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German Pages 380 [381] Year 2020
Felix Schwarz
Kulturanthropologie in pragmatischer Hinsicht Ernst Cassirers Philosophie des Menschen und die Naturfrage
Meiner
CASSIRER-FORSCHUNGEN
CASSIRER-FORSCHUNGEN
Band 21
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Felix Schwarz
Kulturanthropologie in pragmatischer Hinsicht Ernst Cassirers Philosophie des Menschen und die Naturfrage
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3636-4 ISBN eBook 978-3-7873-3637-1 Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Philosophische Anthropologie zwischen Praxis und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgangspunkt und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Natur und Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §1 Von der Anthropologie zum Substanzproblem . . . . . . . 1.1 Kleine Archäologie des substanzkritischen Funktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Der Cartesische Sein-Denken-Dualismus und seine Überwindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §3 Cassirers Leibniz-Rezeption im Kontext der ‚Marburger Schule‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §4 ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ als Kategorien und als Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Cassirers Theorie der Begriffsbildung. Das vielschichtige Verhältnis von Substanzbegriff und Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §5 Vom Erkenntnisproblem zur Wissenschaftstheorie. Die Substanz in unerwarteter Funktion . . . . . . . . . . . . §6 Dingbegriffe und Relationsbegriffe oder Die Freiheit der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Zwei Richtungen des Wissens, zwei Rollen der Substanz §7 Zwischen Geltung und Genese: Naturwissenschaft im Doppelaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §8 Eins und doppelt – die chemische Begriffsbildung . . . . §9 Wissensentwicklung in Arbeitsteilung. Cassirers Adaption eines Natorp’schen Theorems . . . . . . . . . . .
... ...
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Kapitel 2: Auf dem Weg zu einer Erkenntnis des Lebendigen . . . . . . § 10 Wohin mit der Biologie? Der Ort des Lebens zwischen Natur- und Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13 19
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6
§ 11 § 12 § 13
Inhalt
Naturleben, mit ‚Geistesaugen‘ gesehen: Goethes nichtmathematische Naturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Cassirers Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft. Die Natur der Klassenbegriffe. Kunst und Technik der Naturerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Das Problem Schelling. Romantische Naturphilosophie zwischen Ästhetizismus und Mythologie . . . . . . . . . . . . . . 141
Kapitel 3: Die Symbolik der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ansatz und systematische Anlage der Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Kultur ‚statt‘ Natur? Zum Verschwinden naturtheoretischer Fragestellungen aus Cassirers Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15 Die Hinwendung zur Sinnlichkeit: Semiotik des Ausdrucks und symbolische Reflexion . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Natürlichkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 16 Leibliches und lautliches Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . § 17 Sprachliche Repräsentation und Teilhabe an Welt . . . . § 18 „unvergleichlich viel weiter und reicher“: Wie natürlich ist die Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Lebendigkeit des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 19 Cassirers kritische Mythosphilosophie . . . . . . . . . . . . . § 20 Mythos und Substanzdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21 An den Grenzen der Reflexion: Ausdrucksverstehen und ‚Logik des Lebens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Kultivierung unserer Wahrnehmung . . . . . . . . . . . § 22 ‚Du‘-Begriff und ‚Es‘-Begriff der Natur . . . . . . . . . . . . § 23 Die Distanzierung der Natur und der Aufstieg des Selbst: Technik, Kunst und Sprache in produktiver Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 4: Die Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Cassirers Begriff des lebendigen Individuums . . . . . . . § 24 Die Existenz des Einzelnen in der Kultur . . . . . . . . . . § 25 Mit Leib und Seele: Das Dasein des Menschen im kulturellen Selbstbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 26 Cassirers Philosophie der Renaissance: Das Aufbrechen der Freiheitsantinomie und ein Vorschlag zu ihrer Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 151 . . . 151 . . . 151 . . . .
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163 176 176 184
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190 196 196 203
. . . 210 . . . 221 . . . 221 . . . 225
. . . . 235 . . . . 235 . . . . 235 . . . . 240 . . . . 252
Inhalt
4.2 § 27 § 28 § 29
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Zur Naturstellung des Menschen . . . . . . . . . Cassirer, die Natur und der Naturalismus . . Zur Biologie des animal symbolicum . . . . . . Grenzen der Cassirer’schen Naturphilosophie
.... .... .... ...
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Rondo und Schluss: Kultur als Medium humaner Selbstbestimmung
. . . .
268 268 280 296 313
Anhang A: Naturphilosophie. – Philosophische Grundprobleme der Naturerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Anhang B: Das Problem von Leib und Seele
. . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Anhang C: Der »Anthropomorphismus« in der Philosophie Literaturverzeichnis
. . . . . 361
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Vorwort
Die vorliegende Arbeit versteht sich in erster Linie als Beitrag zur Cassirer-Interpretation. In ihrem anfänglichen Impuls geht sie auf Vorstudien zum Leib-Seele-Problem zurück, zu welchem Cassirers Philosophie der symbolischen Formen die oft zitierte, aber selten ganz ernst genommene Formel beigesteuert hat, das psychophysische Verhältnis stelle „das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar“ 1. Der enge Zusammenhang, den Cassirer damit zwischen der natürlichen Existenzform des Menschen als ursprünglicher Totalität aus ‚Psychischem‘ und ‚Physischem‘ und gleich zwei Schlüsselbegriffen seiner Kulturphilosophie behauptet – dem Begriff des „Symbolischen“ und dem der „Relation“ –: Dieser Zusammenhang war für mich immer von größtem systematischen Interesse, das in gelegentlichen Seitenblicken der Forschung auf ein vermeintliches Aperçu nicht zu befriedigen war. So erschien es mir umgekehrt plausibler, jenes Theorem als einen Dreh- und Angelpunkt der ganzen Philosophie der symbolischen Formen zu begreifen, sachlich nicht minder bedeutsam als etwa das ungleich prominenter gewordene Kapitel zur „symbolischen Prägnanz“, dessen ästhetisch-wahrnehmungstheoretische Orientierung es durch einen anthropologisch-gegenständlichen Selbstbegriff des Menschen als Leibwesen in fruchtbarer Weise zu ergänzen versprach. Indem ich den dadurch vorgezeichneten Weg einer ‚existentiellen‘ Cassirer-Interpretation hier erstmals in Teilen zu konkretisieren versuche, begebe ich mich auf ein eher unwegsames Terrain des Cassirer’schen Denkens: Denn die Rolle, die in diesem Denken der Natur zukommt, ist einerseits so offen ambivalent, andererseits mit Blick auf die Gründe für diese Ambivalenz noch so weitgehend ungeklärt, dass es für einen Zugang wie meinen, der in anthropologischer Fokussierung unsere Leiblichkeit ins Zentrum rückt, unumgänglich wurde, die bislang wenig beachtete naturphilosophische Dimension der Cassirer’schen Anthropologie einmal ganz grundsätzlich auszuloten. Während ich mich bemüht habe, überall dort, wo die allgemeine Zielsetzung es zuließ, an aktuelle Debatten der Cassirer-Forschung anzuknüpfen, so betrete ich mit dem Weg, den meine Studie einschlägt, fast völliges Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (im Folgenden PhsF), Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis, in: Werke („Hamburger Ausgabe“, im Folgenden ECW), Bd. 13, S. 113. 1
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Vorwort
Neuland, und bin daher auch auf Widerspruch gefasst. Im Ganzen leitet die Untersuchung nämlich der Gedanke, dass schon Cassirers grundlegendes Methodenpostulat vom Primat des Funktions- vor dem Substanzbegriff im Kern der Sache auf eine rein praktische Forderung hinausläuft; dass diese Forderung als solche und bei allem Nachdruck, mit dem Cassirer sie völlig zu Recht im Praktischen vertritt, im Theoretischen nichtsdestoweniger Platz lässt für eine Würdigung von Inhalten und sogar ganzen Sinnsphären mit ‚quasi-substantieller‘ Bedeutung – und dass es womöglich gerade diese Gegenden des Cassirer’schen Denkens sein könnten, in denen eine systematische Interpretation auch die oft vermissten Aspekte unserer Natürlichkeit, insbesondere die Leiblichkeit des Menschen in seiner Anthropologie aufsuchen müsste, deren merkwürdige Ausblendung in vielen von Cassirers eigenen Formulierungen insofern als eine schwer, aber doch nicht völlig unvermeidliche Nebenwirkung eines sehr kantianischen „Primats des Praktischen“ zu begreifen wäre. Dieser komplexe Gedanke ist, soweit ich sehe, in der Forschung bisher nur einmal – und zwar von Ernst Wolfgang Orth – in einem hellsichtigen Aufsatz angedeutet und danach kaum weiterverfolgt worden. 2 In der Tat spricht ja auch prima facie alles dafür, Cassirers substanzkritischen Funktionalismus zu einem der Grundpfeiler zu machen, auf dem sich eine stabile Rekonstruktion seines Denkens aufbauen lässt; und so möchte ich, um Missverständnissen vorzubeugen, von vornherein klarstellen, dass mir nicht im Geringsten daran gelegen ist, dieses Theorem überhaupt infrage zu stellen und damit eine für seine systematische Philosophie und ihr Ernst Wolfgang Orth: „Ist der Neukantianer Ernst Cassirer ein Nominalist? Verlegenheiten der Substanzkritik“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (Studien und Materialien zum Neukantianismus 8). Würzburg 2004. S. 148–161, S. 160: „Gerade an dem dem Menschen traditionell angehängten sogenannten Leib-Seele-Problem manifestiert sich die Bedeutungsstruktur des Menschen [. . . ] Zu dieser Bedeutung gehört ursprünglich, daß ein Substrat Sinn verlangt und Sinn sich am Substrat manifestieren muß. [. . . ] Hier liegen auch die Motive dafür, warum Cassirer 1923 den »modernen« Lebensbegriff positiv in seine Konzeption einführt [. . . ] Was es ihm ermöglicht, den Nominalismus zu unterlaufen, ist der Bezug auf das »Urphänomen« des Lebens, an welchem er so etwas wie den »lebendigen Geist« glaubt erfassen zu können. Zwar wird das geistige Leben ausdrücklich nicht mehr in den ontologischen Modellen der alten Substanzmetaphysik bestimmt, aber es hat für Cassirer eine »sozusagen« substantielle Bedeutung[.]“ –Im Ganzen scheint sich die Forschung seither mehr und mehr der Ansicht zugeneigt zu haben, dass Cassirers Philosophie den Schritt ‚von der Substanz zur Funktion‘ nicht bloß konsequent, sondern auch in jeder Hinsicht vollzogen habe, womit sie freilich, wie Orth schon ganz richtig gesehen hat, auf eine moderne Spielart des „Nominalismus“ hinauslaufen würde, mit höchst unbefriedigenden Konsequenzen für die Anthropologie. 2
Vorwort
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Verständnis in der Tat unentbehrliche Säule einzureißen; vielmehr will ich versuchen, ob diese Säule ihre ganze Tragkraft nicht auch dann behalten kann, wenn man durch eine schärfere Fassung ihres Fundaments (das eben nach meiner Überzeugung seinen eigentlichen Ort im Praktischen hat) gleichsam ihren Durchmesser ein wenig schmaler macht: In diesem Sinne ist es durchaus nicht Cassirers Funktionalismus, den ich infrage stelle, sondern nur der weit verbreitete Grundsatz, nach dem auch die einzelnen theoretischen Aspekte seiner Kulturphilosophie selbstverständlich funktional zu deuten wären; und zwar immer in der Hoffnung, auf diesem Wege eventuell auftauchende substantielle Aussagen Cassirers schließlich zu einem differenzierteren Bild seiner Anthropologie wieder zusammenfügen zu können. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, und der bekommt in der Wissenschaft niemals etwas Neues heraus: Nur darum bitte ich den Leser, dass er auch einen unorthodoxen Vorschlag wie den hier unterbreiteten fair behandeln, d.h. im Lichte der vorgebrachten Gründe und Belege sachlich prüfen möge, bevor er seine Schlüsse zieht. Wie sehr gerade Orth’sche Fragestellungen die Entwicklung meiner eigenen Auffassung von Cassirers Philosophie mitbestimmt haben, ist mir erst spät im Verlauf der Ausarbeitung klar geworden. Es ist vor allem dem Bewusstsein dieses Einflusses geschuldet, wenn ich schließlich in der Wahl des Titels doch wieder auf meine ursprüngliche Idee zurückgekommen bin, Cassirers Ansatz im Ganzen als „Kulturanthropologie“ zu charakterisieren. Wie bei Orth und anderen 3 ist aber der Begriff dabei nur als abkürzende Redeweise für eine philosophische Anthropologie als Kulturphilosophie zu verstehen und insbesondere nicht mit der empirischen Forschungsrichtung zu verwechseln, die, inhaltlich weitgehend mit der Ethnologie deckungsgleich, zu diesem Namen erst durch die Übertragung des amerikanischen cultural anthropology ins Deutsche gekommen ist. Ebenso sei mit Blick auf den zweiten Bestandteil des Titels angemerkt, dass damit weniger auf den „Pragmatismus“ im heutigen Sprachgebrauch angespielt wird – sei es in der alltäglichen Nuance einer auf Effizienz bedachten Handlungsorientierung, sei es als Name der philosophischen Vgl. ders.: „Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 191–224, S. 191 f., 212, 224. – Diese Verwendungsweise des Begriffs scheint vor allem auf Erich Rothacker zurückzugehen, der mit diesem „Doppeltitel“ die doppelte Forderung verbindet, dass „die Philosophische Anthropologie auch das Wesen der menschlichen Kultur aufzuklären habe“, während zugleich – und „fast noch dringlicher“ – auch „das Feld der Anthropologie selbst durch methodische Einbeziehung der kulturellen Leistungen des Menschen in den anthropologischen Aspekt“ zu „erweitern“ sei. Vgl. Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. 4. Aufl. Bonn 1988, S. 7. 3
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Vorwort
Schulrichtung –, sondern auf Kants fast gleichnamige Schrift zur „Menschenkenntnis“: Nichts anderes soll diese Anspielung zunächst besagen, als dass ich Cassirer, wie in der Einleitung näher ausgeführt, mit anthropologischem Fokus als Kantianer untersuche, ohne ihn deshalb im Einzelnen an Kategorien zu messen, die in einer Kant-Studie besser aufgehoben wären. Zum Schluss ein paar formale Bemerkungen. Der Versuch, die Option einer ‚existentiellen‘ Auslegung für das Ganze der Cassirer’schen Philosophie zu etablieren, obwohl dieser Aspekt für den behandelten Autor selbst in den meisten Zusammenhängen nicht im Vordergrund stand, machte einen noch über das in Interpretationen immer geforderte Maß hinaus differenzierten Umgang mit den Texten erforderlich. So war es häufig nötig, gegenüber Cassirers ursprünglicher Argumentationstendenz gewisse Akzentverschiebungen vorzunehmen, die aber den Sinn des tatsächlich Gesagten unter keinen Umständen verzerren durften. Ich habe mich deshalb dazu entschieden, in Zitaten die ursprünglichen Hervorhebungen Cassirers durch Sperrdruck wiederzugeben, wie er auch in der Hamburger Werkausgabe und der Nachlassedition verwendet wird, um meine eigenen, kursiv gehaltenen Hervorhebungen davon durchgängig unterscheidbar zu halten. Ferner wird, einer mittlerweile häufig beachteten Konvention entsprechend, Cassirers dreibändiges Hauptwerk zur Philosophie der symbolischen Formen durch Kursivschreibung von dem gleichnamigen Forschungsprojekt einer Philosophie der symbolischen Formen abgegrenzt, dem neben dem Hauptwerk noch eine ganze Reihe weiterer veröffentlichter und nachgelassener Texte zuzurechnen sind. Mein aufrichtiger Dank gilt der Universität Hamburg für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, das mir den Freiraum zu konzentrierter Arbeit ermöglicht hat; meinen Betreuern Birgit Recki und Christian Möckel für manchen passgenauen Rat; der von Martina Plümacher an der TU Berlin ins Leben gerufenen Cassirer-Arbeitsgruppe für viele anregende Diskussionen; Rainer Schulzer für das spannende interkontinentale Mikrokolloquium zur Kritik der Urteilskraft und – das Wichtigste zuletzt – meiner Familie für ihre liebevolle Unterstützung, wertvolle Impulse und schier endlose Geduld. Hamburg/Berlin, im Frühjahr 2016
Einleitung
1. Philosophische Anthropologie zwischen Praxis und Physiologie Als Immmanuel Kant zwischen 1796 und 1797 die wichtigsten Inhalte seiner jährlich gehaltenen Vorlesungen über Anthropologie in einer populären Schrift zusammenfasste, entschied er sich dazu, mit der methodischen Zweiteilung zu beginnen, die sich unmittelbar im Titel des Buches niederschlug: „Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll. – Wer den Naturursachen nachgrübelt, worauf z.B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und her . . . vernünfteln; muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht, mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist. – Wenn er aber die Wahrnehmungen über das, was dem Gedächtniß hinderlich oder beförderlich befunden worden, dazu benutzt, um es zu erweitern oder gewandt zu machen, und hiezu die Kenntniß des Menschen braucht, so würde dieses einen Theil der Anthropologie in pragmatischer Absicht ausmachen, und das ist eben die, mit welcher wir uns hier beschäftigen.“ 1
Auch wenn es den Zweck der Verständlichmachung erfüllt: Das Beispiel, das Kant zur Veranschaulichung seiner Unterscheidung wählt, wirkt heute – wie vieles in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht – nicht mehr zeitgemäß. Es dürfte gegenwärtig kaum noch Anthropologen geben, die sich dem kantischen Urteil über die völlige Nutzlosigkeit alles „hin Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (im Folgenden zit. als ApH), S. 119. 1
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Einleitung
und her Vernünftelns“ über unsere „Gehirnnerven und Fasern“ ohne Vorbehalte anschließen würden. Im Gegenteil hat sich ja mit dem jüngsten Aufstieg der Neurowissenschaften eher die Ansicht verbreitet, die Erforschung unseres neuronalen Funktionsapparats liefere einen Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Geistes, ja des Menschen überhaupt, und müsse deshalb als eines der Hauptziele unserer wissenschaftlichen Selbsterkenntnis gelten. Selbst das im 18. Jahrhundert noch ganz unkontroverse Argument, dass wir in diesen Fragen auf die Rolle eines passiven „Zuschauer[s]“ festgelegt wären, der „die Natur machen lassen muß“, ist durch die (in Einzelfällen schon realisierte) Aussicht auf kontrollierte Manipulationen jenes Apparats mittels Implantaten und chirurgischen Eingriffen inzwischen weitgehend hinfällig geworden. So scheinen die erheblich geänderten Bedingungen der empirischen Forschung heute eine gewisse Distanz zu Kants besonderen Exempeln zu gebieten. Das heißt freilich nicht, dass damit auch die allgemeine begriffliche Unterscheidung obsolet wäre, die er seiner Untersuchung voranstellt. Ich meine vielmehr, dass diese Unterscheidung uns durchaus auch heute noch von Nutzen sein kann, um mit ihrer Hilfe das Verhältnis zwischen empirisch-naturwissenschaftlicher und eben philosophischer Anthropologie auf den Begriff zu bringen. Nach allen Erkenntnissen, die die diversen direkt oder indirekt mit dem Menschen befassten Disziplinen der Naturwissenschaft in den zwei Jahrhunderten seit Kant zusammengetragen haben, unterliegt es ja gar keinem vernünftigen Zweifel mehr: Wir Menschen sind Naturwesen unter Naturwesen und als solche für unser „physiologisch“-naturwissenschaftliches Weltwissen ein Gegenstand wie jeder andere. Weder die Eigenschaft, überhaupt ein solcher Gegenstand zu sein oder sein zu können, noch die Prinzipien, nach denen seine Untersuchung vorangetrieben wird, ist geeignet, die Behauptung einer ‚spezifischen Differenz‘ des Menschen zu stützen. Denn auch dort, wo der Mensch den Status eines besonderen Untersuchungsgegenstands zugesprochen bekommt, der unter Umständen eigene Forschungszweige begründet wie die evolutionäre Anthropologie oder eben die Neurowissenschaften, gelten wir doch in aller Spezifik nicht als etwas schlechthin Besonderes; vielmehr ist es gerade der prinzipielle Zusammenhang und die jederzeitige Vergleichsmöglichkeit mit unseren Vorfahren, näher und entfernter verwandten Spezies, anderen Zerebralen usw., der uns erst eigentlich zu einem Gegenstand naturwissenschaftlichen Wissens qualifiziert. Etwas Besonderes und in der Natur, so weit wir sie kennen, etwas ganz Unvergleichliches ist hingegen die Tatsache, dass wir selbst es sind, die uns zum Thema machen – dass die „Kenntnis des Menschen“ nicht nur einen
Philosophische Anthropologie zwischen Praxis und Physiologie
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genetivus obiectivus, sondern auch subiectivus anzeigt, weil wir, und offenbar (aus der Perspektive der Naturkontinuität eine Ungeheuerlichkeit) nur wir überhaupt zu derjenigen systematischen Erkenntnis und Selbsterkenntnis imstande sind, die wir wissenschaftlich nennen. An dieser grundlegenden Tatsache lässt sich nun genau solange vorbeisehen, wie wir an einzelnen Teilaspekten des Menschen interessiert sind, deren Erforschung sich um jene Merkwürdigkeit nicht zu bekümmern braucht; umgekehrt kommen wir aber dort, wo uns an einem Begriff des ganzen Menschen gelegen ist, nicht umhin, uns zusätzlich zur (nicht umsonst so genannten) ‚einzelwissenschaftlichen‘ Perspektive noch in irgendeiner Weise als Wesen zu begreifen, die wie mit der Natur im Ganzen, so auch mit dem, was wir selber von Natur immer schon sind, handelnd umgehen und, als Sonderform dieses Handelns, Erkenntnisleistungen erbringen. Während also die „physiologische“ Untersuchung des Menschen (wie die der Natur überhaupt) von der ständig fortschreitenden Spezialisierung der Einzelwissenschaften nur profitieren kann, erweist sich dieser andere, auf das auch allen diesen Wissenschaften letztlich zugrunde liegende Handeln bezogene Aspekt immer deutlicher als gerade dasjenige Mehr, das zur von jenen erarbeiteten Summe der Teile noch hinzukommen muss, um einen integralen Begriff des Menschen zu erhalten; und so muss es offenbar auch diese zweite, „pragmatische Hinsicht“ sein, die neben dem physiologisch-spezialistischen auch dem Einheitsaspekt einer „philosophischen Anthropologie“ noch einen eigenständigen Sinn und Legitimität verleiht. Wer sich diesen Zusammenhang klar macht, wird anerkennen, dass in letzter Instanz jede philosophische Anthropologie, eben als philosophische, primär durch ihre jeweilige „pragmatische Hinsicht“, d.h. durch ihre impliziten oder expliziten Bezüge auf ethische, normative, handlungstheoretische Motive charakterisiert sein muss. Damit ist nun aber gerade nicht gesagt, dass eine Anthropologie, die mit Kant die Frage nach dem, was der Mensch aus sich selber macht, für die einem philosophischen Zugang angemessenere, umfassendere, in gewissem Sinne wohl auch ‚wesentlichere‘ hält als die andere, was die Natur aus dem Menschen macht, allein darum schon der Fragen nach der menschlichen Physis überhoben wäre. Weil vielmehr gerade eine anthropologische Perspektive überall der lebensweltlichen Grunderfahrung gerecht werden muss, dass jede menschliche Praxis, selbst noch die reingeistigste, sich in irgendeiner Weise leiblich realisieren, als Auseinandersetzung mit immer auch körperlichen Umständen verlaufen und am Ende wieder in Physischem resultieren muss, so muss umgekehrt jede Geringschätzung des Physischen und Physiologischen in diesem Kontext als Ignoranz gegenüber dem Menschen selber gelten und, als ein Selbstmissverständnis, auf den Anthropologen zurückfallen.
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Einleitung
Es handelt sich hierbei um eine Einsicht, die man – entgegen einem geläufigen Vorurteil – schon bei Kant exemplarisch studieren kann 2; und wie immer sie sich im Einzelnen zur kantischen Lehre positioniert haben, sind nahezu alle späteren Vertreter der philosophischen Anthropologie ihm hierin gefolgt. Nur das Werk Ernst Cassirers scheint eine Ausnahme von dieser Regel zu bilden, indem Cassirer, immerhin einer der bedeutendsten Kantianer des zwanzigsten Jahrhunderts, die alte Frage nach der ‚menschlichen Natur‘ scheinbar so konsequent in eine kulturphilosophische Frage transformiert hat, dass man „physiologische“ Betrachtungen bei ihm fast gar nicht mehr findet. Unverkennbar hingegen, dass seine in Gestalt einer universellen Kulturphilosophie auftretende philosophische Anthropologie der „pragmatischen Hinsicht“ der Disziplin treu geblieben ist: 3 Schon der Sinn seines zentralen Ansatzes bei der Kultur ist kaum angemessen zu verstehen, solange man nicht die grundlegende ethische Orientierung dieses Philosophierens in Rechnung stellt. 4 Der Kulturbegriff im Kollektivsingular, wie Cassirer ihn als Inbegriff für die vielfältigen Praxisformen menschlichen Weltumgangs konzipiert, ist immer schon auf ein Selbstverständnis des Menschen als eines „freihandelnden Wesens“ abgestimmt und deshalb umfassend auf einen Begriff der Freiheit bezogen, wenn auch nicht einfach mit ihm identisch. 5 Sein Versuch, den Man braucht nur die Liste der in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht untersuchten Themen durchzugehen – von der „Apologie für die Sinnlichkeit“ über ausgedehnte Diskussionen des menschlichen Empfindungs- und Affektlebens bis zu den unter dem Titel „Von dem höchsten moralisch-physischen Gut“ (!) zusammengestellten Ratschlägen für ein gelungenes Gastmahl (vgl. ApH 143 ff., 168 ff., 203 ff., 243 ff.) –, um zu sehen, wie diese Lehre vom Menschen ihrer „pragmatischen Hinsicht“ nur in der ständigen Rücksicht aufs Physiologische gerecht werden kann. 3 Ein sehr interessanter Versuch, Cassirers Ansatz aus dem direkten Abgleich mit Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu verstehen, findet sich jetzt bei Pierre Keller: „Cassirer’s Retrieval of Kant’s Copernican Revolution in Semiotics“. In: J. Tyler Friedman / Sebastian Luft (Hg.): The Philosophy of Ernst Cassirer. A Novel Assessment. Berlin/Boston. 2015. S. 259–288. 4 Vgl. Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004, S. 164. 5 Anlässlich eines Vortrags im Londoner Warburghaus unter dem Titel „Critical Idealism as a Philosophy of Culture“ kann Cassirer 1936 einerseits fordern, dass Kultur „must be defined in terms of freedom . . . in an ethical sense“, während er andererseits die konkrete Beziehung zwischen Kultur- und Freiheitsbegriff als „a very complicated one“ ansieht und insbesondere feststellt, dass beide Begriffe nicht aufeinander zu reduzieren seien. (Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Berlin/Leipzig 1995-?, im Folgenden zitiert als ‚ECN‘, Bd. 7, S. 112.) In der vielzitierten Schlusspassage des Essay on Man (1944) artikuliert Cassirer das Verhältnis von Kultur und Freiheit dann besonderes klar: „Human culture taken as a whole may be described as the process of man’s progressive self-liberation. . . . In all [phases of this process] man discovers and proves 2
Philosophische Anthropologie zwischen Praxis und Physiologie
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Menschen primär als Kulturwesen auszuzeichnen, lässt sich insofern von Anfang an wie eine inhaltliche Zuspitzung des kantischen Postulats lesen, dass die philosophische Anthropologie es mit dem Menschen als einem intrinsisch auf Freiheit angelegten Lebewesen zu tun habe. Alle unsere ‚Kulturalität‘ ist für Cassirer zuletzt tatsächlich nichts anderes als der notwendige Ausdruck dieses spezifischen Charakters des menschlichen Lebens: sofern sich nämlich die Bedingungen der Freiheit nach seiner Einsicht nur im Aufbau der kulturellen Formen faktisch realisieren können und deshalb auch immer nur aus diesem Aufbau theoretisch rekonstruieren lassen. Mit dieser Zuspitzung wiederholt und verschärft sich aber in Cassirers Begriff der Kultur auch jene methodisch irritierende Unschärfe zwischen Sein und Sollen, Wirklichkeit, Möglichkeit und Anspruch des Menschen, die sich in nuce schon in Kants ungewohnt mehrdeutiger Explikation dessen erkennen lässt, was die „pragmatische Hinsicht“ einer Anthropologie eigentlich ausmache: Indem bei Cassirer Kultur im grundlegenden Sinn zum theoretisch-praktischen Oberbegriff für alles menschliche „Tun“ avanciert 6, wird sie zur schillerndsten Sammlung all dessen, was der Mensch „aus sich selber macht, oder machen kann und – soll“. Mit Blick auf die normative Aufladung eines solchen anthropologischen ‚Kulturalismus‘ kann gar nicht oft genug betont werden, worum es offenbar von vornherein nicht gehen kann: Es geht Cassirer nicht um die ontologisierende Auszeichnung eines eigenen Weltbereichs ‚Kultur‘, der dann für sich allein (und zwar, gemäß einem verbreiteten Verständnis, anstelle der Natur) als Definitionsgrundlage des ‚ganzen‘ Menschen präpariert werden sollte – eine dualistische Sichtweise, die angesichts der Tragweite kultureller Einwirkung auf das, was wir als ‚Natürliches‘ anzusprechen gewohnt sind, und angesichts der Natürlichkeit, mit der der ‚kulturelle Weg‘ von Menschen immer und überall eingeschlagen wird, ohnehin höchst fragwürdig und im Falle Cassirers ganz sicher fehl am Platz ist. Dass ein solcher Dualismus der Welten von ihm jedenfalls nicht intendiert ist, bedeutet zwar andererseits auch wieder nicht, dass die Vorstellung von einer besonderen ‚Sphäre des Menschen‘, wie sie nun einmal in fast jeder Rede von ‚Kultur‘ und ‚Kulturalität‘ in der einen oder anderen Form mitschwingt, bei Cassirer überhaupt jeden vernünftigen Sinn verlieren würde – das Verhältnis des kulturellen Selbstbewusstseins zu jener a new power – the power to build up a world of his own, an ›ideal‹ world.“ (Ernst Cassirer, An Essay on Man, in: Gesammelte Werke, „Hamburger Ausgabe“, Hamburg 1998–2009, im Folgenden zitiert als ‚ECW‘, Bd. 23, S. 244.) 6 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen ( im Folgenden zitiert als ‚PhsF‘), Bd. 1: Zur Phänomenologie der sprachlichen Form, ECW 11, S. 9.
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Einleitung
Vorstellung (und zugleich zu ihrem Komplement, der ‚Natürlichkeit‘) wird vielmehr gerade für den späten Cassirer zu einem wichtigen Thema. Entscheidend für die Präferenz des Kulturbegriffs ist aber zunächst etwas anderes: dass nämlich für Cassirer eine solche Vorstellungsart, wenn sie denn relativ berechtigt sein soll, immer nur in zweiter Linie und im Ausgang von dem grundlegenden Motiv in Betracht kommen kann, dass das, was unser Wesen und die Struktur unserer Welt in den entscheidenden Punkten bestimmt, in letzter Instanz gar keine ‚Welt‘, kein ‚Sein‘ und kein ‚Gegebenes‘, sondern immer nur das vielgestaltige, uns erst an unseren kulturellen Produkten überhaupt fasslich werdende „Tun“ des Menschen selber ist; ein Tun, das bei Cassirer so umfassend verstanden ist, dass es mit den spezifisch-geistigen Tätigkeiten auch alles Unterscheidungsvermögen des Menschen umfasst, und so insbesondere auch jede Differenzierung zwischen ‚Natürlichem‘ und ‚Kulturellem‘ allererst ermöglicht. Wie es daher einerseits ein bloßes Vorurteil ist, wenn über Cassirer immer noch gelegentlich behauptet wird, seine gleichermaßen am Kulturwie (heute noch verdächtiger) am Geistbegriff orientierte Philosophie habe es mit der Behauptung einer artifiziellen ‚Überwelt‘ oder irgendetwas Geistig-Abgehobenem zu tun, so muss auch die damit zusammenhängende Ansicht in die Irre führen, diese Philosophie habe uns über die Natur als deren vermeintlichen ‚Unterbau‘ aus systematischen Gründen nichts weiter zu sagen. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass Cassirer selbst derartigen Missverständnissen Vorschub leistet, indem er Fragen nach der menschlichen Physis, nach unserer Verwurzelung im Ganzen der Natur qua Leiblichkeit fast immer unter Vorbehalt, in systematischem Maßstab spät und überhaupt auffallend ungern adressiert. Im Laufe seiner Denkentwicklung artikuliert Cassirer nicht nur immer deutlicher seine Skepsis in der Frage einer naturwissenschaftlichen oder naturphilosophischen Bestimmbarkeit des Menschen, sondern es kommt dadurch auch zu einer für seinen Ansatz insgesamt sehr unvorteilhaften Rückwirkung: dass nämlich mit der Natur des Menschen auch die Natur überhaupt in ihren lebendigen, beseelten, die ‚Geistigkeit‘ des Menschen vielleicht schon in bestimmten Formen ‚vorbereitenden‘ Entwicklungen in seiner Philosophie der Kultur eigenartig unterbestimmt bleibt. Es scheint mir nur wichtig, von vornherein festzuhalten, dass eine solche Entwicklung weder pauschal durch den Verweis auf Kant erklärbar, noch etwa durch das besondere Profil von Cassirers Kantianismus vorgezeichnet ist. Im Gegenteil: Im Kreise der ‚Marburger Schule‘ des Neukantianismus beginnt Cassirer seine philosophische Laufbahn ausgerechnet als Theoretiker der Naturwissenschaften, der zwar von Anfang
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an auch ein ausgeprägtes Interesse für die Probleme des Geistes durchblicken lässt, aber auch darin noch (nicht zuletzt dank einer besonderen Affinität zu Goethe) die Einheit von ‚Geist‘ und ‚Natur‘ jederzeit im Blick behält. Sein Hauptwerk, die zwischen 1923 und 1929 erscheinende Philosophie der symbolischen Formen, verdankt wesentliche Impulse der Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft, die Cassirer nicht etwa ‚nur‘ als einen Beitrag zur Ästhetik interpretiert, sondern wiederum dezidiert unter dem Gesichtspunkt der Einheit von ästhetischem und naturteleologischem Aspekt liest; dazu kommen noch gewichtige Einflüsse aus Auseinandersetzungen mit der modernen Physik (Relativitätstheorie und Quantenmechanik), der Gestaltpsychologie, der klinischen Neuropathologie, Tierpsychologie, vergleichenden Verhaltensforschung und noch einer Reihe weiterer Gebiete der Naturerkenntnis. Gerade diese vielfachen und vielseitigen ‚externen‘ Bezüge auf Theorien der Natur sind es aber, die Cassirers weitgehenden Verzicht auf eine systematische Ausarbeitung des ‚Natursubstrats‘ seiner eigenen Philosophie vorerst zu einem Rätsel machen – einem Rätsel, von dem zu erwarten ist, dass nur ein Blick auf das Ganze seines Denkwegs ein wenig Licht ins Dunkel bringen kann. 2. Ausgangspunkt und Aufbau der Untersuchung Das ambivalente Verhältnis Cassirers zur Frage unserer Natürlichkeit liefert nicht nur den Stoff zu anhaltenden Debatten um seine Zugehörigkeit zur Gruppe der klassischen ‚philosophischen Anthropologen‘ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, 7 sondern führt auch auf das allgemein-systematische Problem, inwieweit ein ‚kulturalistischer‘ Ansatz nach Art des Cassirer’schen überhaupt als ausreichende Grundlage für eine anthropologische Besinnung auf unser Dasein und unsere Rolle in der Welt gelten kann. Im Falle Cassirers jedenfalls scheint skeptischeren Interpreten zufolge der Mensch völlig in dem aufzugehen, was er „aus sich selber macht“ – und damit jede existenzielle Bodenhaftung in Naturverhältnissen zu verlieren. Durch und durch Kulturwesen, scheint Cassirers animal symbolicum nicht nur, wie es etwa Gerald Hartung prägnant formuliert Neuere Diskussionsbeiträge umfassen etwa Gerald Hartung: Das Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers. Weilerswist 2003; John Michael Krois: „Philosophical Anthropology before and after Ernst Cassirer“. In: European Review 13 (2005), H. 04. S. 557ff.; Christian Möckel: „Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten. Zur philosophischen Anthropologie Ernst Cassirers“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2009), H. 2. S. 209–220. 7
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hat, „kaum etwas von dem animal in sich“ 8 zu wissen, sondern einer besonderen Kenntnis der eigenen „Naturseite“ 9 sogar nicht einmal zu bedürfen, um in der Entwicklung und Entfaltung seiner Symboltätigkeit dennoch seinen wesentlichen Lebenszwecken nachzugehen. Nach dieser Lesart möchte Cassirers Ansatz immerhin einen Ausweg aus gewissen „Aporien der philosophischen Anthropologie“ bieten; er könnte dies allerdings nur leisten um den Preis, die klassische Frage nach der ‚Natur des Menschen‘ gewissermaßen durch die nach seiner Kultur zu ersetzen und so freilich gerade mit Blick auf einige der dringendsten anthropologischen Gegenwartsfragen nach unserem theoretischen und praktischen Verhältnis zur Natur einigermaßen unfruchtbar zu erscheinen. 10 Einem solchen Verständnis steht jedoch Cassirers eigener, schon in der Rede vom animal symbolicum implizierter und im Rekurs auf die theoretische Biologie Jakob von Uexkülls auch konkret verfolgter, aber bereits in den nachgelassenen Texten der späten 1920er Jahre explizit erhobener Anspruch entgegen, mit seiner Philosophie der symbolischen Formen einen vollwertigen Beitrag zur philosophischen Anthropologie zu leisten – einschließlich der ausdrücklich ins Spiel gebrachten Möglichkeit, mit dem eigenen Ansatz an „die Ergebnisse einer kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie unmittelbar . . . anknüpfen“ 11 zu können. So liegt auf die wiederkehrenden Vorbehalte gegenHartung: Das Maß des Menschen, S. 363; so auch Andreas Weber: „Mimesis and Metaphor. The biosemiotic generation of meaning in Cassirer and Uexküll“. In: Sign Systems Studies (2004), H. 1-2. S. 297–307, hier: S. 300: „What Cassirer is missing in his theory of man as an “animal symbolicum” precisely is the animal.“ 9 Hartung: Das Maß des Menschen, S. 363. 10 Christian Möckel äußert sich differenzierter zum Status der Cassirer’schen Anthropologie, die auch für ihn „ganz offensichtlich von der Frage danach geleitet [ist], was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selbst macht, oder machen kann“ (Möckel: „Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten“, S. 216), und kommt zu dem Schluss, dass Cassirer gemäß dem eigenen Selbstverständnis „nicht unbedingt klären [muss], ob und wie bestimmte organisch-vitale Funktionen den Unterboden (Träger) für die kulturellen bilden. So bleibt die Rolle unscharf, die die lnstinkte des Menschen in seinem Kulturleben spielen.“ (ebd., S. 215). – Guido Kreis geht dagegen in seiner Analyse sogar so weit zu behaupten, dass die Philosophie der symbolischen Formen weder inhaltlich als eine Anthropologie gelten könne, noch Cassirer sie eigentlich als solche intendiert habe (Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes. 2010, S. 455 ff.). Vielmehr handle es sich um eine kulturphilosophische „Philosophie der Subjektivität“, wobei „[d]as, was wir Subjektivität nennen, . . . nach Cassirer vollständig durch die Liste aller Grundbegriffe der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften repräsentiert [ist]. Darüber hinaus gibt es keinen Wesenskern, keine Seele und keine Substanz des lchs. . . . Cassirer wird [später] die Liste der Grundfunktionen durch die Grundregeln der anderen symbolischen Formen ergänzen; aber das Modell bleibt erhalten.“ (ebd., S. 93). 8
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über Cassirers systematischer Konzeption die Gegenfrage nahe, ob nicht die konventionelle Entgegensetzung von ‚natürlichen‘ und ‚kulturellen‘ Existenzdimensionen des Menschen überhaupt – nicht bloß in ihrer offen ontologisierenden Version, sondern schon überall dort, wo sie unwillkürlich in ein Ausspielen der einen Seite gegen die andere umschlägt – einen äußerlichen Maßstab an diesen Denkansatz heranträgt, der in diesem Ansatz selbst aufgrund bestimmter erkenntnistheoretischer (und das heißt immer auch: anthropologischer) Erwägungen gerade überwunden werden sollte. Ein Bewusstsein von der schon in den antiken Wortbedeutungen dokumentierten Korrelativität beider Begriffe – cultura = Planmäßigkeit nach Art des Ackerbaus (colere, cultus) und natura (φύσις) = Wachsen und Werden des sich selbst überlassenen Lebendigen (nasci, φύεσθαι) – darf man nämlich bei einem Denker wie Cassirer durchaus voraussetzen; nur wäre dabei in seinem Sinne zu fragen, ob der sachhaltige Sinn dieser Korrelation statt in Bildern statisch abgegrenzter Sphären, Stufen oder Schichten des Seins nicht besser von Anfang an in einer dynamischen Entgegensetzung zu sehen wäre. Was immer uns in einem konkreten Zusammenhang als ‚natürlich‘ erscheint, das umfasst zwar als solches notwendig bestimmte Momente des jeweils ‚Gegebenen‘, schlechthin so oder so Vorgefundenen, und lässt uns gerade davon unser an ihm nur ansetzendes, im produktiven Umgang und im vorwegnehmenden Soll-Entwurf über jede Gebundenheit an es hinausstrebendes ‚kulturelles‘ Tun samt seiner Resultate gelegentlich unterscheiden; aber dieser Unterschied besteht eben weniger als ontische Differenz und ein für allemal, als vielmehr vermittelt durch den Aktionsaspekt selbst und die wechselnde Reichweite unserer Verfügungsmacht über die Gegebenheiten. 12 Der Grundgedanke hinter der vorliegenden Interpretation ist nun, dass unter der Prämisse einer solchen dynamischen Begriffskorrelation Cassirers Konzentration auf Aspekte des ‚kulturellen Lebens‘ nicht per se die Aus- oder Abblendung des ‚natürlichen‘ anzeigen muss – ist doch auch eine universelle Theorie der Kultur im Grunde gar nicht anders zu haben als so, dass damit immer schon gewisse Aussagen über die Natur impliziert sind. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Cassirers „begriffliche Abstinenz“ 13 vom Naturbegriff im Kontext seiner Philosophie der symbolischen Formen nicht mit einer Absenz der Natur in seinem anthropoECN 1, S. 60 (Kursivierung F. S.). Man muss hierfür nicht bis zu aktuellen Debatten um die zwischen bioengineering und augmented reality immer mehr verschwimmenden Grenzen zwischen natürlichem und künstlichem Leben gehen; es genügt schon, beim Bild des Ackerbaus zu bleiben, der ja die Trennlinie zwischen natürlicherweise Hinzunehmendem und dem menschlichen Wirken Verfügbarem wie keine zweite Kulturtechnik verschoben hat. 11 12
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logischen Denken zusammenfällt – sondern dass hinter ihrem terminologischen Schattendasein in seinem Werk viel eher diskurspragmatische, ‚begriffspolitische‘, im weitesten Sinne ‚didaktische‘ Grundentscheidungen stehen könnten, die von der theoretisch gehaltvollen Frage nach ‚der Natur selbst‘ zunächst einmal zu trennen wären. Insbesondere ist hier an Cassirers tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit eines pluralen Menschenbilds zu denken, die – spiegelbildlich zu ihrem fruchtbaren Einfluss auf die Entwicklung seiner Kulturphilosophie – der Festlegung auf einen bestimmten Natur- und Existenzbegriff entgegengestanden haben könnte: So könnte gerade ein Aspekt, der mit Blick auf ihre „pragmatische“ Dimension zu Recht als ein besonderes Verdienst der Cassirer’schen Kulturanthropologie anerkannt wird, dazu beigetragen haben, ihre „physiologische“ Seite in den Hintergrund treten zu lassen. 14 Gesetzt aber, es ließe sich innerhalb des kulturphilosophischen Horizonts ein systematischer Ort ausmachen für eine mit den immanenten Denkmitteln der Cassirer’schen Philosophie zu entwickelnde Theorie – nicht der menschlichen Natur im Sinne einer fixen Charakteristik, dafür aber der existenziellen Wurzeln unserer faktisch nach verschiedenen Richtungen hin ausstrahlenden natürlich-kulturellen Handlungspotenziale: Dann könnte sich der ganze vermeintliche Mangel seines systematischen Ansetzens bei der Kultur teils auf eine schon falsche Erwartung und Fragestellung reduzieren, teils auf seinen bewusst und mit guten Gründen geleisteten Verzicht auf jede Prätention, Fragen nach unserer ‚Natur an sich‘ redlich beantworten zu können. Ein Denker wie Cassirer, der sich einem selbst gegenüber Kant noch einmal radikalisierten ‚Primat des Praktischen‘ unterstellt, muss nun einmal auch die wirkmächtigsten Selbstbilder Birgit Recki: „Natur in Cassirers Kulturphilosophie. Mutmaßungen über eine begriffliche Abstinenz“. Vortrag auf dem Turiner Kongress „Desiderata NeukantianismusForschung III – Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus“ am 10.10.2013. 14 Einen vorläufigen Eindruck davon, wie Cassirer seinen eigenen Begriff der Natur tatsächlich bis zuletzt zwischen verschiedenen, a priori gleichberechtigten Möglichkeiten gleichsam in der Schwebe hält, ohne deshalb etwa auf jeden Bestimmungsversuch überhaupt zu verzichten, vermittelt ein kurzes Manuskript mit dem Titel „Naturbegriff “, das in die amerikanische Spätphase zu datieren und dem Nachlassband ECN 8 auf S. 205– 208 beigegeben ist: „In der modernen Litteratur das Wort Natur in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen genommen / a) die Sinnenwelt / b) die physikalische Welt / die Welt der Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, / die Welt der Atome, der Elektronen – . . . Wir sehen vorerst von der Frage, welches die “wahre” Natur ist . . . ganz ab . . . Wir gehen rein deskriptiv-analytisch – und zum Teil genetisch-historisch vor / wir unterscheiden . . . a) Die sinnliche Natur / (als Welt von “Ausdrucksqualitäten”) . . . b) Die Herausbildung von “Objekten” . . . Pragmatische Natur . . . c) Die Objektbildung durch die Sprache . . . “. 13
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und Selbstbegriffe des Menschen bis hin zu ihren scheinbar fraglos-wahren Bestandteilen noch in ihrer historisch-kulturellen Gemachtheit einholen – und soweit wir es hier mit echten (wenn auch uns nicht mehr in jedem Fall als solche bewussten) Leistungen der menschlichen Selbsterkenntnis zu tun haben, die als solche weder selbstverständlich noch immer und überall einfach in gleicher Weise voraussetzbar sind, bestehen die transzendentalphilosophischen Reserven gegenüber der vermeintlichen Evidenz des Natürlichen erst einmal zu Recht und können für die Anthropologie nur von Vorteil sein. Der Nachweis, dass Cassirer in der Tat über einen ebenso plausiblen wie systematisch tragfähigen Begriff der menschlichen Existenz verfügt, dessen Grundzüge er in seiner Diskussion des Leib-Seele-Problems im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen entwickelt, bildet das Kernstück meiner Untersuchung in Kapitel 4.1. Es tut der Relevanz dieses Begriffs vom existierenden Menschen nach meiner Überzeugung keinen Abbruch, sondern spricht sogar eher für seine grundlegende Bedeutung im Gesamtzusammenhang von Cassirers Anthropologie, dass er innerhalb der vom Hauptwerk aufgespannten Systematik nicht (wie es bei den anderen Klassikern der philosophischen Anthropologie der Fall zu sein pflegt) durchgehend im Vordergrund steht, sondern ‚erst‘ am symboltheoretisch reflektierten Übergang von den Analysen zur „Ausdrucksfunktion“ zur Diskussion der „Darstellungsfunktion“ in Erscheinung tritt: Die Individualität des Menschen ist nämlich nach Cassirers Einsicht auch für ihn selbst weder der selbstverständliche Ausgangspunkt noch das notwendig letzte Ziel und Ende, zu dem sie etwa, vom Organismus als Grundeinheit ausgehend, eine rein biologisch orientierte Perspektive machen mag. Individualität und Personalität sind für Cassirer zunächst und zuerst Prädikate unseres geschichtlich und psychogenetisch entwickelten Selbstbegriffs, d.h. aber: wesentlich kulturelle Errungenschaften, die es als solche zu verstehen und (gegen die ständige Möglichkeit von Rückschlägen auch auf diesem Gebiet) zu sichern gilt. Für ein Wesen, dessen Spezifik auf das Engste damit zusammenhängt, dass es in der Form individueller Organisation nicht bloß sein Dasein hat (wie alles Lebendige), sondern in solcher Lage das eigene Leben im dunkleren oder helleren Wissen um seine Verfasstheit führen muss, wird die Aufgabe, Eigenart und Gemeinsamkeit, Ansprüche des ‚Besonderen‘ und des ‚Allgemeinen‘ zu produktiven Synthesen zusammenzuführen, zur ständigen existentiellen Herausforderung, deren eigentliche Komplexität erst dann deutlich wird, wenn man sich klar macht, dass auch das Verhältnis der verschiedenen Kulturgebiete zum Individuum zwischen vollständiger Bezogenheit auf die Person (in der Kunst) und ihrer radikalen Ausschaltung
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(in der Wissenschaft) höchst unterschiedliche Formen annehmen kann. So hat es einen guten Sinn, wenn Cassirer sich erst von der systematisch entwickelten Totalität aus individuellem, unter- und überindividuellem Aspekt eine Bestimmung ‚des‘ Menschen verspricht; eine Bestimmung, die zwar (als transzendentale) letztlich immer nur einen Allgemeinbegriff der ‚Menschheit überhaupt‘ zum Ziel haben kann, in dieser Allgemeinheit aber (dank ihrer durchweg „pragmatischen“ Orientierung) auf die konkreten Probleme individuellen Existierens jederzeit bezogen bleibt. Ich bin davon überzeugt, dass erst die Anerkennung dieses umfassenden Erklärungsanspruchs mit Blick auf die menschliche Weltstellung es überhaupt erlaubt, an Cassirers Anthropologie die Gretchenfrage nach ihrer Haltung zur Natürlichkeit des Menschen zu stellen. Zu ihrer Beantwortung, an der ich mich ganz am Ende der Arbeit (in Kapitel 4.2) versuche, gehört freilich noch etwas mehr. Denn obwohl sich im Fortgang der Cassirer’schen Denkentwicklung eine immer entschiedenere Fokussierung auf die konkreten Probleme abzeichnet, die mit dem Verhältnis des Einzelnen zum umgebenden Kulturleben zusammenhängen, wird dem theoretisch kaum weniger interessanten Verhältnis von Individuum und Gattung in seinem Werk nirgends vergleichbare Aufmerksamkeit zuteil. Ich versuche diesem auffälligen Missverhältnis zwischen kultur- und naturtheoretischer Reflexion der conditio humana durch den Rekurs auf einen vordergründig entfernten, tatsächlich aber eng mit dem Problem der Individualität verbundenen Bereich seines Gesamtwerks auf die Spur zu kommen: Indem ich zunächst Cassirers methodische Prinzipalthese zum Verhältnis von Substanzbegriff und Funktionsbegriff , die er im gleichnamigen Frühwerk von 1910 entwickelt und fortan immer wieder aktualisiert, einer umfassenden Reevaluation unterziehe (§§ 2ff.), verfolge ich zugleich die Hypothese, dass schon hier die Weichen für das spätere ‚Verschwinden‘ des Naturbegriffs aus der Philosophie der symbolischen Formen und den an sie anschließenden Texten gestellt werden. Zwar steht Cassirers grundlegende Einsicht, dass die Begriffe der Wissenschaft wesentlich als Funktionsleistungen unserer geistigen Spontaneität zu gelten haben, mit der Natur zunächst so wenig auf Kriegsfuß, dass sie vielmehr gerade anhand unserer Naturerkenntnis zur Geltung gebracht wird, die Cassirer als wesentlich mathematische Erkenntnis begreift (§ 5). Es wird sich aber zeigen, dass dieser an der Mathematik orientierten Konzeption eine theoretische Engführung von Freiheit des Erkenntnissubjekts und Distanzierung der Natur zugrundeliegt (§ 6), auf deren Kehrseite die Ablehnung ‚substanzieller‘ Naturbegriffe Cassirers spätere Zurückhaltung auch mit dem Naturbegriff selbst gewissermaßen antizipiert: sind es doch letztlich die passivischen Begleitvorstellungen des Natürlichen als eines Immer-
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schon-Bestimmten, die mit dem inhaltlichen Fortschritt des naturwissenschaftlichen Wissens (bzw. seiner Einbeziehung in die philosophische Reflexion) am Ende auch die Existenz des Menschen selbst zu substanzialisieren drohen und den Philosophen zwingen, sich für eine von zwei möglichen Haltungen zu entscheiden: für eine Haltung der halb-passiven Betroffenheit um des faktischen Betroffenseins willen – oder doch eher für eine solche der Distanz selbst noch gegenüber dem faktisch nicht zu distanzierenden schlechthin, nämlich dem eigenen natürlich-leiblichen Dasein. Die Konsequenzen von Cassirers früher Festlegung in dieser Grundsatzfrage könnten nicht weiter reichen: Sie strukturiert seine gesamte Wissenschaftstheorie, sie trägt später sein philosophisches Selbstverständnis als ‚Kulturphilosoph‘, und sie prägt schließlich auch die Ausformulierung seiner philosophischen Anthropologie, für die noch im Spätwerk An Essay on Man eine Bestimmung des Menschen ausdrücklich nur als „funktionale“ infrage kommt (§ 1). Meine Analyse von Substanzbegriff und Funktionsbegriff möchte aber andererseits von Anfang an aufzeigen, dass Cassirers Position auch nicht auf eine bedingungslose Ablehnung des ‚Substanziellen‘ in jeder Hinsicht verkürzt werden darf. So erweist sich ihm das Denken in Seins- und Substanzbegriffen, so unhaltbar er aus der Perspektive des reflektierenden Wissenschaftsphilosophen und Aufklärers dessen metaphysische Tendenzen finden muss, unter anthropologischen Gesichtspunkten zugleich als eine für die Herausbildung auch des funktionalen Denkens unverzichtbare Entwicklungsstufe, und zwar einerseits im allgemein-historischen, andererseits im individualpsychologischen Kontext (§ 7). Die systematisch brisante Konsequenz daraus ist, dass auch der wissenschaftliche Funktionalismus selbst, sofern er sich seiner eigenen lebendigen Grundlagen bewusst bleiben will, die ‚Substanzbegriffe‘ nicht einfach schlechthin verwerfen, sondern nur in einem quasihegelschen Sinne ‚aufheben‘ und im Zuge der wachsenden Einsicht in ihren Kategorialcharakter in ihren Geltungsansprüchen relativieren kann; und in der Tat wird sich zeigen, dass auch Cassirers Theorie der Funktionsbegriffe, so scharf sie zur Profilierung ihrer Eigenart immer wieder dem dogmatischen Substanzialismus und Essenzialismus entgegengesetzt wird, dennoch überall vom Bemühen um einen solchen integrativen Umgang mit ihren substanzbegrifflichen Vorstufen getragen ist. Es gehört zu den Seltsamkeiten der Cassirer-Interpretation, dass – trotz einer ungebrochenen Beliebtheit der Strategie, sich Cassirers Denkansatz im Ganzen von der Substanz-Funktions-Dichotomie her zu erklären – bisher noch kaum jemals die Frage aufgeworfen wurde, was Cassirer denn im systematischen Rahmen seiner späteren Kulturphilosophie,
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die ja im symboltheoretischen Ansatz wiederum eine eigene Ausarbeitung der Begriffstheorie beinhaltet, eigentlich noch als ‚Substanzbegriff ‘ bzw. ‚Funktionsbegriff ‘ versteht. Auch Cassirer selbst lässt uns in dieser Frage weitgehend allein, was ihn freilich nicht davon abhält, auch lange nach 1910 immer wieder auf den Antagonismus von ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ Bezug zu nehmen. Der an den entsprechenden Stellen zumeist gegebene Hinweis auf die Frühschrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff bleibt jedoch unzureichend, solange das Verhältnis der systematischen Voraussetzungen der frühen Wissenschaftstheorie zu den thematischen Erweiterungen, die mit der Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen einhergehen, nicht hinlänglich geklärt ist. Ich stelle daher in dieser ziemlich stiefmütterlich behandelten Frage, von deren Beantwortung jedoch am Ende auch ein genaueres Verständnis der funktionalistischen Bestimmung des Menschen als animal symbolicum abhängt, einen eigenen Interpretationsvorschlag zur Diskussion (§ 15 und § 20). Mein Vorschlag stützt sich auf Cassirers bislang kaum beachtete Differenzierung zwischen „Produktion“ und „Reflexion“ des Wissens, die schon Substanzbegriff und Funktionsbegriff einführt (§ 8), und die von hier aus bis in die Philosophie der symbolischen Formen, die Logik der Kulturwissenschaften und den Essay on Man hinein weiter wirkt (§ 9 und § 10): eine Perspektivendifferenz, die nach meiner Einschätzung überhaupt geeignet ist, gewisse systematische Lücken im Gesamtbild von Cassirers Philosophie zu schließen. Im Kontext meiner Untersuchung soll damit insbesondere das Verhältnis eingefangen werden zwischen (a) der philosophischen Geltungsreflexion als besonderem, methodisch zwischen Sprache, Kunst und Wissenschaft oszillierendem Kulturvollzug, der gerade aus dieser mehrfachen Normbindung die nötige Distanz zur Behandlung aller möglichen Gegenstände und Verhältnisse erst gewinnt, und (b) den diversen, vom philosophischen Verstehen zunächst möglichst adäquat zu reproduzierenden Einzelrichtungen kultureller ποίησις, deren Sinn-Spektrum viel weiter reicht, als dass es etwa bloß mit den Begriffen und Methoden der Wissenschaftstheorie behandelt werden könnte. Meine These wird dann dahingehend lauten, dass die Selbstfestlegung von Cassirers philosophischer Reflexion auf das gedankliche Medium der ‚Funktionsbegriffe‘ auch anderen Wissensvollzügen mit Geltungsanspruch ein analoges Selbstverständnis nahelegt – insbesondere bleiben für ihn die Funktionsbegriffe das legitime Medium aller wissenschaftlichen Welt- und Selbsterkenntnis –; dass aber diese methodologische Prämisse andererseits keineswegs ausschließt, dass auf der Seite der reflektierten ‚Gegenstände‘, also in den Produktivformen der Kultur selber auch die ‚Substanzbegriffe‘ eine wichtige und im genetischen Gesamtaufbau des Wissens sogar entscheidende Rolle spielen. Es
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wird später vor allem das mythische Denken sein, das die Philosophie der symbolischen Formen dezidiert als eine ‚substanzbegrifflich‘ strukturierte Form des menschlichen Weltverstehens ausweist – und das sie als solche überhaupt nur untersuchen kann, weil sie eben die perspektivische Differenz zwischen den von ihr thematisierten Geistesformen selbst unter den je spezifischen Bedingungen ihrer Hervorbringung und den eigenen, quasi ab externo zu deren Analyse in Anschlag gebrachten funktionalen Reflexionsbegriffen von vornherein voraussetzt (§ 19). Das Verhältnis von Cassirers wissenschaftlich-funktionaler Reflexionsphilosophie zum Substanzdenken des Mythos hängt dabei wiederum eng zusammen mit der Frage nach der Lebendigkeit der Natur: Der Kantianer Cassirer macht diesen Charakter nämlich nicht an irgendwelchen objektiven Figurationen der empirischen Welt fest – beispielsweise an bestimmten allgemeinen Form- und Funktionsparametern des Organischen –, sondern vielmehr an einer für den Menschen ursprünglichen (und in sich durchaus ambivalenten) Verschränkung von subjektivem Lebensgefühl und objektiver Weltgestaltung im Mythos. Der Mythos markiert in diesem Sinne für Cassirer die subjektive Ausgangslage, in der der Mensch sich, von Geltungsreflexionen ungebrochen, ganz der emotionalen und kreativen Lebendigkeit seiner „produktiven Einbildungskraft“ überlässt und so die natürlich-kulturelle Welt im Ganzen als einen ‚objektiv‘ lebendigen Kosmos auffasst. So ergibt sich nach Cassirer eine grundlegende Antinomie zwischen den Ansprüchen des Wissens, das sich mit dieser vielfach irreführenden, also auch im negativen Sinne ‚mythischen‘ Anschauungsart auf Dauer nicht zufrieden geben kann, und denen des Gefühls, indem jede differenzierende Einschränkung dieses ersten sinnlichen Weltverhältnisses für den Menschen mit einem Verlust an unmittelbar empfindbarer Lebendigkeit verbunden ist. 15 Da aber andererseits die mythischen Ursprünge alles Kulturbewusstseins, mit all ihren ‚substanzbegrifflichen‘ Anteilen, nicht einfach plötzlich verschwinden, sondern in Kunst, Sprache, Religion und philosophisch-protowissenschaftlichem Wissen überall ihre Spuren hinterlassen, lange bevor sie im Funktionsdenken der modernen mathematischen Wissenschaft, in klar umgrenzten Bereichen und nur unter Aufbietung enormer methodischer Disziplin, ‚überwunden‘ werden können: so ergibt sich für eine zunächst stark wissenschaftstheoretisch orientierte Philosophie schon von hier aus die Vgl. Birgit Recki: „Lebendigkeit als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant“. In: Barbara Naumann / Birgit Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft. Berlin. 2002. S. 195–219. 15
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Notwendigkeit, ihren Gegenstandsbereich über die mathematischen Naturwissenschaften hinaus auch auf andere Kulturgebiete zu erweitern – also nicht nur, das ist mein Punkt, um zum kulturellen ‚Leben des Geistes‘, sondern auch, um zum Leben der Natur, d. h.: zum Leben überhaupt einen adäquaten Zugang zu bekommen. Ich analysiere Cassirers Denkentwicklung in den 1910er Jahren anhand seiner Auseinandersetzung mit Positionen von Goethe (§ 11), Kant (§ 12) und Schelling (§ 13), um einerseits sein Ringen um einen angemessenen theoretischen Umgang mit den Lebenserscheinungen als ein wichtiges Motiv hinter der Entwicklung seiner Kulturphilosophie plausibel zu machen und andererseits die gesuchte (und schließlich in § 15 skizzierte) begriffliche ‚Übersetzung‘ zwischen Substanzbegriff und Funktionsbegriff und der Philosophie der symbolischen Formen vor dem Hintergrund der konkreten Fragen jener Jahre mit Leben zu erfüllen. Die eigentliche Ausarbeitung der naturphilosophischen Aspekte der Philosophie der symbolischen Formen findet dann mit Blick auf die Kulturtheorie in Kapitel Kapitel 3, mit Blick auf Cassirers Theorie des Menschen als einer besonderen Existenz- und Lebensform in Kapitel Kapitel 4 statt. Den Zusammenhang zwischen beidem sehe ich, wie gesagt, in Cassirers Erörterung des Leib-Seele-Verhältnisses, die nach meiner Lesart einen quasi-substantiellen Daseinsbegriff des Menschen als dynamisches Korrelat seiner kulturellen Äußerungsformen, gleichsam als veranschaulichende reflexive Umwendung der immer nur an ihnen abzulesenden Funktionspotenziale ins Spiel bringt (§ 25). Die an den verschiedenen symbolischen Einzelformen aufzuweisenden Aspekte unserer funktionalen ‚Natürlichkeit‘ – die Zentralstellung unserer leiblich-geistigen Expressivität (§ 15), in ihrer hochgradigen Differenzierbarkeit zugleich Basis unserer Sprachfähigkeit (§ 16) und der mit ihr verbundenen anschaulichgegenständlichen Objektivierungsleistungen (§ 17); die genetische Bezogenheit aller elaborierteren kulturellen Verstehensweisen nicht nur auf eine kulturelle Urschicht (§ 20), sondern letztlich auch auf ein Naturvermögen des Menschen zur affektiv-emotionalen Gewärtigung von Sinnbezügen im Lebenszusammenhang (§ 21 und § 22); schließlich die Notwendigkeit und Chance, diese anfänglichen Formen des Weltverstehens auf dem Wege immer komplexerer symbolischer Vermittlungstechniken hinter sich zu lassen (§ 23) –: alle diese Aspekte gehen so schließlich ein in Cassirers anthropologische Deutung des existierenden Menschen (§ 25), als deren letzter Fluchtpunkt sich eine schon in unseren spezifischen Naturanlagen artikulierte Bestimmung zur Freiheit identifizieren lässt (§ 26). Genau diese Einsicht bringt Cassirer am Ende aber auch in jene charakteristische (und systematisch lehrreiche) Schwierigkeit, mit der nicht
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nur sein anthropologischer Ansatz, sondern in der Folge auch die Cassirer-Interpretation fortgesetzt zu kämpfen hat: Denn so wenig dieser Ansatz sich als solcher einer naturphilosophischen Deutung verschließt (§ 14), so sehr sieht Cassirer später im modernen Naturalismus eine ständige Gefahr für ein liberales Selbstverständnis des Menschen – eine Gefahr, die in seinen Augen umso größer wird, je vehementer die Kontinuität von Mensch und Natur im Namen der Empirie, des Lebens oder der Sinnlichkeit verfochten wird (§ 27). Indessen hindert die öffentliche Positionierung gegen den Naturalismus Cassirer nicht daran, zeitgleich das naturtheoretische Profil seiner Anthropologie durch eine nachgeholte Auseinandersetzung mit der modernen Biologie weiter auszubauen (§ 28). Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, was ich in dieser Arbeit durchweg vertrete, dass es Cassirer mit seinem Ansatz ganz und gar nicht darum geht, die Natur aus der Anthropologie zu verbannen; dass er vielmehr auf dem ‚großen Umweg‘ über eine allgemeine Kulturreflexion zugleich einem nicht-naturalistischen Begriff der lebendigen Natur vorarbeitet und damit, auch wenn seine konkrete Durchführung letztlich nur in Grenzen überzeugen kann (??), ein systematisches Programm verfolgt, das für jeden interessant sein dürfte, der nach Möglichkeiten sucht, liberal-‚humanistische‘ und naturtheoretische Selbstbegriffe des Menschen in einer philosophischen Anthropologie zu verbinden.
