibliothek in diesem Kontext von Schriftkultur und Sozialisierung? Die Alphabetisierung selbst konnte die Bibliothek natürlich nicht leisten, das war eher die Aufgabe von Schulen oder Volkshochschulen. Es ging aber darum, Migranten zum Lesen zu animieren. Und dass in einer Bibliothek nützliche Informationen vorhanden waren – über das Gastland, aber auch über die eigene Kultur –, das wussten die Gastarbeiter schon. Wenn es in der Bibliothek zum Beispiel eine kulturelle Veranstaltung gab, die kostenlos war und die sie interessierte, dann kamen sie. Es waren in der ersten Generation vor allem die Frauen und die Kinder; die Männer haben nur gearbeitet. Das ist heute übrigens immer noch oft der Fall. Im Grunde genommen ging und geht es bei der interkulturellen Bibliotheksarbeit sehr viel um die Arbeit mit Eltern, meist den Müttern, und mit Kindern. Aber auch die Lesungen im Erwachsenenprogramm sind ein ganz wichtiger Bestandteil der bibliothekarischen Kulturarbeit. Die Autoren, die wir zu Lesungen einladen, sind für viele Vorbilder. Ihre Literatur über Deutschland oder über die Herkunftsländer ermöglicht den Austausch über aktuelle Geschehnisse und vermittelt Perspektiven auf diese Geschehnisse. Viele Migranten sind ja politisiert, und das hat einen ganz einfachen Grund: Wenn man als Migrant in eine andere Welt geht, muss man wissen, was in der Welt los ist, vor allem, was in der alten und was in der neuen Heimat passiert. Man ist also per se politisiert. Unter Migranten gibt es so etwas wie Politikverdrossenheit nicht.
3 | Die Stadt Duisburg vergibt zur Erinnerung an den 1999 gestorbenen Schriftsteller Fakir Baykurt zweijährlich den mit 2500 Euro dotierten Fakir Baykurt Kulturpreis an Duisburger Kulturschaffende, die eine »herausragende kulturelle Leistung im Bereich des interkulturellen Dialogs gezeigt und sich um die positive Gestaltung des Miteinanders der Nationen in unterschiedlichen Kulturbereichen verdient gemacht haben« (Andere Quellen: Nr. 6). Prämiert werden Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Film und Video, Fotografie, Literatur, Musik, Tanz, Theater, soziokulturelle und multikulturelle Projekte.
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3. B ibliothek und K ulturbegriff Lieber Herr Barbian, warum haben es Bibliotheken im Vergleich zu anderen Kultureinrichtungen schneller und früher geschafft, auf die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt einzugehen? Das ging deshalb, weil Bibliotheken, selbst wenn sie in einer Stadt verankert sind, immer international operierende Einrichtungen sind. Es gibt ja nicht nur den Deutschen Bibliotheksverband, sondern auch die IFLA; das ist der Dachverband aller Bibliotheksverbände in der Welt.4 Insgesamt herrscht ein reger Austausch sowohl innerhalb Europas als auch mit den USA oder mit Asien, der im Übrigen vom Goethe-Institut gefördert wird, das eine wichtige Rolle spielt. Diese Internationalität der Bibliotheken ist eine Grundvoraussetzung, dass der Blick von vorneherein geweitet ist; er richtet sich also nicht nur auf die Stadt, die Region, auf Deutschland, auch nicht nur auf Europa, sondern geht weit über die Grenzen hinaus. Und die Grundstruktur von Bibliotheken ist letztendlich weltweit die gleiche. Es geht darum, Medien und Informationen bereitzustellen und Menschen die Kommunikation miteinander zu ermöglichen. Die Bibliothek als Wissens- und Kommunikationsort ist somit heute weltweit eingeführt. Wenn Sie die Bibliothek einem Kulturbegriff zuordnen müssten: Würden Sie sagen, die Bibliothek vertritt einen dynamischeren, offeneren Kulturbegriff als viele Einrichtungen der Hochkultur? Das ganz bestimmt. Wobei es einerseits einen großen Unterschied macht, ob ich ein Bild betrachte oder eine Skulptur oder ob ich einen Text lese. Das ist schon eine andere Form der Beschäftigung mit einem Inhalt. Andererseits ist es natürlich auch richtig, dass diese Öffnung der Bibliotheken stattgefunden hat, dass sie Kommunikationsorte geworden sind. Ich glaube, dass auch das ein ganz entscheidender Faktor ist: Natürlich gibt es auch in Museen Vortragsveranstaltungen, teilweise auch Lesungen und Führungen. Aber dieses diskursive Element ist in der Bibliothek viel stärker vorhanden, kurioserweise, obwohl Lesen ja ein individueller Akt ist. Aber wenn Sie sich hier die Bibliothek ansehen, dann sehen Sie, dass wir sie bewusst so gestaltet haben, dass man sich hier treffen kann. Und das Schöne ist, dass es auch tatsächlich stattfindet. Innerhalb der Städte gibt es heute kaum noch Orte, an denen Sie sich aufhalten können, ohne konsumieren zu müssen – bei uns schon. Sie können unser Café nutzen, Sie müssen es aber nicht. Sie können etwas ausleihen, Sie müssen es aber nicht. Sie können hier in Ruhe Zeitung lesen, sich mit anderen treffen und als Schüler beispielsweise Hausarbeiten durchsprechen oder Referate vorbereiten. Sie können das alleine tun oder gemeinsam mit anderen. Wir haben hier Eltern, die mit ihren Kindern kommen, oder sonstige Verwandte. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man diese Bibliothek letztendlich gut für sich nutzen kann, und diese Offenheit, denke ich mir, ist ein entscheidender Vorteil gegenüber Museen, die immer noch etwas – ich will nicht sagen – Sakrales haben, aber etwas, weswegen man nicht ohne Weiteres den Weg über ihre Schwelle findet. Vielleicht ist aufgrund dieser Struktur als Kommunikationsort auch der Begriff der Soziokultur für Bibliotheken angebrachter. 4 | The International Federation of Library Associations and Institutions (Andere Quellen: Nr. 7).
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Mit dem Begriff der Soziokultur tun sich Bibliotheken offenbar leichter als andere Kultureinrichtungen? Vermutlich. Aber es ist auch wichtig zu betonen, dass Bibliotheken niedrigschwellige Angebote haben. Auch deshalb würde ich Bibliotheken nicht primär in der Hochkultur verorten, selbst wenn sie hochkarätige Lesungen anbieten und berühmte Autoren zu Gast haben. Das primäre Ziel der meisten Stadtbibliotheken ist darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen zum Lesen und zur Bildung zu animieren, und wir schaffen das auch tatsächlich. Selbst wenn wir nur fünf bis zehn Prozent einer Stadtbevölkerung erreichen, ist das mehr als bei jedem Museum oder Theater, in das man vielleicht nicht so ohne Weiteres hineingehen würde, wenn man keine entsprechenden Vorkenntnisse hat. Um beispielsweise hier in Duisburg das Lehmbruck-Museum aufzusuchen, ein wunderbares Kunstmuseum, erfordert es ja doch bestimmter Vorkenntnisse, die man haben muss, ansonsten kann man mit vielem, was man dort sieht, überhaupt nichts anfangen. Das ist natürlich bei einer Bibliothek ganz anders; da können Sie einfach eintreten. Sind Bibliotheken Orte, an denen auch kulturelle Teilhabe besser praktiziert werden kann? Ich denke, auch das ist strukturell begründet. Ein Museum wird immer das anschaffen, was dem Zeitgeschmack entspricht, was für ästhetisch wertvoll erachtet wird. Wir orientieren uns an den Bedürfnissen der Menschen, die zu uns kommen – auch da liegt ein Unterschied. Natürlich treffen auch wir eine qualitative Auswahl; bei jährlich 90.000 Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt müssen wir ja eine Auswahl treffen. Aber wir tun das in Abstimmung mit unseren Kundinnen und Kunden, und zwar auf doppelte Art und Weise. Wir haben eine Statistik, aus der hervorgeht, wie oft ein Medium genutzt wird. Es gibt zum Beispiel eine sogenannte »Nietenliste«. Sie erfasst Bücher, die wir bestellt haben, weil wir davon ausgingen, dass sie ausgeliehen werden, die dann aber faktisch nicht genutzt werden; sie werden aus dem Bestand genommen. Und dann haben wir »Wunschbücher«, in die man hineinschreiben kann, welche Bücher fehlen und welche man gerne im Bestand hätte. Diese schaffen wir dann auch an. Es ist ein interaktives Moment, wie dieser Bestand wächst, wie er aufgebaut und gepflegt wird im Laufe der Zeit – dabei spielen die Kundinnen und Kunden eine sehr große Rolle.
4. D ie B estände : Ü berse t z te L iter aturen Lieber Herr Holtz-Ersahin, wie ist die Interkulturelle Bibliothek aufgebaut? Welche Rolle spielen Sprache, Mehrsprachigkeit und Übersetzung für die Bestände? Mehrsprachigkeit und Übersetzung spielen eine große Rolle. Wir haben eine ziemlich lange Tradition bei der interkulturellen Bibliotheksarbeit, die ich heute fast schon als transkulturelle Bibliotheksarbeit bezeichnen würde. Warum würde ich das? Weil man beim Bestandsauf bau sehr viel Wert darauf gelegt hat, dass es sich bei der mehrsprachigen Literatur um übersetzte Literatur, also um Belletristik, handelt. Deutsche Literatur sollte auf Türkisch und türkische Literatur auf Deutsch zur Verfügung stehen, kroatische Literatur auf Deutsch, deutsche Literatur auf Kroatisch und so weiter. Auf diese Weise sollten Migranten die Möglichkeit haben, sowohl in ihrer Muttersprache eine Beziehung zur deutschen Literatur auf-
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zubauen, die ja auch kulturelle Erfahrungen vermittelt, als auch die Literatur ihrer Herkunftsländer auf Deutsch zu lesen. Dieses Prinzip gilt auch heute noch. Die Literatur erzählt einem Migranten dann oft mehr, als ihm die Menschen erzählen würden, selbst wenn sie seine Nachbarn sind. Zum Beispiel kann es passieren, dass Migranten hierherkommen und Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel auf Arabisch lesen wollen: Al-Tabl al-safih (Abb. 1). Manche Migranten und Geflüchtete lernen in der Interkulturellen Bibliothek aber auch erst ihre eigene Literatur kennen, denn viele sogenannte linksintellektuelle Autoren stehen in ihren Heimatländern nicht frei zur Verfügung. Zum Beispiel ist Rafik Schami in Syrien verboten. Nun kommt ein Syrer nach Duisburg, findet bei uns Schamis Bücher auf Arabisch und liest sie zum ersten Mal in seinem Leben; das ist eine interessante Begegnung mit seiner eigenen Kultur und seiner eigenen Sprache, die so nur in der Diaspora möglich ist. Auf diese Weise sorgt die Interkulturelle Bibliothek für eine literarische, aber auch eine gesellschaftliche Reflexion und Sozialisation.
Abb. 1: Yilmaz Holtz-Ersahin in der Interkulturellen Bibliothek. Foto: Stadtbibliothek Duisburg/Krischer Fotografie
Zur Interkulturellen Bibliothek gehört seit 2011 die Internationale Kinderbibliothek: Welche Rolle spielen Kinderbücher für die Sozialisierung – und warum bieten Sie Bücher in rund 30 Sprachen an? Kinderliteratur ist für viele nichtwestliche Kulturen etwas Neues. In den meisten orientalischen Kulturen gibt es keine Kinderbücher; Märchen werden nur mündlich erzählt. Aber ein Kinderbuch mit Bildern und Illustrationen? Das kennen viele Kulturen nicht. Für europäische Kulturen hingegen ist es normal. Um das zu vermitteln, gibt es die Internationale Kinderbibliothek. Kinder brauchen nicht nur Wörter, sondern auch Bilder und Farben, um zu begreifen; das bringt sie kognitiv weiter. Die Zeichnungen in den Kinderbüchern sind europäisch, weil sie eben in der Tradition der europäischen Kinderbücher stehen, aber geschrieben sind die Bücher in der Muttersprache der Kinder. Daher sind sie gleich in mehrfacher Hinsicht Instrumente der sprachlichen und kulturellen Übersetzung. Die erzählten Geschichten sind oft Kinderbuchklassiker, die eine europäische Umwelt beschreiben. Sie werden in die Muttersprachen der Kinder übersetzt. Beim Übersetzen der
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Geschichten in diese Sprachen hat man gemerkt, dass gar nicht alles übersetzt werden kann, was erzählt wird – es fehlt der Wortschatz. Nehmen wir als Beispiel ein Kind, das aus einem trockenen afrikanischen Land, in dem es nur Wüste gibt, nach Deutschland kommt. Es sieht in einem Bilderbuch nun eine Schnecke. In seiner Muttersprache gibt es aber gar keine Bezeichnung für »Schnecke«, weil es in der Wüste eben keine Schnecken gibt. Im Kinderbuch wird das so gelöst, dass das Kind die Abbildung des Tieres sieht, darunter das deutsche Wort »Schnecke« und den Zusatz: »In Oromo the word does not exist.« Die Kinder lernen das deutsche Wort nun mithilfe der Bilder und können sich so einen Wortschatz auf bauen. Zugleich lernen sie durch die Geschichten aus dem Ankunftsland, dass es eben Unterschiede in den Sprachen gibt. Natürlich ist das nicht nur für Migrantenkinder wichtig, sondern für alle Kinder, aber für sie explizit. Diese Bilderbücher sind also die ersten Vermittler der Umgebung durch Sprache und Bilder, teilweise sind sie es auch für die Eltern und die ganze Familie. Würden Sie sagen, die Bibliothek hält nicht nur Texte bereit, die Literatur und Kultur übersetzen – sie ist auch selbst ein Ort der Übersetzung, ein »Dritter Raum«? Ja, und ich kann das auch an einem Beispiel illustrieren. Denn Bücher schaffen, selbst wenn sie nicht gelesen werden, eine nostalgische Verbindung zu einem Kulturraum, auch wenn er nicht mehr lebendig ist. Ich zum Beispiel bin Kurde, und wenn ich Karl Mays Roman Durchs wilde Kurdistan im Bibliotheksregal stehen sehe, dann fühle ich mich jedes Mal irgendwie zu Hause, wenn ich daran vorbeigehe. Ich habe nie ein Kurdistan gehabt, es gab nie ein Kurdistan, und es existiert offiziell auch keines. Aber wenn ich Karl Mays Roman sehe – wie nett von ihm! –, dann weiß ich, es gibt einen Autor, der dieses Land schon beschrieben hat, wenn auch nur in seiner Fantasie. Was ich eigentlich sagen will: Dieser freie Zugang zur Rezeption von Sachliteratur, aber auch von Belletristik stiftet ein wie auch immer geartetes Heimatgefühl. Wenn man etwa in der Abteilung Geschichte diese Hunderte von Büchern zur Geschichte orientalischer Länder – Syrien, Irak, Palästina – sieht, erzeugt das ein Heimatgefühl. Die Menschen haben eine direkte Verbindung dazu. Das muss noch nicht einmal übersetzt sein.
5. D er M itarbeiter : K ultureller Ü berse t zer ? Wenn ich Sie um eine Definition bitten dürfte: Was ist für Sie ein kultureller Übersetzer? Ich denke, ein kultureller Übersetzer hat mehrere Kulturen rezipiert und ist in der Lage, sein Wissen im Übersetzungsprozess zu vermitteln. Er ist jemand, der die Orte und Länder kennt, aus denen die Kulturen und Künste stammen. Ich beschreibe mal einen Übersetzer, der aus dem Orient in den Westen kommt: Er ist beispielsweise ein universell interessierter Intellektueller, der in seinem Heimatland Chopin oder Mozart rezipiert hat, dann nach Deutschland kommt und hier die zuvor fremdvermittelte westliche klassische Musik erlebt. Oder er liebt französische Literatur und kommt nach Frankreich, wo er die Orte sieht, die von den Literaten beschrieben worden sind. Ich zum Beispiel habe in den kurdischen Bergen JeanJacques Rousseau oder Victor Hugo gelesen und mich immer gefragt: Wie sieht das wohl alles genau aus – zum Beispiel die Kirche Notre-Dame? Als ich dann in Paris die von Hugo in seinen Romanen beschriebenen Orte gesehen hatte, war das für
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mich eine sehr interessante Erfahrung. Kulturelle Übersetzer müssen in meinem Verständnis allerdings nicht nur auf die Literatur und die Kunst beschränkt sein, sie können auch in der Politik oder im Sport agieren – die Übersetzung umfasst alle Bereiche, die man in der Heimat als Fremdes rezipiert und in der Fremde als fremd und vertraut rezipiert. Würden Sie sich selbst auch als kulturellen Übersetzer beschreiben oder verstehen? Ich würde mich als einen Baum mit kurdischen Wurzeln beschreiben, der einen armenischen Stamm hat, türkische und deutsche Äste und rheinländische Früchte. Türkische Äste, weil ich in der Türkei sozialisiert bin. Ich bin erst 1992 zum Studium nach Deutschland gekommen. Mein Vater lebte schon hier, in Hilden; er war einer der ersten Gastarbeiter und hat Postkarten geschickt, auf denen Fahrradwege mit Fahrrädern zu sehen waren. Ich habe immer von einem Fahrrad geträumt: Wie schön, wenn ich auf so einem Fahrrad fahren könnte, oder mit so einer Straßenbahn. Leider habe ich es erst als Erwachsener nach Deutschland geschafft. Ich habe Geschichte, Kultur- und Medienwissenschaften studiert, weil mich das sehr interessierte, auch in Bezug auf mein Heimatland. Ich hatte den Eindruck, dass unsere Geschichte, also die meiner Herkunftsregion, irgendwie manipuliert worden war. Wir wussten in diesen Bergen, wir sind Armenier, wir sind Kurden, wir sind irgendwie anders. Natürlich habe ich auch die türkische Kultur und liebe sie, auch die türkische Sprache. Aber es gab immer so ein Gefühl: Ich müsste mal forschen, woher kommen wir eigentlich? Das ist ein Problem, das viele Migranten haben, die aus Ländern kommen, in denen die Geschichtsschreibung in offizieller Hand ist. Teilweise findet man in deutschen Archiven mehr Informationen über die eigenen Dörfer als in der Türkei, weil deutsche Reisehistoriker ihre Routen in Reisebeschreibungen festgehalten haben. Plötzlich erfährt man aus diesen Quellen, dass schon im 15. Jahrhundert jemand in diesem Dorf war und es dargestellt hat. Die Verbindung zur Vergangenheit ist in vielen Ländern abgeschnitten. Manche Menschen, die nach Deutschland kommen, finden erst hier in den Archiven ihre Vergangenheit wieder. Das ist wichtig für sie, denn erst die Verbindung zur Vergangenheit gibt dem Menschen eine Zukunft. Sind Sie auch deshalb Bibliothekar geworden – um Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden? Ich war während meines Studiums viel in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, habe dort ganze Tage verbracht. Die Bibliothek war der einzige Ort, an dem ich mich wirklich zu Hause gefühlt habe. Ich wurde akzeptiert, wie ich war, ich konnte nur gebrochen Deutsch sprechen – aber das war egal. Ich war ein Student, ich hatte eine Identität dort. Ich musste keine schicken Sachen anziehen, damit mich jemand als Mensch wahrnahm. In der Bibliothek kann man sich anders behaupten: je mehr Wissen, desto mehr Behauptung. Deswegen finde ich Bildung wichtig. Ich denke, die Liebe zu einem Buch befreit von vielen Sorgen, auch von vielen Komplexen. Der Mensch hat viele Wünsche, die er sich erfüllen muss. Bei mir ist es so: je mehr Bücher, desto weniger Wünsche. Dann war hier die Stelle als Bibliothekar der Interkulturellen Bibliothek frei, man suchte jemanden mit türkischen Kenntnissen, und ich habe mich beworben. Ich liebe meine Arbeit, und ich freue mich jeden Tag über sie.
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Gibt es in der Rolle des »kulturellen Mittlers« in der Bibliothek denn auch Schwierigkeiten? Eine Herausforderung ist sicherlich die Angst vor dem Fremden. Sie betrifft nicht nur die Nutzer, sondern auch die Kollegen. Das fängt bei bibliothekarischen Techniken an und geht mit den vielen Sprachen weiter, die wir im Bestand verwalten. Für deutschsprachige Medien gibt es bei der EKZ Lektoratskooperationen.5 Das wäre auch in Bezug auf Fremdsprachen, zum Beispiel aus der Türkei oder aus orientalisch geprägten Ländern, hilfreich. Aber leider gibt es das bisher noch nicht. Deshalb ist es für die Kollegen wichtig, jemanden vor Ort zu haben, der die Sprachen beherrscht, um die Bücher und Medien inhaltlich prüfen zu können, und der auch das entsprechende Demokratieverständnis hat, um die Literatur korrekt auszuwählen. Ich bin für die gesamte fremdsprachige Literatur zuständig – neben meinem Lektorat für Geschichte und Politik. Eine weitere Aufgabe ist die menschliche Ebene. Man wird zum Beispiel angerufen: »Herr Holtz, da ist ein Türke, der verhält sich schlecht. Könnten Sie mal vermitteln?« Da geht es nicht um den Bestand, sondern um die Kommunikation zwischen den Nutzern und dem Personal. Oft zeigt sich, dass es unterschiedliche kulturelle oder soziale Konventionen sind, die für Störungen sorgen. In solchen Situationen ist die Mittlerrolle manchmal ein bisschen schwer für mich, weil ich mich mit meiner eigenen Sozialisation ja eigentlich auch von der migrantischen Sozialisation unterscheide. Aber irgendwann versucht man einfach, mehr König zu sein als der König selbst, also deutscher zu sein als die Deutschen: pünktlicher, aufrichtiger, ehrlicher, noch mehr auf Formalitäten zu achten und noch besser aufzupassen als die Kollegen, die aus Deutschland stammen.
6. E rfolge der interkulturellen Ö ffnung Lieber Herr Barbian, wie viele Kollegen mit Migrationshintergrund gibt es in der Duisburger Stadtbibliothek? Aktuell ist neben Herrn Holtz-Ersahin noch eine zweite Diplom-Bibliothekarin mit Migrationshintergrund bei uns angestellt. Darüber hinaus gibt es zwei Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste in zwei Bezirksbibliotheken. Leider können wir derzeit kaum nachbesetzen, wenn Stellen frei werden; daher werden es wohl vorerst auch nicht mehr. Allerdings muss ich sagen, dass auch der Bewerberkreis sehr übersichtlich war, als wir Herrn Holtz-Ersahins Stelle ausgeschrieben haben. Er ist selbst kein Diplom-Bibliothekar, was kein Problem ist, weil es keine zwingende Voraussetzung ist, um gute Arbeit zu leisten. Aber es war kein einziger Diplom-Bibliothekar dabei. Interessanterweise ist an den Technischen Hochschulen und Universitäten in den Bereichen Informationswissenschaften und Bibliothekswesen der Migrantenanteil sehr überschaubar. Er ist sicherlich mittlerweile höher als er 2008 oder davor war, aber immer noch nicht so hoch, wie man es aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen erwarten könnte. 5 | Die EKZ ist eine Lektoratskooperation für Bibliothekare mit dem Ziel, Kollegen beim Bestandsaufbau von Bibliotheken durch die Erstellung einer Vorauswahl von anschaffungsrelevanten Titeln und die Bereitstellung entsprechender Rezensionen zu unterstützen (Andere Quellen: Nr. 8).
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Sie haben schon viele Forderungen der UNESCO-Konvention umgesetzt. Was steht noch aus? Es stimmt, wir haben schon viel eingelöst. Aber wir würden – und das ist das Ungenügen, das wir verspüren – gerne noch viel mehr tun. Nur stoßen wir dann an die Grenzen des Finanziellen und Personellen. Denn leider erhalten wir durch die UNESCO keinerlei materielle Unterstützung. Natürlich hören wir gerne, dass Duisburg als Ort der Interkulturalität explizit anerkannt worden ist, gerade auch für Kinder. Aber, das schlägt sich in keinerlei zusätzlicher finanzieller Unterstützung nieder. Bei aller Aufgeschlossenheit der Stadtspitze dem Thema Interkulturalität gegenüber führt das auch nicht dazu, dass man sagt: »Gut, wir sehen ein, ihr habt neue Aufgaben, jetzt kriegt ihr auch neues Personal.« Wir haben schon Schwierigkeiten, wenn Diplom-Bibliothekare ausscheiden, die Stelle nachbesetzen zu können. Seit 2008 ist gerade mal eine weitere Diplom-Bibliothekarin gekommen. Das heißt innerhalb von acht Jahren haben wir eine weitere Diplom-Bibliothekarin eingestellt, es sind aber ein Dutzend Kolleginnen und Kollegen gegangen. Das heißt summa summarum, wir haben elf Stellen verloren. Das schränkt den Spielraum ein. Wie stellen Sie fest, ob die Interkulturelle Bibliothek bei den Nutzern greift? Gibt es Befragungen? Unterscheiden wir kurz, über wen wir als Nutzer der Bibliothek sprechen. Es gibt Menschen, die Bücher entleihen, und solche, die sich nur hier aufhalten. Es kommen nicht alle Migranten zu uns, sondern nur bestimmte aufgeklärte Kreise, die Interesse daran haben, die Bibliothek als Freiraum, zum Beispiel vor ihrer Familie, oder als Informationsmöglichkeit zu nutzen. Es sind also jene, die schon soweit akkulturiert, integriert sind, dass sie weiterhin die türkische Sprache pflegen und der türkischen Kultur verbunden sind, sich aber auch schon in der deutschen Gesellschaft zuhause fühlen. Wir erreichen also sicherlich nur einen ganz geringen Prozentsatz von Migranten und auch von Flüchtlingen. Es wäre folglich falsch anzunehmen, dass wir die Migranten-, Zuwanderer- oder Flüchtlingsgesellschaft hier eins zu eins als Zielgruppe erreichen. Wir haben dasselbe Problem bei der Duisburger Bevölkerung ohne Migrationshintergrund; auch hier erreichen wir nur einen bestimmten Prozentsatz als aktive Nutzer unserer Medien; dieser Prozentsatz liegt zwischen fünf und zehn Prozent. Interessant ist übrigens auch das, was wir bei den Kundenbefragungen in den Jahren 2005 und 2012 erfahren haben, die wir zusammen mit der Technischen Hochschule in Köln durchgeführt haben. In beiden Befragungen kam heraus, dass unsere Nutzerschaft den Anteil der türkischen Migranten an der Gesamtbevölkerung proportional eins zu eins repräsentiert – auf sie war die Umfrage besonders zugeschnitten, weil sie die größte Gruppe an Migranten abbildet. Soweit der positive Teil der Umfrage. Man muss allerdings auch konstatieren, dass sich in Duisburg mittlerweile eine Parallelgesellschaft entwickelt hat, das heißt, dass es viele Migrantenkreise gibt, die wir mit unserem Angebot einfach nicht mehr erreichen – weder gesellschaftlich, sprachlich noch inhaltlich.
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Könnte man dort heute nicht wieder einen Bücherbus hinschicken und den Dialog suchen? Da sind wir wieder beim Problem der Finanzierung. Für einen solchen Bücherbus benötigen Sie auch das Personal. Wir bräuchten auch Sozialpädagogen dafür, und wir bräuchten viel mehr Menschen wie Herrn Holtz-Ersahin, Frau Özlem Yalinci und Herrn Kenan Eren, die nicht nur mit der türkischen Sprache und Kultur vertraut sind, sondern auch diesen aufgeklärten Blick haben und ihre eigene Begeisterung für Deutschland als Land allgemein mit seinen Werten und für die Institution Bibliothek im Besonderen anderen Leuten gegenüber vermitteln. Das wäre der Wunsch, die Utopie, aber die knallharten Haushaltsprobleme dieser Stadt sind eben eine Hemmschwelle bei der Realisierung. Die Stadt Duisburg kämpft seit Mitte der 1970er-Jahre mit der Haushaltskonsolidierung, und wir können froh sein, wenn wir unseren derzeitigen Standard halten können. An eine Ausweitung zu denken, ist zwar möglich, aber zurzeit in keiner Weise realistisch.
L iter atur Primärquellen Barbian, Jan-Pieter (2016): Eine Geschichte mit Zukunft. Die Interkulturellen Angebote. In: Barbian, Jan-Pieter (Hg. i. A. der Duisburger Bibliotheksstiftung) (2017): Vom »Sachsenspiegel« bis zum eBook. Die Stadtbibliothek Duisburg als kommunales Medien-, Bildungs- und Kulturzentrum, Essen, S. 171-188. Barbian, Jan-Pieter (2014): Eine Geschichte mit Zukunft – 40 Jahre »Türkische Bibliothek« in der Stadtbibliothek Duisburg. In: ProLibris, Jg. 19, H. 2, S. 59-64. Dätsch, Christiane (2016): Interview mit Yilmaz Holtz-Ersahin, Leiter der Interkulturellen Bibliothek, und Dr. Jan-Pieter Barbian, Direktor der Stadtbibliothek Duisburg am 08.09.2016 in Duisburg (Tonband). Holtz-Ersahin, Yilmaz (2016): Bibliothek als Heimat – »Internationale Kinder- und Jugendbibliothek« der Stadtbibliothek Duisburg. In: Futterlieb, Kristin/Judith Probstmeyer (Hg.) (2016): Diversity Management und interkulturelle Arbeit in Bibliotheken, Berlin/Boston, S. 111-117.
Sekundärliteratur BID/Bibliothek & Information Deutschland (2007): UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen – Das UNESCO-Übereinkommen mit Leben füllen: Herausforderungen für Bibliotheken und Bibliotheksträger, Berlin. In: www.bibliotheksportal.de/fileadmin/ user_upload/content/bibliotheken/international/dateien/Herausforderungen_ Unesco_BID.pdf (16.04.2017). HBZ/Hochschulbibliothekszentrum Nordrhein-Westfalen (2016): DBS – Deutsche Bibliotheksstatistik. Gesamtauswertung Berichtsjahr 2015, Köln. In: https:// wiki1.hbz-nrw.de/download/attachments/99811333/dbs_gesamt_dt_2015. pdf?version=1&modificationDate=1506495210118 (16.04.2017). Kronen, Wolfgang/Roland Richter (2017): Einwohnerentwicklung in Duisburg zum Jahresbeginn 2017. Duisburger Kurzbeiträge zur Statistik und Stadtforschung,
Kulturelle Überset zung in der Bibliothek
hg. von der Stadt Duisburg, Oberbürgermeister, Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik, Duisburg. In: https://www.duis burg.de/vv/medien/dez_i/textbeitrag012017.pdf (16.04.2017). Stadtbücherei Stuttgart (Hg.) (2010): Leitfaden Interkulturelle Bibliotheksarbeit der Stadtbücherei Stuttgart, Stuttgart In: http://www1.stuttgart.de/stadtbibliothek/ druck/neue_bibliothek/LeitfadenInterkultur_Okt_2010.pdf (16.04.2017).
Andere Quellen Nr. 1: www.bibliotheksportal.de/themen/bibliothekskunden/interkulturelle-biblio thek/interkulturelle-bibliotheksarbeit.html#c706 (16.04.2017). Nr. 2: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017 /08/PD17_261_12511.html (01.08.2017). Nr. 3: http://unesco.de/infothek/dokumente/uebereinkommen/konvention-kultu relle-vielfalt.html (16.04.2017). Nr 4: www.bibliotheksverband.de/fachgruppen/kommissionen/interkulturelle-bib liotheksarbeit.html (16.04.2017). Nr. 5: https://www2.duisburg.de/stadtbib/standorte/zentrale/interkulturellebiblio thek.php (21.04.2017). Nr. 6: https://www2.duisburg.de/micro2/kulturbuero/foerderinfos/bereich1/ 102010100000444112.php (16.04.2017). Nr. 7: https://www.ifla.org/(16.04.2017). Nr. 8: https://www.ekz.de/medien-services/bibliothekarische-dienste/lektoratsko operation/(21.04.2017).
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»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.« Gespräch mit dem Kunsthistoriker Dr. Tayfun Belgin, Hagen Christiane Dätsch
1. G egenwartskunst im M useum Kann das moderne Kunstmuseum seinen Besuchern beim Verstehen global gewordener Themen helfen? Kann es gar zur Überwindung kultureller Differenzen beitragen, wenn seine Besucher erst einmal erkannt haben, dass moderne Kunst universale Fragestellungen bearbeitet, die den Betrachter existenziell berühren können, unabhängig von seiner Herkunft und seinem kulturellen Wissen? Von Kollaboration als Prinzip der Entstehung (post-)moderner Kunst und der Konstitution von Sinn ist in diesem Kontext viel die Rede (Wall 2006; Terkessidis 2015). Doch wie schlägt sich ein solches Kunstverständnis in der Vermittlungsarbeit eines Museums nieder – zumal in einer Stadt mit hohem Migrantenanteil? In Hagen, einer heute rund 190.000 Einwohner zählenden Stadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets, stellte sich ein Kunstkenner und Mäzen schon vor mehr als hundert Jahren ganz ähnliche Fragen, der gebürtige Hagener Karl Ernst Osthaus (1874-1921). In einem im Neorenaissance-Stil errichteten und von Henry van de Velde im Jugendstil ausgestalteten Gebäude an der Hochstraße eröffnete er 1902 das erste Folkwang Museum. Inspiriert von der »Überzeugung, dass die von der Kultur unberührte Provinz, stärker als die kunstgesättigte Metropole, der geeignete Boden für künstlerische Innovationen war« (Andere Quellen: Nr. 1), entwarf er seine Vision von Hagen als einem Ort, an dem sich die Gegensätze von Kunst und Leben, Metropole und Peripherie, Konzept und Handwerk harmonisch verbinden sollten.1 Sein Engagement führte zu insgesamt zwei Museen, einer großen Sammlung zur klassischen Moderne und einer Folkwang-Schule für die künst-
1 | So merkt die stellvertretende Direktorin des Osthaus Museums, Dr. Bettina Schulte, auf der Website an: »Allerdings wurde Osthaus’ Kunstmission im lokalen und regionalen Bereich, auf den sie eigentlich zielte, mehr oder minder ignoriert. Hauptsächlich in den Kunstzentren, gegen deren Dominanz und Einfluss er sich abzusetzen versucht hatte, wurde sein Engagement wahrgenommen.« (Andere Quellen: Nr. 1)
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lerische Ausbildung.2 Dass dieses Kapitel Hagener Museumgeschichte nur knapp 20 Jahre später wieder endete, lag an Osthaus’ frühem Tod und am Verhalten seiner Erben: Sie verkauften seine Sammlung 1922 an den Folkwang-Museumsverein Essen und an die Stadt, die das Museum neu begründete. In Hagen selbst dauerte es fast zehn Jahre, bis man sich wieder für ein Kunstmuseum entschied. Auch erhielt das 1930 in städtischer Obhut eröffnete »Hagener Kunstmuseum« erst 1945 den Namen seines Gründers zurück: Als »Karl Ernst Osthaus Museum« wurde es 2007 von seinem derzeitigen Direktor, Dr. Tayfun Belgin, übernommen und in »Osthaus Museum Hagen« unbenannt. Nach der Renovierung des ehemaligen Folkwang-Baus und der Einweihung des neuen Kunstquartiers Hagen im Jahr 2009 zog das Museum nach Jahren der Absenz wieder an seinen Ursprungsort zurück. Heute nimmt sich die Villa neben dem zweiten Bau im Kunstquartier fast unscheinbar aus. Wer zum ersten Mal nach Hagen kommt, nimmt vor allem einen großen gläsernen Kubus wahr, in dem sich das Sonnenlicht bricht: das Emil Schumacher Museum.3 Noch auf Wunsch des früheren Bundes- und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau erbaut, ist das Gebäude heute ein imposantes Wahrzeichen der Hagener Kunst- und Kulturszene. In beiden Museen, dem Folkwang-Gebäude und dem modernen Glasbau, werden enorme Flächen mit ständig wechselnden Ausstellungen bespielt: Rund 16 (kleine und große) Einzelausstellungen realisiert das Osthaus Museum pro Jahr, weitere vier bis fünf Sonderschauen kommen im Emil Schumacher Museum dazu (Andere Quellen: Nr. 2). Und doch trügt die Pracht ein wenig, denn die Stadt Hagen muss sparen, auch in der Kunst. Weniger Verwaltung, mehr Synergie lautete daher das kommunale Credo, als im Juli 2012 der neue Fachbereich Kultur gegründet wurde, der seitdem die Verwaltung der städtischen Archive, Museen und des Kulturbüros zusammenfasst. Der Direktor des Kunstquartiers Hagen, Dr. Tayfun Belgin, verantwortet seit 2012 auch diesen Fachbereich Kultur (Andere Quellen: Nr. 3). Damit ist zugleich der Spagat angesprochen, dem sich der promovierte Kunsthistoriker und Spezialist für Gegenwartskunst täglich unterziehen muss: Als Fachbereichsleiter hat er zu kontrollieren und gegebenenfalls zu konsolidieren – auch dort, wo er als Museumsleiter das Geld eigentlich gerne ausgeben würde. Für das Jahr 2018 ist eine weitere große Konsolidierung angekündigt, die auch den derzeitigen Kulturetat von 2,25 Millionen Euro nicht verschonen wird; er soll um zehn Prozent gekürzt werden. Das Osthaus Museum, sagt Belgin, kann dann nur noch die Hälfte seiner bisherigen Aktivitäten realisieren. Es sei denn, fügt er im Gespräch hinzu, er finde weiterhin Sponsoren für seine Arbeit. 2 | Nach Walter Grasskamp handelte es sich bei Osthaus um einen echten Mäzen, dem es mit seiner Museumsgründung nicht um ein »Denkmal seines Reichtums« ging, sondern darum, dass ein Museum »inmitten der rapiden Verschlechterung der Lebensbedingungen, die die Industrialisierung des Ruhrgebiets mit sich brachte, […] für die Betroffenen so etwas wie ein Gegenpol, ein Reservat des Schönen sein« sollte (Grasskamp 1981: 101). 3 | Der Hagener Emil Schumacher (1912-1999) war ein deutscher Maler des Informel, Teilnehmer der 29. Biennale in Venedig und mehrerer documenta-Ausstellungen. Die Sammlung des Museums geht auf eine Stiftung seines Sohnes Dr. Ulrich Schumacher zurück und umfasst über 500 Werke, darunter Ölgemälde, 200 Gouachen, Grafiken, Keramiken, Bilder auf Porzellan und Malereien auf Schiefer (Nellen/Klar 2009).
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.«
Belgin scheint nicht nur durch seine Ausbildung und Erfahrung für beide Funktionen in der Stadt prädestiniert; auch seine Persönlichkeit lässt sofort an die Rolle des Vermittlers denken. Der Chef des Hagener Kunstquartiers ist Deutscher türkischer Herkunft, kam mit sechs Jahren ins Ruhrgebiet, studierte hier Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte und wurde in Bochum promoviert. Von 1985 bis 1988 leitete er den Kunstverein Ruhr e. V. in Essen, anschließend arbeitete er in der Essener Galerie Neher, als Kustos und Abteilungsleiter am Museum Ostwall und als Chef der Kunsthalle Krems, bevor er 2007 zum Direktor des Osthaus Museums in Hagen berufen wurde. Dass Belgin gerne gestaltet, vielleicht genauso gerne wie einst der erste Museumsdirektor Ernst Karl Osthaus, wird im Gespräch deutlich. Und wie dem Museumsgründer geht es ihm dabei um Veränderung – sowohl des Kunstsinns als auch der Bildungsmöglichkeiten in der Region. Denn die Stadt, in der Belgin arbeitet und aus der er sein Publikum generiert, weist nur eine schmale bürgerliche Schicht und einen hohen Arbeiter- und Migrantenanteil auf. Nach Angaben der Stadtkanzlei Hagen lag der Anteil von Bürgern mit Migrationshintergrund im Jahr 2015 bei 21,4 % (Stadt Hagen 2015). Laut Integrationskonzept der Stadt stellten von den rund 13,6 % Menschen, die 2011 mit einem fremden Pass in Hagen lebten, die Mitbürger türkischer Herkunft mit 35 % die größte Gruppe dar, gefolgt von Italienern (13 %) und Griechen (11 %) (vgl. Stadt Hagen 2012: 6). Angesichts solcher Daten sind die Kunst- und Kultureinrichtungen der Stadt verstärkt aufgerufen, ihre Möglichkeiten zu prüfen, wie zum kulturellen Dialog beizutragen sei. Und so rückt, neben dem Kunsterlebnis, auch der kulturelle Bildungsprozess verstärkt in den Mittelpunkt der kommunalen Museumsarbeit. Die Museumspädagogik und das Junge Museum, die heute im Souterrain der alten Osthaus-Villa untergebracht sind, bezeichnen sich selbst als einen »Raum für museumspädagogische Arbeit und Projekte zur interkulturellen Verständigung« (Andere Quellen: Nr. 4). Dass Vermittlungsarbeit wichtig ist, jedoch auch an ihre Grenzen stößt, wird im Interview deutlich. Als klassische Einrichtung der Hochkultur verursacht das Kunstmuseum bei seinen Besuchern Schwellenangst. Moderne Kunst provoziert mit Statements und verschlüsselten Bezügen. Wissen ist notwendig, um diese Bezüge zu sehen und zu verstehen. Zwar ist Gegenwartskunst längst kein Phänomen allein der westlichen Welt mehr, doch hat sie nicht in allen Kulturkreisen eine ähnliche (lange) Vergangenheit und Verwurzelung wie im Westen (Belgin 2010). Dass moderne Kunst auf migrantische Kreise noch immer westlich und fremd wirkt, ist eine Seite, sagt Tayfun Belgin. Dass Migranten, die in der dritten und vierten Generation in Deutschland leben, bis heute kaum ein Interesse für die Kunstform entwickeln, eine andere. Es bleibt die Frage: Kann das Kunstmuseum unter diesen Bedingungen als ästhetischer und kultureller Übersetzer fungieren? Und wenn ja, wie?
2. I ntervie w : D ie S ammlung im O sthaus M useum H agen Herr Belgin, wie würden Sie das Profil des Osthaus Museums in Hagen beschreiben? Karl Ernst Osthaus war einer der wichtigsten Kunstsammler und Mäzene zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1902 hat er das Folkwang-Museum begründet, das jetzt in Essen ist – mit Werken von Cézanne, Gauguin, van Gogh, Hodler, Matisse, Renoir, Rodin, Seurat oder Signac. Die Avantgarde, das Grenzüberschreitende,
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hat ihn interessiert, die Kunst der Moderne also. Osthaus hat aber auch europäisches Kunstgewerbe und außereuropäische Kunst gesammelt. An diesen Geist des Außereuropäischen versuchen wir anzuknüpfen, wenn wir zum Beispiel Sonderausstellungen zur Gegenwartskunst mit Werken aus der ganzen Welt machen. Neben dieser internationalen, auch außereuropäischen Ausrichtung folge ich noch in einem zweiten Punkt dem Geist des Gründers, weil ich versuche, Sammler für dieses Museum zu gewinnen. Das Osthaus Museum war einmal ein Sammler-Museum. Wenn man das heutige Osthaus Museum als eine Art Nachfolger des ersten Folkwang-Museums in Hagen sehen möchte, dann wird der Aspekt des Sammlertums sehr wichtig. Auch deshalb spreche ich gerne Sammler an, ob sie uns Konvolute aus ihrer Sammlung für Ausstellungen und für Projektarbeit zur Verfügung stellen wollen. Diese Zusammenarbeit mit Sammlern entspricht ganz dem Geist unseres Gründers. Wie müsste sich, diesem Geist entsprechend, die Sammlung des Osthaus Museums weiter entwickeln? Diese Fragen stelle ich mir: Was sammeln wir? Wohin geht das Ganze? Wie können wir zukünftig gestalten? Wir können im Augenblick ja kaum sammeln, weil wir die finanziellen Mittel nicht mehr haben. Aber gehen wir einmal davon aus, dass wir sammeln dürften. Dann würde ich aus jeder Ausstellung, die ich mache – das heißt also auch Ausstellungen, die sich mit dem Zweistromland beschäftigen oder mit Afrika, Südamerika oder anderen Ländern – mindestens ein Werk, am besten aber zwei kaufen. Zwei Werke also, damit man im Laufe der Zeit einen repräsentativen Querschnitt dessen hat, was hier gezeigt wurde. Außerdem würde ich Sammler, die sich intensiv mit dieser Kunst beschäftigen, bitten, uns Werke als Leihgaben zu geben oder besser: zu schenken. Das heißt, ich würde keine Kehrtwendung in der Sammlungspolitik machen, aber eine Ausweitung. Vielleicht kann man es in Prozenten sagen: Wenn man 50 % Westen sammelt, müsste man auch 50 % Ost, Nord oder Süd sammeln. Das würde ich im Grunde genommen jedem Museumsdirektor raten. Leider scheitern diese Ansprüche sehr oft am Geld. In den Staats- und Stadtkanzleien wird heute viel über Interkultur nachgedacht, und es werden viele Gelder freigemacht für soziokulturelle Projekte mit oft mangelndem Erfolg. Wir könnten das anders: Man müsste die Museen dahingehend stärken, dass sie nicht so sehr soziologische Projekte entwickeln, sondern dass sie sich inhaltlich und künstlerisch mit den Ländern beschäftigen, aus denen ihre Menschen kommen. Das müssten wir als Institutionen machen: Wir müssten mit der Kunst diese gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Zusammenhänge aufzeigen. Und, auch das ist ganz wichtig: Wenn man Kunst sammelt und zeigt, müsste man sich von der hierzulande beliebten Einteilung in »high« und »low«, also in Hochkultur und Unterhaltungskultur, verabschieden. Also nicht Schrott sammeln, das meine ich nicht, sondern diese sehr westliche Einteilung als Ordnungsmuster aufgeben. Ich sammele sowieso nicht nur Meisterwerke, weil die Kategorie »Meisterwerk« heute nicht mehr existiert. Seitdem wir serielle Kunst haben, gibt es keine Meisterwerke mehr. An diesem »high« und »low« müssen wir arbeiten. Und damit tun sich sehr viele aus meiner Kaste sehr schwer. Unser Museumsansatz muss im Grunde heute ein anderer sein, er muss im Grunde universal sein. Wir müssen als Institutionen anders denken, und wir müssen auch anders sammeln.
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.«
Ermöglicht ein solches Sammeln auch andere, vielleicht transkulturelle Ausstellungen? Ja, ich denke schon. Und es wäre auf Dauer der erfolgreichere Weg. Im Grunde genommen muss auch ein Kunstmuseum heute ein Museum der Weltkulturen sein, aber ohne diesen berlinerischen Anspruch.4 Ich meine Weltkultur eher in dem Sinne, dass man sich wirklich mit Ästhetik und Kultur der Welt beschäftigt. Die meisten Menschen wissen heute zum Beispiel gar nicht mehr, was das Zweistromland eigentlich für eine weltkulturelle Bedeutung hatte, dass es die Wiege der Kultur, auch der Religionen war. Das ist schade, denn letztendlich kommt auch die westliche Kultur da her. Nicht nur, dass die Kultur des Zweistromlandes indische Anteile hatte, das kann man an den Veden sehen. Auch die Griechen sind von ihr beeinflusst, das zeigt die abendländische Philosophie. Die griechische Philosophie würde ohne die Erkenntnisse jener Welt nicht existieren. Das hat auch Osthaus mit dem ersten Folkwang Museum in Hagen schon erkannt; er gründete ein Museum für Weltkultur. Er hatte nicht nur diese 50 Impressionisten und Spätimpressionisten gesammelt, sondern auch tausende von Objekten, die vom Mittelmeer bis nach Japan reichten. Das war schon sehr weitsichtig. Und ich finde, eine solche Sammlung schafft auch eine Verbindlichkeit auf dieser Erde – einmal hehr gesprochen.
3. A usstellen und V ermit teln von G egenwartskunst Welche Herausforderungen stellen sich beim Ausstellen internationaler Gegenwartskunst? Das ist eine gute Frage. Derzeit beschäftigen sich die Ausstellungsmacher in der Bundesrepublik – jedenfalls in dieser Art von Museen, die ich vertrete – noch immer sehr mit Westkunst. Mit unseren Ausstellungsprogrammen fahren wir im Grunde genommen bis heute auf dieser Traditionsschiene. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich würde meinen Ansatz im Osthaus Museum, mehr außereuropäische Kunst zu zeigen, sofort ausbauen, wenn ich den Etat dafür hätte, denn das kostet mehr als die eine oder andere Westschau. Aber, wir versuchen in Kooperationen regelmäßig Ausstellungen beispielsweise mit Künstlern aus Korea oder China zu realisieren. Im Jahr 2015 haben wir uns an der großen CHINA 8-Ausstellung im Ruhrgebiet beteiligt 5, und davor, im Kulturhauptstadtjahr 2010, haben wir die türkische Kunstszene aufgefächert, indem wir eine Sammlung aus Istanbul gezeigt haben.6 Nächstes Jahr wird eine große Ausstellung zur russischen Gegenwartskunst 4 | Gemeint ist die Konzeption des Humboldt-Forums als »Museum der Weltkulturen« (Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2015). 5 | Die Gemeinschaftsausstellung China 8 – Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr zeigte vom 15. Mai bis zum 13. September 2015 in neun Museen der acht Städte Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Marl, Mülheim an der Ruhr und Recklinghausen 500 Werke von 120 zeitgenössischen Künstlern aus China. Die Acht im Titel der Ausstellung stand dabei nicht nur für die beteiligten Städte, sondern auch für eine chinesische Glückszahl. Mit der internationalen Ausstellung war laut Pressetext der Wunsch verbunden, zum »kulturellen Dialog zwischen Asien und Europa, China und Deutschland« einzuladen (Andere Quellen: Nr. 5). 6 | Die Huma Kabakci Collection wurde vom Vater der heute international tätigen Kuratorin Huma Kabakci, dem Geschäftsmann Nahi Kabaci, über Jahrzehnte in Istanbul aufgebaut.
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der letzten fünfzig, sechzig Jahre kommen, wie sie in dieser Zusammenstellung noch nie so gezeigt worden ist.7 Ich würde auch sofort mehr Kunst aus Indonesien zeigen, aus Japan sowieso und aus dem Iran, wären da eben nicht die Kosten, die wir nicht allein tragen können. Deshalb ist es wichtig, dass man Verbündete hat. Wie präsentiert man als Museum diese Gegenwartskunst: Nutzt man eine Narration? Wir machen derzeit viele monografische, aber auch thematische Ausstellungen mit Künstlergruppen. Daraus ergeben sich natürliche Erzählstränge. Was ich nicht so gern möchte, ist, durch eine gewollte kulturelle Kontextualisierung ein folkloristisches Moment in die Präsentation hinein zu bringen. Ich weiß, dass es interessante wissenschaftliche, eher aus der Soziologie kommende Ansätze gibt, bei denen es um solche Fragestellungen geht. Allerdings besteht meiner Meinung nach die Schwierigkeit, die dort genannten Aspekte in Ausstellungen zur bildenden Kunst oder überhaupt in Kunst umzusetzen. Mir fehlt im Grunde genommen ein Cicerone, ein Übersetzer dieses soziologischen Gedankenguts, mit dem ich in einen Diskurs eintreten kann, um zu prüfen, wie man solche Ansätze auch in den Ausstellungen eines Kunstmuseums konkret machen könnte. In einem Stadtmuseum ist es anders, weil sie dort die Möglichkeit haben, beispielsweise die Migrationsgeschichte aufzuarbeiten und sich so mit den Bedürfnissen der Menschen auseinanderzusetzen. Solch eine Ebene wäre in einer Ausstellung im Kunstmuseum sicherlich wichtig, weil man auch in der Kunst gewisse Prozesse nicht nur intellektuell verstehen kann, sondern weil auch sie eine emotionale Dimension hat. Es geht in der Kunst um Emotionen und um Dinge, die man von einer anderen Warte aus betrachten muss. Das hätte mehr mit einer ästhetischen als mit einer soziologischen Übersetzung zu tun. Möglicherweise müsste man dafür jemanden einstellen, der nicht nur mit der Kunst, sondern auch mit der jeweiligen Kultur vertraut ist. Wenn nicht in der Ausstellung, wo dann findet die Herausarbeitung kultureller Bezüge statt? Wir haben eine sehr breit aufgestellte Museumspädagogik inklusive unseres »Jungen Museums«. In aller Regel kümmern sich auch die Kulturbüros um solche Bezüge, so wie unser Hagener Kulturbüro. Beispielweise wurde im Jahr 2010 von der damaligen Leiterin des Kulturbüros ein Projekt realisiert, das hieß Sehnsucht nach Ebene 2. Wir haben hier in Hagen eine alte Brücke, und »Ebene 2« ist der technische Ausdruck für diese Brücke. »Sehnsucht« nach ihr zu haben bedeutete aber etwas anderes. Hinter dieser Brücke wohnen Leute aus 50 Nationen. Die Kolleginnen des Kulturbüros haben Frauen interviewt, die eine Migrationsgeschichte hatten, eine Fluchtgeschichte zum Teil; deren Erinnerung an verschiedene Farben aus ihrer Kultur und ihrer Heimat wurden unterhalb der Brücke angebracht. Das Wort »Brücke« wurde in etwa 15 Sprachen übersetzt und leuchtet seitdem als Leuchtschrift in verschiedenen Farben, wenn es dunkel wird. Das ist ein wunderbares kulturelles Projekt, das ist eine Geschichte, da kann ein Museum natürlich auch mitmachen, im Rahmen seiner Vermittlung und Pädagogik. Das Osthaus Museum in Hagen zeigte die Ausstellung The Huma Kabakci Collection vom 9. Mai bis zum 25. Juli 2010 (Belgin 2010). 7 | Gemeint ist die Ausstellung Russische Kunst heute, die vom 16. Dezember 2017 bis zum 25. Februar 2018 im Osthaus Museum gezeigt wird (Andere Quellen: Nr. 6).