Kapitel 1 Natur und Substanz
§ 1 Von der Anthropologie zum Substanzproblem Tritt man mit der Frage nach dem Stellenwert der Natur in Ernst Cassirers philosophischer Anthropologie an sein Gesamtwerk heran, dann spricht manches dafür, sich zuerst an den Essay on Man zu wenden, Cassirers 1944 in den USA entstandenes Spätwerk: Zum einen verbindet das Buch in seinen zwei Teilen eine konzise Zusammenfassung von Cassirers kulturphilosophischen Einsichten mit dem Ziel, auch den naturphilosophischbiologischen Aspekt der menschlichen Weltstellung stärker als in früheren Texten einzubeziehen. 1 Zum anderen geschieht es tatsächlich erst im Essay, dass Cassirer – zum ersten Mal überhaupt in den veröffentlichten Schriften 2 – seinen philosophischen Ansatz explizit als „anthropologischen“ bezeichnet, sodass man das späte Werk cum grano salis durchaus als die eigentlich ‚offizielle‘ Darstellung seiner Anthropologie ansehen kann. Nun liegt allerdings aus Gründen, die ich an späterer Stelle erörtern werde 3, mit Blick auf die ‚Naturseite‘ dieses philosophisch-anthropologischen Projekts der Fall so, dass ein Leser, der sich etwa ohne weitere Kenntnisse von Cassirers früheren Texten bloß an die Ausführungen des Essay hält, leicht zu der Auffassung gelangen kann, dass die Natur in dieser Konzeption vor allem eine negative Rolle spiele. „Man’s outstanding characteristic“, so stellt Cassirer ausdrücklich fest, „is not his metaphysVgl. EM, Kap. II-IV (S. 28–61) sowie meine Analyse dazu in § 28. Im Essay findet sich wiederholt die Formulierung von der „anthropological philosophy“, zu welcher Cassirers Text einen Beitrag liefern wolle: vgl. etwa EM 13, 21, 75 u. ö. – Die in ECN 6 rekonstruierte erste Textfassung des Essay on Man trägt noch den Untertitel „A Philosophical Anthropology“ (vgl. ECN 6, S. 345–635), den Cassirer später gegen das bescheidenere „An Introduction to a Philosophy of Human Culture“ eingetauscht hat. Allerdings hatte Cassirer schon um 1929 mit Blick auf Helmuth Plessners Bestimmung des Problems der philosophischen Anthropologie festgestellt: „Wird die Aufgabe der philosophischen Anthropologie in diesem Sinne verstanden, so erscheint damit der Kreis der Fragen, der sie umspannt, unserem eigenen Problem unmittelbar nahe gerückt. Ja es lässt sich nunmehr voraussagen, daß die prinzipielle Entscheidung über jenen »Wesensbegriff« vom Menschen, die hier gesucht wird, nirgend anders als von Seiten einer Philosophie der “symbolischen Formen” wird erfolgen können.“ (ECN 1, S. 36). 3 Siehe dazu § 27. 1 2
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ical or physical nature – but his work“ 4. Dieses charakteristische ‚Werk‘ und ‚Wirken‘ des Menschen wiederum scheint Cassirer – für Kenner des Hauptwerks wenig überraschend – ausschließlich mit den verschiedenen Richtungen menschlichen Kulturschaffens identifizieren zu wollen, die er in früheren Texten als „symbolische Formen“ analysiert hatte: Sie sind es, die sich ihm zufolge in sich schon zu einem „system of human activities“ fügen; andererseits gibt es für ihn erklärtermaßen nicht die eine unwandelbare ‚menschliche Natur‘, auf deren „vinculum substantiale“ sich die Einheit jenes Systems zurückführen ließe; und so ist es für ihn umgekehrt nur das „vinculum functionale“ der Totalität unserer kulturellen Tätigkeitsformen, das einen einheitlichen Selbstbegriff des Menschen begründen kann. 5 Fast wie ein Synonym für den an dieser Stelle intendierten Gegensatz von „nature“ und „(cultural) work“ als Bestimmungsgrundlage des Menschen präsentiert uns Cassirer hier also wieder jenes auch in der Zwischenzeit immer wieder bemühte Begriffspaar, das er schon dreieinhalb Jahrzehnte zuvor, lange noch vor Abfassung seines Hauptwerks zur Philosophie der symbolischen Formen, für geeignet befunden hatte, seine Theorie des wissenschaftlichen Wissens zu charakterisieren: 6 Der Gegensatz zwischen „substanzieller“ und „funktionaler“ Denkart betrifft für ihn eben nicht nur die Wissenschaft als eine der verschiedenen von ihm untersuchten Kulturformen, sondern der ganze „alternative Ansatz“ seiner „anthropologischen Philosophie“, so betont Cassirer im Essay on Man, ist zunächst nur von der Überzeugung her zu verstehen, dass „if there is any definition of the nature or »essence« of man, this definition can only be understood as a functional one, not a substantial one“ 7. Auf den ersten Blick scheint also die Sache klar: Cassirer wendet sich ausdrücklich gegen eine Bestimmung des Menschen aus einem Begriff der menschlichen Natur, der ihm als ein ‚Substanzbegriff ‘ von vornherein mit dem Makel des metaphysischen Essenzialismus behaftet scheint, und plädiert stattdessen für einen Selbstbegriff des Menschen auf alleiniger Grundlage seiner arbeitshaften ‚Funktionen‘ und ‚Aktivitäten‘, die er mit EM 76. Ebd.: „[All human activities] are held together by a common bond. But this bond is not a vinculum substantiale, as it was conceived and described in scholastic thought; it is rather a vinculum functionale. It is the basic function of speech, of myth, of art, of religion that we must seek far behind their innumerable shapes and utterances, and that in the last analysis we must attempt to trace back to a common origin.“ 6 Bereits 1910 war Cassirers methoden- und erkenntniskritische Grundlegungsschrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff erschienen, mit der ich mich im Folgenden eingehend beschäftigen werde. 7 EM 75. 4 5
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dem Inbegriff seiner kulturellen Leistungen identifiziert. Zwar hat sich in den letzten Jahren eine Reihe von Cassirer-Interpreten dagegen ausgesprochen, bei der Rekonstruktion seiner Anthropologie auf die Schablone eines scharfen Natur-Kultur-Dualismus zurückzugreifen, und stattdessen für eine gewisse Kompatibilität beider Aspekte im Gesamtzusammenhang seines Werks plädiert. 8 Die für Cassirers Sprachgebrauch – nicht etwa nur im Essay – typische Engführung der begrifflichen Gegensätze von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ auf der einen, ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ auf der anderen Seite konfrontiert allerdings jeden Versuch einer solchen ‚liberaleren‘ Lesart mit einem Problem, dessen Lösung schwieriger erscheint als das Insistieren auf dem sachlich zwar ganz richtigen Punkt, dass es doch in Cassirers eigenem Interesse liegen müsse, auch die ‚Naturdimension‘ nicht einfach aus dem von ihm vorgeschlagenen Selbstbegriff des Menschen auszuschließen. Das Problem besteht darin, dass, während es aus einer externen Perspektive durchaus nicht ohne Weiteres einsichtig ist, weshalb sich eigentlich mit Blick auf die Grundlegung einer philosophischen Anthropologie ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ auf der einen, ‚substanzielles‘ und ‚funktionales‘ Menschenbild auf der anderen Seite in ihren respektiven Verhältnissen zueinander wie Wechselbegriffe verhalten sollten, dennoch kaum ein Zweifel daran erlaubt scheint, dass Cassirer diese Begriffe in solcher Weise verwendet; noch weniger daran, dass er für den Übergang von einer ‚substantiellen‘ zu einer ‚funktionalen‘ Denkungsart eintritt; und so scheint es zuletzt, als könne man die besondere Weise, in der sich Cassirer ‚gegen die Substanz‘ und ‚für die Funktion‘ positioniert, kaum unterschreiben, ohne in der Konsequenz auch eine gewisse Abwertung der Natur zugunsten der Kultur in Kauf zu nehmen. Damit wäre in etwa der Konsens umschrieben, von dem die Rezeption der Cassirer’schen Anthropologie seit ihren Anfängen ausgegangen ist und der sie bis heute immer wieder zu kritischen Einwänden veranlasst hat. So hat z. B. David Bidney schon 1949 Zweifel daran angemeldet, ob Cassirer „denn wirklich Kants erkenntnistheoretischen Dualismus von Form und Inhalt überwunden“, oder ob er ihn nicht vielmehr, indem er „den Begriff der Funktion ganz formal faßt“, „durch den von Funktion und Inhalt ersetzt“ habe. 9 Konkret hält Bidney die substanzkritische Ausrichtung des Cassirer’schen Funktionsbegriffs für problematisch und Vgl. z.B. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 300–306; Muriel van Vliet: La forme selon Ernst Cassirer. De la morphologie au structuralisme (Aesthetica). Rennes 2013, S. 295 ff. 9 David Bidney: „Ernst Cassirers Stellung in der Geschichte der philosophischen Anthropologie“. In: Paul A. Schilpp (Hg.): Ernst Cassirer. Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz. 1966. S. 335–403, S. 364. 8
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erkennt in ihr gar einen Widerspruch zum symbolphilosophischen Ansatz in toto: So habe Cassirer aufgrund jener Prämisse „durchgängig Funktion und Substanz . . . voneinander getrennt, so als ob eine dieser Kategorien unabhängig von der anderen Sinn und Bestand habe. Wenn man aber die Funktion derart von der Substanz loslöst, berücksichtigt man nur ihr formales Moment, weil ja eine und dieselbe Funktion in den verschiedensten symbolischen Formen wirksam sein kann. Wenn also Cassirer versichert, Symbole könnten nicht von den Objekten, die sie bezeichnen, getrennt werden, so widerspricht er dem dadurch, daß er die Funktion von der Substanz streng unterscheidet.“ 10
Später hat kein Geringerer als Helmuth Plessner in ähnlicher Weise die Konsequenzen jener Prämisse für die Ausgestaltung der Cassirer’schen Anthropologie kritisiert. Bereits in seinen Stufen des Organischen (1928) hatte Plessner, noch ohne konkrete Adressaten zu benennen, die Ansicht vertreten, dass in der Hauptfrage der Anthropologie einem Irrglauben verfalle, „[w]er da glaubt, daß mit Sprachphilosophie oder Kulturphilosophie die Sache gemacht ist“ 11; und in einem späteren Aufsatz von 1963 wird diese Kritik schließlich explizit gegen Cassirers ‚bloß kulturellen‘ Funktionalismus ausgemünzt: „[F]ür Cassirer ist eine Definition der menschlichen Natur nur als funktionelle, nicht als substantielle möglich. . . . Das einzige Charakteristikum ist seine Leistung: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte. . . . Ein derartiges System der Grundfunktionen ist ihr gemeinsamer Ursprung, nicht eine verborgene Quelle, der die Funktionen entspringen. . . . Der Funktionsverband muß sich an die nun einmal gegebenen Manifestationen halten, weil der Mensch, welcher sich in ihnen äußert und für den sie funktionieren, nur wieder durch sie bestimmbar ist und als ein faßbares Subjekt selbst nicht auftritt. Es gibt ihn nur als das Ensemble Bidney: „Ernst Cassirers Stellung in der Geschichte der philosophischen Anthropologie“, S. 364 f. (Kursivierung F. S.). 11 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. Aufl. Berlin 1975, S. 25: „Eine Versöhnung des Gegensatzes geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Betrachtungsart . . . gelingt erst dann, wenn die Ebene, in der dieser Gegensatz besteht, verlassen ist. . . . Indem [die Philosophie] das Problem der Anthropologie formuliert, rollt sie das Problem der Existenzweise des Menschen und seiner Stellung im Ganzen der Natur mit auf. . . . Wer da glaubt, daß mit Sprachphilosophie oder Kulturphilosophie die Sache gemacht ist, irrt sich ganz gewaltig und unterschätzt denn doch den Sinn der Situation, die in Dilthey zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen war.“ 10
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von Leistungen. . . . Cassirer weiß zwar auch, daß der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Gebrauch. Tierische Ausdrucksformen dienen ihm nur als Kontrastmittel, um gegenüber ihrem Hintergrund die spezifisch menschlichen Ausdrucksformen abzuheben. Ihr Funktionssinn bleibt dunkel, weil man nicht weiß, für wen sie funktionieren. Eine schon in ihrem Ansatz auf Kultur als Leistung eingeschränkte »anthropologische Philosophie« kann diesen Funktionssinn nicht zum Problem machen. Das ist nur möglich von einem außerhalb des Horizonts gegebenen Standort aus, auf den die Verklammerung menschlicher Leistungen mit dem menschlichen Organismus hinweist. Von einem Kantianer wie Cassirer oder einem Ideenhistoriker wie Dilthey kann man nicht erwarten, daß sie den Mut, ja auch nur das Interesse aufbringen, in solcher Verklammerung etwas anderes zu sehen als ein empirisches Faktum. Wo die körperliche Dimension beginnt, hört für sie die Philosophie auf.“ 12
Auf den aus anthropologischer Sicht natürlich sehr ernst zu nehmenden Vorwurf, Cassirer habe die „körperliche Dimension“ des Lebewesens Mensch mitsamt derjenigen der Tiere vernachlässigt, werde ich an späterer Stelle zurückkommen. Hier interessiert mich zunächst wieder nur, wie auch Plessner den von ihm konstatierten Mangel klar auf die substanzkritische Tendenz von Cassirers Funktionalismus zurückführt: Nach Plessner stellt sich der Transzendental- und Kulturphilosoph Cassirer als Anthropologe gleichsam selbst ein Bein, weil infolge seiner Substanzkritik der Mensch bei ihm weder in Form einer unveränderlichen Substanz noch überhaupt als ein irgendwie „faßbares Subjekt . . . auftritt“ – es „gibt ihn“ ja nach Plessners Lesart bei Cassirer lediglich als „Ensemble von Leistungen“ –, sodass er ihm als Organismus von besonderer Struktur am Ende gar nicht, nicht einmal nach seinem spezifischen „Funktionssinn“, in den Blick komme. 13 Dieser Kritik hat sich in jüngster Zeit auch Gerald Hartung angeschlossen, dem wir eine der umsichtigsten geistesgeschichtlichen Kontextualisierungen der Cassirer’schen Anthropologie verdanken. 14 Hartung präsentiert Cassirer einerseits als Referenz der Wahl zur „Auflösung“ verschiedener „Aporien“, in die sich andere anthropologische Klassiker des 20. Jahrhunderts verfangen hätten – und zieht dennoch am Ende seiner Monographie den Schluss: ders.: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“ In: Gesammelte Schriften. Bd. VIII. Frankfurt am Main 1963. S. 235–246: 242 f. (Kursivierung F. S.). 13 Ebd. 14 Hartung: Das Maß des Menschen. 12
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„Die Leistungsfähigkeit [von Cassirers] Philosophie menschlicher Kultur wird . . . durch die Unbestimmtheit ihrer Fundamente eingeschränkt. . . . [E]in Vergleich der Kulturphilosophie Cassirers mit Plessners philosophischer Anthropologie . . . zeigt . . . , daß die Abkehr von ontologischen Begründungsfragen zumindest bei Cassirer dazu führt, daß die »Fremdartigkeit des Lebens« (Dilthey), die für den Prozeß der Objektivation konstitutiv ist, nicht mitreflektiert wird. Cassirer bekommt Leben als das Andere des Geistes und die Naturseite des Menschen als die Vorgeschichte und Kehrseite seiner kulturellen Existenz aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Prämissen nicht in den Blick. Er denkt den Menschen als Kulturwesen immer schon in Distanz zu seinen natürlichen Lebensbedingungen. Objektivation als Prozeß der Distanzgewinnung setzt deshalb bei Cassirer auch nicht mit einer Analyse der biologischen Grundlagen menschlicher Existenz ein. . . . Das animal symbolicum weiß folgerichtig kaum etwas von dem animal in sich; es kann auch nicht die Gefährdung seiner kulturellen Existenz reflektieren, die durchaus vom anthropologischen Philosophieren einzufangen ist.“ 15
Spätestens an diesem letzten Kritikpunkt sind nun jedoch mit Blick auf Cassirers Gesamtwerk Zweifel angebracht: Immerhin hat der Autor, der hier als stereotypisch seins- und lebensvergessener Kultur-Idealist vorgestellt wird, im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen ein Kapitel zur „Pathologie des Symbolbewusstseins“ integriert, um darin en détail auf die psychophysische Bedingtheit und die daraus resultierende Fragilität der Symbolprozesse hinzuweisen, ohne die es zu einer „kulturellen Existenz“ des Menschen nach seiner ausdrücklich formulierten Einsicht gar nicht erst kommt 16; er hat darüber hinaus im postum erschienenen Myth of the State exemplarisch den Nachweis geführt, dass und wie sich seine kulturanthropologische Konzeption sehr wohl zu einer zeitkritischen Analyse der genuinen „Gefährdungen“ moderner Kultur gebrauchen lässt 17; und was schließlich Cassirers Haltung zum Animalischen im Menschen betrifft, so ist gegen Hartungs kategorische Leerstellenthese daran zu erinnern, dass hier von einem Denker die Rede ist, der sich nicht nur, nach der von John Michael Krois kolportierten Anekdote, 18 das Revierverhalten von Hunden durch den klassischen KulHartung: Das Maß des Menschen, S. 362 f. Siehe dazu § 17 weiter unten. 17 Christian Möckel rechnet diesbezügliche Äußerungen Cassirers, aus denen „eine dem Geist eigene Tendenz zur Selbstzerstörung und »Selbstzersetzung«“ hervorgehe, sogar zu den rekonstruierbaren „Konstanten“ seiner Anthropologie: Vgl. Möckel: „Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten“: 217. 15 16
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turbegriff des Eigentums verständlich machen, sondern der genauso gut umgekehrt ohne irgendwelche äußerlichen Vorbehalte an einem psychopathologischen Fallbeispiel das Spinnenähnliche im Verhalten des Patienten feststellen konnte. 19 Nun ist der Schluss, den Hartung in der zitierten Passage zieht, allerdings analytisch – wie könnte auch ein Philosoph die ubiquitäre Anfälligkeit, Endlichkeit, Begrenztheit und Bedingtheit menschlichen Lebens angemessen mitdenken, der wirklich über der Konzentration auf den Geist das Leben selbst, über der Analyse unserer „kulturellen Existenz“ unsere „Naturseite“ ganz und gar aus dem Blick verlöre? Wenn an diesem Urteil über Cassirer trotzdem etwas nicht stimmt, dann kann der Fehler nicht in der Konsequenz, sondern er muss schon in den Prämissen liegen. Hartung setzt voraus, dass die Frage nach dem „Leben“ im Wesentlichen mit der nach den „Fundamenten“ der menschlichen Kultur identisch sei; dass es sich bei der „Naturseite“ menschlichen Lebens um eine Art „Vorgeschichte“ oder „Kehrseite“ seiner kulturellen Entwicklungsformen handele; und dass sich dem mit Cassirers Behandlung derselben Unzufriedenen deshalb zuletzt doch wieder „ontologische Begründungsfragen“ aufdrängen müssten: Dies alles läuft aber auf eine Konzeption hinaus, der sich schon Cassirer selber (zumindest mit Blick auf den einen Begriffsantagonismus von „Geist“ und „Leben“) eingehend gewidmet und die er als ein charakteristisches Missverständnis zurückgewiesen hat. So finden wir im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Max Scheler die Klarstellung, dass, so sehr zwischen dem, was etwa mit dem Terminus des „Geistes“ und dem, was mit „Leben“ gemeint sein mag, in anthropologischer Perspektive eine gewisse „Polarität“ anzunehmen sei, diese Polarität ihrem eigentlichen Sinngehalt eher entfremdet werde, wenn man sie auf der Folie einer „realistischen Metaphysik“ verstehe. 20 Interessant wird diese Bemerkung Cassirers vor allem, wenn wir sehen, welche konkreten Formulierungen er zu ihrer Begründung wählt: Erst durch den von ihm kritisierten Schritt werde nämlich, so Cassirer, „ein rein funktionaler Gegensatz in einen subJohn Michael Krois / Gerhard Lohse / Rainer Nicolaysen (Hg.), Hamburgische Lebensbilder. Bd. 8: Die Wissenschaftler. Ernst Cassirer, Bruno Snell, Sieg fried Landshut, Hamburg 1994, S. 23 (zit. nach Recki: Kultur als Praxis, S. 28 f.). 19 Siehe Cassirers Brief an Kurt Goldstein vom 26.3.1925, in ECN 18, S. 83: „Es ist mir aufgefallen, wie sehr das Verhalten der Seelenblinden derjenigen Form der räumlichen ‚Orientierung‘ gleicht, die sich im Tierreich vielfach zu finden scheint – insbesondere bei solchen Tieren, die sich ganz überwiegend taktil und kinaesthetisch zu orientieren scheinen. So gibt z. B. Hans Volkelt (Über die Vorstell. der Tiere, Lpz. 1914) eine Darstellung des ‚Raumsinnes‘ der Radspinne, die bis ins Detail an das Verhalten Eurer Patienten erinnert.“ 20 GL 201. 18
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stantiellen umgedeutet“, sodass die fraglichen „Pole“ dem Denken nun wie „Substantiva“, wie „einander entgegengesetzte substantielle Wesenheiten“ erscheinen. Würde man es hingegen, so Cassirer weiter, bei dem „rein funktionalen Gegensatz“ im Sinne einer Unterscheidung des „reinen Vollzugssinn[s]“ der Begriffe belassen, dann „gewinnt die Antithese zwischen beiden alsbald eine andere Bedeutung. Der Geist braucht nicht mehr als ein allem Leben fremdes oder feindliches Prinzip betrachtet, sondern er kann als eine Wendung und Umkehr des Lebens selbst verstanden werden“ 21. Wir können und müssen uns an dieser Stelle noch nicht in die Subtilitäten der anthropologischen Konzeption vertiefen, auf die dieser Gegenvorschlag Cassirers sich mehr schon bezieht, als dass er sie vorbereitet, sondern können uns vorläufig mit zwei methodischen und keineswegs trivialen Einsichten begnügen. Erstens werden wir uns nicht nur in der Frage von „Leben“ und „Geist“, sondern auch in der analog verstandenen Frage nach der ‚Natürlichkeit‘ des Menschen und ihrem Verhältnis zu seiner ‚Kulturalität‘, zu der Cassirer sich weniger unzweideutig geäußert hat, vor dem Schematismus hüten müssen, der schon jeder Unterscheidung zweier ‚Seiten‘, ‚Dimensionen‘, ‚Stufen‘ oder ‚Phasen‘ des Menschseins zugrunde liegt und dabei jedesmal, sei es in räumlichen oder zeitlichen Metaphern, „ein[en] rein funktionale[n] Gegensatz in einen substantiellen“ zu verwandeln droht. „Geist“ und „Leben“, „Kultur“ und „Natur“ zu einander „fremde[n] oder feindliche[n] Prinzip[ien]“ zu erklären, ist leicht; schwieriger, aber auch fruchtbarer erscheint dagegen die Frage, ob (und gegebenenfalls in welchem präzisen Sinn) auch das Leben der Kultur Ebd. (Kursivierung F. S.). Vgl. im selben Sinne ECN 1, S. 15 f., wo Cassirer die „Korrelation“ von ‚Leben‘ und ‚Form‘ als „das primär-Gewisse und primär-Gegebene“ herausstreicht, während ihre „Sonderung ein bloss-Nachträgliches, eine Konstruktion des Denkens ist. Die Frage, wie das Leben zur Form, wie die Form zum Leben “gelangt” – diese Frage ist daher freilich unlösbar – aber sie ist es nicht darum, weil zwischen beiden eine unübersteigliche Kluft befestigt ist, sondern weil die Hypostase der »reinen« Form wie die Hypostase des »reinen« Lebens bereits einen inneren Widerspruch in sich birgt. So tief wir auch in das Reich des organischen Werdens hinabsteigen, und so hoch wir uns in das Reich des geistigen Schaffens erheben mögen: wir finden niemals jene beiden Subjekte und gleichsam jene beiden Substanzen, nach deren »Harmonie«, nach deren metaphysischem Zusammenhang hier gefragt wird. Wir treffen so wenig auf ein schlechthin formloses Leben, wie wir auf eine schlechthin leblose Form treffen. Die Trennung, die unser Gedanke zwischen beiden vollzieht, geht daher nicht auf zwei metaphysische Potenzen, deren jede “für sich ist und für sich gedacht werden kann”, sondern sie betrifft gewissermassen nur zwei Accente, die wir im Fluss des Werdens setzen. Das Werden ist seinem Wesen nach weder blosses Leben, noch blosse Form, sondern es ist Werden zur Form – γένεσις εἰς οὐσίαν[,] wie Platon sagt.“ 21
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bei Cassirer nach Art einer „Wendung und Umkehr“ verstanden werden kann, die das natürliche Leben des Menschen in sich selbst vollzieht. Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen möchte, betrifft den Substanz-Funktions-Antagonismus selbst, der (wie allgemein anerkannt wird) für Cassirers Philosophie im Allgemeinen und für seine Anthropologie im Besonderen Grundlagencharakter hat und uns im Folgenden noch länger beschäftigen wird. Wenn nämlich, wie ich hier in aller Kürze anzudeuten versucht habe, gerade dieser Antagonismus im anthropologischen Kontext offenbar eine Cassirer-Rezeption nahelegt, die in ihrer Tendenz auf das Zerrbild des welt- und lebensfernen Idealisten hinausläuft, dessen Funktionalismus nur für das Verständnis des ‚geistigen‘, nicht aber des ‚lebendigen‘ Aspekts des Menschen angemessen sei; wenn wir dieser Konsequenz andererseits den Hinweis auf eine einschlägige Passage entgegenhalten konnten, in der Cassirer selbst genau umgekehrt mit der Unterscheidung von ‚substantiellen‘ und ‚funktionalen‘ Begriffsverwendungen argumentiert, um damit gerade den dynamischen Zusammenhang zwischen beiden Grundvektoren unserer Existenz zu sichern – sodass also verglichen mit der Weise, in der sie von anderen oft verstanden worden ist, die Substanz-Funktions-Differenz bei Cassirer selbst ein völlig anderes Vorzeichen zu haben scheint –, dann begründet diese paradoxe Lage einen Anfangsverdacht, der sich (wie ich hoffe) im Folgenden erhärten wird: Es liegt der Verdacht nahe, dass die Rezeption der von Cassirer regelmäßig eingeforderten Wende ‚vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff ‘ ebenso regelmäßig einen Aspekt der Selbstbezüglichkeit dieses Postulats übersehen haben könnte. Damit meine ich, dass – ähnlich wie bei ihrer ‚Anwendung‘ auf die Geist-Leben-Dichotomie – auch der Sinn von Cassirers Differenzierung in ‚substantielle‘ und ‚funktionale‘ Perspektiven selber immer schon verfälscht sein könnte, wo sie als einfache Disjunktion vorgestellt wird, die uns gewissermaßen zwischen zwei ‚substantiellen‘ Möglichkeiten vor die Wahl stellt – denn es wäre ja auch möglich und sogar wahrscheinlicher, dass die ganze Differenz schon als ein ‚funktionales‘ Verhältnis zweier Denkarten oder als Übergang zwischen beiden gemeint wäre, zu dessen performativem Verständnis folglich auch das ‚Substantielle‘ jederzeit gehören würde. Dieser Verdacht und die alternative Lesart, die er nahelegt, bestimmen das Programm und die Leitfragen der weiteren Untersuchung: Was steckt eigentlich hinter dem Rekurs des Essay on Man auf ein Werk, das Cassirer vierunddreißig Jahre zuvor, noch in einem durchaus anderen Stil und Umfeld, als seinen ersten systematisch eigenständigen Beitrag zur Wissenschaftstheorie verfasst hatte? Kann es wirklich sein (und was wäre ggf. davon zu halten), dass ausgerechnet die in einer Theorie des na-
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turwissenschaftlichen Wissens entstandene Substanz-Funktions-Dichotomie Cassirer am Ende dazu führt, seinen Ansatz gegen eine Bestimmung des Menschen vom Naturbegriff aus zu profilieren? Was meint überhaupt die Unterscheidung von ‚Substanzbegriffen‘ und ‚Funktionsbegriffen‘ ursprünglich? Und wie kommt es, dass der Kantianer Cassirer seinen im Ganzen durchaus kantisch inspirierten Funktionalismus des Bewusstseins gegen die Substanz in Stellung bringt, die Kant selbst immerhin noch als eine wesentliche Grundkategorie nicht nur unserer Natur- sondern der menschlichen Welterkenntnis überhaupt anerkannt hatte? – Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werde ich nun einen großen Sprung zurück machen und die Substanz-Funktion-Dichotomie werkgeschichtlich bis zu ihren Anfängen zurückverfolgen. 1.1 Kleine Archäologie des substanzkritischen Funktionalismus § 2 Der Cartesische Sein-Denken-Dualismus und seine Überwindung Cassirers erste ausdrückliche Gegenüberstellung einer „ substantiellen Weltansicht“ und einer „Auffassung, die auf dem Grunde des Funktionsbegriffs erwachsen ist“ findet sich im ersten Band seiner großen Studie zum Erkenntnisproblem. 22 Seine Beschäftigung mit der Problematik eines substanzontologisch imprägnierten Denkens reicht jedoch noch weiter zurück bis zu seiner Dissertation über „Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis“ von 1899. 23 In der argumentativen Dramaturgie der Dissertation bildet das Kapitel über „[den] Begriff der Substanz und die Substantialisierung des Raumes“ 24 gewissermaßen den kritischen Wendepunkt: Nachdem die vorangehenden Kapitel hauptsächlich einer systematischen Rekonstruktion von Descartes’ Neubegründung der mathematischen Wissenschaften gewidmet waren, in welcher Cassirer eine originale Leistung von hohem geschichtlichem Wert erkennt, sieht er sich hier vor die Frage gestellt, wie es im Cartesischen System trotz der „Tiefe und Sicherheit“ seiner idealistischen Fundamente dennoch zu eklatanten „Mängel[n] der empirischen AufstelDas Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit ( im Folgenden zitiert als ‚EP‘), Bd. 1 (1906), ECW 2, S. 355. Auf diese Stelle werde ich in § 4 zu sprechen kommen. 23 Cassirer hat die Dissertation 1902 als Einleitung zu seinem ersten Buch Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen ( im Folgenden zitiert als ‚LS‘), ECW 1, veröffentlicht (S. 3–93). 24 Vgl. LS 32–46. 22
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lungen“, insbesondere in Form falscher mechanischer Stoßgesetze, hatte kommen können. 25 In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der ‚Marburger Schule‘ hebt Cassirers Erklärung für diese Diskrepanz nicht etwa auf die schnell unterstellten Grenzen der rationalen Methode ab, sondern sieht den Fehler im Gegenteil in einer „Abweichung“ Descartes’ vom ursprünglich eingeschlagenen „erkenntniskritischen Wege“, 26 die sich in seinem System in einer „Inkongruenz“ 27 bei der Behandlung des Substanzbegriffs niederschlage. Mit diesem habe Descartes nämlich einerseits in aristotelisch-scholastischer Tradition die „allgemeinste Grundlage des physikalischen Seins“ überhaupt bezeichnen wollen, tendiere aber andererseits dazu, ihn unmittelbar im „Schema der räumlichen Gestalt“ aufzufassen, obwohl der Ausdehnung im Raum innerhalb des rationalen Begriffssystems bloß der Status eines (verglichen mit dem allgemeinen Größenbegriff ) abgeleiteten Begriffs zugesprochen worden war. 28 Mehr noch als für die in der Kapitelüberschrift angekündigte „Substantialisierung des Raumes“ kritisiert Cassirer Descartes also eigentlich für seine Verräumlichung der Substanz und seinen starr-geometrischen Begriff des Seins. Dahinter steht die Ansicht, dass gerade Descartes’ Orientierung an der Geometrie des Raumes, die einerseits seine fruchtbare Wiederanknüpfung an den platonischen Idealismus wesentlich motiviert hatte, ihm andererseits die später von Leibniz gegen ihn zur Geltung gebrachte Einsicht versperre, „daß die »Substanz«, um ihrer Aufgabe des Naturgegenstandes zu genügen, ein dynamisches Moment in sich aufnehmen muß“. 29 Für unsere Fragestellung ist hier vor allem interessant, dass es gar nicht primär der Gebrauch des Substanzbegriffs ist, der Descartes vorgeworfen wird – im Gegenteil erkennt Cassirer im Begriff der Substanz und seiner Tendenz auf das „Problem der Existenz“ „eine wertvolle Hinweisung auf Untersuchungen, denen sich gerade die Begründung des erkenntniskritischen Idealismus niemals entziehen kann“. 30 Was Cassirer an dieser Stelle ausdrücklich kritisiert, ist der Kurzschluss im Aufbau des LS 31. LS 36. 27 LS 34. 28 LS 34. 29 LS 43 (Kursivierung F. S.). Folgerichtig führt Cassirer die empirischen Mängel des Systems später insgesamt auf Descartes’ unzulängliche Behandlung des Zeitbegriffs zurück: vgl. LS 82 ff. 30 Vgl. LS 37: „Darin zwar, daß das Problem der Existenz gestellt und daß die Unmöglichkeit seiner Lösung in den Grenzen bloßer Mathematik erkannt wird, liegt eine wertvolle Hinweisung auf Untersuchungen, denen sich gerade die Begründung des erkenntniskritischen Idealismus niemals entziehen kann. Nur wäre nunmehr zu erwarten, daß neue methodische und wissenschaftliche Mittel gesucht würden, um 25 26
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wissenschaftlichen Weltbilds durch Descartes: Anstatt nämlich „in stetigem begrifflichen Fortschritte den Gegenstand der Mathematik zum Gegenstand der Mechanik zu determinieren, diesen wiederum zum Gegenstand der Physik und in fortschreitender Besonderung zum Gegenstand der beschreibenden Naturwissenschaft zu gestalten“, 31 sei Descartes einer metaphysisch motivierten Vermischung der rationalen Begriffsordnung mit Prinzipien der Sinnlichkeit verfallen, weshalb denn auch die letzte „Bürgschaft für die Existenz“ 32 schließlich dem irrationalen Vermögen der „Imagination“ zugemutet werde: „Der Begriff der Imagination, der aus dem Interesse am Existenzproblem in das System eingeführt wird, ist nun seiner ursprünglichen Richtung nach der Tendenz des Substanzgedankens entgegengesetzt. Der Substanzbegriff vertritt den Monismus der Erfahrung, indem er den äußeren Gegenstand als Produkt der Einheitsfunktion des Bewußtseins nachweist. »Subjekt« und »Objekt« treten hier erst innerhalb der umschließenden Einheit der Erfahrung und auf Grund ihrer Gesetzlichkeit auseinander. Die Imagination geht im Gegenteil von Anfang an darauf aus, die Wirklichkeit der Natur in ursprünglicher Unabhängigkeit vom »Ich« zu behaupten; sie endet damit, Ich und Natur in zwei völlig getrennte Realitäten auseinanderzureißen. Der Unterschied in den Erkenntnisarten wird zur wirklichen Unterschiedenheit zweier Objektwelten hypostasiert. Dem reinen Denken bleiben bei dieser Trennung allein die »innere« psychologische Erfahrung und die metaphysischen Probleme überlassen, während das gesamte Gebiet der Naturwirklichkeit, zugleich mit dem Grundbegriff der Ausdehnung, der »Imagination« anheimfällt.“ 33
Hier sehen wir deutlich, dass die Alternative, die Cassirer am Fall des Cartesischen Systems exemplarisch konstruiert, offenbar noch nicht diejenige von ‚Substanzbegriff ‘ und ‚Funktionsbegriff ‘ ist, sondern vielmehr die Alternative zwischen einer mehr oder weniger diffusen Substanzvorstellung (nach Maßgabe der sinnlichen „Imagination“) und einem bewusst reflektierten Substanzbegriff (dessen Objekt Cassirer schon per se als ein „Produkt der Einheitsfunktion des Bewußtseins“ gilt). Diese etwas anders gelagerte Entgegensetzung wirkt übrigens noch bis in die Philosophie der symbolischen Formen nach, wo Cassirer das Erhaltungsprinzip der allgedie Abstraktionen der Mathematik schrittweise durch immer genauere Bestimmungen den Forderungen der »Wirklichkeit« anzunähern.“ 31 LS 37. 32 LS 38. 33 LS 39 (Kursivierung F. S.).
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meinen Relativitätstheorie ziemlich überraschend als „ein »Substantielles« von ganz neuer Art und Ordnung“ deutet, nämlich als den „vielleicht . . . höchsten Triumph, den der reine Substanzgedanke über die bloße Substanzvorstellung davongetragen hat“. 34 Während diese Reminiszenz aber eher eine Ausnahme von Cassirers späterem Sprachgebrauch bildet, dürfen wir für den Cassirer der Jahrhundertwende festhalten, dass hier anscheinend noch nicht die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Substanzbegriffs im Vordergrund steht. Cassirer fasst das Problem zu jener Zeit vielmehr noch ganz in die Frage, weshalb die Substanz bei Descartes nicht schon „durchweg in der Reinheit einer begrifflichen Funktion und Relation, sondern daneben [!] in dualistischer Tendenz als ein losgelöstes Dasein gefaßt wurde.“ 35 So wendet sich Cassirer zur Überwindung dieser „merkwürdige[n] Anomalie“ 36 auch zunächst an einen anderen Denker – Leibniz –, der den Begriff der Substanz als solchen ebenfalls nicht in Zweifel zieht, sondern ihn gemäß seiner neuen, idealistischen Auffassung sogar zum eigentlichen Mittelpunkt seines Systems macht. Die Art, wie Leibniz dabei, nach einer späteren prägnanten Formulierung Cassirers, „den realistischen Substanzbegriff umkehrt“, 37 ist allerdings so radikal, dass sie auf den ersten Blick alles materiell-Imaginative an ihm aufzuheben scheint. In minutiösen Analysen zeichnet Cassirer nach, wie auf der Grundlage einer wesentlich geänderten Stellung zum „Verhältnis von Denken und Sinnlichkeit in den Grundlagen der Mathematik“ 38 schon die Analysis situs mit dem Raumpunkt als der entschiedensten „Negation der Ausdehnung“ beginne, weil sich nur auf dem Wege dieser Negation ein Höchstmaß an begrifflicher Bestimmtheit der relativen Lage erzielen lasse. 39 An PhsF 3, S. 548. LS 47. 36 LS 38. 37 PhsF 3, S. 193 (Kursivierung F. S.). 38 LS 34. 39 LS 133. – Mit dem Übergang von der sinnlichen Extension zur idealen Punktgrenze vollzieht Leibniz hier nach Cassirer im geometrischen Kontext, was in seinem System dann allgemeiner als Zurückführung der Größenbegriffe auf die Qualität als „Grundlage und Voraussetzung mathematischer Bestimmung“ (LS 125) überhaupt erscheint – wobei die ‚Qualität‘ hier nicht die sogenannten ‚Sinnesqualitäten‘, sondern die ‚Distinktheit‘ und methodische Präzision einer begrifflich kontrollierten Einordnung in Relationszusammenhänge betrifft. Das Verhältnis von Quantität und Qualität bekomme bei Leibniz so überhaupt „eine neue prinzipielle Bedeutung . . . als das prägnante Beispiel der fundamentalen logischen Entgegensetzung zwischen sinnlicher Rezeption und methodischer Bestimmung“ (LS 152) – eine Deutung, der sich Cassirer später auch in seiner eigenen Auffassung der Mathematik anschließt: siehe unten S. 74. 34 35
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diese neue Auffassung des Mathematisch-Einfachen, das nach Cassirers Verständnis die „Tendenz zur Mannigfaltigkeit und ihre Repräsentation“ bereits in sich schließt, habe Leibniz schließlich mit seinem Kraftbegriff und den zum Ausdruck der dynamischen Verhältnisse entwickelten Infinitesimalbegriffen unmittelbar anknüpfen können. 40 Im dynamischen Raum der metaphysischen Wirklichkeit, den Leibniz entsprechend seinen mathematischen Prinzipien als unendlich teilbares Kontinuum annimmt, kann die ‚Existenz‘ jeder einfachen Substanz (Monade) damit wie die des Punktes nur noch die einer letzten Begriffseinheit sein, die nach Art eines Differentials an der gesetzlichen Entwicklung des gedanklichen Ganzen partizipiert und nur durch ihre logischen Verhältnisse zur Gesamtheit aller (übrigen) Substanzen bestimmt ist. 41 Insgesamt ergebe sich Leibniz damit ein zwar weiter von der sinnlichen Alltagserfahrung entferntes, aber gegenüber dem Cartesianismus empirisch tragfähigeres Modell der Wirklichkeit, das sich ihm im Verhältnis von Differential und Integral exemplifiziert. Wenn Leibniz bei alledem durchaus am Begriff der Substanz festhält, so ist dieser Begriff, was seine empirischen Implikationen betrifft, nach einer späteren prägnanten Formulierung Cassirers gleichsam immer schon durch den mathematischen Funktionsgedanken „hindurchgegangen“ 42 und durch diesen Zusammenhang auch in der wissenschaftlichphilosophischen Sprache der Zeit in Grenzen gerechtfertigt.
LS 169 f.: „Während die Lösung der Aufgabe, die hier dem Substanzbegriff gestellt wird, die späteren konkreten Entwicklungen voraussetzt, gehört die Fragestellung, wie Leibniz selbst hervorhebt, bereits dem Zusammenhang der Logik der Infinitesimalrechnung an. . . . [Wir sehen,] wie Leibniz’ Begriff des Seins sich mit dem logischen Inhalt erfüllt hat, der im Begriff des Differentials entdeckt ist.“ 41 Dieses Verhältnis habe Leibniz bewusst in subjektiv-objektiver Neutralität konzipiert, sodass es sich mit demselben Recht nach der subjektiven Seite als Einheit des Ich und des intentionalen „Bewusstseins“ wie nach der objektiven als Gesetzeszusammenhang der „Kraft“ ausdeuten lasse. Es sei mithin als einheitliche Antwort auf die doppelte Frage zu verstehen, „[w]ie es möglich ist, eine Mannigfaltigkeit wechselnder Zustände in einer Einheit der Bestimmung festzuhalten – wie es zu denken ist, daß ein Nicht-Gegenwärtiges für den Gedanken dennoch als Gegenwart darstellbar ist.“ (LS 319) – Auf das mathematische Motiv, das uns hier im Rahmen der Leibniz-Interpretation begegnet, wird Cassirer später wiederholt zurückgreifen, um – zwar in kritischer Distanz zu seiner unmittelbaren metaphysischen Applikation, aber doch mit mehr als nur allegorischer Geltung – seine eigenen Begriffe von ‚Funktion‘ und ‚Repräsentation‘ zu verdeutlichen, die er in wesentlichen Zügen schon bei Leibniz vorgebildet sieht. 42 Vgl. ECN 8, S. 11 f. 40
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§ 3 Cassirers Leibniz-Rezeption im Kontext der ‚Marburger Schule‘ Die Anerkennung des Leibnizschen Systems, insbesondere mit Blick auf den von ihm mit entwickelten Differentialkalkül, als eines entscheidenden logischen Schritts in der Herausbildung der mathematischen Erfahrungswissenschaft und der daran anknüpfenden (kantischen) Erfahrungsphilosophie findet sich nicht nur bei Cassirer, sondern in ähnlicher Form auch bei den anderen Hauptvertretern der ‚Marburger Schule‘. Den ersten Anstoß in diese Richtung hatte Hermann Cohen schon 1883 gegeben und noch seine Logik der reinen Erkenntnis (1902) wesentlich als eine Logik des Infinitesimalen begründet; 43 eine Sichtweise, an die 1910 auch Paul Natorp mit seinen Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften anknüpfte. 44 Die dabei wiederaufgenommene ‚transzendentale Frage‘ Kants, deren theoretische Bedeutung für beide Philosophen zunächst in der Forderung einer geltungstheoretischen Grundlegung der exakten Naturwissenschaften liegt, steht auch in Cassirers früher Auseinandersetzung mit den Systemen von Descartes und Leibniz überall im Hintergrund. Neben der Wertschätzung für Leibniz’ geschichtliche Rolle bei der Entwicklung der Infinitesimalmethode und für die Vgl. Hermann Cohen: Das Princip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik. Berlin 1883, S. 33: „ Die Infinitesimal- Analysis ist das legitime Instrument der mathematischen Naturwissenschaft. Auf ihr beruhen alle ihre Methoden. In ihrer Gewißheit ruht die Gewißheit der Wissenschaft.“ Ebenso ders.: Logik der reinen Erkenntnis. System der Philosophie. Berlin 1914, S. 34: „Wenn die Logik Logik der Wissenschaft, der mathematischen Naturwissenschaft prinzipaliter ist, so muß sie vorzugsweise die Logik des Prinzips der Infinitesimal-Rechnung sein.“ – In der Schrift von 1883 führt Cohen übrigens auch den Begriff der „Erkenntniskritik“ ein, von dem dann auch Cassirer immer wieder Gebrauch macht. Vgl. ders.: Das Princip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, S. 5 f.: „Desshalb muss ich an dem Namen Erkenntnisstheorie Anstand nehmen: weil er die Vorstellung erweckt, dass die Erkenntniss als ein psychischer Vorgang den Gegenstand dieser Untersuchung bilde . . . Diese Ansicht ist grundfalsch; denn auf dem Wege psychologischer Analysen kann man nicht zu derjenigen Gewissheit gelangen, welche für die auf diesem Gebiete behandelten Fragen erforderlich ist. . . . Nehme ich hingegen die Erkenntniss nicht als eine Art und Weise des Bewusstseins sondern als ein Factum, welches in der Wissenschaft sich vollzogen hat und auf gegebenen Grundlagen sich zu vollziehen fortfährt, so bezieht sich die Untersuchung . . . nicht auf den Vorgang und Apparat des Erkennens, sondern auf das Ergebnis desselben, die Wissenschaft. . . . Auf den Thatbestand der Wissenschaft richtet sich die Untersuchung der Erkenntniss, die Prüfung ihres Geltungswerthes und ihrer Rechtsquellen. . . . Ich möchte daher anstatt Erkenntnisstheorie den weniger missverständlichen Namen der Erkenntnisskritik setzen, und gedenke denselben fortan zu gebrauchen.“ 44 Paul Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig 1910, S. V. 43
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konsequente Orientierung seiner Begriffsphilosophie (diesseits ihres spekulativen Überbaus) am Ganzen der wissenschaftlichen Erfahrung zeigt sich bei Cassirer jedoch noch ein spezielleres Interesse an einem anderen Aspekt der Leibniz’schen Philosophie. Schon in Leibniz’ System bekennt er sich immer wieder zu einem Ziel, das später für ihn noch sehr wichtig wird, nämlich zum Ziel einer systematischen Vermittlung zwischen den Ansprüchen des Denkens und denen der Sinnlichkeit. Gerade mit Blick darauf scheint Cassirer in Leibniz einen Bruder im Geiste zu sehen: 45 Nicht nur in der Forderung nach einer characteristica universalis als Wissenschaft der zeichenhaften Repräsentationen von Denkoperationen, und auch nicht nur darin, dass er bei Leibniz die Bedeutung einer „exacten sinnlichen Phantasie“ für die geometrische Anschauung anerkannt findet, sondern gerade auch mit Blick auf ästhetische Fragen im engeren Sinne erscheint ihm der ‚Rationalist‘ hier als früher Wegbereiter künftiger Forschungsrichtungen, die erst die deutsche Klassik wieder in ihrer allgemeinen Bedeutung erkannt habe. 46 Schon hier kündigt sich bei aller Nähe eine signifikante Abweichung Cassirers von den theoretischen Fragestellungen seiner Marburger Kollegen an, die sich vielleicht am besten anhand der unterschiedlichen Deutungen umreißen lässt, die Kants Lehre von den „zwei Stämme[n] der menschlichen Erkenntniß . . . , nämlich Sinnlichkeit und Verstand“ 47 bei den drei Denkern erfährt. Cohen, der in dieser Dualität lediglich eine „Schwäche“ der von Kant gegebenen Lösung der Aufgabe einer transzendentalen Grundlegung der Naturerkenntnis und sogar den „Grund für den Abfall, der alsbald in seiner Schule hereinbrach“ zu sehen vermochte, 48 konzentrierte seinen eigenen Grundlegungsversuch Für Cassirer führt deshalb auch Leibniz’ „scharfe logische Unterscheidung“ zwischen „sinnlicher Rezeption und methodischer Bestimmung“ weder auf einen Parallelismus von Denken und Sinnlichkeit noch zu einer restlosen Auflösung der sinnlichen Wirklichkeit in bloße Begriffe, sondern bringt im Gegenteil gerade „die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen beiden Problemen“ zum Ausdruck, die allerdings auf den Weg rationaler Begründung durch die Kontinuität des reinen Denkprozesses verpflichtet wird (vgl. LS 152). 46 Vgl. schon LS 411 ff. und insbesondere Leibniz’ Rolle in Freiheit und Form ( im Folgenden zitiert als ‚FF‘), ECW 7, Kapitel 1 und 2. Besonders Marion Lauschke hat herausgearbeitet, wie schon der frühe Cassirer in und selbst vor seiner Marburger Zeit eine durchaus andere Einstellung zum systematischen Stellenwert der Ästhetik an den Tag gelegt hat, als es in beiden großen Schulen des Neukantianismus üblich war: Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die Symbolische Form der Kunst. Hamburg 2007. Vgl. auch Vliet: La forme selon Ernst Cassirer, S. 99–104. 47 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (A) (im Folgenden zit. als KrV-A) 25. 48 Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, S. 12. 45
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in der Folge ganz auf die Autonomie des „reinen Denkens“, während die Sinnlichkeit zumindest aus dem Begründungszusammenhang der Erkenntnis möglichst vollständig ausgeschlossen bleiben sollte. Auch Natorp bleibt in seinen Logischen Grundlagen dieser methodischen Vorgabe zunächst noch ganz treu. Cassirer wiederum teilt zwar mit beiden die Einschätzung, dass die Frage nach den logischen Grundlagen der wissenschaftlichen Naturerkenntnis vom sensualistischen Versuch ihrer Zurückführung auf erste ‚Elemente‘ scharf zu unterscheiden sei. 49 Im lebhaften Interesse, das er daneben für Leibniz’ Lehre von der graduellen Kontinuität der Vorstellungsarten (und von der korrespondierenden Kontinuität der Lebensformen) an den Tag legt, deutet sich aber bereits ein erst in späteren Entwicklungen – insbesondere im Theorem von der „symbolischen Prägnanz“ – voll zur Geltung gebrachter Gesichtspunkt an: der Gedanke nämlich, dass Fragen der Sinnlichkeit nicht nur im Hinblick auf die materialen Bezüge des Denkens in seinen Anwendungen (z. B. im wissenschaftlichen Experiment), sondern auch mit Blick auf den eigentlichen Sinn und selbst die formale Verfasstheit dieses Denkens selbst in so engem Zusammenhang mit den Grundfragen der transzendentalen „Erkenntniskritik“ stehen könnten, dass weder ihre ganz abgetrennte Behandlung in einer reinen Ästhetik noch ihre Subsumtion unter eine bloß mit logischen Verfahren operierende Epistemologie dem sachlichen Problem gerecht würde. Obwohl Cassirer bis 1918 – Cohens Todesjahr, in dem Cassirer an der Stelle seines früheren Lehrers die Marburger Kant-Ausgabe mit einem Band über Kants Leben und Lehre abschließt 50 – eine direkte Konfrontation über so grundlegende Fragen der Kant-Interpretation vermeidet, implizieren so schon seine frühen Äußerungen eine größere Nähe zur ursprünglichen kantischen Erkenntnislehre von den zwei „Stämmen“ unseres Wissens, die „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen“ mögen 51 – und damit auch zur Grundlage dieser Lehre in Kants Anthropologie, für die der Mensch auch in seinen reinen Erkenntnisleistungen immer Vernunftund Sinnenwesen zugleich ist. 52 In diesem Zusammenhang ist nun auch an Cassirers Rezeption des Leibniz’schen Substanzbegriffs (siehe die ihm zugesprochene Funktion, Prägnant ist in dieser Hinsicht die polemische Stellungnahme, die Cassirer 1906, auf dem Höhepunkt des Psychologismusstreits, im Aufsatz „Der kritische Idealismus und die Philosophie des »gesunden Menschenverstandes«“ veröffentlichte (ECW 9, S. 3–36). 50 ECW 8. Siehe dazu § 12. 51 Kritik der reinen Vernunft (A), AA IV, S. 25. 52 Vgl. ApH § 7 (AA VII, S. 140 ff.) 49
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das „Problem der Existenz“ im philosophischen Bewusstsein zu halten 53) noch ein zweiter Aspekt hervorzuheben. Denn neben der in der Infinitesimalmethode wurzelnden Auffassung, die die besondere Einzelsubstanz mit Blick auf ihre logischen und dynamischen Bestimmungen ganz in allgemeine Gesetzeszusammenhänge hineinstellt und in ihnen geradezu auflösen zu wollen scheint, erkennt Cassirer in Leibniz’ Überlegungen zum „Problem des Individuums“ 54 eine geradezu entgegengesetzte Tendenz, die denn auch mit einer Umkehrung des „logische[n] Rangverhältnis[ses]“ von Allgemeinem und Besonderem einhergehe: Dieselbe einzelne Substanz, die im Hinblick auf die ‚ewigen Wahrheiten‘ der allgemeinen Naturgesetze nur mehr als ein letzter Grenzbegriff der wissenschaftlichen Bestimmung gelten durfte, werde so für Leibniz andererseits zum „echte[n] πρότερον τῇ φύσει“, sobald sie unter dem Aspekt der ‚zufälligen Wahrheiten‘ betrachtet wird, der sie als Realisation eines „individuellen Lebens“ charakterisiert. 55 Was Cassirer zufolge die Einführung dieses neuen Gesichtspunkts nötig macht, ist die monadologische Auffassung der Organismen als jeweils „eigene[r] Zentr[en] der Bewußtheit“, deren Identität sich durch ein je besonderes „Gesetz der Entwicklung“ bestimmt. 56 Sofern auch der Mensch als Lebewesen an diesem organischindividualisierten Dasein teilhat, erklärt sich, wie für den Einzelnen auch die universellsten Fragen nach ‚ewigen Wahrheiten‘ immer wieder hinter diesem besonderen Entwicklungsgesetz zurücktreten müssen, indem sie (als tatsächlich gestellte) immer nur im partikularen Rahmen des je eigenen Lebensvollzugs auftreten und in ihn wie eingebettet erscheinen. Die LS 37; siehe oben S. 41. So der Titel des Kapitels 8 von Leibniz’ System (Kursivierung F. S.), der sich auch noch durch die beiden nächsten Kapitel des Buches (zugleich die letzten systematisch orientierten) zieht: „Das Problem des Individuums in der Biologie – Der Organismus“ und „Der Begriff des Individuums im System der Geisteswissenschaften“. 55 Vgl. LS 368 f.: „An diesem Punkte ändert sich das logische Rangverhältnis der Begriffe. Das »Subjekt«, das . . . als das Ergebnis eines analytischen Regresses von den Erscheinungen aus . . . für unsere Erkenntnis das Letzte ist, ist dennoch, wie sich jetzt zeigt, das echte πρότερον τῇ φύσει. . . . Solange wir beim anschaulichen Einzeldasein stehenbleiben, ist uns nur das Spiel der derivativen Kräfte gegeben: eine Folge von Energiesystemen, die sich gegenseitig ablösen und verdrängen. Um diesen Prozeß als Entwicklung eines individuellen Lebens zu verstehen, müssen wir den reinen Vernunftbegriff einer Identität, die in immer gleicher Weise den Gesamtfortschritt richtet und regelt, in die Reihe hineindenken. . . . Die Untersuchung . . . richtet sich [nunmehr] auf einen Zusammenhang, in dem das Ganze als voraufgehender Bestimmungsgrund der Teile gedacht ist. Es ist, wie man sieht, das Aristotelische Motiv der Entelechie, das hier in Leibniz’ Gedanken zur Wirksamkeit kommt, jedoch sogleich unter völlig veränderten logischen und systematischen Bedingungen erscheint.“ 56 LS 362 f. 53 54
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ebenso naheliegende wie letztlich unfruchtbare Frage, welches nun ‚eher‘ als das eigentlich-Erste zu gelten habe – das ‚Allgemeine‘ oder doch das ‚Besondere‘ – wird so bei Leibniz zu einer Frage der Perspektive, die das Denken selbst jedesmal entsprechend der sachlichen Fragestellung neu zu wählen hat. Nun ist es zwar bekanntlich so, dass Leibniz gemäß seinem Anspruch, „zwischen den Bedingungen der mathematischen Erkenntnis und dem Begriff des Seins“ die bei Descartes noch nicht erreichte „Ausgleichung“ 57 zu finden, neben dieser perspektivischen Differenz zugleich einen metaphysisch-realen Homologismus beider Betrachtungsweisen behauptet, in dem die biologische, von der konkreten Individualität und dem inneren Entwicklungsgesetz des Einzelorganismus ausgehende Perspektive mit der konstruktiv-mechanischen, die von den allgemeinen Gesetzen der universellen mathematischen Ratio ausgeht, kraft einer universalen ‚prästabilierten Harmonie‘ zusammenhängen, die für Leibniz nur noch aus dem Wirken göttlicher Gnade begreiflich ist. Indem Cassirer diesen Gedanken aber bewusst sehr schwach interpretiert, nämlich lediglich als Postulat eines möglichen Übergangs von der Perspektive eines „äußeren Beobachter[s]“ zum Standpunkt der monadischen Lebenseinheit selbst und ihren Eigengesetzen, sieht er selbst in diesem Theorem noch keine Abkehr vom „Monismus der Erfahrung“; 58 vielmehr mache der fragliche Übergang nur einen Wechsel des begrifflichen Instrumentariums von einer Dynamik der Wirkursachen zu einer Ordnung der Zwecke erforderlich, in der erst die appetitiven Lebensvollzüge des organischen Individuums verständlich werden können. 59 Indem dieser Übergang ferner von Leibniz nicht bloß abstrakt behauptet, sondern konkret an der ‚Substanz‘ des individuellen Organismus vermittelt wird, wo er zugleich den Zusammenhang von Leib und Seele verbürgt, kongruiert er für Cassirer zugleich mit dem Übergang von der theoretischen Reflexion, die sub specie aeternitatis ein universelles Vernunftsystem der mathematischen Naturerkenntnis konstruiert, zur praktischen Lebensführung des Einzelnen; und es ist eigentlich erst dieser Schritt ins Praktische, der nach Cassirers Lesart die zunächst als rein geistige Einheit gefasste ‚Substanz‘ bei Leibniz überhaupt auch „in dem LS 168. LS 39; vgl. das weiter oben (S. 42) angeführte Zitat. 59 LS 368: „Das materielle Geschehen wird beherrscht von immanenten Formprinzipien. Die Vielheit seiner Gestaltungen ist als der Ausdruck zu verstehen, in dem sich ein in sich Einheitliches entfaltet und zeitlich auseinanderlegt. In dieser Bedeutung wird die Form zum Zweck. Die substantielle Einheit strebt danach, sich in immer erneuten Bildungen darzustellen und zu verwirklichen. Jede besondere Stufe im Sein des Organismus ist durch diese ursprüngliche Tendenz bedingt zu denken.“ 57 58
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weiteren Sinne“ (!) in Erscheinung treten lässt, „in dem sie zugleich eine besondere Gruppe materieller Erscheinungen vertritt“. 60 § 4 ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ als Kategorien und als Paradigmen Ich habe die Tatsache, dass Cassirer das Leibniz’sche System vor allem für seinen Beitrag zur Theorie des Individuums würdigt, nicht zufällig hervorgehoben. Es ist nämlich neben der symboltheoretischen Anknüpfung an Leibniz’ Idee einer ‚universellen Charakteristik‘ des Bewusstseins gerade dieses Problemfeld, auf dem Cassirers Philosophie der symbolischen Formen später auf eine wichtige Leibniz’sche Anregung zurückkommen wird – obwohl Leibniz das Individuum noch durchgängig mit dem Begriff der Substanz zusammendenkt, an dem der spätere Cassirer überall so großen Anstoß nimmt. Mit Blick auf Cassirers Frühwerk über Leibniz’ System ist festzuhalten, dass er an dem dort rekonstruierten dynamischen Substanzbegriff ohnehin nur noch ziemlich wenig auszusetzen hat: Denn indem dieser Begriff in der mathematisch-‚differentialen‘ Nuance, die Leibniz ihm gibt, vollständig durch die verschiedenartigen Kontexte determiniert ist, in denen er jeweils gedacht wird, hat er jene geometrische Starre, die Cassirer an seiner cartesischen Fassung kritisiert hatte, bereits weit hinter sich gelassen. Allerdings scheint es schon dem jungen Cassirer ein besonderes Anliegen zu sein, Leibniz’ Substanzbegriff durch den Aufweis des systematischen Zusammenhangs mit jener ersten mathematischen Bedeutungsebene auch in seiner zweiten Nuance, in der er die irreduzibel-besondere Weltperspektive eines lebendigen Einzelwesens ausdrückt, zu legitimieren. So distanziert Cassirer sich zwar im Zuge derselben ‚erkenntniskritischen‘ 61 Fragen zum Recht und Geltungsbereich unserer verschiedenen LS 365 (Kursivierung F. S.). An dieser Stelle antizipiert Cassirers Interpretation der prästabilierten Harmonie bereits spätere Einsichten (siehe Kapitel 4.1) in verblüffender Klarheit: „Die individuelle Denkeinheit verbindet sich nicht, was völlig unverständlich wäre, mit einem an sich bestehenden, heterogenen Etwas [der Leibsubstanz, F. S.]; sondern sie bezieht sich in distinkter und prägnanter Weise auf einen bestimmten inhaltlichen Komplex materieller Erscheinungen. . . . Die Einheit des Bewußtseins ist nicht selbst als Gegebenheit in Raum und Zeit zu denken; aber indem sie auf eine besondere organische Materie als ihren primären Inhalt geht, ist sie vorwiegend auf eine besondere Stelle in der Ordnung der Erscheinungen bezogen und wird in ihr symbolisch darstellbar.“ – Den organologischen Grundlagen der Monadenlehre widmet sich Cassirer ausführlicher in der Einleitung „Zur Biologie und Entwicklungsgeschichte“, die 1906 als Teil seiner Neuausgabe von Leibniz’ Hauptschriften, Bd. II, erschienen und in ECW 9, S. 538–564 abgedruckt ist. 60
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‚Erkenntnisvermögen‘, die ihn auch schon von der cartesischen Metaphysik der ‚Imagination‘ hatten Abstand nehmen lassen, von Leibniz’ dogmatischer Setzung eines göttlichen Verstandes, der die Bestimmungen sämtlicher Einzelsubstanzen intuitiv erfassen könnte; hier habe Leibniz in einer illegitimen Schlussfolge „[d]as Problem des Individuums . . . in das Problem des »Dinges an sich« verwandelt“. 62 Zugleich nimmt er Leibniz jedoch ausdrücklich vor dem „naheliegende[n] Mißverständnis“ dieser Kritik in Schutz, das die Setzung monadischer Einzelsubstanzen als solche immer schon auf ein transzendentes „Objekt »hinter« den Erscheinungen“ festlegen will. 63 Cassirer erkennt in Leibniz’ idealistischem Substanzbegriff vielmehr das positive Potential, eine Einheit vor allen Erscheinungen auszudrücken – eben die „Einheitsfunktion des Bewußtseins“ 64 einer individuellen Lebensperspektive –, und er sieht darin offenkundig weniger einen Rückfall als ein Verdienst um einen metaphysischen Grundbegriff. Auch noch in Freiheit und Form (1916) wird Cassirer es Leibniz’ „Monadenlehre“ als ihre wesentliche und bleibende Leistung anrechnen, „zum ersten Male in der Geschichte der neueren Philosophie die Kategorien der seelisch-geistigen Wirklichkeit allgemein bestimmt und von den Kategorien der mathematischen Naturerkenntnis geschieden“ 65 zu haben. Leibniz’ historische Errungenschaft, so können wir die dort präzisierte Ansicht zusammenfassen, liegt für Cassirer in der gesonderten Aufstellung eines Inbegriffs für alle wesentlichen Prädikate der reinen Zum Begriff der „Erkenntniskritik“ siehe oben S. 45, Anmerkung 43. LS 350. 63 Ebd. Auch in diesem Fall gilt Cassirers Kritik also dezidiert nicht der Setzung eines individuellen Seins überhaupt unter dem Namen der Substanz, sondern Leibniz’ Indifferenz gegenüber dem „kritischen Unterschied zwischen Idee und Grundsatz, zwischen Problem und konstitutiver Bedingung der Erfahrung“, wodurch in der metaphysischen Konstruktion der Gottesperspektive (und nur in ihr) „[d]ie durchgängige Bestimmung, die wir als Aufgabe der Erfahrung anerkennen mußten, . . . zu einer Gegebenheit umgedeutet und hypostasiert“ werde (LS 351). 64 LS 39, siehe das Zitat auf S. 42 oben. 65 FF 43: „Hierin liegt ihr wesentliches Verdienst, das die besondere Gestalt des Leibnizischen Systems weit überdauert hat. Weder Lessing noch Herder noch Goethe sind Anhänger dieses Systems gewesen; aber sie alle verwandten, bewußt oder unbewußt, im Aufbau ihres Weltbildes Formen, die hier zuerst geprägt worden waren. Leibniz hat nicht nur der deutschen Aufklärung, sondern auch der Epoche der klassischen Literatur und Philosophie gleichsam die Sprache und die geistigen Ausdrucksmittel geschaffen. Das ist die Leistung, die den eigentlichen Weltbegriff seiner Philosophie, im Gegensatz zu ihrem bloßen Schulbegriff, ausmacht und in der sie erst ihre volle geschichtliche Wirkung entfaltet hat.“ – Die „Kategorien“, auf die Cassirer hier anspielt, werden von ihm im Einzelnen bestimmt als die Begriffe der Einheit und Repräsentation; der Zweckmäßigkeit; der Qualität; des Lebensprozesses und der sittlichen Persönlichkeit (vgl. FF 43– 49). 61 62
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Subjektivität, der zwar noch unter dem Namen der Substanz firmiert, der Sache nach aber immer schon ein Ganzes von Funktionen betrifft, sodass seine Charakterisierung als (monadische) Substanz im Grunde (und von den daraus ‚gefolgerten‘ Sätzen über Unsterblichkeit der Seele etc. abgesehen) nur den Aspekt, dass es sich bei diesem Ganzen um ein wirkliches handelt, in der traditionellen Sprache der Schulmetaphysik zum Ausdruck bringt. Wenn aber diese Leibniz’sche Konzeption, in welcher der Funktionsbegriff geradezu wie ein Bestandteil der reformierten Definition des Substanzbegriffs erscheint, 66 beim frühen Cassirer auf so unverhohlene Zustimmung treffen kann – dann muss seine erst später artikulierte, dann aber immer wieder vorgebrachte Kritik des ‚Substanziellen‘, die dieses dem ‚Funktionalen‘ wie eine Alternative entgegensetzt, offenbar auf etwas anderes zielen. Tatsächlich genügt es, sich die erste Formulierung dieser Alternative in Band 1 des Erkenntnisproblems zu vergegenwärtigen, um sich klar zu machen, dass die vom ‚späteren‘ Cassirer meist ohne weitere Erklärung bemühte Opposition von ‚Substanzbegriff ‘ und ‚Funktionsbegriff ‘ mit einer apriorischen Kritik philosophischer Systementwürfe ursprünglich gar nichts zu tun hat: Die Alternativkonzeption von ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ – die ja das Verhältnis der Begriffe überhaupt erst so aussehen lässt, „als ob eine dieser Kategorien unabhängig von der anderen Sinn und Bestand habe“ 67 – entwickelt Cassirer erst im konkreten Kontext seiner wissenschaftshistorischen Untersuchungen über die Entstehungsgeschichte der modernen empirischen Naturwissenschaft. 68 Das ‚Erkenntnisproblem‘, um das es Cassirer in diesem Zusammenhang geht, betrifft jedoch nicht primär die Ausdrucks- und Auslegungsprobleme philosophischer Begriffsreflexion, sondern die praktisch-methodischen Grundfragen nach der Möglichkeit einer reellen Naturerkenntnis durch den Menschen; und so steht auch die Alternative von ‚Funktion‘ und ‚Substanz‘ in diesem Kontext zunächst weniger für eine unmittelbare These Cassirers über den Sinn und die Zweckmäßigkeit dieser beiden Begriffe zur Bewältigung des Ganzen unserer Welterfahrung, sondern bildet eher eine Chiffre für den Umbruch zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Denkweise, deren inhaltliche Unterschiede die Folge Ich erinnere hier noch einmal an Cassirers in anderem Zusammenhang geäußerte Formulierung für ein solches Verhältnis, in dem „der Substanzbegriff in der Art, wie er hier verwendet wird, durch den Funktionsbegriff bereits hindurchgegangen und damit auf eine neue logische Stufe erhoben worden“ sei (ECN 8, S. 11 f.). 67 Bidney: „Ernst Cassirers Stellung in der Geschichte der philosophischen Anthropologie“, S. 364; siehe hierzu meine Bemerkungen in § 1. 68 Vgl. EP 1, Zweites Buch (S. 169–363). 66
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eines grundsätzlich verschiedenen methodischen Umgehens mit der Welt sind. Auf astronomischem Gebiet sind es für Cassirer vor allem Keplers Beobachtungen der Planetenbahnen, die eine Überwindung der noch in der Renaissance allgemein vertretenen anthropomorphen Ansicht notwendig machen, dass einer Gruppe „geistige[r] Substanzen . . . die Leitung der verschiedenen Bahnen anvertraut“ sei. 69 Erst Keplers konkret aus der empirischen Forschungstätigkeit erwachsene Einsicht, dass die Kraft, die für die Bahnlinien der Planeten verantwortlich ist, eben nicht in der Weise der Willenskraft als seelische, quasi-personale Beziehung zu verstehen ist, sondern nur als allgemeiner Ausdruck der beobachtbaren körperlichen Verhältnisse Sinn und Statt hat, habe hier zum ersten Mal den Weg frei gemacht für eine neue Auffassung der Himmelserscheinungen unter dem Aspekt rein quantitativer Funktionsbeziehungen. Es ist dann diese geänderte Auffassung vom Wesen der Kraft und der Kausalität, die mittelbar auch auf Keplers Fassung des Naturbegriffs zurückwirkt: „Zur »Natur« – im neuen Sinne dieses Wortes – gehören nur solche Prozesse, die durch eine feste Regel der Größenbeziehung miteinander verknüpft und einander wechselseitig zugeordnet sind: Der [mathematische, F.S.] Funktionsbegriff ist es, der den Inhalt des Körperbegriffs wie des Naturbegriffs abgrenzt und bestimmt.“ 70 Noch deutlicher verkörpert sich für Cassirer der „Wendepunkt, an dem sich die Zeitalter scheiden“ 71, in der Person Galileis, der – in seinen Forschungen überhaupt mehr mit irdischen Gegenständen befasst – den neugewonnenen Funktionsbegriff des Wirkens auch noch auf die eigene wissenschaftlich-praktische Experimentiertätigkeit zurückbeziehen kann. Indem Galilei in diesem Sinne auch bei sich selbst mit einer ganz „allgemeinen Gesetzlichkeit des Wirkens“ „beginn[e]“, die „unabhängig von aller Besonderheit der empirischen Objekte allgemeine und notwendige Geltung beansprucht“ 72, sei im Selbstverständnis der Wissenschaft ein tiefgreifender Wandel in der „allgemeinen Auffassung des Verhältnisses zwischen Denken und Sein“ 73 zur methodischen Reife gelangt – und es ist dieser Wandel, zu dessen Ausdruck Cassirer nun zum ersten Mal explizit ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ als Alternativen einander gegenüberstellt:
69 70 71 72 73
EP 1, S. 295. EP 1, S. 297. EP 1, S. 333. EP 1, S. 335. EP 1, S. 294.
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„In der Geschichte des Erkenntnisproblems ist nunmehr ein neuer fundamentaler Gegensatz zur Klärung und entschiedenen Herausarbeitung gelangt. . . . Die Frage ist, ob mit den Dingen oder den Beziehungen, ob mit dem Dasein oder mit den Formen der Verknüpfung zu beginnen ist. Gegenüber der substantiellen Weltansicht erhebt sich eine Auffassung, die auf dem Grunde des Funktionsbegriffs erwachsen ist. An dieser Stelle wird es besonders deutlich, daß die Geschichte der neueren Philosophie außerhalb des Zusammenhangs mit der exakten Wissenschaft nicht zu begreifen und nicht zu entwickeln ist. Der dialektische Widerstreit, der hier entstanden ist, wird die treibende Grundkraft der künftigen Systeme: Die Cartesische wie die Leibnizische Erkenntnislehre bilden nur bestimmte Einzelphasen in jenem allgemeinen Fortschritt von der Substanz zur Funktion.“ 74
Am Primat der ‚Funktion‘ vor der ‚Substanz‘, der „Formen der Verknüpfung“ vor dem „Dasein“ der Dinge kann es für Cassirer, dem sich in diesem begrifflichen Antagonismus der historische Gegensatz von scholastischem Aristotelismus und neuzeitlicher mathematischer Naturwissenschaft verdichtet, 75 in diesem Zusammenhang keinen Zweifel mehr geben. Dennoch scheint es mir wichtig zu sehen, dass es kein absoluter Vorrang der Kategorie ‚Funktion‘ vor derjenigen der ‚Substanz‘ ist, was Cassirer hier behauptet: Der von ihm mit großem geschichtsphilosophischen Gestus postulierte „allgemeine Fortschritt“ vom einen zum anderen ist ja nichts anderes als ein allmählicher Fortschritt im Methodenbewusstsein der „exakten Wissenschaft“ und der auf sie reflektierenden philosophischen „Systeme“ in Bezug auf die respektive Eignung jener Begriffe zur methodischen Grundlegung der wissenschaftlichen Naturerkenntnis. Die ‚Substanz‘ im Sinne jenes von Kant so plastisch problematisierten, aller Erfahrung transzendenten „Innere[n] der Dinge“ 76 – sie ist (was immer sich über sie ansonsten sagen lassen mag) für die moderne Naturwissenschaft schlicht kein Thema mehr; was sie mit immer wachsender Bestimmtheit stattdessen untersucht, sind die funktionalen Verhältnisse, in denen ihre Gegenstände relativ zueinander stehen, sich bewegen und miteinander wechselwirken. Was nun den Denker betrifft, dem sich gerade mit Blick auf diese Alternative „besonders deutlich“ der Zusammenhang zwischen der „neueren Philosophie“ und der „exakten Wissenschaft“ bestätigt, so dürfen wir vorläufig schon unterstellen (wir werden es gleich auch noch EP 1, S. 335 f. Vgl. EP 1, S. 333–335. 76 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (B) (im Folgenden zit. als KrV-B) 333; vgl. EP 2, S. 616. 74 75
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im Einzelnen sehen), dass er sich eine analoge Selbstbescheidung auch für die eigene Reflexionsperspektive zu eigen macht: So wäre es eben auch hier primär nicht die metaphysische Frage, ob der Substanz- oder aber der Funktionsbegriff uns die Welt im Ganzen und grundsätzlich besser enträtseln könne, sondern bloß die methodische, mit welcher von beiden in Fragen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis „zu beginnen“ sei, die Cassirer hier entschieden zugunsten des ‚funktionalen‘ Paradigmas beantwortet. 77 1.2 Cassirers Theorie der Begriffsbildung. Das vielschichtige Verhältnis von Substanzbegriff und Funktionsbegriff § 5 Vom Erkenntnisproblem zur Wissenschaftstheorie. Die Substanz in unerwarteter Funktion 1910 publiziert Cassirer mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff seinen ersten großen Beitrag zur systematischen Philosophie der Zeit. Für Leser seines Erkenntnisproblems musste es schon durch diesen Titel evident sein, dass dieses vorwiegend wissenschaftstheoretisch orientierte Werk mit den geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Reflexionen der Habilitationsschrift in engem Zusammenhang steht. Die genaue Art dieses Zusammenhangs hat Cassirer indessen 1910 nicht mehr eigens reflektiert; um ihn in aller Deutlichkeit zu sehen, bietet es sich deshalb an, sich statt an das Buch zunächst an einen gleichnamigen Vortrag zu halten, den Cassirer um 1906–07 als Probevortrag zu seiner Habilitation in Berlin gehalten hat. 78 In aller Kürze spannt Cassirer dort einen erstaunlichen ideengeschichtlichen Bogen, indem er die Betrachtungen der beiden ersten Bände des Erkenntnisproblems anhand einiger weniger markanter Etappen rekaDiese Parteinahme des Historikers des Erkenntnisproblems wird daneben aber auch von einem übergreifenden erkenntniskritischen Anspruch getragen, der die Frage nach der richtigen Methode der Naturerkenntnis mit einer allgemeineren Wertfrage unseres Selbstverständnisses verknüpft, der ich mich unten zuwenden werde. 78 „Substanzbegriff und Funktionsbegriff “, in: ECN 8, S. 3–16. Die Herausgeber datieren die Vorlesung auf den Zeitraum 1906–1907. Alle im Folgenden an diesem Text herausgearbeiteten Aspekte finden sich auch im Werk von 1910 wieder; ausgerechnet Cassirers Auseinandersetzung mit dem Substanzbegriff erscheint jedoch dort gleichsam in zwei Hälften auseinandergerissen: Am Anfang des Buches motiviert Cassirer v. a. seine methodisch-erkenntnistheoretische Kritik am aristotelischen ‚Substanzdenken‘, während die bei ihm auch zu findende (und im Folgenden zu besprechende) positive Würdigung des Substanzbegriffs in seiner historisch-‚genetischen‘ Bedeutung auf einen exkurshaften Einschub ab S. 163 verschoben wurde, der denn auch in der Forschung zumeist übersehen wird. 77
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pituliert, um sie dann über ihren bisherigen Schluss- und Zielpunkt – die Analyse von Kants theoretischer Philosophie – hinaus zu verlängern und so schließlich für die naturwissenschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Gleich mit dem ersten Satz gibt uns die konzise Darstellung des Vortragsmanuskripts daneben aber noch etwas anderes zu erkennen, das im Aufbau des Buchs Substanzbegriff und Funktionsbegriff fast wie eine bloße Randnotiz erscheint: Ich meine die Tatsache, dass Cassirer den Begriff der ‚Substanz‘ offenbar keineswegs nur in dem engeren Sinne kennt und versteht, der durch seine scholastischen und frühneuzeitlichen Konzeptionen umrissen (und für den Theoretiker der mathematischen Naturwissenschaft entsprechend negativ konnotiert) ist, sondern dass er ihn von Anfang an noch aus einem ganz anderen Kontext heraus denkt, nämlich aus seinem Zusammenhang mit dem ἀρχή-Problem der vorsokratischen Naturphilosophie. Und in diesem Zusammenhang bedeutet ihm nun der „Begriff der Substanz“ nicht etwa von Anfang an einen dogmatischen Irrweg, sondern im Gegenteil „den notwendigen geschichtlichen Anfang aller wissenschaftlichen Naturbetrachtung“: 79 „Philosophie und Wissenschaft beginnen erst dort, wo es gelingt, den Fluss der Erscheinungen zum Stehen zu bringen und aus ihm feste und beharrliche Elemente herauszuheben. Der Substanzbegriff bezeichnet somit die erste Ausprägung des Denkens, das in ihm erst zum Bewusstsein seiner eigenen Notwendigkeit und Dauer gelangt. . . . Auch dort, wo gegenüber dem Urstoff der Ionier ein stoffloses und gedankliches Princip und ein »intelligibler Kosmos« entdeckt wird, wandelt sich damit zwar der Inhalt, nicht aber die Grundform des Denkens selbst. Die Pythagoreische Zahl, wie der Eleatische Begriff besitzen notwendige und unverbrüchliche Wahrheit, weil sie im Gegensatz zur veränderlichen Erscheinungswelt, das höchste unbedingte Sein, die οὐσία der Dinge darstellen. Die Aristotelische Metaphysik erhebt daher nur einen Gedanken, der zuvor bereits als verborgene Triebkraft wirkte, zu deutlichem und systematischem Bewusstsein.“ 80
Dass z. B. die eleatischen Seinsbegriffe eine „notwendige und unverbrüchliche Wahrheit“ ausdrücken, ist natürlich nicht Cassirers letztes Wort; aber in der Reflexion auf die ersten Anfänge unserer philosophisch-wissenschaftlichen Welterkenntnis erscheint ihm „der Substanzbegriff “ in seinem Gebrauchswert, die zuvor in ständigem „Fluss“ begriffenen Wahr79 80
ECN 8, S. 3 (Kursivierung F. S.). ECN 8, S. 3 (Kursivierung F. S.).