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.«
4. W erke und Ü berse t zungskonflik te Interessieren sich Menschen mit Migrationshintergrund in Hagen für die Gegenwartskunst? Und bemerken sie, dass diese Kunstwerke eine existenzielle, vielleicht auch eine transkulturelle Seite haben? Leider ist es eine Wahrheit, dass solche Inhalte wenige Menschen interessieren, auch nicht in einer migrantisch geprägten Gesellschaft wie Hagen. Das hat sicherlich mit der Verschiebung von gesellschaftlichen Schichten zu tun oder von Inhalten, die gewisse Schichten früher einmal für sich entdeckt haben. In Hagen fehlt eine breite Mittelschicht, die ein bürgerliches Kunst- und Kulturverständnis trägt. Sie existiert eher in Großstädten. Und die meisten Menschen mit Migrationshintergrund, die zu uns kommen, haben noch nicht diesen westlichen Blick auf die moderne Kunst entwickelt, den diejenigen haben, die hier aufgewachsen sind. Warum? Weil sie sich mit den kulturellen Prozessen in Deutschland noch nicht so auseinandergesetzt haben. Integration heißt ja nicht nur die Sprache des Landes zu lernen, in dem man lebt, sondern sich auch mit einer gewissen geschichtlichen, kulturellen Situation und Tradition auseinanderzusetzen. Das haben viele noch nicht gemacht. Ganz deutlich haben wir das im Jahr 2010 gesehen, als wir die Ausstellung Huma Kabakci Collection aus Istanbul gezeigt haben. Das war moderne Gegenwartskunst aus der Türkei, die ein Geschäftsmann in jahrzehntelanger Sammlertätigkeit zusammengestellt hat. Wir haben für die Vermittlung dieser Ausstellung extra eine Kollegin aus Dortmund geholt, die in beiden Sprachen zu Hause ist, und sie hat versucht, direkt in die türkische Community, die ja auch heterogen ist, hineinzugehen, um Besucher anzuziehen. Das war ein schwieriger Prozess. Wir haben im Museum eine Teestube eingerichtet, und in dieser Teestube wurde dialogisiert, erzählt von Älteren zu Jüngeren und so weiter. Doch der Effekt, dass man diese Klientel für weitere Ausstellungen gewonnen hätte, war gleich null. Warum? Konnten Sie einen konkreten Grund erkennen? Diejenigen, die kamen, konnten die meisten Dinge nicht verstehen. Das darf man nicht verkennen: Es waren Werke aus den letzten 60 Jahren türkischer Kunst, zum Teil westliche Adaptionen, aber auch sehr originelle, eigenständige Werke. Wie wenig davon aber wirklich verstanden wurde, zeigte der Eklat um ein Bild von Erinç Seymen (Abb. 1).8 Das Bild ist 2,50 Meter groß, ein riesiger Tondo mit Paillettenbezug. Es zeigt eine Kuh, und in dieser Kuh kann man einen osmanischen Sultan mit Ohrgehänge erkennen. Das ist der Sultan Selim der Gestrenge, der 1517 Ägypten erobert hat, und der in jungen Jahren ermordet wurde. Der Eklat bestand darin, dass wir irgendwann einmal, nachdem wir dieses Bild für das Ausstellungsplakat ausgewählt und an die Communities geschickt hatten, die Reaktion erhielten: Wir haben dieses Plakat entsorgt. Warum? Weil auf diesem Plakat der Sultan beleidigt wird und somit auch die Türkei. Ich habe dann mit einigen Vertretern der Communities gesprochen und musste ihnen sagen: Der Einzige, der die moderne Türkei repräsentiert, kann Mustafa Kemal Atatürk sein und nicht ein Sultan von 1519. Sultan Selim der Gestrenge ist derjenige, der – laut offiziellen osmanischen 8 | Erinç Seymen, geb. 1980 in Istanbul, ist ein türkischer Gegenwartskünstler und Journalist. Seit 2002 werden seine Werke in der Türkei und international in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt (vgl. Belgin 2010: 42f.).
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Quellen – etwa 40.000 Aleviten (Qizilbāsch) hat umbringen lassen. Also, das sind wesentliche geschichtliche Ereignisse, die man aus der eigenen Kultur wissen sollte, mit denen man sich auch einmal auseinandersetzen muss. Dieses Bild kommt eigentlich humorvoll daher mit seinem Paillettenbezug, die Kuh symbolisiert die nährende Kuh Anatoliens. Aber diese Perspektive nehmen die meisten Migranten nicht ein. Ihre heutige Kultur beschäftigt sich wenig mit diesen Fragestellungen. Auch in Istanbul gibt es vielleicht nur ein paar Prozent, die diese Dinge für sich nachvollziehen.
Abb. 1: Erinç Seymen: Ohne Titel, 2008. Pailletten und Stickerei auf Satin. Sammlung Huma Kabakci, Istanbul. Foto: Kunstquartier Hagen/Manfred Zentsch
Demnach liegen die Gründe der Ablehnung in der Kunstform, aber auch in einer Fehlinterpretation der Inhalte, des kulturellen Kontextes. Wird moderne Kunst grundsätzlich als westlich angesehen? So ist es. Moderne Kunst ist in der Wahrnehmung dieser Menschen westlich. Sie hat nichts mit ihrer eigenen Kunsttradition zu tun – so denkt man. Aber vielleicht gibt es für das fehlende Verständnis, für die Unmöglichkeit, sich die kulturellen Kontexte zu erschließen, mit denen diese Kunst spielt, auch noch andere Gründe. Warum war es – ich nehme mich jetzt ausnahmsweise einmal als Beispiel – mir möglich, Kunstgeschichte zu studieren? Sie wissen, wenn man das Studium der Kunstgeschichte beginnt, wird zunächst einmal eine Menge christliche Kunstgeschichte gelehrt. Renaissance und Barock sind ohne christologisches Wissen nicht verständlich. Und wenn Ihnen diese Dinge fremd sind, werden Sie dieses Fach nicht studieren. Da ich in der Grundschule, auch auf Wunsch meiner Eltern, am Religionsunterricht teilgenommen habe, hatte ich einen natürlichen Zugang. Das
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.«
ist bei vielen Migranten nicht der Fall, sie können bestenfalls den Christus am Kreuz erkennen – aber ob sie mehr sehen? Religiöse Sozialisation ist ein wichtiger kultureller Aspekt jenseits der eigenen religiösen Praktiken.
5. B esucher und Ü berse t zungskonflik te Ihr Beispiel lässt denken: Kulturelles Herkunftswissen bleibt für Menschen (mit oder ohne Migrationshintergrund) bei der Kunstrezeption dominant. Ist der Kunstgeschmack also stets kulturabhängig? Ja, mit Sicherheit. Es wäre interessant, einen Blick in die Wohnzimmer von Migranten türkischer, syrischer, italienischer Herkunft zu werfen, um zu sehen: Was besitzen diese Menschen? Welche Bilder haben sie aufgehängt? In den orientalischen Kulturen ist es meist ein Teppich mit Blumenmustern oder ähnlichem. Ich habe in Krems in Österreich gearbeitet, und zur Stadt Krems gehört Stein an der Donau. Dort haben wir für ein Ausstellungsprojekt fünf- bis sechshundert Jahre alte Häuser und deren Innenreinrichtung, zum Teil mit, zum Teil ohne ihre Bewohner fotografiert. Es war interessant zu sehen, womit sich diese Menschen umgaben: die einen mit Wein, die anderen mit Teppichen und so weiter. Das wäre auch hier mal eine soziologisch interessante Geschichte, um zu verstehen, was die Lebensinhalte dieser Menschen repräsentiert und wie ihr Alltag aussieht – vielleicht lässt sich daraus auch etwas für die zu erbringende Übersetzungsleistung zwischen Institution und Besucher ableiten. Bislang klappt es nicht recht. Die Migranten der dritten oder vierten Generation haben ja relativ viel Freizeit im Vergleich zur ersten Generation. Man hat die Familie hier, jedenfalls einen großen Teil, und trotzdem: Bei Kunstausstellungen oder in einem klassischen Konzert in Hagen oder Dortmund sehen Sie vielleicht mal einen türkischen Zahnarzt oder Ingenieur, aber das ist es dann auch schon. Die meisten Migranten der dritten oder vierten Generation sind hier geboren, waren hier in der Schule, sind mit der westlichen Gesellschaft vertraut. Warum erreicht sie moderne Kunst trotzdem nicht? Es berührt die Menschen nicht. Ich kann Ihnen aus meiner Biografie nur sagen: Ich war vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, da war ich fasziniert von Salvador Dalí und habe mir ein Plakat von ihm gekauft. Ich bin dann ins Von der Heydt-Museum in Wuppertal gegangen und habe mir seine Bilder in der Sammlung angeschaut. Dieser Impuls muss, um der Wahrheit Ehre zu geben, von einem selbst kommen. Wir haben im Kunstquartier Museumpädagogen. Wir arbeiten mit 71 Schulen zusammen. Wir bieten den Kindern die Möglichkeit, mit Kunstwerken unkompliziert umzugehen, aber dieser Impuls muss zu Hause aufgenommen werden. Wir haben im Jahr 2015 eine Hundertwasser-Ausstellung realisiert, sie war populär und sehr gut besucht, die bestbesuchte Ausstellung in der Geschichte des Museums; dennoch waren kaum Migranten in ihr zu finden, obwohl das eine Kunst ist, die jeder versteht, wie man meinen könnte. Aber dann auch wieder nicht, wenn Sie zum Beispiel Hundertwassers Verschimmelungs-Manifest nicht verstehen oder seine Naturtoilette und seine ökologischen Theorien als sehr seltsam erachten. Auch seine Bilder haben in einer Frühphase doch eine gewisse Intellektualität – für uns ist das populär, aber es ist und bleibt Westkunst, das muss man sagen.
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Gibt es überhaupt eine Chance, dass moderne Kunst angesichts der Transformation der Gesellschaft nicht abgehängt und in eine elitäre Ecke gestellt wird, die nur Minderheiten wirklich verstehen? Wir müssen diese Perspektive zumindest aufrechterhalten. Wir müssen uns damit beschäftigen. Mein Problem ist wie gesagt: Wir können die Soziologie nicht einfach auf die Kunst übertragen. Soziokultur hat mit bildender Kunst der Gegenwart nichts oder nur sehr wenig zu tun. Da muss man Farbe bekennen. Denn am Ende stehen die potenziellen Besucherinnen und Besucher hier an der Kasse und müssen sechs oder zehn Euro bezahlen, und zwar für Kunst und nicht für Soziokultur. Möchten sie das? Es wäre sehr viel leichter, wenn wir unsere Museen wie in England vom Eintritt freistellen könnten, vielleicht bis auf die Sonderausstellungen. Das wäre schon eine große Hilfe. Was ich von den Besucherinnen und Besuchern eines Kunstmuseums aber schon erwarte, ist, dass sie sich für Kunst interessieren – das war auch ein Anspruch an mich selbst –, und dass wir gemeinsam auf dieser Ebene Normalität leben. Normalität bestünde für mich zum Beispiel darin, dass die vierte Generation der türkischen Einwanderer einmal, am besten regelmäßig ein Theater, Konzerthaus oder Museum aufsucht. Das tut sie leider nicht, oder nur selten, weil es Eltern und Großeltern auch nicht gemacht haben. Das ist unser Problem. Wir schaffen diese Normalität nicht. Wir schaffen es auch nicht, dass diese Bürgerinnen und Bürger eine Tageszeitung lesen und wissen, wer hier in einer Stadt regiert, wer wichtig ist.
6. D ie I nstitution K unstmuseum Wie wahrscheinlich ist es, dass Menschen mit Migrationshintergrund die Institution Museum aus ihrem Land kennen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass sie spezifisch das Kunstmuseum kennen? Da muss ich anders anfangen. Ich bin letztens auf einer museumspädagogischen Tagung in Köln gefragt worden, wie das denn mit den Flüchtlingen sei. Diejenigen, die aus Syrien kommen zum Beispiel: Kennen die Museen? – Ja, sie kennen Museen. Und welche Museen kennen sie? Archäologische Museen. Und das erwarten sie vielleicht auch hier. Das ist in vielen anderen Kulturen auch der Fall: Man kennt archäologische Museen, aber man kennt keine Museen der Moderne. In der Türkei war das lange auch nicht anders. Das erste staatliche Museum für moderne Kunst wurde 1937 eröffnet, die erste Istanbul Biennale fand 1987 statt, und das erste Museum für die Kunst der Gegenwart wurde von einer privaten Stiftung 2004 eröffnet. Wenn wir in den Iran schauen, ist das kaum anders. Es fällt uns die Farah-Diba-Sammlung ein, die jetzt nach Berlin kommen soll.9 Sie war nach 1979 in Teheran verschlossen, und kein Mensch konnte sie studieren, geschweige denn öffentlich betrachten. Erst in den letzten Jahren konnte man wieder Einblick 9 | Zum Zeitpunkt des Interviews war die Eröffnung der Ausstellung Die Teheran Sammlung. Das Teheran Museum für Zeitgenössische Kunst in Berlin aus dem Teheran Museum of Contemporary Art noch für den 4. Dezember 2016 in der Gemäldegalerie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin geplant. Die Sammlung aus der Zeit des persischen Schahs Reza Pahlavi gilt als eine der weltweit wertvollsten Sammlungen westlicher Kunst. Sie wurde wegen fehlender Ausfuhrgenehmigung aus dem Iran abgesagt (Andere Quellen: Nr. 7).
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gewinnen. Die Menschen aus diesen Ländern kennen also archäologische und lebensweltliche Institutionen wie Stadtmuseen, aber sie kennen keine Kunstmuseen – und auch keine Kunst, die fordert, dass man sich einbringen soll, dass sozusagen Reflexion erforderlich ist, um zu verstehen, was das jetzt mit einem zu tun hat oder nicht, wie das eben bei Gegenwartskunst der Fall ist. Wenn man aber darauf verzichtet, in einem Kunstmuseum zu zeigen, dass genau das das Ziel der modernen Kunst ist, wenn man also die intellektuellen Anstrengungen unterlässt, dann hat man eben bloß Folklore im Haus. Man kann Musik machen, jeder ist willkommen zu einer arabischen, türkischen oder orientalischen Musik und fühlt sich wohl. Und nebenher zeigt man ein paar Objekte. Sie sagen, dass die Institution Kunstmuseum oft nicht bekannt ist und daher auch nicht interessant erscheint. Aber vielleicht liegt es auch am Verhalten der westlichen Hochkulturinstitutionen? Die westlichen Kulturinstitutionen entstammen letztlich dem Geist des Bürgertums, das stimmt. Aber es gibt durchaus auch migrantische Familien, bei denen Sie im Wohnzimmer ein Landschaftsbild sehen können. Man muss sie fragen: Was verbindest du damit, und warum kommst du nicht zu unserer Landschaftsausstellung ins Museum? Die Antwort lautet: Weil da etwas ganz anderes geschieht. Museen sind Kästen, sie lösen eine Hemmung aus. Das ist auch bei Biodeutschen so. In Hagen ist das Emil Schumacher Museum so ein riesig erscheinender Kasten, im Gegensatz zu dem zunächst recht klein erscheinenden schönen Gebäude des Osthaus-Museums. Es dehnt sich weit nach innen aus mit seinen Räumlichkeiten. Aber auch dort gehen sie selten hinein, die Hemmschwelle ist zu hoch. Bisweilen beeinflusst die Politik den Auftrag der Kulturinstitution – etwa, wenn sie explizit Migranten als Besucher ansprechen und so zur Integration beitragen soll. Ist ein solcher Auftrag realistisch? Wir versuchen vieles, alles können wir nicht machen. Die Theater haben es hier einfacher. Sie können ein Stück wie das von Fatih Akin Gegen die Wand aufführen, das wurde hier in Hagen gemacht. Da kommen die Leute, denn es geht um Heirat, Zwangsheirat und diese ganzen Themen. Darüber können wir nicht berichten. Was sollen wir machen? Eine Foto-Ausstellung zum Thema Burkini? Die gibt es nicht – und ob wir so eine Schau realisieren sollten, steht sehr in Frage. Ich bin nicht pessimistisch, eher realistisch und sage, wir haben ja gesehen, dass auch die vierte Generation nicht bereit ist, sich kulturell zu integrieren, wie sie das diesem Land vielleicht schuldig wäre – das klingt vielleicht pathetisch –, wie sie es sich im Grunde selber schuldig wären. Man lebt einfacher, wenn die Dinge, die einen umgeben, zur Normalität werden, wenn der Blick nicht immer rückwärtsgewandt ist. Eigentlich ist es ja rückwärtsgewandt, einen wunderbaren Sommer in der Türkei zu verbringen und das entsprechende Geld mitzubringen, sich alles leisten zu können, mit dem Auto hinzufahren oder zu fliegen. Aber das ist ein geborgter Luxus, der sich mit dem Alltag der Menschen hier nicht deckt.
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7. M useumsdirek tor als M anager Sie sind Deutscher mit türkischen Wurzeln. Wie war Ihr eigener Lebenslauf? War er anders als derjenige vieler Menschen mit Migrationshintergrund, die heute in Hagen und im Ruhrgebiet leben? Er war anders. Erstens kamen wir aus Ankara, das ist immerhin die Hauptstadt. Mein Vater hat dort gearbeitet bis zum ersten Militärputsch 1960, und danach hat er leider seine Aufträge verloren; er war im Bauwesen tätig. Ein Freund aus Wuppertal hat ihn hierhin vermittelt, aber in Deutschland konnten meine Eltern nicht mehr dasselbe Leben führen wie in der Türkei. Sie waren beide zeitweilig in der Produktion tätig, aber ihr Bewusstsein blieb ein bürgerliches. Ich bin, nachdem ich fünf Jahre Volksschule in Deutschland absolviert hatte, von meinen Eltern aufgrund meiner mangelnden Türkischkenntnisse nach Istanbul geschickt worden, während sie hierblieben. Ich war in einem deutsch-türkischen Internat und konnte meine Eltern nur zweimal im Jahr sehen. Diese Schulzeit war von mäßigem Erfolg für mich. Ich habe dann im Alter von 15 Jahren protestiert, denn alle deutschen Jugendlichen, die ich im Sommer sah, trugen lange Haare. In meinem Internat genügte es schon, einen Zentimeter mehr Haarlänge zu haben als vorgeschrieben, um vom stellvertretenden Direktor zum zweiten Mal zum Friseur geschickt zu werden. Das war für mich ein No-Go. Ich habe mich wieder zurückbringen lassen und bin dann einen sehr schweren Weg gegangen. Ich war im ersten Jahr Gastschüler im Gymnasium in Wuppertal, weil ich kein Latein und kein Englisch gehabt hatte; ich musste all diese Fächer privat nachholen. Dann hat mich der Direktor damals freundlicherweise in die neunte Klasse integriert, obwohl ich ja die Mittelschule schon beendet hatte. Also habe ich ein paar Jahre verloren. Aber ich habe mich durchgebissen, und das war wirklich nicht einfach. Die Kunstgeschichte kam erst später. Ich wollte eigentlich Regie studieren an der Hochschule für Film und Fernsehen, aber ich war noch unter 25 und habe mich deshalb an der Ruhr Universität Bochum in der Abteilung Geschichte immatrikuliert. Ich bin dann bei der Kunstgeschichte hängen geblieben, die ich im Studium zu lieben begann. In welcher Sprache fühlen Sie sich zu Hause? Würden Sie sich selbst als transkulturell bezeichnen? Also, ich spreche auch Türkisch, aber ich träume auf Deutsch. Das tue ich seit dem Kindergarten. Ich würde mich nicht als transkulturell, sondern als Assimilierenden bezeichnen, so ähnlich wie damals im Kaiserreich die jüdischen Bürger in Deutschland oder Österreich. Sie haben an dieser Kultur teilgenommen, Sigmund Freud zum Beispiel in Wien. Das ist ein Zustand, der nicht nur jüdische Mitbürger bis heute auszeichnet, zum Beispiel jemanden wie Michel Friedman, der aus Frankreich kommt und in Deutschland lebt. Ich fühle mich im Grunde genommen genauso. Ich habe die deutsche Sprache nicht gelernt im Sinne von Grammatik lernen. Mein Status ist der eines Native Speakers. Deutsch ist in gewisser Weise meine Muttersprache. Haben Sie selbst auch Zuschreibungen erlebt – sind Sie in Deutschland stereotypisiert worden? Im Prinzip nicht. Allein als ich in Dortmund im Museum Ostwall als Kustos anfangen wollte, wurde ich vom damaligen Kulturdezernenten nach meiner Staats-
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bürgerschaft gefragt. Und da konnte ich ihm meinen Personalausweis zeigen. Es gibt eine Regel, die sehr wenige Menschen kennen: Wenn eine Stelle im öffentlichen Dienst ausgeschrieben ist, werden zunächst einmal diejenigen genommen, die deutsche Staatsbürger sind, dann EU-Bürger und danach erhalten Nicht-EUBürger eine Chance. Sie haben als Nicht-EU-Bürger also wenig Chancen, so eine Stelle zu bekommen, wie ich sie habe. Ich habe meine türkische Staatsbürgerschaft nach 1990 abgegeben, nach meinem zweimonatigen Militärdienst in der Türkei, um nicht unehrenhaft entlassen zu werden. Fühlen Sie sich dennoch manchmal Ihrer Normalität beraubt – durch Fragen nach der Herkunft? Ich wollte immer in der Normalität leben – so wie meine Eltern auch. Trüge ich einen Namen wie Hans Müller, würde mich niemand nach meiner Herkunft fragen. Mein Name ist zum Glück verständlich, ihn kann jeder aussprechen. Aber einigen Migranten würde ich eine Namensangleichung empfehlen. Die Russen machen das ja sehr gerne. Der Künstler Mark Rothko hieß ja eigentlich Marcus Rothkowitz, aber das war wohl für Amerika damals nicht opportun. Rothko, das ist ein schöner Name, eine intelligente Form. Das, was die alten Griechen als List bezeichneten, damit muss man bisweilen operieren. Man kann nicht immer nur auf den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft zeigen, dass sie ihre Integrationsleistung erbringen sollen. Das ist nur eine Seite. Ich sehe eine Medaille mit zwei Seiten und gleichen Anteilen, vor allem spätestens in dieser Generation. Dieses Einfordern ist jetzt wichtig und wird nicht gerne gehört, aber so ist es letztendlich. Bei mir weiß jeder, woher ich komme, aber niemand hat irgendwann, zumindest nicht in meiner Anwesenheit, irgendwelche despektierlichen Bemerkungen gemacht. Ich sage nur manchmal in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, wenn man keine Lösung im bestehenden Rahmen findet: Gut, dann machen wir es eben auf die orientalische Art. Wenn man, sagen wir mal, den Verwaltungsweg nicht sklavisch gehen will, sondern eine Lösung sucht, die zwar korrekt ist, aber eben Bürokratie umgehen kann – ein bisschen auch wie in Österreich. Würden Sie sagen, dass Sie als Person ein Brückenbauer für das migrantische Publikum sind? Nein, gar nicht. Ich habe ja von diesem Streit über unser Ausstellungsplakat erzählt. Und dann: Jemand meiner Herkunft, der so eine Institution leitet, ist für viele … misstrauenerregend. Niemand arbeitet in so einer Institution. Es gibt Menschen türkischer Abstammung in den Medien, das ist okay, aber in so einer Einrichtung? Solche Einrichtungen sind zutiefst deutsch. Aber ich lebe eben ein ganz normales deutsches Leben oder ein Leben, das man in Deutschland lebt als derjenige, der hier aufgewachsen ist, man muss ja kein Biodeutscher sein. So, das lebe ich und ich bin nicht in dieser Community, ich bin auch nicht in dem Sinne religiös. Ich gebe noch ein Beispiel, daran können Sie das auch ermessen: Wir haben die Ausstellung Weltenbrand zum Ersten Weltkrieg gemacht10 und im Begleitprogramm zum Thema Armenien einen Vortrag von Professor Dabag gehört, der das Institut für Genozid-Forschung an der Universität Bochum leitet. Er merkte bald, dass an 10 | Weltenbrand – Hagen 1914 wurde vom 18. Mai bis zum 10. August 2014 im Osthaus Museum Hagen gezeigt.
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diesem Abend viele Erdogan-Anhänger unter den Zuhörern waren. Am Ende, als ich mich bei ihm bedankt habe, sagte ich noch, dass ich nicht der Meinung bin, dass Leugnen für immer eine Tugend sein kann. Daraufhin sind zehn Leute auf mich losgegangen. Und Professor Dabag sagte am Ende zu mir: Jetzt bist du der Verräter deines Landes.
L iter atur Primärquellen Belgin, Tayfun u.a. (Hg.) (2014): Weltenbrand. Hagen 1914 (Ausstellungskatalog), Osthaus Museum Hagen (18.05.-10.08.2014), Essen. Belgin, Tayfun (Hg.) (2010): The Huma Kabakci Collection (Ausstellungskatalog), Kunstquartier Hagen, Mönchehaus Museum Goslar, Baranya County Museum (Ungarn), Heidelberg. Dätsch, Christiane (2016): Interview mit Dr. Tayfun Belgin, Fachbereichsleiter Kultur der Stadt Hagen und Leiter des Kunstquartiers Hagen, am 09.09.2016 in Hagen (Tonband).
Sekundärliteratur Grasskamp, Walter (1981): Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums, München. Nellen, Dieter/Alexander Klar (Hg.) (2009): Kunstquartier Hagen, Emil-Schumacher-Museum (anlässlich der Eröffnung des Kunstquartiers Hagen im August 2009), Essen. Stadt Hagen (Hg.) (2015): Statistik in der Brieftasche 2015, Hagen. In: https://www. hagen.de/web/media/files/f b/stadtkanzlei/statistik/wirtschaftszahlen/Briefta sche_2015.pdf (14.04.2017). Stadt Hagen (Hg.) (2012): Integrationskonzept der Stadt Hagen, Hagen. In: www. kommunale-integrationszentren-nrw.de/sites/default/files/public/system/ steckbriefe/integrationskonzept_hagen_12-07-26_0.pdf (14.04.2017). Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Hg.) (2015): Humboldt Forum – ein Berliner Schloss für die Welt. Ein Magazin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Berlin. Wall, Tobias (2006): Das unmögliche Museum. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstmuseen der Gegenwart, Bielefeld.
Andere Quellen Nr. 1: www.osthausmuseum.de/web/de/keom/museum/museumsgeschichte/mu seumsgeschichte3.html (14.04.2017). Nr. 2: www.osthausmuseum.de/web/de/kqh/kunstquartier/kunstquartier.html (14.04.2017). Nr. 3: https://www.wp.de/staedte/hagen/kultur-in-hagen-verwaltet-sich-ab-sofortselbst-interview-mit-tayfun-belgin-id6823742.html (14.04.2017).
»Wir müssen anders denken, wir müssen auch anders sammeln.«
Nr. 4: www.osthausmuseum.de/web/de/keom/museum/museumsgeschichte/mu seumsgeschichte7.html (14.04.2017). Nr. 5: http://china8.de/wp-content/uploads/Pressetext-CHINA-8.pdf (14.04.2017). Nr. 6: www.osthausmuseum.de/web/de/keom/aktuell/ausstellungen/russische_ kunst_heute.html (14.04.2017). Nr. 7: www.zeit.de/kultur/kunst/2016-12/farah-diba-kunstsammlung-iran-tehe ran-berlin-ausstellung-absage (14.04.2017).
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V. Deutsche Willkommenskultur? Partizipation und Projekte
Freiheitsstimmen und Konzertpatenschaften Die Öffnung des Konzertwesens am Beispiel von Elbphilharmonie und Laeiszhalle Hamburg Dorothee Kalbhenn
1. »W illkommenskultur « und »F lüchtlingskrise « Welche Rolle kann ein Konzerthaus spielen, wenn es darum geht, Geflüchtete in ihrer neuen »Heimat« willkommen zu heißen? Welche Rolle können Geflüchtete innerhalb des Konzertwesens spielen? Diese Fragen stellte sich im Spätsommer 2015 die städtische Hamburg Musik gGmbH1, die als Betreiberin der beiden Konzerthäuser Laeiszhalle und Elbphilharmonie ein umfangreiches Konzertprogramm sowohl verantwortet als auch durchführt. Virulent wurden die Fragen besonders mit Blick auf das Internationale Musikfest Hamburg, das die HamburgMusik im Verbund mit weiteren Veranstaltern und Orchestern der Hansestadt organisiert. Das Motto des 2. Internationalen Musikfests Hamburg, das vom 21. April bis zum 22. Mai mit einem Epilog am 1. Juni 2016 stattfand, lautete »Freiheit« und sollte ursprünglich auf einer rein (musik-)historischen Ebene behandelt werden. Doch dann wurde der für den Konzertbetrieb so typische lange, mehrjährige Planungsvorlauf von den realpolitischen Entwicklungen in Deutschland und auf der ganzen Welt eingeholt. Infolge der bereits langanhaltenden kriegerischen Konflikte im Mittleren und Nahen Osten, aber auch in einigen Regionen Afrikas und Lateinamerikas waren humanitäre Katastrophen, die massive Einschränkung von Freiheit und schließlich Fluchtbewegungen entstanden, die 2015 nicht nur an den Rändern, sondern auch mitten in Europa unübersehbar geworden waren. Deutschland reagierte mit einem als »Willkommenskultur« bezeichneten Phänomen, das sich insbesondere im unbürokratischen und ehrenamtlichen Einsatz zahlreicher Bürger für die Geflüchteten ausdrückte. Auch politische Akte der Soforthilfe definierten den Terminus maßgeblich mit: In der Nacht vom 5. auf den 6. September 2015 hatte die Bundesregierung unter hohem Druck entschieden, tausende im Budapester Bahnhof festsitzende Geflüchtete in Bussen abholen und von der deutsch-österreichischen Grenze mit Sonderzügen nach München bringen zu lassen. Allein an 1 | Im Folgenden synonym als »HamburgMusik« oder »Elbphilharmonie und Laeiszhalle« bezeichnet.
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jenem Wochenende kamen über 17.000 Geflüchtete in München an, über 800.000 erreichten im Laufe des Jahres 2015 die Bundesrepublik (Andere Quellen: Nr. 1). Insbesondere die unkontrollierte Öffnung der Grenzen im September 2015 entfachte erbitterte politische Diskussionen. Auch wenn die Mehrheit der Deutschen hilfsbereit blieb (Andere Quellen: Nr. 2)2: Zwischen September 2015 und Mai 2016 wich die Euphorie einem politisch und medial verstärkten Skeptizismus, der das »Ende der deutschen Willkommenskultur« (Andere Quellen: Nr. 3) verkündete und im unreflektiert verwendeten Begriff der »Flüchtlingskrise« seinen deutlichsten Ausdruck fand. Mitten in diesem Stimmungswandel etablierten sich im traditionellen Konzerthaus Laeiszhalle Hamburg zwei auf Nachhaltigkeit angelegte Projekte, die das Konzertwesen bewusst für Geflüchtete öffneten und das deutsche Konzertpublikum in einem dafür untypischen Rahmen mit dem aktuellen Weltgeschehen konfrontierten: die Konzertpatenschaften sowie das Programmformat Freiheitsstimmen – Perspektiven von Neu-Hamburgern (Andere Quellen: Nr. 4). Beide Projekte entstanden in einem Netz von Kontexten: Die Konzertpatenschaften entsprangen dem Geist der »Willkommenskultur« auf ihrem Höhepunkt im Spätsommer 2015, das Projekt Freiheitsstimmen entstand wenig später, im Herbst 2015, aus den Konzertpatenschaften. Anhand dieser beiden Projekte skizziert der folgende Beitrag, inwiefern sich das stark selbstreferenzielle Konzertwesen für kunstexterne Makrofaktoren – hier: demografische Entwicklungen wie Flucht- und Migrationsbewegungen – öffnen kann, und wie Mitarbeiter von Kultureinrichtungen als kulturelle Übersetzer des klassischen Konzerts tätig werden können. Anschließend werden Konzept und Realisierung der Freiheitsstimmen beschrieben, wobei mehrere Aspekte in den Fokus rücken: Wie kann die Verknüpfung des Konzerts mit aktuellen gesellschaftlichen Themen Inhalte und Ideen, die von Werken der klassischen Musik transportiert werden, neu zum Vorschein bringen? Wie reagiert das System »Konzertbetrieb«, und wie verhält sich das Publikum, wenn es sich durch eine Veränderung des herkömmlichen Konzertformats plötzlich Ausschnitten der Lebenswirklichkeit ausgesetzt sieht, welche in der bisherigen Aufführungspraxis des klassischen Konzerts meist nicht vorkam? Ausgehend davon wird anschließend erläutert, inwiefern kulturelle Orte wie Konzerthäuser für kulturelle Übersetzungen geeignet sind. Denn beide Projekte haben das Konzerthausteam vor existenzielle Fragen, sein ureigenes Produkt – das Konzert – betreffend, gestellt, und es mit neuen, teils erhellenden, teils schmerzhaften Erkenntnissen konfrontiert. Beide Projekte dauern als Zeichen des kulturellen Dialogs weiter an beziehungsweise wirken unter anderem mit Folgeprojekten nach, während die Zuwanderungszahlen durch politische Maßnahmen bereits wieder eingeschränkt werden.
2 | Im Juli 2016 veröffentlichte die Stiftung Mercator eine Studie, in der sie zwischen dem sinkenden Integrationswillen der Deutschen und der grundsätzlich mehrheitlich vorhandenen »Willkommenskultur« unterschied: 72,9 % der Deutschen sind der Meinung: »Jeder Flüchtling hat das Recht auf eine bessere Zukunft – auch in Deutschland.« (Andere Quellen: Nr. 2)
Freiheitsstimmen und Konzertpatenschaften
2. D as kl assische K onzert als K unstform : »D ie B ürde mit der W ürde « 3 Das moderne, öffentliche Konzert ist ein revolutionäres Produkt – mit dem Imageproblem, dass es sich seit etwa 150 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Es ist ein Erbe aus einer Zeit, in der das Bürgertum gegen die Bevormundung durch Adel und Klerus opponierte und sich im Zuge einer sogenannten »Demokratisierung des Luxus« (Keldany-Mohr 1977: 41) Privilegien wie die Darbietung von Musik, die bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts den höheren Ständen vorbehalten waren, selbst erschuf. Proportional zur Professionalisierung des damals noch jungen Konzertwesens steigerte sich auch die Distanz zwischen Musikern und Rezipienten hin zum sogenannten »Darbietungscharakter« (Heister 1983: 192), wie man ihn heute noch kennt: Anders als in der frühen Phase des Konzertwesens agieren Profimusiker anstelle sogenannter Liebhaber auf der Bühne, und das Publikum nimmt lediglich rezeptiv am Konzert teil (vgl. Schwab 1980: 12f.; Heister 1983: 192). Zusätzlich trat im Laufe der Entwicklung des modernen Konzerts eine weitere Art der Distanz hinzu: Denn die Musikzentrierung des bürgerlichen Konzerts als Gegenentwurf zu Anlässen mit Musik als Gebrauchskunst wurde im 19. Jahrhundert immer wichtiger – als Entsprechung der wachsenden gesellschaftlichen Unabhängigkeit des nicht zuletzt durch die Industrialisierung erstarkenden Bürgertums (vgl. Schwab 1980: 8). Letztendlich mutierte das Konzert zu einem geschützten Rahmen für die Aufführung der – laut des Kunstbegriffs der Aufklärung – von aller Gegenständlichkeit losgelösten Musik, die perfekt die Distanz zur Banalität des Alltags verkörperte (vgl. Heister 1983: 54; Kalbhenn 2011: 34ff., 97ff.). Diese Spielart bürgerlichen Autonomiestrebens gipfelte in einer regelrechten Sakralisierung des Konzertwesens: Beides äußerte sich unter anderem im Bau von prunkvollen Konzerthäusern sowie in allerlei Gepflogenheiten und Regeln, die Hanslick schon 1854 als »quasi kunstreligiöses Andachtsverhalten« (Hanslick 1991: 77) beschrieb, und die sich bis heute in Ritualen wie dem konzentrierten Zuhören oder in festgelegter Applaus- und Kleidungsordnung spiegeln (vgl. Schulze 1992: 476). Das klassische Konzert war damit in der Hochkultur des auf Repräsentation bedachten Bildungsbürgertums angekommen; die zugehörigen Codes ließen die ursprünglich angestrebte Luxusdemokratisierung scheitern und sorgten – so die Vermutung – als Hemmschwellen dafür, dass Bevölkerungsgruppen ohne entsprechende Sozialisierung keinen Zugang zum Konzertgeschehen fanden (vgl. Schulze 1992: 477f.; Kalbhenn 2011: 46, 61f.). Verkürzt ausgedrückt: Bei der Herausbildung des Konzertwesens entstand das »doppelte Distanzprinzip« (Kalbhenn 2011: 30), das bis heute den Grundcharakter des klassischen Konzerts und des Konzertwesens ausmacht. Spätestens seit der zu Beginn des 21. Jahrhunderts proklamierten »Krise des klassischen Konzerts«, die zwischenzeitlich die Agenden von Symposien, Fachartikeln und Feuilletons beherrschte, und deren Symptom des Publikumsschwunds durch Studien belegt ist (vgl. Keuchel 2005, 2006; Mende/Neuwöhner 2005; Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2009), diskutieren Konzertveranstalter und Wissenschaftler, ob die von einer bürgerlichen Gesellschaft entworfenen Parameter auf eine veränderte, nunmehr plurale Gesellschaft – von Soziologen wie Schulze als »Erleb3 | Kalbhenn 2011: 58.
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nisgesellschaft« bezeichnet – angewandt werden können (vgl. Schulze 1992: 275f.; Kalbhenn 2011: 45f., 239f.). Unterschiedlich radikale Ansätze zur Veränderung des Konzertrahmens, der Darbietungsform und auch des Repertoires widmen sich seit der Jahrtausendwende der Frage, wie das Konzert aus seiner Musealisierung gelöst werden und für ein potenzielles Publikum wieder an Relevanz gewinnen kann. Gefordert wurden Variationen des standardisierten Konzertformats von der völligen Aufgabe der Musikzentrierung und Werkbetonung zugunsten einer vollkommenen »Performatisierung« bis hin zu einer gemäßigteren Kontextualisierung der dargebotenen Konzertinhalte, bei der nicht alles Tradierte pauschal verworfen wird (vgl. Kalbhenn 2011: 240ff.; Schmidt-Banse 2001: 51; Tröndle 2009). So unterschiedlich diese Ansätze sind, die zunächst besonders im Kontext von Festivals betrachtet wurden, und die nach und nach auch im Alltag großer Konzerthäuser Einzug hielten, so haben sie doch eines gemeinsam: Sie möchten das Konzert vom tradierten Konservativismus befreien, um Anknüpfungspunkte an die Lebenswirklichkeit einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu schaffen (vgl. Kalbhenn 2011: 242). Obwohl neuere Studien nicht unbedingt auf eine Verschärfung der Krise des klassischen Konzerts hinweisen, hält sich das oben erwähnte Imageproblem4 hartnäckig (Hagedorn 2015). Veranstalter wie die HamburgMusik suchen daher nach einer Balance zwischen Tradiertem und Aktuellem und arbeiten daran, das klassische Konzert für Interessierte mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen zu öffnen und mit einer Vielfalt von Formaten sowie sozialverträglichen Kartenpreisen gegen das Image des Konservativen und per se Elitären vorzugehen.
3. D as P rojek t der K onzertpatenschaften Diese allgemein als notwendig erkannte Öffnung wurde im Fall der HamburgMusik im Spätsommer 2015 durch das Zeitgeschehen auf besondere Art und Weise forciert. Unter dem Eindruck der ersten »Willkommenskultur« fragte sich die Belegschaft: Wie kann der Beitrag eines Konzerthauses aussehen, um Geflüchtete willkommen zu heißen und ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu gewähren? Fest stand: Es sollte keine einmalige Aktion werden, sondern ein langfristiges Projekt, das mit der Zeit in die DNA des Konzerthauses diffundieren und sich dort verankern sollte. Mitarbeiter und Intendanz handelten der Logik eines Konzerthauses entsprechend und luden Geflüchtete sowie ihre Betreuer gratis zu Konzerten ein. Der Freikarte wurde von Beginn an eine entscheidende Komponente hinzugefügt: der persönliche Faktor. Seit September 2015 verabreden sich die Mitarbeiter von Elbphilharmonie und Laeiszhalle immer wieder als sogenannte »Konzertpaten« mit Geflüchteten, empfangen die Gruppen als Gastgeber des Hauses, sind den gesamten Abend über für die Gäste da und stoßen mit einem Glas Apfelschorle auf das gemeinsam erlebte Konzert an. Der Konzertpate als interner Zugehöriger des Konzerthauses personifiziert dabei die für viele Geflüchtete fremde Kultur des klassischen Konzerts und wird für sie so zum kulturellen Übersetzer einer westlichen Kunstform: der Konzerthauskultur.
4 | Das 9. Kulturbarometer (2011) weist im Vergleich mit den Ergebnissen von 2005 keinen Abwärtstrend nach (Deutsches Musikinformationszentrum 2011).
Freiheitsstimmen und Konzertpatenschaften
Die teilnehmenden Gruppen sind unterschiedlich groß – teilweise bis zu 40 Personen stark – und kommen überwiegend aus Erstaufnahmestellen, Folgewohnprojekten und Sprachklassen; je nach Gruppengröße betreuen mehrere Konzertpaten ein Konzert. Wichtige Ansprechpartner für die Konzertpaten und zugleich Vertrauenspersonen für die Geflüchteten sind die Gruppenleiter auf Seiten der Initiativen beziehungsweise Institutionen, die sowohl in unterschiedlichen Stadtteilen Hamburgs als auch in Niedersachsen und Schleswig-Holstein verortet sind, sowie engagierte Privatleute, die sich als Mentoren persönlich um Geflüchtete kümmern. In der Saison 2015/16 begegneten die Konzertpaten insgesamt 1300 Zuwanderern. Dieses erste Projekt von Elbphilharmonie und Laeiszhalle für Geflüchtete war der Ausdruck eines spontanen Impulses aus der Mitte der Belegschaft heraus und keine von oben angeordnete Handlungsdevise. Das ganze Haus – vom Ticketing über den Caterer bis hin zum Vorderhauspersonal – hilft seither bei der Umsetzung mit. Kennzeichnend für die Konzertpatenschaften ist, dass durch die persönliche Begegnung der beteiligten Akteure die gesellschaftliche Teilhabe keineswegs asymmetrisch, sondern reziprok verläuft: Nicht nur der Geflüchtete erfährt etwas Neues. Auch der Konzertpate, also der einheimische Bürger und Konzerthausspezialist, wird vorübergehend Mitglied einer ihm unbekannten Gruppe und erfährt deren Erwartungen und Reaktionen auf eine bestimmte Situation. An dieser Stelle machen viele Paten eine überraschende Erfahrung: Dass der Konzertbesuch für die Zuwanderer ein neues Erlebnis darstellen würde, lag im Bereich des Erwartbaren. Dass er jedoch auch den Mitarbeitern des Konzerthauses einen ganz neuen Blick auf ihren Konzertalltag bescheren würde, damit hatte niemand gerechnet. Die Konzertpaten erleben regelmäßig, wie ihr so oft kritisiertes Produkt, das klassische Konzert, etwas Positives auslöst oder sogar regelrechte Begeisterungsstürme entfacht – in allen Altersklassen und auch bei Menschen, die teilweise noch nie zuvor den Namen Mozart gehört haben. Offenbar halten sowohl die klassische Musik als auch ihr tradierter Rahmen sehr viel stärkere Qualitäten bereit als weithin angenommen. Ausgerechnet die Geflüchteten, denen man mit dem Konzertbesuch eine geistige Stärkung anbieten wollte, stärken seit Beginn der Konzertpatenschaften mit ihren Reaktionen den etablierten Konzertbetrieb und dessen überraschte Mitarbeiter. Die vielfach bemängelten Rituale des Konzertwesens scheinen hier kein Manko zu sein, sondern helfen, eine besondere Situation deutlich zu markieren – sie signalisieren den neuen Zuhörern, dass sie sich außerhalb ihres Alltags bewegen. Hält man sich den Alltag vieler Geflüchteter vor Augen, kann es vermutlich kaum einen besseren Zustand geben als jenen, der möglichst wenige Berührungspunkte mit ihrem von Sorgen und Entbehrungen geprägten Alltag im Exil bietet. Viele Konzertpaten meinten anfangs, sich für die vielen Konventionen, teils sogar für die Musik, entschuldigen zu müssen. Doch die neuen Gäste kommen unvoreingenommen und sind fasziniert von der für sie exotischen Musik und der Laeiszhalle5: Das 1908 im neobarocken Stil erbaute Haus mit großzügigen Blickachsen und rotem Teppich, samtüberzogenen Sitzen, Ornamenten aus Blattgold und großen Marmorbüsten von Komponisten entlockt vielen Gästen bewundernde Reaktionen. Einige von ihnen sind durch das schiere Alter der Laeiszhalle be5 | Die hier fokussierte Saison 2015/16, in der das Projekt der Konzertpatenschaften begann, fand überwiegend in der historischen Laeiszhalle Hamburg statt (die Elbphilharmonie tritt seit ihrer Eröffnung 2017 hinzu).
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eindruckt: Sie haben noch nie ein über 100 Jahre altes Gebäude gesehen. Diese Unvoreingenommenheit der neuen Konzertbesucher soll das folgende Beispiel näher illustrieren: 20 etwa 16-jährige Eritreer, die des Deutschen nur bruchstückhaft mächtig waren, saßen bei einem Liederabend gebannt im Großen Saal der Laeiszhalle. Sie beobachteten die Mezzosopranistin Magdalena Kožená und ihren Pianisten konzentrierter als viele der Abonnenten. Einige versuchten, Wörter im Programmheft zu entziffern und in Verbindung mit dem zu bringen, was sie hörten. In der Pause fragten die Mutigen nach: »Who was this Heinrich Heine?« Ein weiteres Beispiel: Nach einem Sinfoniekonzert sagte ein staatenloser junger Mann aus dem Westjordanland, es sei das erste Mal seit Monaten gewesen, dass er die Sorge um seine in der Heimat gebliebene Familie für einen Moment vergessen konnte. Plötzlich, so scheint es, übernimmt die dem Alltag enthobene Parallelwelt des klassischen Konzerts eine wirklich existenzielle Funktion. Die Konzertpaten erlebten ab September 2015 unmittelbare Begegnungen mit jenen Menschen, die in der öffentlichen Berichterstattung aufgrund ihrer Zuordnung zur anonymen Masse der »Flüchtlinge« selten sichtbar wurden. Erst im direkten Gespräch mit den Konzertpaten traten die einzelnen Persönlichkeiten und ihre Schicksale zutage. Die regelmäßigen Begegnungen mit Menschen, die vieles ertragen und gewagt hatten, deren Freiheit bedroht gewesen war und die mit der Hoffnung auf Asyl nach Deutschland gekommen waren, beeindruckten die Konzertpaten und veränderten auch ihre Wahrnehmung der sogenannten »Flüchtlingskrise«. Nur, wie konnte man diese Erfahrung teilen? Wie könnte man den Einzelschicksalen eine Stimme verleihen, sie aus der anonymen Masse heraustreten lassen und für eine breite beziehungsweise in einer breiten Öffentlichkeit hörbar machen? Die Lösung lautete: Man könnte das 2. Internationale Musikfest als Plattform nutzen, ohne die Zuwanderer zur Schau zu stellen. Aus diesem Gedanken heraus entstand das zweite Projekt: die Freiheitsstimmen.6
4. D er be wegliche K ulturbe trieb : F reiheitstimmen – P erspektiven von N eu -H amburgern Während die ersten Konzertpatenschaften in die Tat umgesetzt wurden, liefen die letzten Planungen für das 2. Internationale Musikfest Hamburg auf Hochtouren. Es war ursprünglich nicht vorgesehen, das aktuelle Weltgeschehen und die konkrete Bedrohung der Freiheit in vielen Ländern zu thematisieren. Doch angesichts der politischen Ereignisse und der Erfahrungen bei den Konzertpatenschaften entschieden Intendanz und Team, dass es nicht zu verantworten sei, ein Festival zum Thema »Freiheit« durchzuführen, ohne über das Musikalische hinaus auf die weltweite Freiheitsbedrohung einzugehen. Man beschloss, die Konzerte deutlich mit den gesellschaftlichen Umbrüchen zu verknüpfen und denjenigen, die von diesen Umbrüchen unmittelbar betroffen waren, mit Nachdruck sowohl Gehör als auch 6 | Die korrekte Darstellung der Genese dieses zweiten Projekts ist signifikant für die Klärung, dass es sich nicht um ein »Feigenblatt« handelt, mit dem sich eine kulturelle Institution als Zeichen des gesellschaftlichen Engagements schmückt, sondern um ein Projekt aus der Überzeugung heraus, dass die Meinungen und Erfahrungen der Geflüchteten zu wertvoll sind, um sie einem größeren Publikum vorzuenthalten.
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Zugang zum Festivalgeschehen zu verschaffen. So entstand im Herbst die Idee, die Teilnehmer der Konzertpatenschaften nicht nur als Gäste zu begrüßen, sondern ihrer Perspektive auf das Thema »Freiheit« auch eine entscheidende Rolle im Konzertgeschehen beizumessen. Spontan wurden einige der Zuwanderer, die ins Konzert kamen, gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, einen kurzen Text über ihre Erfahrungen mit Freiheit und Unfreiheit zu schreiben – sowohl in ihrer Muttersprache als auch auf Deutsch – und diesen Text in einem Tonstudio einzusprechen. Die maximal zweiminütigen Aufnahmen sollten je zum Anfang der Konzerte beim Musikfest abgespielt werden, bevor die Musik beginnen würde. Die Autoren der Freiheitsstimmen würden lediglich ihren Vornamen, ihre Herkunft, ihr Alter und die Dauer des Aufenthalts in Deutschland nennen und darüber hinaus anonym bleiben. Diejenigen Konzertgäste, denen die Idee vorgestellt wurde, bejahten spontan: Sie würden gerne mitmachen. Die Einschätzung der potenziellen Akteure war für die zuständige Dramaturgin das wichtigste Kriterium. Das zweite Projekt, eine Textwerkstatt unter dem Namen Freiheitsstimmen – Perspektiven von Neu-Hamburgern, konnte beginnen.
4.1 Das Konzept als Herausforderung für die Konzerthausakteure Mit den Freiheitsstimmen verfolgte die HamburgMusik sowohl ein gesellschaftliches und menschliches als auch ein kulturinstitutionelles Ziel: Erstens sollte das Projekt das Festivalmotto der »Freiheit« einlösen, indem es die von Unfreiheit geprägten Schicksale wahrnehmbar werden ließ, um den Wert von real existierender Freiheit zu betonen. Zweitens sollte insbesondere solchen Menschen die aktive Mitwirkung in einem ursprünglich abgeschlossenen, professionellen künstlerischen Umfeld ermöglicht werden, die aufgrund ihrer persönlichen Situation von einem Leben in der Mitte der Gesellschaft eher ausgeschlossen blieben. Und drittens sollte das Konzertwesen durch die bewusste Herstellung von Bezügen zwischen Konzertgeschehen und Lebenswirklichkeit aus seinem traditionell selbstreferenziellen System herausgelöst werden, um seine eigene gesellschaftliche Relevanz zu reflektieren und zu erneuern. Das geschilderte »doppelte Distanzprinzip« des klassischen Konzerts sollte zumindest teilweise ausgeschaltet oder reduziert werden, ohne die Musik als solche anzutasten. Der für das Konzertpublikum unerwartete Impuls könnte eine neue Konnotation der zu Gehör gebrachten Musikstücke auslösen und eine Umcodierung des Konzertabends bewirken, die über einen rein ästhetischen Kunstgenuss hinausführen könnte. Dabei sollte dem Publikum jedoch keine bestimmte Interpretation vorgegeben, sondern nur die Möglichkeit eröffnet werden, eine je eigene Sicht zu entwickeln. Die Umsetzung des Konzepts der Freiheitsstimmen sah in der Reinform vor, dass das Publikum im Auditorium Platz nehmen und die Musikerformation die Bühne betreten würde. In dem Moment, in dem alle Anwesenden mit maximaler Aufmerksamkeit den Konzertbeginn erwarteten, sollte eine Freiheitsstimme eingespielt werden, zunächst in der fremden Sprache, dann auf Deutsch. Von dieser Reinform abgeleitet sollte es zwei Varianten geben: Bei der ersten würde sich während des Abspielens der Freiheitsstimme nur das Orchester auf der Bühne befinden; der Dirigent träte erst danach auf. Diese Variante würde die Bezugnahme des Textes auf die Musik eher locker gestalten und auch eine getrennte Wahrnehmung beider zulassen. Mit diesem Kompromiss wollte die Dramaturgin solchen Künstlern
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entgegenkommen, die eine bestimmte Konzentrationsspanne vor ihrem Auftritt brauchten. Eine zweite Variante, die bei technisch verstärkten Konzerten mit Singer-Songwritern oder Popkünstlern eingesetzt werden sollte, sah die Einbindung eines erklärenden Einleitungstextes vor, in deren Folge die Freiheitsstimme erklingen sollte, bevor die Musiker die Bühne betreten würden. Auf diese Weise würde das Überraschungsmoment der Freiheitsstimmen zwar stark reduziert, doch da es bei Popkonzerten im Gegensatz zu Klassikkonzerten in der Regel kein bewusstes Innehalten vor dem ersten Ton gibt, sollte diese Variante helfen, den letzten ruhigen Moment vor dem Jubel zu nutzen. Sie wurde im Verlauf des Festivals zunehmend auch bei nicht verstärkten Konzerten eingesetzt, etwa, wenn die Künstler während der Einspielung der Freiheitsstimme noch nicht auf der Bühne anwesend sein wollten. Für die HamburgMusik bedeutete das Projekt einen hohen Arbeitsaufwand, da es nicht in der laufenden Saison vorgesehen war – weder budgetär noch personell. Dabei zeigte sich, wie wichtig fördernde und unterstützende Kontakte für Kulturbetriebe sind, um über die Norm hinausgehende Ideen zu realisieren. Einen entscheidenden Partner für die Freiheitsstimmen fand die HamburgMusik in der Hamburger Körber-Stiftung, die sich seit 1959 insbesondere in den Bereichen Kultur, Gesellschaft und Politik einbringt (Andere Quellen: Nr. 5). Die Freiheitsstimmen passten zum Wirkungsbereich der Körber-Stiftung, welche die HamburgMusik bei vielen weiteren Entscheidungen des Projekts tatkräftig unterstützte und zudem eine freie Radiojournalistin sowie einen Toningenieur engagierte, um die Autoren am Aufnahmetag zu begleiten. Eine Musikvermittlerin, gebürtig aus dem Iran, übernahm die Projektkoordination: Mit ihrem Migrationshintergrund und ihrer Kenntnis des in Iran und vielen Teilen Afghanistans gesprochenen Farsi stellte sie eine wichtige Facette im ansonsten sehr westeuropäischen Projektteam dar. Das so neu entstandene Projektteam wurde noch durch einen Arabisch-Studierenden aus Tunesien in der Funktion als Übersetzer sowie einen Kollegen aus dem Team der Elbphilharmonie ergänzt, der Texte auf Deutsch im Studio einsprach, wenn ein Autor dazu selbst noch nicht in der Lage war. Er nahm auch jenen Einleitungstext auf, der bei Bedarf an den Konzertabenden vor der jeweiligen Freiheitsstimme eingespielt werden konnte, um das Publikum über das Projekt zu informieren. Geleitet wurde dieses Team von der hauseigenen Dramaturgin der Freiheitsstimmen, maßgeblich unterstützt durch den ebenfalls zur Elbphilharmonie gehörenden Redakteur. Die Kollegen des künstlerischen Betriebsbüros würden später jede einzelne Umsetzung während der Konzerte sicherstellen. Das 2. Internationale Musikfest Hamburg fußte auf einer Kooperation verschiedener Veranstalter. Von der Idee, möglichst viele Konzerte mit einem Wortbeitrag beginnen zu lassen und die Freiheitsstimmen als roten Faden des Musikfests zu etablieren, mussten diese Partner erst überzeugt werden, was überwiegend gelang. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, der private Veranstalter ProArte, die Hamburgische Vereinigung von Freunden der Kammermusik e.V. und das Ensemble Resonanz erklärten sich sofort dazu bereit. Eine Absage erhielt das Projekt hingegen vom NDR Sinfonieorchester (jetzt NDR Elbphilharmonie Orchester), das erklärte, erst abwarten zu wollen, wie sich die »Flüchtlingssituation« entwickle. Die Absage dieses wichtigen Orchesters, das nach eigenen Angaben seine Aufgabe aus Art. 5, Abs. 1, Satz 2 des Grundgesetzes ableitet, einen öffentlichen Auftrag versieht und für die Ausführung ungewöhnlicher, auch mutiger Projekte prädes-
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tiniert wäre, nahmen die Initiatoren des Projekts mit Bedauern auf.7 Für den NDR sprangen schließlich ein kommerzieller, ein von einem Verein getragener Veranstalter und ein Ensemble der freien Szene ein.
4.2 Textwerkstatt zwischen Authentizität, Professionalität und Performanz Anders als zunächst gedacht entwickelte sich auch die Zusammenarbeit mit dem Kreis der Autoren. Viele, die das Projekt ursprünglich beflügelt hatten, konnten aufgrund ihrer aktuellen Lebenslage nicht regelmäßig an der geplanten Schreibwerkstatt teilnehmen. So änderte das Team die Strategie und wandte sich an organisierte Gruppen, die bereit waren, die Freiheitsstimmen zu einem zentralen Thema innerhalb ihrer bestehenden Arbeit zu machen. Zu ihnen gehörten eine Performancegruppe des gemeinnützigen Hamburger Vereins Hajusom, die Internationale Vorbereitungsklasse (IVK) der Heinrich-Hertz-Schule und Teilnehmer eines Gratiskartenprogramms der Hamburgischen Staatsoper (Abb. 1).
Abb. 1: Die Autoren der Freiheitsstimmen auf der Bühne der Laeiszhalle. Foto: HamburgMusik/Elisabeth Burchhardt
Bis zum Eintreffen der ersten Texte blieb unklar, wie viele von ihnen für den Einsatz im Rahmen einer professionellen Veranstaltung geeignet sein würden. Einerseits lebte das Projekt von der Authentizität des Nicht-Professionellen, andererseits wurde es in einem Kontext von ästhetisch höchstem Anspruch präsentiert. Die Teilnehmer waren jedoch nicht aufgrund ihres Schreibtalents ausgesucht worden, sondern aufgrund ihrer Erfahrung, die es zu teilen galt. Das Projektteam entschied sich deshalb dafür, thematische Treue als strengstes Kriterium für die Textauswahl 7 | Auf ihrer Website beschreiben die Allgemeinen Rundfunkanstalten des Öffentlichen Rechts (ARD) ihre Orchester wie folgt: »Ihre Integrationsfunktion erfüllen die Klangkörper aber auch durch die Reflektion gesellschaftlich relevanter Themen. Sie bilden damit eine wichtige Brückenfunktion zwischen ganz unterschiedlichen Kulturen.« (Andere Quellen: Nr. 6)
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einzusetzen: Berichteten die Autoren von ihren eigenen Erfahrungen mit Unfreiheit vor dem Hintergrund ihrer Flucht, formulierten sie ihre eigene Meinung? Was dieser Anspruch bedeutete, wurde erst bei der ersten Sichtung der Texte klar: Jeder einzelne Text öffnete ein Fenster zur Welt – zusammengenommen ergaben sie ein Kaleidoskop. Es waren Berichte, die auch in ihrer unredigierten Form unmittelbar berührten. Die Wucht des Projektes wurde erst an diesem Punkt, da mit den Texten das »Herz« der Freiheitstimmen vorlag, erkennbar. Doch wo liegt die Grenze zwischen Authentizität und Professionalität? Als »Gewissen des professionellen Veranstalters« und als »Anwalt des Autors« musste das Projektteam gleichermaßen beide Interessen vertreten, ohne allzu dominant in die Vorlagen einzugreifen: Es kürzte Texte mit Überlänge, änderte die Reihenfolge der Textbausteine zugunsten einer klaren Fokussierung, verbesserte Grammatikfehler und notierte Verständnisfragen an die Autoren. Mit der fortschreitenden Arbeit an den Texten und ihrer Finalisierung stand zunehmend der gesprochene Vortrag im Vordergrund: Wie liest man den eigenen Text, wie liest man ihn in einer fremden Sprache? An vier Tagen gingen die Autoren der Freiheitsstimmen gemeinsam ins Studio der Körber-Stiftung, wo die Radiojournalistin und der Toningenieur die Studioneulinge auf dem Weg zur eigenen Aufnahme begleiteten. Alle Autoren sprachen ihren Text zumindest in ihrer jeweiligen Muttersprache selbst ein. Sobald das gesamte Aufnahmematerial vorlag, musste das Projektteam eine sensible Entscheidung hinsichtlich der Relation des muttersprachlichen zum deutschen Anteil in jedem einzelnen Hörbeitrag treffen: Eine selbst definierte Vorgabe war es, dass die Einspielungen zu Beginn der Konzerte nicht länger als zwei Minuten dauern durften, um die Aufmerksamkeitsspanne der Zuhörer nicht überzustrapazieren. Wenn also ein Originaltext im Studio etwas länger geraten war, musste entschieden werden: Wie konnte man so viel muttersprachlichen Text wie möglich integrieren – und gleichzeitig die vollständige deutsche Fassung wiedergeben? Dies war nötig, um das Ziel zu erreichen, einem Einzelschicksal vor einem deutschsprachigen Publikum Gehör zu verschaffen. Zugleich gab es ein klares Votum gegen das Übereinanderlegen der beiden Spuren während des gesamten Beitrags. Alle Texte begannen daher mit der muttersprachlichen Tonspur, und lediglich bei Texten, die zu lange dauerten, wurde sie nach einer gewissen Zeit in den Hintergrund gefahren, während im Vordergrund die deutsche Übersetzung zu hören war. Am Ende dieses Text- und Aufnahmeprozesses lagen insgesamt 33 verschiedene Freiheitstimmen in 8 verschiedenen Sprachen von Menschen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren aus 10 verschiedenen Ländern vor.8 28 Texte wurden in einem Sonderheft des Musikfestes abgedruckt (Andere Quellen: Nr. 4)9, 25 der Aufnah8 | Die Diskrepanz zwischen den 33 entstandenen, 28 abgedruckten und 25 aufgeführten Texten ist begründbar: Einige Schüler der teilnehmenden internationalen Vorbereitungsklasse (IVK) der Heinrich-Hertz-Schule kamen aus EU-Staaten wie Polen und Kroatien und dachten auf einer anderen, nicht dem Projekt entsprechenden Ebene über Freiheit nach. Ihre Texte spielten im öffentlich sichtbaren Teil des Projekts daher keine Rolle. Andere wiederum wünschten das Abspielen ihrer Texte nicht. Jeder hatte jedoch eine vollständige Freiheitsstimme erstellt und das Ergebnis zu Projektende auf einer Sammel-CD mit den Aufnahmen aller Freiheitsstimmen erhalten. 9 | Die Texte sind sowohl in der jeweiligen Muttersprache als auch auf Deutsch abgedruckt. Jeder Autor fügt seinem Text ein Bild oder ein Foto bei, das für ihn oder sie Freiheit symbolisiert (Andere Quellen: Nr. 4).
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men bereicherten 23 Konzerte des 2. Internationalen Musikfests Hamburg an 7 verschiedenen Spielstätten. Die Autoren waren zum Zeitpunkt des Projekts unterschiedlich lange in Deutschland – zwischen 19 Jahren und 4 Monaten. Sie besuchten gemeinsam mit ihren Konzertpaten und zum Teil auch mit ihren Betreuern die Konzerte und erlebten nun, wie ihre eigenen Stimmen zu einem Teil des professionellen Bühnenprogramms wurden.
4.3 Die Berührung von Kunst und Lebenswirklichkeit Nach der Textarbeit filterte das Projektteam sowohl bei den Freiheitsstimmen als auch bei den Konzertprogrammen inhaltliche Linien, Schwerpunkte und Aussagen heraus, um sie aufeinander abzustimmen und miteinander zu kombinieren. Es zog Parallelen und überlegte, ob die durch eine Freiheitsstimme transportierte Stimmung zu dem jeweiligen Konzert passte. Der inhaltlich schonungsloseste Text stammte von einem Iraner, der von seiner Folter während seiner politischen Gefangenschaft in einem iranischen Gefängnis berichtete. Dieser Text wurde mit dem Eröffnungskonzert der Reihe Überlebensmusik mit Werken der in NS-Gefangenschaft ermordeten Komponisten Gideon Klein und Pavel Haas kombiniert (Andere Quellen: Nr. 7). Auch durch die weiteren Paarungen von Freiheitsstimmen und Konzerten innerhalb der Reihe Überlebensmusik, die Musikstücke von unterdrückten und verfolgten Komponisten programmierte, wurden die Schrecken von Terrorregimes und somit eine Konstante deutlich: Geschichte wiederholt sich. Wer aufmerksam zuhörte und im Programmheft las, welche Botschaft die Musikwerke der Konzerte beinhalteten, unter welchen Umständen sie geschrieben worden waren und welches Schicksal ihre Komponisten ereilt hatte, konnte problemlos die Brücke zur Thematik der Gegenwart schlagen. Die Freiheitsstimmen verliehen den mehr als ein halbes Jahrhundert alten Musikwerken eine neue Brisanz, indem sie die historischen Bezüge der Konzerte in den Mittelpunkt rückten. In allen Texten ging es im Kern um die verlorene Freiheit oder um die Hoffnung auf Freiheit. Immer bezog sich der Freiheitsgedanke dabei auf ein bestimmtes Thema. Ein Balletttänzer erzählte, wie schwer es in Syrien gewesen sei, als Mann seinen Beruf auszuüben – Zuordnung zur Ballettmusik Der Feuervogel. Eine 16-jährige Ukrainerin stellte fest, dass man sich nicht auf seine Zukunft, seine Ausbildung, konzentrieren könne, wenn man im Krieg lebe – Zuordnung zum Konzert mit Musik von Gideon Klein, dessen Studien- und Konzertpläne aufgrund des Zweiten Weltkriegs und seiner Deportation vereitelt worden waren. Ein Syrer, Anfang zwanzig, formulierte in eigenen Worten ein Menschenrechtsgesetz – Zuordnung zu einem Utopie betitelten Konzert, das die musikalische Auseinandersetzung mit Menschenrechten quer durch die Geschichte betrachtete. Ein kurdisch-irakischer Autor drückte seinen Traum aus, in dem sich alle Menschen, egal welcher Religion, einander zuwenden und friedlich miteinander leben – Zuordnung zu Beethovens Sinfonie Nr. 9. Und dann: Ein junger Palästinenser formulierte seinen Hass auf die Israelis, gestand, Steine auf israelische Soldaten geworfen zu haben. Doch er kam zu dem Schluss, dass Gewalt keine Lösung sei und er sich heute wünsche, in seiner damaligen Hilflosigkeit anders gehandelt zu haben. Bei diesem Text tappte das Team in eine Falle: Sofort schien klar, dass die Beschreibung eines Straßen-
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kampfes durch den jungen Palästinenser inhaltlich zu The People United Will Never Be Defeated von Frederic Rzewski passen würde.10 Dieses Konzert wurde von dem russisch-deutschen Pianisten Igor Levit gespielt, der Jude ist. Das Team fragte den Künstler, ob er mit dem Text des Palästinensers einverstanden sei, nicht jedoch den palästinensischen Autor Nazih, ob er mit dem jüdischen Künstler Levit einverstanden sei. Nazih stellte die Religion des Künstlers erst nach dem Konzert fest, bei dem er sich von Levit sehr beeindruckt gezeigt hatte. In einem Nachgespräch versuchte der 19-Jährige in Worte zu fassen, wie sehr ihn dies verwirrte und vor neue Fragen stellte: »Ich wusste nicht, dass er Jude ist, aber ich fand ihn so cool! Ich habe noch nie jemanden gesehen, der seine Gefühle so ausdrücken kann.« Das Projektteam entschuldigte sich bei Nazih, ihn nicht vorher informiert zu haben.
4.4 Die Umsetzung: Variationen, Personalstile – und ein Skandal Bald zeigte sich: Der Effekt des Konzepts hing enorm vom Agieren der auf der Bühne anwesenden Künstler ab. So band der Sänger Thomas Hampson auf ganz eigene Weise zwei Freiheitsstimmen in seinen Liederabend mit dem Titel Die Gedanken sind frei ein, indem er die Texte anmoderierte und sich in der weiteren Gestaltung des Abends immer wieder auf sie bezog. Das eigentliche Konzept war damit zwar verändert, doch in ebenso starkem Maße durch das Agieren der Künstlerpersönlichkeit Hampson bereichert. Zu den Sternstunden gehörten auch die Konzerte mit dem Ensemble Resonanz und dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg: Die Dirigenten Gergely Madaras und François-Xavier Roth traten mit ihren Orchestern auf, hielten die Spannung, lauschten der Freiheitsstimme, folgten dem vor ihnen auf dem Pult liegenden Text aufmerksam und zählten bei den letzten Worten der Toneinspielung ihren ebenfalls regungslos verharrenden Musikern den Einsatz an, um mit der Musik lückenlos anzuschließen. Diese Abende zeigten die Umsetzung des Konzepts in Perfektion: eine direkte, fließende Verbindung beider Teile des unterschiedlichen Bühnengeschehens. Doch es gab auch andere Reaktionen: Einige Kammermusikformationen sortierten während der Einspielung der Freiheitsstimme Frisur und Noten, überprüften die Position der Stühle oder die Spannung des Bogens. Die so verbreitete Unruhe schmälerte das Maß an Aufmerksamkeit. Offensichtlich, das zeigten diese Episoden, ist nicht allen Künstlern klar, dass ihre Präsenz auf der Bühne alles weitere Geschehen maßgeblich beeinflusst. Eine unfreiwillige Variante des Konzepts ergab sich bei einem Konzert am 9. Mai 2016. Auf dem Programm stand ein Soloabend des Pianisten Mauricio Pollini, der neun Jahre lang nicht mehr in Hamburg aufgetreten war. Der Künstler entschied sich spontan, die Bühne erst nach dem Einspielen der Freiheitsstimme zu betreten. Die Zuspielung vom Band begann bei leerer Bühne und rief Unruhen im Saal hervor; insbesondere während des auf Deutsch vorgetragenen Teils der Freiheitsstimme waren Zwischen- und Buhrufe zu vernehmen. In der Freiheitsstimme berichtete der 18-jährige Autor Mostafa von der Unterdrückung durch die Taliban in Afghanistan, von der schwierigen Situation in Iran, wohin seine Familie 10 | Frederic Rzewski schrieb 36 Variationen basierend auf dem Protestlied El pueblo unido, das in den 1970er-Jahren zum Symbol der Proteste des Volks gegen die chilenische Militärdiktatur Augusto Pinochets wurde (Cybinski 2015).
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zunächst geflohen war, und davon, wie es ihm allein, da seine Familie nicht mitkommen konnte, in Deutschland erging. Sein Statement endete mit der Passage: »Hier kann ich lernen, hier habe ich viele Möglichkeiten. Ich versuche sie immer in allerbester Weise zu nutzen und eine schöne Zukunft zu bauen, damit ich mich irgendwann dafür revanchieren kann.« (Andere Quellen: Nr. 4) Mostafa wurde gemeinsam mit seiner Betreuerin und der Konzertpatin des Abends ein Zeuge der Situation, die eine direkte Reaktion auf den Inhalt seines Textes zu sein schien. Er selbst gab sich in der Pause gefasst: Die Menschen hätten einfach von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Offensichtlich hatte das Projekt Teile des Publikums nun über den schmalen Grat zwischen Anforderung und Überforderung getrieben. Noch während das Team die »seltsame Szenerie«11 analysierte und der Intendant entschied, das Projekt dennoch weiterzuführen, erschienen erste Berichte. Die Tageszeitung Die Welt titelte Pollini-Konzertbesucher buhen Flüchtling aus und äußerte den Verdacht, es handele sich bei den Freiheitsstimmen um den Versuch, »dem Festival auch eine politische Note zu verleihen« (Peters 2016). Der Bayerische Rundfunk erkundigte sich, ob es an der Zusammensetzung des Publikums gelegen haben könnte, und bezog sich dabei auf Geschehnisse in der Kölner Philharmonie: Hier war erst wenige Monate zuvor ein Konzert abgebrochen worden, nachdem Teile des Publikums die Darbietung zeitgenössischer Musik eines iranischen Cembalisten durch Proteste massiv gestört hatten. In der Folge wurden mögliche fremdenfeindliche Einstellungen von Konzertgästen massenmedial diskutiert. Das Hamburger Abendblatt kommentierte das Pollini-Konzert wie folgt: [S]eine Hörer mit Politik zu behelligen, wenn sie doch Musik hören wollten, war einmal eine Spezialität von Maurizio Pollini. […] Gemessen daran fiel der Auftakt zu Pollinis […] Gastspiel […] in der ausverkauften Laeiszhalle eher harmlos aus. […] Dass einige, wenige Konzertbesucher eine Rede über die Freiheit mit Buhrufen quittierten, ist unglaublich, aber wahr. (Stephan 2016)
Die HamburgMusik beschloss, die unglückliche Konzeptvariation in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen und den Fehler bei sich zu suchen. In dieser Form wurde sie auch vom Bayerischen Rundfunk zitiert: Elbphilharmonie und Laeiszhalle seien »sich sicher, dass die Reaktion des Publikums nicht durch das Flüchtlings-Statement ausgelöst wurde, sondern durch die für das Publikum unverständliche Dramaturgie – das Publikum habe den Konzertbeginn erwartet, keine Stimme aus dem Lautsprecher« (Andere Quellen: Nr. 8). Besucherzuschriften signalisierten dem Haus, dass sie das Projekt im Grunde positiv sahen, nicht aber seine Umsetzung. Sie bemängelten den fehlenden Zusammenhang zwischen dem Musikprogramm und dem Thema des Festivals; so sei nicht jedem Gast klar gewesen, dass er ein Konzert im Rahmen des Musikfestes besucht habe, das unter dem Motto »Freiheit« stand. Derweil lief der Blog des renommierten Musikexperten Norman Lebrecht heiß. Er hatte das Thema am 11. Mai unsauber aufgegriffen, einen Thread namens Pollini is booed in Hamburg over Afghan refugee (Andere Quellen: Nr. 9) eröffnet und for11 | Mailzuschrift eines Konzertgastes an die Dramaturgin Dorothee Kalbhenn vom 10.05.2016.
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muliert, dass Pollini das (Video-)Statement mit ins Konzert gebracht habe. Seine Follower bezogen sich sowohl auf diese sachlich falsche Darstellung als auch auf die Online-Berichterstattung der Welt, auf das Hamburger Abendblatt sowie auf Erfahrungen der Besucher des Konzerts. Einige versuchten, das Missverständnis zu korrigieren, doch Lebrecht wiederholte seine Darstellung und betonte, Pollini sei selbst ausgebuht worden. In über 40 Kommentaren entstand eine Diskussion, bei der sich rechtskonservative Tendenzen mit linksliberalen Positionen verkanteten. Hinzu kamen Äußerungen, das Publikum wolle im Konzert endlich Ruhe haben vor diesen »nervigen politischen Themen« (Andere Quellen: Nr. 9). Der Pressesprecher der HamburgMusik griff schließlich mit einer Darstellung des Abends und des Projektziels ein, nahm den Pianisten in Schutz und schloss nicht aus, dass das Konzept der Freiheitsstimmen einige Besucher in ihrer Konzertroutine stören könnte. Auch stellte er die entlarvende Frage: »Wie können Menschen, die in einem freien Land leben, jemanden ausbuhen, der genau diese Freiheit preist, und der ihnen dafür dankt, dass sie ihre Freiheit so großzügig mit ihm teilen?« (Andere Quellen: Nr. 9) Die mediale Diskussion brach jedoch nicht ab, bis zum Einsatz von Igor Levit: Der Pianist, der die Geschehnisse wahrgenommen hatte, zeigte sich aufgebracht und reagierte. Bei seinem Konzert in Hamburg griff er nach dem Ende von Nazihs Freiheitsstimme nicht sogleich in die Tasten, sondern zunächst zum Mikrofon und kommentierte. Grundlage und Fundament von Kunst, aber auch von Gesellschaft als solcher, ist das Zuhören. Wir hören einander zu, wir lernen voneinander, und wir teilen miteinander. Wo, wenn nicht in einem Konzertsaal, ist das Zuhören derart essenziell? Musik kann mehr sein als das »Wahre, Schöne, Gute«. Musik ist Zivilisationsgeste. Kunst ist Zivilisationsgeste. […] Zuhören ist Zivilisation. Wenn also Zuhören Zivilisation ist, möchte ich die Frage aufwerfen, ob die in der vergangenen Woche gezeigten Reaktionen auf die verlesenen Statements vor diesem Hintergrund wirklich adäquat waren. (Levit 2016)
Levit appellierte mit seiner Rede an eine übergeordnete Ebene. Sein gesamtes Statement wurde tags darauf im Hamburger Abendblatt abgedruckt. Die HamburgMusik reagierte mit einer Modifikation des Konzepts: Als Konsequenz aus der Debatte wurde bei Konzerten, bei denen zum Beispiel der Dirigent während der Einspielung der Freiheitsstimme nicht auf der Bühne stand, der erklärende Einleitungstext vorweggeschaltet. Trotz dieser Maßnahme gab es erneut einzelne Buhrufe (Mischke 2016). Die Mehrheit der in der ausverkauften Laeiszhalle anwesenden Gäste applaudierten diese Rufe zwar nieder. Doch das Spannungsverhältnis im Publikum zeigte: Die Frage nach der Fähigkeit des Zuhörens blieb unbeantwortet.
5. F a zit : D as K onzerthaus als O rt kultureller Ü berse t zung ? Während mit dem angeblichen Ende der »Willkommenskultur« ein Stimmungswechsel im Land propagiert wurde, setzte die HamburgMusik mit dem Projekt Freiheitsstimmen ganz bewusst auf eine Gegenposition. Durch sie erfuhr das Festival eine gesellschaftspolitische Aufladung, auch wenn nicht jede einzelne Freiheits-
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stimme per se als politisches Statement gelten konnte. Die Interpretationshoheit blieb zwar beim Zuhörenden, doch bereits mit der Entscheidung, einen Interpretationsspielraum zu etablieren, positionierte sich die HamburgMusik im Gefüge einer Gesellschaft, die durch die Flüchtlingsaufnahme ganz offenbar in Bewegung geraten war. So wurden gesellschaftliche Polarisierungen teils beabsichtigt, teils unbeabsichtigt sichtbar. Die Freiheitsstimmen setzten europäisches Klassikrepertoire in eine Beziehung zu Themen nichteuropäischer Schicksale und öffneten damit neue Interpretationsräume innerhalb einer vormals »geschlossenen traditionsund identitätssichernden Instanz« (Bachmann-Medick 2014: 248). Eben hiervon oft ausgeschlossene, nichteuropäische Menschen erfuhren nun einen Zugang über Partizipation. Elbphilharmonie und Laeiszhalle haben sich im Jahr 2015 mit den beschriebenen zwei Projekten erstmals entschieden, immer wieder zu einem Ort kultureller Übersetzungsakte zu werden. Für eine dem eurozentristischen Hegemonialprinzip entsprungene Institution ist dies ein großer Schritt – den zu unterlassen nicht nur arrogant, sondern fahrlässig wäre, wenn das klassische Konzert(haus) den Anschluss an eine Gesellschaft im Wandel nicht verpassen möchte. Wie wertvoll Übersetzungsprozesse auch für das Konzertwesen als Ort des Dialogs sein können, zeigen bereits die Konzertpatenschaften, in deren Rahmen immer wieder die Richtung der Übersetzung wechselt: Nicht einzig der Europäer erklärt eine europäische Kulturpraxis, sondern der Nichteuropäer vermittelt dem vermeintlichen Übersetzer die ästhetischen und seelischen Qualitäten seiner eigenen Kunst. Beide Projekte fanden beziehungsweise finden in der Mitte des Konzertalltags statt und keineswegs in einer Nische. Die Gäste der Konzertpaten mischen das westeuropäische Konzertpublikum und die Konzerthausmitarbeiter auf, die Freiheitsstimmen verknüpften hochkulturell kodierte Musik mit Flüchtlingsschicksalen zur Prime Time. Beides signalisiert: Das Konzerthaus versteht sich als Kontaktzone und fordert damit wechselseitige Vermittlungsprozesse heraus, die im besten Fall auf beiden Seiten zum kulturellen Dialog werden (vgl. Bachmann-Medick 2014: 241). Um zu einem solchen Ort der Annäherung und schließlich der Übersetzung zu werden, müssen sich stark in der eigenen Tradition verankerte Institutionen selbst reflektieren und bewusst für einen Perspektivwechsel entscheiden – was auch mit einer gewissen Politisierung einhergehen kann. Was bleibt, ist die Frage, warum sich das Konzert rechtfertigen muss, sobald es politisch wird. Ist das kunstautonome Konzept der Aufklärung und das daraus entstandene »doppelte Distanzprinzip« des bürgerlichen Konzertwesens so tief in der heutigen Gesellschaft verankert, dass sich jeder Konzertbesucher instinktiv darauf beruft? Wenn das Distanzprinzip insofern aufgebrochen wird, als dass der Musiker durch ein paar gesprochene Worte plötzlich Nähe zum Publikum auf baut, so ist das willkommen. Wenn das Distanzprinzip jedoch aufgebrochen wird, um Aspekte des Zeitgeschehens im Konzertsaal zu vergegenwärtigen, sorgt das für Aufruhr. Bei den Freiheitsstimmen wurde die Kunst als solche nicht angetastet – die Musikzentrierung blieb vollständig erhalten. Ihr wurde lediglich ein Impuls vorangestellt, der den Rahmen, in dem das Konzert stattfand, für die Dauer von maximal zwei Minuten veränderte. Bei der Verknüpfung des Bühnengeschehens mit der Lebenswirklichkeit, die auf dem Höhepunkt der Diskussion um die viel zitierte Krise des klassischen Konzerts als Lösungsansatz bezeichnet wurde, scheint es sich um einen Kunstgriff zu handeln, den man ausschließlich bei den Kulturinstitutionen
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Theater und Oper erwartet, der im – sprachlosen – klassischen Konzert aber nach wie vor Teile sowohl des Publikums als auch der Künstler und Veranstalter herauszufordern scheint. Ein Projekt allein wird das Konzertwesen nicht ändern. Doch die Freiheitsstimmen wie auch die Konzertpatenschaften haben Traditionen und Rituale des Konzertwesens infrage gestellt oder in ein neues Licht gerückt – inklusive der immer wieder proklamierten Krise des klassischen Konzerts. Das sind Ansatzpunkte, an denen Konzertmanager westeuropäischer Institutionen weiterdenken können.
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Zaide. Eine Flucht: Die Kunst, mit Oper kulturell zu übersetzen Gespräch mit der Mezzosopranistin Cornelia Lanz, Stuttgart Steffen Pross
1. Z ukunf t ? O der Z uflucht ? K ultur Die Kunstform der Oper gilt seit dem 17. Jahrhundert als Inbegriff der europäischen Hochkultur. Doch kann sie, zumal in ihrer historischen Form, auf aktuelle Themen reagieren? Ist ein Transfer historischer Stoffe auf heutige Problemlagen und Gesellschaftsverhältnisse möglich? Welche Erfahrungen teilen beispielsweise die Charaktere in Mozarts Singspiel Zaide (1780) und in seinen Opern Idomeneo (1781) und Così fan tutte (1790) mit Menschen, die heute um ihr Leben fürchten und sich auf der Flucht befinden? Und, sollten sich Parallelen finden lassen: Wie kann ein Transfer nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch gelingen, wenn sich die Regie nicht mit Anspielungen im Bühnenbild oder mit Streichungen im Libretto begnügen will, sondern geflüchtete Menschen in Rollen der Oper schlüpfen lässt? Mit solchen Fragen hatte sich die Stuttgarter Mezzosopranistin Cornelia Lanz zunächst nicht beschäftigt. Sie wollte im Jahr 2014 einfach die Partie der Dorabella in Così fan tutte singen. Doch dann zogen am Probenort der freien Inszenierung, im Kloster Oggelsbeuren bei Biberach, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ein – und Regisseur Bernd Schmitt hatte die Idee, die Handlung in ein deutsches Flüchtlingsheim zu verlegen. Die syrischen Bewohner des Klosters erhielten die Möglichkeit, im Chor der Inszenierung auf und hinter der Bühne mitzuwirken. In kürzester Zeit entstand so ein Opernprojekt, das »Menschen unterschiedlicher Herkunft mit dem gemeinsamen Ziel der Aufführung« zusammenbringen und »Austausch gegen Schweigen, Interesse gegen Ignoranz« setzen wollte (Andere Quellen: Nr. 1). Das mediale Echo der ersten Aufführungen im Herbst 2014 war groß, sowohl auf die ungewöhnliche Operninszenierung als auch auf den in der Zwischenzeit gegründeten Verein Zuflucht Kultur. Für den Auftritt des syrischen Flüchtlingschors »Zuflucht« in der ZDF-Kabarettsendung Die Anstalt erhielt der Verein im Jahr 2015 den Grimme-Preis, im selben Jahr folgten der Menschenrechtspreis 2015 von Amnesty International und der Zonta Kunst und Kultur Award Oberschwaben für Projektleiterin Cornelia Lanz (Andere Quellen: Nr. 2). Mit der Produktion des Singspiels Zaide. Eine Flucht setzten Lanz und ihr Team im Juli 2015 die Opernarbeit fort, doch unter anderen Vorzeichen: War die Mitwir-
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kung von Geflüchteten in Così fan tutte noch eine durch Ort und Zufall entstandene Idee gewesen, wurde sie in der neuen Produktion zum Programm. Das unvollendete Libretto Johann Andreas Schachtners wurde bei weitgehender Beibehaltung der Reihenfolge der mozartschen Gesangsstücke von Lanz, ihrer Dramaturgin Nora Schüssler und ihrer Regisseurin Julia Huebner mit geflohenen Künstlern aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Nigeria neu bearbeitet (Andere Quellen: Nr. 3). Zu Schachtners Handlung einer gescheiterten Flucht der europäischen Sklavin Zaide und ihres geliebten Schicksalsgenossen Gomatz aus dem Serail des Sultans Soliman gesellten sich zwei weitere Narrationen: erstens eine Rahmenerzählung, das Märchen vom bösen Drachen, der die Jugend des von ihm beherrschten Landes zur Flucht veranlasst, da sie ihn nicht besiegen kann, und zweitens Erfahrungsberichte der in Deutschland teilweise von Abschiebung bedrohten Flüchtlinge, die von den Ursachen und Erfahrungen während ihrer Flucht und vom Gefühl der Heimatlosigkeit berichten. Die drei Stränge sind lose miteinander verflochten und sorgen in der Inszenierung zudem für die Verdreifachung der Hauptfiguren Zaide und Gomatz auf der Bühne. Der erste Teil der Inszenierung spielt in Deutschland und führt den Zuschauer in die besagten drei Erzähl- und Handlungsstränge ein. Im zweiten Teil verkehren sich die Rollen und Schauplätze: Der Zuschauer findet sich mit Zaide und Gomatz in den »Vereinigten Arabischen Staaten« wieder. Hier werden die anderen Darsteller, zuvor flüchtende Bittsteller, zum Personal eines neuen »Serail«, in dem die Liebenden ankommen. Schachtners unfertiges Libretto lässt das Ge- oder Misslingen von Zaides Flucht offen, ebenso wie die Bitte um Mitmenschlichkeit und Gnade; die Zaide-Inszenierung von Lanz entlässt das Publikum mit einer Computerprojektion aktueller Flüchtlings- und Arbeitsmarktzahlen, also mit einem deutlichen Appell an die Hilfsbereitschaft für in Not Geratene. Wer mit den Darstellern der Inszenierung spricht, erfährt zweierlei. Die Geflüchteten finden sich und ihre Erfahrungen in der Produktion wieder. Und: Mozart war ihnen schon in ihren Herkunftsländern vertraut. »Was Zaide passiert, erinnert mich an meine eigene Geschichte«, sagt der 29-jährige Ökonom und Schauspieler Zaher Alchihabi, der im Sommer 2015 aus Aleppo auf der Balkanroute nach Deutschland floh.1 Trotz der orientalisierenden Züge des mozartschen Singspiels finde er sich im Libretto und in der Musik Mozarts wieder, die er als Filmstudent in Damaskus fast täglich gehört habe. Sie stärke das Stück, das er als Parabel betrachtet: Die Inszenierung steht für ihn in der Tradition des epischen Theaters von Brecht. Auch der Iraker Ayden Antanyos, der schon länger in Augsburg lebt und arbeitet, sieht es als ein gutes Zeichen, in der Geburtsstadt Bertolt Brechts und Leopold Mozarts Zuflucht gefunden und so die Möglichkeit zur Mitwirkung am Zaide-Projekt erhalten zu haben.2 Seine Auftritte in Zaide sieht der gelernte Schauspieler und Kameramann vor allem als Chance für einen beruflichen Neustart, von dem er träumt: »Das Jobcenter verlangt ein geregeltes Einkommen von mir«, sagt er – was hätte ihm da Besseres passieren können als dieses Engagement. Er hofft, sein Publikum glücklich zu machen, »als Schauspieler akzeptiert zu werden und nicht nur als Flüchtling«. Die Produktion bietet ihm dazu reichlich Gelegenheit: Antanyos spielt einen Fahrkartenkontrolleur, einen Grenzbeamten, 1 | Interview mit Zaher Alchihabi am 06.10.2015 im Theaterhaus Stuttgart. 2 | Interview mit Ayden Antanyos am 06.10.2015 im Theaterhaus Stuttgart.
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einen arabischen Koch, einen Polizisten und den Sultan Soliman. Dass er in all diesen Rollen geflohene Menschen drangsaliert, sei »etwas eigenartig«, schließlich habe er die gesellschaftlichen Zustände im Irak selbst als einen großen Alptraum erlebt und sei froh, sich in Deutschland sicher fühlen zu können. »Aber ich mag es, den bad guy zu spielen«, sagt Ayden Antanyos. Dank Zaide habe er nicht nur seine Sprachkenntnisse verbessert, sondern auch viel über Deutschland gelernt. Im Gegensatz zu Alchihabi und Antanyos hat der afghanische Dentist und Harmoniumspieler Ahmad Shakib Pouya keine Bühnen- oder Filmerfahrung aus seiner Heimat mitgebracht. Opern gebe es in Afghanistan nicht, er selbst habe allenfalls Grunderfahrungen im Internet mit dem Genre sammeln können, sagt er.3 Auch das gemeinsame Spiel mit Frauen sei für ihn – da in Afghanistan verboten – eine sensationelle Erfahrung gewesen. »Jetzt bin ich ein Opern-Fan«, meint Pouya, der in Zaide nicht nur als einer der drei Gomatz-Darsteller mitwirkt, sondern auch die fehlende Ouvertüre durch ein selbstgeschriebenes Liebeslied in Farsi ersetzt.
Abb. 1: Zaide – eine Flucht: Das Ensemble bei der Probe. Foto: Zuflucht Kultur e. V./Lioba Schöneck
Tatsächlich ist auch für Cornelia Lanz, die Initiatorin, Projektleiterin und Hauptdarstellerin von Zaide. Eine Flucht, das »bessere Verstehen der anderen Kultur« ein zentrales Ergebnis der gemeinsamen Arbeit. Für sie stand politisch und künstlerisch die Frage im Mittelpunkt, was Oper für die Flüchtlinge bewirken könne. Der Gedanke an Brecht lag ihr dabei ferner als ihren Darstellern aus der Krisenregion Nahost. Geboren 1981 in Mainz und aufgewachsen im oberschwäbischen Biberach, studierte Lanz Anglistik, Musik und Schulmusik in Stuttgart und beendete ihr Studium mit dem Zweiten Staatsexamen. Zeitgleich ließ sie sich in New York und Stuttgart zur Opernsängerin ausbilden. Seit 2010 ist sie als freischaffende Künstlerin (Mezzosopran/Alt) tätig. Im Jahr 2014 gründete sie den gemeinnützigen Ver3 | Beantwortung einer Publikumsfrage anlässlich des deutsch-arabischen Lesekonzerts Labo Agen. Eine andere Winterreise, Gerlingen, 21.01.2016. Pouya sollte im Dezember 2016 abgeschoben werden. Weil zahlreiche Interventionen zu seinen Gunsten letztlich ergebnislos blieben, ist er im Januar 2017 »freiwillig« nach Kabul ausgereist. Nach einer Abschiebung wäre ihm eine Wiedereinreise in die Bundesrepublik unmöglich gewesen.
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ein »Zuflucht Kultur«, um Integration und Völkerverständigung durch Kunst und Kultur, insbesondere durch Musik, zu ermöglichen. Aus dieser Aktivität erwuchs nicht zuletzt immer mehr der Wunsch, auch über die politische Rolle der Kunst und im Besonderen jene der Oper nachzudenken.
2. I ntervie w : C osi fan tut te und Z aide . E ine F lucht Liebe Frau Lanz, bei Così fan tutte war die Einbeziehung von Geflüchteten in gewisser Weise zufällig. Wie kam die Zusammenarbeit genau zustande? Und wie verlief sie? Schon als wir Così fan tutte geplant haben, habe ich mich gefragt, wie ich mich als Sängerin gesellschaftlich aktiver engagieren kann. Meine Liebe und meine Leidenschaft gehören der Musik und dem Singen – da bin ich stark und authentisch. Doch ich hatte das Glück, dass wir in einem ehemaligen Kloster probten, in dem auch 74 Syrer zu Gast waren, und dass Bernd Schmitt, der Regisseur, das Stück dort ansiedelte. Ich bin dann selbst ins Kloster Oggelsbeuren eingezogen, und das Thema hat mich das ganze Jahr nicht mehr losgelassen. Diese ganzen Geschichten – was der Krieg mit den Menschen macht, wie er ihr Grundvertrauen zerstört, wie er Strukturlosigkeit, Schlaflosigkeit, Ohnmacht und Erschöpfung hinterlässt – kommen in unserer Bearbeitung von Zaide zum Ausdruck. Es war mein großer Wunsch, den Teilnehmenden größere Rollen in der Oper zu ermöglichen als das bei Così fan tutte möglich war. Denn es dauert sehr lange, bis überhaupt einmal Vertrauen aufgebaut ist. Es war nicht so, als würde ich zu lauter Schwaben im Kirchenchor sagen: Seid um zehn Uhr da, dann proben wir. Beispielsweise hatten wir an einem Abend eine Probe mit 30 Syrern auf der Bühne, wir hatten großen Spaß und haben bis nachts getanzt. An diesem Abend haben sie sich geöffnet, haben sie uns ihre schrecklichen Fluchtgeschichten erzählt und uns ihre Narben gezeigt. Aber am nächsten Morgen war niemand zur Probe da, auch meine besten Freunde nicht, von denen ich dachte, zu denen habe ich eine Beziehung aufgebaut. Ich habe an diesem Tag nicht nur einmal an die Türen geklopft und gesagt: »Hey, macht doch wieder mit! Wir wollten doch was zusammen machen!« Doch sie hatten Così fan tutte gegoogelt und einen gleichnamigen Erotikfilm gefunden. Erst durch einen Feueralarm kamen alle wieder raus und ich konnte ihnen erklären: »Nein, wir machen keinen Porno. Kommt mit, wir machen Liebesszenen, aber keinen Porno!« Beide Seiten mussten aufeinander zugehen! Bei Zaide ist, im Gegensatz zu Così fan tutte, die Flucht das zentrale Thema der Handlung. Haben Sie das Singspiel deshalb ausgewählt? Warum wollten Sie das Projekt fortsetzen? Nach Così fan tutte wollte ich unbedingt eine Oper aufführen, die es erlauben würde, auch die Geschichten der Flüchtlinge zu verarbeiten. Wir dachten deshalb zunächst an Mozarts Idomeneo4, weil diese Oper die Geschichte eines Schiff bruchs ist und Idomeneo aus vier Jahren Trojakrieg zurückkehrt. Er schwört, den ersten 4 | Die Inszenierung der Oper Idomeneo wurde am 09. Juli 2016 als Kooperation des Vereins Zuflucht Kultur mit dem Klangkörper BandArt bei den Schlossfestspielen Ludwigsburg uraufgeführt. Sie kam außerdem im Herbst 2016 bei den EZB-Kulturtagen bei Frankfurt zur Aufführung und am 27. August 2017 beim Lucerne Festival (Andere Quellen: Nr. 4).
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Menschen, dem er begegnet, zu opfern, sollte er überleben, und stellt damit sein Menschenleben über ein anderes Menschleben – eine enorme Hybris und die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens, der wir in der Flüchtlingsfrage stets begegnen. In Idomeneo gibt es den Chor der Ertrinkenden. Aber weil wir unerwartet viele Aufführungen mit Così fan tutte hatten und viele politische Auftritte, habe ich es nicht geschafft, die Finanzierung für den Chor und das große Orchester zu organisieren, die für Idomeneo nötig sind. So kam ich auf Zaide, ein 80-minütiges Mozart-Fragment, das viel Raum gibt, es auszugestalten, und das viel weniger stringent ist als ein Meisterwerk wie Così fan tutte. Darüber hinaus erzählt auch Zaide die Geschichte einer Flucht, von Unterdrückung und Sklaverei. Zaide flieht als europäische Sklavin, und sie flieht mit Gomatz. Entscheidend für die Flucht ist eine Liebesentscheidung. Das ist eine Frage, die wir uns gestellt haben: Flieht man eigentlich zu zweit? Flieht man mit seiner Liebe – oder lässt man sie zurück? Gibt es überhaupt Liebe im Krieg? Viele Syrer haben mir gesagt, in den vier Jahren Krieg gab’s gar keine Liebe. Andere sagten: Ich hab’ den Krieg nur durch Liebe überlebt. Daraus entstand der unbedingte Wille, ein neues Libretto zu schreiben, eine neue Inszenierung zu wagen. Ich bin sehr glücklich, dass es uns Zaide erlaubt hat, weitere Erzählungen in die Oper einzubauen, andere Kulturen in die Mozart-Welt zu integrieren, zum Beispiel auch eine nigerianische und eine orientalische Band. Die Erzählung hat auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den afrikanischen Kulturen sehr zum Nachdenken angeregt. Esther Jacobs, die nigerianische Tänzerin, die Zaide körperlich interpretiert, sagte einmal: »A white slave?« So etwas kannte sie vorher nicht. Und es passte auch nicht in ihr Konzept von Sklaverei.
3. D ie D arsteller Wie und wo haben Sie Ihre ersten Darsteller gefunden, und nach welchen Kriterien haben Sie sie ausgewählt – eher nach professionellen Standards oder nach sozialen Notwendigkeiten? Beim ersten Projekt in Oggelsbeuren bin ich in das Heim eingezogen und habe die Flüchtlinge, die dort ankamen, einfach gefragt: »Wir machen Oper. Wollt Ihr mitmachen?« Da habe ich mit Amateuren gearbeitet. Im Laufe des Jahres kamen durch die vielen Auftritte und durch das arabische Facebook auch immer mehr Profis zu uns, die gerne mitmachen wollten. Andere wurden durch Ehrenamtliche und Arbeitskreise Asyl vermittelt. Wir haben alle Interessierten in den Chor integriert und sind immer weiter gereist. In Augsburg, wo wir Zaide produzieren wollten, bin ich in alle sechs Flüchtlingsheime gegangen, habe mich vorgestellt und Kontakt zu den Sozialarbeitern aufgenommen. Dort gibt es zum Beispiel das Grandhotel Cosmopolis, ein Heim, in dem Flüchtlinge, Künstler und »normale« Hotelgäste miteinander leben, mit einem wunderbaren Cafébereich, in dem ich Flüchtlinge treffen konnte. Ich hatte das große Glück, hier gleich drei Profis zu finden – die nigerianische Tänzerin Esther Jacobs-Völk, den jungen Afghanen Ahmad Shakib Pouya und den irakischen Schauspieler Ayden Antanyos. In Augsburg befindet sich aber auch das schrecklichste Heim Bayerns, eine alte Kaserne. Es ist ein Hauptdrogenumschlagplatz, dort klebt noch das Blut von Messerstechereien an der Wand. Da habe ich drei Nächte im Zimmerchen der Caritas übernachtet und bin wirklich an meine Grenze gekommen. Es war auch sehr schwierig, die Leute
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dort anzusprechen, weil es erstens keinen Treffpunkt gibt, keinen Bereich, an dem man sich gern aufhalten würde, sondern nur versiffte Gänge, und zweitens, weil die Menschen teilweise schon so depressiv waren, dass es schwierig war, an sie heranzukommen, mit ihnen in Kontakt zu treten und etwas zu machen. Die Darsteller bringen ja nicht nur Fluchtgeschichten mit, sondern auch ihre eigene kulturelle Identität. Wie verändert sich dadurch die Arbeitsweise gegenüber einer herkömmlichen Opernproduktion? Sie verändert sich komplett. Wir hatten beispielsweise viele Diskussionen über das Verhältnis von Mann und Frau, etwa, dass man sich im Ramadan nicht die Hand geben darf, oder dass muslimische Frauen nicht auf die Bühne dürfen. Es gab auch viele religiöse Diskussionen. Für mich als Produktionsleiterin, die versucht, diese sehr inhomogene Gruppe zusammenzuhalten, rücken solche Dinge in den Vordergrund. Doch diese ganzen kulturellen und religiösen Gegensätze lassen sich mit einem offenen Herzen und mit Ehrlichkeit lösen. Wenn ich den Männern gesagt habe, es stört mich, dass Ihr mir im Ramadan die Hand nicht gebt, da fühle ich mich komisch behandelt, dann sagten sie: »okay«, und man ging aufeinander zu. Alle wirklichen Probleme sind menschlicher Art, die sind gar nicht kultureller Art. Neid beispielsweise finden Sie in jeder Opernproduktion, unabhängig von Nationalitäten.
4. D as L ibre t to Schachtners Zaide-Libretto ist verschollen. Zwar kennen wir die Gesangsstücke, aber es fehlen die Zwischentexte und der Schluss. Die bekannten Passagen thematisieren die Welt des 18. Jahrhunderts, den Exotismus und den Herzschmerz. Wie kann man diese anachronistisch wirkenden Motive auf heutige Konflikte anwenden? Das habe ich mich auch gefragt. Deshalb habe ich zuerst zwei heutige Libretti studiert. Das erste stammt von Feridun Zaimoglu – allerdings sind bei ihm die Araber die Bösen. Das entfiel also für eine Aufführung mit arabischen Flüchtlingen. Das zweite hat Hans Magnus Enzensberger in Zusammenarbeit mit Irene Dische verfasst. Ich habe lange mit ihm über Zaide geredet, weil ich sein Libretto sehr ansprechend fand. Es ist sprachlich sehr gut, weil er auch die Arien umgeschrieben hat. Er hätte es uns sogar zur Verfügung gestellt. Doch unsere Dramaturgin Nora Schüssler befand den Schachtner-Text für weniger verstaubt als gedacht, und mittlerweile bin ich auch von ihm angetan. Nehmen Sie die Zeile »Trostlos schluchzet Philomele, in dem Käfig eingeschränkt, und beweint mit reger Kehle, dass man ihre Freiheit kränkt«, oder »Ruhe sanft, mein holdes Leben, schlafe, bis dein Glück erwacht!« – eigentlich sehr schön. Auch die Syrer haben schnell eine Verbindung zu diesen Texten aufgebaut. Deshalb haben wir sie fast nicht verändert und auch nur ganz wenige Wörter modernisiert. Aber Sie haben das Libretto aufgebrochen, durch eigene Texte und zwei neue Handlungsstränge: das Drachenmärchen und die Fluchterfahrungen Ihrer Protagonisten. Wie ist dieses Skript entstanden? Ich habe all die Geschichten, die mir im vorangegangenen Jahr erzählt worden waren und selbst widerfahren sind, gesammelt. Dann haben wir uns zu zehnt mit
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der Dramaturgin Nora Schüssler und der Regisseurin Julia Huebner zusammengesetzt. Nora Schüssler hat die Ergebnisse unserer Diskussionen in den endgültigen Text gepackt. Er hat sich während der Arbeit weiter verändert, das war ein Prozess. Manchmal mussten wir Szenen wieder rauswerfen, wenn wir merkten, dass sie nicht funktionierten, wenn auch zum Leidwesen der Mitspieler. Eine Liebesszene zum Beispiel war schlicht zu kitschig. Andere Szenen hingegen haben wir ausgedehnt. Die letzte Textfassung ist von Nora Schüssler. Inzwischen gibt es eine Münchner Fassung, die am 11., 13. und 14. Januar 2017 in München zur Aufführung kam. Dana Pflüger, Dramaturgin aus München, Dominik Frank, Regisseur aus München, Gabriel Venzago, unser Dirigent, und ich haben die ursprüngliche Fassung aktualisiert und verknappt. Die Verdreifachung der Erzählung im Libretto findet ihre Entsprechung in der Verdreifachung der Hauptfiguren Zaide und Gomatz. Sie werden singend, sprechend und tanzend dargestellt. Es war in erster Linie mein Wunsch, dass auch die geflüchteten Darsteller Hauptrollen bekommen. Ich wollte nicht, dass nur deutsche Sänger in den Hauptrollen zu sehen sind, weil wir nun einmal Mozart singen können. Deswegen war ich froh, auch Profis unter den Flüchtlingen zu finden. Trotzdem war die Besetzung nicht ganz einfach, etwa jene der sprechenden, »dritten« Zaide. Wir haben viermal umbesetzt. Bei der ersten Darstellerin mussten wir mit Intrigen einer Ehrenamtlichen aus Neid umgehen. Der zweiten Darstellerin wurde von ihren Söhnen verboten, auf die Bühne zu gehen. Dann kam eine junge Syrerin, eine Jesidin, deren Vater fünf Tage vor der Premiere erschossen wurde. Sie brach auf der Straße zusammen, als ihr Vater starb. Die junge Türkin Berna Celebi, die jetzt die Rolle spielt, macht das sehr gut, ist aber kein Flüchtling. Bei der Münchner Fassung spielt sie Fahimeh Baghnavi, ein iranisches Flüchtlingsmädchen. Ähnliches habe ich bei der Besetzung der Sprecherrolle von Gomatz erlebt. Houzayfa Al Rahmoon, der syrische Schauspieler, war schon bei Cosí fan tutte dabei. Er schrieb sehr schöne Gedichte, wir haben inzwischen seinen Gedichtband Der Schrei der Heimat auch verlegt. Am Anfang hat er mich drei Wochen lang nur angeguckt und geraucht und Karten gespielt. Der Pater in Oggelsbeuren hat zu ihm gesagt: »Mach’ doch Oper mit der Conny!«, aber er hat sich nicht gerührt. Dann allerdings gab uns ein anderer Flüchtling aus dem Libanon seine Gedichte, die wir in die Oper einbauten. Daraufhin wurde Houzayfa eifersüchtig und hat angefangen, uns seine Gedichte zu zeigen. Er hat sich auch an der Opernproduktion beteiligt und ist auf der ganzen Tournee sehr treu dabeigeblieben. Bei Zaide spielt er jetzt die Sprecherrolle des Gomatz.