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nehmungsinhalte systematisch im Hinblick auf bestimmte Aspekte zu fixieren, dennoch als eine, wenn nicht die praktisch notwendige Grundleistung im Denken des Menschen. Tatsächlich wird später auch das Buch zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff zwar an etwas versteckter Stelle, aber dennoch sehr explizit daran festhalten, dass es gerade diese Leistung ist, in der auch die Philosophie selber erst „ihren eigenen Anfang [gewinnt]“: 81 „Der logische Gedanke der Substanz steht an der Spitze der wissenschaftlichen Weltbetrachtung überhaupt; er ist es, der geschichtlich die Grenzscheide zwischen Forschung und Mythos vollzieht. Erst in dieser Leistung gewinnt die Philosophie ihren eigenen Anfang. Der Versuch, die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wirklichkeit aus einem einzigen Urstoff abzuleiten, enthält eine allgemeingültige Forderung in sich, die, wie unvollkommen sie zunächst auch erfüllt werden mag, dennoch der charakteristische Ausdruck einer neuen Denkweise und einer neuen Fragestellung ist. Das Sein wird erst jetzt zum geordneten Ganzen, das nicht von außen durch fremde Willkür gelenkt wird, sondern in sich selbst die Gewähr seines Bestandes trägt.“ 82
Der Berliner Vortrag fährt danach fort mit einer Analyse der Bedingungen, unter denen Aristoteles eine solche Urfunktion unseres Weltbegreifens, die sich in der Setzung einer unbedingt-ersten οὐσία oder ἀρχή niederschlägt, „zu deutlichem und systematischem Bewusstsein“ erheben konnte, indem er sie als grundlegende Kategorie unserer gesamten Wirklichkeitserfahrung auszeichnete. Zu einer solchen Auszeichnung bedurfte es keiner künstlich in die Phänomene hineingedachten Emphase, weil sie sich vielmehr von Anfang an schon auf die ‚Evidenz‘ ihrer Gültigkeit in der philosophischen Tradition wie in der allgemeinen Lebenspraxis berufen konnte. 83 In diesem Sinne versucht sich Cassirer die „unvergleichliche Beharrlichkeit der geschichtlichen Fortdauer des aristotelischen Systems“ vor allem durch die für den common sense bestechende Geschlossenheit seines Aufbaus zu erklären, die allerdings durch die Festschreibung einer „unlöslichen Wechselbeziehung von Logik und Metaphysik“ erkauft werde. 84 Aus Sicht eines Metaphysikkritikers handelt es sich hierbei ofSuF 163. SuF 163 f. 83 Vgl. in diesem Sinne auch Cassirers Aristoteles-Kommentar im (in der zweiten Auflage gestrichenen) Einleitungskapitel zum Erkenntnisproblem, EP 1, S. 528: „In der Tat scheinen wir hier dem Prinzip und der allgemeinen Fragestellung nach wieder mitten in die Anfänge der griechischen Spekulation zurückversetzt: Die Substanz ist wieder das erste und schlechthin gegebene, das wir bei aller Untersuchung der Erkenntnis voraussetzen und an die Spitze stellen müssen.“ 81 82
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fenbar um eine unhaltbare Prämisse, wegen der Cassirer im Denken des Aristoteles im Ganzen eher einen „Rückschritt“ gegenüber Platon zu sehen scheint. 85 Allerdings vergisst Cassirer auch nicht zu erwähnen, dass bei Aristoteles selbst hinter ihr nicht etwa bloße Bequemlichkeit, sondern ein ganz eigener und tieferer Sachgrund stehe, nämlich sein Ausgehen vom „ biologische[n] Subjekt“: „Man würde Aristoteles nicht gerecht werden, wenn man annehmen wollte, daß er in dieser Grundbestimmung lediglich dem Einfluss unterliegt, den der Dingbegriff der populären Vorstellung auf ihn ausübt. Das beharrliche Sein, auf das er hinblickt, ist . . . kein gleichgültiges und ruhendes Substrat, sondern ein gestaltendes Princip . . . Wie der Organismus in allem Wandel und in aller Vielgestaltigkeit doch nur die Entfaltung eines ursprünglichen, einheitlichen Lebens ist, so bedeutet alles Werden der Natur nur die Offenbarung innerer zweckthätiger Kräfte. Wir »verstehen« die räumliche Welt der Erscheinungen erst, wenn wir sie als die notwendige Äußerungsweise der »reinen Formen« begriffen haben. . . . [Die Logik] hat [nach dieser Auffassung, F. S.] keine andere Aufgabe, als die Verhältnisse des Seins im Denken abzubilden. Indem das Urteil Subjekt und Prädikat zu einander in Beziehung setzt, ahmt es damit die reale Verknüpfung nach, die in der Welt der Wirklichkeit zwischen der Substanz und ihren Accidentien ursprünglich besteht. . . . Die metaphysische Grundkategorie dieses Systems ist jetzt gleichsam in die primitiven Denkformen eingeschmolzen: die Ursprünglichkeit des Substanzbegriffs leugnen, scheint nichts Geringeres zu bedeuten, als die Rechte der Logik, als den Satz des Widerspruchs selbst anzutasten.“ 86
Für Cassirer stellt sich somit bei Aristoteles exemplarisch ein allgemeinerer gedanklicher Zusammenhang dar, in dem das Ausgehen vom biologischen Paradigma mit dreierlei korrespondiert: 1. mit einer ‚realistisch‘ orientierten Auffassung von den Aufgaben des Denkens im Lebenszusammenhang, 2. mit einer damit kompatiblen Abbildtheorie der Erkenntnis sowie 3. mit einer Theorie des Begriffs, die diesen durch sukzessive Abstraktion aus gewissen in der Realität vorgezeichneten Charakteren, aus gegebenen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten des Seins entstehen lässt. Die intuitive Plausibilität dieser komplexen Gesamtansicht findet dabei zwar, Vgl. ECN 8, S. 4. Vgl. Dorothea Frede: „Das Nachleben der Antike im Werk Ernst Cassirers“. In: Birgit Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert. Hamburg. 2012. S. 19–39, S. 28. 86 ECN 8, S. 4. 84 85
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wie Cassirer sowohl im Buch als auch im Berliner Vortrag hervorhebt, von Beginn an ihre Grenze an den Idealbegriffen der Mathematik, deren positiver Gehalt in einer Theorie der sukzessiven Abstraktion von realen Gegebenheiten überhaupt nicht zu erfassen sei; 87 und gerade diese Grenze der „traditionellen Logik“ ist es auch, die Cassirers systematischen Neuansatz ursprünglich motiviert. 88 Mit Blick auf die philosophischen Diskurse der Antike hatte freilich bereits der Historiker des Erkenntnisproblems einräumen müssen, dass dieser Restriktion der ‚realistischen‘ Ansicht eine (mindestens im Hinblick auf die geschichtliche Wirksamkeit) nicht zu unterschätzende Unzulänglichkeit der ‚idealistischen‘ entsprochen habe, sofern Platons konkurrierender Sicht auf das Verhältnis von Denken und Sein eben noch völlig die methodischen Mittel abgingen, die ‚Ideen‘ konkret auf empirische Verhältnisse anzuwenden. Und so großen Wert Cassirer auch darauf legt, diese „Einseitigkeit“ der platonischen Philosophie im historischen Rückblick als eine „fruchtbare“ zu relativieren, 89 so ist doch zugleich klar, dass sie gemessen an den allgemeinen Lebensinteressen der Zeitgenossen (und noch auf Jahrhunderte hinaus) immerhin einen schwerwiegenden Nachteil bedeuten musste. In dieser Form schimmert, während das Urteil des Platonikers Cassirer über den Aristotelismus kaum anders als negativ ausfallen kann, beim Historiker Cassirer dennoch ein verhaltenes Bewusstsein davon durch, dass auch die jahrhundertelange Dominanz des Aristotelismus in der PhilosoVgl. SuF 10 f.: „Die »Begriffe«, die Aristoteles letzten Endes sucht und auf die sein Interesse vornehmlich gerichtet ist, sind die Gattungsbegriffe der beschreibenden und klassifizierenden Naturwissenschaft. Die »Form« des Ölbaums, des Pferdes, des Löwen gilt es zu ermitteln und festzusetzen. Wo er das Gebiet der biologischen Betrachtung verläßt, da vermag sich seine Theorie des Begriffs alsbald nicht mehr völlig natürlich und zwanglos zu entfalten. Insbesondere sind es die Begriffe der Geometrie, die von Anfang an der Einordnung in das gewöhnliche Schema widerstehen. Der Begriff des Punktes, der Linie, der Fläche läßt sich nicht als unmittelbarer Teilbestand des physisch vorhandenen Körpers aufweisen und sich somit nicht durch einfache »Abstraktion« aus ihm herauslösen. Schon gegenüber diesen einfachsten Beispielen, die die exakte Wissenschaft liefert, sieht sich daher die logische Technik vor eine neue Aufgabe gestellt.“ 88 Vgl. SuF VII: „Die erste Anregung zu den Untersuchungen, die dieser Band enthält, ist mir aus Studien zur Philosophie der Mathematik erwachsen. . . . Hier aber machte sich alsbald eine eigentümliche Schwierigkeit geltend: Die herkömmliche logische Lehre vom Begriff zeigte sich in ihren bekannten Hauptzügen als unzureichend, die Probleme, zu denen die Prinzipienlehre der Mathematik hinführt, auch nur vollständig zu bezeichnen. Die exakte Wissenschaft war hier, wie sich mir immer deutlicher zu ergeben schien, zu Fragen gelangt, für welche die Formensprache der traditionellen Logik kein genaues Korrelat besitzt. Der sachliche Gehalt der mathematischen Erkenntnisse wies auf eine Grundform des Begriffs zurück, die in der Logik selbst nicht zu klarer Bezeichnung und Anerkennung gekommen war.“ 89 EP 1, S. 522. Vgl. auch ebd., S. 526 f. 87
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phie am Ende nicht nur durch den Dogmatismus der Schulen zu erklären ist, sondern daneben auf das sachlich-pragmatische Motiv verweist, in diesem System immerhin eine in vieler Hinsicht brauchbare Ordnung der Erscheinungen und unseres Wissens von ihnen zu haben, auf die sich (wie immer es sich mit dem vermeintlichen ‚Sonderfall‘ der mathematischen Begriffe verhalten mochte) erst einmal bauen und vertrauen ließ. Auch Cassirers knappe geistesgeschichtliche Skizze im Probevortrag trägt dieser Einsicht Rechnung, indem, wie sie betont, jeder Versuch, gegen eine derart grundlegende Leistung im Grundsatz zu streiten, von vornherein aussichtslos erscheinen musste, solange nicht „abseits von aller Metaphysik . . . ein neuer positiver Inhalt des Wissens erstanden“ war und mit ihm „ein neuer methodischer Grundgedanke sich befestigt“ 90 hatte: „Es ist der Funktionsbegriff der neueren Mathematik, der der Philosophie fortan den Grund und die Stütze ihres Reformwerkes darbietet. . . . Im Funktionsbegriff der analytischen Geometrie ist [die] Schranke [der antiken synthetischen Geometrie als Wissenschaft der statischen Form, F. S.] überwunden. Das sinnliche Sein der Curve ist hier . . . ersetzt durch eine abstrakte Relation, die aus dem Ganzen des Raumes einen bestimmten Inbegriff von Punkten mit charakteristischen, numerischen Kennzeichen heraushebt. Die gedankliche Einheit dieser Beziehung tritt an die Stelle der fertigen Gestalt. . . . [Gleichzeitig vollzieht sich] eine völlig analoge Wendung innerhalb der empirischen Wissenschaft selbst . . . [Für Kepler und Galilei kann d]as »nackte Innere« der Natur und der Substanzen . . . keinen Gegenstand der Forschung bilden; erst dort, wo es heraustritt, wo es sich in messbaren Verhältnissen offenbart, kann es ergriffen und verstanden werden. . . . [N]icht die Substanzen, sondern ihre geometrisch bestimmbaren Eigentümlichkeiten und »Affektionen« bilden den Gegenstand der Wissenschaft. So tritt jetzt eine neue Wertbetrachtung ein: was vom Standpunkt der Metaphysik zufällig und äusserlich erschien, das ist vom Standpunkt der Erkenntnis das eigentlich legitime Objekt.“ 91
An dieser Stelle wird das wissenschaftshistorische Motiv hinter Cassirers Verteidigung des epistemologischen Vorrangs des Funktions- gegenüber dem Substanzbegriff noch einmal besonders klar: Erst die geschichtliche Tatsache, dass sich der Idealbegriff der Funktion innerhalb der Mathematik zu einem begrifflichen Mittel konkretisiert hat, das sich in der wissenschaftlichen Praxis gebrauchen lässt, sodass die von Platon – zwar kongenial, aber doch bloß ‚abstrakt‘ – beanspruchte Erkenntnis der Natur in ihren funk90 91
ECN 8, S. 4. (Kursivierung F. S.). ECN 8, S. 4–6. (Kursivierung F. S.).
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tionalen Zusammenhängen und Wechselverhältnissen nun zu einer realen Handlungsmöglichkeit wird: erst diese Wendung der Kulturgeschichte führt in der Gigantomachie zwischen aristotelischem Biologismus und platonischem Mathematizismus eine sachliche Entscheidung herbei. Die „neue Wertbetrachtung“, von der Cassirer spricht, betrifft so wesentliche praktische Vorteile der mathematischen Naturerkenntnis – bezogen sowohl auf die philosophisch-wissenschaftlichen (Erkenntnis-)Interessen wie auf die Interessen einer breiteren Allgemeinheit, für die von Anfang an die neuen technischen Errungenschaften im Vordergrund stehen –, dass es zu einer Frage der Vernunft wird, ob die Philosophie den Naturwissenschaften auf diesen neuen „Standpunkt der Erkenntnis“ folgt oder (als spekulative Metaphysik) letztlich hinter den geschichtlichen Entwicklungen zurückbleibt. Und selbst hier gilt es noch zu sehen, dass das, was historisch den Ausschlag gibt, das von Platon angestoßene philosophische „Reformwerk“ 92 wieder aufzunehmen, nicht etwa von Anfang an der materiale Umfang der auf dem neuen Wege gewonnenen Erkenntnisse ist, die ja vielmehr zunächst ganz auf den engen Umkreis mathematischer Symbolik und allgemeinster mechanischer Relationen beschränkt bleiben; sondern es ist ‚bloß‘ ihre qualitative Sicherheit, die sich in der Aufstellung von Gesetzen der Natur ausspricht und darin die Hoffnung auf vielleicht langsame, aber immerhin systematisch begründete und deshalb stetige Fortschritte unseres Naturwissens nährt. Zieht man hingegen umgekehrt in Betracht, wie wenig die neue Wissenschaft in ihren Anfängen extensiv gegenüber dem hochentwickelten Weltsystem der Scholastik zu bieten hatte; wie sie den Mut und das Selbstvertrauen zu ihren ersten und entscheidenden Kämpfen aus der Beobachtung des Sternenhimmels schöpfen musste, während auf der anderen Seite alle uns umgebenden Stoffe und Lebewesen, mithin gerade diejenigen Gegenstände, die unseren pragmatischen Erkenntnisinteressen am nächsten liegen, für sie zunächst ganz unerreichbar scheinen mussten – dann kann man allerdings, ohne den wissenschaftlichen Wert des neuen Ansatzes im Mindesten infrage zu stellen, auch solche naturphilosophischen Standpunkte noch in ihren Motiven nachvollziehen, die an ihm nicht ganz zu Unrecht eine gewisse sachliche Dürftigkeit zu kritisieren fanden. 93 ECN 8, S. 4. Im Erkenntnisproblem zeigt sich Cassirer tatsächlich bemüht, ein gewisses historisches Verständnis für die „inneren Schwierigkeiten, die sich der neuen Fragestellung entgegenstellen“ aufzubringen: vgl. EP 1, S. 333 ff.; insb. S. 337: „So überwindet das Naturgesetz kraft seiner Allgemeinheit die räumlichen Unterschiede der Nähe und Ent92 93
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§ 6 Dingbegriffe und Relationsbegriffe oder Die Freiheit der Mathematik Der indirekte Zugang, mit dem wir uns der Thematik von Substanzbegriff und Funktionsbegriff genähert haben, mag auf den ersten Blick wie ein unnötiger Umweg erscheinen; er bietet aber m. E. gegenüber dem unmittelbaren Rückgriff auf das Buch zwei wesentliche Vorteile. Erstens ist zwar auch bei einer ‚kontextlosen‘ Lektüre von Substanzbegriff und Funktionsbegriff die methodenkritische Grundaussage des Werks und die generelle Tendenz von Cassirers Argumentationsgang vergleichsweise gut zu verstehen; gerade das täuscht jedoch über die nicht unerheblichen Schwierigkeiten hinweg, die sich ergeben, sobald man versucht, im Einzelnen die Gründe zu eruieren, aus denen Cassirer diese Position ausgerechnet mit dem Übergang vom ‚Substanzbegriff ‘ zum ‚Funktionsbegriff ‘ assoziiert. Die einzige halbwegs explizite Erörterung des – nach dem Buchtitel zu urteilen – in der Hauptsache intendierten Gegensatzes findet sich auf den allerersten Seiten des Buches, lässt aber sowohl in Bezug auf den von Cassirer ziemlich schematisch konstruierten Substanz- als auch in Bezug auf den „notorisch vieldeutigen“ 94 Funktionsbegriff viele Fragen offen. Wer hofft, im weiteren Verlauf des Buches Konkreteres zu erfahren, wird gleichfalls enttäuscht: Denn merkwürdigerweise ist es gar nicht mehr diese Antithese, die im weiteren Aufbau des Werks die dominierende Rolle spielt, sondern stattdessen die verwandte, aber eben nicht ganz deckungsgleiche Opposition von „Dingbegriffen“ und „Relationsbegriffen“. 95 Mit der werkgeschichtlichen Ausgangslage vor Augen – den einschlägigen Passagen aus dem Erkenntnisproblem sowie, in der Funktion eines missing links, Cassirers Berliner Probevortrag zur Habilitation – fällt es nun aber nicht mehr so schwer, einen möglichen Hintergrund für diese Verschiebung ausfindig zu machen: Wir haben es bei Substanzbegriff und Funktionsbegriff offenbar mit dem ambitionierten Versuch zu tun, auf die systematische Frage nach dem Entwicklungsstand der zeitgenössischen mathematischen (Natur-)Wissenschaften 96 und ihren begrifffernung: Aber es muß hierfür den Anspruch aufgeben, auch nur die nächsten, angeblich unmittelbar bekannten Wirkungen in ihrem absoluten Sein zu erfassen.“ 94 Vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 60. 95 Der erste Teil von Substanzbegriff und Funktionsbegriff trägt den Titel „Dingbegriffe und Relationsbegriffe“, der zweite steht unter der Überschrift „Das System der Relationsbegriffe und das Problem der Wirklichkeit“. Cassirer scheint tatsächlich für die Zwecke seiner Studie beide Dichotomien einfach als synonym vorauszusetzen; mit den Folgen dieser Entscheidung werden wir uns gleich beschäftigen.
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lichen Grundlagen das konzeptuelle Schema zu übertragen, das Cassirer ursprünglich aus dem spezifisch-neuzeitlichen Gegensatz zwischen traditioneller Schulmetaphysik und Erfahrungswissenschaft herausdestilliert hatte. 97 Für die radikale Neuerung, die Keplers und Galileis Entdeckungen der Fruchtbarkeit des mathematischen Funktionsbegriffs für ein weithin an Aristoteles und damit auch am Substanzbegriff orientiertes Zeitalter bedeuten mussten, war Cassirers „Fortschritt von der Substanz zur Funktion“ 98 in der Tat ein höchst prägnantes Symbol; aber weil diese aus dem historischen Kontext herstammende Dichotomie nun operativ 99 auf wissenschaftsinterne und wissenschaftstheoretische Kontroversen des frühen 20. Jahrhunderts angewandt werden soll, die dem Wortlaut nach ‚Substanzen‘ kaum mehr und ‚Funktionen‘ nur in bestimmten Einzelgebieten zum Thema haben, ersetzt Cassirer sie stillschweigend durch eine neue, dem gewandelten Sprachgebrauch der Wissenschaft angepasste Differenz – eben die von Ding- und Relationsbegriffen – mit dem Effekt, dass für einen Leser von Substanzbegriff und Funktionsbegriff ohne nähere Kenntnis ihrer Entstehungsgeschichte die vom Buchtitel suggerierte Opposition nicht bis ins Letzte mit dem zusammenzubringen ist, was dann tatsächlich im Buch verhandelt wird. Dabei hängt mit der beschriebenen terminologischen Verschiebung – zweitens – auch eine sachliche Konsequenz zusammen, die uns mit Blick auf die spätere Verselbständigung des substanzkritischen Funktionalismus Die Frage, welche Erkenntnisformen für Cassirer überhaupt unter den Begriff der Wissenschaft fallen, ist ein Kapitel für sich; vgl. dazu Birgit Recki: „Wissenschaften als symbolische Form“. In: Urs Büttner u. a. (Hg.): Potentiale der symbolischen Formen. Eine interdisziplinäre Einführung in Ernst Cassirers Denken. Würzburg. 2011. S. 29–40. Für Substanzbegriff und Funktionsbegriff lässt sich festhalten, dass er die Wissenschaftstheorie hier zwar ganz überwiegend anhand der naturwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt, daneben aber auch bereits die Geschichtswissenschaft einbezieht, ohne einen prinzipiellen Gegensatz zwischen ihrer Methodik und derjenigen der Naturwissenschaften anzuerkennen, wie er etwa im badischen Kantianismus vertreten wurde: vgl. SuF 247– 253. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Cassirers systematische Reflexionen auf die wissenschaftliche Erkenntnis dem Anspruch nach von Beginn an auch auf die Geistesund Kulturwissenschaften bezogen sind, während die spezifischen Differenzen zwischen den Disziplinen und ihren Methoden erst allmählich, im Zuge von immer neuen Ansätzen zur Erkenntnistheorie bis hin zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), Konturen gewinnen. 97 So auch Kreis: „Die historische Perspektive des Erkenntnisproblems und der systematische Standpunkt von Substanzbegriff und Funktionsbegriff konvergieren im Begriff der Funktion.“ (Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 60). 98 EP 1, S. 336. Siehe auch § 4 oben. 99 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: „Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 100–128. 96
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zu einer methodischen Grundthese, die Cassirer bei jeder Horizonterweiterung seiner theoretischen Philosophie immer aufs Neue bemühen und auf die er insbesondere auch seine Anthropologie noch fundieren wird, interessieren muss: Denn durch die nun vorgenommene Verschiebung vom Substanz- zum Dingbegriff gerät der (im Berliner Vortrag immerhin noch eigens thematisierte) Zusammenhang des von Cassirer kritisierten Denkmodells mit den Ansprüchen und Eigenarten biologischer Welterkenntnis fast vollständig aus dem Blick. Das drückt sich nicht nur in einer im Buch auf das Allernötigste beschränkten Aristoteles-Darstellung aus – Cassirer belässt es bei einem lakonischen Hinweis auf Aristoteles’ Interesse an der „‚Form‘ des Ölbaums, des Pferdes, des Löwen“ 100, um danach sofort zur Kritik überzugehen –, sondern vor allem auch im Spektrum der im frühen Werk abgebildeten Naturwissenschaft: Zwar soll es dem programmatischen Anspruch nach um unser wissenschaftliches Weltbild insgesamt gehen, zwar will die Untersuchung dazu ausdrücklich „das Ganze der exakten Wissenschaften“ einbeziehen – doch die Biologie scheint dabei, immerhin ein halbes Jahrhundert nach Darwins Entstehung der Arten, von Anfang an nicht mitgemeint zu sein. 101 So bricht die Durchführung des systematischen Grundgedankens denn auch gewissermaßen auf halbem Wege bei der physikalischen Chemie ab, ohne das Gebiet der lebendigen Natur überhaupt zu erreichen, das doch Cassirer zu diesem Zeitpunkt längst als das eigentliche Hoheitsgebiet des philosophisch-reflektierten – Substanzbegriffs identifiziert hatte. 102 Würde jemand an dieser Stelle einwenden, die Biologie sei eben zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus noch keine „exakte Wissenschaft“ im Sinne der Mathematisierung gewesen und müsse deshalb aus dem einmal gesteckten Rahmen von Cassirers Studie herausfallen, dann hätte er mit diesem Einwand einerseits Recht und machte es sich doch andererseits zu einfach. 103 Denn wie auch immer es um die faktische Realisierung ihrer Erfordernisse in praxi zu einem gegebenen Zeitpunkt der Geschichte SuF 10. Vgl. SuF VIIf.: „So mußte nunmehr der Versuch gemacht werden, von dem einmal gewonnenen Gesichtspunkt aus, den Formen der Begriffsbildung in den einzelnen Disziplinen – in der Arithmetik wie in der Geometrie, in der Physik wie in der Chemie – nachzugehen. . . . [E]s mußte versucht werden, sie in der Gesamtheit ihres prinzipiellen Aufbaus zu verfolgen, um hierbei die einheitliche Grundfunktion, von welcher dieser Aufbau beherrscht und zusammengehalten wird, immer bestimmter heraustreten zu lassen.“ 102 Gerade Cassirers Diskussion der Chemie wird uns allerdings im Folgenden Gelegenheit geben, die eigenartige Ausblendung der Biologie aus dem Kanon der Naturwissenschaften auf ihre methodologischen Motive zurückzuführen; siehe dazu Kapitel 1.3. 100 101
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bestellt sein mag, so betrifft doch schon die theoretische Möglichkeit einer Erkenntnis des Lebens einschließlich unserer selbst als Lebewesen ein fundamentales Interesse der Vernunft, das eine Epistemologie mit erkennbar universalem Anspruch nicht ohne Folgeschäden abweisen kann: Das wenigstens wollen wir von einer jeden Theorie unserer naturwissenschaftlichen Welterkenntnis wissen, ob sie die (ggf. erst in Zukunft zu aktualisierende) Möglichkeit einer (partiellen oder vollständigen) Erkenntnis des Lebens überhaupt nach ihren jeweiligen Begriffen vorsieht oder nicht. Wenn wir uns aber noch einmal den doppelbödigen Zusammenhang im Verhältnis von ‚substanzieller‘ und ‚funktionaler‘ Denkungsart vor Augen führen, den ich am Ende des vorigen Abschnitts zu umreißen versucht habe, und dabei nur für einen Moment vom begriffs- und methodenkritischen Aspekt absehen (der natürlich für Cassirers Projekt besonders wichtig ist), dann ist zu erwarten, dass auf der Seite der wissenschaftlichen Gegenstände spätestens im Bereich der Lebenserscheinungen eine rein am mathematischen Funktionsbegriff orientierte Position auf vergleichbar große Schwierigkeiten treffen dürfte wie eine aristotelisch-biologistische Position gegenüber den idealen Gegenständen der Mathematik. Wie die perspektivische ‚Subjektivität‘ eines lebenden Organismus, die Modi seines Erlebens und die spezifische Sinnhaftigkeit seines Belebens der Welt im gerichteten Verhalten, wie überhaupt alle diejenigen Aspekte, die eben seine ‚Lebendigkeit‘ ausmachen, in einem rein mathematischfunktionalen Wissenschafts- und Weltverständnis wieder einzuholen wären, ist eben a priori nicht ohne weiteres abzusehen und wäre zumindest einer Erklärung bedürftig, die Cassirer an dieser Stelle schuldig bleibt. Die Tatsache, dass Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff dieser entscheidenden Herausforderung für seinen epistemologischen Ansatz zunächst einfach aus dem Weg geht, offenbart deshalb einen Mangel im Ansatz von Cassirers erster ausführlicher Auseinandersetzung mit Fragen unserer Naturerkenntnis – einen Mangel aber, der sich insofern noch als fruchtbar erweisen wird, als er ein ganz eigenes Motiv für die spätere Horizontausweitung seiner Reflexionen von der anfänglichen Konzentration auf die Wissenschaftstheorie hin zu einer allgemeinen Kulturphilosophie enthält. 104 Bevor wir diese Frage weiter verfolgen können, müssen wir jedoch spezifizieren, was Cassirer unter dem in Substanzbegriff und FunktionsRecht hätte er, was den sachlichen Grund für die Ausblendung der Biologie aus Cassirers Unternehmung betrifft: siehe dazu § 10. 104 Siehe dazu Kapitel Kapitel 2. 103
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begriff wissenschaftstheoretisch ausbuchstabierten Übergang von den – nun eben: ‚Dingbegriffen‘ zu den ‚Relationsbegriffen‘ eigentlich versteht. Wichtig ist dabei zunächst zu sehen, dass die ‚dingliche‘ Vorstellungsart, von der Cassirer spricht, durchaus nicht (wie man vermuten könnte) an einen unmittelbaren Bezug auf sinnlich vorhandene Dinge gebunden sein soll; Cassirer macht ‚Dingbegriffliches‘ im Gegenteil selbst noch in den hochabstrakten Klassenbegriffen aus, mit denen Freges logische Grundlegung der Arithmetik operiert. 105 Auf den konventionellen Unterschied zwischen ‚inneren‘ (Denk-) und ‚äußeren‘ Gegenständen, den Cassirers Transzendentalphilosophie ja schon seit Leibniz’ System im Ansatz überwinden will, 106 kommt es hier also offenbar nicht mehr an. Was Cassirers Rede von den „Dingbegriffen“ zum Ausdruck bringen soll, ist vielmehr eine ganz unabhängig von irgendwelchen Sachgehalten vorzustellende formale Tendenz des denkenden Begriffsgebrauchs: ‚Denken in Dingbegriffen‘ bedeutet für Cassirer, die Begriffe selbst nach Art eines dinglichen Daseins zu behandeln. Neben dem schon aus seiner frühen Descartes-Kritik vertrauten raumhaft-statischen Charakter einer solchen Vorstellungsart verlegt Cassirer den Akzent nun besonders auf den Charakter der Isolation, durch den der jeweilige Begriff (über seine bloße Individuation hinaus) in der Weise einer unabhängig für sich bestehenden Existenz gedacht werde, sodass die Verhältnisse, in denen er zu anderen Begriffen steht oder stehen kann, zu ihm lediglich wie akzidentelle und äußerliche Bestimmungen hinzukommen. In diesem präzisen Sinn interpretiert Cassirer die von ihm verworfene Logik der „Dingbegriffe“ zu Recht als Symptom einer perpetuierten aristotelisch-mittelalterlichen Tradition des Denkens in Substanzvorstellungen – Vorstellungen eines Typs, den er in den entsprechenden Kontexten immer wieder durch Spinozas Definition der Substanz als „ens quod in se est et per se concipitur“ illustriert. 107 In der Kritik stehen Vgl. SuF 46–50 mit Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logischmathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Hamburg 1988. 106 Siehe § 2. 107 Vgl. z. B. PhsF 1, S. 29. Vgl. Benedictus de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione. Ethica. Abhandlung über die berichtigung des verstandes. Ethik. Hg. v. Konrad Blumenstock. Darmstadt. 1989, Teil I, def. 3: „Per substantiam intelligo id, quod in se est, & per se concipitur: hoc est id, cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat.“ – Inwieweit diese Auffassung der Substanz noch der ursprünglichen Stoßrichtung von Aristoteles’ Metaphysik entspricht, ist eine andere Frage, die in der jüngeren Aristoteles-Forschung kontrovers diskutiert wird (vgl. dazu Christof Rapp (Hg.): Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Z, H, O). Berlin. 1996). Cassirer selbst unterscheidet zwar gelegentlich zwischen dem Aristoteles der Quellen und dem Aristotelismus der Späteren (z. B. im späteren Aufsatz „Die Antike und die Entstehung 105
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aber auch hier wohlgemerkt wieder nicht ‚die Dinge selbst‘, sondern der schleichende Übergang von der anschaulichen Einteilung der Wirklichkeit in Dingvorstellungen zum ‚intuitiven‘ Umgang mit Begriffen, die dabei – in einer falschen Analogie zu den Verhältnissen der dinglichen Welt – als wohl zu Rekombinationen untereinander geeignete, aber in einem letzten sachlichen Geltungsbestand doch unverfügbare Elemente hingenommen werden. Für das von Cassirer als Alternative nahegelegte Denken in „Relationsbegriffen“ verliert demgegenüber die Frage, ‚was es ist‘, zwischen dem eine logische Beziehung gelten soll, ihre Vorrangstellung völlig zugunsten der Bestimmung und Fixierung der besonderen Beziehungsart: „Wir nennen ein Mannigfaltiges der Anschauung begriff lich gefaßt und geordnet, wenn seine Glieder nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern gemäß einer erzeugenden Grundrelation von einem bestimmten Anfangsglied aus in notwendiger Folge hervorgehen. Die Identität dieser erzeugenden Relation, die bei aller Veränderlichkeit der Einzelinhalte festgehalten wird, ist es, die die spezifische Form des Begriffs ausmacht.“ 108
Halten wir fürs Erste fest: Was Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff intendiert, ist a) eine logische Verschiebung, eine Änderung unserer Ansicht vom Wesen des Begriffs; dabei betrifft diese Änderung aber nach seiner Einsicht b) nicht bloß das ‚metatheoretische‘ Selbstverständnis des Denkens, sondern trägt vielmehr einer allgemeinen Tendenz der einzelwissenschaftlichen Theorieentwicklung Rechnung, in der sie praktisch schon verschiedentlich zum Tragen kommt, weshalb ihm c) die Reflexion auf diesen Zusammenhang geeignet erscheint, an den entsprechenden Stellen auch auf unsere inhaltlichen Interpretationen der Naturwissenschaft und so mittelbar auf unser ‚wissenschaftliches Weltbild‘ im Ganzen zurückzuwirken. 109 Cassirers Fragestellung betrifft also die gesamte wissenschaftliche „Begriffsbildung“ im Sinne der ideellen Schaffensprozesse, die Herausbildung, Selbstprüfung und externen Beurteilungen von wissenschaftlichen Theorien insgesamt zugrundeliegen; der Rahmen ihrer Beantwortung ist deshalb eine transzendentallogisch-geltungstheoretische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Welterkenntnis überhaupt. ‚Abstrakt‘ bleibt diese Reflexion dabei nicht; der exakten Wissenschaft“, in: ECW 18, S. 83–109: 86 ff.), scheint aber daraus für seine eigenen systematischen Auseinandersetzungen unmittelbar keine weiteren Schlüsse zu ziehen. 108 SuF 14. 109 Vgl. SuF VII-IX.
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denn Cassirer hält ja der praktizierenden Naturwissenschaft nur gleichsam den historischen Spiegel vor, indem er das, was sich in ihrer eigenen Entwicklung seit der Renaissance immer deutlicher als fruchtbar erwiesen hat: die durchgehende Orientierung an der mathematisch konstruierbaren Erfahrungswelt, in ideeller Verdichtung zu einer Forderung an ihre Gegenwart wendet. Cassirer sieht und fordert die ‚kopernikanische Wende‘, wie sie sich ihm in Kepler und Galilei exemplarisch verkörpert hatte, in allen Bereichen des naturwissenschaftlichen Selbstbewusstseins: Dahinter steht die grundsätzliche Überzeugung, dass sich der originelle Geist, der „produktive“ Wissenschaftler die Form seiner Begriffe gerade dann nicht von einer Welt der vorgefundenen Dinge und des ‚Gegebenen‘ vorgeben lassen kann, wenn er danach strebt, sie in ihrem Inhalt jener Welt möglichst adäquat entsprechen zu lassen. 110 Was aber wird eigentlich im Zuge dieser Verschiebung zum Primat der Relation aus den jeweils ‚in‘ solchen Relationen stehenden Relata? Cassirer gibt sich – vor allem im zweiten Teil von Substanzbegriff und Funktionsbegriff – große Mühe, Bedenken entgegenzutreten, dass der Übergang zu einer Logik der Relationsbegriffe einer Herabwürdigung des Einzelnen oder gar seiner völligen Ausklammerung aus dem wissenschaftlichen Horizont gleichkommen könnte. Der springende Punkt ist dabei immer wieder das Argument, dass ‚das Einzelne‘ im Sinne der je erfahrbaren Besonderung des Wirklichen in seiner anschaulichen Zugänglichkeit von den transzendentallogischen Reflexionen, die der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker anstellen mag, richtig verstanden gar nicht in Zweifel gezogen werden kann, weil diese Erörterungen ontologische Fragen nach einer möglichen Realhierarchie zwischen ‚faktischen Verhältnissen‘ und ‚wirklichen Einzelgegenständen‘ nicht einmal berühren. 111 Auch hier geht es eben nicht um die Lösung eines metaphysischen Welt-, sondern um die Reflexion auf ein Methodenproblem: Im Vordergrund Vgl. SuF 11. Besonders prägnant ist hier SuF 250: »Der methodische Gegensatz steigert sich . . . niemals zum metaphysischen: Denn das Denken trennt sich von der Anschauung nur, um mit neuen selbständigen Hilfsmitteln zu ihr zurückzukehren und sie dadurch in sich selbst zu bereichern. . . . Es ist somit freilich zutreffend, daß die Relationsbegriffe der Naturwissenschaft kein unmittelbares Abbild in den Einzeldingen besitzen: Aber was ihnen widerstrebt, ist nicht sowohl das Moment der Einzelheit als vielmehr das Moment der Dinglichkeit. Sie ermöglichen und verbürgen die Einsicht in Einzel verhältnisse, wenngleich sie sich niemals in der Art isolierter Objekte anschauen lassen. . . . Zwischen der allgemeinen Geltung der Prinzipien und dem besonderen Dasein der Dinge besteht somit kein Widerspruch: weil zwischen beiden im letzten Grunde kein Wettstreit stattfindet. Sie gehören verschiedenen logischen Dimensionen an, so daß keines versuchen kann, sich unmittelbar an die Stelle des anderen zu setzen.« (Kursivierung F. S.). 110 111
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steht für Cassirer zunächst nur, ob in der wissenschaftlichen Praxis die Frage nach einzelnen ‚Entitäten‘ derjenigen nach ihrer Stellung in der Gesamtorganisation des Denkens vor- oder nachgeordnet werden müsse. In der einen Perspektive scheinen Relationen immer nur als Relationen von etwas vorgängig Seiendem bestehen zu können, das deshalb immer auch als ein (mindestens in Grundzügen) vorgängig bestimmtes vorgestellt wird; in der anderen wird gerade umgekehrt jegliches Seiende erst durch seine (potentiellen) Relationen zu anderen und zum erkennenden Subjekt selbst bestimmt. Diese ganze Antinomie selbst aber ist dabei schon nicht länger von der Frage nach der absoluten Wahrheit geleitet, sondern von der bescheideneren nach dem relativen logischen Wert der Ansätze und ihrer praktischen Eignung als Begründungsmodell der Erkenntnis: Diese Frage ist es eigentlich, in der sich Cassirer für den vergleichsweisen Vorrang der ‚Relationsbegriffe‘ ausspricht – und indem er sich mit dieser Feststellung über das Verhältnis beider Begriffsformen begnügt, macht er den behaupteten Vorrang zugleich zur Maxime der eigenen Herangehensweise an das ganze Problem. 112 Am deutlichsten kommt diese Intention Cassirers vielleicht in seiner 1911 veröffentlichten Rezension von Albert Görlands Schrift Aristoteles und Kant zum Ausdruck: 113 „Durch die gesamte Geschichte der theoretischen Philosophie begleitet uns ein Problem, das sich rein abstrakt als das Problem des Verhältnisses der Relation zum Relationselement bezeichnen ließe. . . . Die Frage der Philosophie beginnt im ersteren Fall bei dem Individuum als einem für sich bestehenden Etwas, das unmittelbar bekannt und gegeben ist. Das »Ding« besteht als ein absolutes selbständiges Dasein – da aber die Eigenart des Dinges gerade in seiner Ausschließlichkeit wurzelt, da es als Substanz »für sich ist und durch sich begriffen wird«, so entsteht das weitere Problem, wie auf dieser Grundlage zu einer Einheit der Dinge zu gelangen ist. . . . [Für die zweite Richtung der Betrachtung], die ihr Vorbild an der Mathematik hat, ist das »System« nicht der Endpunkt, sondern der Anfangspunkt, nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung der UnCassirer übernimmt damit im Kern wieder eine Forderung, die er schon bei Leibniz vorgefunden hatte, nämlich das Postulat vom logischen Vorrang des Ganzen vor den Teilen, welches aber bei beiden Denkern weder ein bloßes Abtun des Teils und seiner Eigenbedeutung bedeutet, noch eo ipso ausschließt, dass – nämlich in anderer Hinsicht als der logischen – möglicherweise auch einmal das umgekehrte Ordnungsverhältnis in Betracht zu ziehen ist (siehe oben § 3). 113 Albert Görland, Aristoteles und Kant bezüglich der theoretischen Erkenntnis untersucht, Gießen 1909. 112
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tersuchung. »Elemente« bestehen in eindeutiger Bestimmtheit für den Mathematiker nur, sofern er zuvor Definitionen und Axiome aufgestellt und sich in ihnen der Gewißheit bestimmter Grundrelationen versichert hat. Die Einheit dieser Relationen – die Platonische κοινωνία τῶν γενῶν – bildet hier das Fundament, während das »Ding«, sofern es sich in diese Einheit nicht auflöst, als ein Problem, als eine bloße Grenze der Erkenntnis stehenbleibt.“ 114
Im hier von Cassirer zum Zwecke der Gegenüberstellung zunächst symmetrisch gezeichneten Bild – im Verhältnis von Einzelnem und Ganzem erscheint das eine als „Ausgangspunkt“ und das jeweils andere als „Endpunkt“ der Theorie – fehlt freilich noch ein wesentlicher Aspekt: Denn im Gebiet des mathematischen Denkens, an dem eben auch Cassirers eigene Überlegungen ihr „Vorbild“ haben 115, spielen die fraglichen „Grundrelationen“ ja gerade nicht die Rolle eines alternativen ‚ersten Gegebenen‘ (das es hier gar nicht geben kann), sondern vielmehr die von möglichen Sinnbeziehungen, die das Denken als „erzeugende“ Relationen 116 zum Zwecke der „Reihenbildung“ 117 nach frei gewählten Gesichtspunkten zugrundelegt und aktiv als seine Mittel gebraucht: Erst im Ganzen solcher Begriffsreihen erhält und erfüllt ja Cassirer zufolge auch der einzelne mathematische (Relations-)Begriff seinen bestimmten Sinn und seine bestimmte Funktion. 118 Hier ist der Ort, auf eine folgenreiche Doppeldeutigkeit im Terminus „Funktionsbegriff “ hinzuweisen. Folgen wir Cassirer nämlich bis hierher in seiner Identifikation von „relationalem“ und „funktionsbegrifflichem“ Denken, dann zeigt sich, dass der dabei zugrunde gelegte Begriff der Funktion immer wieder zwischen den Aspekten des Bestehens eines funktionalen (Gesetzes-)Zusammenhangs und der aktiven Setzung eines solchen Zusammenhangs durch die Leistung eines Subjekts oszilliert. 119 Cassirers „Aristoteles und Kant“, in: ECW 9, S. 468–483: 469 f. Vgl. SuF VII: „Die erste Anregung zu den Untersuchungen, die dieser Band enthält, ist mir aus Studien zur Philosophie der Mathematik erwachsen. . . . Der sachliche Gehalt der mathematischen Erkenntnisse wies auf eine Grundform des Begriffs zurück, die in der Logik selbst nicht zu klarer Bezeichnung und Anerkennung gekommen war.“ 116 SuF 102. 117 SuF 14. 118 Vgl. SuF 14 ff. 119 Guido Kreis erkennt sogar zwei Dimensionen der „notorische[n] Vieldeutigkeit des Ausdrucks »Funktion«“ (Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, S. 60): 1. die Möglichkeit, dass „»Funktion« . . . einerseits de[n] Funktionsausdruck, in dem die Zuordnung repräsentiert ist, andererseits de[n] Wertebereich (nicht aber die gesetzmäßige Zuordnung selbst)“ (ebd., S. 65) meinen kann, sowie 2. die Ambiguität von „organologi114 115
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suggestiver Terminus „Funktionsbegriff “ lässt sich infolgedessen selbst schon auf zwei grundverschiedene Weisen lesen: einerseits wie ‚Begriff von einer Funktion (oder Funktionsrelation)‘, andererseits wie ‚Begriff als Funktion (eines denkenden Bewusstseins)‘. Indem Cassirer ‚den‘ Funktionsbegriff, so wie er in seiner Studie thematisiert wird, gleichsam zwischen diesen beiden Bedeutungen in der Schwebe lässt und je nach Kontext mal die eine, mal die anderen Nuance hervorhebt, macht er ihn zur einheitlichen Projektionsfläche seines theoretischen und praktischen Kantianismus gleichermaßen. Der Emphase auf dem wesentlich mathematischen Charakter der Erkenntnis am Exempel der physikalischen Naturwissenschaft entspricht dabei das moderne Selbstverständnis der darin bekundeten Leistungen als Funktionen unserer Spontaneität, d. h. als Leistungen menschlicher Freiheit: Unter dem ersten Aspekt erscheint die Funktion im Schema der „Reihenbildung“, die immer nur am Inhalt eines je schon abgegrenzten Ganzen (der mathematisch-erfassbaren ‚Wirklichkeit‘) als dessen Zusammenhangsprinzip Gestalt annimmt; unter dem zweiten Aspekt steht mit dem Bestimmungsmoment als solchem das handelnde Subjekt, also der Mensch im Mittelpunkt, dessen Bezugnahme auf objektive ‚Inhalte‘ somit selbst schon als das eigentlich ‚funktionale‘ Verhältnis gedeutet wird. Die Verschränkung dieser beiden Aspekte unter dem gemeinsamen Etikett des „Funktionsbegriffs“ muss hierbei als ein spezifisch Cassirer’sches Theorem gelten; in ihm werden im Grunde zwei kantische Einsichten – die speziellere von der Fundierung aller Naturerkenntnis im Mathematischen und die allgemeinere von der Verstandeserkenntnis als einem Spezialfall menschlicher Selbstbestimmung – zu einer einzigen zusammengefasst. Daraus resultiert nun ein zentraler Gedanke, an dem Cassirer im Grundsatz auch dort festhalten wird, wo sich ihm später das inhaltliche Referenzsystem für das, was sich als ‚unser Wissen‘ ansprechen lässt, radikal erweitert: Die epistemische Beziehung eines Subjekts auf seinen Geschem“ und „mathematischem“ Funktionsbegriff (ebd., S. 67). Über dieser analytischen Trennung scheint Kreis aber gerade den wichtigen Zusammenhang beider Mehrdeutigkeiten zu verkennen, der mir insbesondere für die richtige „Einschätzung von Kants Gebrauch des Funktionsbegriffs“ (ebd., S. 65) – und in der Folge auch für diejenige von Cassirers eigenem Ansatz – wesentlich scheint. Ich ziehe es deshalb im Folgenden vor, die „Präsenz des organologischen Funktionsbegriffs“ bei Kant statt einer bloßen „Komplizierung“ (vgl. ebd., S. 68) vielmehr als Ausdruck einer sachhaltigen Einsicht zu werten, die bei Kreis wiederum durchgängig zu kurz kommt: der Einsicht, dass alles Theoretisieren über funktionale Verhältnisse unsererseits in letzter Instanz an Formen der Praxis gebunden bleibt, in der wir immer auch als Lebewesen funktionieren, und belasse es deshalb bewusst bei einer Ambiguität.
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Schema A: Drei Nuancen von Cassirers Funktionalismus: (i) Funktion als Reihenbildung im Hinblick auf einen bestimmten funktionalen Zusammenhang ‚in der Welt‘, (ii) als objektivierende Erkenntnisleistung eines Subjekts, (iii) als sukzessive Ausdifferenzierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses anhand ‚reihenbildender‘ Erfahrungserkenntnis.
genstand kann ihm selbst demnach immer nur gerade soweit als Relation bewusst werden – d.h. ‚Gegenstand‘ und ‚Selbst‘ sind für dasselbe immer nur gerade soweit als gesonderte Bezugsmomente differenziert –, wie es ihm praktisch gelingt, die inneren und äußeren Relationen im Gegenständlichen selbst auszudifferenzieren. Im Kontext von Substanzbegriff und Funktionsbegriff nimmt diese These nun die besondere Form an, dass die fortschreitende Ausdeutung der Welt durch Reihenbildung in den einzelnen wissenschaftlichen Begriffssystemen und das funktionale Selbstbewusstsein der wissenschaftlichen Erkenntnis komplementäre Aspekte ein und desselben Prozesses sind (Schema A). Dem unbestreitbaren Vorzug, dass sich damit für ein bestimmtes Gebiet der Zusammenhang zwischen ‚theoretischem‘ und ‚praktischem‘ Funktionalismus prägnant herausstellen lässt, steht allerdings, das sei gleich vorweggenommen, überall dort die Gefahr der Missverständlichkeit gegenüber, wo beide Bedeutungsnuancen zu divergierenden Resultaten führen: Vorstellbar ist insbesondere (und der ganze zweite Teil von Substanzbegriff und Funktionsbegriff ringt in der Tat mit dieser Möglichkeit), dass ein Begriff zwar mit Blick auf das maßgebliche Selbstverständnis des Subjekts durchaus als Funktion auftritt und behandelt wird, aber trotzdem nicht Funktionen zum Thema hat – sondern stattdessen etwa individuelle Anschauungs- und Daseins-Einheiten, die dann zwar einerseits alle Kriterien erfüllen würden, als Erzeugnisse der Freiheit zu gelten, und dennoch im dualistischen Bild von Cassirers früher Wissenschaftstheorie wohl als – „Substanzbegriffe“ gelten müssten. Im Falle der mathematischen Begriffsbildung, von dem Cassirer in seinen Überlegungen ausgeht, ist freilich von solchen Komplizierungen nichts zu spüren. Dahinter steht eine Eigenart der Mathematik, auf der Cassirer m. E. sehr zu Recht insistiert: Es liegt nämlich geradezu im Wesen des Denkens nach mathematischer Methode, dass sich die darin gebrauchten Begriffe allesamt als Funktionen unseres Bewusstseins auffassen
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lassen müssen, weil in ihnen zunächst gar keine andere ‚Wirklichkeit‘ zum Ausdruck kommt als das Bestehen einer geregelten Funktionsbeziehung zwischen dem Denken selbst und dem jeweils Gedachten – oder genauer: zwischen dem Denken als aktivem Vollzug und demselben Denken, sofern es sich selbst im Begriff mittelbar zum Gegenstand machen kann. Dass eine Zahl, eine Proportion, auch eine ‚Funktion‘ im speziellen mathematischen Sinn der Zuordnung jeweils sowohl Ausdruck einer Verhältnisreihe als auch eigenständiges Objekt für weitergehende Untersuchungen sein und werden kann: eben das macht die Eigenart des mathematischen Bewusstseins aus, das schlechthin alles, je nach Gesichtspunkt, beliebig als Relation oder als Gegenstand behandeln kann. So säuberlich deshalb ‚Akt‘ und ‚Gegenstand‘ einer mathematischen Denkhandlung in dieser Handlung selbst jederzeit unterschieden sein müssen, so sehr laufen beide in dem, was sich allgemein als ihre Begriffe ansprechen lässt, wieder zusammen: Die Begriffe der reinen Mathematik sind eben nicht nur nicht anders zu gewinnen, sondern sie bestehen tatsächlich in nichts anderem als in den immer wieder erneuerten Akten ihrer methodischen Hervorbringung – aber gerade darin, so dürfen wir Cassirers Pointe verstehen, bestehen sie wirklich, sofern diese Akte in der wirklichen Praxis der Wissenschaften vollzogen werden und die ideelle Differenz von Akt und Gegenstand je in sich hervorbringen. Genau diesen Handlungscharakter des Begriffs hebt Cassirer denn auch im Einzelnen als ein wesentliches Moment des mathematischen Denkens heraus. Schon die arithmetischen Zahlbegriffe – für Cassirer nichts Geringeres als der „getreueste Ausdruck der rationalen Methodik überhaupt“ 120 – sind für ihn nicht nur an die „frei[e] Konstruktion“ 121 durch ein denkendes und handelndes Subjekt gebunden, sondern sie bestehen überhaupt bloß in der immanenten Linearordnung seiner gedanklichen Aktivität gemäß dem idealen ‚Früher‘ und ‚Später‘ der Konstruktion selbst. 122 Dasselbe gilt nach Cassirer für die geometrischen Grundbegriffe, die dasselbe Prinzip der Reihenbildung auf die Anschauungsform des Raumes übertragen 123, und ebenso für alle weiteren mathematischen Begriffe und Folgerungen, die ausgehend von einmal axiomatisch gesetzten Fundamenten durch Akte immer voraussetzungsreicherer Konstruktionen gebildet werden müssen: Sie alle ‚sind‘ nach Cassirer, logisch gesehen, nur als und im Gesamtzusammenhang solcher Akte und haben des120 121 122 123
SuF 27. SuF 67. SuF 36. Vgl. SuF 185 ff.
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halb außerhalb derselben strenggenommen keinerlei Existenz oder ‚Realität‘. 124 Auf der Grundlage dieser Einsicht sieht Cassirer nun – hierin sowohl mit Platon wie mit Leibniz einig – das Spezifikum des mathematischen Denkens nicht primär darin, dass es uns (in Anwendungen) zur quantitativen Bestimmung von Erfahrungsgegenständen befähigt, sondern in seiner besonderen Qualität als einer Form der theoretischen Praxis, der es gelingt, sich im bewussten Absehen von allen Besonderheiten des individuellen Erlebens konsequent auf die Untersuchung rein begrifflicher Zusammenhänge zu beschränken. 125 Dabei geht es keineswegs um den asketischen Selbstzweck einer weltfremden Theorieentwicklung, sondern darum, dass gerade diese Selbstbeschränkung des Denkens als Teil seiner methodischen Selbstbestimmung mit einem spezifischen Freiheitsgewinn verknüpft ist: Das bewusste Sich-Freihalten des Theoretikers von allen real-vorgängigen Gegebenheiten (das für sich genommen wie ein eher zweifelhafter Gewinn erscheinen mag) erhält im tatsächlichen mathematischen Denkvollzug den positiven Sinn seiner erst unter dieser Voraussetzung möglichen praktischen Freiheit-zu – nämlich zu einem von allen tatsächlichen oder vermeinten Gegebenheiten unbefangenen, experimentellen und kreativen Umgang mit buchstäblich allem Möglichen, d. h. allen möglichen Arten gedanklicher Verhältnisse. 126 Wenn Cassirer schon in seiner Philosophie der Mathematik diesen unmittelbar praktischen Aspekt gerade der ‚reinsten Theorie‘ in den Vordergrund stellt, von dem er sich mit guten Gründen sicher sein kann, dass er sich in keiner Abbildtheorie der Erkenntnis und keiner Abstraktionstheorie des Begriffs jemals einholen lasse, so wird damit der mathematische Funktionsbegriff selbst zum exemplarischen Fall für den allgeBesonders nachdrücklich hebt Cassirer diese Eigenart wieder bei den mathematischen Relationsbegriffen par excellence, den Begriffen von Differential und Integral hervor, deren Zusammenhang ja gerade im Begriff der (differenzierbaren) Funktion gestiftet ist. Vgl. SuF 77–80 und 324; PhsF 1, S. 38; PhsF 2, S. 40. 125 Vgl. SuF 106 und 98. 126 Dass die hier gemeinte Freiheit in der Tat weit über das Gebiet der Quantität hinausreicht, gelegentlich wohl auch zu weit darüber hinausgetrieben werden kann, belegt gerade Leibniz’ aus mathematischen Prinzipien konstruierte, ‚rationale‘ Metaphysik sehr eindrücklich. Es ließe sich sogar für die anscheinende Paradoxie argumentieren, dass die privilegierte Stellung der Zahlen- und Größenbegriffe in der Mathematik im Grunde nur ‘zufällig’ durch die Rücksicht auf das Nichtmathematische, nämlich die mögliche Anwendbarkeit exakter Begriffsbestimmungen auf Probleme der sinnlichen Wirklichkeit zustandekommt, wofür die grundsätzlichen Unterschiede in der thematischen Ausrichtung von ‚reiner‘ und ‚angewandter‘ Mathematik als Beleg dienen mögen. Vgl. Bertrand Russell: Principles of mathematics. London 2010, S. 419. 124
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meinen Spontancharakter der ‚mathematischen Denkart‘ im qualitativen Sinn: Er beweist, zunächst zwar nur auf dem engen Sachgebiet quantitativer Maßbegriffe, die reale Möglichkeit eines in Wahrheit nicht darauf beschränkten ‚Denkens in Funktionsbegriffen‘, dessen Eigenart nach Cassirers späterer prägnanter Formulierung darin besteht, sich im freien konstruktiven Gedankenaufbau „die Welt zu beseitigen, um die Welt an sich zu ziehen“ 127 – sich zunächst in einem künstlichen Medium einen unbelasteten Überblick über die infrage kommenden Verhältnisse und ihre Eigenschaften zu verschaffen, unter denen dann viel leichter eine kontrollierte Auswahl und Zuordnung zum real Vorgefundenen erfolgen kann. So stehen für Cassirer auch dort, wo er die Mathematik als Grundlage der naturwissenschaftlichen Empirie in Betracht zieht, letztlich weniger die konkreten Möglichkeiten der Messung und Rechnung im Vordergrund (auch wenn diese für jede empirische Wissenschaft den praktisch-nächstliegenden Anknüpfungspunkt ans Mathematische bilden müssen) als vielmehr die in der Mathematik beispielhaft geübte Freiheit des Blicks: ein Ideal sachlich-distanzierter Beurteilung, dem sich auch die an ihr orientierten Erfahrungswissenschaften mit ihren jeweiligen Methoden nicht auf Dauer entziehen können. 1.3 Zwei Richtungen des Wissens, zwei Rollen der Substanz § 7 Zwischen Geltung und Genese: Naturwissenschaft im Doppelaspekt Tatsächlich bezweckt ja Cassirer mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff nicht ‚nur‘ eine Philosophie der Mathematik, sondern aufbauend auf seiner allgemeinen Theorie der Relationsbegriffe eine konstruktivistische Grundlegung der exakten Naturwissenschaften. Dabei folgt er dem Grundgedanken, den er schon in seiner Dissertation für sich festgestellt zu haben scheint: dass eine wissenschaftliche Erkenntnis der Natur jederzeit ein System der verschiedenen Wissensgebiete voraussetzt, das sich gemäß dem cartesischen Ideal in einer rationalen ‚Kette der Wissenschaften‘ von der Arithmetik über die Geometrie weiter zur Mechanik, Dynamik, Chemie usw. entwickelt. 128 GL 197. Vgl. SuF VII: „Die erste Anregung zu den Untersuchungen, die dieser Band enthält, ist mir aus Studien zur Philosophie der Mathematik erwachsen. . . . Allgemeinere Bedeutung gewann das Problem, das hierdurch bezeichnet war, freilich erst dann, als es sich zeigte, daß es sich keineswegs auf das Gebiet der Mathematik beschränkt, sondern von hier aus auf das Ganze der exakten Wissenschaften übergreift. Die Systematik dieser 127 128
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Was versteht Cassirer aber eigentlich unter der Natur, deren Wissenschaften er theoretisch einholen will? Auf diese Frage gibt uns der Autor von Substanzbegriff und Funktionsbegriff keine unmittelbare Antwort; und auch in seinen späteren Texten tut er uns nicht den Gefallen einer expliziten eigenen Begriffsdefinition. Der Blick auf Cassirers Gesamtwerk zeigt jedoch, dass er in Zusammenhängen, in denen ihm eine gesonderte Definition des Naturbegriffs angebracht scheint, immer wieder ausgerechnet auf Kants Bestimmung aus den Prolegomena zurückkommt, der zufolge „Natur . . . das Dasein der Dinge [ist], sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“ 129. Nun ist bekannt, in welche exegetischen Abgründe Kants Dingbegriff, insbesondere durch die Differenzierung in „Dinge für uns“ (Erscheinungen) und „Dinge an sich“, die Interpreten über die Jahrhunderte gestürzt hat. Bei allen Verständnisschwierigkeiten, die mit ihnen einhergehen, haben diese Formulierungen Kants jedoch vordergründig immerhin den Vorteil, einer Grundintuition unserer Alltagserfahrung Genüge zu tun, nämlich der, dass es in der Natur (oder sogar ‚von Natur aus‘) überhaupt Dinge gibt, von denen sich dann so oder anders urteilen lässt. Von Cassirer, der schon Kant in diesem Punkt ganz anders versteht 130, lässt sich das nicht mit demselben Recht behaupten: Bei allen Gründen, die wir oben bereits gegen das offenbar von ihm selbst befürchtete Missverständnis anführen konnten, seine Grundlegung unseres Wissens von der Welt in einem System der Relationsbegriffe wolle das „Dasein der Dinge“ als solches a priori bestreiten, muss man sich bei ihm in Ermangelung einer positiven Theorie der Dingbegriffe schon fragen, ‚woher‘ ein solches „Dasein“ in Cassirers Systematik kommen, ‚wie‘ sich in ihrem Rahmen so etwas wie „Dinge“ (und mit ihnen die Existenz der Natur, von der er bis dato ja nur ihre Bestimmbarkeit in Form matheWissenschaften gewinnt eine verschiedene Gestalt, je nachdem man sie gleichsam unter verschiedenen logischen Perspektiven betrachtet. So mußte nunmehr der Versuch gemacht werden, von dem einmal gewonnenen Gesichtspunkt aus, den Formen der Begriffsbildung in den einzelnen Disziplinen – in der Arithmetik wie in der Geometrie, in der Physik wie in der Chemie – nachzugehen.“ Vgl. auch SuF 73 f. 129 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (im Folgenden zit. als Prolegomena) § 14, S. 294 (Kursivierung F. S.). Cassirer rekurriert auf diese Formel z. B. SuF 31; PhsF 3, S. 111 und 364 etc. 130 Vgl. v. a. seine Interpretation des „Dings an sich“ als eines mit den jeweils demarkierten Erfahrungsgrenzen in seinem Sachgehalt variierenden Grenzbegriffs in EP 2, S. 613 ff. Cassirer beschließt diese Diskussion (und damit Band 2 des Erkenntnisproblems) mit der charakteristischen Einschätzung: „Die Auflösung des »Gegebenen« in die reinen Funktionen der Erkenntnis bildet das endgültige Ziel und den Ertrag der kritischen Lehre.“ (S. 638; Kursivierung F. S.).
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matischer Gesetzlichkeiten einsichtig machen konnte) konstituieren, und welchen Status sie gegebenenfalls im Verhältnis zu den scheinbar alles dominierenden Funktionsrelationen noch für sich beanspruchen könnten. Einen wichtigen Hinweis finden dazu wir nun bereits in Cassirers Analyse der Geometrie als jenem Zweig der Mathematik, der sich (im Unterschied zur reinen Arithmetik) mit den Eigenschaften unserer räumlichen Anschauung befasst. Hier bringt Cassirer nämlich von sich aus – und scheinbar ohne Not, denn mit ‚Dingen‘ im realistischen Sinn hat ja auch der Geometer nicht zu tun – wieder die „allgemein[e] Kategorie der Substantialität“ ins Spiel, die er offenbar schon in diesem Zusammenhang nicht einfach rundheraus ablehnt, sondern eher einem umfassenden „Bedeutungswandel“ unterzogen sieht. 131 So soll durch jene Kategorie nicht länger die Vorstellung eines absolut unveränderlichen Substrats bezeichnet werden, sondern der Gedanke relativer Invarianten von Raumbestimmungen im Hinblick auf eine je der Betrachtung zugrunde gelegte Gruppe geometrischer Transformationsgesetze: „Die Geometrie handelt, als Invariantentheorie, von bestimmten unwandelbaren Beziehungen: Aber diese Unwandelbarkeit läßt sich in keiner Weise bestimmen und festhalten, ohne daß wir, gleichsam als ideellen Hintergrund, den Gedanken bestimmter Grundänderungen fassen, denen gegenüber sie gilt und sich behauptet. . . . Konstanz und Veränderlichkeit erscheinen daher hier als durchaus korrelative Momente: Nur durch und miteinander sind beide definierbar. Der geometrische »Begriff« erhält seinen identischen und eindeutigen Sinn erst durch die Angabe der bestimmten Gruppe von Änderungen, mit Rücksicht auf die er konzipiert ist. Der Bestand, von dem hier die Rede ist, bezeichnet keine absolute Eigenschaft gegebener Objekte, sondern er gilt stets nur relativ zu einer bestimmten gedanklichen Operation, die wir als Bezugssystem wählen. Hier kündigt sich bereits ein Bedeutungswandel in der allgemeinen Kategorie der Substantialität an, der im Fortgang der Untersuchung immer deutlicher zutage treten wird: Die Beharrlichkeit bezieht sich nicht auf die Fortdauer von Dingen und dinglichen Beschaffenheiten, sondern sie bezeichnet die relative Selbständigkeit bestimmter Glieder eines funktionalen Zusammenhangs, die sich im Vergleich zu anderen als unabhängige Momente erweisen.“ 132
Auf die Bedeutung des Invarianten-Gedankens für Cassirers Philosophie der (mathematischen) Wissenschaften ist an anderer Stelle hingewiesen 131 132
SuF 96. Ebd.
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worden 133: Die Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis bekommt ihre Bestimmtheit und Festigkeit zufolge diesem Gedanken nicht so, dass wir einen vermeintlichen festen dinglichen Kern der Natur immer präziser durch unsere Modelle abzubilden vermöchten, sondern allein dadurch, dass sich im fortschreitenden konstruktiven Aufbau dieser Modelle selbst bestimmte Momente unseren Erkenntnisansprüchen mit größerer Sicherheit genügen als andere, noch ‚unsichere‘ oder volatile, und deshalb im Verhältnis zu diesen den Charakter relativer ‚Konstanten‘ annehmen. Mir kommt es jedoch an dieser Stelle daneben noch auf etwas anderes an: Wenn wir nämlich hier in heuristischer Absicht die oben (S. 70) unterschiedenen Nuancen des Cassirer’schen ‚Funktionsbegriffs‘ analog auf dessen Gegenstück übertragen, dann sehen wir, dass Cassirer mitten in seiner Kritik des wissenschaftlichen Gebrauchs von Begriffen als Substanzen, d. h. nach Art von Dingen mit „absolute[n] Eigenschaft[en]“, explizit einen bestimmten Begriff der Substanz (bzw. Substantialität) aufnimmt und sogar zur Kennzeichnung der favorisierten ‚funktionsbegrifflichen‘ Denkungsart selbst in Anschlag bringt. Was diese Terminologie hier so unverdächtig erscheinen lässt und geradezu dazu verleitet, über den Punkt hinwegzulesen, auf den ich aufmerksam machen möchte, ist der Umstand, dass durch den von Cassirer fokussierten „Bedeutungswandel“ die Identität des Wortes gleichsam übersteuert wird: Nach diesem Wandel bezeichnet der Begriff der „Substantialität“ eben nicht mehr ein ewiges Sichgleichbleiben im absoluten Gegensatz zu aller Veränderung, sondern im Gegenteil die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten möglicher Veränderungen überhaupt, die er nur in einen relativ feststehenden Ausdruck zusammenfasst. In dieser Fassung als relative „Konstanz“ tritt die ‚Substanz‘ bzw. der „Bestand, von dem hier die Rede ist“, ganz in die Dynamik der fortgesetzten gedanklichen Bestimmung dieser Gesetzmäßigkeiten ein und ist schließlich als reiner Relationsbegriff unabhängig von dieser Entwicklung gar nicht mehr zu denken – bis hin zu ihrer völligen Auflösung und Verdrängung durch neue Invarianten, wenn nämlich der Gesichtspunkt und die „gedanklich[e] Operation, die wir als Bezugssystem wählen“, geändert werden. Warum aber spricht Cassirer dann überhaupt noch von Substanz bzw. Substantialität, von der doch in diesem Kontext schon kaum noch etwas Karl-Norbert Ihmig: Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des „Erlanger Programms“. Hamburg 1997; ders.: „Cassirers Rezeption des Erlanger Programms von Felix Klein“. In: Martina Plümacher / Volker Schürmann (Hg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers. Frankfurt am Main u. New York 1996. S. 141–163; ders.: Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer. Darmstadt 2001. 133
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übrig zu sein scheint? Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal an unsere frühere Beobachtung, dass die Philosophie der symbolischen Formen später in vergleichbarer Weise das Erhaltungsprinzip der relativistischen Physik als ein „»Substantielles« von ganz neuer Art und Ordnung“ 134 deuten wird, dann scheinen wir es hier erneut mit einer Eigenart Cassirers zu tun zu bekommen, noch in Reflexionen auf den state of the art von Wissenschaften, die auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis durchweg ‚funktionsbegrifflich‘ organisiert sind, irgendwie doch wieder auf den sozusagen metaphysisch angestaubten Substanzbegriff zurückzugreifen. Es scheint mithin, als wolle Cassirer, der in seiner Eigenschaft als Erkenntniskritiker immerfort das geltungstheoretische Gefälle zwischen ‚funktionaler‘ und ‚substanzieller‘ Denkart betont und den Grund aller wissenschaftlichen Wahrheit in ersterer verortet, dennoch gerade den nächstliegenden Weg nicht gehen, den in dieser Hinsicht ein für allemal als ungenügend erkannten Substanzbegriff schlechthin gar nicht mehr zu verwenden. Ein Vorteil dieses Vorgehens liegt allerdings auf der Hand, und ich meine sogar, dass damit das wichtigste Motiv hinter Cassirers scheinbar ‚halbherziger‘ Abkehr vom Substanzbegriff getroffen sein könnte: Indem Cassirer den Substanzbegriff nämlich nicht einfach aus seinem Vokabular streicht, sondern stattdessen, wo es ihm angebracht erscheint, nur durch ironisierende Anführungszeichen gleichsam entschärft und – weiterhin gebraucht, gelingt es ihm, zwischen den Zeilen seiner ‚Erkenntniskritik‘ (und ohne deren systematische Ergebnisse etwa zu unterminieren) eine Denkoption im Spiel zu halten, die wir ernst nehmen sollten: den Gedanken nämlich, dass zwischen der naiv-dinglichen Substanzauffassung der Vormoderne und den hochreflektierten Relationsbegriffen geometrischer oder physikalischer Invarianzen in einer ganz bestimmten Hinsicht (und zwar im gemeinsamen Gesichtspunkt der ‚Beharrlichkeit‘) doch eine gewisse Kontinuität besteht, die von der Wertfrage nach den qualitativen Unterschieden der Denkarten zunächst einmal ganz unabhängig ist. Dieser Gedanke liegt einerseits mit Blick auf Cassirers frühere Äußerungen (siehe noch einmal § 4) nur nahe und steht doch andererseits zur Artikulation seiner frühen ‚Erkenntniskritik‘ eigentümlich quer. Es ist, als ob wir es von Anfang an mit zwei verschiedenen Maßstäben zu tun hätten, die Cassirers Positionierung in der Frage nach ‚Substanz‘ oder ‚Funktion‘ konturieren: Den erkenntniskritischen Urteilen über den relativen Geltungswert von ‚ding-‘ und ‚relationsbegrifflicher‘ Denkmethode, die zugunsten der letzteren zwischen beiden einen scharfen qualitativen Schnitt 134
PhsF 3, S. 548. Siehe oben S. 42.
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ziehen, stehen die Urteile des Historikers gegenüber, die die Abfolge ihrer faktischen Realisierungen in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zum Thema haben. Unter diesem historisch-genetischen Gesichtspunkt wäre die Frage nach der Priorität beider Denkarten nun aber im gerade entgegensetzten Sinne zu beantworten wie die Wertfrage nach ihrem epistemischen Primat: Denn es kann ja kein Zweifel daran bestehen und wird in der Tat auch von Cassirer wiederholt eingeräumt, dass der Zeit nach zuerst die Fragen nach der Substanz und dem Wesen der Dinge gestellt wurden, bevor an den daraufhin fixierten Paaren von Explanandum und Explanans eine „kritische Arbeit der Forschung“ 135 überhaupt einsetzen konnte; erst im Zuge dieser Arbeit, die zunächst noch durchaus auf der historischen Grundlage des Substanzdenkens sich abgespielt hat, hat sich aber eben auch die funktionale Methode und das funktionale Selbstverständnis des Denkens überhaupt herausbilden können, das Cassirer schließlich (vom Standpunkt der Moderne) rückblickend (!) als das den Aufgaben der Erkenntnis angemessenere unterstreicht. 136 Aus dieser ‚anderen‘ Perspektive auf das Verhältnis zwischen Substanzund Funktionsdenken (und dem Verhältnis zwischen genetischer und Geltungstheorie) philosophischen Sinn zu machen, ist Sache der erst ein gutes Jahrzehnt später entstehenden Philosophie der symbolischen Formen. 137 Tatsächlich wird es dort insbesondere die Persistenz der Sprachbegriffe und der mit ihnen wesentlich verbundenen fixen Anschauungseinheiten sein, die Cassirer für die kulturelle Kontinuität des Substanzproblems verantwortlich macht, dessen eigentliche Wurzeln er aber, wie wir noch im Einzelnen sehen werden, im mythischen Weltverhältnis des Menschen verortet. Schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff lassen aber einzelne Passagen darauf schließen, dass Cassirer in der zeitlichen Reihenfolge, nach der das Nachdenken über ‚substantielle‘ Fragen vor der Reflexion auf den eigentlichen Sinn solchen Fragens und die Grenzen seiner möglichen Beantwortung steht, mehr erkennt als eine bloße Laune der Geschichte. Indem er, wie wir gesehen haben 138, die Anfänge der wissenschaftlichen Philosophie letztlich bis in ihre antiken Ursprünge Vgl. SuF 163 f. Vgl. SuF 168–184. 137 Es liegt nahe, ist aber auch nicht ohne Tücken, diese Entwicklung als eine Transformation des Hegelschen Projekts einer Phänomenologie des Geistes in seiner geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Ein kritischer Versuch in diese Richtung findet sich bei Reto Luzius Fetz: „»Die metaphysische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln«. Cassirers Transformation von Hegels Phänomenologie des Geistes“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 131–154. 138 Siehe § 4. 135 136
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zurückverfolgt, stellt sich ihm die genetische Priorität der Substanz vielmehr als eine praktisch-notwendige dar: Wo nämlich das „Sein“ überhaupt erst zu einem „geordneten Ganzen“ „wird“, da bildet nach seiner Einsicht „[d]ie Wahrnehmung . . . die einzige feste Grenze, die zwischen der Realität und den mythisch-poetischen Erdichtungen scheidet“; was aber aus der Wahrnehmung erwächst und mit ihr in solcher struktureller Verflechtung bleibt, das ist nicht etwa von Anfang an der voll entwickelte Begriff von Funktionsverhältnissen, sondern eben der der Substanz und des substantiellen Daseins. 139 Eine Logik der ‚reinen Relationen‘, wie sie Cassirer für die Wissenschaft seiner Gegenwart einfordern kann, ist also solange gar nicht zu erwarten, solange nicht zuvor die einzelnen Dinge unserer Wahrnehmungswelt systematisch voneinander unterschieden, klassifiziert und in irgendeine feste gedankliche Ordnung gebracht sind, von der aus als einer – wie immer vorläufigen – Sachbasis das Denken dann zur Thematisierung ihrer verschiedenartigen Verhältnisse übergehen kann. 140 Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier keineswegs behauptet werden, dass die Berücksichtigung dieser genetischen Perspektive durch Cassirer seinen eben erst ausgearbeiteten und aufwendig begründeten geltungstheoretischen Funktionalismus irgendwie zurücknehmen, einschränken oder aufweichen würde. Die relationalen Funktionsbegriffe sind und bleiben für ihn die einzig legitimen Medien unseres (natur-)wissenschaftlichen Weltverstehens einschließlich seiner philosophischen Reflexion: Sofern insbesondere auch die philosophische Wissenschaftstheorie ihrerseits Wissenschaft sein will, kann auch sie sich ja unmittelbar auf gar nichts anderes beziehen als auf die verschiedenartigen Verhältnisse, die die mit mathematischen Maß- und Relationsbegriffen operierende Empirie an den Phänomenen unserer Anschauungswelt aufdeckt, sowie die zum Gesamtwissensstand relativen Deutungen, die jeder neuen Entdeckung in der fachinternen Debatte gegeben werden, und muss sich bemühen, diese verschiedenen Aspekte wieder fortschreitend miteinander in Beziehung zu setzen. In den oben angeführten Passagen ist aber, wie ich meine, von etwas völlig anderem die Rede als von jener ideellen „Ordnung des Wissens“, in der etwa wegen der unterschiedlichen Ansprüche an die begriffliche Konstruktion „ein Polynom ersten Grades einfacher ist als ein Polynom zweiten Grades“ 141 – nämlich von einer davon ganz unabhängigen ästhetisch-lebenspraktischen Ordnung, in der 139 140 141
SuF 163 f. (Kursivierung F. S.). Vgl. das Zitat oben auf S. 57. Siehe dazu schon § 4. SuF 117.
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jede gedankliche Relation gegenüber dem sinnlichen Einzelding zunächst einmal etwas Komplexeres darstellt. Man kann den Punkt auch anders fassen. Angenommen, Cassirer hätte nicht in der hier dargestellten Weise auch dem ‚Substanzdenken‘ zumindest einen relativen Eigenwert (in genetischer Perspektive) zugesprochen, sondern sich mit seiner völligen Verwerfung begnügt: Was gäbe es dann wohl noch für ein Mittel, seinen Ansatz gegen den Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs zu verteidigen, da doch eine solche absolute Herabsetzung des substantiellen Aspekts zugunsten des funktionalen selber auf eine ‚substanzbegriffliche‘, statt aus dem Realkontext der fraglichen Antithese bloß aus gewissen Vorannahmen über das ‚Wesen‘ der beiden Begriffstypen hergeleitete Setzung hinauslaufen müsste? Die Maxime einer konsequenten Denkungsart vorausgesetzt, erlaubt es Cassirers Funktionalismus der ‚Relationsbegriffe‘ nicht nur, sondern fordert geradezu, sich auch mit jener anderen, als Modell für die eigene wie überhaupt für jede wissenschaftliche Methode zwar ein für allemal abgelehnten Auffassungsweise dennoch ernsthaft auseinander-, d. h.: sich selbst zu ihr in Beziehung zu setzen. Erst damit wird aus der Kritik am Substanzdenken mehr als die Repetition einer historischen ‚Zeitenwende‘, nämlich (potentiell) konstruktive Kritik, die die eventuellen Verdienste auch einer auf den ersten Blick ‚längst überholten‘ Denkweise nicht leichthin zur Disposition stellt, sondern mit Blick auf ihre geschichtliche Bedeutung offen gegenüber der Möglichkeit bleibt, dass gewisse Transformate von ihr sich am Ende sogar als mit dem aufgeklärten Selbstverständnis der Moderne kompatibel erweisen könnten. Bereits im Werk von 1910 schwebt hinter diesem noch weitgehend impliziten Anspruch ein Gedanke, den erst spätere Texte unter dem Titel des mythischen Denkens explizieren werden 142, dass nämlich jene ‚andere‘ Ordnung, in der das Substantielle als das Frühere zu gelten hat, keineswegs nur mit Blick auf vergangene Epochen der Geschichte in Betracht zu ziehen ist. So finden wir schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die bezeichnende Formulierung, dass auch wir Heutigen uns „psychologisch . . . den Sinn einer bestimmten Relation immer nur an irgendwelchen gegebenen Relationstermen, die als »Fundamente« der Beziehung dienen“ – und die wir wiederum „zunächst der sinnlichen Anschauung verdanken“ – „vergegenwärtigen können“. 143 Diese ästhetisch-‚psychologische‘ Nuancierung des Gedankens lässt sich mit der zuvor betrachteten historischen auch zusammenfassen: wenn wir nämlich beide als erste Schritte 142 143
Siehe v. a. § 19 und § 20. SuF 100 (Kursivierung F. S.).
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Cassirers in Richtung auf eine allgemeinere anthropologische Einbettung der Epistemologie begreifen, in der unser Wissen von der Welt so konsequent als Praxis verstanden ist, dass es neben und abseits von aller Geltungsreflexion immer auch auf seine zeitlichen Ursprünge beziehbar sein soll. Makro- wie mikroskopisch, kulturhistorisch wie individualpsychologisch entpuppt sich das zeitlich Frühere dabei aber als ein Zustand sinnlicher Bedingt- und Gebundenheit des Bewusstseins und verweist damit auf eine Ebene, die den logisch-begriffstheoretischen Rahmen von Substanzbegriff und Funktionsbegriff schon übersteigt. § 8 Eins und doppelt – die chemische Begriffsbildung Der konsequente Wechselbezug von historischen und systematischen Betrachtungsweisen gehört zu den stilbildenden Merkmalen des Cassirer’schen Denkens. 144 Hinter ihm steht die begründete Überzeugung, dass sowohl systematische als auch historische Einsichten nur im wechselseitigen Bezug beider Perspektiven aufeinander zu haben sind; ein Gedanke, der vielleicht nirgends entschiedener zum Ausdruck kommt als im Vorwort des ersten Bands zum Erkenntnisproblem: „Indem wir die Voraussetzungen der Wissenschaft als geworden betrachten, erkennen wir sie ebendamit wiederum als Schöpfungen des Denkens an; indem wir ihre historische Relativität und Bedingtheit durchschauen, eröffnen wir uns damit den Ausblick in ihren unaufhaltsamen Fortgang und ihre immer erneute Produktivität. . . . Daß die Prinzipien, auf die [die Geschichte der Philosophie] sich hierbei stützt, zuletzt »subjektiv« sind, ist freilich wahr; aber es besagt nichts anderes, als daß unsere Einsicht hier wie überall durch die Regel und das Gesetz unserer Erkenntnis bedingt ist. Die Schranke, die hierin zu liegen scheint, ist überwunden, sobald sie durchschaut ist, sobald die unmittelbar gegebenen Phänomene und die begrifflichen Mittel für ihre theoretische Deutung nicht mehr unterschiedslos in eins verschwimmen, sondern beide Momente sowohl in ihrer Durchdringung wie in ihrer relativen Selbständigkeit erfaßt werden.“ 145 Vgl. John Michael Krois: Cassirer, symbolic forms and history. New Haven 1987; Volker Gerhardt: „Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik“. In: Hans-Jürg Braun u. a. (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main. 1988. S. 220–246. 145 EP 1, S. IX-XI (Kursivierung F. S.). Vgl. daneben z. B. PhsF 3, S. Xf.: „[S]o habe ich auch in dieser [Arbeit; gemeint ist die Philosophie der symbolischen Formen, F. S.] die 144
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Man sieht auf den ersten Blick, dass wir es hier nicht bloß mit der Methodenreflexion eines Philosophie- und Wissenschaftshistorikers im engeren Sinne zu tun haben. Cassirer artikuliert eine ganz allgemeine Grundeinsicht in „die Regel und das Gesetz unserer Erkenntnis“, wie sie für alle philosophisch-wissenschaftliche Praxis überhaupt bindend ist. Entscheidend ist der Punkt, dass eine solche Praxis – als menschliche und damit selbst immer schon historische – sozusagen mit einem hermeneutischen Zirkel zu kämpfen hat, aus dem nach Cassirer nur die gelingende Differenzierung zwischen dem Aspekt der „immer erneute[n] Produktivität“, unter dem wissenschaftliche Forschung selbst zum historisch „gegebenen Phänomen[]“ und Sachthema werden kann, und der Reflexion auf die dabei zugrundegelegten „begrifflichen Mittel“ und Geltungsgründe herausführen kann. So macht die begründete Unterscheidung von ‚systematischen‘ und ‚historischen‘ Gesichtspunkten einen echten Wechselbezug zwischen beiden erst möglich – genau wie andererseits hinter jeder solchen Unterscheidung immer schon der Wille stehen muss, beide Aspekte in Betracht zu ziehen und zueinander in Bezug zu setzen. Wir sehen: Cassirers eigenes philosophisches Bewusstsein bindet sich hier wiederum selbst an die strengen Maßstäbe ‚funktionsbegrifflichen‘ Denkens, das auch im ideengeschichtlichen Kontext zwei verschiedene Aspekte umfasst: 1. den Aspekt, dass es (genau wie das ‚mathematische‘ Denken im qualitativen Sinn des Wortes 146) begründete Unterschiede zwischen selbstgesetzten Maßstäben und gegebenen Inhalten auch dort zu machen und zu schätzen weiß, wo eine ‚substantielle‘ Betrachtungsart beides einfach „unterschiedslos in eins verschwimmen“ lassen müsste, und 2. den Aspekt, dass die Orientierung an diesem methodischen Anspruch (statt an vorab festgelegten inhaltlichen Voraussetzungen) es erlaubt, im Sinne einer grundsätzlich „erweiterten Denkungsart“ die jeweils eigenen Erkenntnisbemühungen in einen gemeinsamen Raum mit den geschichtlichen Bemühungen anderer zu stellen, anstatt sich selbst, bloß aufgrund einer zufälligen Posteriorität, irgendwelche substantiellen Vorzüge einzuräumen. 147
systematische Betrachtung nicht von der historischen abzulösen versucht, sondern nach einem engen Zusammenschluß beider gestrebt. Nur in einer solchen ständigen Rückbeziehung aufeinander können beide sich wechselseitig erhellen und wechselseitig fördern. . . . [D]er jetzt wieder so vielfach beliebte Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, ohne nach ihrer Beziehung und Verknüpfung mit der Gesamtarbeit der wissenschaftlichen Philosophie zu fragen, ist mir niemals förderlich und fruchtbar erschienen.“ 146 Vgl. dazu S. 74 oben.
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Wir können nun, indem wir Cassirer an diesem eigenen Anspruch messen, versuchen, ob sich nicht auch umgekehrt der eher systematische Ansatz von Substanzbegriff und Funktionsbegriff durch den eher historischen des Erkenntnisproblems noch weiter erhellen lässt. Ich habe im vorigen Abschnitt ja schon darauf hingewiesen 148, dass auch in Substanzbegriff und Funktionsbegriff trotz der vordergründig rein logisch-geltungstheoretischen Thematik die historisch-genetische Perspektive eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Dieser Befund lässt sich mit Seitenblick auf die zitierte Stelle aus dem Vorwort zum Erkenntnisproblem vielleicht besser einordnen, wenn man unterstellt, dass sich Cassirer auch im Kontext seiner systematischen Analyse der mathematischen (Natur-)Wissenschaften von der Berücksichtigung ihrer genetischen Dimension eine Art „Ausblick“ in den „Fortgang“ und die „immer erneute Produktivität“ 149 derselben versprochen haben mag. Und wenn nun diese „Produktivität“ von Cassirer im Sinne eines Prozesses der immer klarer zutage tretenden Verschiebung zur relations- und funktionsbegrifflichen Logik gedeutet wird – so wäre nichtsdestoweniger zu erwarten, dass er dem Postulat aus dem Erkenntnisproblem-Vorwort, diese Deutung nicht wieder „unterschiedslos“ mit dem Phänomen selbst, um das es sich handelt, „in eins verschwimmen“ zu lassen, weiterhin die Treue hält (zumal sich dieses Postulat eben auch umgekehrt wieder als methodische Implikation eines funktionsbegrifflichen Selbstverständnisses lesen lässt); im Klartext: Es wäre zu erwarten, dass er es ganz bewusst vermeidet, die teleologisch-normative Perspektive des Philosophen auf die einzelwissenschaftliche Produktivität schon dieser selbst und den in ihr entwickelten besonderen Formen des Weltumgangs unterzuschieben. Tatsächlich wird erst vor diesem Gesamthintergrund die bemerkenswerte Weise verständlich, in der sich der Autor von Substanzbegriff Ich spiele hier an auf Kants Maxime der „erweiterten Denkungsart“ in der Kritik der Urteilskraft, § 40, grundsätzlich „[a]n der Stelle jedes anderen [zu] denken“ (AA V, S. 294). Auf diesen Gedanken, den Cassirer zu einem universellen Pluralismus der Wissenschafts- und schließlich der Gesamtkultur ausbaut, werde ich in den nächsten Abschnitten wiederholt zurückkommen. – In der hier vorgeschlagenen Deutung der methodischen Selbstverpflichtungen des Historikers des Erkenntnisproblems mithilfe der theoretischen Bestimmungen aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff stimme ich weitgehend mit Simon Truwant überein, der u. a. den Gedanken der (Rück-)Übertragbarkeit des Cassirer’schen Funktionalismus auf seinen Zugang zur Ideengeschichte jüngst in einem sehr lesenswerten Aufsatz verfolgt hat: Simon Truwant: „The Concept of ‘Function’ in Cassirer’s Historical, Systematic, and Ethical Writings“. In: Friedman / Luft (Hg.): The Philosophy of Ernst Cassirer. S. 289–311. 148 Siehe § 7. 149 Siehe das Zitat oben auf Seite 83. 147
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und Funktionsbegriff , dessen Aussage weiten Teilen der Cassirer-Forschung in der Formel „Funktionsbegriff statt Substanzbegriff “ aufzugehen scheint, 150 schließlich auch einem Gebiet der Naturwissenschaft zuwenden kann, in dem nach seinen eigenen Worten „[d]ie Bedeutung, die der allgemeine Substanzbegriff innerhalb des tatsächlichen Prozesses der Erfahrung besitzt, . . . klar hervor[tritt]“: 151 Die Rede ist von der Chemie als derjenigen Naturwissenschaft, die (als erste im logischen Aufbau der Disziplinen) „das Problem des Einzeldings in aller Entschiedenheit in den Vordergrund [stellt]“, indem sie die „besonderen Stoffe der empirischen Wirklichkeit und ihre besonderen Eigenschaften“ untersucht. 152 Zwar geht Cassirers ‚Erkenntniskritik‘ auch hier zunächst erwartungsgemäß davon aus, dass etwa der Atombegriff, der seit den Anfängen der modernen Chemie den gedanklichen Anknüpfungspunkt aller Theorieentwicklung gebildet hatte, „abgesehen von allen metaphysischen Behauptungen über die Existenz“ in Wahrheit nur „gleichsam als der gedachte einheitliche Mittelpunkt eines Koordinatensystems [fungiert]“, 153 in welchem die verschiedenen Reihen wissenschaftlicher Verhältnisbestimmungen im Hinblick auf jeweils einzelne ‚Merkmale‘ wiederum wechselweise aufeinander bezogen werden. Doch entgegen dem Anschein, den diese Erinnerung erweckt, ist es für ihn nicht bloß ein Missverständnis, wenn die Chemiker in der Praxis „die Beobachtungen über die Dampfdichte, über die Wärmekapazität, über den Isomorphismus usf. sämtlich an ein und dasselbe Subjekt anheften“, das sie mit dem ‚Substanzbegriff ‘ des Atoms bezeichnen – und es ist auch „nicht der einzige logische Wert dieses »Sub-
Die große Ausnahme von dieser weitverbreiteten Auffassung, zumindest mit Blick auf ihre Kontinuation für das Verständnis der Philosophie der symbolischen Formen, bildet Ernst Wolfgang Orth, der immer wieder auf die Grenzen einer solchen CassirerDeutung aufmerksam gemacht hat. Vgl. Ernst Wolfgang Orth: „Goethe als Therapeutikum. Diltheys Goethe-Auffassung und Ernst Cassirers Pathologie der symbolischen Formen“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 319–337, S. 329: „Im dritten Band der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ könnte der – wie ich meine: falsche – Eindruck entstehen, als sei es das Ziel des symbolischen Verhaltens, letztlich in der reinen, durch und durch funktionalen Form zu landen. . . . [Es] scheint das Ideal zu gelten: wo Ausdruck und Darstellung waren, soll reine Bedeutung, d. h. bloße, möglichst substratfreie Funktion werden. Also: vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff. Dem widerspricht aber Cassirers These aus seinem Aufsatz von 1930 ›Form und Technik‹, wonach alle »Kulturentwicklung« sich »zwischen« den »beiden Extremen« des »Ausdrucks« und der »reinen Bedeutung bewegt« und daß es eine Aufgabe der Kunst sei, »gewissermaßen das ideale Gleichgewicht« herzustellen.“ 151 SuF 229 (Kursivierung F. S.). 152 SuF 223. 153 SuF 227. 150
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jekts«, daß es nur nachträglich die gewonnenen Erfahrungen beschreibt und zusammenfaßt“: 154 „Die Vereinigung, die hier [im Atombegriff, F.S.] geschaffen ist, wirkt vielmehr zugleich unmittelbar produktiv; sie schafft ein allgemeines Schema auch für die künftigen Beobachtungen und weist diesen eine bestimmte Richtung an. Der Gang der Wissenschaft würde schleppend, ihre Darstellung würde umständlich und mühsam werden, wenn sie jedesmal, ehe sie an ein neues Tatsachengebiet herantritt, sich die Fülle des bereits gewonnenen empirischen Materials explizit wiederholen und in all seinen Einzelzügen vergegenwärtigen müßte. Indem der Atombegriff hier eine gedankliche Konzentration aller dieser Züge schafft, bewahrt er ihren wesentlichen Gehalt, während doch andererseits alle Kräfte des Denkens nunmehr für die Erfassung des neuen Erfahrungsinhalts frei werden.“ 155
Die „Produktivität“, von der Cassirer hier wieder spricht, meint auch in Substanzbegriff und Funktionsbegriff nichts anderes als „[d]ie lebendige und unmittelbare Arbeit der Forschung selbst“; diese Arbeit selbst aber muss, wie der Autor betont, „von Anfang an auf einem anderen Standpunkt [stehen] . . . als die rein erkenntnistheoretische Betrachtung“, der sie Cassirer als Philosoph unterwirft: 156 Der chemischen Forschung selber geht es eben in der Regel nicht wie der philosophischen Besinnung primär um letzte Beweise der Gültigkeit ihrer Aussagen und Prinzipien, sondern um die Erschließung neuer Bereiche der Erfahrungswirklichkeit, die sie (nach allgemein anerkannten Methoden) als wissenschaftliche Tatsachen begreifbar macht und so in dasjenige Stadium eines ‚theoretischen Inhalts‘ allererst überführt, in dem sie sich etwa auch früher festgestellten Wissensbeständen zuordnen lassen. Für diese empirische Praxis aber stellt sich nun der Schritt, das noch zu Bestimmende vom relativ Bekannten und Unzweifelhaften derart abzugrenzen, dass sie das letztere in der Art dinghafter Objektivität fixiert, als ein schlechthin unverzichtbares Mittel des Erkenntnisfortschritts dar: „Worauf [die empirische Forschung, F.S.] hinblickt und was ihr Interesse fesselt, sind die neuen Tatsachengebiete, die es zu erschließen gilt, während sie die bekannten Tatsachen als einen gegebenen Bestand nehmen darf, der als solcher keiner weiteren Analyse bedarf. Der Inbegriff des »Faktischen« in diesem Sinne steht als solcher fest; er bildet ein ruhendes 154 155 156
SuF 228. SuF 228. SuF 229.
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Substrat, das fortan den Grundstock für alle weiteren Beobachtungen abgibt. Das jeweilig Erreichte, das eben erst Gewonnene, muß der Forschung alsbald wiederum als ein Gesichertes und Vorhandenes gelten; denn nur dadurch schafft sie sich die Möglichkeit, das Gebiet des Problematischen an eine andere Stelle zu verlegen, es gleichsam immer weiter fortzurücken, so daß stets neue Fragen in den Kreis ihrer Betrachtung eintreten. Der passive Bestand, den die Wissenschaft an einzelnen Stellen fixiert, ist daher ein Moment in ihrer eigenen Aktivität. Somit ist es in der Tat berechtigt und unvermeidlich, wenn sie eine Fülle erfahrungsmäßiger Relationen in einen einzigen Ausdruck, in die Annahme eines einzelnen dinglichen »Trägers« zusammenfaßt.“ 157
Wie ist es zu verstehen, wenn Cassirer hier „die Annahme eines einzelnen dinglichen »Trägers«“ (Kursivierung F. S.), die doch eben noch auf ihre ‚eigentliche‘, funktionale Bedeutung eines bloßen Kreuzungspunkts der verschiedenen Reihen relationsbegrifflicher Bestimmung zurückgeführt schien, auf einmal als „berechtigt und unvermeidlich“ bezeichnet – und zwar nicht mehr nur im Hinblick auf historische oder ‚bloß psychologische‘ Sichtweisen, sondern als wesentliches „Moment“ in den „produktiven“ Forschungsaktivitäten der Gegenwart, das gerade „für die künftigen Beobachtungen“ 158 die notwendige Basis bilden soll? Es ist nicht etwa eine Inkonsequenz in seinem Verhältnis zum Dinglich-Substanzhaften, die uns hier begegnet, sondern bloß die auch gegenüber einer aus bestimmten methodischen Motiven in Teilen noch dem Substanzbegriff verpflichteten Wissenschaftslandschaft konsequent verfolgte Maxime, den in eigener, d.h. zunächst wissenschaftstheoretischer Sache propagierten funktionalistischen Blick auf das Ganze der wissenschaftlichen Geltungszusammenhänge als Ausdruck einer grundsätzlich anderen Perspektive zu begreifen als die hier durch sie in den Blick genommene. 159 Für die philosophische Reflexion, die Cassirers Erkenntniskritik über die chemische Begriffsbildung anstellt, handelt es sich eben zuletzt bloß um einen „Ausdruck“, den sie als solchen in Grenzen akzeptieren und sogar in seinem produktiven Eigenwert schätzen kann 160; das Paradoxe aber ist, dass der Produktivwert SuF 229 (Kursivierung F. S.). SuF 228. 159 Vgl. SuF 229. 160 Dass es gerade die distanzierte Deutung des Substanzbegriffs der Chemie als eines bloßen Zeichens ist, die Cassirer eine solche Wertschätzung erlaubt, legt eine analoge Überlegung aus der Philosophie der symbolischen Formen nahe. Vgl. PhsF 1, S. 44: „Die Zusammenfassung, die im Zeichen gegeben ist, gewährt daher neben dem bloßen Rückblick immer zugleich einen neuen Ausblick. Sie setzt einen relativen Abschluß, der 157 158
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dieses Ausdrucks hier nach seiner eigenen Aussage darin begründet ist, dass die Chemie selbst sich hier gerade durch die nicht bis ins Letzte reflektierte Setzung, die mit jenem Begriff verbunden ist, den Weg zur weiteren empirischen Erforschung des entsprechenden Sachthemas freimacht. Der Faktor, dass Cassirer Reflexion – und zwar gerade als funktionale! – nicht nur eine bestimmte These über den Charakter naturwissenschaftlicher Welterkenntnis, sondern zugleich immer das kritische Selbstverständnis einer besonderen Perspektive auf dieselbe umfasst, überwiegt hier offenbar seine geltungstheoretischen Bedenken gegen den Substanzbegriff – es fragt sich nur, ob und ggf. was daraus für den Status des ‚substantiellen‘ Naturaspekts in seiner Philosophie folgt. § 9 Wissensentwicklung in Arbeitsteilung. Cassirers Adaption eines Natorp’schen Theorems Nach einer ausführlicheren Erläuterung des Verhältnisses der philosophischen „Reflexion“ als „kritische[r] Selbstbestimmung des Denkens“ zur von ihr zum Untersuchungsgegenstand gemachten Perspektive einzelwissenschaftlicher „Produktion“ suchen wir in Substanzbegriff und Funktionsbegriff freilich vergeblich; es findet sich dort bloß noch die metaphorische Bestimmung, dass der philosophisch-reflektierende Blick „nicht nach vorwärts auf die Gewinnung neuer objektiver Erfahrungen, sondern nach rückwärts auf den Ursprung und die Gründe der Erkenntnis gerichtet“ sei. 161 Für sich allein ist diese Metapher offenbar nicht allzu aufschlussreich. In der Behauptung einer derartigen ‚Doppelsinnigkeit‘ der wissenschaftlichen Praxis, die weniger an den Disziplingrenzen als vielmehr am jeweils vorherrschenden Interesse des Denkens festgemacht wird, stimmt Cassirer jedoch in auffallender Weise mit einem Theorem Paul Natorps überein, der schon 1888 in seiner Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode eine ganz analoge „Doppelrichtung des Erkenntnissweges“ ausgemacht und als letzten Grund jeder Unterscheidung von ‚Subjektivem‘ und ‚Objektivem‘, ‚Psychischem‘ und ‚Physischem‘ ausgewiesen hatte. 162 Diese frühe Parallele erscheint mir vor allem jedoch unmittelbar die Aufforderung zum Weiterschreiten enthält und der die Bahn für diesen weiteren Fortschritt frei macht, indem er seine allgemeine Regel erkennen läßt. Insbesondere die Geschichte der Wissenschaft bietet für diesen Sachverhalt die mannigfachsten Belege dar – sie zeigt, was es für die Lösung eines bestimmten Problems oder Problemkomplexes bedeutet, wenn es gelingt, sie auf eine feste und klare »Formel« zu bringen.“ 161 SuF 229.
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deshalb wichtig, weil auch die Philosophie der symbolischen Formen später an die Weiterentwicklung dieses Gedankens in Natorps Postulat einer radikalen „Korrelativität der Prozesse der Objektivierung und der Subjektivierung“ 163 ausdrücklich anknüpfen wird, wobei sie die darin ausgedrückte methodische Forderung zugleich auf die von Cassirer behauptete „Mehrdimensionalität“ der geistigen Formwelten zu übertragen sucht. 164 Natorps Allgemeine Psychologie erläutert den fraglichen Richtungsunterschied wie folgt: „[D]er ganze Prozeß der Erkenntnis [kann] . . . je nach der Richtung, in der man sich den Weg beschrieben denkt, als unendlicher Prozeß der Objektivierung oder aber der Subjektivierung verstanden werden . . . Bildlich mag man es sich so verdeutlichen: der Drang der objektivierenden Erkenntnis geht einseitig auf Erweiterung der Grenzen des Bewußtseinsreiches, gleichsam auf neue Eroberungen, auf Einverleibung neuer Provinzen; gegenüber diesem nach »außen« gerichteten Drang aber . . . besteht andererseits eine Tendenz gleichsam nach innen auf volle Aneignung und Inbesitznahme des ganzen schon eroberten Reiches, auf volle Herrschaft eben des Bewußtseins im Innern desselben. . . . [M]an hat sich das Verhältnis etwa so zu denken, wie . . . bei einem sich ins Unendliche ausgehenden Kreise stets Innen- und Außenrichtung (zum Zentrum und zur Peripherie) unterscheiden läßt. Auch auf diese Weise bleibt der Gegensatz so streng und total wie der von Plus und Minus; aber es ist nur der Gegensatz der Plus- und Minusrichtung eines und desselben Prozesses der Erkenntnis . . . In dieser Korrelation aber bedeutet nun die Minusrichtung nicht mehr Minderung, Rückgang wohl gar bis zur Nullität des Bewußtseins; sondern es entspricht der peripherischen Erweiterung vielmehr die zentrale Vertiefung, die allerdings Zurückbeziehung auf den Ursprung ist, in der aber von dem in der objektivierenden Richtung des Erkennens Gewonnenen durchaus nichts wieder verloren geht, vielmehr auch, was verloren schien, was als »Subjektives« im schlechten Sinn aufseite gestellt wurde, wiederaufgenommen und in seine vollen Rechte wieder eingesetzt, alles neu Gewonnene aber zugleich bewahrt und mit jenem in Verbindung gesetzt, der Gesamtgehalt des Bewußtseins also nicht verkürzt, sondern vermehrt, bereichert, intensiv erhöht wird. Entscheidend aber ist, daß so das anfangs starr scheinende Gegenüber des Objektiven und Subjektiven sich völlig auflöst in den lebendigen Prozeß der Objektivierung einerVgl. Paul Natorp: Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen 1888, S. 104. 163 ders.: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Bd. 1. Tübingen 1912, S. 68. 164 Vgl. PhsF 3, S. 56–63: 60; auch ECN 1, S. 50–52. 162
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seits, der Subjektivierung andererseits, in welchem es weder ein Objektives noch ein Subjektives schlechtweg, sondern immer nur ein vergleichsweise Objektives und Subjektives gibt[.]“ 165
Nicht nur ich – auch Cassirer selbst wird diese Passage in der Philosophie der symbolischen Formen in aller Ausführlichkeit zitieren. Er wird sie als Ausdruck eines „wahrhaft universelle[n] Programm[s] einer Phänomenologie des Bewußtseins“ 166 loben, dessen methodisches Grundmittel einer „rekonstruktiven Analyse“ des „Subjektiven“ im Ausgang von den Fakta des „objektiven Geistes“ er denn auch für sein eigenes kulturphilosophisch-anthropologisches Hauptwerk fast unverändert übernimmt – mit der einzigen, allerdings wesentlichen Einschränkung, dass eben nach Cassirers Auffassung „die »Mehrdimensionalität« der geistigen Welt . . . es nicht zu[läßt], daß der Gang der »objektivierenden« und der »subjektivierenden« Betrachtung, . . . der konstruktiv-aufbauenden und der rekonstruktiven Erkenntnis, einfach im Bilde einer geraden Linie dargestellt und an ihrem zweifachen »Sinn«, an ihrer Plus-Minus-Richtung, abgelesen wird“ 167. Diese Kritik, die Cassirer später an der Natorpschen Urfassung des Gedankens von der „Korrelation“ zwischen „subjektivierender“ und „objektivierender“ Erkenntnis üben wird, ist jedoch ersichtlich nur möglich auf der Basis einer grundsätzlichen Übereinstimmung in der Auffassung der transzendentalphilosophischen Methode: Für beide Autoren kann die Philosophie in Fragen der Naturerkenntnis nun einmal nicht in derselben Weise „konstruktiv“ vorgehen wie die „objektivierenebd., S. 68–71. PhsF 3, S. 59 f. 167 Ebd. Cassirer führt dazu weiter aus: „Der Unterschied der geistigen Sinngebiete ist ein spezifischer, kein quantitativer Unterschied – und ebendiese spezifische Differenz wird verwischt, sobald man versucht, sie als Differenz des bloßen »Mehr« oder »Weniger« . . . der Objektivation zu bestimmen. . . . [In] Natorps Psychologie . . . [wird vom] wissenschaftlichen Denken und [von] der wissenschaftlichen Erkenntnis . . . geradezu die Definition der Subjekt- Objekt- Beziehung hergeleitet. Die Richtung auf das »Objektive« fällt für Natorp mit der auf das »Notwendige« und »Allgemeingültige« – und diese selbst fällt wiederum mit der Richtung auf das »Gesetzliche« zusammen. . . . Aber selbst wenn man zugeben wollte, daß dies ohne Einschränkung für die Ethik, für die Ästhetik und für die Religions philosophie gilt – gilt es darum auch für den geistigen Gehalt, auf den sie sich richten, gilt es für die Sittlichkeit, die Kunst, die Religion selbst? Bewegen auch sie sich im Umkreis von Gesetzen, oder folgt nicht die »Objektivierung«, die ihnen eigen ist, einer ganz anderen Richtschnur – ist es nicht die Objektivität der »Gestalt« statt der des Gesetzes, die hier gesucht wird? Kann die Welt der »Praxis« und der »Poiesis« . . . dem Oberbegriff des Gesetzes, als Oberbegriff der »Theorie«, einfach unterstellt und subsumiert werden?“ (PhsF 3, S. 61 f., Kursivierung F. S.). 165 166
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de“ Erkenntnis in den Einzelwissenschaften; für beide muss sie sich – und zwar gerade sofern sie selbst ‚als Wissenschaft auftreten‘ können soll – dieser Beschränkung stets bewusst bleiben, und für beide kann sie daher Leitfaden und Sachbasis für alle Reflexion auf deren Recht und Möglichkeit nur aus der theoretisch-nachvollziehenden Rekonstruktion der in jenen Wissenschaften immer schon geschehenen Vorleistungen gewinnen. Zu Cassirers daraus begründeter Selbstkontextualisierung der eigenen ‚Erkenntniskritik‘, die er – entschiedener als Natorp – nicht als höhere, ‚tiefere‘ oder sonst wie privilegierte, sondern einfach als eine andere Perspektive neben die jeweiligen Perspektiven einzelwissenschaftlicher Wissensproduktion stellt, 168 gehört daher auch der Blick für die verschiedenen Zweckordnungen, die sich mit beiden Betrachtungsweisen jeweils verbinden: Die Richtung der (z. B. chemischen) Wissens-Produktion bemüht sich um die Gewinnung neuer Einsichten in die empirische Wirklichkeit (der Natur); die Richtung der kritischen Reflexion bemüht sich um die Sicherung der Wahrheit des so gewonnenen Wissens. 169 Die institutionalisierte Produktion des Wissens schreitet fort, indem sie die Theoriebildung mit immer neuen Aspekten einer letztlich anschaulichen Phänomenwelt abgleicht (worunter hier auch die nicht unmittelbar anschaulichen, sondern durch technische Vermittlung erst erfahrbar gemachten Ausgänge komplexer Experimente zu zählen wären); die Reflexion, indem sie den inneren begrifflichen Aufbau des Erfahrungswissens immer von neuem auf die Bedingungen systematischer Konsequenz, Kohärenz und Konsistenz hin überprüft (und dabei gezwungen ist, sich von allen eigenen Verflechtungen mit der Erfahrungswelt so weit wie möglich zu emanzipieren). Aus Cassirers Applikation dieses rein methodologischen „Dualismus“ 170 auf den Fall der chemischen Begriffsbildung ergibt sich nun aber das auf den ersten Blick paradoxe Ergebnis, dass die Frage, ob ein bestimmter Begriff wie z. B. der des Atoms gemäß der funktionalistischen These als bloßer „Ausdruck“ seiner „wechselseitigen Verhältnisse“ mit SuF 229: „Die lebendige und unmittelbare Arbeit der Forschung selbst steht hier freilich von Anfang an auf einem anderen Standpunkt und erfaßt das Problem gleichsam von einer anderen Seite als die rein erkenntnistheoretische Betrachtung.“ – Dass Cassirer dieselbe Haltung auch später unverändert beibehält, spricht sich etwa auch noch in seiner Antrittsrede zum Hamburger Rektorat (1929) aus: Vgl. »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, in: ECW 17, S. 342–359: 357. 169 Zu dieser Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit vgl. Cassirers Bemerkung über ‚empiristischen‘ und ‚idealistischen‘ Dogmatismus in SuF 133–141: 137. 170 Vgl. ECN 1, S. 59 f. 168
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anderen Begriffen oder aber, wie in der Chemie, eher im Sinne eines „feste[n] substantielle[n] Kern[s]“ 171 der Materie gedacht wird – dass diese Frage nicht nur aus Sicht der konkreten Einzelforschung als eine abstrakt-theoretische weitgehend in den Hintergrund tritt, sondern dass ihre Vernachlässigung auch solange mit Recht geschieht, wie der fragliche Begriff in der wissenschaftlichen Praxis selbst nur nach Art einer regulativen Idee fungiert: „So ist das Atom der Chemie eine »Idee« in dem strengen Sinne, den Kant diesem Terminus gegeben hat – sofern es in der Tat »einen vortrefflichen und unentbehrlichnothwendigen regulativen Gebrauch« besitzt, »nemlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punct zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punct ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen«.“ 172
Die besondere Pointe, die Cassirer diesem kantischen Gedanken zwischen den Zeilen gibt, ist also, dass die (eigene) Kritik an den Einzelheiten der gedanklichen Auffassung des „Substantiellen“ erst in der (philosophischen) Reflexion auf seine Bedeutung nötig wird, damit nicht ein jeweils festgestellter Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis – gleichsam aus der Außenperspektive – zu einem konstitutiven Bestandteil einer metaphysischen, in dieser Rücksicht als absolut-unveränderlich vorgestellten Wirklichkeit umgedeutet wird. Dagegen scheint für die produktive Arbeit der empirischen Forschung selbst – jedenfalls dort, wo sie, wie eben im Beispiel der Chemie, ohnehin ständig mit der Dynamik ihrer Gegenstände zu tun und zu rechnen hat – diese explizite Unterscheidung bestenfalls gar nicht mehr erforderlich zu sein, weil sie implizit bereits in die methodische Denkform der Hypothese eingegangen ist: Indem aus der metaphysischen Hypostase eines dinglichen Substrats, dessen Eigenschaften als absolut gegebene Strukturen vorgestellt werden, eine als solche nicht notwendig permanent bewusste, aber im Zweifelsfall immer wieder (reflexiv) erinnerund korrigierbare Setzung des Wissenschaftlers wird, ist auch unabhängig vom jeweils gewählten Wortausdruck der praktische Sinn ihres ‚regulativen‘ Charakters immer schon erfüllt. 173 Aus einem Begriff, der wie ein SuF 230. Vgl. ebd. – Das Kant-Zitat stammt aus der KrV-B 428; den Grundsatz der Substantialität als synthetischen Satz a priori entwickelt Kant in KrV-B 162–166. 171 172
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Natur und Substanz
Ding an „irgendwelchen materialen Eigenschaften“ festgemacht werden sollte, ist in der Hypothese eines Dings die wissenschaftliche ‚Substanz‘ zu einem „Formbegriff “ geworden, „der sich je nach dem Stande unserer Erfahrung mit mannigfachem konkreten Inhalt zu erfüllen vermag.“ 174 Man kann sich an diesem Beispiel in instruktiver Weise die Implikationen vergegenwärtigen, die Cassirers terminologische Unterscheidung zwischen „Produktion“ und „Reflexion“ des Wissens für den Geltungsanspruch seiner in Substanzbegriff und Funktionsbegriff gegebenen Theorie des Wissens hat – insbesondere mit Blick auf die darin ausgedrückte Anerkennung von Formen wissenschaftlicher „Produktivität“, die vielleicht überhaupt nur so ihre eigentümliche kulturelle Leistung erbringen können, dass sie – wie eben die Chemie in ihrem empirischen Gebrauch von Substanzbegriffen – in ihrer alltäglichen Forschungsarbeit von den begrifflichen Geltungsfragen und Begründungspflichten transzendentaler Wissenschaftsphilosophie weitgehend entlastet bleiben. Cassirers anfänglich aus der Betrachtung der mathematischen Produktion erwachsene Theorie der Funktionsbegriffe folgt hier neben der (eher unbescheiden) projektierten Ausdehnung ihres Geltungsbereichs weit über das Gebiet rein mathematischer Erkenntnisse hinaus auch einer Maxime der radikalen Selbstbescheidung, indem sie sich nicht nur etwaige inhaltliche Vorwegnahmen nur empirisch zu ermittelnder Resultate, sondern auch jede kategoriale Einmischung in die autonome Forschungsarbeit versagt, aus der jene Ergebnisse faktisch hervorgehen. So kommen die auf den ersten Blick divergierenden Ansprüche des Wissenschaftshistorikers, der die empirische Forschung in ihrer faktischen Eigenentwicklung und damit in ihrer Prioritätensetzung nachzeichnen, und des Wissenschaftssystematikers, der vom geltungstheoretischen Primat der Funktionsbegriffe mit ebenso guten Gründen nicht abgehen will, schließlich überein in einer radikal pluralistischen Konzeption der Wissenskultur, in der EntwederOder-Fragen nach der ‚eigentlich‘, ‚an sich‘ legitimen Begriffsform auch dort noch ins Leere gehen, wo die philosophische Reflexion sie für ihre Zwecke durchaus eindeutig zu beantworten weiß. Genau in diesem Sinne hatte Cassirer übrigens auch schon in Leibniz’ System seinen sachlichen Hauptvorwurf gegenüber Descartes’ statisch-substantieller Theorie der Erfahrung schon in den Vorwurf einer unzureichenden Klarheit über den von Galilei entwickelten Begriff der wissenschaftlichen Hypothese übersetzen können: vgl. LS 66– 68. 174 SuF 230. – Auf dieses Verhältnis scheint wiederum genau die Formulierung zuzutreffen, mit der Cassirer im Berliner Vortrag über „Substanzbegriff und Funktionsbegriff “ den Leibnizschen Substanzbegriff dahingehend charakterisiert hatte, dass dieser „in der Art, wie er hier verwendet wird, durch den Funktionsbegriff bereits hindurchgegangen und damit auf eine neue logische Stufe erhoben worden“ sei (ECN 8, S. 11 f.). 173
Zwei Richtungen des Wissens, zwei Rollen der Substanz
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Wenn Cassirer deshalb im Interesse eines Erkenntnisfortschritts, der den Prinzipien der Wirklichkeitstreue und des inneren Geltungszusammenhangs gleichermaßen Rechnung trägt, ausdrücklich eine Kooperation von „produktiven“ und „reflektierenden“ Wissensperspektiven im Sinne des regelmäßigen beiderseitigen Austauschs einfordern kann, dann schwingt darin immer auch der Aspekt mit, dass erst ein solcher interdisziplinärer Pluralismus es der Philosophie erlaubt, die Perspektive der (eigenen) Reflexion durch das Sicheinlassen auf womöglich von vornherein ganz anders strukturierte Wege wissenschaftlicher Produktivität zu ergänzen – und darin gleichsam zu kompensieren, was der ‚bloß philosophische‹ Standpunkt an unmittelbarem, nach ‚vorwärts‘ orientiertem Erfahrungsbezug notwendig vermissen lässt. 175 In einer arbeitsteilig ausdifferenzierten Wissenschaftskultur läuft das auf die sokratische Disposition zum im besten Sinne ‚interdisziplinären‘, nämlich echt „dialogischen Denken“ hinaus, die Cassirer zwar erst in späteren Jahren explizit als generelles Erfordernis einer ausgewogenen Urteilsfindung artikuliert, 176 in seinem philosophischen Leben aber von Anfang an praktiziert und kultiviert hat. Wo diese Haltung andererseits, wie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff , ins Medium einer monographischen Darstellung hinübergerettet werden soll, da sieht sich Cassirer aufgefordert, seinen Leser daran zu erinnern, dass sich „Produktion“ und „Reflexion“, eben aufgrund ihrer Orientierung an zum Teil gegensätzlichen Prinzipien, „niemals unmittelbar vereinen“ lassen 177 – sodass hier nur die Möglichkeit eines mittelbaren Ausgleichs durch den bewussten und wiederholten Perspektivenwechsel im argumentativ sich entwickelnden Erkenntnisvollzug übrig bleibt:
Vgl. zu den Implikationen dieser Haltung im Ganzen Martina Plümacher: „Ernst Cassirer als interdisziplinärer Denker“. In: Büttner u. a. (Hg.): Potentiale der symbolischen Formen. S. 41–52. 176 Vgl. EM 9: „For it is only in our immediate intercourse with human beings that we have insight into the character of man. We must actually confront man, we must meet him squarely face to face, in order to understand him. . . . Philosophy, which had hitherto been conceived as an intellectual monologue, is transformed into a dialogue [by Socrates, F.S.]. Only by way of dialogical or dialectic thought can we approach the knowledge of human nature. . . . Truth is by nature the offspring of dialectic thought.“ – Zum „sokratischen“ Zug in Cassirers Denken mit Blick auf die nachgelassene „Metaphysik des Symbolischen“ vgl. Sebastian Ullrich: Symbolischer Idealismus. Selbstverständnis und Geltungsanspruch von Ernst Cassirers Metaphysik des Symbolischen. Hamburg 2010; ders.: „Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 297–319. 177 SuF 229. 175
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Natur und Substanz
„Die Bedingungen der wissenschaftlichen Produktion sind andere, als es die der kritischen Reflexion sind. Wir können die Funktionen zum Aufbau der Erfahrungswirklichkeit nicht zugleich betätigen und sie zur selben Zeit als solche betrachten und beschreiben. Dennoch aber sind beide Gesichtspunkte, ist somit der bewußte Wechsel des Standpunktes der Betrachtung erforderlich, um die Erkenntnis als Ganzes in den Motiven ihres Fortschrittes wie in den dauernden logischen Bedingungen ihres Bestandes zu beurteilen. Auf der Spannung und dem Gegensatz, der hier zurückbleibt, beruht doch zugleich die eigentümliche Bestimmtheit, die der Erkenntnis zukommt.“ 178
178
SuF 229 (Kursivierung F. S.).
Kapitel 2 Auf dem Weg zu einer Erkenntnis des Lebendigen § 10 Wohin mit der Biologie? Der Ort des Lebens zwischen Natur- und Kulturwissenschaft
„Sollte, paradox genug, eine augenscheinlich naturphilosophische Angelegenheit vielleicht durch Orientierung an der Geisteswissenschaft, ja an kulturellen Ausdrucksformen des Geistes selbst entschieden werden müssen?“ – Plessner 1
Im vorangehenden Kapitel habe ich mich vergleichsweise intensiv mit Cassirers früher Theorie des mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens auseinandergesetzt. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass in dem von dieser Theorie gezeichneten Bild der konkreten Naturwissenschaft neben dem Funktions- auch der Substanzbegriff in bestimmter (nämlich ‚genetisch-produktiver‘) Hinsicht eine überraschend positive Rolle spielt – nicht im Widerspruch, sondern eher im aufschlussreichen Kontrast zu Cassirers bekannterer und davon ganz unberührter These, nach der der Grund der Geltung wissenschaftlicher Aussagen – einschließlich der wissenschaftsphilosophischen Reflexionen von Cassirer selbst – gerade nicht in diesem Zusammenhang, sondern eben im funktionalen Charakter aller begrifflichen Erkenntnis zu suchen und zu verankern ist. Wir haben darüber hinaus gesehen, dass die zum Verständnis dieses komplexen Verhältnisses nötige Verdoppelung der Perspektive nicht erst ‚von außen‘ durch unsere Interpretation an Cassirers Theorie herangetragen werden musste; unter den Titeln „Produktion“ und „Reflexion“ des Wissens machte vielmehr auch Cassirer selbst dort Gebrauch von ihr, wo es sich darum handelte, auch die chemische Forschung – bis heute sozusagen die letzte Bastion des Substanzbegriffs innerhalb der empirischen Naturwissenschaft – noch in ihrer Eigenart und ihrem Geltungsgrund verständlich zu machen. 2 Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. Bonn 1923, S. 117. 2 Siehe oben § 8. 1
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Wenn man Cassirers frühe Wissenschaftstheorie einmal bis zu diesem Punkt rekonstruiert hat, dann liegt es mit Blick auf die Frage, die uns im Hinblick auf die Anthropologie natürlich noch brennender interessieren muss, nämlich diejenige nach dem Verbleib der lebendigen Natur, zunächst nahe zu erwarten, dass Cassirer seinen in der Auseinandersetzung mit der Chemie erarbeiteten Perspektivismus des Wissens nun auch über die chemische Begriffsbildung hinaus inhaltlich fruchtbar machen würde, indem er etwa – unbeschadet der Festlegung der eigenen Reflexion auf das Medium einer ‚funktionsbegrifflichen‘ Analyse, mithin auch ohne die enge Bindung derselben an das Vorbild des mathematischen Denkens lockern zu müssen – die Produktivität der Naturwissenschaft weiter bis in die Praxis der Wissenschaften von den Lebensphänomenen hinein verfolgte. Mit diesem Perspektivendualismus verfügte er ja, wie es scheint, bereits über einen geeigneten begrifflichen Rahmen, der ihm gerade auch eine reflexive Bewältigung der wissenschaftlichen Erforschung des Lebens ermöglicht hätte: Wenn er schon der chemischen Forschung mit Rücksicht auf den produktiven Erkenntnisfortschritt der Disziplin zugestehen konnte, in methodisch gesicherten Grenzen von der Vorstellung eines (auch) ‚substantiellen‘ Zugangs zu den Naturphänomenen Gebrauch zu machen, so scheint prima facie nichts dagegen zu sprechen, ein analoges Zugeständnis auch der Biologie zu machen, die schließlich mit Blick auf ihre Untersuchungsgegenstände, die Organismen, noch weit stärker als die Chemie von der Legitimität eines solchen Zugangs abzuhängen scheint. Wir dürfen also mit Blick auf die formal-systematischen Möglichkeiten von Cassirers erstem großen Theoriebeitrag konstatieren: Cassirer hätte seine in Substanzbegriff und Funktionsbegriff entwickelte Theorie der Naturwissenschaften ohne großen Aufwand um eine Diskussion der Biologie ergänzen können, aber: er tut es nicht. Stattdessen fällt nicht nur die Biologie, sondern es fallen überhaupt alle Disziplinen der Naturwissenschaft, die (zu seiner Zeit jedenfalls noch) nicht in Richtung auf eine Mathematisierung ihres Faktenwissens unterwegs sind, aus der detailliert-nachvollziehenden Darstellung von Substanzbegriff und Funktionsbegriff so vollständig heraus, als gäbe es sie gar nicht. 3 Und damit Es finden sich zwar im zweiten Teil des Buches noch eine Reihe von Ausführungen generelleren Charakters, nach denen Cassirer der Meinung zu sein scheint, dass sich die am Beispiel der Chemie gewonnenen Einsichten über das geänderte „Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen“ (SuF 240) auch auf andere Disziplinen, „die auf die Gewinnung des rein »Tatsächlichen« gerichtet sind“ (SuF 253) extrapolieren lassen; aber eine konkrete Auseinandersetzung mit der Praxis dieser Wissenschaften unternimmt Cassirer an dieser Stelle nicht mehr. 3
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nicht genug: Dieser offenkundige Mangel der im Frühwerk gegebenen Theorie der Natur und der Wissenschaft von ihr wird auch in Cassirers späterem Hauptwerk, der Philosophie der symbolischen Formen, nicht behoben, obwohl deren dritter Band den Anspruch erneuert, eine umfassende „Phänomenologie der Erkenntnis“ zu entwickeln, die wiederum in einer Theorie der exakten Naturerkenntnis kulminieren soll. Unter den systematisch orientierten Schriften Cassirers ist es dann tatsächlich erst der Essay on Man, der 1944 endlich auch die bis dahin vernachlässigte biologische Perspektive auf Natur und Mensch thematisiert – und dabei, wie wir gesehen haben, zugleich für neue Irritationen sorgt, indem Cassirer dort auch selber ganz zufrieden damit scheint, die Natur in der Rolle eines bloßen „Kontrastmittel[s]“ zur Etablierung seiner scheinbar gegen sie gerichteten kulturphilosophischen Bestimmung des Menschen auftreten zu lassen, die Plessner später zu Recht als eine der anthropologischen Problemlage ganz unangemessene Rolle kritisiert hat. 4 Wie kommt es aber überhaupt zu dieser jahrzehntelangen Vernachlässigung der Biologie? – und: Unternimmt Cassirer womöglich anstelle der Auseinandersetzung mit ihr etwas anderes, das ihn mit Blick auf das Problem einer Erkenntnis des Lebendigen weiterführt? Die erste Frage scheint mir vergleichsweise leicht zu beantworten, wenn wir uns klar machen, dass nach den Prämissen eines geltungstheoretischen Funktionalismus vom konstruktivistischen Typ, wie Cassirer ihn vertritt, die real verfügbare Möglichkeit zur mathematischen Durchdringung der Natur zu jedem Zeitpunkt der Wissenschaftsgeschichte auch inhaltlich den Bereich begrenzt, in dem sich von den Gründen ihrer begrifflichen Bewältigung in transparenter Weise Rechenschaft geben lässt – und zwar ganz unabhängig davon, ob ihre empirische Erforschung sich ihrerseits ebenfalls am funktionalen Paradigma orientiert oder nicht. „Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ 5 – diesem Satz aus Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft folgt der Autor von Substanzbegriff und Funktionsbegriff tatsächlich noch so weitgehend, dass er auch die Chemie im Rahmen seiner Erkenntniskritik in Wahrheit nur deshalb berücksichtigen kann, weil sich an dieser Disziplin, obwohl sie zum Behuf ihrer speziellen Richtung der ‚Produktivität‘ in besonderer Weise am ‚substantiellen‘ Charakter der untersuchten Natur orientiert bleibt, dennoch der Zusammenhang zwischen substanz- und funktionsbegrifflicher Naturinterpretation noch in 4 5
Vgl. dazu S. 34 oben. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, S. 470.
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allen Einzelheiten nachvollziehen lässt – und weil sich so alles, was in der produktiven Genese des Wissens zunächst etwa noch mithilfe von Substanzbegriffen artikuliert werden mag, reflexiv wieder in funktionale Termini ‚übersetzen‘ und dann mit Blick auf die Geltungsfrage evaluieren lässt. In dieser Eigenschaft stellt die Chemie aber zugleich den Grenzfall dar, hinter den Cassirers Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis aufgrund ihrer methodischen Voraussetzungen nicht ohne weiteres vordringen kann: Die Verfolgung der (natürlich auch damals schon über das Chemische weit hinausgreifenden) naturwissenschaftlichen ‚Produktivität‘ allein führt Cassirer also tatsächlich nicht näher an die Frage einer möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis des Lebens heran, weil jede weitere Lockerung ihres Zusammenhangs mit der mathematisch fundierten ‚Reflexion‘ seinem strengen Begriff philosophisch relevanter Wissenschaftlichkeit zuwider laufen müsste. Das führt uns zur Frage, woran sich Cassirer in der Frage einer Erkenntnis des Lebendigen gemäß seinen methodischen Prämissen stattdessen halten kann und hält. Der methodische Dualismus ‚produktiver‘ und ‚reflexiver‘ Wissensperspektiven legt darauf eine Antwort nahe, die mir in der Tat den Nagel auf den Kopf zu treffen scheint, wenn sie nur unter Einbeziehung der entsprechenden Kontexte expliziert wird: Cassirer hält sich zur Bestimmung des Lebens fortan vor allem an die Reflexion. Um diese These zu erweisen, müssen wir nun den Rahmen der frühen Wissenschaftstheorie hinter uns lassen, was allerdings nicht bedeutet, dass wir uns auch von den epistemologischen Prinzipien verabschieden müssten, die sich uns in diesem Rahmen zuerst ergeben haben. Was insbesondere den Produktions-Reflexions-Dualismus aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff betrifft, so finden sich noch in Texten erheblich späteren Datums Passagen, die belegen, dass dieser Perspektivendualismus seinem methodologischen Kerngehalt nach – in dem Cassirer, wie wir gesehen haben, im Grundsatz mit Paul Natorp übereinstimmt 6 – weit über die scheinbar ephemere Relevanz für das Frühwerk hinaus auch für die Philosophie der symbolischen Formen und alle darauf aufbauenden späteren Schriften grundlegende Bedeutung entfaltet. Ich möchte hier zuerst auf eine Textstelle aus der zweiunddreißig Jahre (!) nach Substanzbegriff und Funktionsbegriff entstandenen Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) hinweisen. Die Stelle bildet das Ende der dritten Studie, die dem Verhältnis von „Naturbegriffe[n] und Kulturbegriffe[n]“ gewidmet ist und zu weiten Teilen in einer Kritik Cassirers am Naturalismus der Kultur besteht, mit der wir uns später 6
Vgl. den vorigen § 9.
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noch befassen werden. 7 Hier möchte ich die Aufmerksamkeit zunächst nur darauf lenken, wie Cassirer, im Anschluss an diese Kritik und im Sinne einer generalisierenden Schlussfolgerung aus ihr, unter Benutzung ganz derselben Terminologie und derselben Richtungsmetaphorik wie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff seiner Leserschaft ans Herz legt, die zuvor aufgedeckten Widersprüche naturalistischer Kulturtheorien als Symptom eines „ganz allgemeine[n] Problem[s]“ zu verstehen, „das sich in jedem Gebrauch kulturwissenschaftlicher Begriffe früher oder später geltend macht“ 8: Der Naturalismus ignoriere nämlich, so Cassirer, eine allgemeine „Schranke des Erkennens“ 9, die den in naturalistischen Erklärungen für bruchlos möglich ausgegebenen Übergang vom „Objekt der Natur“ zum „Kulturobjekt“ in Wahrheit zu einer höchst diffizilen Angelegenheit mache: „[Die] Bestimmung [eines Naturobjekts] vollzieht sich in einer gewissen gleichbleibenden Richtung: Wir gehen gewissermaßen auf den Gegenstand zu, um ihn immer genauer kennenzulernen. Das Kulturobjekt aber bedarf einer anderen Betrachtung; denn es liegt uns sozusagen im Rücken. . . . Zwar scheint es uns auf den ersten Blick mehr vertraut und besser zugänglich zu sein als jeder andere Gegenstand. Denn was könnte der Mensch eher und vollkommener begreifen . . . als das, was er selbst geschaffen hat? Und doch tritt eben hier eine Schranke des Erkennens auf, die schwer zu überwinden ist. Denn der reflexive Prozeß des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozeß entgegengesetzt; beide können nicht zugleich miteinander vollzogen werden. Die Kultur schafft in einem ununterbrochenen Strom ständig neue sprachliche, künstlerische, religiöse Symbole. Die Wissenschaft und die Philosophie aber muß diese Symbolsprache in ihre Elemente zerlegen, um sie sich verständlich zu machen. . . . Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung[en] lesen zu können«; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.“ 10
Vgl. dazu § 27. LKW 444. 9 Ebd.; vgl. diese Formulierung mit der oben auf S. 83 zitierten Passage aus dem Erkenntnisproblem. 10 LKW 444 f. (Kursivierung F. S.). – Vgl. die hier wieder begegnende Formulierung, dass Reflexion und Produktion „nicht zugleich miteinander vollzogen werden“ können, mit SuF 229 (zitiert auf S. 96 weiter oben). 7 8
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Analog zum Verfahren, mit dem wir vorhin unter Hinzuziehung des Erkenntnisproblems versucht haben, historische und systematische Aspekte im Umfeld der Substanz-Funktions-Dichotomie wechselseitig durcheinander zu beleuchten, können wir nun auch diese Stelle aus der Logik der Kulturwissenschaften in zweifacher Weise auf das frühe Werk zurückbeziehen. Erstens bietet sie sich an, um von ihr aus rückblickend unser Verständnis der Differenzierung von Produktions- und Reflexionsperspektive in Substanzbegriff und Funktionsbegriff zu vertiefen: Auch dort hatte Cassirer ja die naturwissenschaftliche Theorieentwicklung offenbar schon in einer Weise als Kulturform in Betracht gezogen, die es möglich und erforderlich machte, sie einerseits als einen „produktiven Prozeß“, der „ständig neue . . . Symbole [schafft]“, in seinen eigenen Entwicklungen und Motiven nachzuvollziehen, andererseits aber auch immer wieder im „reflexiven Prozeß“ des transzendentalphilosophischen Besinnungsvollzugs auf seine (mathematischen) Geltungsgründe hin zu „enträtseln“. Dass Cassirer zwar den Terminus der Kultur dort noch nicht zu ihrer Einordnung beansprucht hatte, macht in diesem Kontext nichts: Worauf es ankommt, ist, dass ihre theoretische Behandlung als besonderer Form von geistiger ‚Produktivität‘ seinen Begriff der Wissenschaft von Anfang an in einer Weise konstituiert, die ihn mit allen späteren Entwicklungen des Cassirer’schen Denkens kompatibel macht: mit der sukzessiven Ausweitung des in ihm reflektierten Erkenntnisgebiets auf neue Disziplinen, mit der komplementären Ergänzung durch außerwissenschaftliche Formen unseres „Weltverstehens“ und – wie wir noch sehen werden – am Ende auch mit der großen symboltheoretischen Transformation der zur Bewältigung all dessen verwendeten Reflexionsbegriffe. Wenn sich in dieser Weise die Erörterungen in Substanzbegriff und Funktionsbegriff in der Tat schon wie Elemente einer Kulturphilosophie avant la lettre lesen lassen, 11 so ist für unsere Fragestellung zweitens die Aussicht noch bedeutsamer, die in der Logik der Kulturwissenschaften eben nur scheinbar ad hoc eingeführte, in Wahrheit jedoch aus der früheren Untersuchung reaktivierte Unterscheidung von ‚produktiven‘ und ‚reflexiven‘ Erkenntnisperspektiven umgekehrt zum Zwecke eines besseren Verständnisses der Unterscheidung zwischen ‚Natürlichem‘ und ‚Kulturellem‘ zu instrumentalisieren, die schließlich bei Cassirer alles andere als unproblematisch ist. Schon die Art, wie er in einer Studie zu „Naturbegriffen und Kulturbegriffen“ im letzten Satz „das Leben“ nicht nur als produktiven Urgrund „ständig neue[r] . . . Symbole“ in den Blick nimmt, Diesen Standpunkt vertritt auch Recki: „Wissenschaften als symbolische Form“; ebenso Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Kapitel 4.5 (S. 97 ff.). 11
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sondern deshalb auch gleich ganz generell (und ohne es hier noch durch weitere Attribute etwa als ‚geistiges‘ zu qualifizieren) als eine Aufgabe der kulturwissenschaftlichen Reflexion anspricht, ist bemerkenswert genug: Scheint er doch mit einer solchen Beschreibung zu implizieren, dass das, was das ‚Leben‘ im Ganzen ausmacht, durch die Wissenschaften von der Natur aus prinzipiellen Gründen niemals erschöpfend zu behandeln ist, und dass deshalb gerade dann, wenn man mit dem Naturalismus an der Forderung einer Kontinuität zwischen ‚natürlichen‘ und ‚kulturellen‘ Phänomenen festhalten will, der theoretischen Reflexion der ‚Sprung‘ von einer Orientierung an den Natur- zu einer Orientierung an den Kulturwissenschaften zugemutet werden müsse. 12 Nun hieße es freilich den Bogen überspannen, allein aus diesen Formulierungen am Ende der dritten Studie zur Logik der Kulturwissenschaften Indizien dafür konstruieren zu wollen, dass Cassirer auch in der Frage des Naturlebens bewusst auf die ‚Reflexion‘ gesetzt habe: ist hier doch auch ohne ausdrückliche Nennung des Worts schon aus dem Kontext klar, dass er es an dieser Stelle vor allem auf das geistige Leben in der Kultur abgesehen hat; dass er mit den konkreten Problemen dieses Lebens vor Augen die methodische Autonomie der philosophischen und einzelwissenschaftlichen ‚Reflexion‘ einfordert, die also hier primär Kulturreflexion ist. Doch es gibt noch eine weitere einschlägige Textpassage, die nahelegt, dass sich Cassirer von einem zumindest analogen Verfahren durchaus auch für den Zugang zum natürlichen Leben etwas verspricht: Es ist dies der nachgelassene, um 1929–30 verfasste und von Cassirer zeitweise als „Schlusskapitel“ zur Philosophie der symbolischen Formen vorgesehene Text „Zur Metaphysik der symbolischen Formen“ 13, in dem Cassirer – neben viel Erhellendem zu seiner grundsätzlichen Konzeption des Verhältnisses von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ – zum ersten Mal einen konkreten systematischen Vorschlag für einen „Weg“ unterbreitet, neben den Auf diese Eigenart der Cassirer’schen Konzeption der Kulturwissenschaften und der Kulturphilosophie hat besonders Christian Möckel hingewiesen: Vgl. Christian Möckel: „Die Kulturwissenschaften und ihr Lebensgrund“. In: Reto Luzius Fetz / Sebastian Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers „Nachgelassenen Manuskripten und Texten“. Hamburg. 2008. S. 179–195 sowie mit stärkerem Fokus auf die Denkentwicklungen, die Cassirers späte Auseinandersetzung mit der Biologie vorbereiten ders.: „ ‚Lebendige Formen‘. Zu Ernst Cassirers Konzept der ‚Formwissenschaft‘ “. In: Logos & Episteme 2 (2011), H. 3. S. 375–379; ders.: „Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie. Ernst Cassirer über methodologische Analogien“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 155–179. 13 ECN 1, S. 3–109, bes. 32 ff. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich mich mit diesem Text noch wiederholt auseinandersetzen. 12
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Formen der Kultur auch „die Mannigfaltigkeit der organischen Lebensformen . . . in den Blickpunkt des Geistes zu rücken“. Möglich wird eine solche Einbeziehung dabei für Cassirer wiederum kraft einer geistigen „Richtungsänderung“ von den „produktiven“ und „gestaltenden“ zu den „abstraktiven“ und „reflexiven Kräfte[n] des Geistes“, mit der Cassirer auch in diesem Kontext ausdrücklich wieder an den Natorpschen Gedanken einer „systematischen “Rekonstruktion”“ im Wechsel von „Plus- und Minusrichtung“ des Erkennens anknüpft: 14 „[W]enn überhaupt, so kann nur durch eine solche Richtungsänderung die Welt des »Unmittelbaren« uns sichtbar werden. Was uns direkt durch keine metaphysische Intuition und durch keine empirische Beobachtung gegeben werden kann, das wird indirekt bestimmbar in jenem Gange der systematischen “Rekonstruktion”, der überhaupt die Methode darstellt, kraft deren sich uns die Eigenart des »Subjektiven« erschliesst. . . . Wenn in [der] unmittelbaren Lebendigkeit [des Geistes] alle seine Energien auf den Aufbau der einzelnen Formwelten gerichtet waren – so kann jetzt eine Art “Abbau” derselben versucht werden . . . freilich niemals im ontologischen, sondern . . . nur in rein methodischem Sinne . . . Und in diesem Rückblick erweitert sich [der Intelligenz] nun auch ihr eigener Kreis; – in ihm vermag sie – wenngleich stets nur in bedingtem und begrenztem Sinne – das Ganze nicht nur der Formen des Geistes, sondern auch der Formen des Lebens [gemeint ist: auch anderer Spezies, F. S.] einzubeziehen. . . . [Es ist] ein methodisch-möglicher und methodisch-berechtigter Versuch, das allgemeine Strukturprinzip, unter dem auch jene anderen Erlebniswelten stehen, als solches zu erfassen und es gegen die Prinzipien zu halten, die für unsere sinnlich-geistige Welt bestimmend sind. Dieser Gegenund Widerhalt wird jetzt zu einem neuen Mittel der Unterscheidung, der kritischen Grenzsetzung zwischen »Natur« und »Geist«, zwischen »Leben« und »Bewusstsein« – welche Grenzsetzung sich nichtsdestoweniger rein innerhalb des geistigen Seins selber hält und nur mit dessen immanenten Mitteln sich vollzieht.“ 15
Hier wird nun unzweifelhaft klar, dass Cassirer – „wenn überhaupt“ – nur der Reflexion auf das (in seiner Philosophie der symbolischen Formen ausgeführte) Ganze der kulturellen „Formen des Geistes“ zutraut, das Faktum der Existenz anderer Lebensformen – und damit auch unsere eigene Stellung innerhalb der Welt des ‚Naturlebens‘ – philosophisch zu untersuchen. Versucht man jedoch aus dem Stand zu explizieren, was Cas14 15
ECN 1, S. 50–51. Siehe § 9 oben. ECN 1, S. 51–53.