5. M oz arts M usik Welche Rolle spielte Mozarts Musik für die Darsteller? Spüren Sie eine Auseinandersetzung mit der historischen Oper? Enthält diese Musik möglicherweise selbst ein sozialkritisches Moment? Ich empfinde Mozarts Musik als ein Medium, um aufeinander zuzugehen, sich voneinander zu erzählen. In Oggelsbeuren war ich zwei Wochen im Flüchtlingsheim gewesen und habe die Inszenierung vorbereitet, ohne eine einzige Fluchtoder Kriegsgeschichte zu hören. Die Flüchtlinge haben in dieser Zeit mit mir ge-
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lacht und Kaffee getrunken, aber der Kontakt blieb sehr an der Oberfläche. Dann kam die erste Mozart-Probe mit den Sängern und Klavier – und danach saßen wir bis nachts um drei Uhr zusammen. Dann haben sie mir ihre Narben gezeigt und erzählt, dass sie mit 120 anderen in einem Raum wie diesem waren, es wurde plötzlich alles ganz plastisch. Sie haben mir Videos von abstürzenden Hubschraubern auf dem Handy gezeigt. Das ist alles durch Mozart passiert. Wir Sänger sind sehr verletzlich und offen, wenn wir singen, und wir blamieren uns auch, wenn wir singen. Das gab ihnen das Gefühl: »Hier kann ich mich auch öffnen und vertrauen, ich kann meine Botschaft transportieren. Sie ist gut aufgehoben hier.« Das ist dank Mozart passiert, das hat die Musik mit den Leuten gemacht. Und was machen sie mit Mozart? Wie sie ihn hören und interpretieren, das gibt mir mehr Inhalt. Ich habe gerade die Carmen gesungen, in einer ganz normalen, klassischen Inszenierung ohne Flüchtlinge. Ich sollte einfach schön und sexy sein. Da habe ich mich doch gewundert … Ich bin froh, durch die Begegnung mit Geflüchteten einen weiteren Inhalt meiner Kunst gefunden zu haben. Das Schlimmste wäre, auf der Bühne zu stehen und zu bemerken, dass die Kunst keinen Subtext mehr hat. Natürlich darf Kunst auch mal einfach nur unterhalten und gefällig sein. Aber ich finde die Mischung sehr spannend: politisches Theater in der Oper. Mozart selbst war in seiner Zeit ja immer sehr kritisch und hat das zum Ausdruck gebracht. Sei es im Figaro, wo er gegen das ius primae noctis angeschrieben hat, sei es in der Zauberflöte – der Aufklärungsoper schlechthin. Er war ein politisch denkender Geist. Zwei Ihrer Schauspieler sehen in Zaide eine Spiegelung ihrer eigenen Geschichte. Die Historizität der Oper, die europäische Zeichnung des Orients waren für sie kein Problem. Wie sehen Sie das? Ich gehe ziemlich offen an so etwas heran und vertraue der Kraft der Musik und darauf, dass die Menschen sagen, wenn sie etwas stört. Und in einer Opernproduktion spielen ja noch ganz andere Sachen eine Rolle, zum Beispiel die Teambildung. Die Flüchtlinge bekommen bei dieser Produktion die Möglichkeit, ihre eigene Botschaft zu transportieren, sie arbeiten in einer professionellen Struktur, mit einem guten Orchester, in einem liebevollen Ambiente und mit einem ehrlichen Umgang. Diese Dinge waren erst einmal viel wichtiger als die Geschichte, die sie nach und nach verstanden haben. Und Mozarts Musik wirkt ja heute noch genauso wie damals. Vielleicht ist manches von heute aus gesehen eine übertriebene Ausdrucksweise. Aber ich finde, dass die Syrer noch viel emotionaler sind als wir, ihre Emotionalität noch viel stärker ausdrücken. Auch die Musik versucht eine Integration der Kulturen: Sie beziehen nigerianische Trommeln, ein persisches Harmonium, eine syrische Saz und eine Oud aus Afghanistan mit ein. Allerdings kommen die damit verbundenen Musikkulturen weniger zum Tragen als die Fluchterfahrungen. Gab es dafür künstlerische Gründe? Teils ja, teils lag es an den Umständen. Sonst hätten wir nichteuropäische Musiken öfter eingebaut. Man kann nicht immer sicher sein, dass die Musiker zur Probe kommen. Ein Musiker hatte zunächst tatsächlich mehr Szenen in der Aufführung, bekam dann aber Liebeskummer und brach eine Woche lang weg. Liebeskummer ist für die Flüchtlinge mehr als nur Liebeskummer. Es kann um die Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland gehen, denn Liebe bedeutet vielleicht eine Ehe und die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen. Der Mann war also in einem
Zaide. Eine Flucht: Die Kunst, mit Oper kulturell zu überset zen
tiefen Tal. Andere waren schlicht unzuverlässig. Das muss man in dieser Härte sagen.
6. O per heute – O rt eines kulturellen M iteinanders ? Im Gegensatz zu Schachtners fragmentarischer Erzählung einer gescheiterten Flucht erzählen Sie die Geschichte zu Ende. Sie bezeichnen Ihre Oper als ein Friedensprojekt und beenden das Singspiel mit der Einblendung aktueller politischer Informationen. Welche Aussagen verfolgen Sie damit? Wir haben viel über diese Adaption diskutiert, auch darüber, inwieweit man die Not von geflohenen Menschen in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt bringen soll, wie es unser Schlussbild tut. Das entscheidende Argument dafür war, dass wir dazu animieren wollten, auch wirklich zu helfen. Das überwiegend akademisch gebildete Opern- und Konzertpublikum kann ja durchaus etwas tun, sei es durch Patenschaften, sei es durch Hilfen beim Studium beziehungsweise Praktikumsplätzen, sei es mit Übersetzen. Jede Form ist an sich geeignet, etwas für die Flüchtlinge zu tun. Wenn ich keine Sängerin wäre, aber Basketball spielen könnte, würde ich Basketball mit ihnen spielen und hätte auch etwas für die Integration getan. Wir wären dann eben ein sportliches Team, das eine Form der Willkommenskultur darstellen würde. Nur so können die Flüchtlinge wirklich Teil unserer Gesellschaft werden und wir auf sie zugehen. Bekommt die Oper durch diese aktuellen Bezüge eine neue Qualität? Sie haben die Oper einmal als eine zeitlose Gattung bezeichnet, die aktueller sein kann als manches moderne Medium. Ich wollte nichts gegen historische Inszenierungen sagen. Es gibt fantastische historische Inszenierungen! Aber ich finde es für mich toll, ein Publikum zu haben, das die Oper aus der heutigen Zeit heraus verstehen will. So war das ja auch bei Mozart. Man kann Oper heute so spielen, dass man es beim Zitat belässt. Man kann sie aber auch auf unsere Zeit beziehen, indem man die Ruhe sanft-Arie im Flüchtlingsheim spielen lässt. Gewinnen kann man dadurch vielleicht ein besseres Verständnis der anderen Kultur. Ich habe mich beispielsweise auf die arabische Musik geworfen. Wir treten in anderen Veranstaltungen auch mit arabischen Liedern auf und haben in Zaide mit dem Gedanken an einen arabischen Chor gespielt, es aber gelassen. Es wäre nicht richtig gewesen, einen Laienchor einem hoch professionellen Orchester auszusetzen, das hätte qualitativ nicht funktioniert. Kulturell wäre es kein Problem gewesen. Wir arbeiten jetzt ja an Idomeneo. Da möchten wir das Orakel, das eigentlich von einem Bass gesungen wird, durch einen syrischen Chor ersetzen. Mir ist es wichtig, dass ich die Leute nicht ausstelle, sondern ihre Kultur als etwas Wundervolles präsentieren kann – was sie ja auch ist. Ihre Aufführungen sollen ein breites Publikum erreichen – von klassischen Opernfans bis hin zu politisch und sozial Engagierten und jungen Leuten. Wie erleben Sie das Publikum von Zaide? Wir haben viele Schulklassen im Publikum, auch Flüchtlinge, sozial und politisch Engagierte und Besucher, die nebenbei einfach mal Chips essen. Es ist spannend, ein Publikum zu erreichen, das unmittelbarer reagiert, das lacht und zwischen-
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durch klatscht, wo normales Opernpublikum nicht klatscht. Es gab aber auch politische Auseinandersetzungen, etwa, als eine Frau mit einem Assad-Poster in der ersten Reihe saß. Die Darsteller kamen erregt von der Bühne und sagten: »Who is this woman, who puts Assad right in my face? I don’t go back to the stage!« Als bei der Premiere die Nachrichtenagentur Reuters vertreten war, hatten manche Angst, dass die Nachricht über unsere Oper in ihren Kulturraum getragen würde und ihren Familien in Syrien dadurch etwas passieren könnte. Es gab sogar eine Schlägerei im Bus. Es gibt so viele Perspektiven. Ein Teilnehmer beispielsweise war in Syrien schwerstens gefoltert worden, bevor er fliehen konnte. Mit unserer Oper bekam er in Deutschland ein Podium vor 1.000 Leuten und auch vor den Medien. Er hatte die Möglichkeit, Anti-Assad-Parolen zu rufen. Ein anderer Geflüchteter bekam es mit der Angst zu tun und sagte: »Darfst du nicht, weil sonst in Syrien meiner Mutter was passiert.« Das ist ein enormer Konflikt! Es kam sogar die Polizei und musste schlichten. Wir arbeiten in einem enormen Spannungsfeld, manchmal in einem Pulverfass. Aber es ist toll, mit einer Oper aus dem 18. Jahrhundert der Gegenwart so nah zu sein, etwas in der Zeit auszudrücken. Wir können so auch beweisen, wie aktuell die Kunstform Oper sein kann.
L iter atur Primärquellen Pross, Steffen (2016): Publikumsgespräch mit Ahmad Shakib Pouya am 21.01.2016 in der Jahnhalle Gerlingen (Mitschrift, unveröffentlicht). Pross, Steffen (2015): Interview mit Cornelia Lanz am 14.10.2015 in Ludwigsburg (Tonband). Pross, Steffen (2015): Interview mit Zaher Alchihabi am 06.10.2015 im Theaterhaus Stuttgart (Mitschrift, unveröffentlicht). Pross, Steffen (2015): Interview mit Ayden Antanyos am 06.10.2015 im Theaterhaus Stuttgart (Mitschrift, unveröffentlicht).
Andere Quellen Nr. 1: www.zufluchtkultur.de/oper-cosi-fan-tutte (03.01.2016). Nr. 2: www.zufluchtkultur.de/politisch-soziale-auftritte (28.01.2017). Nr. 3: www.zufluchtkultur.de/oper-zaide (03.01.2017). Nr. 4: www.schlossfestspiele.de/de/veranstaltungen/mozart_idomeneo1.htm (28.01.2017).
Multaka: Treffpunkt Museum Kulturelle Übersetzer im Deutschen Historischen Museum (DHM), Berlin Brigitte Vogel-Janotta
1. S tif tung D eutsches H istorisches M useum »Manchmal unterbreche ich meine Fahrt nach Hause und gehe noch kurz ins Deutsche Historische Museum, um zu schauen, ob alle Objekte noch da sind. Ich liebe dieses Museum und alles, was damit zu tun hat!« Von ihrer Begeisterung erzählt die syrische Führungsreferentin Sandy während eines Schulungstermins im Dezember 2016 im Deutschen Historischen Museum in Berlin – ein Jahr nach Beginn des Führungsformats Multaka: Treffpunkt Museum, bei dem sie als Guide mitarbeitet. Im Oktober 1987, als das Deutsche Historische Museum (DHM) im Reichstagsgebäude des damaligen West-Berlin gegründet worden war, hatte noch niemand an syrische Guides gedacht, die Geflüchtete und deutsche Besucher in Gruppen auf selbst erarbeiteten Rundgängen durch 1500 Jahre deutsche Geschichte im europäischen Kontext begleiten würden. Gleichwohl erfüllen auch sie die Zielsetzung, welche die Gründungskommission des neuen Museums neben anderen Aufgaben beschrieben hatte: Das Museum soll Ort der Besinnung und der Erkenntnis durch historische Erinnerungen sein. Es soll informieren, die Besucher darüber hinaus zu Fragen an die Geschichte anregen und Antworten auf ihre Fragen anbieten. Es soll zur kritischen Auseinandersetzung anregen, aber auch Verstehen ermöglichen und Identifikationsmöglichkeiten bieten. […] Das Museum soll mit den ihm eigenen Mitteln den Wissens- und Erfahrungsbestand der Besucher bereichern, ihre historische Vorstellungskraft anregen und ihnen selbständige Urteile erleichtern. (Andere Quellen: Nr. 1)
Die Deutsche Einheit im Jahr 1990 hatte auch für das DHM weitreichende Folgen. Ursprünglich war es als Museumsneubau im Spreebogen geplant gewesen. Nach der Wiedervereinigung wurde das Museum ins Zeughaus Unter den Linden verlegt, wo das 1952 in der DDR gegründete Museum für deutsche Geschichte (MfdG) ansässig war. Seine Sammlungsbestände, Gebäude, Außenmagazine und Archive
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gingen in den Besitz des neuen DHM über; die Sammlungen beider Museen wurden vereint. Schon vor der Vereinigung, seit dem Jahr 1988, hat das Deutsche Historische Museum Sonderausstellungen gezeigt, die aktuelle Forschungen zu Aspekten der deutschen Geschichte thematisierten. Nach der Fusion der Museen und mit der endgültigen Festlegung des Sitzes im Zeughaus wurde für die Sonderschauen zudem ein Neubau geplant. Entworfen und realisiert von dem chinesisch-amerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei, steht er seit dem Jahr 2003 als moderne Ausstellungshalle hinter dem Zeughaus zur Verfügung. Im Zeughaus selbst eröffnete das DHM drei Jahre später seine Dauerausstellung Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen. Seitdem können sich die Besucher des Hauses auf zwei Geschossen über die Epochen der deutschen Geschichte im europäischen Kontext informieren. 7.000 Objekte und zahlreiche Multimediastationen, Audioführungen in neun Sprachen sowie ein breitgefächertes Vermittlungsprogramm für unterschiedliche Zielgruppen beinahe jeden Alters sollen Besucher aus dem In- und Ausland in die Lage versetzen, »das Museum als Wissensspeicher und Erlebnisort selbständig zu nutzen und zu reflektieren« (Andere Quellen: Nr. 1).
2. M igr ation als Thema im D eutschen H istorischen M useum Die Bundesrepublik Deutschland gilt seit dem Jahr 2000, in dem die Bundesregierung das Staatsangehörigkeitsrecht reformiert hat, offiziell als Einwanderungsland.1 Diesem Umstand trug auch das DHM mit seinem Sonderausstellungsprogramm Rechnung: Gleich in mehreren Ausstellungen wurde das Thema Migration aufgearbeitet und reflektiert. Hervorzuheben sind vor allem die Ausstellungen Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen. 1500-2005 (Herbst 2005 bis Frühjahr 2006) und Fremde? Bilder von den ›Anderen‹ in Deutschland und Frankreich seit 1871 (Herbst 2009 bis Frühjahr 2010). Mit ihnen wollte das DHM unter anderem das öffentliche Bewusstsein dafür schärfen, dass Zuwanderung in Deutschland kein neues Phänomen ist, sondern eine lange, bekannte und teilweise auch beschwiegene Geschichte hat, die bis heute Anlass zu Auseinandersetzungen bietet. Migration als gesellschaftliches Phänomen führt deshalb auch in einem historischen Museum immer wieder zu neuen Fragestellungen. Nach dem Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration lebten im Jahr 2015 rund 17,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, was etwa 21 % der Gesamtbevölkerung, also jeder fünften Person, entspricht (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration 2016: 18). Diese Personen stellen keine homogene Gruppe dar, sondern haben verschiedene ethnische Wurzeln und sind in allen sozialen Milieus anzutreffen. Wanderungsbewegungen von Menschen sind heute globaler denn je; sie verändern eine Gesellschaft und befördern zugleich ihre Weltoffenheit (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration 2016: 38).
1 | Dazu trug auch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und das neue Einbürgerungsrecht im Jahr 2000 bei (Andere Quellen: Nr. 2).
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Die parallel zu den Ausstellungsaktivitäten laufenden Fachdiskussionen über Migration als inhaltliche und gesellschaftliche Aufgabenstellung für Museen (vgl. Deutscher Museumsbund 2015: 7-11) sowie die von der Kulturpolitik angestoßene Frage, wie die Integration von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte durch Einbindung in kulturelle Prozesse intensiver gestaltet werden könnte2, bewirkten im DHM die enge Zusammenarbeit des Fachbereichs Bildung und Vermittlung mit Stiftungen, Universitäten, Schulen und Migrantenorganisationen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigten. Unter anderem wurde das Ziel verfolgt, partizipative Programme zu entwickeln und in den Ausstellungen anzubieten. Als im Herbst 2015 von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zudem der Wunsch an alle Museen herangetragen wurde, geflüchtete Menschen willkommen zu heißen, begann der Fachbereich Bildung und Vermittlung im DHM damit, Sonderführungen zur deutschen Geschichte auszuarbeiten und in den fünf Sprachen Arabisch, Farsi, Albanisch, Russisch und Serbokroatisch anzubieten. Die Sprachbarriere, die für viele Geflüchtete einen Ausschluss von gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe bedeuten kann, sollte auf diese Weise verringert werden. Unter dem Motto Willkommen in Deutschland – eine Zeitreise durch die deutsche Geschichte wurden Formate entwickelt, die den neuen Mitbürgern anhand der Dauerausstellung des Museums ein Grundwissen über die deutsche Gesellschaft vermitteln sollten: die deutsche Verfassung, die parlamentarische Demokratie, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Trennung von Kirche und Staat. Für Deutschlernende in den Orientierungs- und Integrationskursen kamen als weitere Themen der Nationalsozialismus und die deutsche Nachkriegsgeschichte hinzu; sie wurden im Modul Geschichte und Verantwortung in mehrstündigen Geschichtswerkstätten erarbeitet. Das Modul Geschichte und Verantwortung wurde vom DHM in thematischer Anlehnung an das Curriculum des Orientierungskurses für Geflüchtete konzipiert; es sah das Kennenlernen des deutschen politischen Systems und der gesellschaftlichen Ordnung vor, um den Teilnehmern die zentralen historischen Themen Nationalsozialismus, deutsch-deutsche Teilung und deutsche Einheit vorzustellen und mit ihnen zu diskutieren. Das Vermittlungsformat In Deutschland – Staatsbürger sein thematisierte als offene Geschichtswerkstatt das politische System, die staatlichen Symbole und die geschichtliche Entwicklung der Bundesrepublik. Die Themen boten allesamt innerhalb der Gruppen Raum für Diskussionen und eine selbstständige Aneignung. Alle Angebote des DHM wurden von Historikern sowie Politologen des Referententeams ausgearbeitet, realisiert und mit wachsender Erfahrung zu Dialogformaten weiterentwickelt.
2 | Vgl. etwa die vom Deutschen Kulturrat angestoßene »Initiative kulturelle Integration«, die von Dezember 2016 bis Mai 2017 insgesamt 15 Thesen zur kulturellen Integration erarbeitete (Andere Quellen: Nr. 3).
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3. M ultak a : Treffpunkt M useum . E in K ooper ationsprojek t für G eflüchte te Auf diese Erfahrungen konnte das Team des Fachbereichs Bildung und Vermittlung unmittelbar zurückgreifen, als sich im Herbst 2015 der Direktor des Museums für Islamische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB), Prof. Dr. Stefan Weber, an den damaligen Präsidenten der Stiftung Deutsches Historisches Museum, Prof. Dr. Alexander Koch, mit einer besonderen Bitte wandte: Das DHM solle Kooperationspartner im Projekt Flüchtlinge als Multiplikatoren in Berliner Museen werden, dessen Initiator unter anderen er selbst war. Es stellte einerseits eine Reaktion auf das Chaos bei der Aufnahme von Geflüchteten in Berlin dar, andererseits war es als Antwort auf das Erstarken der islam- und fremdenfeindlichen Organisation Pegida3 in Dresden gedacht. Dank der Unterstützung durch das Programm Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend konnte das Projekt finanziert werden. Zu den vier Museen – Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, Museum für Vorderasiatische Kunst (Vorderasiatisches Museum), Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst (Bode-Museum) sowie Deutsches Historisches Museum – kamen noch die Bildungsabteilung der Staatlichen Museen zu Berlin und das Syrian Heritage Archive Project hinzu. Im Rahmen des Syrian Heritage Archive Project engagiert sich im Museum für Islamische Kunst seit 2013 eine Gruppe von syrischen Architekten, Denkmalpflegern und Historikern für die Erstellung eines digitalen Archivs zu Syrien, eine Dokumentation der Zerstörungen und des illegalen Kunstmarkts (Andere Quellen: Nr. 4; 5). Im Kreise der Mitarbeiter – einige von ihnen hatten selbst eine Fluchterfahrung, andere waren in der Community ausgezeichnet vernetzt – kam die Idee auf, Geflüchteten in Museen eine Aufgabe zu geben und depressiver Wartestimmung entgegenzuwirken. Doch aus dieser anfänglichen Idee wurde viel mehr: Die Führungen sollten in der Muttersprache stattfinden und den Austausch verschiedener kultureller und historischer Erfahrungen ermöglichen. Dabei sah das Konzept von Anfang an die aktive Beteiligung der Geflüchteten beziehungsweise von Tutoren bei der Ausarbeitung der Rundgänge in den vier Museen und bei der Erstellung der jeweiligen Curricula vor (Andere Quellen: Nr. 6). Das bedeutete, dass sie als Guides in die Entwicklung und Diskussion der Führungs- und Werkstattformate eingebunden werden sollten. Als Projektname wurde das arabische Wort multaka (»Treffpunkt«) festgelegt, womit das Zusammenkommen von Menschen, aber auch der beteiligten Museen schon im Titel ausgedrückt wurde.
3.1 Vier Häuser, vier Sammlungen: Inhalte und Schwerpunkte Die in ihren Sammlungen und Themen so unterschiedlichen Partner einte vor allem die Zielrichtung des Projekts: Die Museen in Berlin-Mitte wollten für die Geflüchteten aus den Kriegs- und Krisengebieten offen sein und ihnen die Möglichkeit zum Dialog mit Kultureinrichtungen im Aufnahmeland bieten. In ersten 3 | Pegida ist die Abkürzung für »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«.
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Planungsrunden, zu denen das Museum für Islamische Kunst einlud, trafen sich Museumspädagogen, Sammlungsleiter, Volontäre, Freiberufler und Studenten, um organisatorische Fragen wie den Projektnamen, die Auswahl der Guides, Schulungsprogramme, Termine der öffentlichen Führungen, Werbung und Honorare und die weitere Finanzierung zu diskutieren. Zugleich wurde deutlich, dass das Format an die einzelnen Häuser, die sich in ihren Strukturen und Sammlungen erheblich unterscheiden, angepasst werden musste. Aus diesem Grund erfolgten die ersten Vorüberlegungen zur Konzeption der Rundgänge im Planungsstab der Museen, auch wenn die endgültige Festlegung der Rundgänge erst mit den Guides erfolgen sollte. Das Vorderasiatische Museum und das Museum für Islamische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) stellen ihre Sammlungen im Pergamonmuseum aus. Die Ausstellungsstücke im Vorderasiatischen Museum gehen auf Ausgrabungen der Deutschen Orientgesellschaft im 19. Jahrhundert und auf Schenkungen von Mäzenen wie James Simon zurück. Sie kommen größtenteils, wie auch die Objekte im Museum für Islamische Kunst, aus der Gegend des heutigen Syrien und des Irak. Hier bot sich die Chance, dass Geflüchtete aus diesen Ländern das Kulturerbe ihrer Heimat wiedersehen oder erst kennenlernen, in jedem Fall aber mehr darüber erfahren könnten, wie und warum diese Gegenstände nach Berlin gekommen waren. Im Vorderasiatischen Museum werden antike Kunstwerke aus der Region Mesopotamien bis Kleinasien gezeigt – dort könnten folglich das berühmte Ischtar-Tor aus Babylon von Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) mit seiner Prozessionsstraße und das Markttor von Milet (ca. 100 n. Chr.) im Mittelpunkt einer Führung stehen. Das Museum für Islamische Kunst sammelt Werke aus derselben Region, doch aus den islamisch geprägten Epochen. Ein bekanntes Objekt ist die Fassade des umayyadischen Wüstenschlosses Mschatta, die der osmanische Sultan Abdulhamid II. dem deutschen Kaiser Wilhelm II. schenkte. Es lag nahe, es in einen Rundgang einzubinden, der die deutschen Grabungen auf dem Gebiet des heutigen Irak in den Fokus rückte. Die angedachte Themenführung Von Babylon bis Uruk würde somit nicht nur zwei Museen, sondern auch zwei Kulturkreise verbinden. Bereits bei diesen ersten Überlegungen diskutierte das Team auch über grundsätzlichere Themen, die in den Führungen angesprochen werden könnten, wie etwa den Umgang mit der Religion: So sollte es nach Ansicht des Teams ein übergreifender Inhalt im Museum für Islamische Kunst sein, dass es nicht den einen Islam gibt. Auch boten sich mit dem christlichen Aleppo-Zimmer und der samaritanischen Damaskus-Nische – beide im Stil der islamischen Kunst – direkte Bezugspunkte zur kulturellen Verfasstheit Syriens an. Ein anderes Themen- und Objektfeld bot das Bode-Museum. Das gleichfalls auf der Museumsinsel gelegene Gebäude zeigt Kunstwerke aus den Sammlungen des Museums für Byzantinische Kunst, die dem antiken Mittelmeerraum entstammen, ebenso wie Objekte der Skulpturen- und Gemäldesammlung aus dem europäischen Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert sowie der Münzsammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Auch hier schien es möglich, Bezüge zur Heimat der Geflüchteten herzustellen. Es wurden die drei Themenbereiche Koptisches Ägypten, Byzantinisches Reich (ohne Ägypten) und Weströmisches Reich konzipiert, welche die Vielfalt dieser Regionen und ihrer unterschiedlichen Objektgattungen zeigen soll-
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ten. Darüber hinaus konnten die Entstehungsgeschichte und die Architektur des Gebäudes in die Führungen integriert und thematisiert werden. Derlei direkte Bezüge auf den außereuropäischen Kulturraum ließen sich im Deutschen Historischen Museum nicht herstellen, denn seine Dauerausstellung Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen erzählte vor allem historische Ereignisse der deutschen und europäischen Geschichte. Deshalb wurde hier eine andere Ebene der Vermittlung angestrebt: Für das Planungsteam des DHM stand nach den ersten Planungsrunden fest, dass es in seinem Konzept das Oberthema Krise und Erneuerung in den Vordergrund stellen wollte. Ausschlaggebend dafür war unter anderem, dass der Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland von Seiten der Geflüchteten häufig das größte Interesse entgegengebracht wurde; zugleich ist die NS-Zeit für die deutsche Geschichte selbst von hoher Bedeutung. Auch die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland, die Friedliche Revolution von 1989 und die Deutsche Einheit 1990 sollten bei den Rundgängen in den Fokus gerückt werden. Diese Abschnitte deutscher Geschichte umkreisen (universale) Themenkomplexe wie Macht, Krieg, Zerstörung oder Religion; sie regen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit der Gegenwart an.
3.2 Der gemeinsame Vermittlungsansatz Als nächster Schritt stand für die vier Häuser die Einigung auf gemeinsame Prämissen der Vermittlung an. Als ein gemeinsames Oberziel war formuliert worden, mit Multaka ein dialogisches Format zu realisieren, das es den Führungsreferenten und Teilnehmenden gleichermaßen ermöglichen sollte, sich mit der alten und der neuen Heimat auseinanderzusetzen und über Themen miteinander ins Gespräch zu kommen. Wenn möglich, sollten den beteiligten Guides darüber hinaus die Institution Museum, ihre Funktion als kulturelles Gedächtnis sowie ihre unterschiedlichen Ausprägungen als archäologisches, kunsthistorisches oder historisches Museum vertraut werden. Um bei den Besuchern das Interesse zu wecken und sie zur Kommunikation zu ermuntern, galt es, semantische Anknüpfungspunkte und passende Identifikationsmöglichkeiten ausfindig machen. Dafür bot sich das Konzept des kulturellen Austauschs als methodischer Ansatz an: Um Wanderungsbewegungen und Kulturkontakte zu visualisieren, sollten Artefakte ausgewählt werden, die aufgrund ihrer Gestalt die Herkunft aus fremden Kulturen oder den Einfluss fremder Kulturen auf die eigene Kultur nachvollziehen ließen. Objekte, die beispielsweise als Kriegsbeute in die Sammlungen gekommen waren, boten sich an, um solche Kulturbegegnungen im Kontext von Machtdiskursen zu illustrieren: in Kriegen, durch Sieger und Besiegte. Auch Objekte, mit denen sich universelle Themen wie Religion, Demokratie, Freundschaft oder Freiheit visualisieren ließen, rückten für die Vermittlung in den Vordergrund. Sie ermöglichten einerseits, vergangene Kontexte zu vergegenwärtigen, in denen sie eine Rolle gespielt hatten, und andererseits die Positionen in der Gegenwart zu reflektieren und zu hinterfragen. Eine Antwort auf die Fragen: »Wer bin ich?« und »Was ist das, was ich ›eigen‹ nenne?«, wird gemeinhin mit der Reflexion über die eigene kulturelle Identität gleichgesetzt (vgl. Nasreddine 2016: 365). Solche Gedankengänge waren ebenso wie der gewünschte Austausch über antike und moderne Kulturen und deren Geschichte mit der Auswahl geeigneter Objekte in allen Museen zu be-
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werkstelligen, da sie den historischen Transfer und zugleich die Anknüpfung an aktuelle Lebenssituationen ermöglichten. Auf der pragmatischen Ebene bedeutete die Entscheidung, in allen vier Häusern Guides aus der irakischen und syrischen Community einzusetzen, dass man die »fremde« Perspektive auf deutsche Museumsgeschichte bewusst zulassen wollte. Das Prinzip: Eine Person aus einem Herkunftsland erklärt einer Person aus demselben Herkunftsland die Kultur des Gastlandes. Sie fungiert als Lotse und Vertrauensmann (Querfurt 2016), indem sie das kulturell Fremde oder auch Nahe erläutert und für die eigenen Landsleute »übersetzt«. Dabei transportiert sie unter Umständen auch ihre Sicht auf die Vergangenheit und eine Geschichte, die nicht oder nur in Teilen die ihre ist. So bringt nicht nur die Deutung des gezeigten Gegenstandes, sondern auch der Vermittler selbst eine perspektivische Ebene in seine Kommunikation ein. Die beteiligten Häuser ließen sich auf diesen Übersetzungsprozess ein, indem sie die Entscheidung der Guides respektieren wollten, in den Führungen eigene Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit den Inhalten zu vermitteln. Sie bejahten die Wertigkeit dieser Perspektive, gaben bewusst ein Stück Kontrolle über die Vermittlung ab und versuchten, den ersten Schritt in Richtung Partizipation zu gehen. Damit verbunden war auch der Wechsel von einem fest konturierten zu einem prozessorientierten Kultur- und Bildungsbegriff, der den Dialog als Ziel in den Mittelpunkt stellt. Alle vier Museen achteten bei der Auswahl und den Schulungen der Guides allerdings auch auf deren kritische Selbstreflexion und Sensibilität, etwa bei der Verwendung von Begriffen oder der Berücksichtigung der Lebenssituationen der Geflüchteten sowie der Einordnung von eventuellen Vorurteilen durch kulturelle Prägungen.
3.3 Die Konzeption des Rundgangs im DHM Den Prototyp des Rundgangs konzipierten im DHM die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Fachbereichs Bildung und Vermittlung, die eine universitäre Ausbildung als Historiker, Kunsthistoriker und Geschichtsdidaktiker hatten, und die über langjährige Erfahrungen in der Vermittlungsarbeit verfügten. Da es unmöglich und auch nicht zielführend schien, 1500 Jahre deutsche Geschichte im europäischen Kontext zu »unterrichten«, stand bei Multaka die Vermittlung von Strukturen historischer Ereignisse und die Kenntnis von Umbrüchen in der deutschen respektive europäischen Geschichte im Vordergrund. Leiten ließ sich das Team von folgenden Fragen: Wo gab es Schnittpunkte zwischen der Herkunftswelt der syrischen Guides und ihrer neuen Heimat? Welche Parallelen konnten zwischen der deutschen und der arabischen Vergangenheit gezogen werden? Wie lebten die Menschen früher? Welche Geschichte wäre mit der eigenen Erfahrung und Situation vergleichbar? Welche Inszenierungsmomente wurden für die Darstellung historischer Phänomene eingesetzt? Am Ende standen 20 Themenbereiche fest, die sich an Objektgruppen in der chronologisch aufgebauten Dauerausstellung des DHM festmachen ließen. Wichtig war die Auswahl »sprechender« Exponate für den Rundgang: Sie sollten die ganze Bandbreite materieller Hinterlassenschaften umfassen – Gemälde, Skulpturen, Mosaike, Waffen, Kleidung, Fotografien und Transparente – und die Themen der Abschnitte sichtbar werden lassen.
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In seiner didaktischen Struktur orientierte sich der Rundgang an den genannten universellen Oberthemen wie Religion, Demokratie, Freiheit oder Gleichberechtigung. Er begann im zweiten Geschoss im Themenbereich Krisen, Konzilien und Reformen, in dem ein Ablassbrief von Kardinal Raimund Peraudi zum Kampf gegen die Türken aus dem Jahr 1502 gezeigt wird, führte dann in den Bereich Die Reformation und ihre Folgen für das Reich und hielt vor den Porträts von Martin Luther und dessen Frau Katharina Bora. Die nächsten Stationen zeigten eine Inszenierung des Dreißigjährigen Krieges und erinnerten an die Türkenkriege samt der Belagerung von Wien 1683, bei der Friedrich von der Groeben, Generalleutnant und Generaladjutant des polnischen Königs Johann III. Sobieski, ein Osmanisches Zelt erbeutet hatte. Damit boten die vier ersten Stationen die Gelegenheit, das Oberthema Religion zu diskutieren: Der Kampf zwischen den christlichen Konfessionen, der Missbrauch von Religionen für Machtfragen im Osten wie im Westen, aber auch das Engagement von Einzelnen für Transformationen, wie sie etwa die prominente Figur Martin Luther versinnbildlichte, sollten Fragen und Gespräche provozieren und eventuell auch Assoziationen der Geführten mit eigenen Erlebnissen ermöglichen. Die Bereiche Von der Französischen Revolution zum Wiener Kongress, 1848 – Epochenschwelle zur Moderne und Massenauswanderung in die Neue Welt konzentrierten sich auf Oberthemen wie Wege zur Demokratie, Gründe für Flucht und Auswanderung oder Industrialisierung und Arbeitswelt. Dafür wurde ein Porträt des auch in Syrien bekannten Kaisers Napoleon I. im Krönungsornat ausgewählt, ebenso wie die erste deutsche Verfassung und einige nationale Symbole. Assoziationen eigener Erfahrungen der Guides und Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt der Geführten waren dabei gewollt. Um den Beginn, aber auch die Unterdrückung der Freiheitsbewegungen im 19. Jahrhundert zu illustrieren, griff das Konzept auf ein Ölgemälde aus dem Themenbereich Massenauswanderung in die Neue Welt zurück: Es zeigt den Untergang des Auswandererschiffes Austria am 13. September 1858 und erinnert an die Massenemigration aus Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach der gescheiterten Revolution 1848 hofften viele Deutsche auf politische Freiheit in der Neuen Welt, und die Kunde von »unbegrenzten Möglichkeiten« für tüchtige und wagemutige Unternehmer in Nordamerika veranlasste verarmte Handwerker zur Auswanderung. Doch die überbelegte Austria geriet durch Leichtsinn in Brand, von den 542 Passagieren konnten nur 89 Menschen gerettet werden. Eine historische Darstellung erzählt so von Migration mit tödlichem Ausgang und lässt Parallelen zur heutigen Situation vieler Emigrierender und Flüchtender offensichtlich werden (Abb. 1). Die Ausstellungsbereiche Wege zum Nationalstaat, Das Bismarck-Reich und Das Wilhelminische Kaiserreich wurden mit dem Oberthema Heimat verbunden: Um Bezüge zur neuen Heimat herzustellen, rückte das Konzept die Vorlage für das Mosaik der Berliner Siegessäule und Gemälde mit Darstellung von Berliner Straßenszenen in den Blickpunkt. Zum syrischen Allgemeinwissen und zu den Erinnerungskulturen der alten Heimat gehören der Besuch Kaiser Wilhelms II. in Damaskus ebenso wie die Folgen des Ersten Weltkriegs für die Grenzen des heutigen Syrien. Im Erdgeschoss verfolgte der Rundgang im Bereich Die schweren Anfänge der Republik die Gleichberechtigungsbestrebungen der Frau in der Weimarer Republik, im Bereich Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sollten die Unterschiede
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zwischen Demokratie und Diktatur sowie die Herausforderungen eines Friedensschlusses nach 1945 deutlich werden. Wie konnte ein zerstörtes Europa geeint werden, und welcher Weg führte vom geteilten Deutschland zur deutschen Einheit? Die Vorbereitung führte vor Augen, dass Adolf Hitler offenbar auch in Syrien die bekannteste deutsche Persönlichkeit ist. Ähnliches belegt die DHM-Führungsstatistik, da das Interesse ausländischer Besuchergruppen an der nationalsozialistischen Geschichte allgemein am größten ist. Trotz erster Bedenken, dass dieser Zeitabschnitt bei den Geflüchteten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse wachrufen könnte, wurden die Jahre 1933 bis 1945 in das Führungskonzept aufgenommen. Im Vordergrund standen die Themen Ausgrenzung und Verfolgung von Andersdenkenden respektive von Menschen unterschiedlichen Glaubens, das Funktionieren eines Geheimdienstes, die Ausschaltung der Opposition, Zwangsarbeit, Kriegsführung und Propaganda. Hoffnung sollten die Jahre nach dem Krieg geben, in denen Frieden geschlossen, die zerstörten Städte wiederaufgebaut und der Wohlstand für alle angestrebt wurde. Der Rundgang mit seinen einzelnen historischen Stationen, seinen Oberthemen und seiner Objektauswahl wurde abschließend in einem Reader zusammengefasst, der zugleich die Abbildungen der Ausstellungsräume, der ausgewählten Objekte und ausführliche Informationstexte enthielt. Er sollte dem Planungsteam als Vorlage für die Vorstellung der Dauerausstellung bei den Guides dienen.
Abb. 1: Führung vor dem Gemälde von Carl Berthold Püttner Untergang des Auswandererschiffs Austria am 13. September 1858, Wien 1858, Öl auf Leinwand. Foto: Staatliche Museen Berlin/Milena Schlösser
3.4 Die Schulung der Guides Auf persönliche Einladung und nach Bekanntmachung des Projekts in sozialen Netzwerken bewarben sich erfolgreich 20 Tutoren aus der syrischen und irakischen Community als potenzielle Multaka-Guides in einem der vier Museen. Sie hatten allesamt einen Bezug zu Kunst und Kultur, zu Museen, Architektur oder Stadtgeschichte und brachten so die notwendigen Grundlagen für die Vermittlungsaufgabe mit. Viele von ihnen lebten bereits seit mehreren Jahren in Deutsch-
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land und waren prädestiniert für die Aufgabe des »kulturellen Übersetzers«, da sie nicht nur Syrien, sondern auch Deutschland gut kannten. In einem dreitägigen deutsch-arabischen Workshop lernten die Guides die Ausstellungen und die Teams in den vier beteiligten Museen kennen. Zusätzlich erhielten sie eine Schulung in Rhetorik und Vermittlungsmethoden. Anschließend sollten sich die Bewerber für ein Museum entscheiden. Nach der ausführlichen Erörterung der Themen und Inhalte waren alle Beteiligten sehr überrascht, dass sich die meisten – insgesamt sieben Personen – für das DHM entschieden. Ihr Interesse für die Geschichte, die Kultur und die Werte Deutschlands sei dafür ausschlaggebend gewesen, sagten die Guides; schließlich lebten sie nun hier. Die vier Männer und drei Frauen wurden daraufhin an drei Tagen in Anwesenheit eines Dolmetschers von wissenschaftlichen Mitarbeitern des Fachbereichs Bildung und Vermittlung im DHM geschult, eigneten sich mit viel Engagement die Inhalte an und konzipierten auf der Basis des Readers im Austausch mit den DHM-Mitarbeitern einen individuellen Rundgang. Auf diese Weise gestalteten die Guides sofort nach ihrer Auswahl das Führungsprojekt Multaka aktiv mit. Zwischen den Guides und den Mitarbeitern im DHM entwickelten sich im Lauf der Monate teilweise vertraute Beziehungen, die zu einem intensiven Austausch über Familie, Beruf, Studium und Freunde führten. Diese Gespräche vermittelten auch den deutschen Kollegen andere Blickwinkel auf die Ausstellungsobjekte und regten zum Nachdenken über das Bild des jeweils Anderen an. Auffallend war, dass fast alle Guides im DHM bei ihren Rundgängen den Fokus auf das Oberthema Religion und die Religionskriege des 17. Jahrhunderts legten, was auch damit zusammenhängt, dass einige von ihnen Christen sind. Im Austausch wurde deutlich: Unter der Zerstörung des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Konfessionen durch den Krieg leidet die ganze syrische Bevölkerung. Die Guides, die unterschiedliche Konfessionen, politische Einstellungen und Herkunftsgeschichten haben, konnten sich bei der Betrachtung jahrhundertelanger politischer Prozesse in Europa über die Mechanismen von Religionskriegen unterhalten und dabei eigene Bruchlinien ausblenden. Lange Diskussionen ergaben sich auch über die Vermittlung von Ideologien und darüber, wie der Nationalsozialismus für die Gruppen von Geflüchteten dargestellt werden sollte. Einig waren sich alle Beteiligten, dass die – teilweise vorhandene – Faszination für Adolf Hitler als Diktator bei den überwiegend männlichen Teilnehmern der Rundgänge aufgebrochen werden müsse. Die weiblichen Guides stellten häufig den Kampf für die Frauenrechte in den Vordergrund, um damit unter den Geflüchteten ihre teilweise schon in Syrien begonnene Aufklärungsarbeit zur Gleichberechtigung der Geschlechter fortzusetzen. Alle Guides zeigten ein umfassendes Allgemeinwissen und großes Interesse für die deutsche Geschichte. Einig waren sie sich, dass viele Syrer oftmals zu wenig historisches Wissen hätten, und dass es ihnen daher schwerfalle, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. In der Schule sei Geschichtsunterricht in der Regel nur ein Auswendiglernen von Jahreszahlen; Museumsbesuche seien eher die Ausnahme als die Regel, und der Zusammenhang zwischen Geschichte und Objekten sei in ihrem Heimatland völlig unklar. Außerdem wurde von den Guides darauf hingewiesen, dass die Museen in Syrien oft »Stolzfabriken« seien, und dass die kritische Dekonstruktion dieses Konzepts ihr Ausgangspunkt für alle Rundgänge im DHM sei. Die Guides plädierten dafür, ihren Landsleuten in den Berliner
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Museen einen offeneren Zugang zu Geschichte zu vermitteln. Auch der Austausch mit deutschen Historikern und Geschichtsdidaktikern war aus Sicht der Guides und mancher Geflüchteter der erste Schritt, um die oftmals starren Geschichtsbilder ihrer autokratisch geführten Herkunftsländer zu hinterfragen. Zugleich reflektierten sie in der Auf bereitung westlicher Geschichte für ihre Landsleute ihre eigene Kultur, machten Überschneidungen und Differenzen in der Ländergeschichte deutlich oder hoben Gemeinsamkeiten menschlicher Schicksale durch historische Ereignisse hervor. Dabei eröffneten vor allem die historischen Erzählungen vom Zusammenwachsen Europas, der Überwindung des Kalten Krieges und der Friedlichen Revolution 1989 Möglichkeiten und Visionen, die auch für die Gegenwart relevant sein könnten – in allen Ländern auf dem Globus.
4. D ie B esucher und die öffentliche R esonanz Von Anfang an erfreute sich Multaka großer Beliebtheit: Bis zu 3.000 Menschen kamen aus den Flüchtlingsunterkünften, Wohnungen und Wohnheimen, in denen sie in Berlin untergebracht waren, um sich durch die Dauerausstellung des DHM begleiten zu lassen. Die vorgestellten Objekte und Themen provozierten tatsächlich Fragen und führten zu den gewünschten Diskussionen. Sie betrafen vor allem die Schwerpunkte und Oberthemen der Rundgänge, aber auch einzelne Objekte. So wollten die Teilnehmer häufig wissen, wie die Objekte in die Sammlung des DHM gekommen waren, wie sie dort auf bewahrt und erforscht würden; ihr Interesse und ihre Neugier waren grundsätzlich geweckt. Selbst die offensichtlich koloniale Vergangenheit einiger Objekte wurde kaum als politischer Affront gewertet, sondern vielmehr als »eine überraschende Begegnung« (Nasreddine 2016: 363). Im DHM erklärten die Guides nicht nur die deutsche Vergangenheit, sondern diskutierten auch die Gegenwart. Selbst wenn offenbleiben muss, wie ihre Ausführungen von den Geführten reflektiert wurden, berichteten die Guides überwiegend Positives. Immer wieder seien in den Gruppen lebhafte, konstruktive Gespräche und Diskussionen entstanden. Eine der Guides, die syrische Künstlerin Razan Nasreddine, beschrieb ihre Erfahrungen in einem jüngst erschienenen Bericht über Multaka wie folgt: »Durch die Diskussion der Erfahrung der interkulturellen Vernetzung von Objekten können bei der Bewertung eigener kultureller Identität offene Selbstbilder entstehen.« (Nasreddine 2016: 365) Als Verstärker des Interesses erwies es sich auch, dass die Teilnahme an den Multaka-Rundgängen nach Vorlage eines Dokuments, das die Besucher als Geflüchtete auswies, kostenlos war, ebenso wie der Museumseintritt. Dies führte in den ersten Monaten zu 40 bis 60 Teilnehmenden pro Führung, was sich neben dem freien Eintritt auch auf die Verbreitung des Angebots durch soziale Medien und Peer-to-Peer-Ansprachen zurückführen ließ (vgl. Nasreddine 2016: 362). Allerdings hatte das Museum ob dieser Regelung auch mit Negativkommentaren zu kämpfen, wenn etwa das Argument sozialer Ungerechtigkeit in den sozialen Netzwerken eine Rolle spielte. Der Hauptvorwurf lautete, deutsche Steuerzahler würden die Museen mit ihren Abgaben bereits finanzieren und müssten dennoch Eintritt bezahlen, während neu Zugezogene, die sich erst seit Kurzem in Deutschland aufhielten, das Privileg des freien Eintritts erhielten – ein für diese Kritiker nicht nachvollziehbarer, ungerechter Gedanke.
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Die nicht abreißende regionale, nationale und sogar internationale Presseresonanz auf Multaka zeigte jedoch, dass das Konzept, kulturelle Teilhabe durch den Dialog mit »kulturellen Übersetzern« zu ermöglichen, überwiegend positiv aufgenommen wurde. Den Bemühungen der Museen und der Guides, die Führungen auch als ein Zeichen der »Willkommenskultur« zu gestalten, wurde überwiegend mit Achtung begegnet, wie der Pressespiegel zum Projekt zeigt (Andere Quellen: Nr. 7). Diese Resonanz der Öffentlichkeit auf das Vermittlungsprojekt führte auch im Deutschen Historischen Museum zu einem starken Wir-Gefühl, das die syrischen Guides mit den Museumsmitarbeitern verband. Viele Aufsichtspersonen erfüllte es mit Stolz, dass »ihr« Museum mit Multaka oft im Fernsehen zu sehen war. Allerdings fühlten sich die syrischen Teilnehmer eines Rundgangs in manchen Situationen von neugierigen Beobachtern gestört; durch die vielen Kamera- und Fernsehteams wurde der geschützte Rahmen der Begegnung im Museum auf eine für manche Geflüchtete unerwartete Weise öffentlich gemacht, sodass es zu Situationen kam, in denen Einzelne das Filmen oder Fotografieren ablehnten. Angesichts dieser Resonanz erhielt Multaka: Treffpunkt Museum auch zahlreiche Preise von der Politik. Im Mai 2016 wurde das Projekt mit dem Sonderpreis der Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters im Rahmen der Auftaktveranstaltung Kultur öffnet Welten ausgezeichnet: Eine unabhängige Jury hatte es als eines von zehn Preisträgerprojekten aus über 180 Bewerbungen ausgewählt (Andere Quellen: Nr. 8). Ebenso erhielt Multaka vom Auswärtigen Amt die Ehrung als »ausgezeichneter Ort« in der Initiative Deutschland. Land der Ideen und wurde Bundessieger im Bereich »Kultur« (Andere Quellen: Nr. 9).
5. A usblick : M ultak a z wischen Partizipation und Ü berse t zung Das Deutsche Historische Museum will mit seinem Engagement für Multaka in erster Linie seine Türen öffnen, Schwellenängste abbauen und Zugänge schaffen. Die Begegnung mit Geschichte und Kultur soll den Geflüchteten eine andere, neue Ebene der Auseinandersetzung mit ihrem neuen Heimatland eröffnen, der Kulturaustausch Dialoge eröffnen und gezogene Kulturvergleiche Fragen zu Identität und Identifikation bewirken. Als Auslöser der Gespräche und Brückenbauer sollen wiederkehrende »Menschheitsthemen« dienen, ebenso wie die Akteure der Führungen, die als syrische, in Deutschland lebende Guides Kenntnis von beiden Kulturen haben. Sie werden bei den Rundgängen im wahrsten Sinne des Wortes »kulturelle Übersetzer«: Sie bringen die Geschichte des fremden Landes nahe, aber auch dessen vergangene Konflikte, eröffnen Parallelen und schaffen Anknüpfungspunkte. Dass die Guides dabei ihre Muttersprache nutzen, um Inhalte und Wissen aus einem zunächst fremden Kulturkreis zu vermitteln, kann gleichfalls als ein Übersetzungsprozess angesehen werden – sie übersetzen nicht nur Kultur, sondern auch Sprache. Auf diese Weise machen die Guides nicht nur den Geflüchteten, die sie führen, Deutschland vertrauter, sondern entdecken selbst neue Aspekte in Bezug auf ihr Herkunftsland, die ihnen unbekannt waren oder dies im Laufe der Zeit wurden. Nicht zuletzt dieser Vorgang zeigt, dass die Annäherung an eine andere Kultur niemals ganz vorurteilsfrei verlaufen kann. Ebenso wurde in den ersten beiden
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Jahren von Multaka deutlich, dass die Kommunikation zwischen Menschen immer auch über Biografien, Stereotypen und Bildern im Kopf verläuft. Wichtig sind daher der Austausch, das Zuhören und das Lernen vom jeweils Anderen – sei es auf der Ebene der Sprache oder der Kultur. Die gemeinsame Auseinandersetzung ist Voraussetzung dafür, sich anzunähern, sich gegenseitig zu bereichern und Projekte wie Multaka weiterzudenken. Für das Museum, das den Führungsreferenten die Inhalte bietet, war Multaka ein Versuch, mit Kontrollverlust bewusst umzugehen: Die Angst, dass deutsche Geschichte möglicherweise losgelöst vom Narrativ der Dauerausstellung oder der deutschen Geschichtsforschung erzählt werden könnte, war nur durch das Vertrauen der Institution in »ihre« syrischen Guides abzubauen. »Wo fühlt man sich zu Hause? Für mich sind das auch Museen – also Orte, wo ein Stück der eigenen Kultur präsent ist und wir mit Menschen ins Gespräch kommen, die aus der Region stammen.« So fasste der Guide Hussam Zahim Mohamed seine Erfahrung mit der Museumsarbeit im Vorderasiatischen Museum zusammen. Wenn durch Formate wie Multaka ähnlich denkende Menschen unabhängig von ihrer Herkunft erreicht werden, ist das gesellschaftliche Ziel der kulturellen Teilhabe und möglicherweise auch das politische Ziel einer offenen Gesellschaft näher gerückt. Die Offenheit und Freude der Guides, ihr Engagement für Multaka und ihre Freundschaft mit den Mitarbeitern des Museums gehören zu den schönsten Erfahrungen einer Berufslauf bahn.
L iter atur Deutscher Museumsbund e. V. (Hg.) (2015): Museen, Migration und kulturelle Vielfalt. Handreichungen für die Museumsarbeit, Berlin. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.) (2016): 11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin. In: https://m.bundesregierung.de/Content/Infomate rial/BPA/IB/11-Lagebericht_09-12-2016.pdf (30.04.2017). Nasreddine, Razan (2016): Multaka: Treffpunkt Museum. Geflüchtete als Guides in Berliner Museen. In: Ziese, Maren/Caroline Grischke (Hg.) (2016): Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld, Bielefeld, S. 361-366. Querfurt, Andrea (2016): Mittlersubjekte der Migration. Eine Praxeographie der Selbstbildung von Integrationslotsen, Bielefeld.
Andere Quellen Nr. 1: www.dhm.de/ueber-uns/gruendung-geschichte.html (15.04.2017). Nr. 2: www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56483/einbuerge rung?p=all (15.04.2017). Nr. 3: http://kulturelle-integration.de (15.06.2017). Nr. 4: https://arachne.dainst.org/project/syrher (15.04.2017). Nr. 5: http://fmik.de/index.php?syrian-heritage-archive-project (15.04.2017). Nr. 6: http://fmik.de/index.php?multaka-treffpunkt-museum-gefluechtete-als-gui des-in-berliner-museen (15.04.2017).
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Nr. 7: www.freunde-islamische-kunst-pergamonmuseum.de/index.php?presseecho-multaka (15.04.2017). Nr. 8: www.kultur-oeffnet-welten.de/positionen/position_2816.html (15.04.2017). Nr. 9: https://www.land-der-ideen.de/searchview?search=Deutsches+Historisches +Museum&x=0&y=0 (15.04.2017).
Teachers for Life Transkulturelle Bildung in der Arbeit mit Geflüchteten Gernot Wolfram
1. D as P rojek t The M oving N etwork – Teachers for L ife Der vorliegende Beitrag beschreibt transkulturelle Bildungsansätze aus der Arbeit des Berliner Forschungsprojekts The Moving Network1, das auf Basis von kulturwissenschaftlichen Agency-Ansätzen2 den Versuch unternimmt, Flüchtlinge darin zu unterstützen, ihre Rolle als selbstständige Akteure in der Gesellschaft zu finden und kulturelle und soziale Teilhabe auf Basis ihrer Fähigkeiten, Kenntnisse und Wünsche selbstständig zu formulieren. Ziel des Forschungsprojekts war es zu überprüfen, ob und durch welche Formen einer unterstützenden Arbeit Flüchtlinge selbstständig Lösungsansätze für die Sichtbarkeit ihrer jeweiligen Kompetenzen im Raum der kulturellen Bildung finden können. Das Projekt umfasste eine Befragung von über 90 Geflüchteten aus Syrien, Albanien und Afghanistan in Berlin, die sich für die Vorstellungen von kultureller Teilhabe und Bildungschancen interessierten. Auf der Basis der Informationen, die aus leitfadengestützten Interviews gewonnen werden konnten, wurden Multiplikatoren ausgewählt, die in und außerhalb von Flüchtlingsunterkünften selbstständig Kurse zum Spracherwerb, zur kulturellen Bildung und zum interkulturellen Verständnis anboten. Hierbei kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit einer Flüchtlingsunterkunft, die Räume für die Kurse zur Verfügung stellte. Die Multiplikatoren selbst sollten regelmäßig notieren, wie viele Teilnehmer es in ihren Kursen gab, welche Reaktionen auf ihre Rolle als selbstständig Lehrende kamen und welche Erfahrungen und Einschätzungen 1 | Das Forschungsprojekt The Moving Network wurde als Kooperation der Macromedia Hochschule Berlin mit dem Verein Board of Participation e. V. und der Allianz Kulturstiftung durchgeführt (Andere Quellen: Nr. 1). 2 | Der Begriff Agency wird in Anlehnung an eine Definition von Aleida Assmann wie folgt verstanden: »Agency im Sinne von Handlungsfähigkeit ist die Form, in der heute nach dem ›Ende des Subjekts‹ die Subjekt-Debatte in den Cultural Studies wieder aufgenommen wird. War der Begriff Subjekt vormals auf Wahrnehmung und Bewusstsein ausgerichtet, so ist das neue Subjekt von seinem Körper und seiner Stimme (im Sinne von Selbstbestimmung) her konzipiert. Stimme ist nicht nur das, was der Kehlkopf produziert, sondern was – in Abwandlung eines Wortes von Max Weber – im öffentlichen Diskurs die Chance hat, Gehör und Anerkennung zu finden.« (Assmann 2011: 94)
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sie selbst aus dieser Arbeit mitnahmen. Im Folgenden wird das Projekt in seinen einzelnen Schritten dargestellt.3 Zuvor sollen jedoch die theoretischen Prämissen, die das Projekt begleiteten, kurz skizziert werden; dabei wird deutlich, dass neue Überlegungen zum Begriff der Transkulturalität, zum Begriff der Solidarität und jenem des Raums für die beteiligten Forscher die Ausgangsposition bildeten.
2. Theore tische Ü berlegungen Im Zentrum der theoretischen Begriffsbildung steht eine transkulturelle Herangehensweise. Transkulturalität als Begriff meint ein dynamisches Verständnis von Kulturen, bei dem sich unterschiedliche kulturelle Einflüsse begegnen und miteinander verschmelzen (Welsch 1999). Es wird somit nicht von abgezirkelten, klar erkennbaren Unterschieden ausgegangen, sondern von einem Set aus kulturellen Einflüssen, das nicht nur in einem Land oder einem Kollektiv, sondern auch im Individuum wirksam ist. Diese Einflüsse sind häufig zunächst unterbewusst präsent, da das soziale menschliche Zusammenleben von bestimmten Normen und Werten geprägt ist. Kulturelle Diversität zu erkennen und zu differenzieren ist immer auch von einem Reflexionsprozess abhängig (Keuchel/Kelb 2015; Eß 2010). Entscheidend ist das Vermeiden von Hierarchien oder der Annahme, es gebe fixierte Zuschreibungen, die festlegen, wer zu welcher Kultur gehört oder welche spezifischen Normen und Verhaltensweisen mit welchem Kulturkreis in Verbindung zu bringen seien. Ein weiterer, sowohl in politischen Kontexten als auch in Kulturdiskursen vielfach genutzter Begriff, wenn es um Flüchtlinge geht, ist jener der Solidarität. Er wurde in der vorliegenden Fallstudie mit Bezug auf Richard Sennett kritisch bewertet. Sennett beschreibt Solidarität als ein ideologisches Schlagwort, das im 20. Jahrhundert von vielen politischen Bewegungen verordnet wurde, ebenso wie als Aufgabe und Anforderung (Sennett 2013). Sennett stellt der Solidarität den Begriff der Kooperation entgegen: Kooperation basiert auf der Idee eines Austausches von Kompetenzen, Fähigkeiten und Ideen (dazu auch Terkessidis 2015). Für eine Kooperation dieses Zuschnitts sehen viele Geflüchtete einen großen Bedarf, wie sich in den Interviews zeigte. Wo kooperative Ansätze gestärkt werden, tritt der Begriff »Flüchtling« in den Hintergrund, während Bezeichnungen wie beispielsweise Lehrer, Dozent oder Künstler verstärkt zur Anwendung kommen. Menschen werden sichtbar in dem, was sie tun, nicht in dem, was sie qua Status sind. Dieses Verständnis von Kooperation soll auch im vorliegenden Beitrag als theoretisch fundierter wie praktisch angewendeter Schlüsselbegriff für ein spezifisches Verständnis von Transkultur verwendet werden (Thomas 2010; Thomas/Kammhuber 2003). Ein dritter Terminus knüpft an eine Kategorie des postkolonialen Diskurses an, jene des Raums, womit reale, geistige wie heterotopische Räume gemeint sein können. Wo und unter welchen Prämissen begegnen sich Menschen? Welche Vorstrukturierungen hält der Raum bereit, in dem sie dies tun? (Warning 2009) Wie stark laden diese Räume zur Teilhabe ein? Und: Wer ist eingeschlossen und wer ausgeschlossen, wer darf sprechen? (Jensen 2011) Aus diesen Fragen lässt sich 3 | Einige Reflexionen wurden in der Broschüre Teachers for Life (Wolfram u.a. 2016) dokumentiert, die nach Abschluss des Projekts als Dokumentation publiziert wurde.
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Grundsätzliches für die transkulturelle Arbeit mit Geflüchteten herausfiltern. Es werden Räume benötigt, in denen kulturelle Begegnungen möglich sind, die von einer Vielfalt gleichberechtigter Akteure getragen werden. Erst Räume, in denen kulturelle Identität nicht schon eindeutig und von vornherein festgelegt ist, ermöglichen Transkulturalität. Der Postkolonialismus-Theoretiker Homi Bhabha hat dafür den Begriff des »Dritten Raums« (Bhabha 2000: 5) geprägt, der sich gut auch auf Projekte wie The Moving Network – Teachers for Life übertragen lässt. In diesem »Dritten Raum« werden Zuschreibungen neu ausgehandelt und Differenzen wahrgenommen, ohne sie sofort zu hierarchisieren oder festzuschreiben. Bhabha findet hierfür das lebendige Bild eines Treppenhauses: Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt. (Bhabha 2000: 5)
Transkulturalität benötigt demnach ein Umfeld, in dem kulturelle Unterschiede, ebenso wie soziale, ökonomische, politische und religiöse Differenzen nicht sofort in ein hierarchisches Schema übersetzt werden. Oder um ein Beispiel aus dem Bereich der sogenannten Hochkultur für diese Annahmen zu geben: Eine klassische europäische Bühne ist möglicherweise nicht der richtige Ort für ein Orchester syrischer Oud-Spieler, um die Energie ihrer Musik für das hiesige Publikum spürbar zu machen. Neben der Reflexion des Raums ist das Nachdenken über die kulturelle Teilhabe und die Rolle der Akteure wesentlich (Wolfram 2015). Für die kulturelle Arbeit mit Geflüchteten bedeutet dies, dass methodische Erkenntnisschritte beschrieben werden müssen, in denen dieses Wissen über Transkulturalität zum Vorschein kommen kann. Zur Enthierarchisierung von Herkünften, Prägungen und Differenzen tritt die Aufgabe, erzwungene Rollenspiele zu verstehen, die aus der Situation der Geflüchteten resultieren. Die Theater- und Performance-Wissenschafterin Alison Jeffers nennt diese Rollenspiele in einer Untersuchung zum Verhältnis von Theaterperformances und Geflüchteten bureaucratic performances (Jeffers 2011). Bevor sich Geflüchtete einer künstlerischen, kulturellen oder soziokulturellen Arbeit stellen können, sind sie häufig gezwungen, Rollen einzunehmen und zu »spielen«, um auf Ämtern, bei Behörden oder anderen Institutionen überhaupt Gehör und Wahrnehmung zu finden. Jeffers hält dies für einen wichtigen Aspekt, um zu verstehen, dass die gerade in westlichen Gesellschaften hochgeschätzte kulturelle Kategorie des Spiels4 für Flüchtlinge häufig zu einer als existenziell empfundenen Überlebenstechnik wird. Daher ist die Zusammenarbeit mit Geflüchteten immer auch ein kommunikatives Wagnis, wenn nicht zuvor ein Dialog von großer Offenheit und Reflektionsbreite geführt wird. Erst durch Selbstbestimmung und eigenes Formulieren von Standpunkten in der Gesellschaft kann hier ein Dialog gelingen (Härtel 2009; Fischer 2006; Hall 2000). 4 | Zur weiten Kategorie des Spiels und den großen europäischen Dimensionen des Begriffs (ausführlich Huizinga 2004).
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3. The M oving N etwork – Teachers for L ife . G eflüchte te als kulturelle Ü berse t zer a. Vorbereitung – Sensibilisierung durch Interviews: In der ersten Phase des Projekts The Moving Network (Andere Quellen: Nr. 1) wurden bestehende Projekte der kulturellen Bildung für Flüchtlinge analysiert und in ihren grundsätzlichen Herangehensweisen diskutiert. Daraus ergab sich der Ansatz, Geflüchtete selbst nach ihren Erwartungen zu befragen. So wurden zwischen September 2015 und Februar 2016 zunächst über 90 leitfadengestützte Interviews mit syrischen, afghanischen und albanischen Flüchtlingen in sieben verschiedenen Berliner Heimen geführt, in denen Geflüchtete nach ihren persönlichen wie beruflichen Wünschen und Erwartungen bezüglich zivilgesellschaftlicher und kultureller Teilhabe gefragt wurden. Die Interviews fanden vorwiegend in englischer Sprache statt, durchgeführt von internationalen Studierenden der Macromedia Hochschule Berlin. Der Umstand, dass hier Studierende aktiv waren, die selbst nicht aus Deutschland kamen, wirkte sich positiv auf die Atmosphäre während der Befragungen aus. Zentral war ein Moment des Vertrauens, das sich besonders dadurch einstellte, dass es neben den Interviews immer wieder auch Treffen zwischen den Studierenden und einzelnen Befragten gab, bei denen die Option, als eigenständiger Kursleiter in den Heimen zu agieren, angeboten und besprochen wurde. b. Entwicklung der Fallstudie BoP-Ambassadors: Auf der Basis der Erkenntnisse aus den Interviews wurde die Fallstudie Board of Participation-Ambassadors (BoP-Ambassadors) (Andere Quellen: Nr. 1) entwickelt. Fünf Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Bildungshintergrundes mit Fluchterfahrung wurden als Multiplikatoren und Botschafter ausgewählt. Dabei konnten vor allem Akademiker für die Aufgabe interessiert werden, aber auch zwei junge Geflüchtete, die in ihren Heimatländern gerade die Schule beendet oder kriegsbedingt abgebrochen hatten. Die Erfahrung des Lehrens wurde als kulturelle Erfahrung zentral gesetzt. Im Lehren wird etwas betrachtet, zur Sprache gebracht und aktiv in einen Dialog überführt. Statt passiv Wissen aufzunehmen, geht das Wissen durch Kanäle der Selbstprüfung und der eigenen Assoziationen, hinzu kommt das Gefühl der Anerkennung, ein transkultureller Mittler sein zu können. Die Trainings wurden in Zusammenarbeit mit dem Berliner Verein Board of Participation e. V. (BoP) entwickelt und sollten die Botschafter befähigen, in ihren Heimen und auch außerhalb selbstständig Kurse zu geben (Andere Quellen: Nr. 2). Für ihr Engagement erhielten die BoP-Ambassadors am Ende des Projekts ein Zertifikat, das ihnen Lehrerfahrung bescheinigte; einige von ihnen wurden auch in weitere Kultur- und Bildungsprojekte des Vereins aktiv einbezogen. Ergebnisse, Strukturen und Biografien der Multiplikatoren können auf der Webseite des Moving Networks oder in der Broschüre Teachers for Life nachgelesen werden (Wolfram u.a. 2016). c. Festlegung der Kursinhalte – kulturelle Übersetzungen: Seitens des Projekts gab es keine Vorgaben, welche Themen unterrichtet werden sollten. Wichtig war nur, dass sie sich dem Bereich der kulturellen Bildung zuordnen lassen konnten. Vielmehr sollten die BoP-Ambassadors auf der Basis der von ihnen eruierten Bedürfnisse der potenziellen Teilnehmer in den Flüchtlingsunterkünften selbst Themen formulieren. Die einzige strukturelle Anforderung bestand in regelmäßigen Re-
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ports und Dokumentationen über den Verlauf der Kurse, über die Zahl der Teilnehmer und über auftauchende Fragen oder Schwierigkeiten. Auf dieser Basis wurden schließlich Kurse zum Thema Diversity Management oder zur kulturellen Teilhabe für Frauen entwickelt und meist wöchentlich angeboten, aber auch ein Sprachkurs für afghanische Analphabeten, ein Kurs zur Interkultur, ein Literaturprojekt oder ein Tanzkurs. Menschen aus unterschiedlichen Nationen besuchten die Kurse, wobei sich zeigte, dass viele Themen zur sogenannten deutschen Kultur mit den Botschaftern offener und kritischer diskutiert wurden als es üblicherweise in Kursen mit deutschstämmigen Kursleitern (etwa Integrationslehrern) geschieht. Der transkulturelle Ansatz des Projekts wurde vor allem darin sichtbar, dass die Botschafter ihre Perspektive auf die Kultur und das kulturelle Leben in Deutschland schilderten, wobei dies meist in einer offenen und zustimmenden Art und Weise geschah. So wurde vermieden, dass Werte und Normen Lehrern zugeordnet werden konnten, die von »hier« oder »dort« kamen. Vielmehr beschäftigten sich die Geflüchteten mit der Thematik an sich, konnten Vergleiche ziehen, ihre Zweifel und Skepsis äußern und Fragen stellen, ohne den Verdacht zu haben, Informationen aus einem kulturell stark vorgeprägten Hintergrund aus Deutschland zu erhalten. Auch die Kommunikation mit den Leitern der Flüchtlingsunterkünfte brachte Herausforderungen mit sich, denn auch von ihnen wurde ein Perspektivwechsel verlangt: Diejenigen, die eigentlich betreut und versorgt werden sollten, präsentierten sich als Botschafter plötzlich ungewohnt selbstständig. Die Organisation, der Auf bau der Kursstrukturen und die Beschaffung der Räume innerhalb der Unterkünfte oblag größtenteils ihnen. Gleichzeitig stellten sie gemeinsam mit dem Forscherteam ihren Ansatz öffentlich vor, etwa bei Veranstaltungen im Refugio Sharehouse Berlin. Dabei gestaltete sich der Prozess des Reflektierens von Begriffen wie Diversität, von kulturellen Präferenzen und dergleichen als ein Aushandlungsprozess, bei dem die Herkunft eine wichtige, aber keine hierarchisierende Rolle spielte. Gerade bei den öffentlichen Vorträgen wurden viele künstlerische und wissenschaftliche Werke aus dem arabischen Raum zitiert, mit Positionen aus Europa kontrastiert und vermischt, sodass auch für einheimische Besucher ein spannender Erkenntnisgewinn bezüglich anderer Perspektiven möglich war. Zugleich kam es innerhalb wie außerhalb der Flüchtlingsunterkünfte zu kritischen Diskussionen. Exemplarisch war die Aussage vieler Geflüchteter, das Gefühl zu haben, Menschen zweiter Klasse zu sein und nicht die gleichen Chancen wie die Einheimischen zu bekommen. Solche Aussagen zu differenzieren und nachzufragen, durch welche Erfahrungen und Erlebnisse sie entstanden waren, gehörte gleichfalls zu den Aufgaben der Botschafter und gelang ihnen auf überzeugende Weise. Stichhaltig waren ihre oft transkulturell fundierten Argumente: Sie versuchten, soziale, bildungsbezogene, politische und strukturelle Schwierigkeiten in den Vordergrund zu rücken und nicht zuerst die Herkunftsidentitäten. Damit umschifften sie eine der großen Klippen, die in der gesamten Diskussion zur kulturellen Bildung immer wieder auftaucht: Fragen der kulturellen Teilhabe klären zu wollen, ohne soziale, ökonomische und politische Barrieren in die Diskussion mit einzubeziehen. d. Wissensräume – die Rolle der Flüchtlingsunterkünfte: Wichtig für den transkulturellen Charakter des Projekts war auch die Arbeit vor Ort in den Flüchtlingsheimen. Auf bauend auf den Annahmen Karl Mannheims, dass Wissen anders und
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spezifischer erworben, transferiert und rezipiert werden kann in sozialen und politischen Räumen, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Wissenserwerb stehen (Mannheim 1964; 1929/2015), hat sich gezeigt, dass die Lernbereitschaft innerhalb der Räume in den Heimen intensiver zu bewerten war als außerhalb. Die Unterkünfte, die von vielen Geflüchteten häufig als beengend und das eigene Selbst deformierend empfunden werden, sind ein genuiner Erlebnisraum während ihres Aufenthalts, während sie für Einheimische meist unzugänglich und nur in medialen Bildern präsent sind. Hinzu kommen Konflikte aufgrund unterschiedlicher Ethnien und Wertvorstellungen, die häufig in den Heimen ausgetragen werden – ganz abgesehen von Ablehnung oder sogar physischer Gewalt, die etwa Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung in diesem Umfeld erleiden müssen. Generell ist der Aspekt der kulturellen Scham etwas, das auf vielen Ebenen das Leben in den Flüchtlingsheimen bestimmt und den Rückzug in starre Identitäts- und Schutzmuster fördert. Kulturelle Scham lässt sich hier verstehen als subjektives Empfinden von realen oder vermeintlichen Defiziten, die mit der eigenen Kulturation und Herkunftsgeschichte verbunden sind. So meldeten sich beispielsweise bei einem BoP-Ambassador, einem 21-jährigen Mann aus Afghanistan, einige seiner männlichen Landsleute zu einem Sprachkurs für Analphabeten an. Sie teilten ihm mit, dass sie diese »Schwäche« nur deshalb zugeben würden, weil er selbst Afghane sei. Solche Erfahrungen dienten als Hinweise auf die Bedeutung von Vertrauensgemeinschaften und Vertrauenspersonen, ohne die oft keine genuine Kommunikation möglich war, vor allem nicht, wenn es wie im Kulturbereich um eine sensible und offene Form der Zusammenarbeit geht. Erst durch den Verlust kultureller Scham kann der Auf bau einer Bildungsarbeit über soziale, ethnische und kulturelle Grenzen hinweg möglich werden. Vor allem in der Zeit nach ihrer Ankunft verharren viele Geflüchtete innerhalb sogenannter trust circles (»Kreise von Vertrauten« oder »Vertrauensgruppen«), die ihnen helfen, ihre Muttersprache, gemeinsame Rituale, Glaubens- und Identitätsvorstellungen zu beschützen. Solche trust circles können aus Familienmitgliedern, Freunden aus der Heimatstadt, religiösen Kameraden, aber auch aus Mitgliedern digitaler Gemeinschaften bestehen. Viele Forschungsstudien haben bereits belegt, wie wichtig solche trust circles für Geflüchtete sein können (Uslaner 2008; Dinesen/Hooghe 2010; Herreros 2004). Diese trust circles wurden im Kontext des Projekts als Ressourcen verstanden, als Räume des Wissens, in denen die bureaucratic performances von Geflüchteten nicht notwendig sind. Sie sind wichtig, um die Verunsicherungen, die häufig mit allzu schnell implementierten Projekten einhergehen, zu vermeiden. Durch kompetente Botschafter, die eine Vorbildfunktion einnehmen, können Schritte aus den trust circles heraus erfolgreich verlaufen. Im Projekt The Moving Network zeigte sich zudem, dass es für die Botschafter wichtig war, zunächst als Lehrer im Bereich der kulturellen Bildung in den Heimen selbst zu arbeiten, da sie hier auf einen schwierigen, aber ihnen vertrauten Resonanzraum trafen. Für das Forschungsteam hingegen war es ein Lernprozess, diese Räume zu verstehen, ebenso wie die dort herrschenden spezifischen Regeln, Einengungen und Zwänge, die den Umgang mit dem Thema Kultur verändern sollten. Statt einseitig auf eine stärkere Partizipation der Geflüchteten am (sozio-) kulturellen Leben in Deutschland zu setzen, machte die Arbeit im Heim deutlich, dass ein Verständnis für die vollkommen anders gelagerten Lebensbedingungen in einer Flüchtlingsunterkunft eine Herausforderung für die deutsche Seite ist.
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Transkultur als wechselseitigen Lernprozess zu verstehen, bedeutet eine Öffnung beider Perspektiven. e. Transkultureller Dialog – Die Rolle des Forscherteams: Besonders für die Arbeit mit Flüchtlingen ist ein transkultureller Dialog entscheidend, wenn man nicht in den Bereich einer als Kunst getarnten Fürsorgementalität oder eines politisch-ideologischen Solidaritätsdiskurses geraten will. Für die Fallstudie The BoP-Ambassadors hieß das konkret, dass seitens des Forschungsteams von Anfang an mit den ausgewählten Personen ein offener Dialog unter transparenten Bedingungen geführt wurde. Dazu gehörte auch der gegenseitige Austausch von Vorstellungen und Erwartungen, von Anforderungen und Selbsteinschätzungen. Gerade die Kompetenz der BoP-Ambassadors, zunächst die eigene Situation einschließlich ihrer Erfahrungen mit bureaucratic performances zu beschreiben und dann die Situation in den Unterkünften zu schildern – die Vielschichtigkeit der Interaktionen zwischen verschiedenen Ethnien und sozialen Gruppierungen –, war äußerst hilfreich, um ein realistisches Bild von der Situation zu gewinnen. Transkulturelle Projektarbeit, so zeigte sich in der Beobachtung, benötigt spezifische Recherche- und Handlungsformen, um die Akteure auf eine gemeinsame Wissensbasis zu stellen. Das Forscherteam des Moving Network Project versuchte, die Teilnehmer der Fallstudie über mögliche Methoden und Handlungsmöglichkeiten für die Arbeit in ihren Kursen zu informieren. Die Akteure in den Heimen glichen diese Aspekte mit ihren Erfahrungen ab und vermittelten ihre Sichtweisen dem Forscherteam in regelmäßigen Treffen und Besprechungen. Dieser Austausch hatte keinen solidarischen, sondern einen kooperativen Charakter, da auf der Basis von Kompetenzwissen kommuniziert wurde. Statt über Hierarchien oder kulturelle Distinktion zu diskutieren, wurden Handlungsspielräume auf beiden Seiten sachlich und angemessen erörtert. Am Ende dieses Prozesses wurden die Kursthemen formuliert und die Kurse in den Heimen implementiert. Es zeigte sich, dass der lange Recherchevorlauf auf Seiten des Forscherteams wie auch auf Seiten der Kursgestalter in den Heimen sinnvoll war. Fast alle Kurse wurden regelmäßig besucht und fanden überwiegend positive Resonanz. Freilich gab es auch Kursabbrüche zu verzeichnen, was jedoch oft mit der veränderten Lebens- und Asylsituation eines Kursveranstalters zu tun hatte. Insgesamt war für die Botschafter wie für die Kursteilnehmer jedoch von großer Relevanz, welche Freiräume sie in den Heimen durch das Projekt gewinnen konnten.
4. C onclusio und H andlungsempfehlungen Um Projekte der transkulturellen Bildung wie das Moving Network Project mit Flüchtlingen zu ermöglichen, ist der Kulturmanager gefordert, nicht nur auf genuine Akteure aus dem Kulturbereich zu fokussieren, sondern auch auf andere gesellschaftliche Gruppen. Erst mit ihnen kann sich auch die Begriffsarbeit erweitern. Konkret bedeutet das, dass in der Arbeit mit Geflüchteten der Kontakt zu Menschen aus anderen Berufsbranchen aufschlussreich und gewinnbringend sein kann. In der Kulturmanagementforschung wurde dieser Ansatz als »Zwischenraum-Management« (Föhl/Wolfram 2014) beschrieben. Erst wenn sich beispielsweise Theater, Museen, Galerien und Festivals für neue Gruppen öffnen, ihnen
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Experimentierraum zugestehen und neue Sichtweisen auf Kultur zulassen, besteht die Chance, Transkultur auch strukturell zu verankern. Kulturmanagement erfährt hier eine Entgrenzung, aber nicht im Sinne von Beliebigkeit. Bekannte Themen der kulturellen Bildung wie offenere Zugänge zum Theater, zur bildenden Kunst, zum Film, zur Literatur, zu Museen, aber auch zur Soziokultur bleiben im Mittelpunkt. Ohne das Ziel zu verfolgen, rezeptartige Handlungsvorschläge zu unterbreiten, soll am Ende dieses Beitrags der Versuch unternommen werden, die Erfahrungen aus dem Projekt The Moving Network und eine mögliche Übertragbarkeit auf andere Projekte zu beleuchten. Der Soziologe Bruno Latour hat darauf hingewiesen, dass jede kulturelle und soziale Situation zwischen Menschen einmalig ist und genau nachgezeichnet werden sollte anhand der Assoziationen, die entstehen, nicht anhand vorgeblicher kultureller oder sozialer Dimensionen (Latour 2007). Daher gibt es keine schablonenhaften Modelle für ein gelingendes transkulturelles Kulturmanagement. Helfen kann aber vielleicht die Analyse von Denk- und Handlungsstadien und der Versuch ihrer Generalisierung: • Analyse von bestehendem Wissen: Die Voraussetzung für gelingendes transkulturelles Handeln ist die Analyse der Wissensstände der Handelnden. Diese Wissensanalyse bezieht sich auf eigene Prägungen und Kulturvorstellungen genauso wie auf die thematischen Aspekte der Arbeit, mit der man sich beschäftigt. • Implementierung von Recherchemethoden: Zentral ist hier die Frage nach konkreten Werken, Künstlern und Diskursen, die nicht aus dem eigenen Kulturspektrum stammen. Wenden sich etwa Theater der Arbeit mit syrischen Flüchtlingen zu, wäre zu empfehlen, zunächst herauszufinden, was die Theatermacher über die Kulturen der syrischen Flüchtlinge wissen, welches Material vorhanden ist und wie es sich mit deutschen Traditionen und Einflüssen kontrastieren lässt. Binnenperspektiven der Partner können hier durch Befragungen wertvolle Aufschlüsse liefern. Zentral ist dabei auch die Frage: Sind die Akteure Laien oder ausgebildete Künstler, Lehrer oder Performer? • Formulierung von Themen jenseits von Herkunftsdiskursen: Auf der Basis der Recherchen kann dieses Wissen dann zu Denkfiguren führen, die sich von der Perspektive der Herkunft von Akteuren und Ideen lösen, um ästhetische und diskursive Qualitäten in den Vordergrund zu rücken. Gerade die Vermeidung von Rückbindungen an »typische« Assoziationen einer Nationalkultur führt ins Zentrum transkulturellen Handelns. • Kulturelle Bildung als wechselseitiger Prozess: Im Bereich des Kulturmanagements ist vor allem kulturelle Bildungsarbeit von großer Bedeutung. Hier lohnt es sich, im Bereich der Transkultur nicht sofort an Vermittlung des Eigenen zu denken, sondern an wechselseitige Lernprozesse (Borwick 2012). Gemeinsamer Wissenserwerb führt zu einer neuen Ermächtigung von diversen Akteuren. Aktives Lehren und aktive Wiedergabe von Wissen führen zu einer anderen Sichtbarkeit als bloße Teilnahme (vgl. das hier beschriebene Projekt The Moving Network und das Projekt Multaka im vorangegangenen Beitrag in diesem Band). • Hybride Organisationsansätze: Organisation und kulturelles Wissen sind eng aneinander gebundene Begriffe. Die Auseinandersetzung mit unterschied-
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lichen Organisationskulturen im Kulturmanagement ist zum einen noch ein Forschungsdesiderat, zum anderen ein spezifisch kulturmanageriales Feld (Wolfram 2012). Viele Positionen der Kulturmanagementforschung der vergangenen Jahre beziehen sich auf deutsche oder angelsächsisch geprägte Organisationstheorien. Die Rezeption internationaler Case Studies aus weniger präsenten Kulturen bietet eine Möglichkeit, sich über andere Formen der Organisation kultureller Ereignisse zu informieren. Gerade hinsichtlich der arabischen Welt wäre hier nach einem Vergleich von Organisationsvorstellungen zu fragen. • Räume verändern: Die in den Kulturwissenschaften vieldiskutierte Kategorie des Raums (Schroer 2005; Bhabha 2000) spielt auch im Bereich Transkultur eine wichtige Rolle. Sie beschreibt die Abhängigkeit von Akteuren wie Rezipienten von Orten, an denen sie angemessen sichtbar werden können und die ihren Wünschen nach Beteiligung oder Akzeptanz entgegenkommen. Theater, Museen, Bühnen und Ausstellungsräume müssen hier ihre sichtbaren wie unsichtbaren Zugangsbarrieren für andere Kulturen reflektieren. Auf die nächsten Jahre hinaus werden die Flüchtlingsunterkünfte wichtige Orte der Begegnung sein. Sie sollten auch im Bereich der kulturellen Bildung viel stärker in den Blickwinkel rücken. • Neue Akteure einbinden: Das Verständnis für Transkultur ist nicht nur an Kulturschaffende im engeren Sinn gebunden. Ebenso entscheidend ist die Einbeziehung von anderen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen. Dies fördert den Austausch innerhalb verschiedener Organisationskulturen genauso wie eine vielfältigere Diskurslandschaft im Kulturbereich. Die Arbeit mit Geflüchteten bietet hier gute Einstiegsmöglichkeiten. Gerade viele Leiter von Flüchtlingsunterkünften können hier beispielsweise geeignete Kooperationspartner sein. • Lehren als Referenz: Zur transkulturellen Partizipation gehört auch die aktive Artikulation von Wissen einer diversen Zahl von Beteiligten. Hier erweist sich die Tragfähigkeit von transkulturellen Konzepten: Wem wird die Fähigkeit und die Verantwortung zugetraut, Wissensvermittlung zu betreiben und zu organisieren? Diese Frage kann als eine Art Lackmustest für die Stabilität transkultureller Konzepte im Kulturbereich dienen.
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Teachers for Life
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VI. Inter- oder transkulturell? Erkenntnisse des Kulturmanagements
Multi-, Inter- und Transkulturalität (als Begriffe) in der empirischen Kulturbesucherforschung Vera Allmanritter
1. K ultur angebote und ihr P ublikum in einer M igr ationsgesellschaf t In den vergangenen fünf bis zehn Jahren hat das Thema der (herkunfts-)kulturellen Diversität in der deutschen Kulturmanagementforschung und -praxis einen immer größeren Stellenwert gewonnen. Vor dem Hintergrund, dass Deutschland seit nunmehr über zehn Jahren offiziell ein Einwanderungsland ist (Meier-Braun/ Weber 2013), zeigt ein Blick auf die nationale Ebene eine zunehmende Sensibilisierung für Fragen des Kulturmanagements und der Kulturpublikumsforschung in einer Migrationsgesellschaft (Keuchel 2012; Mandel 2013; Allmanritter 2009; Cerci 2008; Cerci 2008a). Diese Themenbereiche sind in der Forschung noch recht jung, doch lässt sich bereits sicher feststellen: Das potenzielle Kulturpublikum in Deutschland ist in mehrfachem Sinne (herkunfts-)kulturell divers. Doch obwohl sich insbesondere die empirische Kulturbesucherforschung mit diesem Umstand intensiv beschäftigt hat und inzwischen vielerorts praktische Erfahrungen mit interkultureller Öffnung gesammelt wurden (Mandel 2013; Schneider 2011; Allmanritter/Siebenhaar 2010), stehen viele Kultureinrichtungen offenbar weiterhin vor Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung (Föhl 2015; Höhne 2012; Kulturpolitische Gesellschaft 2010). So stellt sich nach wie vor die Frage, welche Kenntnisse über Menschen mit Migrationshintergrund aus der Publikumsforschung vorliegen und was Kulturinstitutionen aus ihnen für ihre zukünftige Arbeit ableiten können. Soziologisch betrachtet setzt sich das Kulturpublikum (zumindest potenziell) auf der Makroebene aus in Deutschland lebenden Menschen ohne und mit verschiedenstem Migrationshintergrund1 zusammen; hinzu kommen Touristen aus dem In- und Ausland (Pröbstle 2016; Keuchel 2012). Nicht zuletzt durch die anhaltenden Migrationsbewegungen und die daraus resultierende (herkunfts-)kulturelle 1 | Hierzu zählen laut Definition aus dem Jahr 2005 des Statistischen Bundesamts »alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil« (Statistisches Bundesamt 2009: 6).
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Vera Allmanritter
Diversität vieler dauerhaft in Deutschland lebender Menschen ist der Blick auch auf die Mikroebene zu richten – jene der Akteure, zu denen sowohl Kulturschaffende als auch Kulturbesucher zählen. Der Forschungsbereich der Cultural Studies beschäftigt sich seit seiner Etablierung in den 1950er-Jahren und insbesondere seit den 1990er-Jahren auch mit Modellen von Kulturkontakten und hiervon abgeleitet der Beschreibung kultureller Identitäten. Es haben sich in chronologischer Reihenfolge die Begriffe Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität etabliert. Trotz teils unterschiedlicher Definitionen lässt sich festhalten, dass Kulturen im Verständnis von Multikulturalität durch eine einheitliche Sprache oder homogene Traditionen als voneinander abgrenzbare, mehr oder minder in sich geschlossene Einheiten gedacht werden. Angenommen wird ein Neben- und Miteinander von Kulturen, das nicht unbedingt eine Begegnung oder Kommunikation der Kulturen mit- und untereinander vorsieht. Auch der Begriff der Interkulturalität geht von abgrenzbaren Kulturen, jedoch auch von deren Begegnung aus; die Kulturen nehmen aufeinander Bezug und treten miteinander in Dialog. Der Terminus der Transkulturalität hingegen impliziert, dass Kulturen durch weltweite Verkehrsund Kommunikationssysteme und durch international verfügbare Konsumgüter und Kulturangebote stark miteinander verflochten sind. Dadurch ist ihnen ein hybrider Charakter immanent, der eine neue Kultur entstehen lässt (Yousefi/Braun 2011; Antor 2006; Welsch 1992). Aus den beschriebenen Modellen lassen sich verschiedene Perspektiven auf das Individuum und seine kulturellen Implikationen ableiten. Vereinfacht ausgedrückt wird in der pädagogischen Forschung davon ausgegangen, dass sich die kulturelle Identität von Individuen durch ein Hineinwachsen in die und ein Erlernen der sie umgebenden (kollektiven) Kultur entwickelt (vgl. Raithel u.a. 2009: 59; Grundmann 2006: 200; Schippers 1999). Diesem Ansatz folgend entwickeln sich bei Menschen ohne und mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, zunehmend »hybride« (oder transkulturelle) Identitäten, was sich auch in ihrem Kulturnutzungsverhalten niederschlagen kann. Doch lässt sich ein solcher Zusammenhang auch empirisch stützen? Wie lassen sich die kulturellen Identitäten der Kulturbesucher in Deutschland beschreiben, und inwiefern spiegeln sich diese in ihrem Kulturnutzungsverhalten wider? Der Beitrag stellt aktuelle Erkenntnisse der Kulturbesucherforschung in Deutschland vor und betrachtet sie daraufhin, inwieweit sich kulturelle Identitäten von Menschen mit Migrationshintergrund und ihr Kulturnutzungsverhalten mit den Begriffen und Modellen der Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität in Zusammenhang bringen lassen. Ein solcher Versuch ist eine Herausforderung, denn hinter den aufgeführten Begriffen liegen theoretische Konstrukte, die nicht unbedingt für eine empirische Überprüfung entwickelt wurden. Umgekehrt legen nicht alle empirischen Studien ihre Vorüberlegungen so offen, dass ersichtlich wird, ob und inwieweit sie sich auf ein Modell beziehen. Es handelt sich somit um einen bislang in der Forschung nicht vorgenommenen Versuch, den Umgang mit Multi-, Inter- und Transkulturalität als theoretische Prämissen für die empirische Forschung zu prüfen; eine mögliche Unvollständigkeit der Überlegungen wird vorausgesetzt und lädt zu weiteren Beiträgen ein.
Multi-, Inter- und Transkulturalität
2. M ultikulturelle , interkulturelle oder tr anskulturelle K ulturbesucher ? Der Überblick über die aktuelle Kulturbesucherforschung in Deutschland zeigt, dass der Aspekt der kulturellen Identität und ein von ihr abgeleitetes Kulturnutzungsverhalten bereits in mehreren Studien untersucht wurde. Feststellbar sind zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen an das Themenfeld: Auf der einen Seite handelt es sich um Studien, die den Fokus auf Menschen mit Migrationshintergrund legen, unterschieden nach nationalen oder ethnischen Wurzeln (Keuchel 2012: 2011; Keuchel/Larue 2010; Cerci 2008a). Auf der anderen Seite existiert eine Studie des Marktforschungsinstituts Sinus, die sich mit sozialen Milieus innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beschäftigt (Gerhards 2013; Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010; Cerci/Gerhards 2009). Die Ergebnisse einer Studie der Verfasserin dieses Beitrags liegen quer zu diesen Herangehensweisen: Sie setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit eine nationale oder ethnische (Herkunfts-)Zugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einem sozialen (Migranten-)Milieu oder eine Kombination aus beiden Faktoren dazu beitragen, Einsichten in kulturelle Identitäten und das Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen (Allmanritter 2017). Diese drei Ansätze sollen in der gebotenen Kürze vorgestellt werden.
2.1 Studien mit Fokus auf nationalen und ethnischen Wurzeln Die empirischen Studien aus der Publikumsforschung, die Menschen mit Migrationshintergrund nach Herkunftsnationen und -ethnien aufteilen, aus denen sie oder ihre Vorfahren stammen, kommen zu dem Schluss, dass kulturelle Identitäten offenbar durch das Vorhandensein eines Migrationshintergrunds deutlich beeinflusst werden. Das Vorhandensein von Migrationserfahrungen innerhalb der Familie ist laut ihnen (mit-)prägend für die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Keuchel 2012: 64ff.; 2011: 25ff.; Keuchel/Larue 2010: 21ff.). Es handelt sich aber nur um einen von vielen Teilaspekten der Identität von Menschen mit Migrationshintergrund. Zudem fühlen sich viele Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur durch kulturelle Wurzeln des familiären Herkunftslands geprägt, sondern – im Sinne einer »hybriden Identität« (Bhabha 1996; 1994; Hall 1990) – mehr als einer (national verstandenen) Kultur verbunden, beispielsweise auch der des Aufnahmelands (vgl. Keuchel 2011: 25ff.; Keuchel/Larue 2010: 21ff.). Einflüsse eines Migrationshintergrunds auf die individuelle Identitätsbildung sind nicht nur für die erste Einwanderergeneration mit eigener Migrationserfahrung feststellbar, sondern auch für ihre Nachkommen in der zweiten und dritten Generation. In welchem Ausmaß ein solch identitätsstiftender Einfluss des Migrationshintergrunds tatsächlich zum Tragen kommt, hängt allerdings von der Aufenthaltslänge einer Person in Deutschland, deren Sprachkenntnissen, der räumlichen Distanz des Herkunftslands zum europäischen Kulturraum, der Wohnregion im Aufnahmeland sowie der Tatsache ab, ob sie in einem (mindestens) binationalen Elternhaus aufgewachsen ist oder nicht (vgl. Keuchel 2012: 64ff.).2 2 | Die diesen Werten zugrundeliegende »InterKulturBarometer«-Studie (2012) bezieht sich im Hinblick auf den Begriff »Kulturraum« auf eine Untersuchung des Zentrums für Kunst und
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Vera Allmanritter
Die häufige Beschreibung der kulturellen Identität von Befragten mit eigener Migrationserfahrung in den Studien als »hybrid« deutet darauf hin, dass auf sie am ehesten das Konzept der Transkulturalität angewendet werden könnte. Entsprechende Identitäten basieren auf kulturellen Einflüssen, die im Ursprungs- und im Einreiseland kennengelernt werden und zu einer kulturell gemischten Identität führen. Möglich ist, dass es sich dabei ursprünglich um voneinander trennbare kulturelle Einflüsse handelt, die aufeinandertreffen, oder aber, dass die aufeinandertreffenden kulturellen Einflüsse bereits ihrerseits aus Vermischungen bestehen. Auch bei deren Nachkommen, sprich Menschen mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung, besteht die Möglichkeit, dass hybride Identitäten durch ein Bewegen zwischen mehreren kulturellen Einflüssen – meist aus dem Herkunftsland der Vorfahren und dem Einwanderungsland – entstehen. Der in der empirischen Kulturnutzerforschung für Menschen mit Migrationshintergrund feststellbare Kulturbegriff zeigt eine hohe Übereinstimmung mit den in dieser Bevölkerungsgruppe offenbar weit verbreiteten hybriden Identitäten. Während die meisten Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland einen Kulturbegriff vertreten, der sich an erster Stelle auf die klassischen Künste, also die Hochkultur, bezieht, haben viele Menschen mit Migrationshintergrund einen breiteren Kulturbegriff, der auch Elemente der Populärkultur oder der Alltagskultur wie »Familie«, »Religion«, »kulturelle Diversität«, »Lebensweise« oder »Kultur der Länder/Völker« mit einbezieht. Ein solcherart erweiterter Kulturbegriff zeigt sich insbesondere bei der dritten Einwanderergeneration (vgl. Keuchel 2012: 36ff.). Menschen mit Migrationserfahrung sind in ihren künstlerischen Interessen (auch) von der kulturellen Infrastruktur, den kulturgeschichtlichen Traditionen, den politischen und gesellschaftlichen Wertesystemen ihres Herkunftslands geprägt. Sie haben dort bei der Kunstrezeption Seh- und Hörgewohnheiten entwickelt, die sie als »kulturelles Eigenkapital« (Keuchel 2012: 23; nach Pierre Bourdieu 1979)3 in das Aufnahmeland mitbringen. Dies gilt an erster Stelle für diejenigen, die selbst migriert sind, jedoch geht dieses »kulturelle Eigenkapital« im Generationenverlauf nicht völlig verloren (vgl. Keuchel 2012: 64ff., 81ff.; Keuchel/Larue 2012: 144ff., 171; Keuchel/Mertens 2011: 4; Keuchel 2006: 61ff.). Die Migrationsgeschichte einer Person beeinflusst deren kulturelle Interessen jedoch auch in mehrfacher weiterer Hinsicht: Sie führt durch einen breiten Kulturbegriff zu einem Interesse an nicht nur klassischen, sondern auch volkstümlichen und jüngeren Kunstformen wie der Medien- und Videokunst. Sie initiiert zudem ein KulturinMedientechnologie in Karlsruhe (Belting u.a. 2011) und geht davon aus, dass es bestimmte und von Ländergrenzen unabhängige geografische Räume gibt, in denen sich einzelne und voneinander deutlich zu unterscheidende künstlerische Ausdrucksformen (zum Beispiel Musik, Objektdarstellung) und davon abgeleitet unterschiedliche ästhetische Seh- und Hörgewohnheiten entwickelt haben (vgl. Keuchel 2012: 20). 3 | In den beschriebenen Studien wird offenbar – zumindest implizit – davon ausgegangen, dass sich »kulturelles Kapital« nicht insbesondere oder gar ausschließlich auf Hochkultur bezieht (wie zum Beispiel im Verständnis von De Graaf/De Graaf 2006; Hartmann 1999), sondern auf die Aneignung anderer kultureller Ausdrucksformen, wie popkulturelle, volkstümliche, oder anderer spezifischer kultureller Kenntnisse (vgl. hierzu Otte 2005: 453; Otte 2004: 104).
Multi-, Inter- und Transkulturalität
teresse, das sich häufig auf mehrere Räume bezieht (etwa das Herkunftsland und den deutschen oder europäischen Kulturraum), sowie ein Interesse an der Kulturgeschichte, an den Kunstwerken, Künstlern und sprachbasierten Kunstrichtungen (wie der Literatur) dieser Länder. Dies gilt insbesondere für Personen mit Wurzeln in weiter entfernten Kulturräumen (vgl. Keuchel 2012: 81ff.). Ein solches Kulturinteresse geht im Verlauf der Generationen nicht verloren (vgl. Keuchel 2012: 64ff.). Das generelle Interesse von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an Kunst- und Kulturangeboten sowie ihr Interesse an einzelnen Genres liegen in etwa auf gleichem Niveau. Dennoch nutzen Menschen mit Migrationshintergrund Kulturangebote im Vergleich insgesant signifikant seltener (vgl. Keuchel 2012: 100ff.; Keuchel/Larue 2012: 171). Vor allem klassische Kultureinrichtungen wie etwa Theater, Kunstmuseen und Opern, aber auch bisweilen die freie Kulturszene haben Schwierigkeiten, Menschen mit Migrationshintergrund als Zielgruppe zu erreichen und als Besucher zu binden (vgl. Keuchel 2012: 113ff.). Ein Grund hierfür könnte in geringen Zufriedenheitswerten von Menschen mit Migrationshintergrund mit dem Kulturangebot in Deutschland liegen: Zwar werden Größe und Qualität des Kulturangebots in Deutschland von ihnen als positiv bewertet, die Internationalität des Kulturangebots respektive die Kunst aus Migrantenherkunftsländern sind in ihren Augen jedoch nicht ausreichend repräsentiert (vgl. Keuchel 2012: 39ff.). In diesem Kontext stellen mehrere Studien die Möglichkeit eines Brückenbaus durch Kunst und Kultur heraus: Gegenseitige Rezeption, Austausch und wachsende gegenseitige Kenntnis könnten zu einem Abbau von Vorurteilen beitragen. Ebenso seien gemeinsame Projekte von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund hilfreich (Cross-Culture-Projekte), aus denen sich neue und hybride Kunstformen entwickeln könnten. Insbesondere solche Cross-Culture-Projekte werden von den Befragten mit und ohne Migrationshintergrund in beiden Studien als besonders spannend und zeitgemäß empfunden (vgl. Keuchel 2012: 175ff.; Keuchel 2011: 29ff.; Keuchel/Larue 2010: 26). Dagegen sind die Befragten gegenüber additiven oder auf Quoten basierenden Verfahren äußerst kritisch eingestellt; sie dienen in ihren Augen nur dazu, in bestehende Kultureinrichtungen anteilig mehr Kunst und Kultur aus verschiedenen Herkunftsländern zu integrieren, und bergen die Gefahr einer ungewollten Betonung von Unterschieden und einer Abgrenzung der »eigenen« zu der (vermeintlich) »anderen« Kultur. Dies trete vor allem dann ein, wenn die Angebote ohne entsprechende Vermittlung erfolgten oder als spezifische »Migrantenangebote« kommuniziert würden (vgl. Keuchel 2012: 175ff.; Keuchel 2009: 172). In Bezug auf kulturelle Interessen und die Nutzung von Kulturangeboten lässt sich auch aus den Forschungsergebnissen zum Kulturnutzungsverhalten kaum herauslesen, ob dieses bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund mit den Begriffen Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität in Zusammenhang zu bringen ist. Selbst ob und inwieweit dem Wunsch nach Cross-CultureAngeboten ein inter- oder transkulturelles Kulturnutzungsverständnis zugrunde liegt, lässt sich aus den Studienergebnissen nicht ableiten.
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B12
Hoch
Intellektuellkosmopolitisches Milieu
AB12
Statusorientiertes Milieu
11%
BC2
Multikulturelles Performermilieu
12%
Mittel
13%
B23
Adaptives Bürgerliches Milieu
16%
AB3
Niedrig
Traditionelles Arbeitermilieu
A3
16%
Religiösverwurzeltes Milieu
Grundorientierung
Vormoderne Tradition
B3
15%
Entwurzeltes Milieu
7%
Soziale Lage
BC3
Hedonistischsubkulturelles Milieu
9%
Konservativ-religiös, strenge, rigide Wertvorstellungen, kulturelle Enklave
© Sinus Sociovision 2008
Ethnische Tradition
Konsum-Materialismus
Individualisierung
Multi-Optionalität
Pflicht- und Akzeptanzwerte, materielle Sicherheit, traditionelle Moral
Status, Besitz, Konsum, Aufstiegsorientierung, soziale Akzeptanz und Anpassung
Selbstverwirklichung, Leistung, Genuss, bi-kulturelle Ambivalenz und Kulturkritik
Postmodernes WertePatchwork, Sinnsuche, multikulturelle Identifikation
Tradition
Modernisierung
Neuidentifikation
Abb. 1: Sinus-Migranten-Milieus in Deutschland. Eigene Darstellung in Anlehnung an Sinus 2008: 6
2.2 Eine Studie mit Fokus auf sozialen Milieus Die Studie Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland (Sinus 2008) des Marktforschungsunternehmens Sinus beleuchtet die Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund nach sozialen Milieus (Abb. 1). Dabei wurden acht herkunftskulturübergreifende Migranten-Milieus identifiziert, die in ihren Wertorientierungen, Lebensauffassungen und -stilen sowie in Hinblick auf ihre kulturelle Identität, ihre kulturellen Interessen und ihre Kulturnutzung deutlich voneinander abgrenzbar sind. Ein zentrales Ergebnis dieser Studie ist, dass der individuelle Migrationshintergrund einer Person nicht deren Milieuzugehörigkeit beeinflusst. Personen mit verschiedenem Migrationshintergrund, die demselben sozialen Milieu angehören, sind sich demnach ähnlicher als Personen, die den gleichen Migrationshintergrund haben, aber aus verschiedenen sozialen Milieus stammen. In Bezug auf das Kulturnutzungsverhalten kommt die Studie zu anderen Schlüssen als jene, die nationale oder ethnische Wurzeln fokussieren: Demnach beeinflusst der individuelle Migrationshintergrund einer Person zwar deren Alltagskultur, nicht aber ihr Kulturnutzungsverhalten. Dieses ist von der Schulbildung, den Einstellungen, der sozialen Lage und dem Herkunftsraum (Großstadt vs. ländliche Region) der Menschen abhängig (vgl. Gerhards 2013: 10; Cerci/Gerhards 2009: 3). Die Sinus-Studie richtet den Blick somit auf Gemeinsamkeiten von Menschen jenseits ihres Migrationshintergrunds innerhalb von sozialen Milieus und nicht auf die Erforschung von Differenzverhalten auf der Basis von (trennenden) Ethnien. Eine genauere Betrachtung der einzelnen Milieus zeigt jedoch, dass sich in sechs der acht Migranten-Milieus explizite Hinweise finden, dass Bezüge zur Herkunftskultur eine nicht unbedeutende Rolle für ihre kulturellen Interessen und ihre Kulturnutzung spielen (vgl. Gerhards 2013: 52ff.; Der Ministerpräsident des
Multi-, Inter- und Transkulturalität
Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 18ff.; Wippermann 2010: 12ff.; Cerci/Gerhards 2009: 16ff.; Cerci 2008: 8ff.). Die Ausführungen zu fünf der acht Migranten-Milieus lassen ahnen, dass von ihnen vor allem Angebote mit Bezügen zur Herkunftskultur als interessant erachtet werden, auch wenn sie parallel zu den Angeboten des Aufnahmelandes und anderer Kulturen verlaufen: • Statusorientiertes Milieu (12 %): »Bevorzugte Nutzung von Angeboten aus der Heimatkultur4 (Fernsehsendungen und Zeitschriften, kulturelle Veranstaltungen, religiöse Feste)« (Cerci/Gerhards 2009: 37f.). • Religiös-verwurzeltes Milieu (7 %): »Starke Verwurzelung in der Volkskultur und der religiösen Tradition des Herkunftslandes. Heimatliche Musik-, Tanz-, Literatur- und Theaterveranstaltungen sowie ethnisch geprägte Institutionen […] werden häufig besucht«, »Motive: kulturelle Identität bewahren […]« (Cerci/ Gerhards 2009: 41f.). • Traditionelles Arbeitermilieu (16 %): »Orientierung an der Kultur des Heimatlandes«; »Volkskulturelle Traditionen (Musik, Tanz, Esskultur) werden bewusst gepflegt« (Cerci/Gerhards 2009: 45f.). • Entwurzeltes Milieu (9 %): »Kulturelle Zentren und Gemeinden der Herkunftsethnie sind wichtige Anlaufstationen […]; dort werden auch Veranstaltungen mit traditionellen Kulturangeboten (zum Beispiel Folkloreabende) besucht«; »Selten ernsthaftes Einlassen auf die ›deutsche‹ Kultur und Nutzung entsprechender Angebote« (Cerci/Gerhards 2009: 56). • Hedonistisch-subkulturelles Milieu (15 %): »Oft eine Sehnsucht nach der (großteils verlorenen) Herkunftskultur; Wunsch nach Teilnahme an den traditionellen Veranstaltungen als ›Kontrastprogramm‹ zum sonstigen postmodernen Lebensstil; gelegentlicher Besuch heimatsprachlicher Literaturabende, Theateraufführungen und Gesangs-/Tanzveranstaltungen« (Cerci/Gerhards 2009: 61). Die teilweise starke Fokussierung der Milieuangehörigen auf ihre Herkunftskultur deutet darauf hin, dass trotz ihrer eventuell hybriden Identitäten am ehesten die Modelle der Multikulturalität oder Interkulturalität auf sie und ihr entsprechendes Kulturnutzungsverhalten angewendet werden könnten. Gleichzeitig scheint es, als ob die kulturellen Interessen und das entsprechende Kulturnutzungsverhalten eher dann mit dem Konzept der Transkulturalität korrespondieren, wenn die Menschen sozial besser gestellten Milieus angehören und sich zudem durch eine moderne Grundorientierung ausweisen. Für das Multikulturelle Performermilieu sind zumindest traditionelle Elemente der Herkunftskultur nicht interessant: Angebote, die kulturelle Unterschiede betonen, werden kritisch betrachtet:
4 | An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass die Begriffe »heimatlich«, »Heimatland«, »Heimatkultur«, »heimatsprachig« oder ähnliche in besagter Studie verwendet werden, dies aus Sicht der Autorin dieses Beitrags aber höchst problematisch ist, denn »Heimat« ist ein biografisch-individuelles Konstrukt; vertiefend hierzu beispielsweise Bender u.a. (2015); Donig u.a. (2009).