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sirer hier in Aussicht stellt, dann sieht man sich gezwungen, den Begriff der Natur in zwei sehr unterschiedlichen, um nicht zu sagen gegensätzlichen Bedeutungen zu gebrauchen: Zum einen erscheint als ‚natürlich‘ hier das projizierte „Unmittelbare“ des Lebens überhaupt, an dem wir selbst als Lebewesen in unseren Lebensvollzügen, d. h. in allen reflexiven Akten und abseits von ihnen immer schon teilhaben; in das wir mit anderen Worten derart umfassend involviert sind, dass uns dort, wo wir es theoretisch fassen wollen, immer nur der „indirekt[e]“ Zugang bleibt, es eben – qua Reflexion in den Blick zu nehmen. Die Natur erscheint hier, sofern sie als lebendige Natur auch dem eigenen Besinnungsvollzug immer schon „sozusagen im Rücken“ 16 liegt, vor allem als Bedingungskomplex der „Subjektivität“ und ihrer „Erlebniswelt“ – ein Begriff, den Cassirer offenbar auch mit Blick auf das Verständnis des ‚fremden‘ Lebens der Pflanzen und insbesondere der Tiere für eine entscheidende Kategorie hält. 17 Zum anderen nimmt Cassirer die „Natur“ hier aber eben auch als jenen „Gegen- und Widerhalt“ im Sinne einer Negativfolie in den Blick, gegen die sich das Spezifikum des „Geistes“ im Ganzen abheben lassen soll. In dieser Rolle wiederum scheint die Natur aus der Reflexion allein, die uns per se doch immer nur auf unser eigenes (Kultur-)Leben zurückführen kann, kaum inhaltlich bestimmbar, sondern verweist uns wieder auf den anderen Faktor der „systematischen Rekonstruktion“: Eine eigentliche Abhebung und Abgrenzung unseres spezifisch-geistigen Lebens von dem der „Natur“ kann nur da gelingen, wo letztere im Sinne einer objektivierten Natur in den Blick genommen wird, die für uns aber als solche jedenfalls nur auf dem Wege kultureller Produktion, insbesondere der naturwissenschaftlichen, zu gewinnen ist. Wir bekommen hier eine erste Ahnung davon, dass Cassirer stillschweigend mit zwei ganz verschiedenen Begriffen von Natur operiert: Neben die Natur als Resultat konstruktiver Erfahrungs-Produktion, die, sofern dabei die mathematisch-naturwissenschaftliche Produktivität eine Vorrangstellung behaupten soll, a forteriori auf einen mechanischen Grundcharakter festgelegt scheint, ist im Nachlassmanuskript die Natur als transzendentaler Hintergrund aller und damit auch der je eigenen LKW 444, siehe das Zitat auf S. 101. Auch im methodischen Vorspann des dritten Bandes, in dem der Natorp-Rekurs zum ersten Mal entwickelt wird, begegnet schon der charakteristische Begriff der „Innenwelt“ (vgl. PhsF 3, S. 57 f.), der Natorps Psychologie mit Jakob von Uexkülls theoretischer Biologie verbindet. Auf diese Theorie wiederum hat sich Cassirer mit seiner Deutung der organischen Welt seit der Hamburger Zeit immer wieder zentral berufen; siehe dazu § 28 weiter unten. 16 17
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Lebensvollzüge getreten, die sich nur der Reflexion auf die Subjektivität des (unseres) Lebens – beispielhaft – erschließt. Was aber die Anwendungsgebiete dieser beiden sehr unterschiedlichen Naturbegriffe betrifft, so hat Cassirer hier offenbar nicht eine statische Zuordnung nach Art z. B. des Behaviourismus im Sinn, nach der die Attribution eigentlicher Subjektivität und die reflexive Bemühung um sie schlechthin auf den Menschen zu beschränken wäre; sondern seine Konzeption sieht prinzipiell für jede Spezies diese theoretische Möglichkeit vor und geht ja sogar so weit, sich von ihrer Durchführung neue Kriterien zur Bestimmung der spezifischen Differenz des Menschen zu versprechen. Wir haben es also mit einem anspruchsvollen Begriff des Naturlebens zu tun – zu anspruchsvoll in der Tat, als dass Cassirers an der Mathematik orientierte Analysen der naturwissenschaftlichen Produktivität in Substanzbegriff und Funktionsbegriff , selbst abgesehen von den geltungstheoretischen Vorbehalten, ihn an diesem Punkt noch hätten weiterführen können. In der Konsequenz ist für Cassirer, wie wir später noch in anderen Zusammenhängen zu präzisieren Gelegenheit haben werden, das Wesen des Lebens – des ‚natürlichen‘ und des ‚geistigen‘ – auf dem Wege der bloßen Objektivierung, wie sie die konstruktive Naturwissenschaft von den mathematisch-physikalischen zu den chemischen und von dort schließlich zur Analyse der Lebensprozesse führt, grundsätzlich nicht angemessen zu erfassen, weil nach seinem Verständnis gerade diese in gewissem Sinne ‚konsequenteste‘ Form unserer objektiven Welterkenntnis im Umkehrschluss alle diejenigen subjektiven Aspekte ausblenden muss, die die betrachteten Gegenstände ihrerseits erst – als lebendige qualifizieren können. Für die Philosophie als allgemeine Reflexionswissenschaft scheint es für Cassirer aus diesem Dilemma nur noch einen Ausweg zu geben: Sie muss – nicht etwa ‚aufhören‘ zu reflektieren, um sich gar doch an einer produktiven Lösung des Problems aus eigener Kraft zu versuchen, sondern vielmehr – noch mehr in den Kreis ihrer Reflexionen einbeziehen; sie muss in Gegenrichtung (aber nicht Feindschaft) zur Naturwissenschaft den von Natorp gewiesenen Weg der ‚Subjektivierung‘ weiterverfolgen, indem sie das ganze Spektrum unseres objektivierenden Weltverstehens noch einmal von einer breiteren „Basis“ 18 her ausleuchtet und „zentripetal“ auf seinen gemeinsamen Ursprung zurückbezieht. Eine ‚Verbreiterung‘ der Theoriebasis über die mathematische Wissenschaft hinaus wird dabei aus zwei Gründen unumgänglich: 1. weil jede mit Anspruch auf Vollständigkeit betriebene Selbsterkenntnis des (für uns nun einmal primär menschlichen) Lebens virtuell alle uns überhaupt verfügbaren Quellen sich zunutze machen muss, 18
Vgl. ECN 1, S. 54.
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und 2. weil nach den Prämissen der ‚rekonstruktiven Methode‘ erst aus der Vertiefung in die Breite möglicher Formen von ‚Objektivität‘ auch jene Tiefendimension des reflexiven Blicks zu erwarten ist, durch die sich am Ende womöglich auch unser Verständnis von ‚Subjektivität‘ über die Grenzen des spezifisch menschlichen Daseins hinaus erweitern lässt. So kommt es schließlich, dass in diesem Projekt, das für Cassirer selbst durchaus noch mit dem Interesse an einem speziellen Bereich der Natur (nämlich der lebendigen) zusammenhängt, die – Kulturwissenschaften zu natürlichen Verbündeten werden. § 11 Naturleben, mit ‚Geistesaugen‘ gesehen: Goethes nichtmathematische Naturforschung Der vorige Paragraph sollte die vielfältigen Schwierigkeiten nicht unterschlagen, vor die Cassirers reife Schriften uns im Vergleich mit seiner leichter greifbaren frühen Erkenntnis- und Wissenstheorie stellen; es ging mir darum, das Feld für die Interpretation zu eröffnen, nicht es schon zu Anfang auf eine bestimmte Deutung festzulegen. Wen der gleichzeitige Auftritt der scheinbar je für sich schon klärungsbedürftigen Begriffe ‚Leben‘, ‚Geist‘, ‚Kultur‘, außerdem noch ‚Kulturwissenschaft‘ etc. an dieser Stelle zu sehr irritiert, der mag sich fürs Erste mit folgender schematischer Darstellung B behelfen, mit der sich zugleich die Notwendigkeit dieser Gleichzeitigkeit erschließen dürfte: Sobald Cassirer die Natur, wie sie als objektive Natur von den Naturwissenschaften ‚produziert‘ wird, nicht länger als das Paradigma für Gegenständlichkeit überhaupt versteht, tritt der Naturbegriff selbst in Zusammenhänge ein, die von einer Philosophie, die sich selbst als Reflexion und zugleich alle Reflexion als wesentlich relational begreift, nur noch in korrelativen Paaren von Begriffen zu fassen sind. Je mehr infolgedessen die Natur ihren Charakter als Seinsfundament der Wirklichkeit verliert und als bloß begriffliches Gegenstück zur Kultur erkannt wird, die deshalb an jedem solchen ‚Fundament‘ genauso beteiligt sein müsste; je klarer außerdem auch die Naturwissenschaften in ihrer Gesamtheit als Kulturform verstanden werden, desto wichtiger wird die Frage, ob (und ggf. wie) sich die Reflexionswissenschaft Philosophie neben ihr und über sie hinaus auch mit anderen, ihrerseits ebenfalls schon wissenschaftlich reflektierten Äußerungsformen des Geistes zu befassen hat: nicht zuletzt, um so das Leben, das nach Cassirers Einschätzung jedenfalls der mathematischen Naturwissenschaft aufgrund ihrer eigenen methodischen Voraussetzungen in bestimmten Zügen unzugänglich scheint, gleichsam von der anderen Seite her in den Blick zu nehmen.
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Schema B: Vorläufige Konzeption der begrifflichen Verhältnisse in Cassirers reifer Wissenschafts- und Kulturphilosophie.
Ich habe hier schon den zentralen Gedanken vorweggenommen, der Cassirer mit Blick auf das Lebensproblem den turn zu kultur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen erlaubt. Für ihn steht nämlich lange Zeit nicht das Verhältnis von Natur und Kultur im Mittelpunkt, sondern vielmehr das Verhältnis der zwischen diesen Polen, vor allem aber auch zwischen Natur- und Kulturwissenschaft vermittelnden Begriffe ‚Geist‘ und ‚Leben‘. Gerade diese beiden Begriffe, deren Polarität ihm zufolge in der Moderne zur „schlechthin grundlegende[n] Antithese“ 19 hochstilisiert wurde, erkennt Cassirer nun aber als der Sache nach radikal korrelative Begriffe: Den Geist des Menschen versteht Cassirer infolgedessen einerseits als das universelle Medium, in dem sich alle Selbsterkenntnis des Lebens notwendig halten und abspielen muss, und andererseits zugleich als Ausdruck für eine „Wendung“ und „Wandlung, die [das Leben] in sich selbst erfährt“ 20 – die es m.a.W. als eine seiner immanenten Funktionen vollzieht, indem es gewisse immer schon in ihm angelegten 21 PoVgl. ECN 1, S. 7 f. GL 201. 21 Vgl. ECN 1, S. 14 f. : „So tief wir auch in das Reich des organischen Werdens hinabsteigen, und so hoch wir uns in das Reich des geistigen Schaffens erheben mögen: wir finden niemals . . . gleichsam jene beiden Substanzen [des ›Geistes‹ bzw. der ›Form‹ und des ›Lebens‹, F. S.], nach deren . . . metaphysischem Zusammenhang hier gefragt wird. Wir treffen so wenig auf ein schlechthin formloses Leben, wie wir auf eine schlechthin leblose Form treffen. . . . [D]ies [wird] schon an der Betrachtung der Kräfte der Natur deutlich[.]“ – Mit seiner bedingten Identifikation von Form- und Geistbegriff beruft sich Cassirer in diesem Kontext auf Simmel, dem sich die „ursprünglich[e] Antithese 19 20
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tentiale selbsttätiger Formbildung in jenen spezifisch symbolischen Weisen der gestaltenden Artikulation und der regulierenden ‚Intentionalität‘, wir könnten auch sagen: der Produktivität und Reflexivität aktualisiert, die sich eben als Wesensmerkmale eines ‚geistigen‘ Weltumgangs identifizieren lassen. Vor diesem Hintergrund fällt auch ein Licht auf die Tatsache, dass der Autor, der sich zunächst v.a. als Theoretiker der Naturwissenschaften einen Namen gemacht hatte, scheinbar ‚plötzlich‘ auch von geisteswissenschaftlichen Fragestellungen einen signifikanten Beitrag zur eigenen „Erkenntniskritik“ erwarten kann 22 – und zwar nicht nur mit Blick auf die „Individu[en] der ästhetischen Betrachtung“ oder die „sittlichen Persönlichkeiten“ als „Subjekte der Geschichte“, auf deren gesonderte Existenz „neben“ der Welt der mathematischen Naturwissenschaft durchaus auch schon Substanzbegriff und Funktionsbegriff hingewiesen hatte 23, sondern ebenso mit Blick auf bestimmte Aspekte seines theoretischen Welt- und Naturbegriffs selbst. Im Vorwort zur Philosophie der symbolischen Formen wird Cassirer schließlich den Anspruch, „das Ergebnis [der] Untersuchungen [von Substanzbegriff und Funktionsbegriff , F.S.] für die Behandlung geisteswissenschaftlicher Probleme fruchtbar zu machen“ 24 gar als das ursprüngliche Motiv zu ihrer Erarbeitung anführen. Mit Blick auf diese Erläuterung kann man sich schon fragen, worin genau eigentlich für ihn die „gebieterisch[e]“ 25 Dringlichkeit im Kern bestanden von »Leben« und »Geist« alsbald . . . in die Antithese von »Leben« und »ldee« oder von »Leben« und »Form« verwandelt“ habe (ebd., S. 10). 22 Die Überraschung ist natürlich gespielt und dient nur dem Hinweis auf Cassirers von Anfang an zu beobachtende Fähigkeit, natur- und geisteswissenschaftliche Weisen des Fragens so balanciert ernstzunehmen, dass nicht wenige Interpreten sich aus diesem (zwar nur von ihnen selbst empfundenen) ‚Zwiespalt‘ nur durch die willkürliche Projektion der einen oder anderen (eigenen) Präferenz auf den Autor zu retten wissen. Komplementär zur lange habituellen Reduktion Cassirers auf den Erkenntniskritiker der mathematischen Naturwissenschaften (und genauso irrig wie sie) findet sich denn auch immer wieder die entgegengesetzte Behauptung, die ihn zu einem eigentlich doch von Anfang an nur an den Problemen des Geistes- und Kulturlebens interessierten Denker machen will. Für ein frühes Beispiel dieser Tendenz vgl. James Gutmann: „Der humanistische Zug in der Philosophie Cassirers“. In: Schilpp (Hg.): Ernst Cassirer. S. 316–334, S. 317 f.: „Für das Verständnis der Philosophie Cassirers ist es wichtig zu wissen, daß er von der Literatur- und Sprachwissenschaft zur Philosophie kam. Obwohl [Cassirers] Veröffentlichungen viele fachwissenschaftliche Untersuchungen nicht nur über die Mathematik, sondern auch über Physik und Psychologie enthalten, ist doch von Anfang an sein Interesse hauptsächlich auf die Sprache und die Literatur gerichtet; ihnen galt seine Zuneigung bis zuletzt.“ 23 Vgl. SuF 254. 24 PhsF 1, S. VII.
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haben mag, die ihn für die theoretische Bewältigung der Geisteswissenschaften selbst den enormen Aufwand des vollständigen systematischen Neuansatzes, einschließlich einer Transformation des schon geleisteten Beitrags zur Wissenschaftstheorie, nicht scheuen ließ: Immerhin hätte ja das Bewusstsein vom bloßen Vorhandensein, vom „Faktum“ 26 der Geisteswissenschaften auch ganz andere Strategien offen gelassen, beispielsweise die damals wie heute populäre Strategie einer separaten Grundlegung bei gleichzeitiger Feststellung einer prinzipiellen Inkommensurabilität naturund geisteswissenschaftlicher Fragerichtungen. 27 Doch so leicht hat Cassirer es sich offenbar nicht machen wollen; und seine These von der Korrelativität zwischen den Problemen des Geistes und denen des Lebens erlaubt uns auch eine begründete Hypothese, warum nicht: Denn die Geisteswissenschaften haben ja zu ihrem Gegenstand nicht irgendeinen Geist im Sinne einer metaphysischen Wesenheit, sondern den Geist des Menschen, der ihnen in der Kultur, ihren individuellen Protagonisten, Werken und deren wiederum vielfältigen Rück- und Wechselwirkungen mit unserem Denken und Handeln greifbar wird. Und wenn es stimmt, was der reife Cassirer über das Verhältnis von ‚Geist‘ und ‚Leben‘ sagen kann, dass Vgl. „Zur Logik des Symbolbegriffs“, in: ECW 22, S. 112–139: 137 f.: „Das »Faktum der Geisteswissenschaften«, wie es uns heute vor Augen steht, hat Kant noch nicht gekannt und in seiner jetzigen Form noch nicht voraussetzen können. . . . An diesem Punkte sucht die »Philosophie der symbolischen Formen« einzugreifen. . . . Sie will den ganzen Kreis des »Weltverstehens« umfassen und die verschiedenen Potenzen, die geistigen Grundkräfte aufdecken, die in ihm zusammenwirken. Eine solche Aufgabe ist, wie mir scheint, durch die Entwicklung, die die einzelnen Geisteswissenschaften, die Sprachwissenschaft, die Religionswissenschaft, die Kunstwissenschaft seit Kant erfahren haben, der Philosophie gebieterisch gestellt. Aber es ist klar, daß sie nicht mit einem Schlage gelöst werden kann – und daß es sich heute nicht sowohl darum handelt, das Problem als Ganzes zu bewältigen als vielmehr den richtigen Ansatz des Problems zu finden. Die »Philosophie der symbolischen Formen« kann und will daher kein philosophisches »System« in der traditionellen Bedeutung des Wortes sein. Was sie allein zu geben versuchte, waren die »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie«. . . . In dem bisherigen Entwurf fehlt nicht nur die Ausführung vieler und wichtiger Teile, sondern es bieten sich eine Reihe prinzipieller Grundfragen, die noch der Lösung harren. Nur von einer ständigen Zusammenarbeit zwischen der Philosophie und den besonderen Geisteswissenschaften kann diese Lösung erhofft werden.“ 26 Ebd. 27 Das Unbefriedigende einer solchen ‚Lösung‘, die die zwischen den Fakultäten entstandene Teilung einfach durch ein Hineinerklären in die Natur unseres Wissens von der Welt zum Schisma zementiert, scheint Cassirer, der sich beiden ‚Kulturen‘ gleichermaßen nahe fühlte und wusste, aber von Anfang an empfunden zu haben; vgl. seine Auseinandersetzung mit Rickert, der den terminologischen Unterschied zwischen ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘ zu einer solchen Inkommensurabilitätsthese gesteigert hatte: SuF 241–254. 25
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nämlich die kulturellen Ausdrücke des Geistes insgesamt die symbolischen Produktionen darstellen, in denen allein unser „Leben, ohne von sich selbst ab[zu]fallen, ohne schlechthin »ausser sich« [zu] geraten . . . , sich selber durchsichtig, sich selbst gegenständlich“ 28 werden kann – dann kann man die Geistes- und Kulturwissenschaften immer auch als eine methodisch-abgegrenzte Gruppe von – zwar durchaus auf den Bereich des reflexiv Zugänglichen und deshalb immer auf den ‚Sonderfall‘ des Menschen eingeschränkten, aber doch: von Lebenswissenschaften ansehen. Es gibt nun einen Referenzautor, der für Cassirers Versuche nach 1910, das Leben in Termini des Geistigen zu begreifen, von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, nämlich Goethe. Diese Bedeutung beginnt schon damit, dass der Klassiker, mit dem Cassirer sich regelmäßig fast wie mit einem Zeitgenossen auseinandersetzt, 29 in seinen Augen eine entscheidende geistesgeschichtliche Brücke schlägt zwischen dem (z. T. auch noch durch Kant repräsentierten) ‚Intellektualismus‘ der Aufklärungszeit und dem durch Leibniz eröffneten, dann aber vor allem von der Romantik wieder aufgegriffenen Themenkreis des sinnlich-individuellen Lebens. 30 Während sich Vergleichbares jedoch auch von anderen Autoren zwischen Klassik und Frühromantik behaupten lässt – etwa von Heinrich von Kleist, Gottfried Herder oder Wilhelm von Humboldt – so scheinen sich für Cassirer speziell in der Person Goethes darüber hinaus bestimmte Fragen nach der Einheit von Wissenschaft und Kunst, Geist und Leben, die ihn selbst beschäftigen, geradezu exemplarisch zu verkörpern. 31 Entsprechend gilt Cassirers Interesse von Anfang an immer auch ECN 1, S. 59. Vgl. John Michael Krois: „Die Goethischen Elemente in Cassirers Philosophie“. In: Naumann / Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. S. 157–172. – Nach Barbara Naumann zieht Cassirers Symbolphilosophie systematischen Nutzen aus einer symbolischen „Umschreibung Goethes“ im Sinne einer „Aktualisierung“ seiner philosophischen Bedeutung: Barbara Naumann: „Umschreibungen des Symbolischen. Ernst Cassirers Goethe“. In: Naumann / Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. S. 1–23, S 18; vgl. ders.: Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe. München 1998. 30 Für Cassirers Sicht auf die Verbindungslinie Leibniz – Kant – Goethe siehe schon LS 424 und dann v. a. FF 230 ff. Siehe hierzu auch Massimo Ferrari: „Was wären wir ohne Goethe? Motive der frühen Goethe-Rezeption bei Ernst Cassirer“. In: Naumann / Recki (Hg.): Cassirer und Goethe. S. 173–194. 31 Vgl. etwa FF 181: „Die künstlerische Gestaltung folgt [bei Goethe] nicht auf das Leben, um es, als ein übrigens Fertiges und Abgeschlossenes, noch einmal im »Bilde« zu wiederholen, sondern sie ist ein bestimmender Faktor im Aufbau des Lebens selbst. . . . in der künstlerischen Phantasie erschließt sich unmittelbar der reine Wahrheitsgehalt des eigenen inneren Daseins. . . . Die Dichtung erst deckt den inneren Prozeß auf, von dem das Leben nur Resultat ist.“ Ebd., S. 184: „Goethe ist der erste deutsche Dichter, der . . . nicht sowohl ein »Ideelles« vertritt oder hat, als er es vielmehr selbst lebt und 28 29
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dem Naturforscher Goethe 32, dessen Einsichten in die Metamorphose der Pflanzen und Tiere und in die Existenz des Zwischenkieferknochens beim Menschen er später eine Schlüsselrolle für die Herausbildung des Entwicklungsgedankens in der modernen Biologie zuspricht. 33 Diese goethischen Theoreme sind es dann auch, die ihn 1916 in seinem nach Substanzbegriff und Funktionsbegriff nächsten Buch, den unter den Titel Freiheit und Form gestellten „Studien zur deutschen Geistesgeschichte“, fast wie von selbst wieder zu den systematischen Problemen des Naturlebens zurückführen. 34 Dabei ist kaum zu übersehen, dass Cassirer mit seiner ideengeschichtlichen Betrachtung auch gewisse Hoffnungen auf eigene Fortschritte in der Sache verbindet: Die Art, wie Cassirer sich mit Goethes grundlegend dynamischer Konzeption des Lebens auseinandersetzt, erweckt sogar den bestimmten Eindruck, als ob hier der Faden der systematischen Untersuchung genau an der Stelle wieder aufgenommen werden solle, an dem er sich in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (dort, wo die Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis des Lebendigen hätte stehen sollen) ins Allgemeine verloren hatte. 35 So zögert er nicht, „Goethes Stellung in der Methodik der Naturerkenntnis“ durch ein Referat der eigenen Entgegensetzung von ‚substanzbegrifflicher‘ und ‚funktionsbegrifflicher‘ Logik zu charakterisieren 36 – und ihn dabei mitist. In dieser Hinsicht beginnt mit ihm eine neue Form der künstlerischen Gestaltung, in der sich zugleich eine neue Form des geistigen Daseins überhaupt ausdrückt.“ 32 Siehe „Der Naturforscher Goethe“, in: ECW 18, S. 437–441. 33 Vgl. EP 4, S. 159: „Goethes Metamorphosenlehre hat tief in die Entwicklung der Biologie eingegriffen. Auf keinem anderen Gebiet der Naturforschung haben Goethes Ideen eine so tiefe und fruchtbare Wirkung geübt wie hier, und schon zu Goethes Lebzeiten wurde ihm die Genugtuung zuteil, daß führende Forscher an seine Seite traten. Heute besteht an der Größe seiner Leistung kein Zweifel mehr“. – Auf Cassirers diesbezügliche Reflexionen werde ich in § 28 zurückkommen. 34 Vgl. Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (=ECW 7, im Folgenden zitiert als ‚FF‘), insbesondere Kap. 4. 35 Vgl. § 10 oben. – Schon der Titel Freiheit und Form lässt sich in der Tat als eine Übertragung der Antithese zwischen ‚funktionalen‘ und ‚substantiellen‘ Gesichtspunkten auf das Feld des ästhetischen und praktischen Geisteslebens lesen. 36 FF 226–228: „Zwei Grundrichtungen der Betrachtung sind es, die sich schon innerhalb der Grenzen der reinen Logik in der Auffassung des Allgemeinen gegenüberstehen. Auf der einen Seite wird das Allgemeine als das Ergebnis betrachtet, das aus der »Abstraktion« vom Einzelnen gewonnen wird – auf der anderen Seite erscheint es als das Gesetz, auf dem die Verknüpfung des Einzelnen beruht. Dort ist es ein Schema und ein Gattungsbild, das dadurch zustande kommt, daß wir an einer Gesamtheit von Inhalten alle unterscheidenden Züge fortlassen und nur die gemeinsamen Merkmale festhalten – hier ist es eine spezifisch bestimmte Regel, nach der wir uns, mitten in der Anschauung des Besonderen stehend, die Beziehung vergegenwärtigen, die von einem Besondern zum andern obwaltet. Im ersten Falle dient es uns, um vom empirisch Be-
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hilfe der These, schon Goethe habe die grundlegende „Entscheidung zwischen den beiden entgegengesetzten Stellungen, die der »Begriff« zur »Anschauung«, das »Allgemeine« zum »Besonderen« nehmen kann . . . in aller Schärfe und Bestimmtheit vollzogen“ 37, en passant als Autorität für die eigene wissenschaftstheoretische Position in Anspruch zu nehmen. Vorerst ausgeklammert bleibt dadurch allerdings die nicht unwesentliche Differenz, dass die „Reihen“, auf deren Verständnis Goethes „»symbolisch[e]« Betrachtungsweise“ 38 der Natur abzielt, von einem durchaus anderen Typ sind als die mathematischen Funktionszusammenhänge, von denen Cassirers Theorie der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis ausgegangen war. Denn während die ‚Gegenständlichkeit‘ der empirisch angewandten mathematischen Begriffsbildungen auf der bewusst gewollten und methodisch gesuchten Distanz zwischen den intendierten Verhältnissen der sinnlichen Erfahrungsgehalte einerseits, den Funktionsreihen der eigenen Begriffskonstruktionen andererseits beruht – sodass die mathematische Methode in diesem Sinne immer nur zu ‚äußerlicher‘ (und gerade darin ‚exakter‘) Erkenntnis führen kann –, beanspruchen Goethes Forschungen im Gegenteil eine innerliche Erkenntnis der betrachteten Naturprozesse aus dem ideellen Nachvollzug ihres dynamischen Eigenlebens. In der mathematischen Naturwissenschaft bleibt das Verhältnis des ‚Allgemeinen‘ zum ‚Besonderen‘ eben auch dort, wo es nicht länger mit dem Gegensatz von ‚abstrakt‘ und ‚konkret‘ verwechselt wird, doch immer eines der Unterordnung: Nur so wird ein besonderer Naturinhalt ja zum mathematisch erkennbaren, dass er im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zu bestimmten logischen Idealbegriffen fokussiert und – wenigstens für die Dauer seiner Analyse – auf seine dabei maßgeblichen Aspekte reduziert wird. Demgegenüber beansprucht Goethes ‚innerliche‘ Naturerkenntnis, die betrachteten Erscheinungen gerade in der Vielschichtigkeit der in ihnen selbst ausgedrückten Lebendigkeit zu belassen, indem sie 1. die individuelle Entwicklung eines Wesens zunächst rein beobachtend kannten und Gegebenen zu immer höheren und immer inhaltsärmeren Klassen und Arten emporzusteigen; im zweiten fassen wir in ihm einen immer reicheren Komplex von Relationen zusammen, kraft deren sich uns die zuvor gesonderten empirischen Elemente zu Reihen zusammenschließen . . . Das eine Mal ist es also die wachsende Unbestimmung, das zweite Mal die wachsende Bestimmtheit, die sich uns auf dem Wege zum »Allgemeinen« ergibt: eine Bestimmtheit freilich, die nicht selbst in einem neuen Einzelbilde heraustritt, sondern sich lediglich in dem neuen, immer tiefer begriffenen Zusammenhang zwischen den Anschauungselementen darstellt.“ 37 FF 227. 38 FF 228.
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verfolgt, sie 2. deutet als ‚besondere‘ Instanz eines zwar ‚allgemeinen‘, aber doch in seinen Einzelwirkungen ganz unvorhersehbaren Naturprinzips (der ‚Metamorphose‘) und von diesem Standpunkt aus 3. eine Zuordnung des Individuellen zu einem ihm selber angemessenen Formbegriff der Gattung versucht, der die Erscheinungen je nur gerade soweit ‚festlegt‘, wie ihre phänomenalen Eigencharaktere dem Forscher Rückschlüsse auf gewisse Grenzen ihrer Variabilität erlauben. Ein solcher Anspruch ist nun zwar nach Cassirer nur einzulösen, indem bei Goethe „dem »Gedanken« hierbei eine andere und tiefere Funktion zu[kommt], als sie ihm gewöhnlich zugesprochen wird“: „Um sich zum Organ der Wirklichkeit zu bilden, muß [der Gedanke] sich zuvor dem Grundgehalt des Wirklichen adäquat geformt haben: Er muß vom bloß abstrakten und zergliedernden Betrachten ins Tun übergegangen sein. Von hier aus erklärt sich jenes merkwürdige Wort, daß man »[a]uch in Wissenschaften [. . . ] eigentlich nichts wissen« könne, »es will immer gethan sein«. . . . Die Dynamik der Welt ist nur in dieser Dynamik des Gedankens zu erfassen. Jeder wahrhaft fruchtbare Gedanke bedeutet demnach nicht ein bloßes Aufnehmen und Abschildern des beobachteten Einzelnen, sondern eine neue Synthese, die wir zwischen scheinbar disparaten Elementen der Wirklichkeit herstellen. Die echte Naturerkenntnis wird dadurch selbst zu einer aus dem Innern am Äußern sich entwickelnden Offenbarung – zu einer »Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt«.“ 39
Auch hier betont Cassirer vor allem wieder die Nähe zu seinem Referenzautor; und sofern er in Goethes Begriff des Denkens als einer Form des ‚Tuns‘ den praktischen Hauptaspekt seines eigenen epistemologischen Funktionalismus wiedererkennen kann, möchte man ihm gerne Recht geben. Weil Goethe es aber eben in theoretischer Absicht von vornherein nicht auf die Natur als Inbegriff physikalischer Gesetzlichkeit, sondern auf die Natur als Kosmos von Lebenserscheinungen abgesehen hat, kann sich sein Funktionalismus nicht mit einer denkerischen Praxis begnügen, die die Lebendigkeit des Naturforschers ganz in die geistreiche Anlage von Experimenten investiert, um dadurch zwar nicht schon ihren konkreten Ausgang vorwegzunehmen, aber doch das Spektrum möglicher Ausgänge so beherrschbar zu halten, dass das angestrebte Resultat sich in jedem Fall vollständig in mathematischer Zeichensprache ausdrücken lässt. Was Goethe anstrebt, ist vielmehr eine Art der tätigen Auseinandersetzung 39
FF 219 f.
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zwischen dem betrachteten Naturleben in seiner sich selbst überlassenen Eigendynamik und dem Leben des individuellen Forschers, der sich ihm denkend mit dem Selbstverständnis eines „Organ[s] der Wirklichkeit“ zuwendet. Gefordert wird hier gerade nicht das mathematische Tun, das frei und rein aus sich selbst heraus eine Welt begrifflicher Verhältnisse erst konstruiert, um diese dann sukzessive in den objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur wiederzufinden; sondern Goethe will das Leben der Natur, aus der konkreten Empfindung und dem vollen Bewusstsein der eigenen Gestaltungskräfte heraus, unmittelbar als dynamisches Eigenleben verstehen: Die schöpferische Produktivität der eigenen Lebensvorgänge, aus der natürlich auch alle individuelle Geistigkeit faktisch erwachsen muss, wird so in ihrer Totalität selbst zum Gleichnis für das Naturleben, das sie erfassen will. Angesichts eines solchen Ideals ist es nur konsequent, wenn Goethe in allem Philosophieren über die Natur eine Form des „Anthropomorphismus“ sieht. 40 Ein psychologisch-steriler ‚Analogieschluss‘ ist damit allerdings nicht gemeint; gerade der junge Goethe macht seinen produktiven Bezug auf die Natur vielmehr, wie Cassirer betont, mit Vorliebe an den „nächsten physischen Analogien“ der Zeugung fest. 41 Die kulturelle Produktivität des Dichters erkennt hier im ubiquitären Naturschauspiel der biologischen Reproduktion der Individuen und Gattungen eine nahe Verwandte ihrer selbst – wie eben auch im individuellen Leben und Schaffen des Künstlers ‚natürliche‘ und ‚geistige‘ Produktivfaktoren vielfältig ineinander greifen und überall aufeinander angewiesen bleiben. Das methodische Prinzip, das Goethe in späteren Jahren für seinen „Anthropomorphismus“ der Natur aufstellt, ist deshalb einerseits gerade nicht das einer bloßen ‚Projektion‘ der eigenen Erfahrungswelt, sondern das einer möglichst vollständigen „Adäquation“ von Denk- und Anschauungsgehalt, ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Natur, deren überindividuelle Geltung er durch die allgemeine Voraussetzung einer letzten Wesensidentität von beidem gesichert sieht. Und doch kommt für Goethes „symbolische“ Methode der Naturerkenntnis am Ende alles darauf an, dass der „genetische Blick“ des Forschers die „Lebensreihen“, in denen ihm die betrachteten Phänomene zu Momenten eines einzigen unablässigen Gestaltwandels werden, überhaupt sehen kann: Sowohl mit Blick auf den einzelnen Organismus und die Entwicklung des in ihm auf je besondere Weise verkörperten Lebensprozesses, als auch mit Blick auf die lebendige Natur insgesamt unter dem Leitgedanken der ‚Metamorphose‘ kommt es in Goethes Worten darauf 40 41
Vgl. FF 265. FF 189.
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an, vom Sehen mit Leibes- zum Sehen mit „Geistesaugen“ überzugehen, d.h. im Akt der forschenden Betrachtung zugleich die eigene Persönlichkeit, ihre Leiblichkeit und Geistigkeit so kunstvoll in den konkreten Aufbau der Erfahrungswelt einzubringen, dass sie sich in ihm jeweils reflektieren kann. 42 Nur dank dieses nicht platt analogiebildenden, sondern im Vollsinn des späteren Cassirer’schen terminus technicus „analogischen“ 43 Verfahrens gelangt Goethe schließlich soweit, die zwischen den divergierenden Ansprüchen von Nachfühlen und Begreifen, Involution und Distanz „notwendig antithetisch[e]“ Problematik des „Ganzen“ des Naturlebens in die Synthese einer übergreifenden Idee zu überführen, der Cassirer anscheinend einiges abgewinnen kann. 44 ‚Idee‘ – das meint für Goethe keinen ‚abstrakten‘ Begriff der Natur, sondern einen allgemeinen Gesichtspunkt der Forschung, unter dem sich anschauliche und begriffliche Bestimmungsmomente der Erfahrung gleichberechtigt integrieren lassen; eine ‚Formel‘ der Natur zwar, die aber nicht auf statisch-beschreibbare Gesetzmäßigkeiten, sondern auf den unvorhersehbar-dynamischen Sinnzusammenhang jedes Einzelnen mit der Gesamtheit des Lebendigen zielt, und die ihre wesentlichen Einsichten schon deshalb nicht in der Art des mathematisch-allgemeinen Begriffsgebrauchs zum Ausdruck bringen kann, sondern nur – im sprachlichen Bild: Es ist nämlich nicht die definierte und definite Kunstsprache der Mathematik, sondern die natürliche Sprache des Menschen, die es gerade in ihren Ambivalenzen und Vagheiten, ihren unüberschaubaren assoziativen und metaphorischen Querverbindungen erlaubt, den intendierten Sinnzusammenhang (unter Vgl. FF 215; 255 f.; 234 ff. – Der Ausdruck »Geistesaugen« findet sich in Goethes Maximen und Reflektionen Nr. 120, in: Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hg. v. Erich Trunz. München. 2008, S. 22. 43 Vgl. PhsF 1, S. 133 ff.; siehe Kapitel 3.2. 44 Vgl. FF 217–219: „Jede Charakteristik der Natur als Ganzes wird notwendig antithetisch. Das Grundgefühl von der Einheit und Totalität der Natur löst sich, sobald wir versuchen, es zur Erkenntnis zu gestalten, in disparate, einander aufhebende Elemente auf. Zwei Wege nur scheint es geben zu können, diesem Widerspruch zu entgehen. Wir können versuchen, uns rein in der Unendlichkeit und Unbestimmtheit des Gefühls zu halten und jede begriffliche Aussprache und Deutung von ihm zu entfernen – und wir können andererseits, diese ganze Sphäre verlassend, die Einheit und Allgemeinheit des Naturgesetzes als dasjenige betrachten, worin uns allein, in begrifflicher Klarheit und Schärfe, die Wahrheit der Natur erscheint. . . . Nichts bezeichnet jedoch, für die erste und vorläufige Betrachtung, die Eigenart und Tiefe der Goetheschen Naturauffassung deutlicher als der Umstand, daß sie dem scheinbaren Zwange dieses Entweder-Oder nicht erliegt. . . . Nicht im Bilde noch in der bloßen gestaltlosen Empfindung, sondern in der »Idee« soll die Natur als Ganzes und in ihren Einzelheiten, als eins und vieles ergriffen und erschaut werden.“ 42
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regelmäßigen Verweisen auf analoge Verhältnisse bei Autor und Leser) „symbolisch“ zu explizieren. So sehr nun Goethe selbst bei der Verfolgung dieser Idee die Tatsache zugute kommt, dass sich hier „die Produktivität, die [ihm] als Forscher eigen ist“, in entscheidender Weise „mit der Gesamtheit seiner übrigen Energien und Leistungen verknüpft“ 45, so sehr entpuppt sich die Abhängigkeit von der Möglichkeit einer solchen ‚Verknüpfung‘ letztlich als Problem nicht nur für die Breitenwirkung seiner Methode: Nicht nur setzt Goethe damit am Wissenschaftler die seltene (und schwer zu bemessende) Befähigung zum ‚Sehen mit Geistesaugen‘, zur Reflexion und zum adäquaten Ausdruck des Gesehenen in wenn nicht ‚dichterischer‘, so doch symbolisch-verdichtender Sprache voraus mit der absehbaren Folge, dass sein Forschungsansatz verglichen mit den greifbareren Forderungen des mathematischen Kalküls weniger ‚Schule macht‘ – sondern er setzt gleichzeitig auch an der Natur die Bedingungen ihrer anschaulichen Erfahr- und (normal)sprachlichen Kommunizierbarkeit in einem solchen Maße voraus, dass er dort, wo diese Bedingungen nicht erfüllt sind, selber keinen Zugang mehr findet. So kommt es schließlich zu Goethes merkwürdiger, allein durch die Präferenz einer ‚alternativen‘ Forschungsmethode kaum erklärlicher Fundamentalopposition gegen jede technische und begriffliche Übersetzung der Naturphänomene in den mathematischen Wissenschaften, der Cassirer in Idee und Gestalt, seiner späteren „Ergänzung“ 46 zu Freiheit und Form, in einem separaten und für unseren Zusammenhang sehr wichtigen Essay nachgegangen ist. 47 Wie Cassirer dort betont, bekommt Goethes Verhältnis zur mathematischen Naturwissenschaft einen geradezu „tragischen Einschlag“ 48, sobald man statt seinen biologischen Forschungen seine Farbenlehre in Betracht zieht, die mit ihrem wiederum eigenwilligen (nämlich im Kern phänomenologischen) Zugang zur Welt der Farberscheinungen erstmals in direkte Konkurrenz zur mathematischen Physik, und zwar zu Newtons Opticks getreten sei. 49 Anhand dieses FF 219. Vgl. ECW 9, S. 619. 47 „Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung“, in: ECW 9, S. 268–315 ( im Folgenden zitiert als ‚GMP‘). Vgl. auch aus Cassirers späterer Periode, aber mit unveränderter Grundthese »Goethe and the Kantian Philosophy«, in: ECW 24, S. 542–575. 48 GMP 268. 49 Vgl. GMP 282: „Um diese[r] Einheit des Allgemeinen und Besonderen . . . beständig gewiß zu sein . . . , brauchen wir [nach Goethe, F.S.] . . . keine Übertragung in eine andere gedankliche Sphäre, wie sie die Physik durch ihre Umsetzung der Qualitäten 45 46
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Konkurrenzverhältnisses, das die Wissenschaftsgeschichte schließlich – ob in „tragischer“ Weise, sei dahingestellt – mehrheitlich zugunsten des mathematischen Zugangs entschieden hat, gelingt Cassirer 1920, was ihm in Freiheit und Form noch nicht gelungen war, nämlich Überstimmung und Differenz der beiden konkurrierenden Ansätze zusammenzudenken: „Somit ist es ein bestimmtes Reihenprinzip, das Goethe, gleich dem mathematischen Physiker, in der Auffassung der Einzelerscheinungen durchführt und zur Geltung bringt – aber wenn letzterer dieses Reihenprinzip dem Gebiete der Zahl, der abstrakten Grundform der Reihe überhaupt, entnimmt, so verlangt Goethe, die Reihe . . . selbst noch als Lebensphänomen . . . anschauen und sie sich in diesem Anschauen innerlich aneignen zu können. Nicht weil er Gegner der Analyse als solcher ist, tritt daher Goethe der Mathematik entgegen. Er weiß vielmehr und spricht es aus, daß . . . Analyse und Synthese die beiden notwendig zusammengehörigen Grundfunktionen aller Erkenntnis sind, die sich wie Ein- und Ausatmen wechselseitig bedingen. Aber er faßt die Elementarphänomene und Elementarprozesse, auf die er das Geschehen zurückführt, nicht als Momente, die, wie die Differentialgleichungen der Physik, das Ganze der Wirklichkeit bloß begrifflich vertreten sollen, sondern die dieses Ganze noch unmittelbar bedeuten und sind.“ 50
Zur richtigen Einschätzung der weitreichenden systematischen Folgerungen, die Cassirer aus dieser Gegenüberstellung ziehen kann, scheint es mir wichtig festzuhalten, dass er dazu tendiert, den rezeptionsgeschichtlichen Misserfolg der Farbenlehre nicht einseitig Goethes ablehnender Haltung gegenüber der mathematisch-konstruktiven Behandlung des Problems anzulasten, sondern zu gleichen Teilen dem weitgehenden Unverständnis des geschichtlichen Umfelds für Goethes eigentliches Anliegen. Dahinter steht wiederum Cassirers Neigung, allgemein in Goethes Methode der Naturforschung, einschließlich seines Versuchs ihrer Übertragung auf eine Analyse unseres Farbsehens, ein Reflexionsniveau anzuerkennen, in Quantitäten vollzieht. Das Seiende selbst formt sich dem synthetischen Blick des Forschers zu Lebensreihen, die stetig ineinandergreifen und immer höher und höher aufsteigen – ohne daß diese Form der Reihe des Umwegs über das analytische Denkmittel der Zahl bedürfte. Mit diesem Ergebnis und mit dieser methodischen Grundüberzeugung, die sich ihm an den Phänomenen des Lebens entwickelt hat, tritt nun Goethe an die optischen Erscheinungen heran. Und hier in diesem mittleren Gebiet muß seine Auffassung vom Naturzusammenhang überhaupt und von der ideellen Darstellung dieses Zusammenhangs zur Auffassung der Mathematik und der mathematischen Physik sofort in schroffen Gegensatz treten.“ 50 GMP 284.
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das demjenigen der mathematischen ‚Gegenseite‘ mit ihrem (damaligen) Hang zum dogmatischen Mechanismus mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen sei: So habe auch die Farbenlehre methodologische Reflexionen antizipiert, auf die die mathematische Physik erst Jahrzehnte später durch wissenschaftsimmanente Entwicklungen geführt worden seien. 51 In Goethes Skepsis gegen die mathematische Naturwissenschaft erkennt Cassirer deshalb etwas ganz anderes als den dem vermeintlichen ‚bloßen Dichter‘ gelegentlich unterstellten Mangel an Reflexion – sie erscheint ihm vielmehr (über den in der Betonung des wissenschaftlichen Tätigkeitsaspekts ausgedrückten Primat des Praktischen hinaus) als Folge einer ganz bestimmten Auffassung vom Sinn wissenschaftlicher Produktivität im Sinne derjenigen besonderen Richtung der Naturauffassung, die einmal vom Individuum Goethe eingeschlagen ist. Die daraus erwachsene Perspektive stellt sich deshalb für Cassirer am Ende als eine solche dar, die nicht etwa nur aufgrund ihrer Originalität Bewunderung verdient, sondern mit Blick auf die natürlichen Lebensphänomene tatsächlich in wesentlichen Punkten ihre Fruchtbarkeit bewährt – der dieses aber zugleich nur gelingt, indem sie andere (und nicht minder wesentliche) Aspekte der ‚objektiven‘ Natur in ihrem Eigenrecht bestreitet, sodass ihr der methodisch weiterhin auch an der mathematischen Wissenschaft orientierte Philosoph, bei aller Wertschätzung für ihre Resultate im Einzelnen, im Ganzen nicht ungeteilt zustimmen kann. 52 Hier macht nun Cassirers Aufsatz von 1920 schließlich – schon an der Schwelle zur Philosophie der symbolischen Formen – aus der Not eine Tugend, indem er den phänomenologisch-beobachtenden Zugang Vgl. GMP 287–290, besonders 289 f., wo Cassirer Goethe zitiert: „»Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehn.« Diese Sätze, die Goethe gegen die Naturwissenschaft seiner Zeit geprägt hat, nehmen die neue Form der Physik vorweg, die im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die bedeutendsten physikalischen Forscher haben sich hier in der Tat in ihrer Auffassung vom Gebrauch und Wesen der Hypothese mit Goethe in völliger Übereinstimmung befunden.“ 52 Vgl. z. B. den Nachlasstext „Über Basisphänomene“, ECN 1, S. 126 f.: „[H]eftig wendet [Goethe] sich gegen den »Kuppler Verstand«, der . . . stets am Werke ist, dies Unmittelbare zu vermitteln – es aber in dieser angebl[ichen] Vermittlung und durch sie um seinen eigentlichen und ursprünglichen Sinn bringt – Das Beruhen in den Urphaenomenen und auf ihnen: das ist die Haltung, die Goethe von uns fordert . . . Aber ist eine solche Haltung . . . im Ganzen des geistigen Lebens möglich? Giebt es hier eine derart »unmittelbare«, ungebrochene Einheit? – Nein – vielmehr zeigt sich die Brechung selbst als eine immanente (»dialektische«) Notwendigkeit – Denn auch die »Verstandes«-Funktion des Fragens gehört zu den ursprünglichen u[nd] wesenhaften Funktionen des Geistes – zu denen, in denen er selbst erst das »wird«, was er »ist«[.]“ 51
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Goethes und den experimentell-quantifizierenden Zugang Newtons zur Natur als zwei unterschiedliche „Wege der Wirklichkeitserkenntnis“ 53 nebeneinander stellt; als zwei Ansätze, die, so sehr sie als solche einander widersprechen und bekämpfen, von einem von beiden verschiedenen ‚überparteilichen‘ Standpunkt (nämlich Cassirer eigenem) dennoch als prinzipiell gleichberechtigt und gleich-unverzichtbar eingesehen werden können. Beide Wege erreichen ihr Ziel aufgrund bestimmter (voneinander verschiedener) Methoden der (Wissens-)Produktion, und beide stehen zugleich (eben als Erkenntniswege) unter dem Anspruch, diese Methoden und die damit erzielten Resultate jeweils reflexiv zu überblicken und zu kontrollieren. Indem Cassirer gegenüber diesem sehr grundsätzlichen Konflikt aus der Perspektive des Dritten, nämlich der einer (jedenfalls mit Blick auf den historischen Streitpunkt) ‚interesselosen‘ und deshalb unvoreingenommenen philosophischen Reflexion die Frage nach dem absoluten theoretischen Wert der divergenten Zugänge zur Natur, nach ihrem ‚Besser‘ oder ‚Schlechter‘ gewissermaßen suspendiert, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, im reproduktiven Nachvollzug beide in ihrer jeweiligen Totalität als besondere Weisen der ‚Produktion‘ von Welt anzuerkennen – als gerade in ihrer Antithetik unverzichtbare Korrelativmomente in der Gesamtentwicklung der Wissenskultur. Das Wechselverhältnis von ‚Produktion‘ und ‚Reflexion‘, das wir im Kontext von Cassirers Wissenschaftstheorie kennengelernt haben, 54 wiederholt sich hier also gleichsam auf einer neuen Stufe zwischen den historisch begegneten kulturellen ‚Wegen‘ der Erkenntnis und dem auf sie bezugnehmenden Besinnungsvollzug des Philosophen, der sich bewusst von jedem Partikularinteresse zu distanzieren sucht. Die Unterschiede zwischen beiden ‚Wegen‘ sind dabei nur noch teleologisch aus der Differenz ihrer ‚Ziele‘, der jeweiligen Interessen und „spezifischen Erkenntniswillen“ 55 zu verstehen, die wiederum auf die Wahl ihrer konkreten ‚Produktionsmittel‘ und Methoden entscheidend zurückwirken. Die ‚Ganzheitlichkeit‘ der goethischen Betrachtungsweise wirkt sich hier dahin aus, dass sie in ihrem Ansatz bei den sinnlichen, an den Naturobjekten selber reflektierten Aspekten der Produktivität – der Zeugung, Gestaltwandlung und (Selbst-)Entwicklung der Lebensformen – ein Selbstverhältnis zur existentiellen Gesamtheit des eigenen Tuns und Leidens ständig aufrechterhält, und bleibt insofern doch auch unter reiVgl. Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis = ECN 2 ( im Folgenden zitiert als ‚ZWW‘). 54 Siehe § 8 u. f. 55 GMP 294. 53
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nem Erkenntnisanspruch eine ‚künstlerische‘. Newtons Experimentalmethode erschließt hingegen die Phänomene im vergleichsweise ‚einseitigen‘ Medium intellektuell beherrschbarer, insbesondere quantifizierender Funktionsbegriffe, muss sie zu diesem Zweck von vornherein auf bestimmte mathematisch-fassbare Gesichtspunkte reduzieren – und erweist sich doch gerade dadurch in anderer Hinsicht, insbesondere in seiner Nähe zum technischen Weltumgang als fruchtbar. Die teleologisch-praktische Besinnung auf diese Unterschiede der ›erkenntnisleitenden Interessen‹ lässt für Cassirer noch einmal den Unterschied der von Goethe angestrebten „»Formel« für die Naturerscheinungen“ von der „Formel des Mathematikers . . . klar zutage“ treten: „Die mathematische Formel geht darauf aus, die Erscheinungen berechenbar, die Goethesche, sie vollständig sichtbar zu machen. Alle Gegensätze zwischen Goethe und der Mathematik erklären sich aus diesem einen Punkte heraus. Denn es ist klar, daß das Ideal der vollendeten Sichtbarkeit und das der vollendeten Berechenbarkeit verschiedene methodische Mittel verlangen und daß beide die Phänomene gleichsam unter verschiedener Entfernung und Perspektive betrachten müssen.“ 56
Der philosophische Standpunkt, von dem aus Cassirer meint, einen synthetischen „Ausgleich“ zwischen diesen ganz unterschiedlichen Auffassungen von der Natur und den Aufgaben der Naturerkenntnis finden zu können, stellt sich ihm nun gerade im Programm jenes „übergreifenden Ganzen“ 57 dar, an dem er zur selben Zeit unter dem Titel einer „Philosophie der symbolischen Formen“ zu arbeiten beginnt: „[D]a Sprache und Mythos, Kunst und Religion, da mathematisch-exakte und empirischbeschreibende Erkenntnis für uns nur gleichsam verschiedene symbolische Formen sind, in denen wir die entscheidende Synthese von Geist und Welt vollziehen: so gibt es für uns »Wahrheit« nur insofern, als wir jede dieser Formen in ihrer charakteristischen Eigenart begreifen und uns zugleich die Wechselbezüglichkeit vergegenwärtigen, in welcher sie mit allen andern zusammenhängt.“ 58 Und wie schon diese Einreihung der beiden widerstreitenden Zugänge zur Naturerkenntnis, des „mathematisch-exakte[n]“ und des „empirisch-beschreibende[n]“ Verfahrens, in die vorläufige Aufstellung „symbolische[r] Formen“ vermuten lässt, zeigt Cassirers philosophische Strategie, sich ein vertieftes Verständnis auch jenes Verhältnisses von der systematischen Reflexion auf die Vielfalt der 56 57 58
GMP 312. GMP 314. GMP 303 (Kursivierung F. S.).
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Kulturformen zu erhoffen, an dieser Stelle keinen Zug des Ausweichens, der Verleugnung oder Vermeidung der Naturfrage – ganz im Gegenteil: Im Zuge der Ausweitung der reflektierten Kulturbereiche über die mathematischen Wissenschaften hinaus und in direkter Entsprechung zur immer weiteren Diversifizierung seines Erkenntnisbegriffs fasst Cassirer jetzt auch seinen Naturbegriff ausdrücklich als einen Begriff im Plural: „Wir begreifen jetzt, wie auch der Naturbegriff an jenem »Bedeutungswandel« Teil hat . . . – wie also eine Mannig faltigkeit von Naturbegriffen möglich ist, ohne daß die Objektivität des einen die des anderen schlechthin aufhebt und zunichte macht. An einer objektiven Einheit der Natur muß freilich auch hier festgehalten werden; aber diese Einheit bedeutet nicht mehr eine sachliche oder methodische Einerleiheit, sondern die ideelle systematische Verknüpfung, die zwischen übrigens verschiedenen Betrachtungsweisen besteht. Was die Natur der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung von der Natur der exakten Wissenschaft, was den wissenschaftlichen Naturbegriff vom Naturbegriff des Mythos scheidet: das ist das charakteristische Auswahlprinzip, das in ihnen wirksam ist. Keiner dieser Begriffe bildet die konkrete Totalität der Erscheinungen einfach ab, sondern jeder hebt aus ihnen bestimmte Elemente als die entscheidenden und wesentlichen heraus; jeder gruppiert die Gesamtheit der Phänomene um gewisse geistige Mittelpunkte und ordnet sie verschiedenen Beziehungsflächen ein.“ 59
GMP 307 f. (Kursivierung F. S.). – Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Cassirer hier seinen Naturbegriff an einem „Bedeutungswandel“ von ganz ähnlicher Art teilhaben lässt, wie seine frühe Wissenschaftstheorie ihn bereits für den Substanzbegriff geltend gemacht hatte (vgl. SuF 96 und S. 77 weiter oben). Zum einen verbindet beide Fälle ein gemeinsames Motiv, nämlich die Forderung nach einer ‚kopernikanischen Wende‘ des Denkens, die sich gemäß dem spezifischen Sinn, den Cassirer mit ihr verbindet, ebenso gut am Übergang vom substantiellen zum funktionalen Paradigma verdeutlichen lässt wie an demjenigen, der das Ausgehen vom Naturbegriff durch das Ausgehen vom Kulturbegriff ersetzt. Analog ist aber zum anderen auch das Erhaltenbleiben der jeweils ‚überwundenen‘ Begriffe in der neuen Denkordnung: Erhalten bleiben sie freilich nicht in ihrer früheren Leitfunktion, durch die sich nach ihnen gleichsam der ontologische Rahmen bestimmte, in dem sich alles Denken zu bewegen hatte, sondern als bloße Einzelbegriffe unter anderen, die nur noch relative Geltung in ihren jeweiligen Kontexten beanspruchen können. 59
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§ 12 Cassirers Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft. Die Natur der Klassenbegriffe. Kunst und Technik der Naturerkenntnis Die Antinomie zwischen lebendiger Erfahrung und mathematischer Konstruktion, wie sie für Cassirer am Konflikt zwischen Goethe und der mathematischen Physik exemplarisch wird, wirkt nicht nur unmittelbar auf die Fassung seines Naturbegriffs zurück, sondern ebenso auf seine anfänglich stark (vielleicht zu stark) auf seine mathematischen Geltungsgründe konzentrierte Theorie unseres Wissens von der Natur – und damit im Grunde seine gesamte frühe Begriffstheorie, sofern diese die Realität der (Funktions-)Begriffe eben noch primär am ‚Faktum‘ der mathematischen Naturwissenschaften und ihrer Gültigkeit im Ganzen festgemacht hatte. Im Ringen mit den in diesem Kontext erneut aufbrechenden Problemen war Cassirer aber zur Zeit der Abfassung des Goethe-Aufsatzes in Wahrheit bereits einen entscheidenden Schritt weitergekommen, und zwar im Zuge seiner (mit Blick auf das Kant-Kapitel im Erkenntnisproblem) um einige Jahre verspäteten Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft, die in Form eines umfangreichen Kapitels in seine Monographie Kants Leben und Lehre (1918) eingegangen ist. 60 Ein Blick auf diesen Text genügt, um sich davon zu überzeugen, wie sehr sich hier erneut ein Interesse des Ideenhistorikers an der „geschichtlichen Wirkung“ der dritten Kritik auf die Folgezeit – mit unverkennbarem Schwerpunkt auf der Frage, wie es Kant „von hier aus gelang, »den Begriff der Goetheschen Dichtung« zu konstruieren“, was daher „Goethe an die »Kritik der Urteilskraft« fesselte“, was „Goethe anzog“ und was „für Goethe den eigentlichen Schlüssel des Verständnisses bildete“ 61 – mit einem klaren systematischen Interesse Cassirers kreuzt: Offenbar kann der Kant-Interpret, dem das „Problem der Urteilskraft“ auf den ersten Blick beinahe mit dem „Problem der Begriffsbildung zusammen[zu]fallen“ scheint 62, an die Erörterungen der Kants Leben und Lehre = ECW 8 ( im Folgenden zitiert als ‚KLL‘), Kapitel 6. – Den äußeren Anlass für Cassirers intensivere Beschäftigung mit der dritten Kritik bildete der Abschluss der Marburger Kant-Neuausgabe, für die Cassirer Kants Leben und Lehre als Ergänzungsband veröffentlichte. Vgl. zur Einführung in die Thematik Ernst Wolfgang Orth: „Die Bedeutung der ’Kritik der Urteilskraft’ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 176–189. 61 KLL 262 f. – Muriel van Vliet hat bereits darauf hingewiesen, dass „Cassirer veut explicitement lire Kant dans cette perspective [goethéenne]“ (Vliet: La forme selon Ernst Cassirer, S. 27 ff.:) 29. 62 Vgl. KLL 265: „Die erste Definition, die Kant von der Urteilskraft als einem a priori gesetzgebenden Vermögen gibt, weist ihrem Wortlaut nach eher auf ein Problem 60
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dritten Kritik überall auch mit Fragen, die sein eigenes Denken in dieser Zeit bewegen, gewinnbringend anknüpfen. Entsprechend legt Cassirer Wert darauf, das von Kant aufgeworfene naturtheoretische Problem zunächst „lediglich seinem reinen Sachgehalt nach“ 63 zu entfalten, bevor er die kantische Darstellung und ihre Grundbegriffe überhaupt als solche thematisiert. Als wesentlich erscheint ihm dabei insbesondere die Frage nach dem „konkrete[n] Aufbau der empirischen Wissenschaft“, die – sehr im Unterschied zur Frage nach der „Gesetzlichkeit der Erscheinungen überhaupt“ – durch den Verweis der Kritik der reinen Vernunft auf die Spontaneität des menschlichen Verstandes und seine Rolle als ‚Gesetzgeber‘ der Natur noch keineswegs „aufgehört“ habe, „ein Rätsel zu sein“. 64 Auf dem Weg der allmählichen Erschließung der Erfahrungswelt mittels Experiment und Beobachtung gelange der Mensch nämlich „nicht nur schlechthin zu irgendeiner Ordnung des Geschehens, sondern zu einer für unseren Verstand übersichtlichen und faßlichen Ordnung“, die sich „aus reinen Verstandesgesetzen allein nicht a priori als notwendig erweisen und einsehen“ lasse. 65 Hier holt Cassirer nun ein Problem wieder ein, das in der in Substanzbegriff und Funktionsbegriff entwickelten Theorie der Begriffsbildung noch vor allem nach seiner negativen Seite in Betracht gekommen war, dem jedoch der Autor der Philosophie der symbolischen Formen später durchaus auch einen positiven Gehalt abgewinnen kann, nämlich das Problem der „Klassenbegriffe“, die, wie Cassirer feststellt, in aller empirischen Naturforschung eine entscheidende Funktion erfüllen, besonders aber in „der Biologie und . . . jeglicher beschreibenden Naturwissenschaft“ 66. Für den auf diese Funktion reflektierenden Transzendentalphilosophen steht dabei zwar einerseits von Anfang an fest, dass die Prämisse jeder derartigen Naturforschung, das „schlechthin unübersehbar[e] Material von Einzeltatsachen . . . nach bestimmten Gesichtspunkten gliedern“ und daraufhin „in »Arten« und »Unterarten« einteilen“ zu können, letztlich „nur eine Forderung an die Erfahrung [bedeutet], zu deren Erfüllung diese in der allgemeinen »formalen« Logik als auf eine Grundfrage hin, die dem Kreise der Transzendentalphilosophie angehört. . . . Das Problem der Urteilskraft würde gemäß dieser Erklärung mit dem Problem der Begriffsbildung zusammenfallen.“ 63 KLL 283. 64 Vgl. KLL 280. 65 KLL 281 (Kursivierung F. S.). 66 KLL 281 f. – Das Problem der „klassifizierenden Begriffsbildung“ behandelt Cassirer später vor allem in seiner Analyse der symbolischen Form der Sprache als eine ihrer grundlegenden Funktionen: Vgl. PhsF 1, S. 249 ff. sowie »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt«, in: ECW 18, S. 111–126.
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keiner Weise verpflichtet scheint.“ 67 Sofern jedoch das empirisch-wissenschaftliche Denken selbst (wir dürfen ergänzen: in der spezifischen Richtung seiner Produktivität) als solches „unbeirrt durch alle Erwägungen philosophischer und erkenntniskritischer Natur“ bleiben kann, „zögert [es] nicht im geringsten, diese Forderung zu stellen und sie am Gegebenen sogleich zur Durchführung zu bringen“: 68 „Es sucht in dem absolut Einzelnen nach Ähnlichkeiten, nach gemeinsamen Bestimmungen und »Merkmalen«, und es läßt sich von dieser seiner ursprünglichen Richtung durch keinen scheinbaren Mißerfolg abwendig machen. Hat ein bestimmter Klassenbegriff sich nicht bewährt, wird er durch neu auftretende Beobachtungen widerlegt, so muß er freilich durch einen andern ersetzt werden; das Verknüpfen zu »Gattungen« und das Sondern in »Arten« als solches aber bleibt von all diesen Geschicken, denen die Einzelbegriffe unterliegen, unberührt. Hier entdeckt sich also eine unabänderliche Funktion unserer Begriffe, die ihnen zwar keinen bestimmten Inhalt vorweg vorschreibt, die aber für die gesamte Form der beschreibend-klassifikatorischen Wissenschaften entscheidend ist.“ 69
Eine solche Würdigung der klassifizierenden Begriffsbildung nach den „Ähnlichkeiten und Unterschiede[n]“ des „Besonderen selbst“ stellt im Denken Cassirers, der immerhin einige Jahre zuvor noch mit Nachdruck gegen die „Einseitigkeit“ argumentiert hatte, mit der die psychologische Abstraktionstheorie des Begriffs „aus der Fülle der möglichen Prinzipien wechselseitiger logischer Zuordnung lediglich das Prinzip der Ähnlichkeit herausgreift“, zweifellos ein Novum dar. 70 Einen ‚Bruch‘ mit den Ergebnissen von Substanzbegriff und Funktionsbegriff brauchen wir Cassirer deshalb jedoch nicht zu unterstellen; im Gegenteil scheint mir hier gerade KLL 282. KLL 282 (Kursivierung F. S.). – Siehe zu diesem Unterschied zwischen ›produktiver‹ und ›reflexiver‹ Wissensperspektive Kapitel 1.3. 69 KLL 282. 70 Vgl. SuF 14 f.: „Die Identität [einer] erzeugenden Relation, die bei aller Veränderlichkeit der Einzelinhalte festgehalten wird, ist es, die die spezifische Form des Begriffs ausmacht. Ob aus der Festhaltung dieser Identität der Beziehung dagegen zuletzt ein abstrakter Gegenstand, ein allgemeines Vorstellungsbild sich entwickelt, in dem die ähnlichen Züge vereint sind, ist lediglich eine psychologische Nebenfrage, die die logische Charakteristik des Begriffs nicht berührt. . . . Entscheidend ist in jedem Falle lediglich die Notwendigkeitsrelation, die damit geschaffen wird, und für die der Begriff nur der Ausdruck und die Hülle ist, nicht die Gattungs vorstellung, die sich unter besonderen Umständen nebenher einstellen mag, die aber in die Definition nicht als wirksamer Bestandteil eingeht.“ 67 68
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sein auch im neuen Kontext differenzierter Umgang mit den als grundsätzlich verschieden erkannten Fragen nach den allgemeinen Geltungsgründen naturwissenschaftlicher Welterkenntnis und nach dem konkreten produktiven Werden der (Einzel-)Wissenschaft die methodische Kontinuität mit dem Frühwerk zu belegen: 71 Gerade weil es in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ja eigentlich nur die erste (geltungstheoretische) Frage war, die Cassirers philosophische Reflexion mit ihren Argumenten für den funktionsbegrifflich-konstruktiven Charakter der mathematischen Begriffsbildung beantwortet hatte, kann er jetzt mit Kant die zweite Frage nach der empirisch-wissenschaftlichen Produktivität auch auf die nichtmathematischen Aspekte unseres Naturerkennens erweitern, zu denen insbesondere die Aufstellung biologischer »Klassenbegriffe« gehört. Die geltungstheoretische Grundlegung der mathematisch-exakten Naturerkenntnis in einer allgemeinen Theorie der Funktionsbegriffe bleibt somit auch durch die systematischen Überlegungen in Kants Leben und Lehre unangetastet; und doch kann Cassirer nun daneben mit Kant auch die „beschreibende“ Theoriebildung der Lebenswissenschaften als eine eigene Form der ‚Wissensproduktion‘ anerkennen, die sich in ergänzenden transzendentalphilosophischen Betrachtungen entsprechend reflektieren lässt. Nun ist die affirmative Haltung gegenüber Kants Umgang mit der Frage nicht dasselbe wie ihre systematische Erörterung in eigener Sache, zu der natürlich eine Auseinandersetzung mit dem (damaligen) Stand der einschlägigen naturwissenschaftlichen Forschung gehört hätte. Eine solche Auseinandersetzung bleibt Cassirer zwar weiterhin schuldig. Das Kant-Buch von 1918 ist trotzdem auch für die Entwicklung von Cassirers eigener Positionierung aufschlussreich, und zwar mit Blick auf jenes Problem, in dem wir an früherer Stelle 72 einen möglichen Grund für den Abbruch des konstruktiven Systemaufbaus der Naturwissenschaften in Substanzbegriff und Funktionsbegriff nach der Diskussion der (anorganischen) Chemie erkannt hatten – dem Problem nämlich, dass die Möglichkeit eines Abgleichs der Perspektiven von einzelwissenschaftlicher Wissens-Produktion und philosophischer Reflexion und eines Übergangs zwischen beiden, wie Cassirers transzendentale Erkenntniskritik sie überall voraussetzt und fordert, in den systematisch ‚nach‘ der Chemie angesiedelten Wissenschaften des Lebens kaum gesichert schien. Gerade gegenüber diesem Problem bewährt nun Cassirers Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft ihre eigentliche Fruchtbarkeit: Gleich zu 71 72
Vgl. dazu §§ 7f. Siehe § 10 oben.
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Anfang seiner Interpretation macht Cassirer nämlich seinen Anspruch ganz klar, trotz der scheinbaren Uneinheitlichkeit des „Faktums“, auf das Kants Untersuchung sich bezieht, den „tiefere[n] Zusammenhang“ zwischen ihrer formalen Zweiteilung in die Untersuchung von „ästhetischer“ und „teleologischer“ Urteilskraft und einem einheitlichen „sachlichen Grundproblem“ aufzuweisen; und indem ihm dies gelingt, lenkt die Kant-Interpretation Cassirers Aufmerksamkeit zugleich auf die Option einer ganz neuen systematischen Einordnung der Naturwissenschaft vom Leben. So denkt Cassirer die klassifizierende Begriffsbildung, wie sie für jene Wissenschaften typisch ist, nun dezidiert nicht mehr, wie dies die Substanzbegriff und Funktionsbegriff noch vorauszusetzen schien, in geradliniger Fortsetzung der „konstruktiv erzeugte[n]“ mathematisch-geometrischen Erkenntnissystematik, sondern er erkennt und anerkennt in ihr mit Kant einen „völlig anderen Sachverhalt . . . und damit ein gänzlich neues Problem“: Über die reine Begriffstheorie hinaus müsse sich, wie Cassirer explizit feststellt, auch eine Theorie der Naturwissenschaft mit Blick auf deren „empirischen Aufbau“ konkret der Frage zuwenden, wie es möglich sei, „daß nicht nur das Gesamtgebiet der »reinen Anschauungen«, sondern auch das Gebiet der Empfindungen und Wahrnehmungen selbst sich einem System einfügen lasse“. 73 Dass, wenn es sie denn gäbe, eine solche Systematik des Sinnlichen selbst, die nicht gleich der begrifflichen auf die ordnungsstiftende Leistung spontaner Verstandeskonstruktionen zurückgeführt werden kann, in Ermangelung anderer Klassifikationsprinzipien tatsächlich an den „Ähnlichkeiten“, den „gemeinsamen Bestimmungen und »Merkmalen«“ der einzelnen Sinnesgegenstände anknüpfen müsste, liegt auf der Hand. Die Möglichkeit einer solchen Systematik und der Sinn ihrer Aufstellung ist dabei aber nach Cassirer, der hierzu wiederholt ein Argument aus Kants erster Einleitung in die Kritik der Urteilskraft referiert 74, zuletzt nur verständlich unter der Voraussetzung einer gewissen ZweckmäßigKLL 279. Vgl. KLL 286 f.: 287: „Wäre die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetze so groß, daß es zwar möglich wäre, einzelne von ihnen einem gemeinsamen Klassenbegriffe unterzuordnen, niemals aber die Allheit von ihnen in einer einheitlichen, nach Graden der Allgemeinheit geordneten Stufenfolge zu begreifen: so hätten wir an der Natur, auch wenn wir sie dem Kausalgesetz unterworfen dächten, doch nur ein »rohes chaotisches Aggregat«. Dem Gedanken einer solchen Formlosigkeit aber tritt nun die Urteilskraft, nicht mit einem absoluten logischen Machtspruch, wohl aber mit der Maxime, die ihr als Antrieb und als Wegweiser in all ihren Untersuchungen dient, gegenüber. Sie »präsumiert« eine weitergehende Gesetzmäßigkeit der Natur, die nach bloßen Verstandesbegriffen zufällig heißen muß, die sie aber »sich selbst zugunsten annimmt«.“ 73 74
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keit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen insgesamt – also unter der teleologischen Hypothese, als habe sich gleichsam die Natur selbst eine Ordnung von solcher Art gegeben, dass sich der Zusammenhang ihrer Erscheinungen (über ihre generelle Verständlichkeit im Ganzen hinaus) auch im Einzelnen als ein uns „faßlich[er]“ 75 gestalte. Eine solche Voraussetzung scheint freilich auf den ersten Blick problematisch, wenn man wie Cassirer davon ausgeht, dass die „allumfassend[e] Geltung des Kausalprinzips“ im kantischen Naturbegriff keinerlei „Lücke“ lasse, in die eine teleologische Erklärung der Phänomene „sich einschieben“ und in der sie einen eigenen Geltungsbereich beanspruchen könnte: „Es gibt nur ein Prinzip und ein Ideal der Naturerklärung, und dieses ist durch die Form der mathematischen Physik bestimmt.“ 76 In der Kritik der Urteilskraft sei es Kant jedoch gelungen, dieses Dilemma aufzulösen, indem er einerseits am Ausschluss jedes konstitutiven Gebrauchs des „Zweckprinzips“ als Erklärungsgrund der Naturerscheinungen strikt festhalte, um damit andererseits die Grenzen seines „legitime[n] Gebrauch[s]“ als eines regulativen Prinzips der (produktiv fortschreitenden) empirischen Naturforschung abzustecken; und es ist für Cassirer erst dieser Gesamtzusammenhang, aus dem der teleologischen Naturauffassung schließlich eine eigene „Art »objektiver« Gültigkeit“ erwächst: „Das Zweckprinzip . . . dient nicht zur Überwindung der kausalen Deutung der Phänomene, . . . sondern es bereitet sie vor, indem es ihr die Erscheinungen und Probleme bezeichnet, an denen sie einzusetzen hat. Daß aber innerhalb der Phänomene der organischen Natur eine solche Vorbereitung fruchtbar, ja unerläßlich ist, ist leicht zu zeigen. Denn die unmittelbare Anwendung des Kausalprinzips und der allgemeinen Kausalgesetze findet hier, so wenig daran gedacht werden kann, sie zu bestreiten, doch zunächst keinerlei Inhalt vor, an dem sie ausgeübt werden könnte. Die Gesetze der Mechanik und Physik handeln nicht von »Dingen« der Natur, wie sie sich der Beobachtung unmittelbar darbieten, sondern sie sprechen von »Massen« und »Massenpunkten«. Der Gegenstand muß all seiner sonstigen konkreten Bestimmtheit entkleidet, er muß auf die reinen Abstraktionen der analytischen Mechanik zurückgeführt sein, wenn die Möglichkeit bestehen soll, ihn unter dergleichen Gesetze unterzuordnen. Wo wir es dagegen, wie in den Erscheinungen der organischen Natur, mit der Materie . . . als Substrat der Lebenserscheinungen zu tun haben, wo die Naturform in ihrer ganzen inneren Komplexion unser eigent75 76
Vgl. KLL 281. KLL 328 (Kursivierung F. S.).
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liches Absehen bildet – da muß, ehe die kausale Ableitung des Einzelnen überhaupt in Angriff genommen werden kann, zunächst rein beschreibend das Ganze bezeichnet und herausgehoben werden, an welches sich die Frage richtet. Aus dem allgemeinen Inbegriff des räumlich-zeitlichen Daseins, in welchem prinzipiell genommen alles mit allem in Verbindung stehen kann, müssen irgendwelche spezifisch-bestimmte Einzelreihen herausgelöst werden, deren Glieder eine besondere Form der Zugehörigkeit zueinander aufweisen. Diese Funktion ist es, die der Zweckbegriff erfüllt. Er dient nicht, wie die Grundbegriffe der mathematischen Physik, der »Deduktion«, sondern der »Induktion«, nicht der »Analyse«, sondern der »Synthese«.“ 77
Auch hier kann es auf den ersten Blick wieder so scheinen, als habe Cassirer sich hier verglichen mit der Wissenschaftstheorie von Substanzbegriff und Funktionsbegriff , die die hauptsächliche Leistung der (Funktions-)Begriffe in der Naturwissenschaft noch in der Applikation mathematischer Begriffsreihen auf Beobachtungen zum Zwecke ihrer kausalanalytischen Erklärung zu sehen schien, eine grundlegend neue Perspektive erschlossen und insofern einen ‚Bruch‘ oder zumindest eine Wende eingeleitet. Aber ist es wirklich ein völlig neuer Gedanke, wenn Cassirer hier die spätere Kausalanalysen erst in ihrer Möglichkeit „vorbereitende“ „Herauslösung“ bestimmter „Erscheinungen und Probleme“ aus der Gesamtheit unserer sinnlichen Welterfahrung als eine allgemeine Funktion des „Zweckprinzips“ anspricht? Ich meine nicht; vielmehr scheint mir diese Zuschreibung in der Sache (die eben zunächst nur den genetischen Aufbau des wissenschaftlichen Weltbilds betrifft) wieder auf dieselbe symbolische Synthesis eines Ganzen der Erscheinung nach seinem konkreten anschaulichen Zusammenhang hinauszulaufen, die Cassirer früher schon einmal als die wichtigste positive Leistung des – Substanzbegriffs herausgearbeitet hatte. 78 Was die Interpretation der dritten Kritik Cassirer unter dem geänderten Titel der „Zweckmäßigkeit“ ermöglicht, wäre dann aber nichts anderes als eine vertiefende Analyse der schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff als sinnmäßigen Hintergrund des „Substanzdenkens“ thematisierten komplexen Grundfunktion unserer Erkenntnis, die Welt in Form individueller Anschauungseinheiten zu gliedern, diese Einheiten mit Rücksicht auf bestimmte charakteristische Anschauungsmomente zu Ähnlichkeitsklassen zusammenzufassen, ihre Mannigfaltigkeit auf diese Weise überschaubar („fasslich“) zu machen und so in ge77 78
KLL 330. Siehe dazu oben auf S. 57.
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netischer (!) Hinsicht am Ende auch den funktionalen Systembau der wissenschaftlichen Erkenntnis im und am Sinnlichen erst „vorzubereiten“ (ohne dass damit irgendeine Ableitbarkeit dieses Letzteren aus jener Grundfunktion behauptet würde, da ja vielmehr schon diese ganze Beschreibung entscheidenden Gebrauch von ‚funktionsbegrifflichem‘ Vokabular macht). Zugegeben: In Kants Leben und Lehre findet sich kein Hinweis auf diesen Zusammenhang – nicht einmal dort, wo Cassirer sich im Rahmen einer problemgeschichtlichen Einordnung der Fragestellung der Kritik der Urteilskraft vergleichsweise eingehend mit demjenigen Denker auseinandersetzt, dessen Name mit dem Terminus der Substanz auf das Engste verbunden ist: Aristoteles. 79 Es ist eine andere Nuance der aristotelischen ὀυσία, an die Cassirer anknüpft, wenn er das Problem der „ individuellen Formung des Wirklichen“ 80 als das eigentliche Zentralproblem der dritten Kritik identifiziert und mit Blick auf Kants Formulierung desselben mithilfe des Begriffs der Zweckmäßigkeit festhält, dass erst das „völlig[e] [F]ern[]halten“ aller Assoziationen „des bewußt Zweckhaften, des absichtlich Erzeugten“ von diesem Begriff seine eigentliche kritische Bedeutung erschließe, sodass ‚Zweckmäßigkeit‘ bei Kant bloß auf „die Umschreibung und die deutsche Wiedergabe desjenigen Begriffs“ hinauslaufe, „den Leibniz innerhalb seines Systems mit dem Ausdruck der »Harmonie« bezeichnet hatte.“ 81 Cassirer scheint hier sehr gezielt die Strategie zu verfolgen, das antike Problem der ‚substantiellen Formen‘, in dem die Fragen nach Sein, Zweck und Form noch zusammenliefen, durch die forcierte Trennung in ‚Substanzproblem‘ und ‚Formproblem‘ von allen ontologischen Implikationen zu befreien, um so in der Verwerfung des ersteren das letztere als gültiges Thema für eine transzendentale Reflexion zu etablieren. Die Entscheidung für diese Strategie ist textpragmatisch nachvollziehbar – drohte doch die Kant-Interpretation ansonsten bei einer (wie sehr auch immer bedingten) Einräumung von ‚substantiellen‘ Aspekten unseres Naturerkennens gerade in der Frage einer vermeintlichen ‚Versöhnung‘, gar eines ‚Anschlusses‘ an dogmatische Traditionen missverständlich zu werden, der Kants (und eben auch Cassirers) Teleologiekritik offensiv entgegentritt –; sie ist ferner auch inhaltlich naheliegend, wenn wir Cassirers eigene Tendenz seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff bedenken, den Substanz- mit dem Dingbegriff zu identifizieren, was ihm auch dessen Eignung zur Beschrei79 80 81
Vgl. KLL 265–272. KLL 276. Ebd.
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bung der Lebenserscheinungen am Ende zweifelhaft erscheinen lassen mochte; und doch darf man an dieser Stelle fragen, ob sich Cassirer mit Blick auf den von ihm angestrebten Nachweis des Zusammenhangs von ästhetischer und teleologischer Urteilskraft mit dem Radikalausschluss des ganzen materiell-zweckhaften Aspekts aus seiner Interpretation wirklich einen Gefallen tut: Den Gedanken einer echten theoretischen Gleichwertigkeit beider Seiten jedenfalls scheint Cassirer mit seiner Konzentration auf „Form“ statt Sein, „Harmonie“ statt Zweck von Anfang an zugunsten eines stärkeren Gewichts auf der Ästhetik aufgegeben zu haben. Gleichzeitig schlägt seine Interpretation damit jedoch einen Weg ein, der sich für ihn selbst durchaus nicht nur mit Blick auf ästhetische Fragestellungen als fruchtbar erweist, sondern ihn mittelbar auch näher an die Fragen der lebendigen Natur und ihrer Erkennbarkeit durch uns heranführt – und zwar genau in der Weise, die sich ihm seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff immer deutlicher als die einzig mögliche herausgestellt hatte: Komplementär zur intensivierten Berücksichtigung der für die Produktivität der „beschreibenden“ Disziplinen wesentlichen Begriffsform der „Klassenbegriffe“ wird die Interpretation der dritten Kritik nämlich vor allem darin für Cassirer bedeutsam, dass sie ihn zu einer Vertiefung seines Reflexionsbegriffs veranlasst. Wir erinnern uns: In Substanzbegriff und Funktionsbegriff bezeichnete dieser Begriff (bei allem Gewicht, das Cassirer von Anfang an auf den Gedanken eines dialogischen Austauschs der Wissensperspektiven legte) gewissermaßen doch immer den Gesichtspunkt einer Beurteilung des wissenschaftlichen Weltbegriffs von außen, einschließlich der (selbst)kritischen Frage nach den angemessenen Kategorien für eine solche deutende Beurteilung, die dabei aber jedenfalls eine begriffliche sein musste. Die kantische Problematik der „reflektierenden Urteilskraft“ scheint Cassirer nun demgegenüber auf eine ganz andere Funktion unserer ‚Reflexivität‘ hinzuweisen, indem die Reflexion hier zum ersten Mal in bestimmter Weise als innerer Faktor im „Aufbau“ und in der „Vorbereitung“ dieses Weltbegriffs selbst in Betracht kommt: Die Reflexion am Sinnlichen, um die es hier geht, rekurriert überhaupt nicht mehr auf anderwärtig verfügbare Begriffe und Urteile, sondern erfüllt vielmehr als echte Primärleistung des Bewusstseins bereits bei deren Herausbildung eine konstituierende Funktion. In der genetischen Gesamtperspektive erweist sich die sinnlich-beurteilende ‚Reflexion‘ damit auch als eine wesentliche Triebkraft der empirisch-einzelwissenschaftlichen ‚Produktivität‘ – solange jedenfalls, wie sie zugleich als ein solcher Faktor begriffen ist, der auch mit dem begrifflich-reflektierten Ganzen
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der Naturerkenntnis in „beständige[r] Wechselwirkung“ steht und stehen muss. 82 In der Kritik der Urteilskraft macht Cassirer diesen neuen Aspekt konkret an Kants erweitertem Begriff des „Verstandes“ fest, der Kant nun in neuer Rolle als „Vermögen der Grenzsetzung schlechthin“ 83 in den Blick komme. In dieser seiner „allgemeinsten Bedeutung“ wird der kantische Verstandesbegriff nun für Cassirer zum Ausdruck eines doppelten Funktionspotentials: Denn die durch den Verstand geleistete „Grenzsetzung“ kann zwar, aber sie muss nicht zur „Vorbereitung“ einer späteren bestimmenden Einreihung der Phänomenkomplexe unter allgemeine Klassenbegriffe dienen (in der die Begrenzung des konkreten Einzelnen im Hinblick auf ein Allgemeines wieder relativiert wird); vielmehr erlaubt sie auch ein „Festhalten“ der besonderen Erscheinung in ihrem „reinen Gegenwartswert“ 84 zum Zwecke ihrer ästhetischen Beurteilung. Nur die erste Funktion ist also eigentlich diejenige, in der der Verstand zur empirischen Produktivität der Wissenschaft beiträgt; in der zweiten entfaltet er – als ‚Kunstverstand‘ – eine Produktivität von ganz anderer und eigener Art; und interessanterweise scheint es für Cassirer in dieser Gegenüberstellung nicht jene ‚protowissenschaftliche‘, sondern vielmehr diese ästhetische Funktion zu sein, in der der reflektierende Verstand „die fließend immer gleiche Reihe der Bilder belebend abteilt“. 85 Entsprechend seiner zweiteiligen Frage nach der Systematizität unserer „Empfindungen und Wahrnehmungen“ 86 kann Cassirer die hier ins Spiel gebrachte Lebendigkeit weiterhin nach zwei verschiedenen Richtungen ausbuchstabieren: Erstens ist das ‚ästhetische Bewusstsein‘ – sei es als Vgl. KLL 335 f.: „In der teleologischen Betrachtung der Natur und der Organismen . . . findet zwischen dem Naturbegriff, den der Verstand entwirft, und demjenigen, den die teleologische Urteilskraft aufstellt, eine beständige Wechselwirkung statt. Das Zweckprinzip selbst ruft das Kausalprinzip herbei und weist ihm seine Aufgaben an. Wir können ein Gebilde nicht als zweckmäßig betrachten, ohne in Untersuchungen über die Gründe seines Entstehens verwickelt zu werden . . . wenngleich wir auf der andern Seite sicher sind, auf diesem Wege niemals zu einem endgültigen Abschluß der Frage zu gelangen. Für die Erkenntnis bedeutet aber ebendiese ständige Unabgeschlossenheit ihre eigentliche Fruchtbarkeit.“ 83 KLL 303. 84 Vgl. KLL 298: „Statt der Vereinzelung der Teile und ihrer Über- und Unterordnung zum Zwecke einer begrifflichen Klassifikation gilt es hier, sie sämtlich zumal zu ergreifen und in einer Gesamtansicht für unsere Einbildungskraft zusammenzuschließen; statt der Wirkungen, durch welche sie in die ursächliche Kette der Erscheinungen eingreifen und sich in sie fortsetzen, heben wir an ihnen lediglich ihren reinen Gegenwartswert heraus, wie er sich dem Anschauen selbst erschließt.“ 85 KLL 304 (Kursivierung F. S.). 86 KLL 279 (Kursivierung F. S.). 82
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rezipierendes, nach Maßgabe der je individuell empfundenen „Lust und Unlust“ beurteilendes, sei es als werktätig-schaffendes Künstlerbewusstsein – auf die emotionalen Tiefenschichten unserer Existenz, auf „unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl“ bezogen, das es am Kunstwerk als seinem „unvermittelte[n] Ausdruck“ prägnant reflektiert. 87 Und zweitens fokussiert es die phänomenalen Qualitäten der „Farbe, die ich sehe“ oder des „Ton[s], den ich höre“, die in den mathematisch-exakten Wissenschaften durch ihre „Umsetzung in die Sphäre von Maß und Zahl . . . als solche auf[hören] zu bestehen“ 88 – sodass die physikalische „Umsetzung“ der sinnlichen Phänomengehalte in bestimmtem Sinne immer auf ihre Ersetzung durch „bloß abstrakt[e] Zeichen“, der „Durchgang durch das begriff lich Objektive“ jedesmal auf den „Untergang“ der Phänomene hinausläuft –, während sich im Ästhetischen für sie eine Form der „allgemeine[n] Mitteilbarkeit von Subjekt zu Subjekt“ erschließt, die zumindest dieser Form der Mittelbarkeit nicht bedarf. 89 Wir stoßen hier bei Cassirer zum ersten Mal konkret auf ein Motiv, das an den Schriften der Hamburger Zeit seit einigen Jahren nachgewiesen ist: den Gedanken, dass für wesentliche Aspekte des Lebendigen, insbesondere diejenigen, die sich um den Begriff des ‚subjektiven Erlebens‘ gruppieren lassen, im Weltbild einer wesentlich mathematisch konstituierten Naturwissenschaft kein Raum bleibt – und dass deshalb im funktionalen Ganzen der Kultur der Kunst die besondere Rolle zukommt, dem dadurch drohenden Sinnverlust kompensierend entgegenzuwirken. 90 Erst von hier aus erklärt sich daher letztlich auch, wieso Cassirer sich gerade von Goethes Künstlerblick in den Fragen des Naturlebens Entscheidendes erhoffen kann: So sehr die Natur für ihn als Erkenntnisgebiet an die Geltungskriterien der (mathematisch-exakten) Wissenschaft gebunden bleibt, so kann sie ihm doch überhaupt erst dort als lebendige erscheinen und gelten, wo sie nicht bloß als wissenschaftlich-objektivierter Gesetzeskonnex, sondern zugleich „als Kunst“, als produktiv-schöpferisches Potential der Selbstorganisation angesehen wird. Dass Cassirer – und hier haben wir es nun ganz sicher nicht mehr ‚nur‘ mit dem Kant-InterpreVgl. KLL 305: „Im ästhetischen Zustand bringt die einzelne, gegenwärtige Anschauung oder der gegenwärtige Eindruck das Ganze der empfindenden und vorstellenden Kräfte zum unmittelbaren Mitschwingen. . . . [S]o stellt das vollendete Kunstwerk gleichsam mit einem Schlage jene Einheit der Stimmung her, die für uns der unvermittelte Ausdruck für die Einheit unseres Ich, für unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl ist.“ 88 KLL 306. 89 KLL 306 f. 90 Vgl. Recki: „Lebendigkeit als ästhetische Kategorie“. 87
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ten, sondern bereits mit dem sich formierenden Kulturphilosophen zu tun 91 – überhaupt den Anschlag zu einer solchen Kompensations- und Komplementaritätsfigur fassen kann, hängt dabei wesentlich mit seinem Verständnis der „subjektiven Allgemeinheit“ des ästhetischen Urteils zusammen, das die emotionalen und phänomenalen Aspekte des Erlebens insgesamt an einem neuen Begriff der Subjektivität zur Geltung bringt: „Die Allgemeinheit macht vor den Subjekten als einzelnen nicht halt: Denn so wahr diese Subjekte nicht nur in passiven sinnlichen Empfindungen oder in »pathologischen« Begehrungen dahinleben, sondern sich zum freien Spiel der Vorstellungskräfte zu erheben vermögen, so wahr betätigen sie darin sämtlich ein und dieselbe wesentliche Grundfunktion. In dieser Funktion, die das Ich erst eigentlich zum Ich macht, ist jedes Ich dem andern verwandt – und sie darf es daher in jedem andern voraussetzen. Das künstlerische Gefühl bleibt Ichgefühl: Aber ebenhierin ist es zugleich allgemeines Welt- und Lebensgefühl. . . . So steht das Subjekt hier in einem allgemeinen Medium, das dennoch ein völlig anderes ist als das Medium der Dinglichkeit, in welches uns die naturwissenschaftliche Betrachtung versetzt . . . so offenbart sich ihm hier ein neuer Kosmos, der nicht das System der Objektivität, sondern das All der Subjektivität ist. In diesem All findet es sich selbst sowohl wie die Individualität aller anderen beschlossen. Auf diese Weise löst das ästhetische Bewußtsein die paradoxe Aufgabe: ein Allgemeines hinzustellen, das kein Gegensatz zum Individuellen, sondern sein reines Korrelat ist, weil es nirgends anders als in ihm seine Erfüllung und Darstellung findet.“ 92
Es ist natürlich auch hier wieder kein Zufall, dass Cassirers Auszeichnung der ästhetischen Urteilskraft als einer „wesentliche[n] Grundfunktion“ des Menschen an die in seiner früheren Theorie der Begriffsbildung geEs ist die Kritik der Urteilskraft, die Cassirer mit Blick auf den Unterschied der „künstlerische[n] von der wissenschaftlichen Produktivität“, eine allgemeine Einsicht in die „systematische Bedeutungsdifferenz der Kulturgebiete“ vermittelt: „[D]arin liegt der entscheidende Unterschied, daß alles, was als wissenschaftliche Einsicht gelten will, sobald es mitgeteilt und begründet werden soll, hierfür keine andere Form als die des objektiven Begriffs und der objektiven Schlußfolgerung besitzt. Die Persönlichkeit des Schöpfers muß ausgelöscht werden, wenn die Sachlichkeit des Ergebnisses bewahrt werden soll. Einzig und allein im großen Künstler besteht diese Trennung nicht: Denn alles, was er gibt, erhält seinen eigentlichen und höchsten Wert erst durch das, was er ist. Er entäußert sich nicht an irgendeine Leistung, die dann als ein abgelöster Sachwert für sich allein fortbesteht, sondern er schafft in jedem besonderen Werk nur einen neuen symbolischen Ausdruck jenes einzigartigen Grundverhältnisses, das in seiner »Natur«, in der »Proportion seiner Gemütskräfte« gegeben ist.“ (KLL 310 f.). 92 KLL 307 f. (Kursivierung F. S.). 91
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wonnene Einsicht gemahnt, nach der unsere Verstandesbegriffe grundsätzlich als Funktionen eines erkennenden und handelnden Subjekts zu denken seien; gerade darin besteht eben ein wesentlicher Gewinn von Cassirers Auseinandersetzung mit der dritten Kritik, dass er jene Ansicht nun mit Kant auf die erweiterte Bedeutung des „Verstandes“ als einer auch schon im Sinnlichen selber ‚grenzsetzenden‘ Funktion unserer Spontaneität ausdehnen kann. Zugleich ist jedoch unverkennbar, dass sich Cassirers ursprünglich dem mathematischen Begriff der Funktion 93 entlehntes Modell des wissenschaftlichen Begreifens (als Unterordnung der Phänomene unter einen a priori konstruierten, also gleichsam extern gestifteten Gesetzeszusammenhang) der hier stattfindenden Erweiterung widersetzt; auf dem Spiel steht ja, kantisch gesprochen, gerade nicht mehr die subsumierende „Bestimmung“, sondern die „bloß reflektierende“ Beurteilung der Phänomene selbst, die dabei bewusst nicht in ein anderes Medium „umgesetzt“ und aufgelöst werden, sondern (zunächst mindestens) in ihrer sinnlichen Form und Spezifik erhalten bleiben sollen. Etwas anderes wäre es freilich, wenn eine solche Beurteilungsart an den Phänomenen selber gewisse Formen der „Zusammenstimmung der Teile zu einer Einheit“ 94 (und in diesem Sinne auch des ‚funktionalen‘ Zusammenhangs derselben untereinander) entdecken würde – was nach Kants Einsicht zwar eigentlich nur deshalb möglich ist, weil sie gemäß ihrem eigenen Funktionsprinzip von vornherein mit der Absicht an sie herantritt, „Zweckmäßigkeit“ in ihnen aufzusuchen –; wenn ihr aber diese Aufsuchung wirklich so gut gelänge, dass sie sich infolgedessen ganz ohne Rücksicht auf jene Einsicht (eigentlich vermöge der prinzipiellen Übereinstimmung der Subjekte und der daraus resultierenden „subjektiven Allgemeingültigkeit“ des Urteils) anmaßen würde, jene Zweckmäßigkeit wie einen Charakter der objektiven Beschaffenheit der Dinge selbst vorzustellen: Dann hätten wir den Fall einer Deutung der Natur in jenem Als-ob-Modus, die Cassirer schon zu Beginn seiner Auseinandersetzung an Kants Gedanken einer Technik der Natur hervorhebt: „[E]s gibt, wie Kant bemerkt, neben der Technik als einer künstlichen menschlichen Einzelveranstaltung, der immer der Schein der Willkür anhaften bleibt, auch eine Technik der Natur selbst: sofern wir nämlich die Natur der Dinge so ansehen, als ob ihre Möglichkeit sich auf Kunst gründe, oder mit anderen Worten, als ob sie der Ausdruck eines gestaltenden Willens sei. Allerdings ist eine solche Auffassungsweise nicht Siehe dazu meine an früherer Stelle eingeführte Unterscheidung von ‚Begriff der‘ und ‚Begriff als Funktion‘ in § 6, S. 70. 94 Vgl. KLL 276. 93
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schon durch den Gegenstand selbst gegeben – denn als Gegenstand der Erfahrung angesehen, ist die »Natur« nichts anderes als das Ganze der Erscheinungen, sofern es unter allgemeinen und somit mathematischphysikalischen Gesetzen steht –, sondern sie ist ein Standpunkt, den wir in der »Reflexion« einnehmen. Sie entspringt somit nicht der bloßen Erfassung des Gegebenen noch seiner Einreihung in kausale Zusammenhänge, sondern ist eine eigenartige und selbständige Deutung, die wir ihm hinzufügen.“ 95
Erst in diesem Problem einer „Formung zweiten Grades“ 96 der Naturerscheinungen in der Idee einer „Technik der Natur“ sieht Cassirer „die tiefere und umfassendere Frage . . . , mit welcher erst die Gesamtdisposition der »Kritik der Urteilskraft« sich vollendet“: „Wenn wir die Natur in der reflektierenden Urteilskraft so betrachten, als ob sie ihre allgemeinen Grundgesetze derart spezifiziere, daß sie sich für uns zu einer durchgängigen faßlichen Stufenordnung empirischer Begriffe zusammenschließen, so wird sie hierin als Kunst angesehen.“ 97 Die Natur der konkreten Einzelerscheinungen mit ihren je „besonderen Gesetzen“ erscheint, allein aufgrund eines Postulats, das wir in unserem sinnlich-empirischen Umgang mit ihr an sie herantragen, selber als Ausdruck zielgerichteter Selbstspezifikation und Selbstorganisation und in diesem Sinne „als Kunst“; dass aber die aufgrund ihrer ästhetischen Beurteilbarkeit lebendig erscheinende Natur andererseits überhaupt ihren Weg in wissenschaftliche Aussagezusammenhänge finden kann, d. h. auch als objektiv belebt gelten darf – das ermöglicht an dieser Stelle erst der „Mittelbegriff “ 98 einer „Technik der Natur“, der zwar ebenfalls bloß ein Postulat unserer Beurteilung darstellt, in seinem Absehen von jeder emotionalen Anteilnahme des Subjekts aber immer schon auf eine spätere Erkenntnis der Natur als eines Funktionssystems von Gesetz- und Regelmäßigkeit hinzielt und durch dieses nachträglich verifizierbar wird. Während verglichen damit das in der Analyse der ästhetischen Urteilsform erschlossene „All der Subjektivität“ seinen ästhetischen Charakter eben darin beweist, dass es in ihm tatsächlich nur um ‚Subjektives‘ zu gehen scheint, 99 erkennt Cassirer hier mit Blick auf die Verbindung der Ästhetik mit dem „Problem der NaturKLL 283–290: 285. Cassirer paraphrasiert hier die »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, in: AA XX, S. 193–251; insb. 200 f., 204 f. und 213 ff. 96 KLL 285. 97 KLL 290 (Kursivierung F. S.). 98 KLL 285. 99 Vgl. KLL 300: „[D]ie ästhetische Funktion fragt nicht danach, was das Objekt sei und wirke, sondern was ich aus seiner Vorstellung in mir mache“. 95
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zweckmäßigkeit“ in dem Als-ob-Gedanken der Natur als Technik auch ein objektivierendes Moment, vermöge dessen nun die ästhetische Urteilsform über ihren angestammten Gebrauch im Kunstgeschmack hinaus auch derart „auf das Bild der objektiven Wirklichkeit zurück[wirken]“ kann, dass sie darin „der Natur selbst den Gehalt des Lebens gibt“. 100 Sofern wir Cassirers Exegese auch hier im systematisch Wesentlichen zugleich als Ausdruck eigener Denkmotive werten dürfen, zeigt uns diese Lesart, warum auch für ihn selbst die Natur durchaus der Differenzierung in ‚lebendige‘ und ‚leblose‘ Momente bedarf – und warum sie gleichwohl nicht ‚an sich schon‘ in belebte und unbelebte ‚Reiche‘ zerfällt: weil diese ganze Einteilung selber vielmehr bloß ein Effekt unserer Beurteilung ihrer Organisationsformen im Hinblick auf ihre jeweilige ‚Zweckmäßigkeit‘ ist. Als ‚lebendig‘ gelten Phänomenkomplexe, die uns in ihren Eigenentwicklungen derart spezifisch, derart individuell, vor allem aber: in der Art ihrer Individualität derart unvorhersehbar und selbst ‚überraschend‘ erscheinen, dass wir gar nicht umhin kommen, jene Entwicklungen als Ausdruck gestaltbildender Selbsttätigkeit zu begreifen. ‚Leblos‘ dürfen wir dagegen Erscheinungen nennen, die wir, wie immer unerklärt im Einzelnen, dennoch aufgrund des Grades ihrer allgemeinen Regelmäßigkeit im Ganzen als lösbare Rätsel betrachten können, bei denen es nur darauf ankommt, wie wir uns ihre Eignung für unsere Erkenntnis konkret zunutze machen. Im ersten Fall wird die Natur selbst „als Kunst“ zum Gegenstand unserer ästhetischen Bewunderung, indem wir ihre anschauliche Zweckmäßigkeit auf eine dem technischen Handeln analoge Form der tätigen Selbstorganisation zurückführen; im zweiten nimmt sie erst durch uns und durch die wirklichen Techniken, die wir ihrer konkreten Erforschung zugrunde legen, den Charakter eines für unsere begriffliche Erkenntnis zweckmäßigen Systems an. 101 In diesem Zusammenhang ergibt sich nun in Cassirers Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft noch ein weiterer und für sein eigenes Verständnis der lebendigen Natur folgenreicher Aspekt. Im Anschluss an seine Explikation der Relevanz des ästhetischen Bewusstseins für unsere Auffassung der Natur als lebendige bestimmt Cassirer nämlich den Begriff der organischen „Entwicklung“ derart, dass wir durch KLL 321 (Kursivierung F. S.). Auf diese Weise entschärft sich nun auch der scheinbare Dualismus in Cassirers Naturbegriff, auf den uns die Problematik einer Erkenntnis der lebendigen Natur in § 10 geführt hatte, als „Amphibolie eines Reflexionsbegriffs“: Die Einheit der Erfahrung bleibt bei aller perspektivischen Dualität, die unser Bild der Natur in der reflektierenden Urteilskraft erhält, durch die Funktionseinheit unseres eigenen Lebens in der Diversität seiner produktiven Betätigungen verbürgt. 100 101
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ihn „[e]in Naturgeschehen . . . nicht als bloßen Ablauf verschiedenartiger Einzelheiten“, sondern als Gesamtheit der „Ausdrücke . . . eines »Wesens« [denken], das sich in ihnen nur in mannigfachen Bildungen offenbart“ 102. So habe auch Kant die teleologische „Erklärung, die bereits Aristoteles [vom Organismus] gegeben hatte“, 103 einerseits als ein „reines Faktum“ unserer Weltbeurteilung anerkannt, aber zugleich kritisch eingeschränkt auf die in den „Bedingungen unserer Erkenntnis“ gegründete Notwendigkeit, „eine »Dingform« [!] zu setzen und anzunehmen, die sich von der des Körpers der abstrakten Mechanik unterscheidet und über sie hinausgeht“ 104. Cassirer scheint hier den Zusammenhang von teleologischer und ästhetischer Weltbeurteilung bei Kant so zu deuten, dass infolge der notwendigen Bezogenheit der letzteren (eben als ästhetischer) auf jeweils einzelne Anschauungsgegenstände (z. B. Kunstwerke) auch die erste in ihrer Geltung auf die einzelne Naturerscheinung im Sinne einer „Dingform“ eingeschränkt bleibt: ‚Natürliches Leben‘ bedeutet für Cassirer primär immer nur das Leben individueller Organismen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Cassirer den „regulativen“ Sinn des Zweckprinzips bei Kant ganz auf den Ansporn für uns reduziert, „die Kenntnis und die Anschauung der individuellen Formen der Natur . . . stetig [zu] erweiter[n] und [zu] vertief[en]“ 105 – und dass er, nachdem er an der Frage nach dem „»Wie« des Übergangs von einem zum andern“ sowohl das Kausal- als auch das Zweckprinzip als vor einem letzten „Geheimnis“ versagen sieht, das uns die wissenschaftliche Methode niemals eigentlich „enträtseln“ könne, es nur noch als eine „Tatsache aus[]sprechen“ kann, dass „überhaupt . . . individuell[e] »Keime« vorhanden sind, daß es ursprüngliche, voneinander spezifisch unterschiedene Bildungen gibt, die der Entwicklung zugrundeliegen.“ 106
Vgl. KLL 323 (Kursivierung F. S.): „Denn das eben bezeichnet den Begriff des Lebens: daß in ihm eine Art der Wirksamkeit angenommen wird, die nicht von der Vielheit zur Einheit, sondern von der Einheit zur Vielheit, nicht von den Teilen zum Ganzen, sondern vom Ganzen in die Teile geht. Ein Naturgeschehen wird uns zum Lebensprozeß, wenn wir es nicht als bloßen Ablauf verschiedenartiger Einzelheiten denken, deren eine sich an die andere reiht, sondern wenn alle diese Besonderheiten für uns Ausdrücke eines Geschehens und eines »Wesens« sind, das sich in ihnen nur in mannigfachen Bildungen offenbart. Die Richtung auf eine derartige Einheit des Wesens im Unterschied vom bloßen Abrollen gegeneinander gleichgültiger Begebenheiten ist dasjenige, was für uns den Charakter der »Entwicklung« ausmacht.“ 103 KLL 323. 104 KLL 324. 105 KLL 336 (Kursivierung F. S.). 106 KLL 332. 102
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Noch einmal einen Schritt weiter geht gar Cassirers Formulierung, „alle Teile des Organismus“ seien „wie auf ein einziges Zentrum gerichtet; dieses Zentrum aber ruht in sich und bezieht sich gleichsam nur noch auf sich selbst.“ 107 Eine solche Aussage findet sich freilich bei Kant nicht mehr; hier sehen wir Cassirer eher als Leibnizianer sprechen, der die zunächst aus nachvollziehbaren Gründen in den Vordergrund gestellte Subjektivität des Lebens zu einem geradezu monadischen Begriff desselben übersteigert – oder auch als Goetheaner, der vom Naturforscher fordert, sich gegenüber dem „Urphänomen“ der individuellen Lebenserscheinung zu „beruhigen“ und zu „bescheiden“ 108. Um diese Lesart als eine gültige Interpretation der Kritik der Urteilskraft auszuweisen, kann sich Cassirer zwar noch auf den tatsächlich von Kant eingeführten Unterschied von „innerer“ und „äußerer“ Zweckmäßigkeit berufen. Dabei muss jedoch seine mit Bestimmtheit vorgetragene These, dass für Kant überhaupt nur die „inner[e] Zweckmäßigkeit, welche keinen andern Vergleichspunkt als die Erscheinung selber und den Aufbau ihrer Teile verlangt“, 109 wissenschaftliche Geltung beanspruchen könne, gerade die eine Ausnahme, die Kant selbst von diesem Grundsatz einräumt, geflissentlich übersehen: nämlich den allerdings signifikanten Fall, in dem sich in der organischen Form des Einzelnen unmissverständlich seine Partizipation am Gattungsleben artikuliert. So heißt es in der Kritik der Urteilskraft ausdrücklich: „Es giebt nur eine einzige äußere Zweckmäßigkeit, die mit der innern der Organisation zusammenhängt und, ohne daß die Frage sein darf, zu welchem Ende dieses so organisirte Wesen eben habe existiren müssen, dennoch im äußeren Verhältniß eines Mittels zum Zwecke dient. Dieses ist die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zur Fortpflanzung ihrer Art; denn hier kann man immer noch eben so wie bei einem Individuum fragen: Warum mußte ein solches Paar existiren?
KLL 327. Vgl. KLL 341: „›Wenn ich mich bei’m Urphänomen zuletzt beruhige‹, so sagt Goethe einmal, ›so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Gränzen der Menschheit resignire oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornirten Individuums.‹ Für Kant ist die Erscheinung des organischen Lebens und die Idee des Zwecks, in der sie sich für unsere Erkenntnis ausdrückt, ein solches Urphänomen. Sie ist weder der Ausdruck des Absoluten selbst noch der einer bloß zufälligen und aufhebbaren subjektiven Beschränkung des Urteils: sondern sie führt bis an die ›Grenzen der Menschheit‹ selbst, um sie als solche zu begreifen und sich in ihnen zu bescheiden.“ 109 KLL 336. 107 108
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Die Antwort ist: Dieses hier macht allererst ein organisirendes Ganze aus, obzwar nicht ein organisirtes in einem einzigen Körper.“ 110
Über den Sinn dieser bemerkenswerten Sonderstellung, die Kant hier dem Fortpflanzungssystem als dem System, dessen „Zweckmäßigkeit“ selbst für eine Reflexion, die sich bewusst auf die ‚innere‘ Organisationsform des einzelnen Organismus beschränken will, über das individuelle Dasein gewissermaßen immer schon hinausreichen muss, zusprechen zu wollen scheint, kann man gewiss verschiedener Meinung sein (zumal sich ganz dasselbe Argument ja überhaupt auf alle nach außen gerichteten Funktionsorgane des Organismus von den Sinnes- bis zu den Verdauungsorganen anwenden ließe): Es ist aber wohl kein Zufall, dass sie gerade dort eingeführt wird, wo die zunächst an der Betrachtung der lebendigen Einzelwesen bewährte teleologische Perspektive auf die Natur erweitert wird zu einer allgemeinen Teleologie der lebendigen Gattungen. Da Cassirer aber aus seiner Rekonstruktion der dritten Kritik schon diesen Übergangsaspekt vollständig ausblendet, ist es schließlich auch nicht verwunderlich, dass er zu Kants Versuch, den „Zusammenhang der Natur“ insgesamt auch „im Übergang der Arten kenntlich zu machen“, außer lobenden Worten und einem langen Zitat nichts weiter zu sagen findet: Ganz im Sinne des Metamorphosen-Gedankens, zu dem der auch hier wieder in Anspruch genommene Goethe diese kantische Anregung machen wird, scheint er in diesem Vorstoß nur das Gleichnis zu sehen, das die Entwicklungsgeschichte der Natur im Ganzen bloß in einem rein ‚symbolischen‘ Sinn in Betracht zieht, um letztlich über die bildsame Natur des Einzelnen Auskunft zu erhalten. Von hier aus erscheint schließlich auch die Mahnung in einem neuen Licht, die Cassirer schon ganz zu Beginn seiner Interpretation der dritten Kritik vorausgeschickt hatte: sich „in der systematischen Beurteilung der Kantischen Gedanken“ nicht „allzu einseitig an jenen engen Begriff der »Entwicklung« [zu halten], der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb der wissenschaftlichen Biologie zur Geltung gekommen war.“ 111 Sofern diese Mahnung gegen eine Richtung des dogmatischen Darwinismus gerichtet ist, die nicht nur geneigt war, Kant (ebenso wie Goethe) zum „Darwinianer vor Darwin“ zu machen, sondern auch im Namen des Lebens alles und jedes durch untergeschobene Zweckbestimmungen zu „erklären“, macht Cassirer hier zweifellos einen richtigen und wichtigen Punkt geltend. Angesichts seiner auch mithilfe 110 111
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft § 82, S. 425. KLL 273.
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dieser Kritik begründeten ‚monadischen‘ Deutung des Theorems von der „inneren Zweckmäßigkeit“ muss man aber doch fragen, ob Cassirer nicht in seiner eigenen Naturkonzeption zu weit geht, wenn er der berechtigten Kritik am teleologischen Dogmatismus auch die als empirische alles andere als sinnlose Frage aufopfert – die wir nämlich nach seiner Meinung gar nicht zu fragen „brauchen“ – „woher das Leben“, in seiner auch generischen Diversität, „stammt“. 112 § 13 Das Problem Schelling. Romantische Naturphilosophie zwischen Ästhetizismus und Mythologie Zum vollständigen Bild der Einflüsse, die in den Jahren nach Substanzbegriff und Funktionsbegriff zur weiteren Ausdifferenzierung seiner Philosophie beitragen, gehört auch Cassirers Auseinandersetzung mit den „nachkantischen Systemen“ des deutschen Idealismus, die er im Umfeld des dritten Bands des Erkenntnisproblems unternimmt. 113 Angesichts regelmäßig erneuerter Versuche 114, die Philosophie der symbolischen Formen (vor allem mit Blick auf Hegel) im Sinne einer ‚Weiterführung‘ oder (partiellen) ‚Wiederanknüpfung‘ an diese Tradition zu lesen, ist zunächst zu betonen, dass keines dieser Systeme geeignet ist, Cassirer in irgendeinem Punkt von seinem Kantianismus abrücken zu lassen. 115 Im GegenKLL 345: „Wir brauchen nicht zu fragen, woher das Leben stammt, wenn wir nur die Gesamtheit seiner Formen und ihre stufenweise Gliederung in anschaulicher Klarheit und in begrifflicher Ordnung vor uns sehen. Es ist einer der tiefsten Züge der Kantischen Lehre, der sich in diesem Ergebnis noch einmal und von einer neuen Seite her ausspricht.“ – Ich werde auf diese Problematik in ?? zurückkommen. 113 EP 3, „Die nachkantischen Systeme“, erschien 1920. Die Fortsetzung des nach den beiden ersten Bänden zunächst abgeschlossenen Projekts „über den Kreis des Kantischen Systems hinaus“ geht nach Cassirers eigenen Angaben „nicht unmittelbar“ auf seine »geschichtlichen Interessen und Studien“ zurück: „Vielmehr war es die Beschäftigung mit den systematischen Problemen der modernen Erkenntniskritik, durch die ich zuerst auf den Zusammenhang hingewiesen wurde, der zwischen der Philosophie unserer Zeit und den nachkantischen Systemen besteht.“ (EP 3, S. VII, Kursivierung F. S.). 114 In der angloamerikanischen Welt hat sich um Donald Philipp Verene eine eigene Schule der Interpretation formiert, die Cassirers Philosophie bewusst „zwischen Kant und Hegel“ (Donald Phillip Verene: The Origins of the Philosophy of Symbolic Forms. Kant, Hegel, and Cassirer. Evanston 2011, S. viii; vorsichtiger äußert sich Verene ebd., S. 16) zu verorten versucht. Insbesondere Cassirers Auseinandersetzung mit dem Mythos begünstigt immer wieder Übertreibungen in diese Richtung, etwa bei Jonathan Westwood: „The Importance of Mythical Thought for the Development of Cassirer’s Phenomenology“. In: S. 190–218, S. 192. Vgl. mit ähnlichem Ansatz mit Blick auf die Sprachphilosophie jetzt auch Gregory S. Moss: Ernst Cassirer and the autonomy of language. Lanham 2015. 112
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teil: Der Kantianer nimmt um 1920 die Gelegenheit wahr, durch eine Analyse der historischen Unzufriedenheiten mit der kritischen Philosophie und der diversen daran sich anschließenden Versuche zu ihrer thematischen Erweiterung die auch von ihm selbst empfundenen „Grenzen der besonderen Kantischen Problemstellung“ 116 konkreter zu fassen – nicht, um sie etwa im Ganzen gegen eine andere zu ersetzen, sondern um sich gerade aus der „Auflösung“ des „Schulbegriff[s]“ der kantischen Lehre ex negativo ihren eigentlichen „Weltbegriff “ deutlich zu machen, die er vor allem im motivationalen Zusammenhang des Ganzen verortet. 117 Daneben gibt es aber auch noch ein zentrales Sachthema, auf das die deutschen Idealisten immer wieder gleichsam von verschiedenen Seiten her zusteuern und in dem sich für Cassirer die sachliche Bedeutung ihrer Philosophien verdichtet: Sie alle bemühen sich um ein theoretisches Verständnis des Lebens als eines „geistigen Prozesses“ 118 und verfolgen damit ein Anliegen, das Cassirer bei aller Distanz prinzipiell teilt. Dabei ist es weniger Hegel als vielmehr Schelling, der die Lebendigkeit des philosophischen Geistes explizit in den Dienst einer Philosophie des Naturlebens stellen will und daher in unserer Untersuchung einen Seitenblick verdient. Cassirers Verhältnis zu Schelling ist aus zwei auf den Cassirer selbst spricht es später unmissverständlich aus, dass man die ideengeschichtliche Verbindungslinie zwischen dem kantischen Denken und seinem eigenen nicht im akademischen Idealismus zu suchen habe, sondern vielmehr im Humanismus der deutschen Klassik, wo bei Goethe und Schiller, Herder und Humboldt der »Weltbegriff« der kantischen Philosophie auf besonders fruchtbaren Boden gefallen sei: vgl. ECW 22, 152 ff. 116 EP 3, S. IX (Kursivierung F. S.). 117 EP 3, S. 1. Vgl. ebd., S. 3: „Immer von neuem muß . . . das Ganze der kritischen Lehre, um wahrhaft begriffen zu werden, seiner festen architektonischen Form entkleidet und in die gedanklichen Motive, aus denen es hervorgegangen ist, aufgelöst werden. Und ebendies ist es, was die Arbeit der nächsten Schüler und Nachfolger Kants mittelbar leistet. Indem bei ihnen die verschiedenen Momente der Systembildung, die sich bei Kant selbst durchdringen, auseinanderstreben und sich gegensätzlich gegenübertreten, gewinnt jedes von ihnen eine neue Schärfe. Mit dieser einseitigen Hervorhebung des Einzelnen tritt zugleich – wenn man diese Versuche in ihrer Gesamtheit überblickt – die Struktur des Ganzen klarer heraus.“ 118 ECN 1, S. 266: „Die modernen Theorien des ›Lebens‹ sind völlig ungenügend, weil sie am Leben . . . nur das negative, das bloss Naturhafte, das biologische Element herauslösen . . . Aber damit kommt man noch gar nicht zum eigentümlichen Problem des »Lebens« . . . als eines geistigen Prozesses – Zum Geistigen, zum ‘Für sich Sein’ kommt es nicht im blossen Leben, sondern in der Form, die dieses Leben sich selbst gibt – und diese »Form« erschliesst sich . . . [nur] im freien Thun – d. h. in der Schaffung der symbolischen Formen . . . Diesen Sinn des »Lebens« haben tiefer als die »Modernen«, Fichte, Schelling, Hegel erkannt[.] Sie überwinden die Antithese . . . durch den neuen idealist[ischen] Begriff des Geistes[.]“ 115
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ersten Blick ganz unterschiedlichen Gründen interessant: 1. ist nach Cassirers Auffassung Schellings „gesamte Erkenntnislehre . . . letzten Endes auf das Urphänomen . . . der Goethe’schen Naturanschauung“ bezogen, sodass ihm auch Schellings Naturphilosophie als ein einziger unablässiger Versuch erscheint, die goethische Auffassung des Naturlebens, von der er ja auch selbst stark beeinflusst ist, theoretisch zu systematisieren 119 – und 2. bekommt, seit es in Idee und Gestalt am Rande gestreift worden war 120, ein anderes Schellingsches Theoriestück für Cassirer immer größere Bedeutung, nämlich sein originelles Programm zu einer „Philosophie der Mythologie“, auf das sich Cassirer schließlich selbst in seiner Philosophie der symbolischen Formen affirmativ beruft, um in einer produktiven Mischung aus Anschluss und kritischer Distanzierung die methodische Grundlegung seiner eigenen Mythosphilosophie zu entwickeln. 121 Widmen wir uns zuerst dem ersten Aspekt, dann fällt bei der Lektüre des Erkenntnisproblem-Bands auf, dass Cassirer zunächst sehr entschieden die „Verwandtschaft“ von Schelling und Goethe in einem „gemeinsamen Grundgedanken“ und „Idea[l] der Naturerkenntnis“ 122 betont, und zwar in der Forderung, „die Natur nicht als bloßes Produkt, sondern . . . in ihrer freien Produktivität [zu erfassen]“. 123 Aus dieser Übereinstimmung im Ansatz ergibt sich nach Cassirer nicht nur eine analoge inhaltliche Ansicht vom Wesen der Natur, die auch von Schelling als ein „Moment der produktiven Kraft“ umfassende, „sich selbst organisierende“, mithin als a priori lebendige Natur gedacht werde, 124 sondern auch eine Übereinstimmung in der Vorstellung von der richtigen Methode der Naturbetrachtung: Wie Goethe habe demnach auch Schelling versucht, das Leben der Natur aus dem eigenen produktiven „Schaffen“ heraus, d. h. im Spiegel derjenigen Kräfte der „reinen Intelligenz“ zu verstehen, in denen diese jenem selbst „verwandt und analog“ erscheint, und dabei mit seiner Erhebung der ‚intellektuellen Anschauung‘ zu einem Grundprinzip der Naturerkenntnis ein wesentlich ästhetisches Moment geltend gemacht. Hier hat Cassirer insbesondere die folgende Passage aus dem System des EP 3, S. 259: „Wie Kant zu Newton, so steht Schelling zu Goethe. Wie das System der synthetischen Grundsätze, das die »Kritik der reinen Vernunft« aufstellt, nur der reine und abstrakte Ausdruck dessen sein will, was in Newtons »Prinzipien« und in seinen Leges motus in concreto vorliegt: so ist die Struktur und die feinere Gliederung der Grundbegriffe bei Schelling nur dann verständlich zu machen, wenn man ihnen Goethes organische Naturansicht als Gegenbild gegenüberstellt.“ 120 Vgl. „Hölderlin und der deutsche Idealismus“, in: ECW 9, S. 346–388. 121 Siehe dazu § 19. 122 EP 3, S. 260. 123 EP 3, S. 222. 124 EP 3, S. 219. 119
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transzendentalen Idealismus vor Augen, die er im Erkenntnisproblem und auch später immer wieder als exemplarisch für die ‚romantische‘ Einstellung zur Natur überhaupt zitiert: „Die Kunst ist eben deßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß. . . . Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.“ 125
Die Gründe dafür, dass Schelling sich in dieser Auffassung der Natur prinzipiell mit Goethes Analogisierung ‚natürlicher‘ und ‚künstlerischer‘ Produktivkräfte einig fühlen kann, liegen auf der Hand. 126 Cassirer stellt nun aber fest, dass jeder Versuch einer Durchführung dieses allgemeinen Prinzips am Einzelnen Schelling immer aufs Neue in ein „völlig . . . willkürliches und phantastisches Analogienspiel“ abdriften lässt, das mit Goethes „Phantasie für die Wahrheit des Realen“ nichts mehr zu tun zu haben scheint. 127 Zwar war auch schon Goethes Naturbetrachtung als eine „reine Symbolik“ des Wirklichen aufgetreten, dies aber immer J.F.W. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke. 1861, Bd. I.3, S. 628. 126 Vgl. zu Goethes Naturkonzeption § 11 oben. 127 EP 3, S. 230. – Wie sehr diese Kritik Cassirers ins Schwarze trifft, davon kann man sich leicht an den Quellen überzeugen. Vgl. z. B. die ‚Erklärung‘, die Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur für den Zusammenhang von Licht, Materie und Universum konstruiert: „Das Licht ist dasselbe, was die Materie, die Materie dasselbe, was das Licht ist, nur jene im Realen, dieses im Idealen. . . . Reell ist allgemein und immer die Identität, sofern sie Einpflanzung des Ideellen ins Reelle ist; ideell ist dieselbe, sofern sie Wiederaufnahme des Reellen ins Ideelle ist. Jenes ist in der Materie der Fall, wo die der Leiblichkeit eingebildete Seele in der Farbe, im Glanz, im Klang offenbar wird, dieses ist in dem Licht der Fall, welches daher, als das Endliche im Unendlichen dargestellt, der absolute Schematismus aller Materie ist.“ – Ferner: „Diejenigen Weltkörper, welche dem Centro aller Ideen am nächsten liegen, haben nothwendig mehr Allgemeinheit in sich, diejenigen, die entfernter, mehr Besonderheit; dieß ist der Gegensatz der selbstleuchtenden und der dunkeln Weltkörper, obgleich ein jeder nur relativ selbstleuchtend oder dunkel ist. . . . Es ist kein Zweifel, daß eine höhere Ordnung existire, die auch diese Differenz noch als Indifferenz begreife, und in der als Einheit liege, was für diese untergeordnete Welt sich in Sonnen und Planeten getrennt hat.“ (Ebd., S. 107–111). 125
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im Hinblick auf bestimmte konkrete Anschauungen ihrer „reine[n] Gestalten“. Schelling dagegen verliert sich – im eklatanten Widerspruch zum Anspruch, ebenfalls eine ‚intellektuelle Anschauung‘ der Natur zu explizieren – immer hoffnungsloser in abstrakt-begrifflichen Konstruktionen, in einem nur-noch-spekulativen ‚Konstruktivismus‘ der Natur im schlechtesten Sinn. Auf der Suche nach den Gründen für diese „scharfe Differenz“ 128 zwischen Goethe und Schelling auf der einen, Schelling und Kant auf der anderen Seite begnügt sich Cassirer nun nicht damit, Schellings Abgleiten in eine Form der ‚Spekulation‘, die der heute gängigen pejorativen Bedeutung des Worts nach Kräften vorgearbeitet hat, 129 bloß den Verweis auf Kants kategorischen Ausschluss einer „intellektuellen Anschauung“ in konstitutiv-positiver Bedeutung 130 entgegenzuhalten. Vielmehr nimmt er umgekehrt Schellings systematisches Ausgehen von dieser Idee zum Anlass, sich „mit besonderer Deutlichkeit den rein methodisch-transzendentalen Sinn“ 131 jenes Ausschlusses verständlich zu machen – den Sinn des kritischen Theorems der Erfahrungsimmanenz, das er nun gerade anhand des Verhältnisses Schelling-Goethe auf seine praktischen Implikationen herunterbrechen kann: Indem Goethe nämlich auf die Herausforderung der Kritik der Urteilskraft zu einer kritischen Bestimmung der Lebensphänomene konkret „im Praktischen und Sittlichen“, durch die „lebendig[e] Tat des Forschers und Künstlers“ 132 antwortet, kommt ihm im Rahmen seiner Naturforschungen ein anderer als der regulative Sinn der Idee einer ‚intellektuellen Anschauung‘ gar nicht in Betracht. Schelling hingegen, der einerseits gar nicht von einer eigenen Erfahrung der Natur ausgeht, sondern bloß von dem „neue[n] Faktum . . . der Goetheschen Naturanschauung“, d.h. letztlich von der tätigen Auseinandersetzung eines anderen mit der Natur, dabei aber diese Differenz (als die von ‚Produktion‘ und ‚Reflexion‘ des Erfahrungswissens, siehe §§ 8f.) überhaupt nicht im EP 3, S. 260. Vgl. den Artikel „Spekulation“ in Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie. Schellings Inanspruchnahme dieses Terminus für die von ihm angestrebte ‚höhere‘ Erkenntnisform weist demzufolge zwar auf einen Einfluss Hegels zurück, aber es war doch vor allem Schelling, der ab 1800 durch die Herausgabe einer „Zeitschrift für spekulative Physik“ entscheidend zum Verruf ‚spekulativer‘ (d. h. ja ursprünglich bloß: theoretischer) Naturbetrachtung durch die Philosophie beigetragen haben dürfte. 130 In der Kritik der reinen Vernunft, B 308 (AA III, S. 210), stellt Kant klar, dass eine »intellectuelle Anschauung«, als nichtsinnliche, samt ihren gedachten Gegenständen (Noumena) »schlechterdings außer unserem Erkenntnißvermögen« und deshalb als ein bloßer »Grenzbegriff« zu fassen ist. 131 EP 3, S. 264. 132 Vgl. EP 3, S. 258 f. (Kursivierung F. S.). 128 129
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Blick hat und infolgedessen meint, auch selber unmittelbar über die Natur zu sprechen oder sprechen zu sollen, bekommt bei seiner Suche nach der lebendigen Produktivität der Natur im Grunde nie eine andere zu fassen als immer bloß die eigene, die sich abwechselnd in willkürlichen (wenn auch mitunter schön vorgetragenen) Erdichtungen ergeht und in abstrakten Begriffsreflexionen leerläuft. 133 In diesem Sinne verweist die „innere Tragik“, die Cassirer jenseits der „individuelle[n] und zufällige[n] Richtung“ des Schellingschen Denkens exemplarisch an dessen Entwicklung abliest, nach seiner Auffassung zuletzt auf eine „allgemeine methodische Notwendigkeit“, aus der seine Philosophie der symbolischen Formen wichtige Lehren ziehen wird: 134 „[Schelling] hatte sich vermessen, als Philosoph mit den Mitteln des Begriffs zu leisten, was nur dem großen Künstler zu leisten vergönnt ist. Er hatte den Weg . . . zu den ewigen Urbildern aller Gestaltung und Schönheit gesucht; aber dieser Weg führte ihn »in’s Unbetretene, nicht zu Betretende« des Absoluten, der abstrakten Identität. Er selbst blieb freilich bis zuletzt davon überzeugt, daß sein System in der esoterischen Form des reinen Wissens den gleichen Gehalt in sich schließe, den die Kunst nur in exoterischer und verhüllter Form darzustellen vermöge. Aber ebendieser Anspruch erweist sich zuletzt als eine Selbsttäuschung. Denn während es der Dichtung, während es Goethes Kunst- und Naturbetrachtung vergönnt war, eine reine Symbolik des Wirklichen zu schaffen, endet Schellings Philosophie zuletzt in einem bloß subjektiven und zufälligen Spiel begrifflicher Allegorien.“ 135 So beeilt sich Cassirer in Freiheit und Form, den Vorwurf Schillers gegen Goethe, mit seinem Gedanken von der Urpflanze in Wahrheit „keine Erfahrung“, sondern nur „eine Idee“ zu verfolgen, als ein später durch „Schiller . . . selbst berichtigt[es]“ Missverständnis darzustellen (FF 224 f.), während er im Erkenntnisproblem Schelling gegenüber betont, dass ihm „die Empirie . . . kaum jemals mehr gewesen [ist] als die nachträgliche Bestätigung . . . eine[s] allgemeinen spekulativen Gesichtspunkt[s]“ (EP 3, S. 217). 134 EP 3, S. 263. 135 EP 3, S. 263. – In methodischer Hinsicht nimmt das Verdikt, das Cassirer hier über Schelling fällt, ein Argument vorweg, das er später immer wieder der Lebensphilosophie entgegenhalten wird. Auch seine Kritik an der Lebensphilosophie betrifft nämlich regelmäßig nicht deren Orientierung am Leben oder an der lebendigen Natur als solche. Sie betrifft vielmehr das methodische Selbstmissverständnis eines Philosophierens, das einerseits glaubt, auf seiner Suche nach dem ‚Unmittelbaren‘, als welches hier (in Nachwirkung der romantischen Problemstellung) das Leben verstanden wird, der begrifflichen Vermittlung überhaupt entsagen zu müssen, andererseits aber aus sich heraus doch nie etwas anderes zum Gesamtbestand des Wissens beitragen kann als eben – Begriffsreflexionen. Von Nietzsche und Bergson bis hin zu Simmel, Spengler und Klages sieht Cassirer in diesem Sinne überall dieselbe geschichtliche Ironie am Werk, 133
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Was diese Entwicklung des Schellingschen Denkens in Cassirers Augen zu einer echten philosophischen Tragödie qualifiziert, ist, dass sich unter der früh festgestellten (und in der identitätsphilosophischen Phase sogar zum allumfassenden methodischen Prinzip erhobenen) Prämisse, die Suche nach einem letzten Indifferenzpunkt von Denken und Wirklichkeit, Geist und (Natur-)Leben müsse das eigentliche Ziel alles Philosophierens bilden, tatsächlich alles Weitere in größter innerer Folgerichtigkeit ergibt: Wenn sich aller Sinn und Zweck philosophischen Nachdenkens wirklich in dieser Weise umschreiben ließen – dann gäbe es in der Tat keinen Grund, einer an der konkreten Erforschung und Erfahrung der Phänomene gewonnenen Naturauffassung irgendeinen Vorzug gegenüber Schellings abgetrennter Erörterung derselben in Form ideeller Konstruktionen einzuräumen, da ja das Denken seinen eigentlichen Gegenstand in beiden Fällen zuletzt ohnehin rein in sich selbst zu suchen und zu finden hätte. Mit Blick auf die Gesamtentwicklung von Schellings Denken äußert Cassirer daraufhin im Erkenntnisproblem die Vermutung, dass vielleicht gerade das Gefühl einer fortschreitenden Entfremdung der eigenen philosophischen Bemühungen von jeglicher Erfahrungswirklichkeit Schelling dazu gebracht haben könnte, zuletzt auch noch „über die anfängliche ästhetische Richtung des Philosophierens hinauszugehen und in den Problemen der Religionsphilosophie einen neuen Mittelpunkt des Systems zu suchen“ 136. Den mittlerweile fortgeschrittenen Verlust jedes „Wirklichkeitssinnes“ kann zwar auch diese ultimative Wendung nach Cassirer nicht mehr kompensieren: Wie für Schelling „[z]ur »Wirklichkeit« der Natur und der Naturwissenschaft“ kein Weg mehr zurückführe, so auch nicht zur „geschichtliche[n] Realität“ im Sinne objektiv-feststellbarer Fakten; im Gegenteil lasse ihn die fortgesetzte „Verschmähung“ aller begrifflichen Vermittlungsleistungen nur wieder „anderen und gefährlicheren, weil schwerer zu durchschauenden Medien verfallen“: 137 Nun dass der philosophische Protest gegen die Reflexion, der selbst nur einer ihrer Ausdrücke ist, in Wahrheit völlig gegenstandslos ist und auf einer Verkennung ihres eigentlichen Sinns basiert, der – wie schon Substanzbegriff und Funktionsbegriff klargestellt hatte – in nichts anderem besteht als in der Chance zur distanzierten Auseinandersetzung mit den produktiven Kräften des natürlichen-geistigen Lebens selbst. Siehe dazu auch § 24. 136 EP 3, S. 263. – Nach einer These, die Cassirer unter Berufung auf das „Älteste Systemprogramm“ bereits im Aufsatz „Hölderlin und der deutsche Idealismus“ vertreten hatte, wäre Schelling hiermit in seiner Spätphilosophie auf eine frühe Anregung Hölderlins zurückgekommen, um dessen „Intuition von der Natur“, die „ihre letzte Wurzel nicht in der sinnlich-realen Naturbetrachtung und -beobachtung, sondern in der Naturempfindung des Mythos hat“, „die bewußte systematische Formulierung zu geben“: Vgl. ECW 9, S. 363 ff. 137 EP 3, S. 272 f.
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ist es nicht mehr die Kunst, sondern nun sind es die Mythologien aller Zeiten und Völker, in denen Schelling in der Spätphase seines Denkens eine „Uroffenbarung“ des absoluten „theogonischen Process[es]“ sehen will, indem er nicht nur ihre Aufstellung, sondern auch ihre Inhalte zu einer „geschichtlichen Tatsache“ verklärt 138 und für einen (dann allerdings doch wieder der philosophischen Explikation bedürftigen) Ausdruck absolut-religiöser Wahrheit nimmt. Wirklich erstaunlich ist aber auch hier, dass Schelling, der in dieser spätesten Phase von außen her gesehen endgültig wie durch einen „magische[n] Schleier“ von der Welt der Erfahrungstatsachen getrennt erscheint, dabei selbst erst recht der Meinung ist, als sei durch die neue Ansicht, die er sich nun von den Phänomenen (oder dem, was er für solche hält) gemacht hat, die Distanz zwischen Denken und Wirklichkeit endlich in der gewünschten Weise aufgehoben. In der Philosophie der symbolischen Formen findet Cassirer für dieses paradoxe Verhältnis später die folgende prägnante Formulierung: „In der Tat ist [in der »Philosophie der Mythologie«] der höchste Begriff und die höchste Form der »Objektivität« erreicht, die Schellings philosophisches System überhaupt kennt. Der Mythos hat seine »wesentliche« Wahrheit erlangt, indem er als ein notwendiges Moment im Prozeß der Selbstentfaltung des Absoluten begriffen ist. Daß er es nirgends mit den »Dingen« . . . zu tun hat, sondern daß es lediglich eine Wirklichkeit, eine Potenz des Geistes ist, die sich in ihm darstellt, kann keinerlei Einwand gegen seine Objektivität, seine Wesenheit und Wahrheit begründen: Denn auch die Natur hat keine andere und keine höhere Wahrheit als diese. . . . [Im Mythos] enthüllt sich ein inneres Gesetz, das demjenigen, das in der Natur waltet, durchaus analog, ja von einer höheren Art der Notwendigkeit als dieses ist. Weil der Kosmos nur aus dem Geiste und somit aus der Subjektivität heraus zu verstehen und zu deuten ist, darum hat umgekehrt auch der scheinbar bloß subjektive Gehalt des Mythischen unmittelbar kosmische Bedeutung. . . . So kann für Schelling der Mythos zu einer zweiten »Natur« werden, weil sich ihm zuvor die Natur selbst in eine Art Mythos verwandelt hatte, indem sich ihre rein empirische Bedeutung und Wahrheit in ihre geistige Bedeutung, in ihre Funktion, die Selbstoffenbarung des Absoluten zu sein, aufhob.“ 139
Vgl. Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Sämtliche Werke II.1, S. 91 f. 139 PhsF 2, S. 10 f. 138
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Damit ist der Weg vorgezeichnet, auf dem Cassirers Philosophie der symbolischen Formen die unmittelbar im Anschluss an diese Erörterung aufgeworfene Frage nach einem „Mittel und eine[r] Möglichkeit, die Frage [von] Schellings »Philosophie der Mythologie« . . . als solche festzuhalten, sie aber zugleich vom Boden der Philosophie des Absoluten auf den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen“ 140, auflösen wird: Er beruht, wie wir noch im Einzelnen sehen werden, 141 wesentlich auf der (bekanntlich auf Cassirers Theorie der wissenschaftlichen Naturerkenntnis zurückgehenden) Aufhebung der perspektivischen Verwechslung, die die Natur selbst in ihrer Produktivität zu belauschen meint, wo in Wahrheit nur die Reflexion ein Selbstgespräch führt, das schon deshalb zu einem Mythos geraten muss. So lässt sich der Tatsache, dass Cassirer explizit an eine Fragestellung Schellings anknüpft, dessen Ergebnissen er doch so gar nichts abgewinnen kann, m. E. erst dann ein Sinn abgewinnen, wenn einerseits mit der Reflexionsdistanz voller Ernst gemacht wird, die Cassirers Mythosphilosophie – sehr im Gegensatz zu derjenigen Schellings – entschieden betont; wenn aber andererseits auch in Rechnung gestellt wird, dass Cassirer bei allen Vorbehalten offenbar der Meinung ist, dass der von Schelling eingeforderte „tautegorische“ Nachvollzug des mythisch-religiösen Bewusstseins tatsächlich Einsichten in eine wesentliche „Wirklichkeit . . . des Geistes“ im Sinne einer Form der kulturbildenden Produktivität (und in diesem Sinne dann allerdings auch der ‚menschlichen Natur‘ als allgemeiner Anlage) erschließt, die auf anderem Wege nicht sicher zu gewinnen sind 142. So wird die Frage, ob es Cassirer gelingt, Schellings Programm „in die Begriffe des transzendentalen Kritizismus rück[zu]übersetzen“ 143, letztlich auch zu einem Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der kritischen Methode für die Zwecke einer philosophischen Anthropologie.
PhsF 2, S. 11 f. Siehe dazu § 19. 142 Siehe auch dazu § 19 und § 20 weiter unten. – Im Essay on Man wird Cassirer es am deutlichsten aussprechen, dass der Mythos, gerade weil er die Natur als »Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«, nicht kennt, auf eine emotionale Tiefenschicht unserer Wahrnehmung verweist, die einen ganz eigenen »anthropological value« behaupten kann: EM 85. 143 Vgl. Heinz Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung. Hamburg 2002, S. 52. 140 141
Kapitel 3 Die Symbolik der Kultur
3.1 Ansatz und systematische Anlage der Philosophie der symbolischen Formen § 14 Kultur ‚statt‘ Natur? Zum Verschwinden naturtheoretischer Fragestellungen aus Cassirers Hauptwerk
„. . . Und an diesem Punkt lassen sich nun die Ergebnisse einer kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie unmittelbar an die Ergebnisse der Philosophie der symbolischen Formen anknüpfen und als mittelbare Bestätigung für deren Grundthese gebrauchen. (Dieser Zusammenhang tritt jetzt vor allem in Plessers Darstellung der “philosophischen Anthropologie” hervor, deren Resultat sich mit dem unsrigen aufs nächste berührt, wenngleich es auf einem durchaus anderen Wege gewonnen ist.)“ – aus Cassirers Nachlass 1
Wir haben gesehen, dass Cassirer auch in den Jahren nach 1910 noch vielfach mit naturtheoretischen Fragestellungen befasst ist, die er auch in seinen Publikationen klar als solche benennt. Ab 1923 vollzieht Cassirer dann mit seinem dreibändigen Hauptwerk zur Philosophie der symbolischen Formen den Übergang von der „Kritik der Vernunft . . . zur Kritik der Kultur“ 2; und ausgerechnet im Zuge dieses Übergangs kommt es nun dazu – fast so, als sollten die zu Beginn dieser Arbeit beschriebenen Vorurteile gegenüber dem ‚Kulturalismus‘ 3 Recht behalten –, dass die Natur auf einmal weitgehend aus seinem systematischen Vokabular verschwindet. 4 ECN 1, S. 60; die Klammern bezeichnen die Anmerkung. PhsF 1, S. 9. 3 Siehe oben S. 19 f. 4 Eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel markiert Cassirers Differenzierung von „natürlicher“ und „künstlicher Symbolik“ in der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Siehe dazu meine Bemerkungen auf S. 191 f. 1 2
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Die Symbolik der Kultur
Dabei ist es bezeichnend für die unveränderte Relevanz der Naturfrage für Cassirer auch in dieser Zeit, dass die ersten Schriften, in denen er seine Pläne zu einer Theorie der „symbolischen Formen“ öffentlich macht, den Gedanken noch so fassen, als handle es sich auch dabei primär um einen Beitrag zur Theorie der Naturerkenntnis. Mit dem Aufsatz über „Goethe und die mathematische Physik“, der bereits alle Kerngedanken der Philosophie der symbolischen Formen sozusagen unter naturphilosophischen Vorzeichen vorwegnimmt und dabei ausdrücklich an der Forderung nach einer „objektiven Einheit der Natur“ 5 festhält, habe ich mich oben schon auseinandergesetzt. 6 Bekannter und ebenso einschlägig ist der Schlussabschnitt seiner Monographie Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, wo Cassirer den Durchbruch des allgemeinen Relativitätsprinzips innerhalb der theoretischen Physik zum Anlass nimmt, für eine noch weiter gehende Relativierung der Begriffe zu plädieren, die selbst diesen „reinste[n], . . . allgemeinste[n] und schärfste[n] Ausdruck des physikalischen Gegenstandsbegriffs“ noch als einen seinerseits bedingten und relativ gültigen einsieht – schließlich fällt ihm inzwischen vom projizierten Standpunkt einer „wahrhaft allgemeinen Erkenntniskritik“ „ebendieser Begriff des physikalischen Gegenstands . . . mit der Wirklichkeit schlechthin keineswegs zusammen“ 7: „Jede ursprüngliche Richtung, die die Erkenntnis nimmt, . . . schließt eine besondere Fassung und Formung des Begriffs der Wirklichkeit in sich. Hier ergeben sich nicht nur die charakteristischen Bedeutungsunterschiede der wissenschaftlichen Gegenstände selbst – die Scheidung des »mathematischen« vom »physikalischen«, des »physikalischen« vom »chemischen«, des »chemischen« vom »biologischen« Gegenstand; GMP 307 f. (Kursivierung F. S.). – Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Cassirer hier seinen Naturbegriff an einem „Bedeutungswandel“ von ganz ähnlicher Art teilhaben lässt, wie seine frühe Wissenschaftstheorie ihn bereits für den Substanzbegriff geltend gemacht hatte (vgl. SuF 96 und S. 77 weiter oben). Zum einen verbindet beide Fälle ein gemeinsames Motiv, nämlich die Forderung nach einer ‚kopernikanischen Wende‘ des Denkens, die sich gemäß dem spezifischen Sinn, den Cassirer mit ihr verbindet, ebenso gut am Übergang vom substantiellen zum funktionalen Paradigma verdeutlichen lässt wie an demjenigen, der das Ausgehen vom Naturbegriff durch das Ausgehen vom Kulturbegriff ersetzt. Analog ist aber zum anderen auch das Erhaltenbleiben der jeweils ‚überwundenen‘ Begriffe in der neuen Denkordnung: Erhalten bleiben sie freilich nicht in ihrer früheren Leitfunktion, durch die sich nach ihnen gleichsam der ontologische Rahmen bestimmte, in dem sich alles Denken zu bewegen hatte, sondern als bloße Einzelbegriffe unter anderen, die nur noch relative Geltung in ihren jeweiligen Kontexten beanspruchen können. 6 Siehe § 11. 7 ER 112. 5
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sondern hier treten auch dem Ganzen der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis andere Form- und Sinngebungen von selbständigem Typus und selbständiger Gesetzlichkeit . . . gegenüber. . . . [S]o ergibt sich, schon innerhalb des reinen Naturbegriffs selbst, eine mögliche Verschiedenheit von Ansätzen, von denen jeder ein bestimmtes Recht und eine charakteristische Geltung für sich in Anspruch nehmen darf. Die »Natur« Goethes ist mit derjenigen Newtons nicht einerlei . . . Es ist die Aufgabe der systematischen Philosophie – die über diejenige der Erkenntnistheorie weit hinausgreift –, das Weltbild von . . . Einseitigkeit zu befreien. Sie hat das Ganze der symbolischen Formen, aus deren Anwendung für uns der Begriff einer in sich gegliederten Wirklichkeit entspringt . . . , zu erfassen und jedem Einzelnen in dieser Gesamtheit seine feste Stelle anzuweisen.“ 8
Das Weltbild von Einseitigkeit zu befreien – natürlich auch mit Blick auf unseren Naturbegriff: das scheint Cassirer in der Tat von Anfang an als den zentralen Zweck der Aufstellung eines Integrals der „symbolischen Formen“ zu begreifen, das er in direkter Fortsetzung seines wissenschaftstheoretischen Pluralismus gezielt so konzipiert, dass darin neben der physikalischen Natur mathematischer Gesetzlichkeit etwa auch die an den Lebensphänomenen orientierte „Natur Goethes“ in ihrer Eigenart anerkannt sein könnte. Angesichts der Bedeutung, die Cassirer gerade diesem Problem einer Vereinbarkeit von mathematisch-‚objektivierender‘ und lebendig-‚subjektiv‘ verstehender Naturauffassung immer wieder beimisst, muss man sich eher fragen, warum Cassirer seinen anfangs vor allem mit Blick auf die Frage der ‚Wirklichkeit‘ hergeleiteten Pluralismus eigentlich nicht von Anfang an (auch) in Form einer Naturphilosophie ausgearbeitet hat. Was ist es, das Cassirer daran hindert – das ihn sogar so dezidiert von einer um den Naturbegriff zentrierten Fassung seines Gedankens Abstand nehmen lässt, dass die Philosophie der symbolischen Formen es am Ende gar so aussehen lässt, als habe die Fokussierung auf die theoretischen Probleme der Kultur die der Natur einfach verdrängt? Ich meine, dass auch in dieser Frage die angeführte Passage aus dem Einstein-Buch aufschlussreich ist, wenn wir nämlich einige der im obigen Zitat zunächst ausgelassenen Sätze mit in Betracht ziehen. Dann illustriert die Stelle sehr anschaulich den Wechsel und den Zusammenhang zwischen Cassirers positivem Gebrauch des Naturbegriffs in dem liberalen Sinn, der nach seinem eigenen Bekunden in sich „selbst . . . eine mögliche Verschiedenheit von Ansätzen“ bereits einschließt, und derjenigen negativen Konnotation, die mir für sein Abstandnehmen von jeder na8
ER 112 f. (Kursivierung F. S.).