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• Multikulturelles Performermilieu (13 %): »Souveräner Umgang mit in- und ausländischen Medien- und Kulturangeboten«; »Vorbehalte gegenüber Angeboten der ethnisch geprägten Heimat- und Kulturvereine und anderen Migrantenorganisationen« (Cerci/Gerhards 2009: 49). Die interkulturellen Interessen des Adaptiven Bürgerlichen Milieus deuten darauf hin, dass sich seine Angehörigen für Kulturangebote unterschiedlicher herkunftskultureller Prägung interessieren, die vielleicht zunächst parallel existieren, aber in Dialog treten (Interkulturalität) und sich dabei eventuell zu neuen hybriden und somit transkulturellen Kulturformen vermischen: • Adaptives Bürgerliches Milieu (16 %): »Hohes Interesse für interkulturelle Events und Veranstaltungen«; »Gelegentliche Nutzung von ethnischen Zentren, Kulturvereinen und Migrantenorganisationen« (Cerci/Gerhards 2009: 33f.). Insbesondere für das Intellektuell-kosmopolitische Milieu lässt sich auf Basis der kulturellen Interessen und Nutzungspräferenzen vermuten, dass sich diese am ehesten mit dem Begriff Transkulturalität fassen lassen: • Intellektuell-kosmopolitisches Milieu (11 %): »Organisieren kulturelle Events mit in- und ausländischen Künstlern, dabei übernehmen sie bewusst eine vermittelnde Rolle zwischen den Kulturen und sind offen für kulturellen Austausch (in alle ethnischen und künstlerischen Richtungen)« (Cerci/Gerhards 2009: 53). Sind die kulturellen Interessen und das Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund also am ehesten als multikulturell, interkulturell oder transkulturell zu beschreiben? Sind sie generell und trotz eventuell transkultureller Identitäten in allen Migranten-Milieus eher mit den Konzepten Multi- und Interkulturalität in Verbindung zu bringen? Oder weichen das Multikulturelle Performermilieu, das Adaptive Bürgerliche Milieu und das Intellektuell-kosmopolitische Milieu an dieser Stelle tatsächlich von den anderen Milieus ab und haben eher transkulturelle Vorlieben?
2.3 Eigene Forschungsergebnisse: Soziale Milieus und ethnische Wurzeln In ihrer eigenen Forschung hat die Verfasserin dieses Beitrags den national oder ethnisch orientierten Ansatz mit dem der sozialen Migranten-Milieus von Sinus verbunden, um herauszufinden, ob die Zugehörigkeit zu sozialen (Migranten-)Milieus, zu Gruppen gleicher Ethnie respektive Nationalität oder die Kombination beider Faktoren am ehesten dazu beiträgt, Einsichten in die kulturellen Identitäten, die kulturellen Interessen und das Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund zu erhalten (Allmanritter 2017). Im Rahmen einer heuristischen Studie wurden mit einem neu entwickelten Verfahren exemplarisch etwas mehr als 50 Angehörige des Intellektuell-kosmopolitischen Milieus von Sinus iden-
Multi-, Inter- und Transkulturalität
tifiziert.5 Es handelte sich dabei um Personen aus den Großstädten Berlin, Frankfurt a.M. und Stuttgart, in denen ein hoher Prozentsatz von Menschen mit Migrationshintergrund ansässig ist (Alscher 2015). Die Befragten hatten türkischen Migrationshintergrund oder kamen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion6, was nach bisheriger Forschung kulturraumbedingt deutliche Unterschiede in ihrem Kulturnutzungsverhalten erwarten ließ (Keuchel 2012; Keuchel/Wiesand 2006). Sie wurden innerhalb von qualitativen Interviews hinsichtlich ihrer kulturellen Identität, der Breite und Frequenz ihres Kulturinteresses und ihrer Kulturnutzung, ihres geografischen Radius, der genutzten Informationswege, ihrer Sprach-, Preis- und Ticketingpräferenzen, Begleitpersonen und kombinierter Aktivitäten sowie hinsichtlich Hinweisen auf Besuchsanreize beziehungsweise Nutzungsbarrieren für sie selbst und andere Migranten-Milieus befragt. Wie es die Ergebnisse der Studie Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland vermuten ließen, ist die kulturelle Identität der hier Befragten aus dem Intellektuell-kosmopolitischen Milieu am ehesten mit den Begriffen »hybrid« und »transkulturell« zu beschreiben. Sie entsprach einem Puzzle aus den verschiedensten Einflussfaktoren. Bei den Befragten mit türkischem Migrationshintergrund wurden in diesem Zusammenhang neben der »Türkei« als Nationalstaat und/oder ganz generell Türkischsprachigem als beeinflussendem Element der Herkunftskultur des Weiteren der besondere Einfluss einer bestimmten Stadt (etwa Istanbul) oder Region (etwa Anatolien) innerhalb des Landes sowie politische oder religiöse Einflüsse genannt. Bei den Befragten mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurden Einflüsse des Nationalstaats, in dem sie oder ihre Eltern geboren wurden, darin vorhandener verschiedener Volksgruppen, Einflüsse der gesamten ehemaligen Sowjetunion (oder Post-Sowjetunion), Einflüsse einer dominierenden russischen Kultur und/oder Sprache innerhalb der ehemaligen Sowjetunion und religiöse Aspekte genannt. Beide Befragtengruppen gaben an, ebenfalls in hohem Maße von weiteren in Deutschland vorhandenen kulturellen Elementen respektive der »deutschen Kultur« geprägt zu sein und all diese Einflüsse im Sinne einer »hybriden Identität« nicht voneinander trennen zu können. Etwas mehr als drei Viertel der Befragen aus beiden Gruppen gaben an, dass sie generell der Meinung sind, ihr individueller Migrationshintergrund nehme Einfluss darauf, welche Kulturangebote sie in Deutschland nutzten. Und in der Tat zeigte sich in ihren Antworten in der Tendenz ein ästhetisch prägender Einfluss von Herkunftskulturräumen auf die Kulturnutzung. Einige Befragte aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion gaben an, dass sehr moderne Inszenierungen bei 5 | Diese Fokussierung erfolgte vor dem Hintergrund, dass dieses Milieu von allen acht Migranten-Milieus (Hoch-)Kulturangebote vergleichsweise am häufigsten nutzt (vgl. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 94ff.). Gleichzeitig erschien es aufgrund seiner kosmopolitischen Ausrichtung als besonders für eine Überprüfung geeignet, ob herkunftskulturelle Einflussfaktoren im Vergleich zur Milieuzugehörigkeit tatsächlich und entsprechend dem Ergebnis der Sinus-Studie keinen Einfluss auf kulturelle Interessen und das Kulturnutzungsverhalten ausüben. 6 | Ehemalige Sowjetunion: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Republik Moldau, Russ. Föderation, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland, Ehemalige Sowjetunion (Amt für Statistik Berlin Brandenburg 2012).
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klassischen Konzerten, Opern/Operetten, Sprechtheatern und Ballett/Tanztheater sie abschrecken könnten. Insbesondere für eher kunstferne Milieus ihres Migrationshintergrunds sahen sie bei entsprechenden Angeboten ein starkes Abschreckungspotenzial. Sowohl die aus dem Intellektuell-kosmopolitischen Milieu Befragten mit türkischem Migrationshintergrund als auch jene aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion interessierten sich milieubedingt unabhängig von ihrem Migrationshintergrund in hohem Ausmaß für eine Vielzahl verschiedener Kulturangebote (Hochkultur wie Populärkultur, klassisch wie zeitgenössisch) und nutzten diese sehr häufig. Dabei konnte es sich grundsätzlich um Kulturangebote aus allen Ländern der Welt handeln. Beide Befragtengruppen gaben im Hinblick auf ihre Nutzung von Kulturangeboten zu einem Großteil an, keine bewussten Unterschiede hinsichtlich der Herkunft der Angebote oder nach Bezügen zu der jeweiligen eigenen Herkunftskultur zu machen, sondern international ausgerichtet zu sein. Eine überwältigende Mehrheit der Befragten aus beiden Befragtengruppen gab an, dass sie Cross-Culture-Formate interessant, wenn nicht sogar sehr interessant fänden. Dennoch hatten Angebote, die einen Bezug speziell zu ihrer jeweiligen Herkunftskultur aufwiesen, im Vergleich eine besondere Attraktivität für sie. Dies galt beispielsweise für Angebote von Regisseuren, Autoren und Komponisten sowie von Musikern und Schauspielern, die aus den Herkunftsländern der Befragten stammten oder die einen jeweiligen Migrationshintergrund aufwiesen. Gleichzeitig gaben beide Befragtengruppen an, dass sie trotz ausgezeichneter Deutschkenntnisse Angebote und Informationsmaterial in ihrer jeweiligen (evtl. zweiten) Herkunftssprache im Rahmen einer generellen Mehrsprachigkeit sehr attraktiv fänden. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass es sich laut den Befragten hierbei aber um qualitativ/künstlerisch hochwertige Angebote handeln müsse. Traditionelle oder folkloristische Angebote wecken beim Intellektuell-kosmopolitischen Milieu kein Interesse. Für eine Ansprache von Menschen ihres Migrationshintergrunds aus anderen Milieus fanden die Befragten aus dem Intellektuell-kosmopolitischen Milieu konkrete herkunftskulturelle Bezüge im Vergleich deutlich relevanter als für sich selbst. Die Befragten mit türkischem Migrationshintergrund meinten, dass die Bevölkerungsgruppe ihres Migrationshintergrunds sich von Kulturinstitutionen durch deren weitgehendes Ignorieren von türkischer Kultur und türkischen Kulturproduzenten (Künstler, Autoren etc.) nicht ausreichend wahrgenommen und zudem oftmals zum Beispiel durch die Reduktion von türkischer Kultur auf Folklore nicht ausreichend von ihnen verstanden fühlte. Eine mangelnde interkulturelle Öffnung von Kulturinstitutionen sei für diese Bevölkerungsgruppe Bestandteil einer (bislang aus ihrer Sicht weitestgehend ausgebliebenen) gesamtgesellschaftlichen Anerkennung beziehungsweise Wertschätzung der türkischen Kultur und Sprache. Die Befragten mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion hingegen meinten, die Bevölkerungsgruppe ihres Migrationshintergrunds würde sich durch das Vorhandensein von klassischen Angeboten und von Künstlern aus ihrem Kulturkreis in den Häusern bereits zum Teil als im Kunstund Kulturbereich sichtbar empfinden. Sie meinten, die Gruppe würde sich von Kulturinstitutionen aber dennoch aus zweierlei Gründen nicht ausreichend verstanden fühlen: Erstens aufgrund der Reduktion auf Klassiker aus ihrem Kulturkreis und des Ausblendens von zeitgenössischen Künstlern und Werken aus ihrem
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Herkunftsraum, und zweitens aufgrund einer modernen Inszenierung ebenjener Klassiker, die dem Geschmack der Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion nicht entspreche. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die »hybride« kulturelle Identität in den kulturellen Interessen und dem Kulturnutzungsverhalten der Befragten des Intellektuell-kosmopolitischen Milieus deutlich widerspiegelt. Ihr hohes Interesse an hybriden Cross-Culture-Angeboten widerspricht einer Präferenz für Kulturangebote unterschiedlicher herkunftskultureller Prägung, die parallel zueinander und mit keinem oder wenig Kontakt untereinander existieren. Die Antworten der Befragten lassen stattdessen darauf schließen, dass sie generell ein besonderes Interesse an Angeboten haben, bei denen es sich per se um kulturelle Mischformen handelt und die am ehesten mit dem Konzept der Transkulturalität beschreibbar sind. Die gleichzeitige Attraktivität von Kulturangeboten, die Bezug speziell zu ihrer jeweiligen Herkunftskultur oder (evtl. zweiten) Herkunftssprache haben, steht hierzu in keinem Widerspruch. Dies spricht lediglich dafür, dass sich ihr Interesse nicht auf transkulturell zu beschreibende Angebote beschränkt. Sie sind ebenfalls offen für künstlerisch hochwertige Angebote, die explizit eigenkulturelle Bezüge beinhalten oder diese zumindest besonders herausstellen (etwa Werke von Autoren, Komponisten, Künstlern, Musikern aus ihren Herkunftsländern). Vorausgesetzt, dass diesen Angeboten kein erkennbar transkultureller Charakter zuzuschreiben ist, wären diese eher mit den Begriffen Multikulturalität oder Interkulturalität beschreibbar. Gleichzeitig lässt sich auf Basis der Antworten der Befragten vermuten, dass eine solch große Offenheit bei anderen sozialen Milieus nicht unbedingt zu erwarten ist und deren kulturelle Interessen und Kulturnutzung – trotz eventuell transkultureller Identität – sich eher auf Angebote bezieht, die mit den Konzepten Multi- und Interkulturalität in Verbindung stehen oder zumindest in dieser Form von Kulturinstitutionen kommuniziert werden. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, müssten jedoch weitere auf andere Sinus-MigrantenMilieus bezogene Untersuchungen überprüfen.
3. F a zit und A usblick Menschen mit Migrationshintergrund verfügen laut den hier aufgeführten Studien über »hybride« kulturelle Identitäten und einen »hybriden« Kulturbegriff. Inwieweit sich beides in ihren kulturellen Interessen und ihrem Kulturnutzungsverhalten widerspiegelt, scheint jedoch davon abhängig zu sein, welchem sozialen Milieu sie angehören. In der Tendenz bevorzugen Milieus, die eine niedrige soziale Lage und eine traditionelle Grundorientierung aufweisen, Angebote, die einen klaren herkunftskulturellen Bezug herstellen und mit den Begriffen Multikulturalität und Interkulturalität beschrieben werden können. Angehörige sozialer Milieus, die eine höhere soziale Lage und eine modernere Grundorientierung aufweisen, haben sich von Herkunftszugehörigkeiten augenscheinlich stärker gelöst. Sie sind offener sowohl für multikulturelle, interkulturelle als auch »hybride« transkulturelle Mischformen. In diesem Kontext wäre es eine genauere Betrachtung wert, ob das vorhandene Kulturangebot das Interesse an Kunst und Kultur aus vielfältigsten Kulturräumen fördert oder gar verhindert, und aus welchen Gründen dies geschieht. Ebenso ist
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zu fragen, welche Rolle in diesem Kontext die Wahl von Vermittlungsinstrumenten der Kulturorganisation spielt: Wird etwa nach dem traditionellen herkunftsdiversen Verständnis ein auf einzelne ethnische Bevölkerungsgruppen abzielendes Kulturmarketing (sogenanntes »Ethnomarketing«, vgl. Schammann 2014; Dorfner 2009) eingesetzt, werden im Sinne der Multikulturalität Angebote aus einzelnen (national definierten) Kulturen oder Herkunftsräumen gemacht, wird auf Kunst als Kommunikation im Sinne eines interkulturellen Dialogs gesetzt, oder werden vielmehr transkulturelle Angebote erdacht, die kulturelle Kontexte neu reflektieren? All dies kann sicherlich auch als Seismograf für das Selbstverständnis einer Kultureinrichtung angesehen werden. Da es sich bei den vorgestellten Studien um Befragungen der Bevölkerung und nicht um eine Untersuchung von Kulturinstitutionen handelt, kann an dieser Stelle keine Aussage darüber getroffen werden, ob Kunstwerke und Künstler oder deren Vorkommen im kulturellen Angebot in Deutschland tatsächlich zu wenig international und cross culture sind oder ob deren Multi-, Inter- oder Transkulturalität von den verantwortlichen Kultureinrichtungen bislang nur nicht in ausreichendem Maß herausgestellt und kommuniziert werden. Die Antworten zumindest der Befragten mit Migrationshintergrund wären hierauf vermutlich eindeutig: Während sie ihre kulturelle Identität vermutlich als eine transkulturelle bezeichnen würden, hinkten die Kulturangebote in Deutschland in ihrer Wahrnehmung ihrem erweiterten Verständnis von Kultur hinterher und wären weder ausreichend international noch ausreichend dialogisch oder hybrid. Die Kulturangebote bildeten damit aus ihrer Sicht nicht ausreichend ab, was in der Gesellschaft bereits seit vielen Jahren und im alltäglichen Leben längst Tatsache ist.
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Management zwischen Kulturen Ein Ansatz jenseits von Hofstede Lena Schmitz
1. K ulturforschung und K onte x t Dort, wo Kultur erforscht wird, stellt sich auch die Frage nach ihrem Träger. Welche Art von Gemeinschaft teilt und lebt eine Kultur? Welcher Mensch zählt zu dieser Gemeinschaft, welcher nicht? Und anhand welchen Kriteriums lässt sich das differenzieren? Vor allem wenn Kultur mittels Stichproben empirisch erforscht wird, steigert sich die Frage nach dem Kulturträger in ihrer Dringlichkeit und Anschaulichkeit. Denn angenommen, eine Stichprobe dient dazu, eine größere Grundgesamtheit an Menschen zu repräsentieren, wie insbesondere in der quantitativen Forschung üblich, dann werden die kulturellen Merkmale, die in der Stichprobe zum Vorschein kommen, auf die Grundgesamtheit verallgemeinert. Teilt die Grundgesamtheit die kulturellen Merkmale jedoch wirklich in dieser Form und in diesem Umfang? Eine Verallgemeinerung scheint nur dann zulässig, wenn auf die Frage nach dem Kulturträger eine stichhaltige Antwort gefunden wird.1 Ein herausragendes Beispiel für unzulässige Verallgemeinerung ist Geert Hofstedes Buch Culture’s Consequences. Comparing Values, Behaviors, Institutions, and Organizations Across Nations (1. Aufl. 1980, 2. Aufl. 2009, cop. 2001), das auf einer quantitativen Befragung von Mitarbeitern des Konzerns IBM basiert. Der niederländische Sozialpsychologe leitete aus dieser unternehmensinternen Befragung Kulturdimensionen ab, die die Kulturen ganzer Nationen abbilden sollten (vgl. Hofstede 1980: 43). Damit vertritt er, wie in der traditionellen Kulturwissenschaft üblich, einen nationalistischen Kulturbegriff. Problematisch ist an Hofstedes Methode und Begriff jedoch, dass er die Prägekraft der Nation überbewertet und weitere bedeutsame Kulturträger vernachlässigt (vgl. Schmitz 2015: 32-37). Der Stellenwert der Nation als alleinige Kulturträgerin und ihre deterministische Kraft werden von der modernen Kulturwissenschaft in ihrer theoretischen und empirischen Tragfähigkeit angezweifelt (vgl. Jones 2007: 7; Baskerville 2003: 6). Sie sieht das Individuum in mehreren, räumlich entgrenzten Kulturen verortet (vgl. Welsch 2009: 3; Hansen 2009b: 11). Aus ihrer Perspektive wirkt nicht nur die Zu1 | So sehen es auch die Ansätze der »dichten Beschreibung« nach Clifford Geertz (Geertz 2003) und der »dichten Zuschreibung« von Merkmalen an Kollektive nach Klaus P. Hansen (Hansen 2009a).
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gehörigkeit zu einer Nation, sondern etwa auch jene zu einem Geschlecht, einer Altersgruppe oder einer Hobbygemeinschaft prägend auf den Menschen. Neben ethnischen Gemeinschaften werden damit Subkollektive zu bedeutsamen Kulturträgern (vgl. Hansen 2009: 27). Der vorliegende Beitrag stellt die Frage nach dem Kulturträger in Bezug auf das Handlungsfeld des Managens – das geschäftliche Planen, Gestalten von Hierarchien, Führen, Entscheiden und Vermitteln von Werten. Hofstede postuliert auch für diesen Bereich nationalistisch geprägte Herangehensweisen, aus denen das Individuum sich nicht lösen könne und die in der internationalen Kooperation zu Konflikten führten (vgl. Hofstede 2009: 373; Hofstede 2002: 2). Seine Pauschalaussagen über das Management in verschiedenen Nationen werden im Folgenden beispielhaft hinterfragt und im Ergebnis außer Kraft gesetzt. Dies eröffnet das Blickfeld für differenziertere Ansätze zur Erforschung von Kultur im Management. Der Beitrag streift auch den transkulturellen Ansatz der neueren und neuesten Kulturwissenschaften und richtet sich abschließend auf die Kollektivtheorie.
2. H ofstedes nationalistischer K ulturbegriff Das Anliegen, einer nationalen Gemeinschaft eine Kultur zuzuschreiben, hat eine lange Tradition: »Humans have been interested in how culture influences ›naïve psychology‹ (beliefs, customs, ways of life) from the time when they had the leisure to do so, and they have been recording their impressions since Herodotus.« (Triandis 1980: IX) Der Kulturtheoretiker Klaus P. Hansen belegt, wie fast jede geistesgeschichtliche Epoche seit der Antike Versuche hervorbringt, Gleichartigkeiten im Verhalten von Völkern zu erklären. Solche Erklärungsansätze umfassen die Vererbungsthese, die Klima- und Geografiethese, die Geschichts- und Institutionenthese, die These der Volksmetaphysik, die These vom Nationalcharakter, die rassistische These und die Mentalitätsthese (vgl. Hansen 2009: 82). In ihrer Schrift Das Interkulturelle Paradigma verfolgt die Kulturwissenschaftlerin Helene Haas die Ursprünge der Disziplin der interkulturellen Kommunikation bis zu den Anfängen der Ethnologie in die 1920er-Jahre zurück (Haas 2009). Hierbei deckt sie auf, dass die verschiedenen kulturtheoretischen Ansätze auf einheitlichen Prämissen basieren: Ethnische Gemeinschaften wie Stämme, Völker und Nationen werden verstanden als voneinander abgrenzbare, in sich homogene, kohärente und im Zeitverlauf statische kulturelle Einheiten, die das Denken und Handeln ihrer Mitglieder zwangsläufig und gleichförmig prägen. Diese Prämissen haben sich in Kreisen der tradierten (und traditionellen) Kulturwissenschaft bis heute vielerorts gehalten: Unter anderem Kulturstandard-Forscher sehen ihren Auftrag in der Suche nach den »einer Nation gemeinsamen Elemente[n]« (SchrollMachl 2007a: 27). Auf Basis der Analyse sogenannter critical incidents (vgl. Loch/ Seidel 2003: 314) schreiben sie beispielsweise 80 Millionen Deutschen eine systematische Aufgabenerledigung und eine starke Regel- und Stabilitätsorientierung zu (vgl. Schroll-Machl 2007: 73). Einer der prominentesten Vertreter des nationalistischen Kulturbegriffs ist der Sozialpsychologe Geert Hofstede. »[He] is the most explicit […] when he defines culture as national culture.« (Nakata 2009a: 250) Hofstede versteht Kultur als »collective programming of the mind which distinguishes members of one group […] from
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another« (Hofstede u.a. 2010: 336): Jedem Menschen sei je nach Nationalität ein inneres Muster an Wertvorstellungen »einprogrammiert«. Hofstede räumt zwar ein, dass der Kulturbegriff grundsätzlich auf jede menschliche Gemeinschaft anwendbar wäre (vgl. Hofstede 2009: 10), bleibt jedoch dem traditionellen Verständnis, Kultur einzig auf nationaler Ebene zu verorten, aus pragmatischen Gründen treu: »True (that nations are not the best units for studying culture), but they are usually the only kind of unity available for comparison and better than nothing.« (Hofstede 2002: 2) Hofstede gewann seine Erkenntnisse im Zuge einer internationalen Umfrage zum Thema Arbeitswerte und -einstellungen, die der Konzern IBM in den Jahren 1967 bis 1973 unter seinen Mitarbeitern durchführte. Zwei Befragungsrunden generierten mehr als 160.000 Fragebögen in 20 Sprachen aus 72 Ländern (vgl. Hofstede 2009: 41). Aus dieser Datenmenge leitete er anhand explorativer Faktorenanalysen internationale Vergleichsmaßstäbe in Form von Kulturdimensionen ab. Das Konzept der Kulturdimension ist auf den Anthropologen Edward T. Hall zurückzuführen (vgl. Schmitz 2015: 22) und bezieht sich auf universale Problemlagen, zu denen sich eine jede menschliche Gemeinschaft positioniert (vgl. Hofstede 2009: 28f.). Hofstede gibt an, seine Kulturdimensionen an die Standard Analytic Issues der Soziologen und Psychologen Axel Inkeles und Daniel J. Levinson anzulehnen (vgl. Hofstede 2007: 388f.). Ob es sich hierbei um anthropologisch anerkannte Universalien handelt, sei als fraglich dahingestellt (vgl. Schmitz 2015: 49). Die Problembereiche, auf die sich Hofstedes Dimensionen berufen, sind menschliche Ungleichheit, die Integration von Individuen in Gruppen, die Rollenverteilung der Geschlechter und die Ungewissheit der Zukunft (vgl. Hofstede 2009: 29). Der Umgang mit diesen allgegenwärtigen Problembereichen sei nationalspezifisch determiniert und bewege sich zwischen zwei entgegengesetzten extremen Ausprägungsmöglichkeiten.2 Hofstede identifizierte zunächst vier Kulturdimensionen: Power Distance (Machtdistanz), Individualism/Collectivism (Individualismus/Kollektivismus), Masculinity/Femininity (Maskulinität/Femininität) und Uncertainty Avoidance (Unsicherheitsvermeidung); später kamen zwei weitere hinzu: Long Term Orientation (Lang- und Kurzzeitorientierung) und Indulgence (Genuss) (vgl. Hofstede 2011: 8). Um die nationalspezifische Dimensionsausprägung zu ermitteln, errechnete Hofstede für jede Nation – manchmal auch Region, hier zeigt er sich nicht konsequent (vgl. Hofstede 2009: 52)3 – einen numerischen Wert, anhand dessen sich die Nationen in eine Rangfolge bringen lassen. Diese Vorgehensweise lässt sich mit einem Beispiel veranschaulichen. Die Dimension Uncertainty Avoidance soll der universalen Herausforderung Rechnung tragen, dass der Mensch mit der Ungewissheit der Zukunft leben muss (vgl. Hofstede 2009: 149). In ihrem Umgang mit der Ungewissheit lässt sich eine jede Nation zwischen den beiden Polen der extrem hohen und extrem niedrigen Unsicherheitsvermeidung verorten. Die 11 Millionen Griechen, so postuliert Hofstede, zeigen mit einem Wert von 112 die stärkste Di2 | Eine ausführliche, hinterfragende Diskussion dieser These findet sich in Schmitz 2015: 46-64. 3 | Hofstede fasst Äthiopien, Kenia, Tansania und Sambia zu Ost-Afrika und Ghana, Nigeria und Sierra Leone zu West-Afrika zusammen und errechnet hier Dimensionsausprägungen nicht pro Nation, sondern für die Regionen.
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mensionsausprägung und die 5 Millionen Einwohner Singapurs mit einem Wert von 8 die niedrigste (vgl. Hofstede 2009: 151). Neben den internationalen Ranglisten liefert Hofstede sogenannte Typologien, durch die er die Auswirkungen von relativ hohen und niedrigen Dimensionsausprägungen auf eine breite Vielfalt an Lebensbereichen darstellt. Demnach signalisiert laut Hofstede beispielsweise ein hoher Uncertainty Avoidance-Index im Familienleben, dass Eltern sich emotional verhalten; in der Schule führt er unter anderem dazu, dass Dialekte negativ bewertet werden. In der Gesetzgebung schlägt er sich in einer (Un-)Menge an präzisen Regeln nieder, und im religiösen Bereich mitunter in aggressivem Fundamentalismus (vgl. Hofstede 2009: 169, 180). In Kulturen mit starker Unsicherheitsvermeidung herrscht häufiger der Glaube vor, dass es ›nur eine Wahrheit gibt, und wir haben sie. Alle anderen haben Unrecht‹. Der Besitz dieser Wahrheit stellt den einzigen Weg zum Heil dar und bildet das wichtigste Ziel im Leben eines Menschen. Die Tatsache, dass die andern Unrecht haben, kann dazu führen, dass man versucht sie zu bekehren, dass man sie meidet oder tötet. (Hofstede/Hofstede 2011: 261)
Mit seinem Ansatz reiht sich Hofstede in die Forschungsrichtung der Cross-Cultural Psychology ein, einer amerikanischen Subdisziplin der Psychologie, die das Ziel verfolgt, Nationalkulturen anhand internationaler Vergleichsmaßstäbe erforschbar zu machen (vgl. Triandis 1980a: 9), und dafür vorwiegend standardisierte Befragungen nutzt (vgl. Smith/Schwartz 1997: 81). Auch Hofstedes Modell besticht durch scheinbar naturwissenschaftliche Präzision. Anders als viele seiner Kollegen betont er das interkulturelle und, synonym, das internationale Konfliktpotenzial. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der internationalen Mobilität sei eine Beschäftigung mit internationalen Differenzen unabdingbar (vgl. Hofstede 1998: 209). In interkulturellen Trainings, davon ist Hofstede überzeugt, ließe sich lehren, wie Menschen verschiedener Nationen denken und handeln, und in welchen Wertesystemen sie gefangen sind (vgl. Hofstede 2002: 2).
3. D as G egenkonzep t K ollek tiv theorie Hofstede rät, sich im Kontakt mit anderen Menschen nach deren Nationalität zu richten. Doch ist es wirklich einzig die Nation, die den Menschen kulturell prägt? Seine Kritiker haben längst festgestellt, welche Probleme es mit sich bringt, nationale mit kulturellen Grenzlinien gleichzusetzen: Zum einen kann eine Nation als Konstrukt aus mehreren Kulturen, Sprachen und Ethnien gebildet werden, wie dies etwa in Indien, Belgien oder der Schweiz der Fall ist (vgl. Myers/Tan 2002: 30f.; Korman 1985: 244). Zum anderen können Nationalstaaten ihr Territorium verändern, wie es auch in Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er-Jahren geschah (vgl. McSweeney 2002: 111). Hinzu kommt, dass die Nationalität eines Individuums in modernen Einwanderungsländern nicht immer seiner Lebenskultur entspricht, wie an Migrantenkindern deutlich wird (vgl. Brannen 2009: 87): Manche haben die Nation, deren Pass sie führen, gar nie kennengelernt. Ebenso kann ein Mensch mehrere Staatsbürgerschaften besitzen und damit mehreren Nationen angehören; auch dieser Umstand lässt an der Trennschärfe zwischen nationalen Kulturen zweifeln.
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Ein Ansatz der Kulturwissenschaften, sich nationalen Grenzziehungen zu entziehen, ist der Transkulturalismus, der auch diesem Sammelband als Stichwort dient. Er fasst den Kulturbegriff dynamisch und entlastet ihn so von der Annahme statischer, abgeschotteter und homogener Einheiten. Bereits 1997 legte Wolfgang Welsch sein Konzept der Transkulturalität vor. Er sah den traditionellen Kulturbegriff durch drei Merkmale eingeengt: durch »soziale Homogenisierung, ethnische Fundierung und interkulturelle Abgrenzung« (Welsch in Hansen 2011: 278). Auch heutige kulturwissenschaftliche Theorien sehen Kulturen als offene Systeme, die fließend ineinander übergehen (vgl. Hannerz 1992: 263f.; Beck 1998: 12, 14; Beck 2008: 310; Bhabha 1990: 1). In der jüngsten Moderne hat die weltweite Globalisierung diese Vorstellung einer nach außen hin offenen Kultur noch verstärkt: Indem Menschen durch neuartige Kommunikations- und Informationswege über räumliche Distanzen hinweg vernetzt sind, erübrigen sich Grenzen in Raum und Zeit. Moderne Medien und neue Techniken der Mobilität machen möglich, »was als unvereinbar gilt: zugleich hier und dort zu leben und zu handeln« (Beck/Fellinger 1998: 57). Kulturen lösen sich von Orten und Nationen und nehmen hybride Strukturen an. In seinem Konzept der Hybride Cultures (vgl. Bhabha 1990: 4) hat der postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha gezeigt, dass vermengte Kulturen keine Summe ihrer Einheiten bilden, sondern zu einem neuartigen Gebilde werden. Dieses ist nicht geschlossen, sondern offen und hybrid. Das bedeutet auch, dass der moderne Mensch zwischen verschiedenen Kulturen wählen kann, die sich ihm bieten, um seine Selbstwahrnehmung mit der Wirklichkeit abzugleichen; seine kulturelle Identität ist dynamisch und wird zu einer »Patchwork-Identität« (Welsch 2009: 5). Liefern Transkulturalität und postkoloniale Theorie zahlreiche theoretische, epistemische und diskursive Argumente gegen den nationalistischen Kulturbegriff, richtet die empirische Kulturwissenschaft ihren Blick auf die soziale Heterogenität der Gesellschaft. »There is generally more than one culture in one country at one time.« (Widavsky 1989: 71) Die Idee von Subkulturen im Sinne kultureller Gemeinschaften innerhalb einer Nation fand sich bereits in einigen frühen Ansätzen der Kulturforschung (vgl. Inkeles 1988: 91f.; Triandis 1980a: 2), wurde jedoch nicht weiter spezifiziert. Heute schafft es die Idee von Dach- und Subkollektiven der Kollektivtheorie zum einen, Nation und Subkultur in einen differenzierten Zusammenhang zueinander zu setzen, und zum anderen, der empirischen Forschung fassbare Kulturträger anzubieten. Die Kollektivtheorie des Kulturwissenschaftlers Klaus P. Hansen wird daher im vorliegenden Beitrag favorisiert, um Wege einer Kulturforschung jenseits des nationalistischen Verständnisses aufzuzeigen. In seinem Buch Kultur, Kollektiv, Nation beschreibt Hansen als Ausgangspunkt das Kollektiv als die Gesamtheit aller denkbaren menschlichen Gruppierungen (vgl. Hansen 2009: 27). Die Anzahl solcher Gruppierungen oder Kollektive ist grundsätzlich endlos; sie entstehen, wenn Individuen, die ihnen zugerechnet werden, eine partielle Gemeinsamkeit teilen. Der Begriff des Kollektivs sei demnach jenem der (National-)Kultur überlegen, denn wenn sie modern verstanden werden, sind Kollektive vor den Schwächen des Kulturbegriffs wie Statik, Hermetik und Substanzialität gefeit. Kollektive […] besitzen eine besondere, liquide und fluktuierende, aber nicht völlig verdampfende Gegenständlichkeit. […] Durch partielle Gemeinsamkeiten werden sie konstituiert und werden empirisch an Individuen nachgewiesen,
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Lena Schmit z sodass Kollektive auf wissenschaftlich festem Boden stehen. Dennoch sind sie unendlich variabel und auf vielfältige Weise ineinander verschlungen. (Hansen 2011: 287)
Hansen unterscheidet Kollektive zweier Grade: Subkollektive und Dachkollektive. Das Subkollektiv bildet sich aus Menschen, die mindestens eine partielle Gemeinsamkeit teilen; dabei kann ein Mensch gleichzeitig in unendlich vielen Subkollektiven Mitglied sein (vgl. Hansen 2011: 20). Subkollektive sind beispielsweise Sportvereine, Berufsgruppen oder der Freundeskreis eines Museums. Sie sind theoretisch wie empirisch erforschbar und lassen sich eng beschreiben (vgl. Hansen 2009a: 7f.). Dachkollektive setzen sich aus zwei Ebenen, einer Basis und einem Überbau, zusammen. Während die Basis durch Polykollektivität geprägt ist, das heißt durch eine komplexe Anordnung heterogener Subkollektive, tendiert der Überbau zur Homogenisierung. In ihm sind Funktionen wie die Verwaltung von Sprache, einigen Umgangsformen, von Gesetzen und Institutionen, das heißt ein für das Dachkollektiv gültiges Regelgerüst, organisiert (vgl. Hansen 2009: 123-152). Ein besonderes Dachkollektiv ist die Nation: Ihm wird »eine Gegenständlichkeit der besonderen Art zugesprochen« (Hansen 2009: 112). Seine Mitglieder teilen ihre Landessprache, ihre Standards nonverbaler Kommunikation – symbolische Gesten, Benimmregeln, Rituale und andere Regelungen zwischenmenschlicher Aktion – und ihre Institutionen und Gesetze (vgl. Hansen 2009: 116f.). Zwischen der Basis und dem Überbau des Dachkollektivs »Nation« sind einige besondere Phänomene anzusiedeln, wie die Geschichte einer Nation, ihre nationalen Mythen oder die nationalspezifische Differenz, die mittels einer besonderen nationalen Themenagenda konstituiert wird; als Beispiele für Deutschland nennt Hansen das Bildungssystem und die Atomkraft (vgl. Hansen 2009: 174). Die besonderen Phänomene des Dachkollektivs »Nation« sind weder vollständig homo- noch heterogen. So kann etwa die Geschichte einer Nation durch objektive Fakten homogenisiert werden, doch können diese Fakten für verschiedene Subkollektive der Nation von unterschiedlicher Relevanz sein. Im folgenden Abschnitt werden Hofstedes Überlegungen und die Anwendung der Kollektivtheorie einander gegenübergestellt, um zu verdeutlichen, inwiefern die Kollektivtheorie Antworten auf ein interkulturelles Management geben kann.
4. H ofstedes R ückschlüsse auf internationales M anagement Hofstede widmet dem Thema Cultures in Organizations in seinem Standardwerk Culture’s Consequences. Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations ein eigenes Kapitel. Hier stellt er seine Erkenntnisse in zweierlei Hinsicht vor. Zum einen beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten, ein eigenes Kulturdimensionen-Modell nicht für nationale Kulturen, sondern für Organisationskulturen zu entwickeln. Unter Organizational Cultures versteht er analog zur National Culture eine kollektive Programmierung des Geistes, anhand derer sich die Mitglieder einer Organisation von jenen einer anderen unterscheiden (vgl. Hofstede 2009: 373). Inwiefern er hiermit die Existenz und Prägekraft eines Subkollektivs anerkennt und ob das den Stellenwert entkräftet, den er der nationalen Kultur zuschreibt, sei dahingestellt. Zum anderen führt Hofstede aus, welche Gestaltungs-
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kraft die nationale Kultur auf die Arbeit in Organisationen hat. »Organizations are bound by national cultures.« (Hofstede 2009: 373) Bei der Lösungsfindung für Probleme des Managements greife kein universaler betriebswissenschaftlich begründeter Ansatz, denn eine jede Organisation sei nationalkulturell determiniert (vgl. Hofstede 2009: 375). »Today we are all conditioned. […] Only to a limited extent can we, in our thinking, step out of the boundaries imposed by our cultural conditioning.« (Hofstede 1980: 50) Dementsprechend verlangt interkulturelles Management nach Hofstede, dass sich Manager und Teammitglieder auf die nationale Kultur des Partners vorbereiten. In Trainings könne man lernen, von welchen Wertesystemen die im Unternehmen agierenden Manager geprägt seien, und wie ihr Verhalten in Organisation und Management zu erklären sei (vgl. Hofstede 2002: 2). Hofstede gibt seinem Leser Merksätze an die Hand; er liefert Typologien dafür, wie sich Dimensionsausprägungen auf den Managementbereich in verschiedenen Nationen auswirken. Seine Pauschalisierungen werden im Folgenden auszugsweise auf ihre Plausibilität geprüft. a. Zunächst gibt die Dimension Masculinity/Femininity an, ob eher vermeintlich männliche oder weibliche Charakterzüge in einer Gesellschaft vorherrschen (vgl. Hofstede 2009: 279). Es fallen parolenartige Simplifizierungen auf: »In Masculine countries, the leader is a masculine hero.« (Hofstede 2009: 388) Das soll heißen: In Nationen mit einem hohen Index in Richtung des Maskulinitätspols werden Führungspersonen als leistungsstarke und gewinnorientierte Helden gefeiert. Eine weitere Erkenntnis besagt, dass sich in maskulinen Nationen wie den USA oder Deutschland das Rechnungswesen (Accounting) eher nach finanziellen Zielen richte (vgl. Hofstede 2009: 383). Diese auf den ersten Blick triviale Aussage wirft Fragen auf. Richten sich die Ziele des Rechnungswesens nicht eher nach der Art der Institution? Verfolgt nicht ein privatwirtschaftliches Unternehmen im Gegensatz zu einer gemeinnützigen Organisation immer das Ziel einer finanziellen Gewinnmaximierung – egal, in welcher Nation sie verortet ist? b. Die Dimension Power Distance bezieht sich auf die Akzeptanz ungleicher Machtverhältnisse: Je höher der Index, desto stärker die Akzeptanz (vgl. Hofstede 2009: 79). Auf das Management bezogen postuliert Hofstede, dass ein niedriger Index in ein großes Vertrauen der Führungspersonen in seine Angestellten mündet (vgl. Hofstede 2009: 392). Es ist jedoch fraglich, ob Vertrauensverhältnisse nicht noch von weiteren Faktoren jenseits der nationalen Ebene bestimmt werden. Hier könnten die spezifischen Beziehungen zwischen den einzelnen Personen sowie die Konstitution des Unternehmens, das heißt seine Größe, Historie und wirtschaftliche Lage, zum Tragen kommen. Beispielsweise mag in einem wohlsituierten Familienunternehmen besonderer Wert auf flache Hierarchien gelegt werden. Weiterhin begründet laut Hofstede ein hoher Power Distance-Index, dass sich Manager auf formale Regeln im Unternehmen verlassen (vgl. Hofstede 2009: 382). Es ist anzuzweifeln, ob sie das in Ländern mit relativ niedrigem Index nicht auch tun. Und kommt es nicht bei der Regeltreue im Beruf auch auf die Branche, die Fachdisziplin und die Aufgabe an? So dürften sich beispielsweise Juristen in allen Ländern besonders gesetzeskonform zeigen. Und in der öffentlichen Verwaltung lassen die internen Regeln den Managern wenig Spielraum.
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c. Ein hoher Uncertainty Avoidance-Index manifestiert sich laut Hofstede unter anderem in einer besonders detailreichen Planung und in einem starken Bedarf an kurzfristigem Feedback (vgl. Hofstede 2009: 382). Das leuchtet zunächst ein, lassen sich Unsicherheiten doch durch Planung und Feedback vermeiden. Dennoch bleibt unklar, warum sich die Organisationen einer ganzen Nation konform verhalten sollten. Hängt die Planungsgestaltung nicht von Inhalt und Ziel einer Aufgabe ab? In der Notaufnahme eines Krankenhauses oder bei der Vorbereitung einer Vorstandssitzung drängt es sich eher auf, Unsicherheiten zu vermeiden als in einem Kreativworkshop eines Start-up-Unternehmens – egal, in welcher Nation. Ein hoher Uncertainty Avoidance-Index zeigt sich zudem in der Tendenz einer langen Betriebszugehörigkeit der Angestellten (vgl. Hofstede 2009: 169). Mit dieser Annahme lässt Hofstede die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu immer mehr befristeten und atypischen Beschäftigungsverhältnissen außer Acht. Dieser Wandel findet transnational statt. d. Die Dimension Individualism/Collectivism betrifft die menschliche Notwendigkeit, sich in Gruppen zu integrieren. In kollektivistischen Nationen ist die Einbindung in Gemeinschaften stärker und in individualistischen schwächer (vgl. Hofstede 2009: 209). Für den Organisationskontext soll das unter anderem heißen, dass Arbeitgeber und -nehmer in individualistischen Nationen eher berechnend und im Eigeninteresse handeln. In kollektivistischen Kulturen hingegen ist die Verbindung zwischen Arbeitnehmer und -geber traditionsgemäßer und moralischer Art (vgl. Hofstede 2009: 384). Jedoch, so hier der Einwand, ist denkbar, dass die Beziehung von Arbeitgeber und -nehmer durch Individuen, Unternehmen und Berufe geprägt ist. Beispielsweise könnten Arbeiternehmer, die einem sozialen Beruf nachgehen und hier menschliche Sinnstiftung empfinden, eine Art moralische Verpflichtung wahrnehmen. Und was ist mit der postmaterialistisch geprägten »Generation Y«, die eine traditionsgemäße Verbindung zum Arbeitgeber entkräftet, indem sie individuelle Selbstverwirklichung hoch bewertet? Oder mit dem Arbeitermilieu, dem – auch unabhängig von nationalen Grenzen – eine besondere Arbeitsmoral nachgesagt wird? Eine weitere These Hofstedes ist, dass in individualistischen Nationen das Rechnungswesen ernster genommen wird (vgl. Hofstede 2009: 383). Wie lässt sich diese Aussage auf international tätige Konzerne übertragen? Nehmen sie das Rechnungswesen an manchen Standorten etwa ernster als an anderen? Oder wird die Wichtigkeit, die ihr das Heimatland des Headquarters zuschreibt, in die Räume ausländischer Standorte importiert? Hofstedes Merksätze irritieren. Zudem wird deutlich, dass er die kulturelle Einheit von Nationen im internationalen Managementkontext überschätzt. Nun, da sein Kulturbegriff fragwürdig erscheint, gerät auch sein methodisches Vorgehen ins Wanken. Er hatte Daten im IBM-Konzern erhoben und die Ergebnisse auf die Grundgesamtheit ganzer Nationen verallgemeinert. Unter der Annahme, dass eine Nation eine kulturell heterogene Basis hat, begeht er eine unzulässige Verallgemeinerung.4
4 | Eine ausführliche Diskussion findet sich in Schmitz 2015: 34-37.
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5. Ü berlegungen zu einem interkollek tiven M anagement Wie kann ein internationales Management ohne nationale Stereotypen und weitere unzulässige Verallgemeinerungen aussehen? Um diese Frage zu beantworten, wird die Kollektivtheorie auf das Management in international agierenden Organisationen angewandt. Die Betrachtung der Einflüsse von Subkollektiven und ihrer Dynamik soll ebenso wie die Funktion von Dachkollektiven ermöglichen, manageriales Handeln nicht nur (inter-)national, sondern auch interkulturell differenzierter zu denken. Hierfür wird zunächst die Rolle der Subkollektive avisiert. Die Liste denkbarer Subkollektive, die innerhalb einer Nation existieren und nationenübergreifend wirken, ist theoretisch unendlich. So lässt sich nur mutmaßen, welche Subkollektive im Organisationskontext latent vorhanden sind. Konkret ließe sich das im Einzelfall überprüfen, in dem Manager, Teammitglieder und Unternehmen bekannt sind. Vielleicht ist ein engagierter Umweltschützer im Büro, der auf einen schonenden Umgang mit ökologischen Ressourcen besonderen Wert legt. Vielleicht teilen Manager und ein Teammitglied die Leidenschaft für Basketball, ein Merkmal, das beide verbindet. Anzunehmen ist, dass zumindest in größeren Organisationen verschiedene Geschlechter-, Alters-, Bildungs- und Berufskollektive vertreten sind. Es stellt sich die Frage, welche Schlüsse ein Manager, der um diese verschiedenen Subkollektive und deren Dynamik in seinem Team weiß, daraus für seinen Managementprozess ziehen kann, und wie er in einem internationalen Team die Bedeutung und Eigenschaften der Subkollektive in der anderen Nation begreift. Während zahlreiche sogenannte »interkulturelle« Trainings nach Hofstede die nationalen Kulturunterschiede klar (wenn auch zweifelhaft) benennen, gibt es für den Umgang mit Subkollektiven keine solchen Schulungen. Dafür aber liegen aus verschiedenen Disziplinen Forschungsergebnisse vor, die sich Manager zunutze machen könnten. So ist der Erforschung von Alterskollektiven in den Sozialwissenschaften durch den Diskurs über den demografischen Wandel viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Untersuchungen über altersabhängige Lernerfahrungen, Kompetenzen und Präferenzen können dem Manager helfen, Schlüsse über das Subkollektiv Generation zu ziehen und sein eigenes Wissensmanagement bei der Führung und Entwicklung eines Teams adäquater zu gestalten, etwa durch spezifische Fortbildungen der verschiedenen vorhandenen Altersgruppen. Eine Übertragung von Forschungsergebnissen der Soziologie auf Managementprozesse scheint hier – im Gegensatz zu Hofstedes Verkürzungen – zulässig, weil sie mit der konstitutiven Gemeinsamkeit des Kollektivs, dem Alter, verknüpft sind. Relevant für Teams im Kontext der Organisationskultur sind auch die Subkollektive in den Bereichen Bildung und Beruf: Selbst wenn die horizontale Milieubildung der modernen Marktforschung das vertikale Schichtenmodell der Gesellschaft nach Bildung, Beruf und Einkommen zunehmend ablöst, zeigt sich am Arbeitsplatz, dass Bildung und Beruf weiterhin zu Unterschieden in der Wahrnehmung und zur Entstehung von Subkollektiven führen (vgl. Hradil 2004: 278). Menschen ähnlicher Ausbildung oder gleicher Berufsgruppen finden sich zusammen und sind für den Managementprozess von Bedeutung. Dies gilt auch für interkulturelle Begegnungen, in denen der Manager nicht nur gute Kenntnisse der
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Dynamik der Subkollektive haben sollte, sondern auch über die vertretenen Dachkollektive. Ein weiteres, für Berufskollektive wichtiges Merkmal ist jenes der (post-)materialistischen Werteorientierung. Der Soziologe Ronald Inglehart begründet den Zusammenhang zwischen (post-)materieller Werthaltung und Berufskollektiven anhand seiner Mangelhypothese: Menschen begehren das am meisten, was sie als knapp erleben. Leben sie in finanziellem Wohlstand und in Sicherheit ihres Arbeitsplatzes, verlieren materielle Motivatoren an Reiz; der Fokus wird dann auf postmaterielle Güter wie Zeit und Selbstverwirklichung gelegt (vgl. Inglehart 1989: 92). Diesen Zusammenhang sollte sich der Manager sowohl in seiner eigenen Organisation als auch im Geschäftskontakt mit Organisationen anderer Länder vor Augen führen: Auf dem globalen Parkett herrschen in den entsprechenden Berufskollektiven möglicherweise größere Überschneidungen als gedacht; zugleich kann die homogenisierende Funktion des Überbaus eines Dachkollektivs relativ stark sein, etwa in Form der Betonung eines bestimmten Unternehmenstypus und seiner Struktur. Damit ist die Rolle der Dachkollektive für das interkulturell differenzierte Management angesprochen. Das Dachkollektiv »Nation« hat in Form des Überbaus eine homogenisierende Funktion. Es stellt mittels gemeinsamer Sprache und Gestik die Kommunikation innerhalb nationaler Grenzen sicher und damit jene Grundstruktur, die eine Verständigung der Subkollektive gewährleistet (vgl. Hansen 2009: 123-129). Für ein interkulturelles Management heißt das, dass die Beherrschung einer fremden Sprache den direktesten Zugang zum Dachkollektiv des Partners darstellt – mehr als ein Erinnern der hofstedeschen Typologien. Dasselbe gilt für den Grundkonsens an Umgangsformen (vgl. Hansen 2009: 133ff.) und für die Gesetze und Institutionen des fremden Dachkollektivs »Nation« (vgl. Hansen 2009: 123-140): Wer sich als Manager mit Italien auseinandersetzt, kann sich durch die Kenntnis der dortigen Gesetze und ihrer Relevanz für verschiedene Organisationen ein besseres Bild machen als durch die Analyse des Machtindexes. Die Differenzierung in Sub- und Dachkollektive eröffnet den Raum für eine Art kulturelles Gedächtnis, bestehend aus der Geschichte, aus Mythen und nationalen Dauerthemen (vgl. Hansen 2009: 153-172). Diese Elemente sind von scheinbar objektiven Interpretationen geprägt und tendieren zu nationaler Homogenität, werden von den Subkollektiven jedoch unterschiedlich wahrgenommen und bewertet (vgl. Hansen 2009: 153-174). Zwei Beispiele mögen ihre Relevanz im Organisationskontext illustrieren: Wenn ein Manager einen Kollegen aus Deutschland auf den Fall der Mauer im Jahr 1989 anspricht, weiß er nicht, ob er vielleicht einen DDRMelancholiker vor sich hat – die Reaktion auf diesen Teil der deutschen Geschichte kann also anders ausfallen als erwartet. Gleiches gilt für die Einstellung gegenüber nationalen Mythen: Wenn etwa in einer Kantine in Buenos Aires das Gespräch auf die großen politischen Freiheitskämpfer gelenkt wird, können die Reaktionen unterschiedlich ausfallen. Bezogen auf das interkollektive Management bedeutet diese Erkenntnis, dass eine subkollektive Differenzierung selbst bei scheinbar homogenisierenden Themen wie Geschichte, Mythen oder aktuellen politischen Themen sowie der öffentlichen Meinung notwendig ist.
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6. A usblick : I nternationales M anagement in der P r a xis Ein dergestalt aufgefasstes Management im internationalen Kontext jenseits von Hofstede steckt in der Vermittlungspraxis noch in den Kinderschuhen. Das zeigt auch eine Recherche zu aktuellen Studienangeboten: Der Begriff Interkulturalität hat zwar Konjunktur, doch den dahinterstehenden Konzepten scheint es an Differenzierung zu mangeln. Es besteht ein breites Angebot an Lehrgängen mit dem Titel Transkulturelles Management, deren Curricula jedoch einen Rückfall in traditionelle Muster vermuten lassen, indem sie schlicht für den Umgang mit internationalen Differenzen auszubilden versuchen. So bleibt es bei der in diesem Beitrag geäußerten Kritik: Die Fähigkeit zu Perspektivwechsel und Empathie sowie ein Interesse für fremde Gewohnheiten, Denkweisen, Werte und Praktiken – sogenannte interkulturelle Kompetenzen – scheint an sich konstruktiv und ihre Vermittlung erstrebenswert. Allerdings sollte sie nicht weiterhin auf vermeintlich nationale Muster abzielen, die auf unzulässigen Pauschalaussagen basieren. Die obige beispielhafte Überprüfung der Plausibilität von Hofstedes Aussagen hat das gezeigt. Die Frage, warum Hofstedes nationalkulturelles Modell nach wie vor eine so beachtliche Verbreitung findet, auch in kulturmanagerialen Curricula, stellt sich natürlich (vgl. Schmitz 2015: 100-105). Zweifelsohne besticht seine Studie durch ihre empirische Größenordnung und durch die einfachen Forschungsinstrumente in Form von vorgefertigten Fragebögen und Rechnungsformeln. Damit ist und bleibt es unter pragmatischen Gesichtspunkten einfach, Hofstede zu replizieren. Sein Modell wird zunehmend im betriebswirtschaftlichen Umfeld, jedoch kaum noch in der Anthropologie oder der Soziologie angewendet (vgl. Baskerville 2003: 2). Ein interkollektives (Kultur-)Management, das sich von unzulässigen Verallgemeinerungen und der Gleichsetzung von nationalen und kulturellen Grenzlinien löst, müsste sich verstärkt der Erkenntnisse dieser Kulturwissenschaften bedienen, die Instrumente dafür bereitstellen. Ein solches interkollektives (Kultur-)Management würde den nationalen Kulturbegriff nicht verbannen – es würde ihn nur nicht nationalistisch auslegen.
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Internationalisierung des Kulturmanagements Zwischen effizientem Handeln auf globalisierten Märkten und Aushandlungsprozessen neuer transkultureller Identitäten Birgit Mandel
1. V er änderung des K ulturmanagements durch I nternationalisierung Neue Herausforderungen des internationalen und interkulturellen Kulturlebens verändern zunehmend auch das Verständnis von Kulturmanagement in Deutschland – ob als praktische Tätigkeit oder als akademisches Fach. Ausgehend von dieser Beobachtung und auf der Basis einer empirischen Studie versucht der vorliegende Beitrag zu eruieren, ob und wodurch sich Herangehensweisen, Aufgaben und Rollenmodelle von Kulturmanagement im internationalen Vergleich unterscheiden, und wodurch mögliche Unterschiede geprägt sind. Er stellt die These auf, dass sich durch die Einflüsse einer zunehmenden Internationalisierung des Kulturlebens, ausgelöst durch Migration, Tourismus und weltweite digitale Kommunikation, das Verständnis von Kulturmanagement im deutschsprachigen Raum und vermutlich auch in anderen Ländern erweitert hat. In dem Beitrag werden erste Antworten auf folgende Fragen skizziert: Gibt es kulturraumspezifische Konzepte von Kulturmanagement, oder agiert Kulturmanagement nach weltweit ähnlichen, westlich geprägten Strategien und Methoden? Wie verändern sich kulturpolitische und kulturmanageriale Strukturen in einzelnen Ländern im Zuge der Internationalisierung des Kultursektors? Was sind zentrale Aufgaben und Herausforderungen für ein internationales und interkulturelles Kulturmanagement? Wie lassen sich die zentralen Begrifflichkeiten des Diskurses über Internationalisierung und Interkulturalität auf das Feld des Kulturmanagements übertragen? Diesen Fragen folgend, zeigt der Beitrag die Entwicklung des Kulturmanagements in Deutschland und in Europa auf, nähert sich dann den Begriffen der Trans- und Interkulturalität im Feld des internationalen Kulturmanagements und skizziert schließlich die Ergebnisse einer jüngsten empirischen Studie zum Kulturmanagement im internationalen Vergleich. Am Ende werden erste Schlüsse für ein internationales und transkulturelles Kulturmanagement gezogen.
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2. D ie E nt wicklung des K ulturmanagements in E uropa und in D eutschl and Kulturmanagement als professionelle Tätigkeit und als akademisches Fach mit einem auf systematischer Praxisanalyse und Forschung basierenden Wissensbestand gibt es in den meisten europäischen Ländern erst seit Anfang der 1990er-Jahre (u.a. Suteu 2003; Bendixen 1998; Mandel 2009). Im ersten Kulturmanagement-Lexikon für Deutschland definierten Werner Heinrichs und Armin Klein Kulturmanagement als »Steuerungsprozesse in arbeitsteiligen Kulturbetrieben: Kulturmanagement sichert die Rahmenbedingungen für eine Produktion von Kunst und Kultur, ohne an der Produktion selbst unmittelbar beteiligt zu sein« (Heinrichs/ Klein 1996: 147). Das Verständnis von Kulturmanagement umfasste also zunächst vorwiegend manageriale Prozesse in Kulturinstitutionen. Dementsprechend waren die Strategien und Methoden vor allem der Betriebswirtschaftslehre entlehnt: Die Lehrbücher des Kulturmanagements konzentrierten sich auf Fach- und Methodenkompetenz in Bereichen wie Budgetierung, Fundraising, Sponsoring oder Marketing. In Deutschland wurden die Aufgaben des Kulturmanagements zudem aus der Praxis eines stark institutionalisierten, hochsubventionierten Kulturbetriebs heraus definiert, den es zu erhalten und zugleich zu reformieren galt (u.a. Klein 2007). Die zentralen Herausforderungen bestanden demnach darin, die öffentlichen Kultureinrichtungen besser aufzustellen, sie effizienter und zielorientierter zu gestalten, klarer zu positionieren, dabei auch das potenzielle Publikum stärker zu berücksichtigen und neue private Förderer zu gewinnen. In den meisten anderen Ländern der Welt, vor allem außerhalb Europas, herrschte für das Kulturmanagement von Beginn an eine andere Ausgangslage: Viele Länder verfügten kaum über eine institutionalisierte Infrastruktur. Bis heute werden kulturelle Angebote oft ausschließlich marktwirtschaftlich generiert oder von freien Gruppen und Kulturinitiativen nebenberuflich gestaltet. In nichtdemokratischen Ländern agieren diese Kulturinitiativen außerdem häufig als politische Gegenbewegungen im Untergrund: In vielen ländlichen Regionen ärmerer Länder wird das Kulturleben überwiegend ehrenamtlich in Nachbarschaften und Dörfern als Teil der Alltagskultur organisiert. Aus diesem Grund gab und gibt es in vielen Ländern mit nur schwach professionalisiertem, strukturiertem und institutionalisiertem Kultursektor vermutlich keinen dezidierten Begriff für kulturmanageriale Aufgaben, ebenso wenig wie Kulturmanagement als eigenständige Profession existierte und existiert. Auch eine international gültige Definition von Kulturmanagement dürfte auf dieser Basis kaum möglich sein. Bereits die Unterscheidung der Begriffe arts management beziehungsweise arts administration (so die im Pionierland des Kulturmanagements, den USA, übliche Bezeichnung) und cultural management zeigt, dass von unterschiedlichen Konzepten ausgegangen wird. Bezeichnet der erste Begriff das Management oder die administrative politiknahe Steuerung von Kunst, des Kunstfeldes oder seiner Institutionen, bezieht sich der zweite Begriff auf Kultur in einem sehr viel weiteren Sinne; Kulturmanagement kann dieser Definition nach seinen Einflussbereich potenziell auch über den institutionellen Kultursektor hinaus in andere gesellschaftliche Bereiche ausdehnen. In der jüngsten Gegenwart manifestiert sich ein weiteres Verständnis von Kulturmanagement auch im deutschsprachigen Diskurs. Dies wird unter anderem bei
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den Tagungen und in den Publikationen des Fachverbands Kulturmanagement als dem Netzwerk der wissenschaftlich lehrenden und forschenden Kulturmanager in Deutschland deutlich. Kulturmanagement wird hier nicht nur als effizientes und effektives Management von (öffentlichen) Kulturinstitutionen begriffen, sondern im Sinne des Begriffs cultural management als Gestaltung kultureller Kontexte (Seger 2008; Mandel 2013). Zu den Aufgaben eines so verstandenen Kulturmanagements gehören neben der Kreativwirtschaft und dem Cultural Entrepreneurship auch Formen kultureller Stadtentwicklung, Projektarbeit im Kontext von Kulturund Sozialarbeit und manageriale Tätigkeiten im Bereich der (inter-)kulturellen Bildung. Sie implizieren, dass Kulturmanagement sich nicht nur auf das Management von Rahmenbedingungen begrenzt, wie in der Anfangsphase des Faches stets betont wurde (vgl. Heinrichs/Klein 1996: 147), sondern als gestaltende und kuratorische Tätigkeit aufgefasst wird. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den aktuellen Konzeptionen der akademischen Kulturmanagementstudiengänge wider: Sie sind sehr viel weniger an der Betriebswirtschaftslehre und deren Methoden orientiert als früher, sondern umfassen vielfältige theoretische Reflexionen kulturpolitischer, kultursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen, künstlerischer Dimensionen des Gestaltens, des Kuratierens kultureller Kontexte sowie der Auseinandersetzung mit internationalen und interkulturellen Dimensionen des Kulturmanagements (Mandel 2015). Die Herausforderungen in Kulturleben und Gesellschaft und damit auch im Kulturmanagement haben sich inzwischen erheblich verändert. Es müssen neue Handlungsoptionen entwickelt werden, um das öffentliche Kulturleben diverser zu gestalten und Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft nicht nur Teilhabe zu ermöglichen, sondern auch Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. Es geht somit nicht mehr in erster Linie um Wachstum und den Ausbau des Bestehenden, sondern um die Veränderung, die Neujustierung und die damit verbundene, auch streitbare Moderation von unterschiedlichen Ansprüchen und Interessen.
3. I nternationales , interkulturelles und tr anskulturelles K ulturmanagement Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Begriffe der Inter- respektive der Transkulturalität und ihre Konzepte auf das Feld des internationalen Kulturmanagements übertragen lassen. Es sind im Wesentlichen drei Tätigkeitsbereiche eines internationalen Kulturmanagements zu identifizieren, mit denen jeweils unterschiedliche Ansätze verbunden sind (Mandel 2016): a. Kulturmanagement in globalen kultur- und kreativwirtschaftlichen Bereichen wie Verlags-, Film- oder Musikindustrie, dem internationalen Festivalmanagement oder dem Kulturtourismus. Es ist zu vermuten, dass in diesen Bereichen nach einem ähnlichen Verständnis von Kulturmanagement und mit einem an westlichen Standards orientierten Methodenrepertoire gearbeitet wird. Die Akteure sind sowohl in international agierenden Kulturunternehmen mit Firmensitzen in verschiedenen Ländern als auch bei großen international bekannten Festivalveran-
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staltern tätig, die mit den gleichen Stakeholdern arbeiten. Sie richten sich an eine bestimmte, sozial ähnliche Gruppe innerhalb des Kulturpublikums. b. Kulturmanagement als Teil von Cultural Diplomacy und Kulturentwicklungsplanung zur Unterstützung von Ländern in Umbruchphasen: In diesem Kontext sind Kulturmanager sowohl Projektmanager als auch häufig Lehrende, die durch das Goethe-Institut oder NGOs in Länder gesandt werden, um über kulturelle Projekte Dialoge zwischen Ländern zu stiften oder Länder mit instabilen politischen und ökonomischen Verhältnissen mittels Kulturprogrammen zu unterstützen. Hier nimmt das Kulturmanagement verstärkt eine interkulturelle Perspektive ein, um Unterschiede zu verstehen und nicht Gefahr zu laufen, missionarisch oder patriarchalisch die kulturellen Vorstellungen der Geberländer zu implementieren. c. Kulturmanagement, das ein durch Migration verändertes und diversifiziertes Kulturleben im eigenen Land moderiert und organisiert: Durch eine sich stark wandelnde Bevölkerung mit Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern werden Veränderungen im kulturellen Leben und im deutschen Kulturbetriebssystem erforderlich. Für ein Kulturmanagement, das diese Veränderungen steuern möchte, sind sowohl ein interkultureller Ansatz, der Unterschiede kultureller Interessen und Vorstellungen bewusst reflektiert, als auch eine transkulturelle Perspektive, die Kultur als einen permanenten Entwicklungsprozess begreift, Voraussetzung, damit auf der Basis der gewachsenen Strukturen des bestehenden Kulturbetriebs neue Sichtweisen und kulturelle Bedürfnisse produktiv genutzt und anverwandelt werden können. Fragt man nach den konkreten Auswirkungen dieser Internationalisierungsfacetten auf das Kulturleben und Kulturverständnis einer Gesellschaft, geben drei verschiedene Konzepte unterschiedliche Antworten: a. Das erste Konzept der »kulturellen Konvergenz« vermutet, dass sich Kulturen im Zuge der Globalisierung zunehmend ähnlicher werden, vor allem durch die ökonomisch bedingte Vorherrschaft westlicher und US-amerikanischer Kulturen (vgl. Laycock 2008: 33). Diese Annahme wird durch die Erscheinungsformen des globalen Kulturmanagements unterstützt, das sich bei kulturwirtschaftlichen Global Playern wie Disney, Hollywood, Bertelsmann zeigt. b. Das Konzept des »kulturellen Differenzialismus« geht davon aus, dass sich die Unterschiede zwischen den Kulturen durch Internationalisierung nicht auflösen, sondern der Drang nach Abgrenzung und Profilierung der eigenen Kultur gegenüber anderen Einflüssen vermutlich größer wird (Laycock 2008). Dies zeigt sich etwa in der kulturellen Re-Nationalisierung bestimmter Staaten und in der offensiven Besinnung auf traditionelle kulturelle Ausdrucksweisen. International agierendes Kulturmanagement hat hier die Funktion, nationale und regionale Unterschiede und Besonderheiten herauszustellen, auch durch politische Vorgaben. c. Dem Konzept der »kulturellen Hybridisierung« liegt die Vorstellung zugrunde, dass es Kulturen gar nicht in Reinform geben kann, da sich beim Zusammentreffen verschiedener kultureller Einflüsse permanent neue hybride Kulturen entwickeln
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(Laycock 2008; Bhabha 2012). Das Kulturmanagement würde hier die Etablierung neuer hybrider kultureller Identitäten unterstützen und gegen Festschreibungen von kultureller Identität arbeiten, kurz: es würde transkulturell denken. Während der Begriff des globalen Kulturmanagements die Phänomene einer universellen Herangehensweise im Kulturmanagement erfasst, die durch die Vormachtstellung des kapitalistisch orientierten Wirtschaftens und einer bestimmten, tendenziell westlich geprägten Kulturvorstellung bedingt sind, beinhaltet der Begriff des internationalen Kulturmanagements noch die nationale Dimension und betont das Zusammenarbeiten von Kulturschaffenden aus verschiedenen Ländern. Der Begriff des transkulturellen Kulturmanagements geht von einer Verschmelzung der Kulturen jenseits nationaler und kulturräumlicher Grenzen aus. Als zentrale Herausforderung eines transkulturellen Kulturmanagements wird die Fähigkeit angesehen, »fremdkulturelle Kunstformen nicht nur zu kennen und zu verstehen, sondern sie auch adaptieren zu können, ihnen eine Form der Repräsentation zu schenken« (Wolfram 2012: 24). Der im deutschsprachigen Raum vor allem von Wolfgang Welsch geprägte Begriff der Transkulturalität wendet sich dezidiert gegen die Vorstellung von Kultur als einem feststehenden Konzept, das sich gegen fremde Kulturen abgrenzt (Welsch 2002). In eine ähnliche Richtung weist das Konzept der kulturellen Hybridität, das von der Postkolonialismusdebatte geprägt wurde, und das sich unter anderem gegen eine Hierarchisierung von Kulturen wendet: Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt. (Bhabha 1997: 127)
Der Begriff des interkulturellen Kulturmanagements hingegen macht deutlich, dass kulturräumlich bedingte Unterschiede wahrgenommen werden (zum Teil wird dies auch problematisiert), mit der Konsequenz für das Kulturmanagement, dass es bewusst mit diesen Unterschieden arbeitet, die häufig weniger auf ethnischen oder nationalen als auf sozialen und ökonomischen Differenzen basieren (Hansen 2009). Auch wenn es eine Tendenz zur Auflösung fester Identitätsmuster und zunehmend vielschichtigen Identitäten gibt, betont Hansen, dass Verhalten immer auch von Kollektiven geprägt sei, die er kleinteilig in jeder Familie, in jedem Verein oder Unternehmen verortet; jedes Kollektiv bringe seine eigene Kultur hervor. Dabei unterstreicht er mit dem Begriff »Multikollektivität«, dass Individuen gleichermaßen Teil mehrerer Kollektive sind. Wichtig ist ihm dabei, dass eine Ethnisierung des Kulturbegriffs vermieden und somit gerade nicht die Nation oder Ethnie als bestimmendes Kollektiv gesehen wird, sondern jede Form sozialer Kollektive, die darüber hinaus nie als homogen betrachtet werden können. Da diese Einflusssphären an differenzierbare Kollektive gekoppelt sind, wird hier im Unterschied zu Welsch weiterhin von Interkulturalität gesprochen. Wenn Unterschiede zwar bewusst wahrgenommen, aber nicht festgeschrieben werden, ließe sich eine aktiv reflektierende Haltung von Differenzen in interkulturellen Kontexten einnehmen, womit gemeint ist, dass Differenzen produktiv gemacht werden. Von interkulturellem Kulturmanagement wäre also dann zu sprechen, wenn bei Organisations- und Steuerungsprozessen im Umfeld und mithilfe der Künste interkulturelle Unterschiede und Aushandlungsprozesse, die nicht auf
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nationalen oder ethnischen Unterschieden basieren, sondern beispielsweise durch Milieu, Bildung oder Geschlecht geprägt sind, bewusst wahrgenommen, thematisiert und praktiziert werden.
4. K ulturmanagement im internationalen V ergleich : Z entr ale E rgebnisse der S tudie Inwiefern ist kulturmanageriales Handeln durch globale betriebswirtschaftliche Logiken geprägt? Wie wirken sich länder- und kulturraumspezifische, ökonomische, politische oder soziale Besonderheiten auf Konzepte, Strategien und Rollenmodelle im Kulturmanagement aus? Welche weiteren Faktoren beeinflussen Kulturmanagementhandeln, welche Erfahrungen machen Kulturmanager in internationalen Teams und Kooperationsprojekten, und wie verändert sich Kulturmanagement insgesamt durch Internationalisierung? Diese Fragen leiteten eine empirische Studie, die von Januar bis Juli 2016 vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim durchgeführt worden war. Sie umfasste eine qualitative Befragung von 36 Expertinnen und Experten für Kulturmanagement, die Auswertung von zwei großen internationalen Kulturmanagement-Programmen – des Online-Kulturmanagement-Kurses MOOC Managing the Arts des Goethe-Instituts (Andere Quellen: Nr. 1) und der Tandem-Programme von MitOst in Kooperation mit der European Cultural Foundation (Andere Quellen: Nr. 2) – sowie die quantitative Befragung von weltweit 738 Kulturmanagerinnen und -managern, die in ihrer Gesamtheit als Teilnehmende aus den beiden internationalen KulturmanagementProgrammen (MOOC Managing the Arts und Tandem-Programme) ausgewählt worden waren. Das interaktive Kulturmanagement-Trainingsprogramm MOOC Managing the Arts: Cultural Organizations in Transition wurde vom Goethe-Institut in Kooperation mit der Universität Lüneburg in den Jahren 2015 und 2016 mit jeweils rund 13.000 Teilnehmenden aus aller Welt durchgeführt, die auf der Basis von Keynotes zum Kulturmanagement an Fallbeispielen von Kulturinstitutionen aus vier verschiedenen Regionen der Welt in international gemischten Teams neue Marketingkonzepte entwickelten. In einem Tandem-Programm von MitOst und European Cultural Foundation arbeiten jeweils zwei Kulturmanager aus verschiedenen europäischen Ländern sowie aus arabischen Ländern, der Türkei, Moldova und Ukraine an einem gemeinsamen Kulturprojekt, das sie in ihren jeweiligen Herkunftsorten gemeinsam realisieren, und über das sie sich bei Treffen mit den anderen Kulturmanagern der Tandem-Gruppe austauschen. Einige vorläufige Ergebnisse der Studie werden im Folgenden in der gebotenen Kürze vorgestellt und im Rahmen der vorangegangenen Überlegungen gedeutet.1
4.1 Ergebnisse der quantitativen Befragung: Die Akteure und ihr professioneller Hintergrund Der Großteil der Befragten aus insgesamt 110 Ländern hat zwar internationale Erfahrungen, lebt und arbeitet aber überwiegend in nur einem Land; nur einige wenige gehören zum Typ des international und global agierenden Kulturmanagers, der 1 | Die detaillierten Ergebnisse der Studie sind nachzulesen in Mandel 2017.
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in mehr als fünf Ländern tätig ist. Als wichtigste positive Effekte von Kooperationen mit Kulturmanagern aus anderen Ländern werden eine neue Perspektive auf die eigene Arbeit sowie ein besseres Verständnis für ein anderes Land angesehen. Englisch ist die meistgenutzte gemeinsame Arbeitssprache. Auswirkungen der Internationalisierung auf das eigene Herkunftsland werden als Steigerung kultureller Vielfalt und damit als Bereicherung des Kultursystems durch neue Ideen vor allem positiv bewertet; dem gegenüber wird der Gefahr der Globalisierung von Kulturangeboten oder umgekehrt deren nationaler Abschottung weniger Bedeutung beigemessen. Von den meist akademisch qualifizierten Kulturmanagern haben nur wenige ein spezielles Kulturmanagement-Studium absolviert, obwohl es solche Angebote in 60 % der Länder der Befragten gibt. Kulturmanageriale Aufgaben werden von vielen ohne das Selbstverständnis eines »professionellen« Kulturmanagers ausgeübt, vielmehr sind die Rollen zwischen Kulturmanager, Künstler, Kurator, Vermittler und Aktivist fließend. Die Mehrheit der Befragten versteht sich deshalb als Kulturmanager im weiteren Sinne, das heißt, über ein reines Kunstmanagement hinaus, und präferiert sozial und politisch engagierte Rollenmodelle wie das des Kulturvermittlers (cultural educator) und agent of social change. Aus Sicht der Befragten hängt das Kulturmanagement-Handeln im Wesentlichen von der eigenen Mission, Persönlichkeit und dem individuellen Ausbildungshintergrund ab, mehr noch als von der Unternehmenskultur der Institution, für die man arbeitet, und deutlich mehr als von länderspezifischen Faktoren wie Kulturpolitik und kulturellen Traditionen des Herkunftslandes. Mehrheitlich wird die Idee eines globalen Kulturmanagements mit standardisierten Instrumenten abgelehnt.
4.2 Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Befragung zu den thematisierten Forschungsfragen Obwohl sich die Befragten in vielen Einschätzungen weltweit relativ ähnlich sind, lassen sich kulturraumspezifische Unterschiede erkennen. Folgende spezifische Ergebnisse konnten zu den zentralen Forschungsfragen aus der quantitativen wie der qualitativen Befragung generiert werden: • Prägung von Kulturmanagement-Handeln: Obwohl es eine Dominanz der angloamerikanischen Kulturmanagement-Instrumentarien und -literatur gibt, ebenso wie eine weltweit ähnliche Verwendung der dort geprägten Begriffe, ist Kulturmanagement aus Sicht der Befragten keine Strategie mit weltweit gleicher Herangehensweise. Vielmehr, so die überwiegende Einschätzung, stehen hinter dem Begriff sehr unterschiedliche Konzepte, Ziele, Strukturen und Handlungen. »Interkulturelle« Unterschiede im Managementhandeln (different working styles), die als eines der größten Probleme in internationalen Kooperationen benannt wurden, sind nach Ansicht der Befragten dabei weniger national oder kulturräumlich bedingt als vielmehr durch die Persönlichkeit der Handelnden sowie die jeweilige Organisationskultur. Dennoch haben auch die wirtschaftliche, politische und soziale Situation in den Ländern und Regionen großen Einfluss auf die Möglichkeiten, kulturelle Projekte zu realisieren. So gibt es unterschiedliche Präferenzen für Rollenmodelle und unterschiedliche Einschätzungen kulturpolitischer Strategien, die auf verschiedene zentrale He-
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rausforderungen für Kulturschaffende in bestimmten Regionen hinweisen. Obwohl sich alle qualitativ Befragten einer Gruppendiskussion von Teilnehmern des internationalen Kulturmanagement-Projekts Tandem zunächst dagegen verwehrten, dass es solche länder- oder kulturraumspezifischen Eigenschaften gebe, wurden unterschiedliche Präferenzen erwähnt, etwa im Kommunikationsverhalten: Demnach ist der arabische Raum stärker von mündlicher Kommunikation denn von Mailings geprägt und häufig sehr viel persönlicher. Spürbar ist dort nach Angaben der Teilnehmer zudem ein kulturräumlich bedingtes Verständnis, das zum Beispiel die Pflege sozialer Beziehungen auch in Arbeitszusammenhängen zugunsten einer reinen Sachorientierung in den Vordergrund stellt. Insgesamt sprachen sich die Befragten mehrheitlich gegen ein »kulturalistisch« geprägtes Verständnis in internationalen Kooperationen aus und sahen durch den internationalen Austausch vielmehr eine Hybridisierung des Kulturlebens und auch des Kulturmanagement-Handelns gegeben. • Rollenmodelle im Kulturmanagement: Eine deutliche Mehrheit der Befragten plädierte für einen weiten Kulturmanagement-Begriff und präferierte deshalb den cultural manager gegenüber dem arts manager. Die Befragten konnten sich deutlich besser mit der Rolle des Kulturvermittlers und Change Agent (als einem gesellschaftliche Verantwortung übernehmenden Modell des Kulturmanagers) identifizieren als mit jener des reinen Kunst-Dienstleisters, Fundraisers, Bewahrers kulturellen Erbes, Kulturverwalters oder Künstlers – diese Aufgaben wurden mit deutlichem Abstand und ungefähr gleichrangig angegeben. Allerdings wurden kulturräumliche Unterschiede erkennbar: So wurde ein engerer Kulturmanagement-Begriff vor allem von Befragten aus den USA sowie aus der Region Asien/Pazifik gewählt; Befragte der Region Sub-Sahara/Afrika und der Region Mittlerer Osten/Nordafrika präferierten das Rollenmodell des Kulturmanagers als Künstler. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Trennlinie zwischen Künstler und Kulturmanager in Regionen mit einem deutlich weniger strukturierten und institutionalisierten Kulturbetrieb noch fließender sind, weil Künstler automatisch auch Manager und Projektentwickler sein müssen und es angesichts knapper Ressourcen gar keine Spezialisierungsmöglichkeiten gibt. Insgesamt wurden in den Antworten jedoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede sichtbar. Deutlich wurde, dass Kulturmanagement nicht als standardisiertes Konzept verstanden wird, sondern die Grenzen zu anderen Funktionen und Aufgaben im kulturellen Bereich fließend sind – viele der qualitativ Befragten bezeichneten sich deshalb nicht in erster Linie als Kulturmanager, sondern sahen sich selbst in wechselnden Rollen, je nach Kontext und Bedarf. • Herausforderungen und Wirkungen internationaler Kooperationsprojekte: Als die wertvollsten Effekte internationaler Kooperationen wurden an erster Stelle die Generierung von Wissen über die Kultur eines anderen Landes genannt sowie fast gleichrangig das Gewinnen einer neuen, erweiterten Perspektive auf die eigene Arbeit. Es folgten die Herausbildung eines internationalen professionellen Netzwerks und die Generierung zusätzlicher Fördermittel. Bei den Antworten ließen sich wiederum länderspezifische Unterschiede erkennen: Aufgrund der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Situation in einigen Ländern mit instabiler Demokratie sind internationale Kooperationen häufig die einzige Chance, finanzielle Mittel und Freiräume für die Realisie-
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rung bestimmter Kulturprojekte zu erhalten. In einem Ranking der größten Schwierigkeiten in internationalen Kooperationen wurden an erster Stelle nicht praktische Probleme wie etwa die Sprache genannt, sondern vielmehr die Hierarchien zwischen den Partnern, die durch ungleiche finanzielle Ressourcen oder durch standardisierte Konzepte hervorgerufen wurden, die nicht auf die jeweiligen Gegebenheiten vor Ort eingingen. Erst danach folgten rechtlich-administrative Restriktionen, unterschiedliche Arbeitsstile (etwa in Bezug auf das Zeitmanagement), unzureichendes Wissen über das Partnerland, Visa-Restriktionen und Sprachschwierigkeiten. An letzter Stelle wurde ein fehlendes Verständnis von länderspezifischen Regeln, Etiketten, Höflichkeitsformen genannt und somit das, was in traditionellen interkulturellen Schulungen in der Regel im Mittelpunkt steht. Der Blick auf die Abhängigkeit dieser Einschätzungen vom Herkunftsraum zeigt, dass das Problem des Hierarchiegefälles zwischen Partnern verschiedener Länder, ebenso wie Vorurteile oder Eurozentrismus, am häufigsten von den Befragten der Region Sub-Sahara/Afrika genannt wurde. Die Teilnehmenden aus der Region Mittlerer Osten/Nordafrika nannten Visa-Restriktionen besonders häufig als Problem. Befragt nach den wichtigsten Kompetenzen für internationale Kooperationen bewerteten die Interviewten persönliche Kompetenzen wie »Neugier, Entdeckerfreude, Offenheit« und »interkulturelle Kompetenz« als ebenso wichtig wie Sprachkenntnisse, Kenntnisse über das kulturpolitische System und die soziale und politische Lage des anderen Landes. • Veränderungen von Kultur und Kulturmanagement durch Internationalisierung: Aus Sicht der Befragten führt eine zunehmende Internationalisierung des Kulturlebens vor allem zu einer größeren Vielfalt künstlerischer und kultureller Projekte, zu einer Bereicherung des Kultursektors durch neue Ansätze und Strategien aus anderen Ländern sowie zu einer erhöhten Sensibilität für cultural diversity in ihren verschiedenen Dimensionen. Ein Anstieg des internationalen Publikums oder Auswirkungen auf Change-Management-Prozesse in traditionellen Kulturinstitutionen wurden seltener genannt. Auch negative Effekte durch Internationalisierung in Form von Mainstreaming, Globalisierung oder den Verlust lokaler Kulturtraditionen sowie den Anstieg nationalistischer Abgrenzungstendenzen wurden weniger wahrgenommen. Bei der Einschätzung der größten zukünftigen Herausforderungen für Kulturmanager gab es ebenfalls kaum regionale Unterschiede. Der Erhöhung des Einflusses von Kunst und Kultur auf die Gesellschaft sowie von kultureller Partizipation wurde eine zentrale Bedeutung beigemessen; sie wurde noch vor dem Ziel der Verbesserung des Managements von Kulturinstitutionen, effizienteren Modellen der Kulturfinanzierung und der Förderung kultureller Diversität genannt, auch wenn diese ebenfalls als wichtig erachtet wurden. Das Ziel der Demokratiestärkung durch Kunst und Kultur wurde insgesamt eher selten als Herausforderung genannt; allein Befragte aus den Regionen Sub-Sahara/Afrika und Mittlerer Osten/Nordafrika betrachteten es als besonders wichtig. In der Gruppendiskussion eines internationalen Tandem-Meetings wurden die Gemeinsamkeiten von Kulturmanagern aus verschiedenen Ländern aufgrund ihrer übereinstimmenden Mission sehr stark betont. Internationale Kooperationen, so die Diskutanten, würden dazu beitragen, Stereotypen und Hierarchien zwischen Kulturschaffenden aus Ländern mit unterschiedlichen ökonomischen
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Ressourcen abzubauen. In solchen internationalen Kooperationen würde eine Art dritter, utopischer Ort jenseits der Alltagsrealität im Herkunftsland gebildet, der neue Perspektiven aufzeigen kann.
5. V er änderung der A ufgaben und K ompe tenzen durch I nternationalisierung Wie verändern die durch Internationalisierung bedingten Herausforderungen das Kulturmanagement? Zu beobachten ist zunächst eine Erweiterung des Rollenmodells und des Aufgaben- und Einflussbereichs von Kulturmanagement: Das Aufeinandertreffen von Kulturmanagern, die in verschiedenen kulturpolitischen und kulturellen Systemen sozialisiert sind, dürfte insgesamt zu einer breiteren Perspektive auf die Aufgaben des Kulturmanagements beitragen. Definiert man Kulturmanagement in einem erweiterten Verständnis als die Gestaltung kultureller Kontexte, so beinhaltet dies, über eine klar abgegrenzte Managementaufgabe in arbeitsteiligen Prozessen eines Betriebs hinaus, gestaltend in verschiedenen sozialen Situationen kulturell zu wirken. Kultur wird dabei über die Grenzen des Kultursektors hinaus als Teil des sozialen Lebens einer Gemeinschaft und Gesellschaft auch im Sinne von Kulturen aufgefasst. Nicht mehr nur die Veränderungen innerhalb des Kunst- und Kulturbetriebs, sondern der Einfluss, den Kunst und Kultur in der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungen insgesamt ausüben können, ist das Thema eines solchermaßen breiteren Verständnisses von Kulturmanagement. Internationales Kulturmanagement forciert einen reflexiven und produktiven Umgang mit Unterschieden. Die Ergebnisse der Studie legen zwar nahe, dass sich Kulturschaffende weltweit ähnlicher in ihren kulturellen Einstellungen sind als Menschen anderer institutioneller Zugehörigkeit oder auch anderer sozialer Gruppen bei gleicher Nationalität. Dennoch sind auch durch eine kulturräumliche und nationale Zugehörigkeit bedingte Unterschiede festzustellen. Die Analyse konkreter Kooperationsprojekte der Tandem-Programme zeigt, dass sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten im Handeln von Gruppen in internationalen Kontexten deutlicher werden; sie werden durch eine sensibilisierte Wahrnehmung von Anderssein forciert. Ein fremder Blick ermöglicht dabei auch neue Perspektiven auf die eigene Einrichtung und Arbeit. Offenheit, Neugier, Flexibilität und die Fähigkeit ohne vorschnelle Wertungen Unterschiede zu reflektieren, werden zu wesentlichen Kompetenzen im Kulturmanagement. Dies beinhaltet auch, kulturelle Normen des eigenen Landes, der eigenen Organisation und mehr noch des eigenen Milieus in Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Systemen und Einstellungen kritisch zu hinterfragen und wird oft unter dem Sammelbegriff der »interkulturellen Kompetenz« gefasst. Stefanie Rathje bezeichnet interkulturelle Kompetenz als die Fähigkeit, in Interaktionen, bei denen noch keine konventionalisierte Handlungsebene besteht, das Aushandeln einer gemeinsamen Interaktionskultur zu ermöglichen und »Normalität herzustellen«: Ein interkulturell kompetenter Mensch (nach neuem Verständnis) ist in der Lage, in einer Situation, die von den Beteiligten als fremd wahrgenommen wird, für Normalität zu sorgen […], nach gemeinsamen Zugehörigkeiten zu suchen […], gemeinsame Gewohnheiten und Arbeitsprozesse zu gestalten, man könnte auch sagen, neue Kultur zu produzieren. (Rathje 2015: 23)
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Dabei ist zu konstatieren, dass die Herausforderung, Normalität und eine gemeinsame kulturelle Basis herzustellen, nicht nur auf internationale Interaktion zutrifft, sondern auf jede Situation, in der noch kein gemeinsames kulturelles Verständnis ausgehandelt wurde, etwa aufgrund großer sozialer Diversität oder aufgrund eines sehr unterschiedlichen Kunstverständnisses. Räume für Begegnungen zu schaffen und interkulturelle Veränderungsprozesse im eigenen Land zu moderieren wird zu einer zentralen Aufgabe einer von Internationalisierung geprägten Gesellschaft: Der durch Migration zunehmende Anteil von Menschen aus anderen kulturellen Kontexten verändert die Struktur des potenziellen Kulturpublikums und der Kulturproduzenten, er verändert kulturelle Interessen und Ansprüche an Kulturinstitutionen und langfristig auch das kulturelle Leben in der Gesellschaft. Mark Terkessidis spricht von der Notwendigkeit einer »interkulturellen Alphabetisierung« der Einwanderungsgesellschaft Deutschland (vgl. Terkessidis 2010: 10). Er forderte in seinem Konzept von »Interkultur« (statt Integration) die Kulturinstitutionen auf, ihre Norm von Deutschsein zu hinterfragen und sich in Bezug auf Personal, Programme und Strukturen in Auseinandersetzung mit Menschen anderer kultureller Interessen und sozialer Prägung zu verändern. Kulturmanager sind zentrale Akteure, um solche komplexen Veränderungsprozesse durch Internationalisierung im Inland umzusetzen. Dies bedeutet, dass in gesellschaftlichen kulturellen Transformationsprozessen unterschiedliche kulturelle Interessen identifiziert und Menschen als Publikum, als Teilnehmer und als Akteure aktiviert werden, sich selbst in das kulturelle Leben einzubringen. Dabei ermöglichen Kulturinstitutionen interkulturelle Begegnungen zwischen Menschen, die sich sonst nicht begegnen würden. Damit ist längerfristig auch die Umgestaltung des bestehenden Kulturbetriebssystems verbunden. Die Haltung eines inter- und transkulturell reflektierten Kulturmanagements kann bei internationalen Kooperationen ebenso eingenommen werden wie bei der Öffnung von Organisationen für andere kulturelle Einflüsse und Perspektiven (etwa in Bezug auf Personalpolitik); sie kann einer lernenden Organisation positive Impulse geben. Sind Kulturmanager dabei als »Übersetzer« zu verstehen, die zwischen unterschiedlichen Kulturverständnissen, kulturellen Interessen, Stakeholdern und Organisationslogiken vermitteln? Patrick S. Föhl, Robert Peper und Gernot Wolfram plädieren für das Rollenmodell des Kulturmanagers als eines »Schnittstellenmanagers«, dem sie unter anderem »Übersetzungs-Funktionen« zuschreiben: As a translator he facilitates the communication between stakeholders who would otherwise not communicate at all or at least misunderstand each other (e.g. politicians and artists from the independent scene or museum directors and representatives from regional companies). Hence, playing the role of a ›translator‹ increases the possibilities to reduce the social distance between separated network clusters and to fill the gaps of cultural holes. The bridging of cultural holes can be seen as a consequence of the manager’s ability to improve communication and reduce uncertainty between separated actors. (Föhl u.a. 2016: 37)
Martin Zierold betont darüber hinaus, dass in diesen Übersetzungsprozessen auch Veränderungen in vorher festen Systemen stattfinden:
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Birgit Mandel Es geht darum, gleichermaßen zwischen herausfordernden Stakeholdern (wie Künstlern, Publikum, Politikern, Sponsoren) zu vermitteln und die Partner auch selbst immer wieder herauszufordern und zu Veränderungen einzuladen […] [in einen] Prozess, der neuen Eigen-Sinn generiert und dadurch das Potenzial hat, die Bereiche, zwischen denen ›übersetzt‹ wird, zu transformieren. (Zierold 2014: 40)
Mit dem Begriff des Kulturvermittlers als jemandem, der Anschlüsse und Bezüge zwischen verschiedenen Kulturen herstellt, wird die Funktion des Kulturmanagements erweitert um die Idee, dass in solchen Moderations- und Aushandlungsprozessen zwischen unterschiedlichen kulturellen Interessen produktive Veränderungen stattfinden und neue Verbindungen und neue Gemeinschaften gestiftet werden können (Mandel 2016). Kulturmanager lassen sich also als Übersetzer, Moderatoren und Vermittler verstehen, die in fremdkulturell wahrgenommenen Kontexten Normalität herstellen. Wie die Ergebnisse der Befragungen zeigen, verstehen sich dabei viele Kulturmanager weniger als neutrale Schlichter denn als engagierte Aktivisten und Social Changemaker. Durch internationale Kooperationen kann die Sensibilität für Anderssein und zugleich der Wunsch, neue Gemeinsamkeit herzustellen und sich selbst, seine Institution und sein kulturelles Umfeld dabei zu verändern und zu bereichern, herausgebildet werden.
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Interkulturelle versus transkulturelle Räume des Kulturtourismus Anja Saretzki/Carola May
1. E instieg Der Kulturtourismus zählt zu den großen Trends im weltweiten Tourismusmarkt. Ihm werden hohe Wachstumsraten zugeschrieben, was die Bedeutung der Kultur für die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit von Destinationen unterstreicht (vgl. OECD 2009: 9f.). Kulturtourismus gilt als eine positive Form des Tourismus und erhält deshalb Unterstützung von Institutionen wie der UNESCO und der EU. Dieser Ruf gründet sich nicht nur auf ökonomischen Effekten, sondern bezieht sich vor allem auf positive Ausstrahlungen hinsichtlich des Erhalts lokaler Kultur und der kulturellen Interaktionen zwischen Gästen und Gastgebern. So betonten die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) und die UNESCO auf der ersten World Conference on Tourism and Culture im Jahr 2015 die Bedeutung des Kulturtourismus für den kulturellen Dialog, die gegenseitige Anerkennung und das gegenseitige Verstehen zwischen Vertretern verschiedener Kulturen (vgl. UNWTO 2016: 17), und die Europäische Kommission fördert Kulturtourismus als Mittel zur Erreichung von unity in diversity (OECD 2009: 23). Kultur wird einerseits als wichtige touristische Ressource betrachtet, die Destinationen im Wettbewerb unterscheidbar macht. Andererseits spielt sie für den Reisenden – aber auch für den Bereisten – eine wesentliche Rolle bei der Erfahrung von Differenz: als herausfordernde Erfahrung des kulturell Anderen. Kulturtourismus als distinkte Form des touristischen Reisens, die dem Touristen ein gesteigertes Interesse an der Kultur des bereisten Raumes und seiner Bewohner und damit auch an der Horizonterweiterung unterstellt – so die Annahme –, tangiert sowohl Bereiche der interkulturellen Verständigung und des interkulturellen Verstehens als auch Formen der Transkulturalität in der touristischen Kontaktzone. Pratt verwendet den Begriff des »Kontakts«1, um den improvisierten Charakter der Begegnungen zwischen Reisenden und Bereisten zu betonen (vgl. Pratt 2008: 8). Diese Kontaktperspektive lässt sich nicht nur für die häufig als neokolonial bezeichneten Formen des modernen Ferntourismus konstatieren. Sie betont die Sub1 | Pratt entlehnt den Begriff des Kontakts vom linguistischen Term »Kontaktsprache« als einer improvisierten Sprache, die aus dem Verständigungsproblem zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen entstanden ist (vgl. Pratt 2008: 8).
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jektkonstitution in und durch die Beziehungen beider Seiten zueinander, und zwar nicht im Sinne von Distanz, sondern vielmehr in Form von Kopräsenz, Interaktion, der Verflechtung von Vereinbarungen und Praktiken, auch vor dem Hintergrund asymmetrischer Machtbeziehungen (vgl. Pratt 2008: 8). Ausgehend vom Feld des Kulturtourismus beleuchtet der folgende Beitrag Phänomene von Interkulturalität und Transkulturalität sowie den damit einhergehenden Perspektivwechsel und seine tourismusspezifischen Bedeutungen. Dabei rückt besonders die Funktion von Reiseführern als cultural broker 2 zwischen globalen Gästen und lokalen Gastgebern in den Fokus. Sie tragen wesentlich dazu bei, den Kulturtourismus für Reisende und Bereiste als einen Raum der doppelten Alteritätserfahrung (dem Eigenen und dem Fremden gegenüber) zu verstehen beziehungsweise zu gestalten. Einige weiterführende Überlegungen zur Situationalität als Ansatz für das Verstehen von Prozessen in der touristischen Kontaktzone beschließen den Beitrag.
2. I nter - und tr anskulturelle B egegnungen im K ulturtourismus 2.1 Kulturtourismus als Begegnung mit dem Anderen Als Kontaktzone zwischen den bereisten Gastgebern der Zielregionen und den reisenden Gästen der Quellregionen stellt der Kulturtourismus eine Begegnungsarena beider Akteursgruppen dar, in der die touristische Vermittlung des Raumes über das Medium Kultur erfolgt. Der touristische Kontext mit seiner Abwesenheit von Alltag lässt sich als Anregung zur ästhetischen Wahrnehmung des Fremdraumes verstehen. Als Bruch mit den alltäglichen Wahrnehmungsmustern bringen ästhetische Erfahrungen das Andere zum Vorschein und machen sinnliche Erlebnisse zur Erfahrung des Anderen im Eigenen (vgl. Zirfas 2005 zit.n. Mandel 2012: 34). Die ästhetische Erfahrung konzentriert sich im Kulturtourismus auf das Medium Kultur in all seinen Ausformungen: Hochkultur und Populärkultur, Kunst und Kunsthandwerk, Museen und Kulturerbestätten, Gastronomie, Sprache und vieles mehr. Eine vertiefte Diskussion des Kulturbegriffs liegt Definitionen von Kulturtourismus meist nicht zugrunde, auch wenn verschiedentlich darauf hingewiesen wird, dass sich aus den Schwierigkeiten der Definition von Kultur und dem Wandel des Kulturbegriffs Probleme für eine kulturtouristische Definition ergeben (vgl. Richards 2005: 22). Doch die Konzentration auf den Bereich Kunst und Kultur und auf die Erfahrung des Ästhetischen machen den Kulturtourismus zu einem Bildungsraum, der zur Horizonterweiterung führen kann, weil sich in ihm die Wahrnehmung verdichtet und Erfahrungen von Offenheit, Mehrdeutigkeit, Differenzierung und Kontingenz ermöglicht werden (vgl. Liebau/Zirfas 2008: 13; Mandel 2012: 34). Aus dieser Ausgangslage bezieht der Kulturtourismus seine besondere Stellung im Tourismusmarkt, die ihn als serious leisure klassifiziert, bei der Kulturtouristen eine tiefergehendere Erfahrung suchen als normale Touristen und gleichzeitig auf den Erwerb kulturellen Kapitals abzielen (vgl. Meethan 2001: 128). 2 | In der wissenschaftlichen Literatur zu Translations- und Mediationsproblemen finden sich sowohl der Terminus cultural broker als auch culture broker. Aus Gründen der Einheitlichkeit haben wir uns hier weitgehend für cultural broker entschieden.
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Eine solche Beschreibung umfasst jedoch nur die sogenannten specific cultural tourists (Richards 2005: 25) mit einer Primärmotivation in Sachen Kultur. Für diese Touristen stellt der Bildungsaspekt ein zentrales Reisemotiv dar. Mit Blick auf eine Vielzahl von Studien lässt sich festhalten, dass es keine allgemeingültige Definition von Kulturtourismus gibt. Die meisten kulturtouristischen Definitionen sprechen eher allgemein von Reisen zu kulturtouristischen Attraktionen zur Befriedigung kultureller Bedürfnisse aus Bildungs- oder Unterhaltungsgründen (vgl. Richards 2005: 24). Für die folgenden Überlegungen soll festgehalten werden, dass Kulturtourismus als ein Untersuchungsfeld zu verstehen ist, auf dem das Interesse an Menschen anderer Kulturen mit ihren materiellen und immateriellen Ausprägungen im Fokus der Touristen steht. Es geht um das Erleben einer fremden Kultur im Sinne einer ästhetischen Erfahrung, die einen offenen und differenzierten Blick auf das Andere im Gegensatz zum Eigenen ermöglicht und gleichzeitig ein bedeutungsvolles persönliches Erlebnis für den Touristen darstellt, mit dem er sich identifiziert und das ihn mit der bereisten Kultur verbindet, ohne ihn zu einem Teil dieser Kultur werden zu lassen. Der kulturtouristische Wandel vom Sightseeing zum Lifeseeing greift den Aspekt des Kulturkontakts auf und thematisiert den Kulturtourismus als inter- beziehungsweise transkulturelle Begegnungsarena. Kulturtourismus lebt davon, dass Reisende ein Interesse an anderen Kulturen haben. Als culture industry of otherness (Favero 2007) nutzt er Kultur als touristische Attraktion, die gerade im Ferntourismus mit dem Reiz von Exotik, aber auch mit vermarktbarer Marginalität als Unique Selling Proposition (USP) verbunden ist. Beim touristischen Othering wird das Andere mit dem Exotischen und mit dem Fremden als zu bereisendes Ziel gleichgesetzt. Die Fremdheit der bereisten Kultur ist niemals per se gegeben, sondern abhängig von einer subjektiven Zuschreibung und Unterscheidungspraxis. Sie resultiert in einer Abgrenzung vom Anderen, die gleichzeitig als Identitätsbestimmung des Eigenen wirkt. Das Eigene und das Fremde sind jedoch nicht als einfache binäre Gegenüberstellung zu verstehen: Sie beziehen sich in einem dynamischen Dependenzverhältnis stets aufeinander. Das Fremde löst im Eigenen eine zwiespältige Mischung aus verlockendem Reiz und Abstoßung aus (vgl. Wimmer 2014: 688f.). So verlangt touristisches Reisen zu einem gewissen Grad die Fähigkeit und Sensibilität des Subjekts, das eigene Selbst situationsspezifisch entweder zu behaupten oder sich temporär von ihm zu distanzieren. Das Andere, das als fremd Kodierte, stellt einen Bruch mit den alltäglichen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien dar und fordert durch das Infragestellen von Selbstverständlichkeiten alternative Deutungsmuster heraus. Diese Mikrorealitäten touristischer Dialoge bieten erste Chancen eines interkulturellen Austauschs. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Touristen das Interesse an der bereisten Kultur auf traditionelle Kunst und Folkloredarbietungen beschränken, die speziell für den Tourismus auf bereitet werden (sogenannte fakelore, vgl. Dorson 1976). Zeitgenössische kulturelle Ausdrucksformen, gelebte Alltagskultur oder an moderne Lebensweisen angepasste Bräuche werden dagegen oft als nicht typisch, wenig authentisch und sogar als Täuschungsversuch wahrgenommen (vgl. Hüncke 2013: 231). Selbst kulturaffine Tourismusarten wie tribal tourism, indigenous tourism und native tourism zielen nicht zwangsläufig auf gegenseitiges Verstehen und die Relativierung bekannter Bezugssysteme ab. So analysiert Stasch anhand der Gemeinschaft der Korowai in West-Papua, Indonesien, auf
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welche Weise globale Touristen durch das gezielte Aufsuchen archaisch anmutender Lebensformen bekannte Werte- und Bezugskategorien aufzuwerten versuchen (vgl. Stasch 2014). Als selbsternannte Repräsentanten der globalen Zivilisation konzipieren sie sich dabei als in Differenz zum restriktiven Lokalismus der indigenen Kultur stehende Verkörperung weltumspannender kultureller Integration (vgl. Stasch 2014: 192). Die Faszination, am Rande der Welt einen vom globalen Netz der Konsumkultur entkoppelten Raum zu finden, führt zur temporären Erhöhung des in Opposition zur Zivilisation stehenden Lokalen, das mit Attributen wie »rein« und »authentisch« aufgeladen wird. Gleichzeitig stärkt die ambivalente Mischung aus Anerkennung und Abstoßung, die mit der Konstitution des Fremden einhergeht, jedoch die grundlegende Wahrnehmung der Überlegenheit der eigenen Kultur (vgl. Stasch 2014: 201). Eine Situation der gegenseitigen Verständigung kommt angesichts dieser bereits im Vorfeld der Reise kreierten dualen Rollenverteilung kaum zustande, dient der Kontakt mit Anderem hier doch in erster Linie der Rückversicherung des Eigenen.