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Die Symbolik der Kultur
turphilosophischen Ausarbeitung seines Systemansatzes entscheidend zu sein scheint. Sehen wir uns also die zweite Hälfte des Zitats noch einmal genauer an: „Die »Natur« Goethes ist mit derjenigen Newtons nicht einerlei –weil in der ursprünglichen Gestaltung beider durchaus verschiedene Formprinzipien . . . obwalten. Wo solche Verschiedenheiten der Grundrichtung der Betrachtung bestehen, da lassen sich auch die Resultate der Betrachtung nicht ohne weiteres vergleichen und aneinander messen. Der naive Realismus der gewöhnlichen Weltansicht, wie der Realismus der dogmatischen Metaphysik, verfällt freilich immer aufs neue diesem Fehler. Er löst aus der Gesamtheit der möglichen Wirklichkeitsbegriffe einen einzelnen heraus und stellt ihn als Norm und Urbild für alle übrigen auf. So werden bestimmte notwendige Formgesichtspunkte, unter denen wir die Welt der Erscheinungen zu beurteilen, zu betrachten und zu verstehen suchen, zu Dingen, zum Sein schlechthin, umgeprägt. Ob wir als dieses letzte Sein die »Materie« oder das »Leben«, die »Natur« oder die »Geschichte« bestimmen: immer ergibt sich für uns auf diesem Wege zuletzt eine Verkümmerung der Weltansicht, weil bestimmte geistige Funktionen, die an ihrem Aufbau mitwirken, ausgeschaltet und dagegen andere einseitig hervorgehoben und bevorzugt scheinen. Es ist die Aufgabe der systematischen Philosophie – die über diejenige der Erkenntnistheorie weit hinausgreift –, das Weltbild von dieser Einseitigkeit zu befreien. . . . “ 9
Hier zeigt sich m. E. sehr klar, dass Cassirer sich in der Tat mit Vorbehalten gegen den Naturbegriff trägt – und zwar nicht, weil er mit seiner Konzeption „symbolischer Formen“, die ja zunächst vor allem den Gedanken einer „in sich gegliederten Wirklichkeit“ fassen soll, auf irgendetwas Un- oder Übernatürliches rekurrieren würde. Cassirer hat Bedenken mit Blick auf einen ganz bestimmten dogmatischen Begriff der Natur, der den „Dingen“, dem „Sein schlechthin“, der „Materie“, dem „Leben“ oder auch der verabsolutierten „Geschichte“ insofern vergleichbar ist, als er geeignet ist,vehement gewisse hartnäckige Vorurteile über den Charakter jener ‚Wirklichkeit‘ zu stützen und falsche Erwartungen an ihre Erforschung zu schüren, bei denen es Cassirer gar nicht darauf ankommt, ob sie nun dem „Realismus der gewöhnlichen Weltansicht“ oder dem „Realismus der dogmatischen Metaphysik“ entspringen, weil sie nach seiner Einsicht „zuletzt“ doch „immer“ auf eine „Verkümmerung der Weltansicht“ hinauslaufen. 9
ER 112 f. (Kursivierung F. S.).
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Es entbehrt nicht der Ironie, dass dem Denker, der sich so entschieden gegen jede Einseitigkeit des Weltbilds positioniert und der sich offenbar die größtmögliche Vielseitigkeit davon versprochen hat, eine prima philosophia unter dem Namen einer „Kritik der Kultur“ zu entwickeln, mit Blick auf diese Entscheidung selbst – Einseitigkeit vorgehalten werden konnte. Entweder wir hätten es mit einem besonders drastischen Fall von Inkonsequenz zu tun, oder – was mir sehr viel plausibler scheint – es stimmt etwas nicht an der Auffassung, in der vermeintlichen Sachalternative zwischen Natur- und Kulturforschung habe sich der Theoretiker Cassirer nun einmal zulasten jener auf diese Seite geschlagen. Vielmehr hat es den Anschein, als entscheide sich Cassirer in der Frage des angemessenen Ausdrucks seines neu gewonnenen philosophischen Standpunkts ‚gegen die Natur‘ (oder vielmehr gegen diesen Terminus) aus ganz ähnlichen, nämlich in letzter Instanz praktischen Gründen, aus denen er in seiner frühen Wissenschaftstheorie schon die ‚Substanz‘ verworfen hatte: Wie dort sein Anschluss an das funktionale Paradigma der Erkenntnis in erster Linie den metaphysikkritischen, antidogmatischen Impuls des kantianischen Aufklärers widerspiegelte (und dadurch in der Sache mehr über die unselige Tradition des Substanzbegriffs verriet als über Cassirers eigene theoretische Haltung zu ihm – siehe §§ 4 u. ff.), so kann ich auch hier, wie es im Kontext einer Schrift über die damals neueste Entwicklung der Physik auch nicht anders zu erwarten ist, außer diesem methodisch-praktischen Impuls nicht viel, nichts eigentlich ‚Naturkritisches‘ zumindest erkennen, das Cassirers Abwendung vom Natur- und Konzentration auf den Kulturbegriff erklären könnte. Weitere Indizien für beides –für das Nichtvorliegen theoretisch-systematischer Gründe gegen eine Konfrontation des Kulturphilosophen mit Naturfragen und für einen tatsächlichen Zusammenhang seiner praktischen Vorbehalte gegen den Naturbegriff (bzw. eine Orientierung an demselben) mit denen gegen den Substanzbegriff (bzw. eigentlich das durch diesen symbolisierte dogmatische Substanzdenken) –liefert auch die Existenz eines bislang unveröffentlichten Nachlassmanuskripts mit dem Titel „Naturphilosophie. Philosophische Probleme der Naturerkenntnis“, das auf Januar 1920 datiert und im Anhang dieser Arbeit in Abschrift wiedergegeben ist. 10 Allzu große systematische Aufschlüsse sollte man freilich von diesem Text nicht erwarten; was Cassirer darin gibt, ist im WesentliDas Manuskript stammt aus der Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale und trägt die Signatur GEN MSS 98, Box 49, Folder 924. Ein Typoskript dieses Manuskripts habe ich in Anhang Anhang A beigefügt. Zitate aus diesem Text werden im Folgenden durch die Sigle NPh ausgewiesen; Seitenzahlen beziehen sich dann jeweils auf die entsprechenden Seiten der angehängten Abschrift. 10
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chen eine historische Synopse der verschiedenen Einsichten in Bezug auf die ‚Naturfrage‘, die er zu dieser Zeit – im unmittelbaren Umfeld des Einstein-Buchs und des Aufsatzes über Goethe und die mathematische Physik, aber auch des dritten Bands des Erkenntnisproblems – bereits gewonnen hatte. Zumindest das aber wird durch die Existenz eines solchen Manuskripts von vornherein belegt, dass Cassirer die „philosophischen Probleme der Naturerkenntnis“ noch 1920 so ernst genommen hat, dass er sich die ‚naturphilosophische Frage‘ explizit gestellt und sich ihr in Form eines ersten geistesgeschichtlichen Überblicks genähert hat; und zumindest der Anfang des Textes erweckt darüber hinaus den Eindruck, als habe Cassirer um diese Zeit sogar noch kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, seine schon im Entstehen begriffene Kulturphilosophie durch eine – „Naturphilosophie“ in eigener Sache zu ergänzen. Eine solche Naturphilosophie, „wie wir sie hier als kritische Disziplin verstehen wollen“, müsse demnach vor allem die Überwindung des „dogmatische[n] Vorurteil[s]“ zum Ziel haben, „daß das, was wir »Natur« nennen, sich gleichsam mit Händen greifen lässt“ und deshalb „aller begrifflichen Deutung der Erscheinungen vorausliegt“ 11. Vielmehr gilt nach Cassirer, dass wir „schon in dem blossen Gedanken der Natur selbst“ eine charakteristische „begriffliche Auslegung“ 12 der Erscheinungswelt vornehmen; und er findet einen Beleg dafür bereits im Gebrauch des φύσις-Begriffs durch die Vorsokratiker: Obwohl es sich bei diesem allerersten philosophischen Naturbegriff um eine noch ganz unreflektierte „Setzung“ gehandelt habe, so komme doch bereits in der besonderen Fassung dessen, was da gesetzt werde, eine fundamental neue methodische Forderung zum Ausdruck, aufgrund derer sich nun erst – an oder gegenüber der zunächst einfach schlechthin gesetzten Natur – „die »Wissenschaft«, die »philosophische« Erkenntnis vom Mythos“ „scheide[n]“ konnte. 13 So erscheint hier der frühe griechische Naturbegriff – diesmal mit Blick auf die positive Leistung, die in seiner Setzung errungen wird – in einer ganz analogen Rolle wie früher bei Cassirer der Begriff der Substanz: als die eigentliche „geschichtlich[e] . . . Grenzscheide zwischen Forschung und Mythos“ 14. Das ist kein Zufall, denn in Cassirers Rekonstruktion der antiken Naturphilosophie geht nun die ‚Substanz‘ (οὐσία) selbst als eines von drei entscheidenden begrifflichen „Grundmomenten“ neben ‚Maß‘ (µέτρον) und ‚Ordnung‘ (κόσµος) in den neuen 11 12 13 14
NPh 327. Ebd. NPh 328. SuF 163; vgl. dazu weiter oben § 5, S. 57.
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Begriff der Natur (φύσις) ein, der sich im Denken der Griechen fortan in immer neuen „Mischung[en]“ 15 dieser Elemente konstituiere; und da nun die erste dieser „Mischungen“ bei den Ioniern den stofflich-substanziellen Aspekt der Natur klar in den Vordergrund stellt, so ist es verständlich, dass bei Cassirer der Naturbegriff selbst an dieser Stelle die Funktion einer „Grenzscheide“ zwischen Mythos und wissenschaftlich-philosophischer Forschung gleichsam vom Substanzbegriff übernimmt. Schon mit Demokrit, der das ‚Leere‘ und das ‚Nichtsein‘ (µὴ ὄν) gleichberechtigt neben das Sein stellt, habe sich dann jedoch der Schwerpunkt von der Substanz immer mehr auf das „Notwendige der Bewegung“ 16, also auf Ordnung und Gleichmaß der Naturprozesse verlagert, bis es schließlich in der Renaissance unter der Leitung des „neuen mathematischen Instrument[s] der Rechnung, . . . der Analysis des Unendlichen“ 17 zu einer fruchtbaren „Synthese“ platonischen und atomistischen Gedankenguts gekommen sei, die zur Forderung einer rein funktionalen Auffassung der Natur als eines „Inbegriff[s] von »Regeln«“ 18 geführt habe: Gemäß dieser neuen Ansicht sei schließlich das exakte Maß zum dominierenden Kriterium der Naturordnung, diese (gesetzliche) Ordnung wiederum anstelle des substanziellen Daseins der Einzeldinge zum einzig legitimen Gegenstand der Wissenschaft geworden. Damit ist für Cassirer im Großen und Ganzen der „Naturbegriff der modernen Wissenschaft“ erreicht, dessen „deutliche[s] und entschiedene[s] philosophische [ s ] Bewusstsein“ 19 er wieder einmal in Kants Definition aus den Prolegomena (§ 14) verwirklicht sieht, nach der ‚Natur‘ „das Dasein der Dinge“ bezeichne, „sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist“. Und dennoch bemüht er sich im Anschluss an diese Feststellung noch einmal um Verständnis dafür, weshalb sich gerade „aus dieser kritisch-transzendentalen Fragestellung ein anderes Problem“ entwickeln konnte, und zwar das „Grundproblem der philosophischen Romantik“ 20: Die romantische Naturphilosophie, wie sie „vor allem von Schelling erfasst und verkündet wird“ und an Goethes Naturforschungen sich orientiert, fordere eben anstelle der vermeintlich „starre[n] mechanische[n] Gegensätze“ der mathematischen Wissenschaft den Rückgang auf eine lebendige Intuition der Natur „im Spiegel des Ich“, wofür der Forscher neben seinen erkennenden auch seine ästhetischen und emotionalen Produktivkräfte ein15 16 17 18 19 20
NPh 330. NPh 330 f. NPh 331. NPh 332. Ebd. NPh 334.
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und mit dem angeschauten „Produzieren“ der Natur selbst in geistige Verbindung setzen soll, um so „ihr Tun innerlich nachzuleben“ 21. Ohne dass Cassirer diesen Zusammenhang eigens benennt, wird an dieser Stelle deutlich genug, dass nach seiner Lesart die Romantik eine Rückbesinnung auf eben den sinnlich-substanziellen Aspekt unseres Naturbegriffs und unserer Naturerfahrung einfordert, der in der Geschichte der Naturphilosophie seit der Antike immer mehr zugunsten der verstandesmäßigen Erforschung ihrer Maß- und Ordnungsbeziehungen in den Hintergrund getreten war. Eine solche Rückbesinnung ist nun aber offenkundig für ihn nicht dasselbe wie die ursprüngliche produktive Arbeit des Geistes in den antiken Anfängen der Naturphilosophie, sondern vielmehr eine letztlich nicht zu rechtfertigende Reaktion der philosophischen Reflexion gegen den methodischen „Fortschritt“, den die naturwissenschaftliche Umorientierung „von der Substanz zur Funktion“ 22 für ihn weiterhin bedeutet: Mit den Maßen ihrer Zeit gemessen bleibt Schellings Naturphilosophie, hin- und hergerissen zwischen der eigenen Idee eines philosophischen „Nachlebens“ der Natur und den zeitgenössischen Ansprüchen an ihre empirische Konkretion, für Cassirer „ein Zwitterling“, der „gestaltlos und haltlos zwischen Begriff und Anschauung steht“ und sich dadurch am Ende „weder dem einen, noch dem anderen gewachsen erwies“ 23. Bei aller Distanz, die gegenüber einem nicht nur unveröffentlichten, sondern noch dazu unvollendet gebliebenen und nicht einmal in sich vollständig überlieferten Manuskript wie dem zur „Naturphilosophie“ angebracht sind: Gerade indem er im Grunde nur Einsichten zusammenstellt, die Cassirer andernorts durchaus auch öffentlich vertreten hat, erlaubt uns dieser Text eine strukturierte Übersicht über die (mindestens) drei verschiedenen Konnotationen des Naturproblems für Cassirer, die, was seine Haltung zu den mit ihnen jeweils verbundenen Fragen angeht, von geradezu gegensätzlicher Wertigkeit gekennzeichnet sind und seine Ambivalenz gegenüber dem Naturbegriff als solchem verständlich machen. Offenbar kennt Cassirer nämlich, wenn wir die Reihenfolge ihres Auftretens im Text umkehren, 1. einen dogmatischen Substanzbegriff der Natur, wie er ihn vor allem in der romantischen Vorstellung von der Möglichkeit Ebd. EP 1, S. 335 f. 23 NPh 338. Cassirer wiederholt in diesem Zusammenhang auch noch einmal seine Erklärung für diesen „Bruch in Schellings Grundkonzeption der Philosophie“ (ebd.), die er schon im Erkenntnisproblem gegeben hatte, dass nämlich bei Schelling „eine Aufgabe, die sich prinzipiell der Kompetenz des philosophischen Begriffs entzieht, doch mit den Mitteln eben dieses Begriffs in Angriff genommen u[nd] durch sie verwirklicht werden soll“ (NPh 337). 21 22
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einer unmittelbaren Wesenseinsicht in die letzten Prinzipien des Lebens qua „intellektueller Anschauung“ am Werk sieht; 2. den kritisch-reflektierten Funktionsbegriff der Natur, der sich an der Erkenntnispraxis der mathematischen Naturwissenschaften orientiert und ‚Natur‘ auf ein System allgemeiner Verhältnis- und Gesetzmäßigkeiten reduziert – und er kennt weiterhin 3. die mit Blick auf die historische Problemkontinuität berechtigte Frage nach dem von der funktionalen Naturwissenschaft zwangsläufig außer Acht gelassenen ‚substantiellen‘ Bestand, der Cassirer schon im Gedanken an die Wünschbarkeit einer „kritischen Naturphilosophie“ Rechnung trägt, auch wenn er eine solche nirgends zu spruchreifer Form ausgearbeitet hat. Ich möchte nun dafür plädieren, diese drei Konnotationen des Cassirer’schen Naturbegriffs als Ausdruck einander widerstreitender Motive zu deuten, die sich alle auf den Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen ausgewirkt haben, und zwar auf jeweils so unterschiedliche Art und Weise, dass erst durch ihre getrennte Betrachtung ein differenziertes Bild von der Gesamtstellung dieser Anthropologie zur Naturfrage entstehen kann. Am auffälligsten ist zweifellos Cassirers Verzicht nicht nur auf den Naturbegriff, sondern auf ‚Naturbegriffe‘ überhaupt, d. h. auf Anknüpfungen etwa an anatomische, physiologische, evolutions- oder chemikobiologische Aussagen zur Beschreibung oder Untermauerung irgendeiner seiner wesentlichen Einsichten über den Menschen, die im Rahmen der Philosophie der symbolischen Formen entwickelt werden. Dieser bei der ersten Entwicklung seiner Thesen geübte Verzicht erweist sich aber mit Blick auf Cassirers Gesamtwerk durchaus nicht als sein letztes Wort: vielmehr bemüht er sich in den Nachlasstexten zur „Metaphysik der symbolischen Formen“ (ECN 1) und dann vor allem im Spätwerk immer stärker um naturwissenschaftliche und insbesondere biologische Positionen, wie wir (gemäß unserer werkgeschichtlich nachvollziehenden Herangehensweise) an späterer Stelle untersuchen werden. 24 Man könnte geneigt sein, diese Bemühungen, zumal sie durchaus nicht in allen Punkten befriedigend ausfallen, als ‚späte Einsicht‘ in die Bedeutung einer zuvor unterschätzten Form der Welt- und Selbsterkenntnis abzutun, wenn nicht von Anfang an bei Cassirer das ausgeprägte Interesse an Fragen der Naturerkenntnis vorhanden wäre. Weil es aber dieses Interesse gibt, scheint es mir plausibler, den anfänglichen Abstand, den Cassirer von einer auch naturphilosophischen Ausdeutung seines systematischen Gedankens nimmt, im Sinne einer bewussten Zurückstellung des Themas zu verstehen, die den vorschnellen Schlüssen einer immer und ganz besonders zu einer Zeit, die 24
In Kapitel 268.
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noch vielfach romantischen Ideen nachhing und deshalb gerade mit dem Begriff der Natur Hoffnungen auf unmittelbare ‚substantielle‘ Einsichten in das menschliche Wesen verband, zu besorgenden dogmatischen Erwartungshaltung im Ansatz den Wind aus den Segeln zu nehmen. 25 Mit Blick auf die zweite, funktionale Konnotation des Naturbegriffs wäre dann aber zu erwarten, dass Cassirer innerhalb der verschiedenen in seiner „Kritik der Kultur“ untersuchten Themenfelder jeweils der Verschränkung von ‚natürlichen‘ und ‚kulturellen‘ Funktionskomplexen im menschlichen Leben Rechnung trägt. Dazu müsste zum einen die bruchlose Integration von Aspekten unserer Natürlichkeit – leibliches Handeln, Sinneswahrnehmung, Emotionalität – in die Rekonstruktion des ‚kulturellen Tuns‘ gehören. Zum anderen müsste man erwarten dürfen, dass Cassirer die Grenzen des kulturphilosophischer Reflexion überhaupt Zugänglichen in einer Weise reflektiert, die deutlich macht, wie und wo sich ausgehend von diesen Reflexionen später auch physiologisch-informierte, dezidiert naturtheoretische Erwägungen anschließen lassen: Schon die Tatsache, dass Cassirer in ECN 1 selbst die „Nähe“ des eigenen Ansatzes zu den philosophischen Anthropologien Max Schelers und Helmuth Plessners betont, die er in diesem Zusammenhang ausdrücklich für ihre Beiträge zu einer „kritischen Naturphilosophie“ würdigt, scheint mir auf eine solche von Beginn an systematisch vorgesehene Möglichkeit hinzudeuten. In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, Cassirers Kulturphilosophie in diesem doppelten Sinne auf ihren eigenen naturphilosophischen Gehalt zu befragen und aufzuzeigen, wie sich in der Diskussion einzelner Kulturformen einschließlich ihrer ‚gerade noch‘ reflektierbaren ‚Grenzbereiche‘ jeweils konkrete Einsichten in die funktionale Spezifik des Menschen als Naturwesens artikulieren. Letztlich müssten aber alle solche Einsichten gewissermaßen in der Luft hängen, wenn nicht an irgendeiner Stelle die Existenz eines solchen ‚Naturwesens‘ in den konzeptuellen Rahmen der Philosophie der symbolischen Formen eingeholt und damit auch die Möglichkeit einer komparativen Einordnung des Menschen in das Natursystem der Lebensformen systematisch erschlossen würde. Genau eine solche Einholung gelingt Cassirer nun in meinen Augen tatsächlich mit seiner im dritten Band gegebenen Theorie des Leib-Seele-Verhältnisses als „symbolischer Relation“, von der ich (in 4.1) zeigen möchte, dass sie sich – Cassirers eigenen Vorbehalten gegen eine solche Redeweise zum Trotz – in sinnvolIch greife diesen Gedanken in § 27 wieder auf, um das hier zunächst hypothetisch formulierte mit Blick auf Cassirers Auseinandersetzung mit dem modernen Naturalismus zu erhärten. 25
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ler Weise als Postulat eines kritischen Substanzbegriffs des Menschen lesen lässt: nämlich eines ‚Formbegriffs‘ unseres je individuellen „Dasein[s] und Sosein[s]“ 26, der mir für sich genommen tatsächlich nichts anderes als den „substantiellen“ Aspekt unserer natürlich-kulturellen Existenz zu bezeichnen scheint, der aber zugleich „kritisch“ heißen muss, weil Cassirer an ihm vor allem seinen durchgängigen Zusammenhang mit den Erkenntnis- und Praxisformen der Kultur in den Vordergrund stellt, seine konkrete inhaltliche Bestimmung der (funktional verstandenen) Kulturentwicklung überantwortet und auch in dieser Hinsicht der ‚kopernikanischen Wende‘ des Kritizismus treu bleibt. Wer geneigt ist, hinter diesem Vorschlag, den ich, wie gesagt, erst an späterer Stelle im Einzelnen diskutieren und begründen kann, von vornherein ein hölzernes Eisen zu vermuten, da doch der Kritizismus zumindest nach Cassirers Verständnis gerade die Abkehr der Philosophie von allem Anspruch auf substantielle Einsichten aus eigener Kraft markiere, der sei mit Blick auf Cassirers Wissenschaftstheorie auf das erste Kapitel dieser Arbeit verwiesen, mit Blick auf seine Kulturphilosophie insgesamt auf die Erörterungen, mit denen Cassirer selbst im ersten Band des Hauptwerks seine Transformation der kantischen Vernunftkritik in eine „Kritik der Kultur“ begründet. So scheint sich Cassirer von dieser Transformation nicht zuletzt eine Befestigung der von Kant eingeleiteten ‚kopernikanischen Wende‘ in der Philosophie zu versprechen, deren methodischen Grundgedanken eben erst eine allgemeine „Kritik der Kultur“ klar hervortreten lasse – und zwar gerade auch mit Blick auf die Begriffe von ‚Gegenständlichkeit‘, ‚Sein‘ und ‚Welt‘, die durch ihre kulturphilosophische Reflexion keineswegs ‚abgeschafft‘, sondern vielmehr in ihrer Totalrelativität auf das handelnde Subjekt einsichtig gemacht werden sollen: „Die . . . Kritik der Kultur . . . sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur . . . , sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat. Hierin erst findet die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung. Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht nicht völlig gebrochen werden. Der Gegenstand der Erkenntnis mag immerhin in ihr und durch ihr ursprüngliches Gesetz in irgendeiner Weise bestimmt und geformt werden – aber er muß nichtsdestoweniger,
26
PhsF 3, S. 105.
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wie es scheint, auch außerhalb dieser Relation zu den Grundkategorien der Erkenntnis als ein selbständiges Etwas vorhanden und gegeben sein. Geht man dagegen nicht sowohl vom allgemeinen Weltbegriff als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff aus, so gewinnt damit die Frage alsbald eine veränderte Gestalt. Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: Das »Sein« ist hier nirgends anders als im »Tun« erfaßbar.“ 27
Cassirers Punkt scheint mir folgender zu sein: So nachvollziehbar, so notwendig und – vernünftig die Exklusivorientierung des neuzeitlichen Idealismus und Rationalismus an „der reinen Erkenntnisform“ der mathematischen Naturwissenschaft historisch war, weil hier ein Musterbeispiel an Sicherheit in der Gewinnung und fortschreitenden Vertiefung objektiv-gültigen Weltwissens gefunden war, hinter das die Philosophie, wollte sie an ihrem universalen Erkenntnisanspruch festhalten, um keinen Preis zurückfallen durfte, so entpuppt sich die solchermaßen zur Hauptreferenz der Philosophie erklärte Wissenschaft doch durch ihre Praxis, vorhandene Gegenstände des „Alltagsbewusstseins“ aufzugreifen und diese dann in ihren inneren oder äußeren Funktionsrelationen zu erklären, langfristig als Problem für das idealistische Zentralargument selbst. Dass es den „Gegenstand der Erkenntnis . . . auch außerhalb dieser Relation“ zu ihr noch in irgendeiner Form geben muss, damit er von der Wissenschaft überhaupt thematisiert werden kann – das ist in diesem Sinne für Cassirer kein Missverständnis, sondern eine in sich durchaus richtige Beobachtung der faktischen Kulturverhältnisse: Es ist nicht die Wissenschaft, die für uns Gegenständlichkeit als solche konstituiert. Problematisch ist nur die charakteristische Deutung, die diese Intuition in der „naiv-realistischen Weltansicht“ erhält, indem sie nämlich angesichts der wirklichen Heterarkie der Wissenschaft die idealistische These von der ursprünglichen Konstitution des „Gegenstands“ durch das Erkenntnissubjekt überhaupt in Zweifel zieht. Hier setzt Cassirers „Kritik der Kultur“ ein, indem sie einerseits die produktive Abhängigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisform von etwas ‚außer ihr Gegebenem‘ zugibt – und andererseits dieses ‚Gegebene‘ selbst wieder als Produkt der Kultur, das heißt hier aber: eines nicht mehr ‚nur erkennenden‘, sondern allgemein tätigen Subjekts erweist. Man würde Cassirer aber m. E. missverstehen, wenn man seine Verschiebung des Fokus vom „Sein“ auf das kulturelle „Tun“ des Menschen und auf unsere in den verschiedenen symbolischen Formen geleistete 27
PhsF 1, S. 9.
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„Gestaltung zur Welt“ so interpretieren wollte, dass damit alle objektive Geformtheit der Welt (gehe sie nun auf ihre Gestaltung durch uns zurück oder nicht) in ihrer Relevanz für uns a priori bestritten werden sollte. Cassirers Intention ist es, „die Kraft der naiv-realistischen Weltansicht“ zu brechen – nicht, dem empirischen Realismus oder der Orientierung an den konkreten Phänomenen unserer Welterfahrung eine grundsätzliche Absage zu erteilen; durch das systematische Ausgehen vom „allgemeinen Kulturbegriff “ soll ein bestimmtes charakteristisches Missverständnis in der Konzeption der ‚kopernikanischen Wende‘ unterlaufen – und weniger der „allgemein[e] Weltbegriff “ überhaupt aus dem philosophischen Sprachgebrauch verbannt werden. Und tatsächlich ist Cassirers Projekt einer allgemeinen „Kritik der Kultur“ am Ende selbst dann, wenn man es an einem Maß misst, das ihm selber denkbar fern liegt, nämlich am Gedanken einer substantiell vorab existierenden Welt, keineswegs ‚unrealistisch‘: Denn indem die von ihm intendierte Neufassung des philosophischen Weltbegriffs von Anfang an mit dem Korrelationsverhältnis von Subjekt und Objekt, Mensch und Welt rechnet, führt sie die kulturphilosophische Reflexion am Ende weit über das Gebiet der wissenschaftlichen Funktionsbegriffe hinaus in die Bereiche, in denen ein eigentliches ‚Gegenstandsbewusstsein‘ des Menschen erst produktiv entsteht, und zwar, wie insbesondere seine Mythosphilosophie zeigen wird: als Substanzbegriff entsteht. Allerdings: Wie aus Cassirers methodologischer Erarbeitung der begrifflichen Grundlagen jener ‚Revolution der Denkungsart‘ der Substanzbegriff als der große Verlierer hervorgegangen war, der in seinen späteren Texten zumeist nur noch als Platzhalter für die verworfene dogmatische Denkweise gebraucht wird – so ist es nun bei allem Realismus, den Cassirer in seiner Kulturphilosophie weiterhin beweist, der traditionell-‚realistische‘ Gegenbegriff zur Kultur schlechthin, nämlich der der Natur, an dem, oder vielmehr: an dessen fast durchgehender Nichtbeachtung im Text die strategische Kehrseite seines Übergangs zu einer „Kritik der Kultur“ besonders deutlich wird. § 15 Die Hinwendung zur Sinnlichkeit: Semiotik des Ausdrucks und symbolische Reflexion Meine These, dass in Cassirers kulturphilosophischem Hauptwerk, und zwar in der konkreten Durchführung des funktionalistischen Grundgedankens, auch eine ganze Reihe naturphilosophischer Aspekte enthalten ist, wird erst in den folgenden Kapiteln im Einzelnen zu belegen sein. Man
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kann aber schon im Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen einen derartigen Aspekt erkennen, nämlich darin, dass Cassirers Hauptwerk verglichen mit der Vorstudie zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff von Anfang an durch eine viel systematischere Berücksichtigung des Sinnlichen gekennzeichnet ist. Drei prinzipielle Schranken des früheren Entwurfs werden dadurch überwunden: 1. Die thematische Beschränkung auf die wissenschaftliche Welterkenntnis, von der die „Kritik der Kultur“ zu einer Reflexion im Plural auf die virtuelle Totalität kultureller Sinnformen übergeht; 2. die vergleichsweise einseitige Konzentration auf die Begriffstheorie im Sinne einer transzendentalen Logik der wissenschaftlichen Begriffsbildung, zu der die Philosophie der symbolischen Formen im Anschluss an Leibniz’ semiotisches Programm einer „universellen Charakteristik“ eine Funktionsuntersuchung unseres Zeichengebrauchs hinzufügt; und 3. jener von Plessner und anderen 28 kritisierte ‚abstrakte‘ Funktionalismus, der den Subjektpol der epistemischen Korrelation, den ‚wissenschaftlichen Geist‘ in der Art eines zwar überall latent mitgedachten, aber mit Blick auf seine Daseinsbedingungen noch weitgehend konturlosen Erkenntnissubjekts vorstellt. Was diesen dritten Punkt betrifft, der natürlich für eine Bewertung des anthropologischen Anspruchs der Philosophie der symbolischen Formen am Ende der entscheidende ist, so lässt vor allem der Vergleich mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff zwar deutlich Cassirers gestiegene Ambitionen erkennen, die untersuchten Formen geistig-kulturellen „Tuns“ an die Existenz desjenigen Lebewesens zurückzubinden, das die fraglichen Akte jederzeit als Teil seiner Lebensprozesse vollziehen muss, und das er später konsequenterweise als animal symbolicum bezeichnen wird. Wie Cassirer aber auch diese Redeweise eben erst nachträglich (im 1944 erschienenen Essay on Man 29) einführt, so hält er sich, was die theoretische Ausführung dieser ‚existenziellen‘ Seite unserer Sinnlichkeit angeht, auch weiterhin sehr zurück. Es ist zwar so, dass ‚Kultur‘ schon im Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen synonym für das „Tun“ 30 eines aufgrund seiner sinnlichen Natur überall auf Symbole angewiesenen Wesens, für die Grundrichtungen seines lebendigen Verhaltens in je spezifischer Sinnorientierung steht 31 – aber zu einer eigentlichen ExpliSiehe dazu § 1. Zum Entstehungskontext dieses Begriffs siehe ??, S. 302. 30 PhsF 1, S. 9. 31 Cassirers Philosophie der symbolischen Formen versteht sich mit anderen Worten von Anfang an nicht als ‚bloße‘ Kulturphilosophie, sondern zugleich als eine philosophische Anthropologie – eben: Kultur-Anthropologie. Vgl. PhsF 1, S. 9 f.: „Es ist eine Art des Sich-Verhaltens, es ist die Richtung, die sich der Geist auf ein gedachtes Objek28 29
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kation dieses Gedankens kommt es dabei nicht, weil Cassirer zugleich dem Grundsatz der transzendentalphilosophischen Methode treu bleibt, dass gerade dann, wenn der wesentliche Aspekt der Daseinsform, die hier in Frage steht, in ihrem Tun und „Sich-Verhalten“ 32 zu suchen ist, auch ihre Spezifik sich uns nur auf dem Wege einer reflexiven Analyse ihrer symbolischen Vermittlungs- und Artikulationsformen, d. h. allmählich erschließen kann. Mir scheint, dass man Cassirers Anthropologie im Ganzen ihrer Entwicklung nur gerecht werden kann, wenn man diese ‚kantianische Eigenheit‘ zunächst einfach akzeptiert, ohne sie vorschnell als Ausdruck eines systematischen Mangels zu verurteilen, und ohne sie andererseits durch den unvermittelten Sprung zum Spätwerk ‚umgehen‘ zu wollen: So werden auch wir die Frage, inwiefern die Philosophie der symbolischen Formen den Anspruch auf eine Erkenntnis des existierenden Menschen konkret einlösen kann, erst später untersuchen (in Kapitel Kapitel 4; zu den Grenzen von Cassirers konkreter Durchführung des kulturanthropologischen Programms siehe insbesondere auch ??) und uns in diesem § mit einer ersten orientierenden Übersicht über den konzeptionellen Bogen begnügen, auf dem Cassirer nach und nach auch eine Bestimmung des Menschen in seiner Existenzform vorbereitet. Beginnen wir dazu von vorne: beim Übergang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff zur Philosophie der symbolischen Formen. Um die von Cassirer selbst ausdrücklich betonte 33 Kontinuität und den systematischen Zusammenhang zwischen beiden Werken überhaupt als solche zu sehen, muss man sich vor allem klar machen, dass Cassirers frühe Theorie der Funktionsbegriffe im Hauptwerk nicht einfach durch eine ganz neue Thematik abgelöst wird, sondern im Gegenteil in seine kulturphilosophischen Analysen eingeht und in ihnen auf zweifache Weise erhalten bleibt. Zum einen bildet das funktionale Selbstverständnis des Denkens weiterhin die methodische Grundlage für Cassirers Reflexionen auf das Kulturleben: In diesem Sinne hebt er in der Philosophie der symbolischen Formen als „Grundprinzip des kritischen Denkens“, das auch einer „Kritik tive gibt, in welcher hier die letzte Gewähr ebendieser Objektivität selbst enthalten ist. Das philosophische Denken tritt all diesen Richtungen gegenüber – nicht lediglich in der Absicht, jede von ihnen gesondert zu verfolgen oder sie im ganzen zu überblicken, sondern mit der Voraussetzung, daß es möglich sein müsse, sie auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf ein ideelles Zentrum zu beziehen.“ 32 PhsF 1, S. 10. 33 Vgl. PhsF 1, S. VII: „Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Berlin 1910) zusammengefaßt sind“ usw.
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der Kultur“ zugrundezulegen sei, ausdrücklich wieder „das Prinzip des »Primats« der Funktion vor dem Gegenstand“ 34 hervor. Zum anderen wird die früher entwickelte Theorie der Begriffsbildung von ihm auch als Deutungsmodell des menschlichen Verstehens nicht aufgegeben, sondern zur Theorie einer besonderen Kulturform, nämlich des wissenschaftlichen Symbolgebrauchs, umgedeutet und als solche in die neue Systematik übernommen. Auf diese Weise wird nun das gesamte Wissenschaftsmodell aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff , in seinen Kernpunkten unverändert, von Cassirer gleichsam rückwirkend zum ersten Test- und Anwendungsfall einer Generaltheorie ‚symbolischer Formung‘ erklärt und dabei um komplementäre Aspekte einer semiotischen Theorie ergänzt: „Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt.“ 35
Was hier für das wissenschaftliche Denken mit Blick auf seinen Gebrauch von Wörtern, Formeln, Diagrammen und Zeichen aller Art festgehalten ist, gilt nach Cassirer ganz allgemein für alle Manifestationen des ‚Symbolischen‘, indem nämlich „»Sinnliches« und »Sinnhaftes« uns rein phänomenologisch immer nur als ungeschiedene Einheit gegeben sind.“ 36 PhsF 1, S. 9. PhsF 1, S. 16. 36 „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“, in: ECW 17, S. 253–282 ( im Folgenden zitiert als ‚SSS‘): 259 (Kursivierung F. S.). Ebd.: „Wir können niemals das Sinnliche als solches, als bloßen »Rohstoff« der Empfindung, aus dem Ganzen der Sinnverbände überhaupt herauslösen: Wohl aber können wir aufzeigen, wie es sich verschieden gestaltet und wie es Verschiedenes »besagt« und meint, je nach der charakteristischen Sinnperspektive, je nach dem Blickpunkt, unter den es rückt.“ Dieselbe Korrelationsbehauptung steckt auch in Cassirers ‚klassischer‘ Definition des „Begriff[s] der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“, in: ECW 16, S. 75–104: 79: „Unter einer »symbolischen Form« soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß 34 35
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Cassirer ergänzt mit dieser Bestimmung seinen bedeutungstheoretischen Idealismus um eine realistische Theorie der Bedeutungserfahrung: Es gibt für ihn so wenig einen ‚reinen Sinn‘ am neuplatonischen Ideenhimmel, wie es die ‚bloßen Eindrücke‘ des Sensualismus gibt; sondern die wirklichen Gegenstände unserer Welterfahrung sind als solche immer zugleich sinnlich und sinnhaft. Mit dieser ‚phänomenologischen Ungeschiedenheit‘ beider Aspekte, die zu Recht als eine der originellsten wahrnehmungstheoretischen Einsichten Cassirers gilt und allgemein mit dem Stichwort der „symbolischen Prägnanz“ verbunden wird 37, behauptet er freilich nicht die völlige Ununterscheidbarkeit von Sinn- und Sinnlichkeitsaspekt: Im Gegenteil sind es gerade die funktional verschiedenen Ausprägungen, die das Verhältnis beider Aspekte erhalten kann, die Cassirer die weitere Ausdifferenzierung der kulturellen „Semiotik und Symbolik“ über das Gebiet der Wissenschaft hinaus erlaubt. Er fixiert diese verschiedenen Formen in dem bekannten dreistufigen Schema, das der erste Band exemplarisch am funktionalen Aufbau der Sprache gewinnt und unter die Begriffe „mimischer“, „analogischer“ und „rein symbolischer Ausdruck“ stellt, bevor sich der dritte Band später für die Bezeichnungen „Ausdrucks-“, „Darstellungs-“ und „(reine) Bedeutungsfunktion“ umentscheidet. Weil es sich bei dieser Differenz aber eben um eine funktionale handelt, werden alle diese verschiedenen ‚Stufen‘ oder Formen unseres Zeichengebrauchs gleichzeitig zusammengehalten durch Cassirers pragmatischen Symbolbegriff : Als ‚Symbole‘ bezeichnet Cassirer nämlich keine vorab schon existierenden Formationen, die von uns nachträglich mit Bedeutungen belegt und so zu Zeichen gemacht würden, sondern – ganz im Sinne seiner Rede vom Zeichen als „Organ“ und „Instrument“ des Denkens – die sinnlich-sinnhaften Ausdrücke unseres lebendig-verstehenden Weltumgangs, in denen er zu festen Formen gleichsam kondensiert, und für den sie zugleich die entscheidenden Mittel zu immer spezialisierterer Konzentration darstellen. unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.“ – Cassirers Symbolbegriff verbindet hier sehr geschickt die Funktionen gebrauchten Sprache heraus möglich und verständlich wird. Für die Verständnisschwierigkeiten, die dieser Ansatz einem zu eng gefassten Sprach- und Gedankengebrauch bereiten kann, vgl. die erhellende Diskussion im Anschluss an den zitierten Vortrag Cassirers (SSS 271–282). 37 Diese Assoziation geht zurück auf John Michael Krois: „Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen“. In: Braun u. a. (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. S. 16–44.
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Insoweit man die Philosophie der symbolischen Formen als semiotische Theorie der Bedeutung auffassen kann, bietet dieser pragmatische Ansatz den Vorteil, dass damit einer Selbsteinholung der philosophischen Theorie keine prinzipiellen Hürden mehr entgegenstehen. Eine Bedeutungstheorie, die sich primär an Klassen von Zeichen orientiert, muss mit Blick auf den Status der von der eigenen Reflexion veranschlagten Begriffe und die Position, von der aus sich mit ihnen ein übergeordneter Wahrheitsanspruch verbinden lässt, über kurz oder lang in Rechtfertigungsnöte kommen. Dagegen äußert sich eine pragmatische Theorie der Bedeutung immer schon aus der Innenperspektive des Handelnden und vertritt insofern gar nicht den Anspruch, die Arten, in denen Bedeutung von Menschen generiert, erfahren und verstanden wird, sub specie aeternitatis beurteilen zu können. Cassirer kennt zwar die Probleme, die mit der philosophischen Beanspruchung letzter Wahrheiten zusammenhängen, aber er hat zumindest kein Problem damit, einzuräumen, dass die in philosophischen Diskursen verwendeten Medien – allen voran die Sprache und die Wissenschaft, aber auch Geschichte und Kunst – jedenfalls demselben kulturellen Horizont angehören wie die Aktivitäten, die mit ihnen reflektiert werden sollen. 38 Vgl. ECN 1, S. 264: „[Die] philosophisch[e] Erkenntnis . . . schafft nicht eine prinzipiell neue Symbolform, begründet in diesem Sinne keine neue schöpferische Modalität – aber sie begreift die früheren Modalitäten als das[,| was sie sind: als eigentümliche symbol[ische] Formen. – Solange die Philos[ophie] noch mit diesen Formen wetteifert, solange sie noch Welten neben und über ihnen aufbaut, hat sie sich selbst noch nicht wahrhaft erfasst.“ Ebd., S. 265: „Die Philosophie . . . will . . . nicht an Stelle der alten Formen eine andere, höhere Form setzen, sie will nicht ein Symbol durch ein anderes ersetzen, sondern ihre Aufgabe besteht im Durchschauen des symbol[ ischen ] Grundcharakters der Erk [ enntnis ] selbst.“ – Die Frage nach dem Status der Kulturform und -leistung, die die Philosophie selber darstellt, innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen kann ich hier nicht in der nötigen Ausführlichkeit entwickeln. Systematisch untersucht wurde diese Frage v. a. von Ullrich: Symbolischer Idealismus; vgl. auch ders.: „Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹“. Ullrich unterscheidet bei Cassirer zwischen zwei Betrachtungsmodi, je nachdem, ob nach dem quid facti oder nach dem quid juri, nach ‚Bestand‘ oder ‚Geltung‘ der einzelnen symbolischen Formen gefragt werde, und ordnet diesen Modi als Textbasis respektive die „kritische Phänomenologie“ der Philosophie der symbolischen Formen und die nachgelassene „Metaphysik des Symbolischen“ zu. In der Einschätzung, dass eine Differenzierung zwischen den Ebenen des phänomenologischen Nachvollzugs und der philosophischen Geltungsreflexion für ein tieferes Verständnis von Cassirers Denken unabdingbar ist, stimme ich völlig mit Ullrich überein, während mir die Zuordnung dieser Ebenen zu verschiedenen Textgruppen eher in die Irre zu führen scheint: Macht man sich klar, wie konsequent auch schon die veröffentlichten Texte Cassirers nicht nur zur Philosophie der symbolischen Formen immer wieder durchsetzt sind mit Passagen, in denen Geltung und Grenzen des von 38
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Der Preis für diese strategische Entscheidung ist allerdings, dass bei Cassirer der Status desjenigen Menschen, der doch offenbar als ‚Träger‘ jener kulturellen Akte und „Ansätze“ allein infrage kommt, deutlich schwerer zu fassen ist, als wenn er etwa von einer ‚substantiellen‘ Gegenüberstellung von Organismus und Zeichen ausgegangen wäre. 39 Die Philosophie der symbolischen Formen bleibt so sehr der pragmatischen Hinsicht der Anthropologie verpflichtet, dass sie erst einmal jede Bestimmung des Menschen und Menschlichen im Ausgang von handlungs- oder produktionstheoretischen Analysen der Kultur erwartet und insbesondere nicht mit einer kommentierenden Klassifikation der natürlichen Lebensformen und -funktionen – Pflanze, Tier, Mensch u. dgl. – beginnt, wie man sie von einer philosophischen Anthropologie üblicherweise erwarten würde. Das hält Cassirer aber nicht davon ab, nur wenige Sätze nach seiner oben (S. 161) zitierten programmatischen Erläuterung zum Projekt einer „Kritik der Kultur“ bereits von der „Voraussetzung“ spricht, „daß es möglich sein müsse“, die verschiedenen symbolischen Formen bei all ihrer Diversität sämtlich „auf einen einheitlichen Mittelpunkt, auf ein ideelles Zentrum zu beziehen“ 40: „Dieses Zentrum aber kann, kritisch betrachtet, niemals in einem gegebenen Sein, sondern nur in einer gemeinsamen Aufgabe liegen. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur . . . werden so, bei all ihrer einer bestimmten Kulturform als ‚wahr‘ oder ‚richtig‘ Beanspruchten gleichsam aus der Außenperspektive reflektiert werden, und wie konsequent dieser reflexive Eigenbeitrag der Kulturphilosophie seinerseits immer wieder gegen den Nachvollzug der Kulturphänomene selbst abgegrenzt und von ihm abgelöst wird, dann bietet sich hier in meinen Augen eher wieder die Anknüpfung an Cassirers eigene Unterscheidung zwischen „produktiver“ (bzw. produktiv-nachvollziehender) und „reflexiver“ Wissensperspektive an, die mir – nicht zuletzt wegen der hier angedeuteten Möglichkeit ihrer symboltheoretischen Selbsteinholung – tatsächlich gegenüber nahezu jedem seiner Texte nötig und förderlich erscheint. 39 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: „Cassirers Philosophie der Lebensordnungen“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 26–43, hier: S. 27: „Ein eindeutiger Träger dieses Prozesses, in welchem alles Substantielle durch sich gegenseitig definierende Wechselbeziehungen (»Reihengesetzlichkeiten«) verschwinden soll, ist schwerlich auszumachen. Erst 1944 im »Essay on Man« wird ausdrücklich der »Mensch« als »animal symbolicum« zum Zentrum jedes Wirklichkeitsverständnisses erklärt, dem jedoch keine »substantielle Einheit« zu unterstellen sei.“ Vor allem in PhsF 1 bleibt dagegen für Orth noch offen, „wer genau der Träger und Akteur solchen Tuns und Produzierens, solcher Energien ist. Leben und Kultur erscheinen uns zwar als Namen für Konkretes; sie können aber auch als eine Art Metapher des Abstrakten eingesetzt werden, bei der man sich alles Mögliche denken mag; ihr Gehalt ist dann lediglich ein funktionales und dynamisches Strukturgeflecht überhaupt.“ (Ebd.) 40 PhsF 1, S. 10.
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inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.“ 41
Mit der Idee eines solchen „ideelle[n] Zentrum[s]“, in dem sich die verschiedenen Kulturformen im Sinne einer „gemeinsamen Aufgabe“ treffen, antizipiert Cassirer eine allgemeine und offenbar rein teleologisch gemeinte Sinnbestimmung des menschlichen Lebens, die die universelle Bedeutung der Kultur für dieses Leben bereits im Ansatz verständlich machen soll. Wohl damit diese Charakterisierung gar nicht erst als thetische Explikation eines „gegebenen Sein[s]“ missverstanden werden kann, nennt Cassirer zwar das subiectum agens des großen Umbildungsprozesses ‚vom Eindruck zum Ausdruck‘ nicht „Leben“, nicht „Natur“ und nicht einmal – „Mensch“, sondern – Wasser auf die Mühlen der Idealismus-Kritiker – „Geist“. Wenn wir aber auch hier Cassirers grundlegende Einsicht in den korrelativen Zusammenhang von Geist und Leben 42 ernst nehmen, dann dürfen wir ohne weiteres unterstellen, dass seine teleologische Charakterisierung nichts anderes die wirkliche lebendig-geistige Tätigkeit des Menschen einfangen soll, der dazu also immer schon als existent vorausgesetzt ist.Und es wäre ja in der Sache auch völlig unverständlich, worauf sich Cassirers in in ihrer Allgemeinheit fast an die Beschreibung von Stoffwechselprozessen erinnernde Rede von „Eindruck“, „Ausdruck“ und dem Übergang zwischen beiden eigentlich beziehen sollte, wenn ihr nicht eine Minimalvorstellung vom sinnlichen Ablauf des Lebens überhaupt bereits zugrunde liegen würde 43, einschließlich gewisser leibhaft-existierender Lebewesen als ‚Trägern‘ der damit postulierten Akte – auch dann (ich wiederhole mich), wenn diese Vorstellung von ihm an dieser Stelle bewusst nicht weiter expliziert wird, um falschen Erwartungen, nach denen sich aus einem solchen Seinsbegriff auch die Eigenart der Kulturprozesse selber irgendwie ‚ableiten‘, ‚erschließen‘ oder gar ‚begründen‘ lassen müsste, von vornherein einen Riegel vorzuschieben.
Ebd. Siehe dazu § 11. 43 Genau an dieser zunächst bewusst unbestimmt gelassenen Stelle wird Cassirer später das vom Biologen Jakob von Uexküll übernommene Modell des organischen ‚Funktionskreises‘ einfügen, der zwischen den spezifischen Wahrnehmungs- und Äußerungsakten der Lebewesen vermittelt und ihm schließlich auch eine gewisse qualitative Einordnung des Menschen im Ganzen der natürlichen Welt erlaubt – vgl. Kapitel 4.2. 41 42
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Von den drei von Cassirer unterschiedenen Grundfunktionen unseres Symbolgebrauchs ist es vor allem die erste, die „mimische“ oder „Ausdrucksfunktion“, an der man sich ganz deutlich machen kann, dass für ihn in der Tat alle unsere symbolischen Aktivitäten in der leiblichen Expressivität des Menschen wurzeln und mittelbar aus ihr hervorgehen müssen. In dieser Doppelrolle des Ausdrucks als einer Form und als der Urfunktion aller Symbolisierung liegt der sachhaltige Grund für Cassirers scheinbar ‚unscharfe‘ Begriffsverwendung, die sich mit Blick darauf bei Bedarf jederzeit auflösen lässt: Im Unterschied zum Generalbegriff symbolischer Ausdrücke überhaupt, wie Cassirer ihn in pointierten Kontrast zur „passive[n] Welt der bloßen Eindrücke“ stellt, markieren die speziellen Termini des „Ausdrucks“, der „Ausdrucksfunktion“ oder des „Ausdrucksphänomens“ diejenige besondere Form des ‚Symbolismus‘, in der unser Leib nicht bloß als das für seine Durchführung verantwortliche „Exekutivorgan der Spontaneität“ 44 fungiert, sondern in der seine physiologisch-funktionalen Eigenbedingungen die symbolischen Gestaltungen selbst in Form und Funktionsweise maßgeblich prägen. Die expressiven Nuancen einer situativ sich verhaltenden, sich gebärdenden Physiognomie sind zu komplex und vielfältig, als dass irgendwelche externe Zeichen sie erschöpfend repräsentieren könnten; und so hängt der Sinn eines solchen mimisch-gestischen Ausdrucks nach Cassirer derart unlöslich mit den sinnlichen Konstituenten seiner jeweiligen Äußerung zusammen, dass eine eigentliche Differenzierung beider Momente nur auf dem Wege nachträglicher Analyse, d. h. aber auch: nur von einem Standpunkt außerhalb des rein ‚Ausdruckshaften‘ aus möglich ist. Die Möglichkeit eines solchen ‚äußeren Standpunkts‘ wiederum ist für Cassirer – durchaus innerhalb des Horizonts kultureller Symbolik überhaupt – gesichert durch die Realität der „reinen Bedeutungsfunktion“, die insofern als sein komplementärer Gegenentwurf zum „Ausdruck“ (im speziellen Sinn) erscheint: Hier ist das Verhältnis des Menschen zu einer jeweils intendierten Sinn-Bedeutung von einer so großen Reflexionsdistanz gekennzeichnet, dass relativ zu dieser Bedeutung auch die Ebene ihrer sinnlichen Repräsentation gleichsam in die Ferne rückt. So werden beide für das Subjekt zu Korrelata einer freien Zuordnung, mit der es sich in je bestimmter Hin- und Absicht auf Bedeutungs-BezeichnungsPaare festlegt, ohne den dadurch gestifteten Bezug darüber hinaus noch zu einem irgendwie ‚an sich‘ bestehenden Verhältnis umzudeuten. Diese weitgehende Trennung von ‚Sinn‘ und ‚Sinnlichkeit‘ bietet den Vorteil einer nahezu beliebigen Variabilität der Zeichen je nach Kontext und 44
Ullrich: Symbolischer Idealismus, S. 47.
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Bedarf, die einer differenziert-verstehenden Deutung unserer Welt- und Selbsterfahrung grundsätzlich zugute kommt. Hier zeigt sich noch einmal deutlich, dass und wie das Problem der wissenschaftlichen Begriffsbildung, das in Cassirers früheren erkenntnistheoretischen Untersuchungen zunächst als Thema einer transzendentalen Logik in Betracht gekommen war, nicht durch eine ganz andere Thematik verdrängt oder ‚überwunden‘, sondern (neben anderen Formen) in einen allgemeinen Begriff des ‚kulturellen Geistes‘ eingebunden und darin unter Beibehaltung aller früher getroffenen Bestimmungen ergänzt wird um die Untersuchung der faktischen Manifestation begrifflicher Gehalte in den besonderen Zeichen ihres jeweiligen Ausdrucks. 45 Und es ist letztlich wiederum diese systematische Einbindung der Wissenschaft, die auch die Möglichkeit einer differenzierten Reflexion auf die „Ausdrucksphänomene“ erst verständlich macht: Denn nur dann, wenn die Einheit von ‚Sinn‘ und ‚sinnlichem Ausdruck‘ am Phänomen selbst als eine prinzipiell-unauflösliche anerkannt wird und zugleich ein klares Bewusstsein davon gegeben ist, dass damit eine Pluralität der auf sie bezugnehmenden Zeichen (wie etwa der verschiedenen Wörter ‚Sinn‘ und ‚Sinnlichkeit‘) keineswegs ausgeschlossen ist: erst dann ergibt sich überhaupt – anhand und entlang der Zeichendifferenzen – die Option einer Differenzierung zweier Aspekte am ‚selben‘, die Cassirer später prägnant in die auf Heraklit zurückgehende, aber wohl bei Hölderlin rezipierte Formel des „in sich selbst unterschiedenen Einen“ (ἓν διαφερόµενον ἑαυτῷ) fassen und um die herum er seine Deutung der menschlichen Existenzform entwickeln wird. 46 Fassen wir das Gesagte noch einmal mit Blick auf die in den ersten Kapiteln dieser Arbeit entwickelte Differenz zusammen: Indem Cassirer die „Ausdrucksfunktion“ als elementarste Stufe unseres symbolischen Weltumgangs ansetzt, spannt er den gesamten genetischen Aufbau der symbolischen Formen – und damit, nach seinem Verständnis, der Kultur in ihrem geistigen Gesamtsinn – in einen anthropologischen Rahmen ein, der das leiblich-expressive Verhalten des Menschen als sein erstes produktives Verhältnis zur Welt und faktische Grundlage auch für alle späteren Nur deshalb kann ja der scheinbare Sonderfall unseres (kreativen oder rezeptiven) Gebrauchs von Symbolen bei Cassirer überhaupt zu einer allgemeinen Wesensfunktion des Menschen avancieren, weil er in Wahrheit eine ubiquitäre Bedingung der Möglichkeit unseres Wissens von der Welt und darin uns selbst vorstellt, von der – und darin liegt schon der Beleg für die These von seiner Universalität – auch die Wissenschaft in ihrem Streben nach ‚reiner‘ Objektivität nicht ausgenommen ist. 46 Vgl. PhsF 3, S. 105. – Zur Interpretation des speziellen Gebrauchs, den Cassirer von dieser Konstruktion für seine Deutung des existierenden Menschen macht, siehe § 25. 45
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kulturellen (Symbol-)Produktionen etabliert. Die Stufe der „reinen Bedeutung“ andererseits hat sich bereits als diejenige Symbolfunktion erwiesen, mit der Cassirer „alles wahrhaft strenge und exakte Denken“ 47 der Wissenschaft symboltheoretisch einholt. So gelingt es Cassirer, durch die neue Berücksichtigung der Zeichen als sinnlicher „Organ[e]“ des Denkens zugleich auch das eigene philosophische Selbstverständnis semiotisch zu vervollständigen, ohne es in irgendeinem wesentlichen Punkt zu revidieren: Tatsächlich ist die Art, in der auf der Stufe der „Bedeutungsfunktion“ mit dem Verhältnis von ‚Bedeutung‘ (Sinn) und ‚Bezeichnung‘ (Sinnlichkeit) umgegangen wird, dem maximal-distanzierten Symbolgebrauch der mathematischen Funktionsbegriffe nicht nur analog, sondern es sind gerade die Formen der (funktionalen) Begriffs- und Zeichenbildung in der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, an denen Cassirer die Eigenart der „Bedeutungsfunktion“ exemplarisch festmacht – und so lässt sich die Tatsache, dass er sich in der Methode seines eigenen Denkens (auf rein begrifflicher Ebene) unverändert am ‚funktionalen‘ Paradigma orientiert, im kulturtheoretischen Kontext der Philosophie der symbolischen Formen konsistent so reinterpretieren, dass seine philosophische Reflexion sich darin als ein Sprechen über „reine Bedeutungen“, d. h. als besondere Form des „rein symbolischen“ Sprechens nach wissenschaftlichen Maßstäben zu erkennen gibt. Wie nun zum Selbstverständnis jeder differenzierten Reflexion die Abgrenzung gegen alles Undifferenzierte und Unreflektierte gehört, wie jede Geltungstheorie vom scharfen Kontrast zur Betrachtung des bloßen „Daseins und Soseins“ 48 lebt, so kann umgekehrt eine anthropologisch-‚produktionstheoretische‘ Selbsteinholung des wissenschaftlich-philosophischen Sprechens erst dann als vollständig gelten, wenn sich in ihr die genetische Kontinuität der beiden semiotischen Extreme, wenn sich der stetige Übergang unseres Symbolgebrauchs vom bloßen „Ausdruck“ bis zur Referenzierung „reiner Bedeutungen“ plausibel darlegen lässt. Hierin liegt in meinen Augen die wesentliche Pointe jener dritten, ‚mittleren‘ Stufe, die Cassirer noch ‚zwischen‘ Ausdruck und Bedeutung unterscheidet: Es gehört nämlich zu den charakteristischen Merkmalen der „Darstellungsfunktion“, das faktische Auseinander von Zeichen und Bezeichnetem mit der subjektiven Identifikation beider Aspekte im Bewusstsein der Beteiligten zu verbinden. Anders als in den „Ausdrucksphänomenen“ wird hier faktisch nicht mehr nur die immanente Stimmung einer Gesamtsituation symbolisiert, sondern mithilfe von Zeichen auf einen externen 47 48
PhsF 1, S. 16 (siehe das Zitat weiter oben). Vgl. z. B. PhsF 3, S. 82.
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Sachverhalt Bezug genommen, der mit Lage und Form der Symbole selbst gar nichts mehr zu tun haben muss – aber anders als in den Funktionssymbolen der „reinen Bedeutung“ ist ein eigentliches Reflexionsbewusstsein von dieser Differenz dabei noch nicht entwickelt, weshalb die Symbolik sich auf dieser Stufe überall doch wieder zwischen dem legitimierenden Narrativ einer ‚Ursprungsidentität‘ des Zeichens mit seinem Referenzobjekt und der normativen Idealvorstellung einer (wieder) herzustellenden ‚Entsprechung‘ zwischen beiden bewegt. So kann Cassirer im Rückgriff auf einen auch in früheren Schriften immer wieder begegnenden Gedanken einsichtig machen, dass wir es bei der ‚Reflexion‘ im anspruchsvollen Sinn der selbstbestimmten, differenzierten und kritischen Betrachtung von Phänomenen mit einer sehr späten und komplexen Errungenschaft der Menschheit zu tun haben, die sie sich – ausgehend von relativ weniger reflektierten Formen des Weltumgangs – nur ganz allmählich in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Erfahrungswelt und insbesondere den eigenen dabei gebrauchten Zeichen erarbeiten konnte: Zeichen, deren sinngebenden und sinnerschließenden Funktionen es zuerst in einem Akt des geistigen Transfers von der eigenen Körperlichkeit auf äußere Gegenstände zu projizieren galt (Ausdruck→Darstellung), bevor die derart ‚externalisierten‘ Symbole in einem zweiten Schritt selbst wieder zum Gegenstand einer auf ihre Erzeugung durch uns reflektierenden Betrachtung werden konnten (Darstellung→Bedeutung), um zuletzt auf der Grundlage des solchermaßen gewonnenen Bewusstseins zu ihrer freien Handhabung überzugehen (reine Bedeutung). Ich habe mich bis hierher mit einem zugegebenermaßen sehr schematischen Kurzreferat der Cassirer’schen Kultursemiotik begnügt mit dem doppelten Hintergedanken, dass 1. gerade eine solche stark vereinfachende, radikal auf die in ihr reflektierten Grundverhältnisse von Sinn und Sinnlichkeit heruntergebrochene Lesart es erlaubt, die Kontinuitäten klarer zu sehen, die die Philosophie der symbolischen Formen in ihrer systematischen Anlage mit dem Deutungsmodell von Cassirers früher Begriffs- und Wissenschaftsphilosophie verbinden (entsprechend der ‚oberen Hälfte‘ in Schema C) – und dass 2. eine solche Lesart, mit all ihren Unzulänglichkeiten, dennoch erlaubt und sogar sehr sinnvoll sein kann, vorausgesetzt, dass auch sie selbst einschließlich der in ihr vorgestellten Cassirer’schen Reflexionsbegriffe schon als „rein symbolische“ Rede verstanden wird, die den strengen Adäquatheitsanspruch einer bis ins Letzte korrekten „Darstellung“ hinter sich gelassen und ersetzt hat durch das Selbstverständnis eines immer vorläufigen, korrigierbaren und ergänzungsbedürftigen Verständnisbeitrags.
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Schema C: Die drei „Funktionen des Symbolbewusstseins“ in ihren respektiven Verhältnissen von sinnlichen Zeichen (Z) und Sinn-Bedeutungen (B).
Dass die Sache ‚in Wirklichkeit‘ komplizierter ist, lässt sich schon daran ersehen, dass der Bezug der drei reflexiv von Cassirer unterschiedenen „Symbolfunktionen“ zu dem, was mit diesen Kategorien beschrieben werden soll: zur Kultur und ihren verschiedenen „symbolischen Formen“, durchaus nicht im Sinne einer statischen Festlegung intendiert ist. So spricht Cassirer von einem „allgemeinste[n] gedankliche [ n ] Bezugssystem . . . , relativ zu dem wir die »Orientierung« jeder einzelnen symbolischen Form beschreiben und bestimmen wollen“ 49: Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion fungieren demnach wie ideelle Koordinatenachsen, die es dem Kulturphilosophen erlauben, die Entwicklung einer symbolischen Form mit Blick auf ihre je aktualisierten Möglichkeiten und Grenzen analog zum Verlauf einer „Raumkurve“ 50 zu beschreiben. Vorbehaltlich des auch darin artikulierten Hinweises, dass die von ihm unterschiedenen „Symbolfunktionen“ also selbst immer nur als ‚funktionale‘ oder ‚rein symbolische‘ Reflexionsbegriffe zu verstehen sind, deren Legitimität mit der klaren Unterscheidung zwischen der mit ihnen 49 50
SSS 259. Ebd.
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angestrebten Orientierungsleistung und den in ihnen jeweils reflektierten Kulturformen steht und fällt, stellt Cassirer dann aber doch eine besondere Eignung bestimmter symbolischer Formen fest, die Eigenart von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion zu exemplifizieren, die denn auch gerade mit den thematischen Schwerpunkten der drei Bände des Hauptwerks zusammenfallen 51: So ist eben für ihn die (insbesondere mit mathematischen Begriffen operierende) „Wissenschaft“ diejenige Form, die durch die in ihren Begriffszeichen systematisch angestrebte maximale Reflexionsdistanz zu ihren ‚Gegenständen‘ die Spezifik der „reinen Bedeutungsfunktion“ besonders gut einsichtig machen kann – und auf der anderen Seite ist es das klassische Gegenbild zum philosophisch-wissenschaftlichen ‚Logos‘, nämlich „der Mythos“, an dessen Gestaltungen sich nach Cassirers Einschätzung die Charakteristika der „Ausdrucksfunktion“ exemplarisch studieren lassen. 52 Zwischen beiden wiederum erscheint, als das entscheidende Mittel- und Bindeglied, „die Sprache“, die – einerseits in der „Ausdrucksfunktion“ wurzelnd, andererseits auch die „reine Symbolik“ der wissenschaftlichen Begriffsbildung noch tragend und ermöglichend – ihre eigentümliche Leistung vor allem im Bereich der „Darstellung“ entfaltet und von Cassirer im ersten Band des Hauptwerks untersucht wird. 3.2 Die Natürlichkeit der Sprache § 16 Leibliches und lautliches Sprechen Wäre die Philosophie der symbolischen Formen nicht mehr als ein theoretisches Deutungsmodell der Kultur in ihrem objektiven Strukturbestand, dann müsste man sich mit Blick auf die Anordnung der drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen fragen, warum Cassirer nicht mit der Untersuchung der strukturell ‚einfachsten‘ Form, nämlich des Mythos Vgl. dazu ECN 1, S. 6: „Wir haben in den vorangehenden Betrachtungen [der Philosophie der symbolischen Formen, F.S.] die geistige Dimension des ‚Ausdrucks‘ von der der ‚Darstellung‘ und von der der ,Bedeutung‘ gesondert – und wir haben diese Dreiteilung als eine Art ideellen Bezugssystems benutzt, an dem sich die Eigenart der mythischen Form, der Sprachform, der reinen Erkenntnisform feststellen und gewissermassen ablesen liess.“ 52 Vgl. PhsF 3, S. 74: „Wo es sich um die Problematik und um die Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse handelt, da können wir uns weder der Leitung und Orientierung durch die begriffliche Erkenntnis noch auch lediglich der Leitung der Sprache überlassen. . . . Der Mythos hingegen versetzt uns in den lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets.“ 51
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beginnt (dieser wird erst im zweiten Band verhandelt), sondern mit der Analyse der Sprache, die später, in der „systematischen Konsequenz“, die der dritte Band aus den beiden vorherigen zieht, als ein mittleres Gebiet zwischen unserem mythischen und empirisch-wissenschaftlichen Weltverstehen erscheint. Gerade diese Vermittlerfunktion der Sprache als universelles „Vehikel“ 53 des Denkens erklärt aber m. E. auch schon ihre vorgezogene Behandlung in einer transzendentalphilosophischen Anthropologie, für die jede allgemeine Einsicht in die symbolischen Ausdrucksformen des Menschen immer zugleich auf Selbstverständnis und Selbsterkenntnis der eigenen Denkleistungen beziehbar bleiben soll. Und es ist ja nicht so, als müsste Cassirer in der Erarbeitung seiner Kulturphilosophie das ganze Rad neu erfinden: Eben weil er die erste Untersuchung einer „symbolischen Form“, nämlich die der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnis, schon lange vor ihrer expliziten Bezeichnung als solche im systematisch Wesentlichen geleistet hatte, führt der Bogen, der auf die weitere Klärung der Bedingungen ihrer wie der eigenen Produktivität gerichtet ist, ganz selbstverständlich zunächst über die Sprache als dasjenige Medium, in dem sich der philosophisch-wissenschaftliche ‚Logos‘, der sich hier zugleich über dieses Medium Rechenschaft gibt, auch mit dem ‚vorwissenschaftlichen‘ Weltverstehen auseinandersetzen kann. Sprache ist die allgemeinste und flexibelste Ausdrucksform sachhaltiger Weltverständigung unter den Menschen und als Medium des philosophischen Gedankens zugleich die Vor- und Urform aller wissenschaftlichen Welterkenntnis; schon diese Koinzidenz qualifiziert sie hinreichend zum prioritären Gegenstand einer transzendentalphilosophischen Anthropologie der Kultur. Als ein durchgehender Vorzug der Cassirer’schen Sprachphilosophie erweist sich dabei ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem unfruchtbaren Gegensatz des Ansetzens bei der ‚gewöhnlichen‘ oder aber einer Idealsprache, bei der durchschnitthaften ‚ordinary language‘ oder den künstlich konstruierten Begriffssprachen z. B. des Wiener Kreises. Anstatt sich derartigen Schulrichtungen zu verschreiben, geht Cassirer von einem (im kantischen Sinne) Weltbegriff der Sprache aus, der dem Anspruch nach alle funktionalen Möglichkeiten, soweit sie in den faktischen Sprechakten der Menschheit irgend zu verwirklichen sind, gleichermaßen umfasst. Infolgedessen ist es der ganze Facettenreichtum des natürlichen Sprechens, der im Verständnis der Sprache als einer symbolischen Form reflektiert werden soll, und zwar keineswegs nur im übertragenen Sinne: Denn unter den verschiedenen „Energien des Geistes“, wie Cassirer seine symbolischen Formen immer wieder synonym anspricht, 54 ist es besonders die Spra53
PhsF 1, VIII; PhsF 3, 380 etc.