2.2 Perspektive der Interkulturalität Wer von interkulturellen Begegnungen spricht, setzt erst einmal voraus, dass unterschiedliche Kulturen existieren. Kulturen werden dabei keinesfalls als Objekte begriffen. Es handelt sich vielmehr um hochkomplexe Bedeutungssysteme, die in einem fortwährenden Prozess sozialer Interaktionen und Kommunikationen ausgehandelt werden. Als geteilte Sinnwelten bilden sie die Grundlage für kulturelle Praktiken und damit für immer neue Aushandlungsprozesse. Kultur ist geprägt von Emergenz, Variabilität, Heterogenität, Diskursivität und Konflikt (vgl. Clifford 1986: 19; Wimmer 2005: 13f.). Diese dynamische Fassung von Kultur verweist gleichzeitig auf den Bereich der Interkulturalität, der entsteht, wenn die Selbstverständlichkeit bekannter Erfahrungswelten durch die Interaktion mit differenten Bedeutungsbezügen irritiert und infrage gestellt wird. Reflexivität im Hinblick auf das Eigene ebenso wie auf das Andere ist diesem Kulturbegriff grundlegend eingeschrieben. Aktuelle Interkulturalitätsforschungen gehen in der Regel von einer Vorstellung von Kulturen als mehr oder weniger voneinander abgegrenzten Entitäten aus. Damit wird die Existenz kultureller Differenzen betont, die im Rahmen interkultureller Zusammenarbeit handhabbar gemacht werden sollen (vgl. Antor 2006a: 29). Interkulturalität als Resultat und Konsequenz interkultureller Kommunikationen rückt damit sowohl Prozesse des Verstehens als auch der Akzeptanz in den Mittelpunkt. Von interkultureller Kommunikation wird gesprochen, wenn Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung trotz differenter Perspektiven gemeinsam Bedeutungen hervorbringen und teilen (vgl. Lüsebrink 2012: 15). Voneinander abweichende Wahrnehmungen des Selbst, der Anderen und der unterschiedlichen Lebensformen machen interkulturelle Kommunikation zu einer Herausforderung für alle Beteiligten, da eigene Kulturstandards in der interkulturellen Begegnungssituation nicht mehr als verbindliche Orientierungshilfe herangezogen werden können. Es entsteht eine Dynamik, in der Kommunikations- und Verhaltensregeln situativ neu ausgehandelt werden und wenig reguliert und vorhersehbar sind. Aufgrund der von allen geteilten Regelunsicherheit werden bestimmte Regelverletzungen von den Interagierenden gewöhnlich akzeptiert, und gleichzeitig wird
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gemeinsam versucht, ein der Situation angemessenes Netz von Regeln zu kreieren. Wird dieses von allen Beteiligten gelebt und akzeptiert, entstehen interkulturelle Synergien (vgl. Lüsebrink 2012: 52). Das Entstehen derartiger Synergien setzt jedoch die Bereitschaft des Individuums zur Relativierung der eigenen Welt und den Verzicht auf die Vormachtstellung des bekannten Werte- und Kategoriensystems voraus. Vom Gewohnten abweichendes Verhalten wird in interpersonalen Interaktionssituationen nicht als Bedrohung bekannter Denkrahmen und Bedeutungssysteme aufgefasst und mit Wut, Ablehnung und Unverständnis beantwortet, sondern als Resultat anderer, alternativer Möglichkeiten des Seins anerkannt, die ihre je eigene Rechtfertigung haben (vgl. Mall 2006: 113). Interkulturelle Verständigung setzt zudem eine bewusste Haltung voraus, Kulturen als heterogen anzuerkennen (vgl. Mall 2006: 118). Kritik am Interkulturalitätsansatz setzt vor allem an der Unvereinbarkeit der Suche nach einer gemeinsamen Kommunikationsbasis mit dem gleichzeitigen Beharren auf kulturellen Eigenheiten beziehungsweise abgrenzbaren Kulturen an (vgl. Shimada 1998: 143; Welsch 1995: 40). Doch im Gegensatz zur kulturrelativistischen Perspektive wird der dynamische und gerade nicht essenzialisierende Konstruktcharakter von Kulturen heute in kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen in der Regel ebenso anerkannt wie die Verhandelbarkeit ihrer veränderbaren Grenzen (vgl. Antor 2006a: 29). Interkulturelle Verstehensprozesse verlangen weit mehr als das Kennenlernen einiger ausgewählter Merkmale anderer Kulturen oder den Vergleich bekannter und fremdkultureller Orientierungssysteme während touristischer Reisen. Oft sind Vorstellungen der besuchten Kultur seitens der Reisenden zudem durch Reiseberichte und Tourismusmarketing so nachhaltig vorgeprägt, dass das touristische Erleben vor Ort eher einem Nacherleben vorab kreierter Vorstellungen gleicht. Gesehen wird, was diesen Imaginationen entspricht und die eigene Zufriedenheit fördert; was das vorab kreierte Bild des Urlaubsortes dagegen stört, wird tendenziell ausgeklammert (vgl. Garaeva 2012: 212). Vortouristische Kulturvorstellungen werden somit zu einem erheblichen Teil mit einer Destinationskultur konfrontiert, die nur wenige Berührungspunkte mit der Lebenswirklichkeit der Gastgeberkultur aufweist. Interaktionen zwischen Besuchern und Besuchten finden unter diesen Voraussetzungen am ehesten im Zwischenbereich von tourist bubble und host bubble statt (vgl. Hüncke 2013). Am Beispiel von communitybasiertem SanTourismus3 in Namibia beschreibt die Ethnologin Anna Hüncke das touristische Bestreben, fernab von Zivilisation in Einklang mit der Natur lebende Menschen mit »unverfälschter« Kultur zu erleben. Romantisierte Vorstellungen von ge- und erlebter Authentizität werden aus der Sicherheit eines aus traditionellen und modernen Bestandteilen zusammengesetzten Camps an die San-Kultur gerichtet, was dem Veranstalter ermöglicht, flexibel auf die zum Teil widersprüchlich zwischen Vorstellungen von Moderne und Tradition pendelnden touristischen Erwartungen einzugehen (vgl. Hüncke 2013: 239). Auch die Repräsentanten der San-Kultur sowie sämtliche touristischen Akteure des Camps befinden sich fernab vom Dorf in einer Art abgesonderter host bubble, deren Grenzen für einheimische Campma3 | Bei den San handelt es sich um eine indigene Gruppierung im südlichen Afrika, die in anderen Studien, aber auch in Selbstrepräsentationen als »bushmen« bezeichnet wird (vgl. hierzu den Sammelband von Tomaselli 2012).
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nager und Reiseführer mit persönlichem Kontakt zu Touristen durchlässig, für Tänzer oder Sänger weniger durchlässig sind (vgl. Hüncke 2013: 239). Das Projekt nutzt kulturelle Bestandteile somit als ökonomische Ressource, schafft Arbeitsplätze und seitens der Gastgeber sowie der Touristen ein Bewusstsein für Tradition und unterschiedliche Lebensweisen. Ein beidseitiger Verstehensprozess zwischen San und Touristen wird angesichts der deutlich voneinander abgegrenzten Handlungsräume und sprachlicher Barrieren – der Reiseführer übersetzt nur selten Fragen der Touristen und Antworten der Gastgeber (vgl. Hüncke 2013: 238) – jedoch kaum angeregt. Ein solcher Verstehensprozess erfordert eine bewusste und reflektierte Auseinandersetzung mit als kritisch erlebten interkulturellen Begegnungssituationen und darauf erfolgten Reaktionen. Die dadurch entwickelte Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung anderer Lebens- und Verhaltensweisen sowie zur Selbstreflexion eigener Vorurteile und Zuschreibungen wird als interkulturelle Bildung bezeichnet (vgl. Mandel 2012: 37f.). Sie ist Voraussetzung für das Entstehen von auf Wertschätzung basierenden, für beide Seiten bereichernden Kontakten mit Menschen anderer Kulturen. Zur Frage des interkulturellen Verständnispotenzials des Tourismus zeigt die tourismuswissenschaftliche Forschung ein widersprüchliches Bild.4 Die Aushandlung einer Interkultur im Rahmen einer interkulturellen Austauschsituation bedarf spezifischer situativer Bedingungen (siehe dazu Saretzki/May 2012: 154f.), die der Tourismus aufgrund ökonomischer, sozialer und kultureller Disparitäten nur schwerlich bietet. Auch wenn das Interesse an fremden Kulturen und an der Begegnung mit Land und Leuten bei Befragungen zur Reisemotivation regelmäßig auf den vorderen Plätzen landet und kulturelle Diversität und Authentizität als wesentliche Tourismusmagneten propagiert werden, so laufen touristische Begegnungen zwischen Einheimischen und Fremden meist nach einem festgelegten Skript ab (vgl. Thurlow/Jaworski 2010: 235). Aufgrund ihrer Kürze und der gegenseitigen Differenz und Fremdheit bleiben sie meist oberflächlich. Auch das Klima der Dienstleistungskultur und die aufgrund des Rückgangs kleiner, traditionsreicher Familienbetriebe voranschreitende Professionalisierung der Tourismusbranche durch Hotel- und Restaurantketten, die mit überregionalen Mitarbeitern und der Fokussierung auf entpersonalisierte Servicequalität einhergeht, erschweren den Auf bau persönlicher Kontakte zwischen Gast und Gastgeber (vgl. Garaeva 2012: 217). Kulturelle Differenz wird durch interkulturelle touristische Begegnungen – egal ob sie erfolgreich verlaufen oder nicht – letztlich nie aufgehoben. Sowohl für die Reisenden als auch für die Bereisten besitzt das als »Kulturaußen« verstandene Fremde eine konstitutive Funktion für die Konstruktion einer sozio-kulturellen Gruppenidentität (vgl. Lösch 2005: 44). Diese basiert zum einen auf der internen Selbstpositionierung der Mitglieder in Relation zur Gruppe. Zum anderen impliziert der Prozess der Identifikation nach innen und die Bewusstmachung eines gemeinsamen Bedeutungssystems eine Abgrenzung von jenen, die dieses nicht teilen, und konstituiert dadurch nach außen das Andere, nicht Zugehörige permanent mit (vgl. Jenkins 2008: 17f.). Das Eigene und das Andere/Fremde, Gleichheit und Differenz konstruieren sich entlang verhandelbarer, durchlässiger Grenzen 4 | Kritisch dazu steht zum Beispiel d’Hauteserre (2004: 241f.). Eher positiv äußert sich Tomljenović (2010). Ein knapper Forschungsüberblick findet sich bei Gelbman und CollinsKreiner (2017: 4).
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im Rahmen dialektischer Aushandlungsprozesse wechselseitig. Sie sind interdependente Konstituenten sowohl individueller als auch kollektiver Identitätskonstruktion, denn »who we think we are is intimately related to who we think others are and vice versa« (Jenkins 2008: 12). Beide entstehen in Bezug aufeinander und stärken sich gegenseitig, jedoch streicht kollektive Identität die Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder heraus, während individuelle Identität Differenz und Andersartigkeit zur Schärfung des eigenen Selbst betont (vgl. Jenkins 2008: 19). Ohne gesellschaftliche Rückmeldung oder die Möglichkeit der Selbstpositionierung durch Berührung mit Anderem, das heißt ohne intersubjektiven Austausch mit anderen Individuen und Gruppen, bliebe das Subjekt substanzlos und unsicher. In der Konstruktion stabiler Identitäten kommen Differenzerfahrungen somit eine wichtige Bedeutung zu. Grenzüberschreitungen, um über den Kontakt mit dem Anderen das Eigene bewusster wahrnehmen zu können, sind Charakteristika des touristischen Reisens (vgl. Wöhler 2011: 24). Das physisch und kulturell Andere wird vor dem Hintergrund der Selbstgewissheit und Selbstfindung entschlüsselt und lädt zur Relativierung des eigenen Lebens ein. Es kann dabei als Bestätigung des Eigenen fungieren, wie etwa die Studie von Stasch aufzeigt, wenn sich westliche Touristen in Auseinandersetzung mit der indigenen Kultur ihrer eigenen Überlegenheit versichern (vgl. Stasch 2014). Umgekehrt kann es im Rahmen kritischer Reflektion auch zur Uminterpretation des Eigenen führen, was sowohl für den Touristen als auch für den Einheimischen gilt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der touristische Raum, in dem die Herstellung kultureller Differenz erfolgt, von vielfältigen Ungleichheiten durchzogen ist. Die Spannung zwischen prinzipieller Gegenseitigkeit und realer Asymmetrie in den Beziehungen zwischen Reisenden und Bereisten fragt nach einer differenzierteren Bestimmung des interkulturellen Raumes jenseits der Verstehensproblematik und eines Feldes nicht fraglos geteilter Bedeutungen.
2.3 Perspektive der Transkulturalität An dieser Stelle soll ein Zwischenfazit gezogen werden: Der interkulturelle Raum zwischen Touristen und einheimischer Bevölkerung ist markiert durch die Dynamik ständiger Übertretungen und Verwischungen von Grenzen, durch Aushandlungsprozesse und flüchtige Konsensfindungen, die das Eigene und seine Differenz zum Anderen immer wieder in Frage stellen. Sowohl das reisende als auch das bereiste Subjekt erfährt sich aus dieser Perspektive als »Knotenpunkt einer Vielzahl von Diskursen in einer hybriden, polykontextualen Welt« (Bronfen/Marius 1997: 22). Die stete Artikulation kultureller Differenzen und die Verarbeitung von Fremdem, die als eine Art Vermischungsprozess zu verstehen ist, werden im Anschluss an Bhabha als Hybridisierung bezeichnet. Das Movens von Hybridisierung ist für ihn kulturelle Differenz als interne Differenz (vgl. Bronfen/Marius 1997: 12). Ein sich selbst unüberwindlich entfremdetes Individuum kann sich nur über Differenzsetzung zum Anderen verorten. Dabei geht es nicht um die Konstitution von Subjektivität als solcher, sondern um ihre Konstitution im Spannungsfeld von Macht und Autorität (vgl. Bhabha 1998: 114). Indem das Hybriditätskonzept die Artikulation von Differenzen über transformierende Übersetzungsprozesse und die Ambivalenz kultureller Identitäten betont, eröffnet es die Chance, feste Bedeutungskomplexe aufzubrechen und sich über kulturelle Antagonismen hin-
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wegzusetzen (vgl. Bachmann-Medick 2006: 205). Es eröffnet sich die Möglichkeit eines Raumes für »difference without an assumed or imposed hierarchy« (Bhabha 1998: 4). Diesen Zwischenraum bezeichnet Bhabha als »Dritten Raum« (Bhabha 1998: 36), als einen Schwellenraum zwischen festen Identitätsbestimmungen (vgl. Bhabha 1998: 4), der aus der Dekontextualisierung von Akteuren Fluidität erlangt. Bhabhas Konzept ist nicht ohne Kritik geblieben (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 100-109), findet aber gleichzeitig in der touristischen Forschung großen Anklang. In ihrer Studie zu touristischen Repräsentationen der Māori in Neuseeland arbeiten Amoamo und Thompson mit dem Hybriditätsansatz, um aufzuzeigen, wie im Zusammenspiel von kulturellem Wandel und kultureller Produktion im Tourismus eine Māori-Identität selbstbestimmt entsteht (vgl. Amoamo/Thompson 2010). Im Rahmen der host-guest relationality touristischer Begegnungen lässt sich Hybridität aus der Perspektive der Indigenen als empowerment begreifen, wenn erkannt wird, dass sich Identität durch die Verhandlung von Differenz konstituiert (vgl. Amoamo/Thompson 2010: 39). Diese Identität ist relational und besteht aus differenten Positionen von Māoriness, die sich nicht auf eine einzige Vorstellung zurückführen lassen und die nicht an die eigene Vergangenheit gebunden sind. Die Angebote der indigenen Māori-Tourismusanbieter offenbaren eine Kultur des »Dritten Raumes«, deren Bild sich durch die Artikulation neuer Repräsentationen immer wieder verschiebt. Der Māori-Tourismus eröffnet aus dieser Perspektive einen diskursiven Raum, in dem die Māori ihre Kultur in der Interaktion mit den Touristen souverän immer wieder neu re-artikulieren und repräsentieren können (vgl. Amoamo/Thompson 2010: 47-50). Oder, wie Bhabha es ausgedrückt hat, kann man sich der Polarisierung (von Indigenen und Touristen) durch die Erkundung des »Dritten Raumes« entziehen (vgl. Bhabha 1998: 39), und das Māori-Selbst kann sich als ein Anderes neu erfahren. Räume der Hybridität verweisen jenseits klarer Binaritäten auf Subversion, auf das Überschreiten von Grenzen und das Untergraben von Autoritäten. Das verbindet Hybridität mit Begriffen wie Synkretismus, Métissage und Transkulturalität. Die Grenzen zwischen den dahinterstehenden Konzepten sind nicht immer klar umrissen. Ihre Ursprünge liegen jedoch in allen Fällen in Fragen des Umgangs mit einer kolonialen Vergangenheit und werden in diesem Zusammenhang dafür kritisiert, dass sie rassistische Unterscheidungen evozieren (vgl. Castro Varela/ Dhawan 2005: 101). Insbesondere das Konzept der Transkulturalität hat sich von diesen Vorwürfen emanzipiert. Sein Ursprung findet sich in einer Studie des Kulturanthropologen Fernando Ortiz aus den 1940er-Jahren, die als Antwort auf die vielschichtigen kulturellen Prozesse in Südamerika im Zuge von Kolonialisierung und Selbstbestimmung entstanden ist. Ortiz verstand Transkulturation als Revision der Diskurse um Akkulturation und Dekulturation, die aus kolonisatorischer Sicht geführt werden (vgl. Arroyo 2016: 133). Er veranschaulicht in seiner postkolonialen Kritik am Beispiel Kubas, dass koloniale Macht- und Produktionsverhältnisse nicht zwangsläufig zur Durchsetzung einer Kultur führen, sondern vielmehr Prozesse des fortlaufenden Entstehens neuer hybrider Formen von Kulturen anstoßen. Sein Begriff der Transkulturalität betont dabei die machtgeprägte Vermischung von Ressourcen unterschiedlicher kultureller Kontexte, das Entstehen neuer Kulturformen aus ehemals Differentem und die besondere Dynamik der Subjektkonstitution (vgl. Hepp 2014: 27f.; Arroyo 2016: 136f.).
Interkulturelle versus transkulturelle Räume des Kultur tourismus
In seiner heutigen Fassung bezeichnet Transkulturalität den Prozess der Transformation, der sich durch erweiterte Kontakte und Beziehungen zwischen Kulturen entfalten kann. Transkulturelle Ansätze ersetzen traditionelle Vorstellungen kohärenter kultureller Bezugssysteme weitestgehend mit translokalen Kulturkonzepten, die die Hybridität, das Unabgeschlossene, die Prozesshaftigkeit und die fortlaufenden Übersetzungs- und Identifikationsleistungen von Kulturen betonen. Im Gegensatz zu Interkulturalität und Hybridität betont Transkulturalität differenzaufhebende Prozesse im Sinne einer zeitweiligen Suspendierung kultureller Differenzen zugunsten von Aspekten des Gemeinsamen und der Suche nach Anschlussmöglichkeiten an das Eigene (vgl. Otten 2009: 60). Wolfgang Welsch – als prominentester Vertreter des Transkulturalitätskonzepts im deutschsprachigen Raum – verweist auf die extreme Vernetzung und Permeabilität zeitgenössischer Kulturen. Gerade in Zeiten fortschreitender Globalisierung durchdringen sich kulturelle Lebensformen und Bezugssysteme gegenseitig, sie vermischen sich oder gehen auseinander hervor (vgl. Welsch 1995: 42). Lösch (2005: 44) merkt in seiner Kritik zu Welschs Konzeption an, dass die Ausgrenzung der Machtproblematik auf eine eurozentristische Sichtweise hinweist. Auch die konstitutive Funktion von Fremdheit hinsichtlich der Konstruktion kollektiver Identitäten wird bei Welsch ausgeblendet. Saal (2014: 23) bemängelt zudem die Nichtberücksichtigung historischer und diskursiv konstruierter Ungleichheiten. Beide Kritikpunkte sind aufgrund neokolonialistischer Ausprägungen im globalen Tourismus für eine tourismusbezogene Thematisierung von Transkulturaliät von großer Bedeutung. Im Fokus transkultureller Forschungsansätze stehen vor allem Fragen, wie Differenz im Kontakt mit Anderen ausgehandelt, durch Vermittlungs- und Übersetzungsleistungen neu interpretiert, in Teilen negiert oder zu neuen kulturellen Praktiken, Identitäten und temporären Solidargemeinschaften verschmolzen wird. Damit rücken die nicht mit einer globalen Tourismuskultur überschriebenen Orte des Tourismus, die im Kulturtourismus eine entscheidende Rolle spielen, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Denn gerade hier lassen sich möglicherweise verständigungsausgerichtete Gemeinsamkeiten zwischen Reisenden und Bereisten ausloten, die auf transkulturelle Lernprozesse hinweisen. Zwei Beispiele sollen dieses verdeutlichen. In Kairos Garbage-City beseitigen Stadtführungen, die von einer lokalen Nichtregierungsorganisation und einheimischen Reiseführern zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Sichtbarmachung innovativer Ansätze des Müllmanagements durchgeführt werden, auf der Meta-Ebene zwar keine Asymmetrien zwischen Touristen, Regierung und den marginalisierten Stadtteilbewohnern (vgl. Wynne-Hughes 2015: 850f.). Doch durch die Praktiken der beteiligten Akteure in der Kontaktzone des Stadtteilbesuchs werden Synergien geschaffen, die der Stärkung der wechselseitig kreierten sozio-kulturellen Rollen dienen. Während sich die Garbage-City-Bewohner durch die touristische Performanz und die ihren RecyclingIdeen entgegengebrachten Interessensbekundungen als ebenbürtige Unternehmer eines freien Marktes und als Ideenträger international anschlussfähiger Müllverwertungsstrategien artikulieren, stärken sie ihrerseits die Rolle der Touristen als bildungs-, umwelt- und konsumbewusste Reisende. Diese heben sich durch ihr Interesse an gemeindebasiertem, nichtkommerzialisiertem Garbage-City-Tourismus sowohl vom Massentourismus als auch von der stark kommerzialisierten Müllverarbeitung der Industrienationen ab (vgl. Wynne-Hughes 2015: 844f.). Auf
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diese Weise entsteht entlang der Garbage-City-Stadtteilführungen trotz bestehender Differenzen eine temporäre transkulturelle Solidargemeinschaft zwischen Einwohnern und Touristen, die sich im Wesentlichen aus der Abgrenzung von der ägyptischen Müll-Verarbeitungsindustrie sowie der entsprechenden Regierungspolitik auf der einen und der Distanzierung vom Massentourismus auf der anderen Seite speist. Während der Garbage-City-Touren geht es somit um die kontextabhängige, temporäre Suspendierung von Differenz, nicht um deren grundlegende Aufhebung oder das Aushandeln eines Konsenses im Sinne einer Interkultur. Auch Tonnaer negiert in ihrem Beitrag zum indigenous tourism im australischen Outback die Möglichkeit der Aufhebung von Differenz (Tonnaer 2010). Sie beschreibt die Entstehung eines transkulturellen Raumes5 bei der Begegnung von Aborigines und Touristen, in dem es unter dem Stichwort sharing culture aber nicht darum geht, gemeinsame Bedeutungen auszuhandeln, sondern vielmehr eine Performance zu teilen (actual enactment), in der das Eigene und das Andere sich durch gegenseitige Verstrickungen definieren. Daraus resultiert eine transkulturelle Begegnungskultur. Diese ähnelt Bruners touristic borderzone, die wie eine leere Bühne darauf wartet, von Touristen und Einheimischen gemeinsam bespielt zu werden (vgl. Bruner 2005: 192f.). Bruner betont, dass die Performances in der touristic borderzone fluide sind und diese so zu einem kreativen Raum machen, in dem sich für beide beteiligten Gruppen aber niemals die gleichen Bedeutungen entwickeln. Tonnaer beschreibt am Beispiel der Kängurujagd, wie die transkulturelle Interaktion mit Fremdheit, die nicht auf das tatsächliche Verstehen der fremden Kultur ausgerichtet ist, ablaufen kann: Mithilfe eines Pappkängurus demonstrieren die Führer den Touristen, wie man ein Känguru jagt und lassen sie auch selbst üben (vgl. Tonnaer 2010: 27f.). Obwohl klar ist, dass heute mit Auto und Gewehr gejagt wird, soll mithilfe der Demonstration der traditionellen Fertigkeiten eine Version von »Sich-selbst-als-dem-Anderen« geschaffen werden, die von beiden Seiten begeistert ausgeübt wird. In dieser Performance ist das Teilen von Bedeutungen irrelevant und Fehlinterpretationen können akzeptiert werden. Es kann jedoch keine Seite auf die andere verzichten, um das eigene Selbst und das Andere wechselseitig zu definieren. Für Tonnaer liegt die Bedeutung der transkulturellen Begegnung nicht in der Vermittlung kulturellen Wissens, sondern in der gemeinsamen Performance, die jedes Mal unterschiedlich ausfällt und Raum für das Gelingen oder das Misslingen lässt. Die transkulturelle Fähigkeit des Tourismus liegt im Prozess des Aufeinandertreffens und Sich-aufeinander-Beziehens.
5 | Tonnaer spricht in ihrem Beitrag zwar von einem interkulturellen Raum, aber ihre Charakterisierung dieses Raums verweist aus unserer Sicht und unter Berücksichtigung des zuvor Dargelegten auf transkulturelle Prozesse. Generell ist anzumerken, dass das Konzept der Transkulturalität in der Tourismuswissenschaft bis dato wenig Rückhall gefunden hat. Studien zu interkulturellen Fragestellungen dominieren hier das Feld.
Interkulturelle versus transkulturelle Räume des Kultur tourismus
3. D as P roblem der Tr ansl ation und die R olle der cultural brokers
Die touristische Kontaktzone lässt sich unter diesen Bedingungen als ein Raum verstehen, in dem die Beziehungen zwischen Reisenden und Bereisten immer wieder neu ausgehandelt werden. Diese Aushandlungsprozesse können als Übersetzungsleistungen verstanden werden; sie machen die Kontaktzone zum translational space (vgl. Bachmann-Medick 2009: 9). Übersetzung meint dabei aus hermeneutischer Perspektive die Dekodierung sprachlicher, aber auch nichtsprachlicher Äußerungen und impliziert Akte des Richtig-verstehen-Wollens und Verständlich-machenWollens. Verlässt man jedoch diese auf einem holistischen Kulturbegriff basierende Sphäre in Richtung eines dynamischen Kulturverständnisses, dann wird Übersetzung zu einem differenztheoretischen Begriff beziehungsweise zu einem Ort, an dem Differenz sowohl artikuliert als auch verhandelt wird (vgl. Langenohl u.a. 2015: 176). Übersetzung fungiert nicht länger als Brücke zwischen gegebenen Kulturen, sondern erschafft erst das, was es verbinden soll (vgl. Simon 1997: 472). Das transkulturelle Moment der Übersetzung besteht somit aus jener daraus erwachsenden Pluralität von Differenzen, die zudem nonverbale Differenzierungen, situative Konstellationen und sozio-historische Schwankungen miteinschließt (vgl. Langenohl u.a. 2015: 176). Zu berücksichtigen ist darüber hinaus die Situiertheit des jeweiligen Übersetzers, der – als in sich selbst differentes Subjekt – nie mehr als Teilaspekte »seiner« Kultur verkörpert und in asymmetrische Machtverhältnisse und zwischenmenschliche Konflikte eingebunden ist (vgl. Langenohl u.a. 2015: 180). Jede Übersetzung muss als intransparente Aktivität betrachtet werden, die nicht als Repräsentation im Sinne einer originalgetreuen Wiedergabe zu verstehen ist, sondern schon im Prozess des Übersetzens auf eine Transformation des Originals abzielt (vgl. Bhabha 1998: 227). Sowohl der Übersetzer als auch der Rezipient der Übersetzung müssen sich dessen bewusst sein. Kulturelle Übersetzungsprozesse lassen am Ende nichts so, wie es vorher war. Auch Begegnungen zwischen Reisenden und Bereisten können aus dieser Perspektive als Transformationen verstanden werden, bei denen die Kultur der Bereisten in die Kultur der Reisenden eindringt und vice versa. Doch Übersetzungen sind im touristischen Alltag sowohl gang und gäbe als auch notwendig. Sie werden gebraucht, um das Nicht-Identische zwischen den Akteuren zu erfassen, die sich in differenten Lebenszusammenhängen und Diskursen bewegen (vgl. Fuchs 2010: 115), aber eine Art gemeinsame Ebene finden müssen, um die kulturtouristische Performance zu vollziehen. Jedem Übersetzungsprozess wohnt damit eine Spannung inne, weil er einerseits Differenzen artikuliert, sie aber andererseits zu überwinden versucht (vgl. Fuchs 2010: 127). Diese innere Spannung kennzeichnet auch die Position des Reiseführers als cultural broker zwischen Reisenden und Bereisten. Als broker lassen sich allgemein jene Individuen (oder Institutionen) bezeichnen, die andere Individuen über unterschiedliche Diskurse hinweg verbinden. Der cultural broker ermöglicht Interaktionen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, da er die Symbole, Informationen und Menschen verschiedener Kulturen interpretieren und übersetzen kann, um so zwischen kulturellen Inkompatibilitäten zu vermitteln und kulturelle Brücken zur Vereinfachung interkultureller Prozesse zu bauen (vgl. Gentemann/ Whitehead 1983: 119). Weiler und Black klassifizieren die Aktivitäten des brokering
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von Reiseführern in vier Funktionen: (1) brokering physical access als Auswahl und Ermöglichung, aber – im Falle sensibler Areale – auch Limitierung des Zugangs zu touristisch interessanten Orten; (2) brokering encounters als Ermöglichung interkultureller Begegnungen mit Einheimischen, auch als (sprachlicher) Übersetzer; (3) brokering understanding als Ermöglichung intellektuellen Zugangs beziehungsweise als Interpretation der einheimischen Kultur; (4) brokering empathy als Ermöglichung einer emotionalen Verbindung mit der besuchten Kultur und damit auch die Schaffung von Verständnis und Anerkennung (vgl. Weiler/Black 2015: 3538). Alle vier Funktionen sind in kulturelle Übersetzungsprozesse involviert, was auch daran deutlich wird, dass Weiler und Black die Begriffe broker und mediator analog gebrauchen (vgl. Weiler/Black 2015: 32). Anhand von Browns Fallstudie zur Rolle von beachboys in Gambia lässt sich aufzeigen, wie die einzelnen Funktionen ineinandergreifen: Als informelle Reiseführer suchen junge Männer den Kontakt zu westlichen Touristen, bieten sich als »freundschaftliche Begleiter« an, um Kontakte zur lokalen Kultur herzustellen (vgl. Brown 1992). Sie fungieren dabei sowohl als sprachliche als auch als kulturelle Übersetzer (2), indem sie die Touristen zu Besuchen bei der eigenen Familie mitnehmen (1). Dabei werden kulturelle und soziale Zusammenhänge nicht nur erklärt (3), sondern zugleich wird angestrebt, Verständnis und Mitgefühl für die ärmlichen Verhältnisse zu schaffen (4) – verbunden mit der Bitte um finanzielle Unterstützung für die Familie. Auch in der umgekehrten Richtung wirken die beachboys als Mediatoren, indem sie die lokale Bevölkerung mit anderen Verhaltensweisen und Ideen vertraut machen. Ähnlich der Rolle des cultural broker wird vom kulturellen Mediator erwartet, dass er Kommunikation und Verstehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher kultureller Gruppierungen ermöglicht und dabei für ein Gleichgewicht zwischen beiden Seiten sorgt. Cohen hat in seiner Studie zur Rolle des Reiseführers im modernen Tourismus als erster systematisch die Funktion des touristischen Mediators herausgearbeitet (Cohen 1985). Er unterscheidet dabei zwischen der interaktionellen (social mediation) und der kommunikativen Komponente (cultural mediation). Als sozialer Mediator fungiert der Reiseführer als Mittelsmann, indem er Reisende und Bereiste verbindet. Dabei übernimmt er auch die Rolle eines Repräsentanten: Er repräsentiert die Reisenden gegenüber den Bereisten und vice versa (vgl. Cohen 1985: 13). Gerade wenn Touristen nur wenige direkte Kontakte zur einheimischen Bevölkerung haben, werden lokale Reiseführer als Botschafter oder als repräsentative Vertreter ihrer Stadt oder Nation wahrgenommen. In dieser Funktion prägen sie das Bild des Touristen auf entscheidende Weise, können Stereotypen widerlegen und Mentalitäten vermitteln (vgl. Mandel 2012: 63, 140). Während in den meisten Studien nur der kulturelle Aspekt der Mediation betont wird, weist Jensen auf die Bedeutung sozialer Mediation hin (vgl. Jensen 2010). Gerade in touristisch eher schwach entwickelten Destinationen bedarf es dieser sozialen Mittlerrolle, um eine Akzeptanz für Touristen zu erzeugen (Repräsentation der Reisenden gegenüber den Bereisten). Lokale Reiseführer mit engen sozialen Bindungen zur Gastgemeinschaft können dazu beitragen, die soziale Distanz zwischen Reisenden und Bereisten zu verringern und die Festsetzung von Stereotypen zu verhindern (vgl. Jensen 2010: 626). Jensen geht davon aus, dass nur eine kulturelle und soziale Einbettung in die für den Touristen fremde Kultur Reiseführer zu effektiven Mediatoren macht.
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Für Cohen liegt die Bedeutung touristischer Mediatoren stärker in der kommunikativen Komponente. Dazu zählen die Elemente Selektion (Auswahl dessen, was der Tourist zu sehen bekommt), Information (Wissensvermittlung), Interpretation, aber auch Erfindung (vgl. Cohen 1985: 14-16). Der zentrale Punkt liegt in der Interpretation, die weit mehr als Weitergabe von Informationen ist. Interpretation ist kulturelle Übersetzung par excellence: Der Reiseführer übersetzt die fremde Kultur des Gastlandes in die Kultur der Touristen und ermöglicht dadurch beiderseitige Anschlusskommunikationen. Er muss deshalb nicht nur mit der Kultur der Destination vertraut sein, sondern auch die Kultur der Reisenden verstehen. Interpretation ist die Essenz der Rolle als cultural broker (vgl. Cohen 1985: 16). Dabei ist zu bedenken, dass Touristen bereits mit Vorerwartungen in die Destination gereist sind. Das Ziel von Interpretationsprozessen ist es, diese mit der Kultur der Destination in Verbindung zu bringen. Dem Reiseführer obliegt damit – analog zur Repräsentationsverantwortung – die Verantwortung eines Gatekeepers: Die von ihm vermittelten Informationen werden das Bild der Touristen von der fremden Kultur erheblich beeinflussen. Der cultural broker erlangt dabei eine beträchtliche Handlungs- und Wirkmacht. So zeigen die Handlungen der beachboys in Browns Studie, dass es hinsichtlich von empathy brokerage nicht vorrangig um die Schaffung von Verständnis geht, sondern auch profan um finanzielle Vorteile, was der ökonomischen Ungleichheit im Verhältnis zu den Touristen geschuldet ist. Macdonald verweist darauf, dass die Vorstellung eines culture broker ein Modell differenter Kulturen und damit eine klare Trennung zwischen Reisenden und Bereisten impliziert (vgl. Macdonald 2006: 121). Beide Annahmen hält sie für überholt, macht aber darauf aufmerksam, dass der touristische Alltag dennoch durch Mediationsprozesse gekennzeichnet ist. Aus der interkulturellen Perspektive ist die Vorstellung von differenten Kulturen konstitutiv, und das Ziel interkultureller Anstrengungen liegt im Verstehen des Anderen. Transkulturalität bedeutet hingegen die Überschreitung von Grenzen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten. Die Vorstellung autonomer Kulturen ist mit dieser Perspektive nicht vereinbar. Es entsteht vielmehr ein neuer Raum des Sich-gegenseitig-Durchdringens, der Verflechtungen und der Hybridität. Dennoch stellt sich im Tourismus für beide Perspektiven die Frage, wie Mediation als Kernstück kulturtouristischen Reisens möglich und sinnvoll ist. Macdonald wechselt ob dieser Problematik vom Begriff des culture broker zur Bezeichnung culture worker (vgl. Macdonald 2006: 121). Sie sieht die Aufgabe der culture workers darin, Repräsentationen des Reiseziels und seiner Kultur hervorzubringen. Die Mediatorenfunktion der culture workers liegt – in Anerkennung kultureller Nichtabgrenzbarkeit – in der Vermittlung touristischer Sinnstiftung und ist somit Teil der sozialen Konstruktion touristischer Erlebnisse. Der Mediationsvorgang entspricht einer kulturellen Übersetzung, die nicht auf die Repräsentation des Authentischen abzielt, sondern Sinnstiftung als Transformation und Intransparenz beinhaltet. Kulturelle Differenzen werden dabei ausgesprochen, aber auch verhandelt. Die Interpretationen des Mediators werden von den Rezipienten interpretiert und sind damit Teil eines touristischen encoding/decoding-Prozesses (vgl. Saretzki 2013: 67). Macdonald geht davon aus, dass Reiseführer vor allem damit beschäftigt sind, dominante Lesarten der Destinationskultur zu kodieren, die das Folklorisierte, Exotisierte und damit (scheinbar) touristisch Attraktive der Destination betonen (vgl. Macdonald 2006: 123). Die dabei vermittelte Differenz muss jedoch von den rezipierenden Tou-
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risten (aber auch von den in der Übersetzung Repräsentierten) anerkannt werden. Übersetzungsprozesse beinhalten auch mögliche Weigerungen, sich auf das Andere einzulassen oder präferierte Lesarten zu akzeptieren (vgl. Fuchs 2010: 128; Macdonald 2006: 123). Für die Rolle des Reiseführers als cultural broker bedeutet das die Abkehr vom traditionellen Modell der Übersetzung »von einer Kultur in die andere«. Für den Kulturtourismus ist vielmehr zu thematisieren, wie in einem durch Unbestimmbarkeiten geprägten Zwischenraum die Pluralität der Differenzen, die Eingebundenheit in unterschiedliche Machtverhältnisse, die Intransparenz der Transformationsprozesse und die Alienität zwischen Reisenden und Bereisten angemessen berücksichtigt werden kann.
4. S chlussfolgerung Was lässt sich aus dem Dargelegten folgern? Die kulturtouristische Kontaktzone des Aufeinandertreffens von Touristen und Einheimischen auf deren Terrain stellt einen Raum dar, der durch Überlagerungen, Abhängigkeiten, Asymmetrien und Abgrenzungen, aber auch durch das Überschreiten von Grenzen markiert wird. Was zwischen Reisenden, Bereisten und ihren kulturellen Mediatoren passiert, ist nicht immer transparent, zeichnet sich aber häufig durch Neugier auf den jeweils Anderen und seine Kultur aus. Diese Kultur wird als mehr oder weniger fremd empfunden und konstituiert sich als Zuschreibung qua Abgrenzung vom Eigenen. Doch gerade das macht im Tourismus den Reiz aus und lässt den Touristen überhaupt erst in die Kontaktzone eintreten: Touristisches Othering fragt nicht nach der Fluidität des zugrundeliegenden Kulturbegriffs, sondern geht pragmatisch von der Existenz einer bereisbaren Differenz aus. Ob diese Differenz auf der Suche nach dem Verstehen des Anderen reflexiv befragt wird (Interkulturalität), ob sie radikal dekonstruiert wird (Hybridität) oder ob sie temporär zugunsten von Gemeinsamkeiten aufgehoben wird (»Transkulturalität«), ist wie aufgezeigt in erster Linie eine Frage der Perspektive. Für den Tourismus lässt sich im Anschluss an die von Dirksmeier und Helbrecht propagierten situational places (Dirksmeier/Helbrecht 2010) jedoch Folgendes festhalten: Es gibt im Tourismus keinen common ground der geteilten Bedeutungen und kein wirkliches Verstehen zwischen Reisenden und Bereisten, auch wenn gerade Kulturtouristen mit einem Interesse für die bereiste Kultur und dem Anspruch der Horizonterweiterung auf Reisen gehen. Beide Lebenswelten sind erst einmal verschieden, und die Differenz zwischen Reisenden und Bereisten lässt sich nicht auflösen, gerade weil die Abgrenzung zum Anderen konstitutiv für das Eigene ist. Die touristische Doppelbewegung von Aneignung und Abgrenzung versucht die bereiste Kultur zu vereinnahmen und bringt sie dabei performativ als Konstruktion des Fremden hervor. Verstanden als »transkulturelle« Zone richtet sich der Kulturtourismus weniger auf ein interkulturelles Verstehen der Bereisten und ihrer Kultur als auf die temporäre Hervorbringung einer Art gemeinsamen Seins im Sinne einer »transkulturellen« Begegnungskultur, an der beide Seiten teilhaben und sich dabei aufeinander beziehen. Als situationsabhängige »Kunst der Produktion des Jetzt« (Thrift 2000, zit.n. Dirksmeier/Helbrecht 2010: 40) verschwinden diese »transkulturellen« Zonen mit den performativen Interaktionen,
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die sie hervorbringen, jedoch wieder; sie sind somit flüchtig und hochgradig dynamisch.
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Die Beiträgerinnen und Beiträger Cem Alaçam, M.A., geboren in Mannheim, studierte Germanistik, Anglistik, Europäische Kunstgeschichte und Islamwissenschaft an der Universität Heidelberg. Freier Mitarbeiter an der Kunsthalle Mannheim und am Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen. Freie Mitarbeit bei den Staatlichen Schlössern und Gärten BadenWürttemberg; seit 2016 Volontär im Referat »Vermittlung« mit dem Schwerpunkt auf interkultureller und transkultureller Kunst- und Kulturvermittlungsarbeit. Vera Allmanritter, Dr. phil., ist Politikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie war Projektmitarbeiterin und Koordinatorin des Zentrums für Audience Development am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin (2008 bis 2010), Referentin der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (2011 bis 2012) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim (2015 bis 2017). Promotion über Audience Development in der Migrationsgesellschaft. Neue Strategien für Kulturinstitutionen (2017). Arbeitsschwerpunkte: Kulturmanagement und -marketing, Kulturbesucherforschung, Audience Development, empirische Forschungsmethoden. Buket Altınoba, Dr. phil., ist akademische Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Promotionsstipendiatin des Graduiertenkollegs Bild – Körper – Medium. Eine anthropologische Perspektive an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Betreuer: Hans Belting und Beat Wyss). Promotion über die Istanbuler Kunstakademie bei Norbert Schneider (2012). Fellow im Mathilde-Planck-Lehrauftragsprogramm an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Transkulturalität, Migration und Wissenstransfer in den Künsten; Kunst, Architektur und Nationsbildung in der Türkei im 19. und 20. Jahrhundert. Elke aus dem Moore, M.A., leitet seit 2008 die Abteilung Kunst des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen). Studium der Literatur- und Kunstwissenschaften in Osnabrück, Zürich und Bochum. Sie war Kuratorin für zeitgenössische Kunst an der Shedhalle Zürich (1999 bis 2002) und Leiterin des Künstlerhauses Stuttgart (2003 bis 2006). Herausgeberin des Online-Magazins Contemporary And (C&) und Autorin von Beiträgen in Fachzeitschriften. Gastdozenturen an der HGK Basel, ZHdK Zürich, HfG Karlsruhe, UdK Berlin und PH Ludwigsburg. Mitglied in vielen Fachgremien und Jurys. Ihr kuratorischer und programmatischer Ansatz folgt dem Prinzip der Begegnung, des Austauschs und des Dialogs.
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Cathrine Bublatzky, Dr. phil., ist ausgebildete Fotografin und Visuelle und MedienEthnologin. Studium der Geschichte Südasiens und der Ethnologie am Südasieninstitut an der Universität Heidelberg. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Visuelle und Medienethnologie (Heidelberg). Promotion im Fachbereich der Ethnologie an der Universität Heidelberg mit dem Thema Along the Indian Highway: An Ethnography of an International Travelling Exhibition (2014). Arbeitsschwerpunkte: Gegenwartskunst, Migration, Fotografie mit Fokus auf die Regionen Europa, Mittlerer Osten und Südasien. Annette Bühler-Dietrich, Prof. Dr. phil. (apl.), ist Dozentin für Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Stuttgart und seit 2014 DAADLektorin an der Université Ouaga I Pr Joseph Ki-Zerbo. Habilitation zu Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert an der Universität Stuttgart 2008 (Tübingen 2012), Promotion an der University of Virginia zu deutschsprachigen Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts (Würzburg 2003). Publikationen u.a.: Die Szene des Subjekts im westafrikanischen Theater der Gegenwart – Burkina Faso. In: Kreuder, Friedemann u.a. (Hg.) (2012): Theater und Subjektkonstitution, Bielefeld, S. 133-143. Arbeitsschwerpunkte: Narrative des Verlusts in der Gegenwartsliteratur, frankophones westafrikanisches Theater. Christiane Dätsch, Dr. phil., ist seit 2011 Akademische (Ober-)Rätin am Institut für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg. Studium der Germanistik, Journalistik und Romanistik an den Universitäten Bamberg und Lyon. Promotion an der Universität Hamburg über den Schriftsteller Ernst Weiß (2009). Tätigkeit im Journalismus (1995 bis 2000) und in der Öffentlichkeitsarbeit (2003 bis 2011). Lehraufträge an der Universität Hamburg, der Akademie für Darstellende Kunst, der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturwissenschaft, Transkulturalität im Kulturbetrieb. Dorothee Kalbhenn, M.A., ist seit 2011 fester Bestandteil des Teams von Elbphilharmonie und Laeiszhalle Hamburg. Sie studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg und ist dort seit 2009 Lehrbeauftragte. Autorin der Publikation Konzertprogramme. Das Kernprodukt als Chance und Herausforderung für Konzerthäuser (2011). Für die Elbphilharmonie wirkt sie im Bereich Development, moderiert Künstlergespräche und konzipiert bereichsübergreifende Projekte sowie spezielle Formate. Sie interessiert sich für Strukturen von Kulturbetrieben und hinterfragt Kontexte, in denen Konzerte stattfinden und Programme entstehen. Thomas Knubben, Prof. Dr. phil., ist Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg. Studium der Geschichte, Germanistik und Empirischen Kulturwissenschaft an den Universitäten Tübingen und Bordeaux. Promotion über ein alltagsgeschichtliches Thema an der Universität Essen. Langjährige Tätigkeit im kommunalen Kulturmanagement. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorie und -geschichte, Kulturpolitik, Kulturfinanzierung, Ausstellungsbetrieb. Zahlreiche Veröffentlichungen im Spannungsfeld von Kulturgeschichte, Kunst und Kulturmanagement.
Die Beiträgerinnen und Beiträger
Franziska Koch, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin am Lehrstuhl für globale Kunstgeschichte der Universität Heidelberg. Promotion über Die ›chinesische Avantgarde‹ und das Dispositiv der Ausstellung. Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung (2016). Mitherausgeberin von Negotiating Difference. Contemporary Chinese Art in the Global Context (2012) und Mitbegründerin des Research Network for Transcultural Practices in the Arts and Humanities – RNTP. Arbeitsschwerpunkte: moderne/zeitgenössische Kunst zwischen Asien und Europa, Theorien und Geschichte(n) der Ausstellung, Kunstgeschichte in transkultureller Perspektive, künstlerische Autorschaft und Kollaboration. Birgit Mandel, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Kulturmanagement und Kulturvermittlung am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Studium der Kulturpädagogik in den Schwerpunktfächern Theater, Literatur und Bildende Kunst an der Universität Hildesheim. Tätigkeit als Pressereferentin, PR-Beraterin und Marketingleiterin; Auf bau des Studiengangs Kulturmanagement im Institut für Kulturmanagement in Hildesheim. Vizepräsidentin der Kulturpolitischen Gesellschaft und Gründungsmitglied des Fachverbands Kulturmanagement. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Audience Development, Kulturnutzerforschung, Kultur-PR und Kulturmarketing, Kulturtourismus, Kulturvermittlung. Carola May, Dr. phil., ist seit 2012 Dozentin für Raum, Tourismus und Kultur an der FH Westküste, Heide. Studium der Ethnologie, Geschichte und Religionswissenschaften in Hamburg. 2006/07 ethnologische Feldforschung zur Analyse des Nachhaltigkeitspotenzials einer Weltkulturerbestätte in einem UNESCO-GLOBE Gemeinschaftsprojekt in Madagaskar. Promotion bei Prof. Dr. Karlheinz Wöhler an der Professur für Empirische und angewandte Tourismuswissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg (2011). Arbeitsschwerpunkte: Produktion soziokultureller (Tourismus-)Räume, Kulturtourismus, Natur-/Outdoortourismus, nachhaltiger Tourismus, slow adventure experiences. Florian Mittelhammer, M.A., studierte Philosophie und Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen sowie Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement in Ludwigsburg (Abschlussarbeit: Das Museum als Bühne der Philosophie – Überlegungen zur Neukonzeption des Stuttgarter Hegel-Hauses). 2015 absolvierte er im Rahmen des Freiwilligendienstes kulturweit ein FSJ am Goethe-Institut Chennai, Südindien. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Hermeneutik und Wissenschaftstheorie, Kulturtheorie, Museumsstudien. Steffen Pross, M.A., ist Sachbuchautor und Zeitungsredakteur in Ludwigsburg. Er wurde mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet. Publikationen: In London treffen wir uns wieder. Vier Spaziergänge durch ein vergessenes Kapitel deutscher Kulturgeschichte (2000), Angeklagt. Außergewöhnliche Kriminalfälle in Schwaben (2005, mit Beate Volmari), Freudental ’38. Eine Ermittlung (2009), Freudentaler Adressbuch 1935. Band I: Später erhielt ich noch zwei Karten aus Theresienstadt (2011), Band II: Eines Tages ist die Frau Stein plötzlich nicht mehr dagewesen (2013), Adolf. Bruchstücke einer deutschen Jugend (2015).
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Kulturelle Überset zer
Christina Richter-Ibáñez, Dr. phil., ist freie Autorin und Dozentin. Konzertmanagement bei Musik der Jahrhunderte Stuttgart e. V. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart (2009 bis 2014). Promotion über Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957). Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen (2014). Von 2015 bis 2016 eigene Stelle an der Universität Tübingen, gefördert vom Brigitte-Schlieben-Lange-Programm des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. 2016 Forschungsstipendium des Balzan Research Project Towards a global history of music in Oxford/UK. Anja Saretzki, Dipl.-Kffr., M.A., ist Lehrbeauftragte am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg. Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Angewandten Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg. Letzte Buchveröffentlichung (hg. mit Karlheinz Wöhler): Governance von Destinationen – Neue Ansätze für die erfolgreiche Steuerung touristischer Zielgebiete (2011). Arbeitsschwerpunkte: Destination Governance, touristische Räume, Welterbetourismus, Literaturtourismus, empirische Tourismusforschung. Lena Schmitz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professional School of Education der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Bereich der empirischen Methodenlehre forscht sie zum Umgang mit kultureller Heterogenität in der Schule. Als Kulturwissenschaftlerin schließt sie sich dem Paradigmenwechsel an, der sich in dieser Disziplin vollzieht: Kulturelle Grenzlinien werden von nationalen gelöst. In ihrem Buch Nationalkultur versus Berufskultur (2015) entkräftet sie den nationalistischen Kulturbegriff Geert Hofstedes und stärkt jenen der Subkultur. Karin Stober, Dr. phil., leitet das Referat Vermittlung bei den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg. Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Freiburg. Anstellungsverhältnisse und Forschungsprojekte unter anderem bei der DFG, beim Landesdenkmalamt, am Rosgartenmuseum in Konstanz, beim Sonderforschungsbereich Erhalten historisch bedeutsamer Bauwerke an der Universität Karlsruhe und beim Staatsanzeiger-Verlag. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen; Projektleiterin der Großen Landesausstellung 2014 Das Konstanzer Konzil. Weltereignis des Mittelalters 1414-1418 am Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Seit 2008 Conseillère du Président der Charte Européenne des Abbayes et Sites Cisterciens. Verena Teissl, Dr. phil., ist Literaturwissenschaftlerin und seit 2010 Professorin für Cultural Studies und Kulturmanagement im Studiengang Sport-, Kultur- und Veranstaltungsmanagement, FH Kufstein Tirol. Sie forschte mehrere Jahre in Mexiko und verfügt über eine langjährige kulturmanageriale Praxis. Sie ist Beiratsmitglied der Filmfestivalförderung der Stadt Wien und stellvertretende Vorsitzende des Fachverbandes Kulturmanagement. Forschungsschwerpunkte: postkoloniale Beziehungen im Film- und Literaturbetrieb, die Rolle von Festivals im Kulturbetrieb. Brigitte Vogel-Janotta, Mag., ist Fachbereichsleiterin Bildung und Vermittlung in der Abteilung Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum Berlin. Studium der Germanistik, Geschichte und Sozialkunde sowie Kunstgeschichte in
Die Beiträgerinnen und Beiträger
Innsbruck, Wien und Berlin. Mitglied des Arbeitskreises Migration im Deutschen Museumsbund. Lehrtätigkeit in der Erwachsenenbildung, in Migrantenorganisationen und in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe. Seit 1990 Referentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in kulturhistorischen Ausstellungen mit Schwerpunkt Vergleichende Gesellschaftsgeschichte. Veröffentlichungen und Vorträge zu den Themen Migration, Inklusion, Integration und Historisches Lernen. Franziska Wegener, M.A., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Exzellenzclusters Bild Wissen Gestaltung der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie studierte im Bachelor Europäische Ethnologie, Deutsche Literatur und Filmwissenschaften in Berlin und Istanbul. Ihren Master der Europäischen Ethnologie schloss sie 2015 an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. In ihrer Abschlussarbeit Kolonialgeschichte hörbar machen beschäftigte sie sich mit der Geschichtsdarstellung im Deutschen Historischen Museum und dem Medium Audioguide als außerinstitutionelles Interventionsformat. Gernot Wolfram, Prof. Dr. phil., ist Professor für Medien- und Kulturmanagement an der Macromedia Hochschule Berlin. Er hat zahlreiche Lehraufträge zu transkultureller Bildung, Kulturmanagement und (Medien-)Kulturvermittlung u.a. an der Universität Basel, Fachhochschule Kufstein und der Bundeszentrale für Politische Bildung in Berlin. 2014 gründete er mit Künstlern und Wissenschaftlern das Forschungsprojekt The Moving Network (www.the-moving-network.de), das kulturelle Multiplikatoren beschreibt und identifiziert. Zahlreiche Publikationen zur Transkultur im Kulturmanagement und den Kulturwissenschaften.
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Kulturmanagement Patrick S. Föhl, Patrick Glogner-Pilz
Kulturmanagement als Wissenschaft Grundlagen — Entwicklungen — Perspektiven. Einführung für Studium und Praxis März 2017, 174 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-1164-9 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-1164-3
Birgit Mandel (Hg.)
Teilhabeorientierte Kulturvermittlung Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens 2016, 288 S., kart. 27,99 E (DE), 978-3-8376-3561-4 E-Book PDF: 24,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3561-8
Oliver Scheytt, Simone Raskob, Gabriele Willems (Hg.)
Die Kulturimmobilie Planen — Bauen — Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte 2016, 384 S., kart., zahlr. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-2981-1 E-Book PDF: 29,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2981-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturmanagement Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.)
Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld 2016, 440 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3453-2 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3453-6
Björn Lampe, Kathleen Ziemann, Angela Ullrich (Hg.)
Praxishandbuch Online-Fundraising Wie man im Internet und mit Social Media erfolgreich Spenden sammelt 2015, 188 S., kart., farb. Abb. 9,99 E (DE), 978-3-8376-3310-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3310-2 EPUB: ISBN 978-3-7328-3310-8
Steffen Höhne, Martin Tröndle (Hg.)
Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 2, Heft 2 2016, 190 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3568-3 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3568-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de