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che, die uns – vom ersten Schrei des Neugeborenen bis zum elaborierten Kommunikationsmedium – schon als leibliche Naturanlage zur aktiven Teilnahme am menschlichen Kulturleben befähigt. 55 Deutlich zeigt sich dieser Aspekt bereits in Cassirers Anknüpfung an Wilhelm von Humboldt, in dessen Sprachphilosophie sich für ihn bezeichnenderweise „Kantische und Schellingsche Elemente [merkwürdig] durchdringen“ 56: An der historischen „Grenze“ zwischen dem „ältere[n] rationalistische[n] Begriff der »Reflexionsform«, der die Philosophie der Aufklärung beherrscht“ und dem „romantischen Begriff der »organischen Form«“, die für Cassirer durch Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache markiert wird 57, trennt sich Humboldt von den organologischen Sprachtheorien der Romantik, um zwischen der romantischen Idee der ‚organischen Form‘ und der von Leibniz herstammenden und durch Kant und Herder vermittelten „Idee der Totalität“ einen dritten Weg einzuschlagen, der die Sprache in ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen Individualität und Universalität in den Blick nimmt. In seiner aristotelisch inspirierten Bestimmung der Sprache als „Energeia“, als Gesamtheit bestimmter organischer Synthesishandlungen des Menschen, der sich die Philosophie in Form einer Analyse in ihre genetischen Strukturmomente zuwenden müsse, konkretisiert sich diese Vermittlerrolle dahingehend, dass es sich für ihn um eine Energie des Geistes und des Lebens handelt, die es dem Einzelnen erst erlaubt, sein Verhältnis zur Gesamtheit Neben der weiter oben zitierten ‚Definition‘ im Aufsatz zum „Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (ECW 16, S. 79) vgl. etwa „Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie“, ECW 16, S. 105– 133: 124; PhsF 1, S. 7 und 121 etc. 55 Bezeichnend für diese Sicht ist etwa Cassirers Analyse des Rufs als „Organ[s] des Willens“, durch das sich im Medium des Sprachlauts die Entwicklung des Kindes zur Selbstbestimmung vollziehe: „Denn das Bewußtsein steht [im Ruf] nicht mehr im Zeichen der bloßen Reproduktion, sondern im Zeichen der Antizipation . . . Demgemäß begleitet jetzt der Laut nicht nur einen vorhandenen inneren Gefühls- und Erregungszustand, sondern er wirkt selbst als ein Motiv, das in das Geschehen eingreift. Die Veränderungen dieses Geschehens werden nicht lediglich bezeichnet, sondern im eigentlichen Sinne »hervorgerufen«.“ (PhsF 1, S. 258). 56 PhsF 1, S. 100: „Auf dem Boden der kritischen Analyse der Erkenntnisvermögen stehend, sucht Humboldt zu dem Punkte vorzudringen, an dem der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität, von Individualität und Allgemeinheit zu reiner Indifferenz sich aufhebt. Aber der Weg, den er in der Aufweisung dieser letzten Einheit nimmt, ist nicht der Weg der intellektuellen Anschauung, die uns unmittelbar über alle Schranken des »endlichen« analytisch-diskursiven Begriffs hinwegheben soll. Wie Kant als Kritiker der Erkenntnis, so steht Humboldt als Kritiker der Sprache in dem »fruchtbare[n] Bathos der Erfahrung«.“ Vgl. auch „Die kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie“, ECW 16, S. 105–133. 57 Vgl. PhsF 1, S. 95. 54
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der geistigen Vollzüge des Menschen überhaupt in bestimmter Weise zu erfassen. 58 Cassirer schließt sich dieser Auffassung an, indem er sie unmittelbar mit seinen eigenen Einsichten in den Funktionscharakter wissenschaftlicher Begriffe in Verbindung setzt: Wie der logische Begriff seiner wesentlichen Leistung nach von ihm als Funktion der tätig-lebendigen Urteilsbildung der Wissenschaft(ler) verstanden wurde, so fasst Cassirer mit Humboldt nun auch die sprachliche Äußerung von der satzhaften Ausdruckshandlung her als Lebensfunktion auf, sodass man „im wahren und wesentlichen Sinne . . . nur . . . die Totalität [des jedesmaligen] Sprechens als »die« Sprache, . . . nur die Funktion und deren allseitige, von bestimmten Gesetzen beherrschte Ausübung als dasjenige ansehen [kann], was ihre Substantialität, ihren ideellen Bestand ausmacht.“ 59 Die nach meiner Einschätzung auch hier wieder nicht ausschließlich negativ zu lesende „Substantialität“ der Sprache, die die entsprechenden Funktionsleistungen als Momente einer immer auch sinnlichen Wirklichkeit ausweist, bewahrt hierbei nun weit deutlicher als im Fall der wissenschaftlichen Begriffsbildung einen dauernden anschaulich-fasslichen Bezugspunkt in der expressiven Leiblichkeit der individuellen Sprecher, deren prinzipielle (organische) Befähigung zu sprachlicher Artikulation darum gewissermaßen immer schon vorausgesetzt ist. Ganz in diesem Sinne lässt Cassirer den funktionalen „Aufbau“ der Sprache entlang seines von Anfang an als exemplarisch für alle symbolischen Formen konzipierten Drei-Stufen-Schemas 60 nicht erst mit den propositionalen Gefügen einsetzen, die ihm später als natürliche PräpaVgl. PhsF 1, S. 95–97. – Gerald Hartung ist dem hier nur andeutungsweise gestreiften Zusammenhang zwischen Cassirers Sprachphilosophie und den lebenswissenschaftlich und lebensphilosophisch geprägten Debatten der Zeit über das Wesen der Sprache und die sprachwissenschaftliche Methodik vor kurzem in einem sehr interessanten Aufsatz nachgegangen: Gerald Hartung: „Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 359–376. 59 PhsF 1, S. 104. 60 Vgl. PhsF 1, S. 137: „Allgemein läßt sich eine dreifache Stufenfolge aufweisen, in welcher sich dieses Heranreifen der Sprache zu ihrer eigenen Form, diese ihre innere Selbstbefreiung vollzieht. Wenn wir diese Stufen als die des mimischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks bezeichnen, so enthält diese Dreiteilung zunächst nicht mehr als ein abstraktes Schema – aber dieses Schema wird sich in dem Maße mit konkretem Gehalt erfüllen, als sich zeigen wird, daß es nicht nur als Prinzip der Klassifikation gegebener Spracherscheinungen dienen kann, sondern daß sich in ihm eine funktionale Gesetzlichkeit des Aufbaus der Sprache darstellt, die in anderen Gebieten, wie in dem der Kunst oder der Erkenntnis, ihr ganz bestimmtes und charakteristisches Gegenbild hat.“ 58
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rate für logische „Satzfunktionen“ 61 in Betracht kommen, sondern im Bereich des Mimischen: Die für alles Symbolische konstitutive Wechselbeziehung von ‚Sinn‘ und ‚Sinnlichem‘ zeigt sich hier noch nicht als eigentlich-zeichenhaftes Verweisungsgefüge, sondern in der Art einer ursprünglichen Verschränktheit beider Momente im Lebensvollzug leiblich-lautlicher Ausdrucksgebärden. Wenn schon die philosophisch-wissenschaftliche Reflexion auf diese ‚nonverbalen‘, mimisch-gestischen und lautmalerischen Anfänge der Sprache ‚sinnliche‘ und ‚sinnhafte‘ Momente an ihr kaum mehr voneinander trennen kann, so spricht Cassirer unter dem produktiven Aspekt des Äußerungsvollzugs selbst (d. h. aus der Perspektive des derart sich tätig-äußernden Menschen) ausdrücklich von einer „Indifferenz“ 62 von bedeutungshaftem Sinngehalt und sinnlicher Artikulation. Damit soll nicht etwa eine nachträgliche Verbindung oder Vermischung real getrennter Elemente gemeint sein, sondern eine echte „strukturgenetische“ 63 Ursprungseinheit, die unter diesem Aspekt eher umgekehrt als faktische Vorbedingung jeder späteren Differenzierung der Momente erscheint: „Der seelische Inhalt und sein sinnlicher Ausdruck erscheinen hier derart in eins gesetzt, daß jener nicht schlechthin vor dem anderen als ein Selbständiges und Selbstgenügsames besteht, sondern daß er sich vielmehr erst in ihm und mit ihm vollendet. Beide, der Inhalt wie der Ausdruck, werden erst in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu dem, was sie sind: Die Bedeutung, die sie in ihrer Beziehung aufeinander empfangen, tritt zu ihrem Sein nicht bloß äußerlich hinzu, sondern sie ist es, die dies Sein erst konstituiert. Hier liegt kein vermitteltes Ergebnis vor; sondern es besteht hierin ebenjene grundlegende Synthese, aus der die Sprache als Ganzes entspringt und durch die alle ihre Teile, vom elementarsten sinnlichen bis zum höchsten geistigen Ausdruck, miteinander zusammengehalten werden.“ 64
Schon hier ist absehbar, was sich uns später noch in anderer Hinsicht zeigen wird, 65 dass nämlich die „grundlegende Synthese“, von der Cassirer mit Blick auf den mimischen Ausdruck spricht, auf nichts anderes verSiehe PhsF 3, S. 328 ff. PhsF 1, S. 123. 63 Vgl. Reto Luzius Fetz: „Ernst Cassirer und der strukturgenetische Ansatz“. In: Braun u. a. (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. S. 156– 190. 64 PhsF 1, S. 123. 65 Siehe § 25. 61 62
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weist als den ‚natürlichen‘ psychophysischen Daseinszusammenhang des Menschen, von dem die Sprache nicht wie ein äußeres Hilfsmittel „zum Zweck der konventionellen Mitteilung an andere“ abtrennbar, 66 sondern in den sie als eine seiner wesentlichen Lebensfunktionen organisch hineinverwoben ist. Nicht nur für die ‚entäußerten‘ Kulturleistungen des Menschen, sondern auch für seine leibseelische Existenzweise ist (wie sich ebenfalls noch zeigen wird) die Sprache für Cassirer die exemplarische symbolische Form, an der sich unter anderem besonders deutlich ablesen lässt, was überhaupt im funktionalen Sinne unter ‚Existenz‘ zu verstehen ist. 67 Konsequenterweise wendet sich Cassirer mit seiner Deutung der Sprache als Kulturform auch hier wieder nicht per se gegen Ansätze zu ihrer naturwissenschaftlichen Erklärung, sondern nur gegen die spezielle sensualistische Tendenz, mit einer solchen Erklärung die „Dynamik“ des sprachlichen Bewusstseins auf die „Statik“ angenommener seelischer oder leiblicher „Zustände“ zurückführen zu wollen. 68 Dagegen kann er sich ohne Vorbehalt auf die „moderne Sprachpsychologie“ (v. a. repräsentiert durch Wilhelm Wundt) beziehen, die sich mit Recht als Teilgebiet einer „allgemeinen Psychologie der Ausdrucksbewegungen“ verstehe. 69 Gerade in solchen „Ausdrucksbewegungen“ verortet ja auch Cassirer selbst den Beginn der Sprache und des Sprechens, sofern eben jede derartige Bewegung als „unmittelbare Einheit des »Inneren« und des »Äußeren«, des »Geistigen« und »Leiblichen«“ „gerade in dem, was sie direkt und sinnlich ist, ein anderes, aber in ihr selbst Gegenwärtiges, bedeutet und »besagt«“. 70 Dieses „andere“, im reinen Ausdrucksakt schon hinreichend Mitteilbare bleibt dabei freilich zunächst auf den Bereich einfacher „Affekt[e]“ eingeschränkt, die sich „kraft eines Zusammenhangs, der sich rein physiologisch beschreiben und deuten läßt, ursprünglich in einer leiblichen Bewegung aus[drücken]“. 71 In diesem Kontext erweist sich für Cassirer sogar Darwins Deutung der Ausdrucksbewegung als eines „Residuum[s] ursprünglicher Zweckhandlungen“ für eine fruchtbare Interpretation geeignet, „die über den engeren Kreis [der] biologische[n] Problemstellung hinausführt“: 72 In der Art, wie eine Ausdrucksbewegung einerseits „noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch an66 67 68 69 70 71 72
PhsF 1, S. 123. Siehe auch hierzu § 25 und § 26. Vgl. PhsF 1, S. 124. PhsF 1, S. 123 f. PhsF 1, S. 124. PhsF 1, S. 124. PhsF 1, S. 125.
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dererseits über diese bereits hinausgeht“, stelle sich nämlich in ihr immer auch „eine Art Hemmung und Rückwendung“ des „sinnliche[n] Trieb[s]“ dar, durch die schließlich „eine neue Bewußtheit ebendieses Triebes“ möglich werde: „Indem die Aktion sich gleichsam aus der unmittelbaren Form des Wirkens zurückzieht, gewinnt sie damit für sich selbst einen neuen Spielraum und eine neue Freiheit; steht sie damit bereits an dem Übergang vom bloß »Pragmatischen« zum »Theoretischen«, von dem physischen zum ideellen Tun.“ 73 Der auf den ersten Blick unerklärliche „Übergang“ zum „ideellen Tun“, den Cassirer hier nicht ohne ein gewisses Pathos postuliert, wird dem Leser gleich darauf plastisch ausgelegt als ein durchaus natürlicher, durchaus leibhafter Prozess. Es beginnt schon mit dem „Greifen in die Ferne“ im hinweisenden Zeigen, das „auch bei den höchstentwickelten Tieren über erste und unvollkommene Ansätze nicht hinausgelangt“ sei, 74 während der Mensch schon in derjenigen Entwicklungsphase, die einem hypothetischen ‚Naturzustand‘ nach landläufiger Ansicht am nächsten kommt, nämlich schon als Kind diese Elementartechnik des Triebverzichts ausbilde, anstelle des „unmittelbare[n] sinnliche[n] Ergreifen[s] und Inbesitznehmen[s]“ den „begehrten Inhalt von sich selbst [zu] entfern[en] und ihn sich damit erst zum »Gegenstand«, zum »objektiven« Inhalt [zu] gestalte[n]“. 75 Dass der hierin bereits angelegte „stetig[e] Übergang vom »Greifen« zum »Begreifen«“, vom „sinnlichen Deuten“ bis zur abstrakten „Bedeutung“ dann auch aktuell vollzogen wird, hängt nun für Cassirer eng mit dem Übergang zur Lautsprache zusammen: Erst die im lautlichen Sprechen erforderte und ermöglichte Entfernung der Symbolik vom eigenen Leib – die sich zwar dadurch nicht gleichsam in den luftleeren Raum verabschiedet, sondern sich bloß in der Luft ein neues „sinnliche[s] Substrat“ sucht, um sich fortan im „physischen Medium des Lautes“ weiterzuentwickeln 76 – erst diese relative Distanzierung eröffnet der Sprache nach Cassirers Ansicht jene „ganz neue Freiheit und Tiefe“ der symbolischen PhsF 1, S. 125. PhsF 1, S. 126. 75 PhsF 1, S. 126. – Analog versteht Cassirer auch die „nachahmenden“ Gebärden als echt poietische Leistungen „auf dem Wege zur Darstellung, in welcher die Objekte nicht mehr einfach in ihrer fertigen Bildung hingenommen, sondern in der sie vom Bewußtsein nach ihren konstitutiven Grundzügen aufgebaut werden.“ (PhsF 1, S. 129). 76 PhsF 1, S. 130. In der Logik der Kulturwissenschaften kommt Cassirer noch einmal auf das verallgemeinerte Bild zurück, „daß die Menschheit sich in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihren Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört“: LKW , S. 486. 73 74
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Artikulation von Abwesendem, die eine erste Loslösung vom je situativ und gestisch Verfügbaren immer schon zu ihrer wesentlichen Voraussetzung hat. ‚Loslösung‘ heißt hier aber vorerst keineswegs ‚Ablösung‘ der Sprache vom Leib und von ihrer leiblichen Erzeugung; im Gegenteil: Gerade die Lautsprache, in der jeder diskrete „Inhalt . . . im Akt seiner Hervorbringung auf[geht]“, ist in dieser ihrer „Flüchtigkeit“ 77 ja zuletzt nur möglich durch die aktuelle Dynamik des Leibes und seiner Sprechorgane im ständig erneuerten Artikulationsvollzug. 78 So geht es also auch hier weniger um eine Distanzierung vom Leiblich-Naturhaften überhaupt als wiederum um eine gewisse „Hemmung des direkten Ausbruchs in die Gebärde und den unartikulierten Erregungslaut“ 79, mit anderen Worten: um eine positive Leistung psychophysischer Selbstbestimmung des Menschen gegenüber der Heteronomie seines Trieblebens. Die relative Befreiung von bestimmten Einzelaspekten unseres leiblichen Bedingungskomplexes, die in der Schwerpunktverschiebung von der Gebärden- zur Lautsprache enthalten ist – die Entlastung etwa von den motorischen Einschränkungen durch das Gestikulieren auf der hervorbringenden, von den sinnlich-affektiven Anforderungen des Hinsehenmüssens auf der verstehenden Seite – erhält ihren positiven Sinn bei Cassirer konkret aus den neuen Möglichkeiten, die sie der menschlichen Freiheit erschließt. 80 Dass Cassirer zum Ausdruck dieses Emanzipationspotenzials der Sprache später an den Herder’schen Begriff der „Reflexion“ anknüpfen kann, 81 ist dabei weder Zufall noch bloßes Spiel mit Worten: Denn wirklich sieht er hier im funktionalen Apparat der (Laut-)Sprache schon den ersten „Keim und Anfang zu jedweder Form von Begriffsbildung“ 82 angelegt. Die Vorsichtigkeit dieses „Jedweder“ muss uns freilich gleich wieder daran erinnern, dass weder das Problem der „Begriffsbildung“ noch das der „Reflexion“ hier von Cassirer noch auf ihre spezielle Bedeutung im mathePhsF 1, S. 131. Ein großer Vorzug der Cassirer’schen Sprachphilosophie gegenüber Ansätzen, die die Sprache grundsätzlich als festes Kategoriensystem analysieren oder ein solches zumindest (Saussures Begriff der langue entsprechend) als einen ihrer Wesensaspekte behaupten, besteht darin, dass sie dem Gestaltwandel lebendiger Sprachen besser gerecht wird, der eben nicht nur in Neologismen und grammatischen Reformen besteht, sondern daneben immer neue Lautverschiebungen, Verschleifungen, dialektale Artikulationsdifferenzen u. ä. umfasst. 79 PhsF 1, S. 132. 80 Über diesen Unterschied zwischen Befreiung-von und Freiheit-zu siehe meine Bemerkung in § 6, S. 74. 81 Vgl. PhsF 3, S. 126 ff. 82 PhsF 3, S. 128. 77 78
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matisch-naturwissenschaftlichen Erkenntniskontext eingeschränkt sind, sondern dass es hier um die Analyse eines komplexen Handlungswegs geht, in dem das Moment der sprachlichen Darstellung (ähnlich dem der reflektierenden Beurteilung in der Kritik der Urteilskraft 83) einerseits als Vorform und Vorbedingung aller ‚reinen Theorie‘, andererseits als eine Leistung sui generis mit vielfältigen Bezügen zu anderen Kulturformen in den Blick kommt. Beides wird uns im Zusammenhang mit Cassirers Theorie der Wahrnehmung noch gesondert beschäftigen. 84 Schon hier gilt es aber im Blick zu behalten, dass sich die Analyse der Sprache als symbolischer Form immer auch als eine (bis auf die sporadischsten Anfänge zurückgehende) Reflexion des ‚Erkenntniskritikers‘ auf den einen der „zwei Stämme“ 85 versteht, aus denen Cassirer ganz im Sinne des kantischen Bildes schließlich auch die „rein symbolischen“ Erkenntnisse der mathematischen Naturwissenschaft noch erwachsen sieht. 86 § 17 Sprachliche Repräsentation und Teilhabe an Welt Im Strukturaufbau der Sprache zeigt sich der Fortgang zur immer bewussteren Handhabung ihrer symbolischen „Darstellungsfunktion“ 87 für Cassirer in der gegenüber dem Mimischen und Interjektionalen qualitativ gewandelten „neue[n] Form“ des „analogischen“ Sprechens. 88 Hinter der „Analogie der Form“ 89, die Cassirer hier im Auge hat, steht dabei kein Verhältnis der „direkten materiellen Ähnlichkeit“ zwischen einer einzelnen sprachlichen Gestalt (als ‚Ergon‘) und einem einzelnen herausgegriffenen Zug der Wirklichkeit, sondern ein Bezug zwischen zwei Verhältnisreihen: Der Mensch macht nämlich nun die artikulierten Lautbildungen einer Sprache, soweit sie schon kollektiv eingeübt und als Gesamtbestand gegenüber dem ‚Unartikulierten‘ konventionell fixiert sind, als solche zum Mittel, um bestimmte an ihnen isolierbare lautliche Verhältnisse (heller/dunkler Vokal, einfache/reduplizierte Silbe etc.) irgendSiehe § 12 Siehe dazu 3.4. 85 KrV-A 25. 86 PhsF 3, S. 128. – Der andere „Stamm“ meint hier natürlich die Entwicklung unserer Wahrnehmungsformen selbst zur „spezifische[n] Gliederung der anschaulichen Welt“ (PhsF 3, S. 127); siehe auch dazu 3.4. 87 Mit diesem Begriff, an dem die Philosophie der symbolischen Formen auch in den folgenden Texten festhalten wird, greift Cassirer eine Formulierung von Karl Bühler auf: vgl. PhsF 3, S. 122, Anmerkung 6. 88 PhsF 1, S. 132. 89 PhsF 1, S. 141. 83 84
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welchen ganz davon unabhängigen Verhältnisbestimmungen ‚in der Welt‘ (z.B. Nähe/Ferne, Einzahl/Mehrzahl etc.) entsprechen zu lassen, sodass diese dann durch die sinnlichen Lautverhältnisse im aktiven Sprechen „analogisch“ dargestellt werden können. 90 Offenbar haben wir es hier in bestimmter Hinsicht mit dem an menschlichen Sprechakten aufgewiesenen Äquivalent des ‚relationalen‘ Denkens zu tun, das Cassirers Theorie der wissenschaftlichen Funktionsbegriffe in den Mittelpunkt gestellt hatte – und in anderer Hinsicht doch wieder nicht: Denn der relational-„analogische“ Bezug, der hier gestiftet wird, verdankt sein Dasein im Unterschied zu jenen nicht der Einsicht Einzelner oder einer allgemein anerkannten ‚Methode‘ als ihrer institutionalisierten Verlängerung, sondern ‚die Sprache selbst‘ als kollektive Leistung einer Sprechergemeinschaft ‚entdeckt‘ und entwickelt hier aus dem Reichtum ihrer zuvor schon ausdifferenzierten Lautbildungen heraus eine höchst zweckmäßige Form der ‚Bezeichnung‘, die alles mimetische „Ausschöpfen“ 91 einzelner Weltinhalte durch Gebärde und Laut schließlich weit hinter sich lässt, ohne dass sich eine bewusst-reflektierte Absicht, ein ‚Plan‘ oder gar ‚Vertrag‘ dahinter ausfindig machen ließe. 92 In diesem Zusammenhang gewinnt nun der überindividuelle, alles bloß-Individuelle transzendierende Aspekt der Sprache an Relevanz, den Cassirer schon in seiner Auseinandersetzung mit Humboldt hervorgehoben hatte 93 (und der sie in gewissem Sinne erst eindeutig als Kulturleistung qualifiziert): Die ‚Allgemeinheit‘ der Sprache als universelles Kulturmedium zeugt eben nach der Ansicht der Philosophie der symbolischen Formen nicht von einem besonderen ‚Abstraktionsvermögen‘ des menschlichen Geistes, mit dem dem Einzelnen ein zugleich weitreichendes und letztlich rätselhaftes Potential zugeschrieben wird, sondern diese Allgemeinheit ist bloß ein anderer Ausdruck für die Möglichkeit, mit einer im Grundsatz von allen Menschen vollziehbaren und uns deshalb prinzipiell Vgl. PhsF 1, S. 141. Vgl. PhsF 1, S. 138 ff. 92 Darin beweist die Sprache also wirklich zu einem gewissen Grad „Autonomie“, wie Gregory Moss jüngst hervorgehoben hat (Moss: Ernst Cassirer and the autonomy of language). Ob ein Nachweis derselben wirklich in dem Maße Cassirers ‚Hegelianismus‘ bemühen muss, wie Moss das geltend macht, darf man bezweifeln; denn es ist ja – wie Moss denn auch selber feststellt (vgl. ebd., S. 55) – gerade nicht Hegel, sondern Humboldt, dessen Begriff der Sprache als Energeia die Grundlage für Cassirers systematische Sprachphilosophie liefert. Was das Verhältnis von sprachlicher und wissenschaftlicher Begriffsbildung angeht, stimme ich allerdings mit Moss’ Anspruch überein, der festhält: „we must find a way to resolve this tension: language must provide a bridge to science without being measured by scientific standards.“ (ebd., S. 11). 93 Siehe oben S. 178 (vgl. PhsF 1, S. 99 f.). 90 91
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verständlichen Handlung gemeinschaftlich auf Weltverhältnisse Bezug zu nehmen. 94 Allein dadurch, dass diese Möglichkeit von einer ganzen Gesellschaft im teils schöpferischen, teils sich am kulturell Vorgefundenen orientierenden Umgang mit den Sprachlauten aktualisiert wird, bilden sich nach und nach jene intersubjektive Schnittflächen des Sinns heraus, die sich endlich bis zum festen Symbolsystem einer besonderen Einzelsprache als eines mehr oder weniger kohärenten Regelwerks der Sinnartikulation verdichten. Die objektiven Bedingungen, unter denen dieser Umgang stattfindet – gemeinsames natürliches und soziales Lebensumfeld, vergleichbare Sinnes- und Sprechorgane der Menschen als Angehöriger derselben Spezies etc. – steuern hingegen zu diesem Prozess nur den allgemeinen Rahmen bei, aus dem sich zwar die Sprache nicht grundsätzlich herausentwickelt, der sie aber auch nicht a priori auf besondere Bezeichnungsschemata festlegt. Das von Cassirer oft zitierte Humboldtsche Diktum, dass die Vielfalt der menschlichen Sprachen nicht nur eine „Verschiedenheit . . . von Schällen und Zeichen, sondern . . . der Weltansichten selbst“ 95 anzeige, bleibt also auch bei ihm selbst voll anerkannt: Es ist nicht die eine objektive Vgl. PhsF 1, S. 259 f.: „Für Noiré ist es insbesondere die soziale Form des Wirkens, die die soziale Funktion der Sprache als Verständigungsmittel erst ermöglicht hat. . . . [I]ndem der Laut nicht im isolierten, sondern im gemeinschaftlichen Tun der Menschen entsteht, besitzt er damit von Anfang an einen wahrhaft gemeinschaftlichen, einen »allgemeinen« Sinn. Die Sprache als sensorium commune konnte nur aus der Sympathie der Tätigkeit hervorgehen. . . . Der empirische Beweis, auf den Noiré diese seine spekulative These zu stützen versuchte, darf freilich als endgültig gescheitert gelten . . . Aber auch wenn man nicht die Hoffnung hegt, von diesem Punkte aus in das letzte metaphysische Geheimnis des Sprachursprungs hineinblicken zu können, so zeigt doch schon die Betrachtung der empirischen Form der Sprachen, wie tief sie im Gebiet des Wirkens und Tuns, als ihrem eigentlichen Nähr- und Mutterboden, verwurzelt sind.“ – Auf diese Anknüpfung Cassirers an die schon damals „endgültig gescheitert[e]“ Sprachtheorie Ludwig Noirés hat sich Gideon Freudenthal zur Rechtfertigung seiner These bezogen, dass Cassirer mit seiner Anthropologie der Kultur einen Begriff der produktiven Entwicklung der symbolischen Formen und ihrer komplexen Wechselwirkungen voraussetze, den er selbst nicht ausreichend expliziere: vgl. Gideon Freudenthal: „The Missing Core of Cassirer’s Philosophy. Homo Faber in Thin Air“. In: S. 203–226, S. 213; vgl. ebd., 219: „Devoid of the dual material and spiritual nature, Cassirer’s idea of symbol cannot carry the burden of explaining development which would be different from the unfolding of an already existing implicit content“. Auf die Frage nach der Tragfähigkeit der Philosophie der symbolischen Formen als einer pragmatischen Theorie der Entwicklung menschlichen Lebens und menschlicher Kultur werde ich in ?? zurückkommen. 95 Wilhelm von Humboldt: „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus den Jahren 1820–1821. Berlin 1822. S. 239–260, S. 255; von Cassirer zitiert etwa in PhsF 1, S. 102. 94
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Welt, die sich der Mensch durch die Sprache erschließt, sondern jede besondere Sprache bildet eine je spezifisch geformte „Weltansicht“ heraus, die die Grenzen des individuellen Erlebens zunächst nur zum Raum eines kollektiven Sinnempfindens und -handelns hin transzendiert. 96 Die soziale Natur des Menschen auch abseits aller spezifischen Kulturleistungen vorausgesetzt, haben wir es hier offenbar mit einer Verhaltensweise zu tun, die als solche den Rahmen der natürlich-leiblichen Existenz des Menschen und ihrer immanenten Möglichkeiten noch in keiner Weise übersteigt; und dennoch kommt mit ihr ein Medium in die Welt, das dem Menschen einen im Bereich des Lebens einzigartigen, höchst charakteristischen Bezug auf sie ermöglicht: Mit der durch die Sprache, und zwar konkret in ihrer „analogischen“ Funktion, eröffneten Möglichkeit eines präzisen Austauschs der Perspektiven und Vorstellungen, Gefühle und Interessen der verschiedenen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft gewinnt nämlich, wie dies vor einigen Jahren (zwar ohne Bezug auf Cassirer) Ernst Tugendhat treffend auf den Punkt gebracht hat, der lebendige Ausdruck des Menschen „eine Funktion, die nicht nur situationsunabhängig ist, sondern auch unabhängig von der Kommunikation“ 97. Es ist, um es wieder mit Cassirer zu sagen, der im Wesentlichen schon im Übergang zur analogischen „Darstellung“ eingeschlagene Weg zur Bedeutung, der die Sprache für den Menschen so bedeutsam macht – und zwar insbesondere auch für den Einzelnen unmittelbar bedeutsam macht, weil sie andererseits noch ‚konkret genug‘ und ‚frei genug‘ bleibt und weder die thematische Ausschließlichkeit noch die methodische Strenge der nur am objektiv-Gültigen interessierten (natur)wissenschaftlichen Erkenntnisform kennt. Dass die Sprache, vor allem auf ihrer „analogischen“ Entwicklungsstufe, diese Funktion im Leben des Menschen erfüllt, heißt dabei aber Vgl. PhsF 1, S. 102: „[E]rst die Totalität dieser Weltansichten macht den für uns erreichbaren Begriff der Objektivität aus. So begreift es sich, daß die Sprache, indem sie dem Erkennbaren als subjektiv entgegensteht, auf der anderen Seite dem Menschen, als empirisch-psychologischen Subjekt, als objektiv gegenübertritt.“ Vgl. auch „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“, in: Ernst Cassirer, Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2009, S. 191–217: 210: „Die Geschichte der Menschheit lehrt, welche Mühe es kostet und welcher geistig-sittlichen Anstrengung es bedarf, den Gedanken einer übersprachlichen Gemeinschaft zu erfassen – einer humanitas, die nicht durch den Gebrauch einer bestimmten Sondersprache zusammengehalten und konstituiert wird. Die Idee dieser »Humanität« führt über die Sprache hinaus; aber auf der anderen Seite bildet die Sprache einen der unentbehrlichen Durchgangspunkte für sie, eine notwendige Etappe auf dem Wege zu ihr.“ (Kursivierung F. S.). 97 Ernst Tugendhat: „Anthropologie als „Erste Philosophie““. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2007), H. 1. S. 5–16, S. 10. 96
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nicht, dass sie sich von Anfang an dieser Funktion als solcher im Sinne ihrer eigenen „reinen Bedeutung“ bewusst wäre. Soweit die Sprache primär ein Mittel der „Darstellung“ von und vor allem „zur Welt“ ist, ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Am paradigmatischen Fall der Kopulaausdrücke weist schon der erste Band auf die prinzipiellen Schwierigkeiten hin, die für die Sprache mit dem Übergang zum Ausdruck reiner Relationszusammenhänge verbunden sind, und die sie, wo überhaupt, nur behelfsweise durch den metaphorischen Gebrauch ‚konkreterer‘ Begriffe bewältigen zu können scheint: So ist es für Cassirer „klar, daß [die Sprache] zu der Abstraktion jenes reinen Seins, das sich in der Kopula ausdrückt, nur ganz allmählich vordringen kann. Der Ausdruck des »Seins« als einer reinen transzendentalen Beziehungsform ist für sie, die ursprünglich ganz in der Anschauung des substantiellen, des gegenständlichen Daseins steht und an sie gebunden bleibt, immer erst ein spätes und mannigfach vermitteltes Ergebnis.“ 98 Dieser Problematik wendet sich Cassirer auch in anderen Texten zur Philosophie der symbolischen Formen verschiedentlich zu. 99 Im Aufsatz „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“ von 1932/33 finden wir etwa die wichtige Klarstellung, dass die mit Blick auf das „reine Beziehungsdenken“ eher als eine Grenze erscheinende Verhaftung der Sprache im Anschaulich-Konkreten andererseits im produktiven Ganzen unserer geistigen Weltbewältigung gerade „eine ihrer wesentlichen Tugenden“ 100 ausmache. Cassirer sieht hier in der Sprache v. a. „ein Mittel der Gegenstandsbildung, ja sie ist im gewissen Sinne das Mittel, das wichtigste und vorzüglichste Instrument für die Gewinnung und den Aufbau einer reinen ¦»Gegenstandswelt«“ 101. Dieser „wesentlich[e] und notwendig[e] Zusammenhang zwischen der Grundfunktion der Sprache und der Funktion des gegenständlichen Vorstellens“ 102 hat nach Cassirer eine ursprünglich völlige „Konkreszenz“ von „Ding und Namen“ 103 im PhsF 1, S. 294. Vgl. dazu „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“, in: ECW 16, S. 227–311 ( im Folgenden zitiert als ‚SM‘); „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“, in: Ernst Cassirer, Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2009, S. 191–217 ( im Folgenden zitiert als ‚SAG‘; der Aufsatz im „Schriften“-Band folgt der längeren Textfassung, die Cassirer 1933 in französischer Übersetzung im Journal de Psychologie veröffentlicht hat, und von der ECW 18 auf S. 111–122 nur etwa die erste Hälfte enthält) sowie aus späterer Zeit „The Influence of Language upon the Development of Scientific Thought“, in: ECW 24, S. 115–134. 100 SAG 199 (= ECW 18, S. 119). 101 SAG 196 (= ECW 18, S. 116). 102 SAG 195 (=E CW 18, S. 115). 103 SAG 198 (= ECW 18, S. 118); vgl. auch SAG 212. 98 99
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sprachlichen Bewusstsein zur Folge – ein Zug, der die Sprache, wie wir im Folgenden noch sehen werden, mit dem mythischen Denken verbindet und deshalb nicht das letzte, unkritisch hingenommene Wort unseres Zeichengebrauchs bleiben darf. Und doch ist es letztlich die auch dieser Vermischung zugrunde liegende exklusive Konzentration auf die Bestimmung und Klassifikation der Gegenstände als solcher, mit der die Sprache nach Cassirer entscheidend dazu beiträgt, dass der Mensch im Unterschied zum Tier eine „Stufe des Lebens erreicht, in der es [von] der bloßen Sphäre des Wirkens, der »Aktion« und »Reaktion« . . . in die Form der Darstellung, und damit in die primäre Form des Wissens, übergeht“, wodurch sich sein „gesamte[r] Lebens horizont“ 104 verändert. So sind es letztlich ausgerechnet die „substantiellen“ 105 Gegenstandsbegriffe der Sprache, auf denen für Cassirer die spezifische Differenz zwischen menschlichem und tierischem Leben wesentlich beruht: „Ein Haus von vorn, von hinten, von der Seite gesehen . . . und in verschiedenen Beleuchtungen betrachtet, sind zweifellos anschaulich durchaus verschiedene Erlebnisse. Aber indem nun jedem dieser Erlebnisse in der Sprachentwicklung, in der Erlernung des »Namens«, ein Zeichen beigegeben und zugeordnet wird, gehen sie damit zugleich untereinander eine neue Bindung ein und treten in ein neues Verhältnis. Die Einheit des Namens dient zum Kristallisationspunkt für die Mannig faltigkeit der Vorstellungen: Die an sich heterogenen Phänomene werden dadurch homogen und gleichartig, daß sie sich auf einen gemeinsamen Mittelpunkt beziehen. Und kraft dieser Beziehung erst werden sie nun auch als Erscheinungen ein und desselben »Gegenstandes« und als seine »Abschattungen« gedeutet.“ 106
SAG 197 (=ECW 18, S. 117). PhsF 1, S. 294. Auch im dritten Band des Hauptwerks stellt Cassirer wieder fest, dass eine der wichtigsten Leistungen der Sprache darin bestehe, „in der gegebenen Wahrnehmung das Bleibende vom Wandelbaren, das »Typische« vom »Transitorischen« [zu scheiden]“ (PhsF 3, S. 175) – also gerade diejenige Einteilung der Welt in ‚Substanzielles‘ und ‚Akzidentelles‘ zu ermöglichen, deren Verabsolutierung Cassirer in geltungstheoretischer Perspektive auch weiterhin (zu Recht) bestreitet. Vgl. dazu ferner ECN 1, S. 71 f. 106 SAG 199 (=ECW 18, S. 119; Kursivierung F. S.). 104 105
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§ 18 „unvergleichlich viel weiter und reicher“: Wie natürlich ist die Sprache? Die Leistung der repräsentationalen Sprache, den Menschen immer mehr über sein je individuelles Erleben hinaus- und über ein gemeinschaftliches Sinnbewusstsein schließlich an die Vorstellung einer objektiven Welt heranzuführen, bedingt schließlich noch eine weitere, erst aus ihrer bewusstreflektierten Beherrschung entspringende Erstaunlichkeit. Je weiter nämlich das (seinerseits schon sprachlich vermittelte) Selbstbewusstsein des Menschen von den Wesensgesetzen symbolischer Kommunikation entwickelt ist, desto mehr werden dadurch auch scheinbar unüberwindliche Schranken seiner eigenen organischen Konstitution auf einmal kompensierbar: Es muss gar nicht jedes Mal der Laut, das Schriftzeichen, die mimische oder handzeichenartige Gebärde sein, worin der spezifische Symbolcharakter ‚sprachlicher‘ Kommunikation im Einzelfall erscheint. Der Fall der blind und taubstumm geborenen Helen Keller, die sich schließlich in Form eines rein taktilen ‚Fingeralphabets‘ einen ganz eigenen Zugang zur umgebenden Sprachgemeinschaft und damit zu ihrer Weltansicht erarbeiten konnte, wird für Cassirer zum bis in den Essay on Man immer wieder angeführten Paradebeispiel dafür, wie selbst „bei äußerster Einengung des Stoffs“, an dem die sprachliche Bezeichnung sich artikuliert, ihre wesentliche Funktion der Darstellung „zur Welt“ sich weiterhin erfüllen kann. 107 „Entscheidend sind . . . nicht die einzelnen Steine und Ziegel, sondern [die] allgemeine Funktion [der Sprache] als architektonische Form . . . , die die materiellen Zeichen belebt und »zum Sprechen bringt«. Ohne dieses belebende Prinzip würde die menschliche Welt taubstumm bleiben. Mit ihm wiederum kann selbst die Welt eines taubstummen, blinden Kindes unvergleichlich viel weiter und reicher werden als die Welt des höchstentwickelten Tieres.“ 108 Wenn wir es nicht besser wüssten, wäre es offenbar ein leichtes, diese Gegenüberstellung Cassirers als Beleg für einen ‚platonischen‘ Funktionalismus der Sprache zu verstehen, der sie als etwas im Grunde radikal aller Natur Enthobenes präsentiert. In der Tat scheint mir Cassirer mit der darin enthaltenen Suggestion, die Sprache (und pars pro toto die Kultur überhaupt) könne sich in ihrer allgemeinen Emanzipationstendenz schließlich von aller Natürlichkeit überhaupt loseisen, einen Schritt PhsF 3, S. 125 f.: 126; vgl. EM 39 f. und 143. Zum Gedanken der Symbolfunktion als einer „Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr . . . zur Welt“ vgl. PhsF 1, S. 9, siehe dazu auch den vorigen §. 108 VM 64 (Hervorhebungen im Original). 107
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zu weit zu gehen, und ich werde später noch einmal auf diesen Punkt zurückkommen. 109 Vom allerdings erstaunlichen Potential der Sprache, sich – angefangen bei ihren Ursprüngen in der noch die ganze Physiologie involvierenden Gestik bis zur Mundbewegung, zur Schrift. . . – immer weiter von allen besonderen Bedingungen ihrer leiblichen Aktualisierung unabhängig zu machen, auf ihre völlige Unabhängigkeit von aller Leiblichkeit schließen zu wollen, liefe jedenfalls auf eine Übertreibung hinaus: Ohne z. B. das in verschiedenen Kanälen gleich hoch ausgeprägte innere Differenzierungsvermögen unserer Sinnlichkeit, das es uns überhaupt erst erlaubt, Äquivalente der komplexen akustischen Artikulationsmuster lautlichen Sprechens im visuellen Spektrum (Schrift) oder eben auch im taktilen zu entwickeln und zu beherrschen, wäre letztlich auch eine Spezialleistung wie das Kellersche ‚Fingeralphabet‘ unvorstellbar. Was Helen Kellers Beispiel in instruktiver Weise zeigt, ist deshalb eigentlich nicht die völlige Gleichgültigkeit des Vorhanden- oder Nichtvorhandenseins bestimmter organischer Kapazitäten, sondern eher die Tatsache, dass unser kulturelles Symbolhandeln überall auf einer Verschränkung aus ‚Natürlichkeit‘ (unserer psychophysischen Lebensfunktionen) und ‚Künstlichkeit‘ beruht; und zwar auf einer Verschränkung von solcher Komplexität und Tiefe, dass sie nicht aus irgendwelchen Vorannahmen über das Wesen beider ‚Bereiche‘, über ihre genaue ‚Grenze‘ etc. theoretisch zu reproduzieren, sondern immer nur von einer Phänomenologie der Kulturwirklichkeit her rückschließend aufzulösen ist, sodass erst ein solches ‚rekonstruktives‘ Verfahren dem Philosophen auch eine nähere Bestimmung der a priori unabsehbaren „Umwege“ 110 erlaubt, denen die ‚menschliche Natur‘ im Aufbau dieser Leistungen folgen kann. So führen uns Cassirers Untersuchungen zur Sprache in diesem Zusammenhang wieder auf seine allgemeine ‚Strategie‘ im kritischen Umgang mit unserer Natürlichkeit zurück, von der ich oben (in § 14) schon vorgeschlagen habe, sie nicht als Ausdruck einer grundsätzlichen Verwerfung, sondern eher einer einstweiligen Zurückstellung des Problems zu begreifen. Mit Blick auf den exemplarischen Fall der Sprache erlaubt uns diese Deutung insbesondere auch, ein Cassirer’sches Theorem, das durch Siehe dazu ??. Vgl. GL 197: „Köhler hat in seinen Intelligenzversuchen an Anthropoiden gezeigt, daß die vielleicht höchste Leistung, die dem Tiere zugemutet werden kann, die Kunst des »Umwegs« ist – und daß auch die höchststehenden Tiere diese Kunst nur mühsam und nur in sehr beschränktem Maße erlernen. Demgegenüber bedeutet die Welt des menschlichen Geistes, wie sie sich in der Sprache und im Werkzeugsgebrauch, in der künstlerischen Darstellung und in der begrifflichen Erkenntnis aufbaut, nichts anderes als die ständige, stets erweiterte und verfeinerte »Kunst des Umwegs«.“ 109 110
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die Einleitung zum Hauptwerk geistert und regelmäßig für Verwirrung sorgt, schlüssig in unseren Interpretationsrahmen zu integrieren: Cassirer unterscheidet dort die „künstliche Symbolik“ der Kultur von einer – konsequent in Anführungszeichen gefassten – „»natürlichen« Symbolik“ des menschlichen Bewusstseins, die er im repräsentationalen Charakter desselben erkennt: „Es gibt kein »Etwas« im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein »Anderes« und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und » Präsenz« des Inhalts nennen.“ 111
Auf diese „natürliche Symbolik“ müssten wir nun nach Cassirers Worten immer wieder „zurückgehen“, um die „künstliche Symbolik“ der Kultur zu „begreifen“ 112 – denn: „Die Kraft und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. Daß ein Sinnlich-Einzelnes, wie es z. B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein geistigen Bedeutung werden kann – dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird. . . . Daraus ergibt sich sofort die eigentümliche Doppelnatur dieser Gebilde: ihre Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt.“ 113
Irritierend an dieser Argumentation ist, dass Cassirer an dieser Stelle mit keinem Wort erklärt, worin die ‚Natürlichkeit‘ der „natürlichen Symbolik“ eigentlich konkret bestehen soll. Unsere bisherigen Analysen zu seiner Philosophie der Sprache legen jedoch nahe, diesen Begriff in zweierlei Hinsicht mit Inhalt zu füllen: Sprache ist dem Menschen einerseits ‚natürlich‘, sofern sie ursprünglich in der Gesamtstruktur seiner expressiven Leiblichkeit wurzelt – in seinen spezifischen Naturanlagen zur mimischen 111 112 113
PhsF 1, S. 30 f. PhsF 1, S. 39. PhsF 1, S. 39 f.
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und lautlichen Interaktion, zum Greifen und Sichgebärden, zur Orientierung und Bewegung in Raum und Zeit und zum differenzierten Umgang mit Seinesgleichen –; und sie bleibt andererseits auch in ihren darüber hinausgehenden Entwicklungen ‚natürlich‘ im Sinne einer Normleistung im Selbstbegriff der Gattung, die wir aufgrund ihrer Unverzichtbarkeit für die Partizipation des Einzelnen an der Umgebungskultur als so wesentlich zum menschlichen Leben gehörig begreifen, dass wir selbst unter widrigsten Bedingungen alles an ihre Wiederherstellung setzen würden. Beide Nuancen lassen sich vom exemplarischen Fall der Sprache leicht auf andere symbolische Formen übertragen, sofern sie ja nach Cassirer einerseits alle (direkt oder indirekt) auf Potentialen des „Ausdrucks“ beruhen, deren Wurzeln sich in genetisch-evolutionärer Perspektive bis weit hinter alle Kulturgeschichte zurückverfolgen lassen, und sofern sie dennoch alle erst durch ihr über die bloße Leibexpressivität Hinausgehen zum „darstellenden“ Umgang mit „Bedeutungen“ jenes Leistungsspektrum erschließen, das wir seinerseits als einen wesentlichen Aspekt der ‚menschlichen Natur‘ begreifen können. Je deutlicher man sich diese impliziten Konsequenzen der systematischen Anlage der Philosophie der symbolischen Formen macht, desto klarer wird auch, dass Cassirers Zurückhaltung bei der vorwegnehmenden Explikation unserer ‚Natürlichkeit‘ (etwa auch in der Frage der „natürlichen Symbolik“) unter seinen transzendentalphilosophischen Prämissen tatsächlich kein Ausdruck eines Mangels an Bestimmtheit, sondern einfach methodisch geboten ist. Es ist auch nicht so, dass Cassirer sich diesen Fragen überhaupt entziehen würde; sein methodischer Vorbehalt macht vielmehr ein indirektes Verfahren erforderlich, der eine Bestimmung des ‚natürlichen Anteils‘ der symbolischen Leistungen nur ex negativo erwarten lässt: Nicht der strukturelle Aufbau unserer Lebensfunktionen in biologisch-physiologischer Perspektive (über der für Cassirer immer die Gefahr schwebt, wieder in das deduktive Ideal eines mathematisch-mechanischen Naturbegriffs einzumünden), sondern erst ihr Abbau im Pathologischen führt ihn auf die Möglichkeit eines eigentlichen Abgleichs „zwischen der organischen Welt und der Welt der menschlichen Kultur“ 114, welche letztere eben nach seiner Einsicht weit schwieriger theoretisch zu hintergehen (geschweige praktisch zu verlassen) ist, als Sensualismus und Naturalismus vorgeben. Erst dort, wo – viel gravierender als der letztlich kompensierbare Ausfall einzelner Sinnesleistungen – in den Fällen von „Aphasie“, „Amusie“ und „Apraxie“, die Cassirer mit einem von Karl Maria Finkelnburg eingeführten Terminus als untereinander zusammen114
PhsF 3, S. 322.
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hängende Erscheinungsformen einer funktionalen „Asymbolie“ begreift, der analytischen „Scheidekunst des Gedankens . . . gewissermaßen eine Scheidekunst der Natur“ 115 zu Hilfe kommt (!) – erst dort lässt sich nach seiner Einsicht von der Komplexität unserer kulturellen Weltkonstitution überhaupt in einer solchen Weise „absehen“ 116, dass sich „hoffen“ lässt, daraus gleichsam auch einen „Maßstab“ für den funktionalen „Abstand“ beider „Welten“ zu gewinnen. Hier liegt Cassirers Fokus nun (in glattem Gegensatz zu den in § 1 vorgestellten Deutungen, nach denen der Mensch bei Cassirer jedes Bewusstsein von seiner ‚Tierheit‘ verloren hätte) in der Tat auf den „schlagende[n] Analogien“ zwischen menschlichem und tierischem Verhalten, deren „Grenzlinie“ sich im pathologischen Fall sogar wieder „zu verwischen“ 117 beginne: „Wenn ein Kranker seinen Löffel oder Becher richtig gebraucht, falls er ihm während der Mahlzeit dargeboten wird, beide aber außerhalb derselben verkennt oder nicht zweckgemäß zu verwenden weiß, so . . . [erinnert das] an das Verhalten der Radspinne, die, während sie über eine Mücke oder Fliege, die in gewohnter Weise in ihr Netz einfliegt, sofort herfällt, sich vor ihr wie vor einem Feind zurückzieht, sobald sie ihr unter ungewohnten Umständen begegnet. Wenn ferner die Sandwespe . . . [die] Visitation [ihrer Höhle] dreißig- oder vierzigmal wiederholt, sobald [ihre] gewohnte Handlungsfolge durch einen äußeren Eingriff unterbrochen wird – so haben wir auch hier wieder ein Beispiel jener starren, stereotypen Handlungsfolgen vor uns, wie sie sich bei den Kranken beobachten lassen. In beiden Fällen ist das Vorstellen wie das Handeln gewissermaßen in feste Bahnen gezwängt, aus denen es nicht heraustreten kann, um sich, sei es die einzelnen »Merkmale« eines Gegenstandes, sei es die einzelnen charakteristischen Phasen einer Handlung, selbständig zu vergegenwärtigen. Das Tun steht unter einem Impuls von rückwärts, der es in die Zukunft forttreibt und vorstößt; es ist nicht von ebendieser Zukunft her und durch die Antizipation derselben, durch ihre ideelle »Vorwegnahme« bestimmt. . . . [Bei diesem Fortgang ins »Ideelle« scheinen die] Form des PhsF 3, S. 238. Vgl. ECN 1, S. 52: „Wenn in [der] unmittelbaren Lebendigkeit [des Geistes] alle seine Energien auf den Aufbau der einzelnen Formwelten gerichtet waren – so kann jetzt eine Art “Abbau” derselben versucht werden. Aber dieser Abbau kann freilich niemals im ontologischen, sondern er kann nur in rein methodischen Sinne verstanden werden. In ihm handelt es sich nicht darum, die Welt der objektiven geistigen Gestaltungen tatsächlich abzu tragen, sondern nur darum, von ihnen in einem genau umgrenzten Sinne abzu sehen.“ Siehe auch die Ausführungen zur Methodik des produktiv-reflexiven ‚Doppelschritts‘ in § 9. 117 PhsF 3, S. 320 Kursivierung F. S.. 115 116
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sprachlichen Denkens und die Form des Werkzeug-Denkens . . . nahe miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen zu sein. In der Sprache wie im Werkzeug erobert sich der Mensch die neue Grundrichtung des »mittelbaren« Verhaltens, die ihm spezifisch-eigentümlich ist. Er wird jetzt in seiner Vorstellung der Welt wie in seinem Wirken auf sie von dem Zwang des sinnlichen Triebes und des nächsten Bedürfnisses frei. . . . Es scheint, als wäre der aphasische und apraktische Kranke auf diesem Wege, den die Menschheit sich langsam und stetig bahnen mußte, um eine Stufe zurückgeworfen. Alles bloß Mittelbare ist ihm irgendwie unverständlich geworden; alles nicht Handgreifliche, nicht direkt Daseiende entzieht sich seinem Denken wie seinem Wollen. Wenn er das »Wirkliche«, das konkret Vorliegende und das augenblicklich »Nötige« noch zu erfassen und im allgemeinen richtig zu behandeln vermag, so fehlt ihm doch der geistige Fernblick, die Sicht auf das nicht vor Augen Liegende, auf das bloß »Mögliche«. Das pathologische Verhalten hat gewissermaßen die Kraft des geistigen Impulses eingebüßt, der den Geist immer wieder über den Kreis des unmittelbar Wahrgenommenen und des unmittelbar Begehrten hinausdrängt.“ 118
Wir verstehen nun, in welchem Sinne Cassirer hier wie auch an anderen Stellen die sprachlichen (und technischen) Symbolisierungsleistungen des Menschen als „eine Art »Umkehr« des »natürlich«-biologischen Verhaltens“ 119 ansprechen kann – und warum er das Adjektiv „natürlich“ dabei ironisch in Anführungszeichen setzen muss: Es ist so wenig ‚Widernatürliches‘ am Gebrauch der Sprache durch den Menschen, dass vielmehr gerade die Einschränkung dieser Fähigkeit uns als pathologisch gelten muss (während offenbar im Falle der Radspinne an eine solche Zuschreibung nicht einmal zu denken wäre). Hier handelt es sich um eine ‚funktionale‘ Differenz nicht im Sinne einer beliebigen Leistung, die dem Einzelnen zu Gebote steht oder auch nicht, sondern um eine solche, die wir ganz selbstverständlich zum Repertoire der gesunden und voll entwickelten ‚menschlichen Natur‘ zählen – und die dennoch, eben weil es sich um eine seiner spezifischen Lebensleistungen handelt, aus dem vollständigen Inbegriff unserer naturwissenschaftlichen Kenntnisse des Menschen prinzipiell unableitbar ist.
118 119
PhsF 3, S. 320 f. PhsF 3, S. 321, Anmerkung 270.
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3.3 Die Lebendigkeit des Mythos § 19 Cassirers kritische Mythosphilosophie Mit seinem systematischen Einsatz bei einer Reflexion auf die Sprache partizipiert Cassirer an einer der einflussreichsten geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. 120 In Bezug auf seine Philosophie des Mythos sieht die Sache anders aus; mit ihr steht Cassirer unter den großen Denkern seiner Zeit relativ alleine da. 121 Schon deshalb lohnt sich eine kurze Verständigung über die Frage, was Cassirer eigentlich unter diesem Titel untersucht. Gegenüber unserem Alltagsgebrauch des Worts ist zunächst daran zu erinnern, dass Cassirer das Mythische nicht nur und nicht einmal in erster Linie als einen Modus des Erzählens begreift: Die diversen kulturellen Geschichten über die Entstehung der Welt und des Menschen, über Verhalten und Verhältnisse der Götter usw. bilden für Cassirer gleichsam nur die Oberfläche seines Untersuchungsgegenstands, die für die selbst an die Medialität der Sprache gebundene philosophische Reflexion zwar immer wieder einen bevorzugten Ausgangspunkt darstellen muss. Doch die werkhaft-verdichteten Mythen aller Völker und Zeiten, die der sprachlichen Darstellung fähig und in ihr konservierbar sind, erschöpfen keineswegs das Ganze der symbolischen Form ‚Mythos‘, die Cassirer hegelianisierend als Totalität einer „Denk-“, „Anschauungs-“
Dass eine rein sprachphilosophische Deutung der Philosophie der symbolischen Formen trotzdem ein Missverständnis darstellen würde, hat mit Blick auf den Mythos besonders Esther Oluffa Pedersen hervorgehoben. Vgl. Esther Oluffa Pedersen: Die Mythosphilosophie Ernst Cassirers. Zur Bedeutung des Mythos in der Auseinandersetzung mit der Kantischen Erkenntnistheorie und in der Sphäre der modernen Politik. Würzburg 2009, S. 15 f.: „Die symbolische Form »Mythos« stellt einen klaren Gegenbeweis [gegen eine rein sprachphilosophische Interpretation, F. S.] dar, indem sie sich auf Bedeutungsformen bezieht, die außersprachlich sind und einem selbständigen Referenzmuster gehorchen. Der Mythos baut seine Bedeutungswelt unter anderem mittels der kultischen Handlung auf, die nicht adäquat verstanden werden kann, wenn sie im Schema der Namenreferenz, sei es als Eigenname, sei es als Kennzeichnung, eingeschlossen wird.“ – Selbst bei einem ausgewiesenen Cassirer-Experten wie Oswald Schwemmer findet sich allerdings die Auffassung, Cassirer habe die „Eigenstruktur und ›Eigen-Sinnigkeit‹“ der „imaginativen und produktiven Weltbewältigung“ zugunsten der abstrakten sprachlichen „Schematisierungen“ der Aufklärung unterschätzt: Vgl. Oswald Schwemmer: „Cassirers Bild der Renaissance“. In: Enno Rudolph (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer. 1995. S. 255–280: 275. 121 Eine Ausnahme bildet hier der frühe Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’, auf dessen Nähe zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Muriel van Vliet überzeugend hingewiesen hat: Vgl. Vliet: La forme selon Ernst Cassirer. 120
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und „Lebensform“ 122 konzipiert und als solche letztlich von der rituellen Praxis her versteht. Es handelt sich also wieder um die Analyse einer elementaren Form der menschlichen Kulturtätigkeit und des menschlichen Weltauffassens, die sich auf die zugehörigen sprachlichen Überlieferungen ebenso wie auf die ethnologische, religions- und sozialgeschichtliche Forschungsliteratur beziehen, ihren eigentlichen Gegenstand aber unter Berücksichtigung dieser Quellen selbständig rekonstruieren muss. Was Cassirers Philosophie des Mythos – bei allen Fragen, die dieses „semi-empirische“ 123 Verfahren hier schon mit Blick auf die Einheit seines Gegenstands mit sich bringt – für unsere ‚naturphilosophische‘ Perspektive auf die Philosophie der symbolischen Formen besonders interessant macht, ist nun gerade die Tatsache, dass Cassirer das ‚Mythische‘ geradezu als die elementarste Kulturform überhaupt konzipiert: So macht er den Mythos nicht nur zum idealtypischen „Mutterboden“ 124, in dem alle symbolischen Formen als Stränge der produktiven Kulturentwicklung historisch-faktisch wurzeln; sondern von Anfang an äußert er auch die Überzeugung, dass mythisches Denken und Empfinden auf jeder ‚Stufe‘ der Kulturentwicklung für die Welterfahrung des Menschen konstitutiv bleibt, sodass der ‚Mythos‘ niemals als etwas ein für alle Mal Überwundenes abgetan werden darf. 125 Wie auf der einen Seite der ‚funktionsbegriffliche‘ Umgang der mathematischen Wissenschaften mit den Phänomenen aufgrund der darin umgesetzten Haltung permanenten Sich-Offenhaltens für Kritik und Selbstkritik für Cassirer ein quasi unverrückbares Ideal dialektischer Erkenntnispraxis darstellt, so steht gewissermaßen spiegelbildlich dazu der ‚Mythos‘ bei ihm Vgl. die Kapitel-Einteilung des zweiten Bands der Philosophie der symbolischen Formen. 123 Vgl. Recki: Kultur als Praxis, S. 45. 124 In „Sprache und Mythos“, will Cassirer dieses Verhältnis sogar als „ein Gesetz“ verstanden wissen, „das für alle symbolischen Formen in gleicher Weise gilt und das ihre Entwicklung wesentlich bestimmt. Sie alle treten nicht sogleich als gesonderte, für sich seiende und für sich erkennbare Gestaltungen hervor, sondern sie lösen sich erst ganz allmählich von dem gemeinsamen Mutterboden des Mythos los. Alle Inhalte des Geistes, sosehr wir ihnen systematisch ein eigenes Gebiet zuweisen und ihnen ein eigenes autonomes »Prinzip« zugrunde legen müssen, sind uns rein tatsächlich zunächst nur in dieser Verflechtung gegeben. Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewußtsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein.“ (»Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, ECW 16, S. 227–311 ( im Folgenden zitiert als ‚SM‘): 266). 125 Vgl. bes. PhsF 2, S. 17; außerdem SM 235 sowie natürlich die konkrete Anwendung dieses Gedankens auf das Politische im postumen Myth of the State. 122
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für die Rückprojektion aller kulturellen Symbolisierungsleistungen in ein Stadium, in dem mit der Diversität der Symbolsysteme auch die Pluralität der Ansichten über ein Thema erst potentiell angelegt, aber noch nicht aktuell verwirklicht ist. Eine eigentliche Kritik am Hergebrachten ist im Mythos ferner schon deshalb nicht zu erwarten, weil in ihm, wie Cassirer mit Schelling betont, noch „keine Zeit ist zur Erfindung“ 126 – weil sozusagen jede kreative Muße fehlt, aus der überhaupt alternative Erklärungsansätze hervorgehen könnten. Mit Blick auf die ‚Naturseite‘ des Menschen liegt also die anthropologische Relevanz dieser kulturphilosophischen Idee vor allem in ihrer genetischen Dimension, sowohl im gattungsmäßig-evolutionären wie im entwicklungspsychologischen Sinn: Wie die Sprachphilosophie die ‚Natürlichkeit‘ symbolischer Funktionen im Sinne einer Gattungsnorm hervortreten ließ (und die Sprache gerade darin zur exemplarischen symbolischen Form machen konnte), so beleuchtet die Philosophie des Mythos sie im Hinblick auf die Nuance der Ursprünglichkeit, wobei die funktionale Formbestimmung, die damit intendiert ist, von der Unterstellung einer substanziellen Wesenseinheit der als ‚mythisch‘ identifizierten Lebensäußerungen methodisch völlig unterschieden bleibt. Genau in dieser Problemstellung Cassirers liegt nun jedoch eine beträchtliche Verschärfung des „methodischen Dilemma[s]“, von dem die Philosophie der symbolischen Formen ausgegangen und zu dessen Auflösung sie angetreten war 127: Gegenüber dem kulturellen Faktum mythischer Weltsichten, die z. B. das All aus einem Ei hervorgehen oder die Welt auf dem Rücken einer Schildkröte ruhen lassen, handelt es sich für die Philosophie eben nicht mehr ‚bloß‘ um das Problem einer Vermittlung zwischen ideeller Einheit und faktischer Vielfalt unserer kulturellen Auffassungsweisen, sondern um den Grundkonflikt zwischen dem kulturtheoretischen Anspruch, auch den mythischen Weltumgang in seinem Eigenrecht als menschliche Kulturleistung anzuerkennen, und dem philosophischen Wahrheitsanspruch, der durch das ‚Mythische‘ schon per definitionem konterkariert zu werden scheint. Der Mythos stellt die Philosophie in diesem Sinne nicht lediglich vor ein theoretisches, sondern vor das eminent praktische Problem, wie sie sich gegenüber ihm, dessen Name uns ja schon als Inbegriff des ‚Falschen‘ gilt, überhaupt angemessen zu verhalten habe. Entsprechend beginnen Cassirers Reflexionen über den Mythos regelmäßig mit der Erörterung der Frage, ob es eine Philosophie des Mythos, die über die kritische Verwerfung ihrer inhaltlichen Auffassungen hinaus126 127
PhsF 2, S. 7. PhsF 1, S. 14; siehe § 15.
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geht, überhaupt geben darf – oder ob das Mythische nicht vielmehr als ein bloßes „Gebie[t] des Scheines“ betrachtet werden müsse, „von dem die Philosophie, als Lehre vom Wesen, sich fernzuhalten“ hätte. 128 Cassirer lehnt dann zwar einen solchen Totalausschluss mit dem Hinweis auf die „entscheidende Bedeutung“ des Mythischen für die „Genesis der Grundformen der geistigen Kultur“ 129 ab, ja, er zieht daraus sogar den Schluss, dass dem Mythos innerhalb der Systematik der symbolischen Formen der Stellenwert einer in bestimmtem Sinne grundlegenden Bewusstseinsform zukommen müsse, die er dem „sinnlichen Bewusstsein“ in Hegels Phänomenologie des Geistes vergleicht. 130 Dieser Vergleich macht aber das grundsätzliche methodische Problem nur noch deutlicher, das sich einer Analyse des Mythos als symbolischer Form in voller Schärfe stellt: Denn wenn Cassirer Hegel einerseits für seine Tendenz kritisiert, die ganze „Mannigfaltigkeit der geistigen Formen . . . in eine höchste logische Spitze aus[laufen]“ zu lassen, wodurch die Kultur zuletzt „auf eine einzige Dimension bezogen und reduziert“ 131 erscheine, so scheint andererseits der radikal pluralistische Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen, indem er soweit geht, den Mythos als die eigentliche Form unserer unmittelbarsten „sinnlichen Gewissheit“ zu behaupten, geradezu an den Fundamenten des eigenen philosophischen Wahrheitsanspruchs zu graben. PhsF 2, S. IX. – Die Ironie der Antwort, die Cassirer eben durch seine Mythosphilosophie auf diese halb-rhetorische Frage gibt, liegt darin, dass unter der Prämisse der grundsätzlichen Unüberwindlichkeit des Mythos (bzw. der allgegenwärtigen Gefahr eines Rückfalls ins Mythische) die fortgesetzte „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg) nicht bloß erlaubt, sondern sogar geboten scheint: So steckt in Cassirers Mythostheorie immer auch eine Antwort auf die aristotelische Herausforderung des ποθὲν τὸ κακόν an den Idealismus, die schließlich im Myth of the State auch explizit gemacht wird. 129 PhsF 2, S. XI. 130 PhsF 2, S. XII-XIII: „[Die] Sätze [aus der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, F. S.], in denen Hegel das Verhältnis der »Wissenschaft« zum sinnlichen Bewußtsein kennzeichnet, gelten in vollem Umfang und in voller Schärfe für das Verhältnis der Erkenntnis zum mythischen Bewußtsein. Denn der eigentliche Ausgangspunkt für alles Werden der Wissenschaft, ihr Anfang im Unmittelbaren, liegt nicht sowohl in der Sphäre des Sinnlichen als in der der mythischen Anschauung. Was man das sinnliche Bewußtsein zu nennen pflegt, . . . das ist selbst bereits das Produkt einer Abstraktion, einer theoretischen Bearbeitung des »Gegebenen«. Bevor das Selbstbewußtsein sich zu dieser Abstraktion erhebt, ist und lebt es in den Gebilden des mythischen Bewußtseins . . . Soll daher, gemäß der Forderung Hegels, die »Wissenschaft« dem natürlichen Bewußtsein die Leiter darreichen, die zu ihr selbst hinanführt, so muß sie diese Leiter noch um eine Stufe tiefer ansetzen. Der Einblick in das »Werden« der Wissenschaft – im ideellen, nicht im zeitlichen Sinne verstanden – ist erst vollendet, wenn ihr Hervorgehen und ihre Herausarbeitung aus der Sphäre der mythischen Unmittelbarkeit aufgezeigt und die Richtung wie das Gesetz dieser Bewegung kenntlich gemacht ist.“ 131 PhsF 1, S. 13. 128
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Der wissenschaftliche Geist der Philosophie bekommt es hier an seinen Wurzeln mit einem ‚Anderen‘ zu tun, das er weder verleugnen noch eigentlich bejahen kann. Wie meint aber Cassirer selbst den methodischen Spagat zwischen echter Anerkennung des mythischen Bewusstseins in seiner „Autonomie“ 132 und der Wahrung einer angemessenen kritischen Distanz bewältigen zu können? Zur Beantwortung dieser Frage – und auch, weil sich darin zeigt, wie ernst es Cassirer mit einer solchen Anerkennung ist – lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die ausdrückliche und (selbst für Cassirers Verhältnisse) bemerkenswert detailreiche Berufung auf jenen anderen klassischen deutschen Idealisten zu werfen, dem sich eine Philosophie der Mythologie als letzte Konsequenz fortgesetzter Bemühungen um eine ganzheitliche Naturphilosophie ergeben hatte. 133 Hinter Schellings Forderung nach einem „tautegorische[n]“ 134 Verständnis des Mythos aus seinen eigenen, immanenten Formbedingungen erkennt Cassirer nämlich zunächst einmal nicht weniger als eine methodische Übertragung von „Begriffsmittel[n] . . . , die Kants kritische Lehre geschaffen hatte“ 135 auf das Gebiet des Mythischen – und damit eine Übertragung vom selben Typ wie diejenige, die er zuvor schon im Rekurs auf Herder und Humboldt für die Untersuchung der Sprache gefordert und durchgeführt hatte. 136 So kann er sich – nicht ohne ein Augenzwinkern, aber in der Sache ernsthaft – Schellings „siegreicher, ein für allemal entscheidender Beweisführung“ 137 anschließen, die allen Versuchen eine begründete Absage erteilt, den Mythos „allegorisch“ auf ein Anderes zu reduzieren: Auch für Cassirer ist der Mythos weder ästhetisch als Kunstprodukt noch rein psychologisch als Werk der Phantasie, weder naturalistisch aus seinen faktischen VerflechPhsF 1, S. 13. Vgl. PhsF 2, S. 4–11. Siehe § 13. 134 PhsF 2, S. 5. 135 PhsF 2, S. 4. 136 Vgl. PhsF 1, S. 122 f.: „Um die Eigentümlichkeit irgendeiner geistigen Form sicher zu bestimmen, ist es vor allem notwendig, daß man sie mit ihren eigenen Maßen mißt. Die Gesichtspunkte, nach denen sie beurteilt und nach welchen ihre Leistung abgeschätzt wird, dürfen nicht von außen an sie herangebracht, sondern sie müssen der eigenen Grundgesetzlichkeit der Formung selbst entnommen werden. Keine feststehende »metaphysische« Kategorie, keine von andersher gegebene Bestimmung und Einteilung des Seins, so sicher und festgegründet sie immer erscheinen mag, kann uns der Notwendigkeit eines solchen rein immanenten Anfangs überheben. . . . Die Frage muß vielmehr lauten, ob nicht eben durch die Kunst, durch die Sprache und durch den Mythos all diese Scheidungen mitbedingt sind, und ob nicht jede dieser Formen in der Setzung der Unterschiede nach verschiedenen Gesichtspunkten verfahren und demgemäß die Grenzlinien verschieden ziehen muß.“ 137 PhsF 2, S. 4 f. 132 133
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tungen mit Naturprozessen noch soziohistorisch aus den Bedingungen archaischen Gemeinschaftslebens angemessen zu erklären. Andererseits steht bei der Suche nach dem immanenten Gestaltungsprinzip, das Cassirer für seine Deutung des Mythos als symbolischer Form zugrundelegt, natürlich von Anfang an fest, dass der „Boden“ seiner „kritischen Philosophie“ mit dem „Boden der Philosophie des Absoluten“, auf dem Schellings Mythosphilosophie gediehen war, nicht zusammenfallen kann. 138 Interessant ist für uns an dieser sachlich wenig überraschenden Distanzierung vor allem ihre (schon früher angesprochene 139) konkrete Begründung: Denn für Cassirer ist es im Grunde schon Schellings anfängliche Prämisse einer letzten Identität von ‚Geist‘ und ‚Natur‘, Subjekt und Objekt der philosophischen Erkenntnis, die ihn in einer gewissen formalen Folgerichtigkeit am Ende im mythischen Bewusstsein, das als solches in der Tat keinerlei Unterschied zwischen solchen Geltungsbestimmungen kenne, „de[n] höchste[n] Begriff und die höchste Form der »Objektivität«“ überhaupt sehen lässt: „So kann für Schelling der Mythos zu einer zweiten »Natur« werden, weil sich ihm zuvor die Natur selbst in eine Art Mythos verwandelt hatte, indem sich ihre rein empirische Bedeutung und Wahrheit in ihre geistige Bedeutung, in ihre Funktion, die Selbstoffenbarung des Absoluten zu sein, aufhob. Weigert man sich, diesen ersten Schritt zu tun, so scheint damit auch der zweite aufgegeben werden zu müssen – so scheint also kein Weg mehr übrigzubleiben, der zu einer eigenen Wesenheit und Wahrheit, zu einer eigentümlichen »Objektivität« des Mythischen hinführen könnte. Oder gäbe es ein Mittel und eine Möglichkeit, die Frage, die Schellings »Philosophie der Mythologie« gestellt hat, als solche festzuhalten, sie aber zugleich vom Boden der Philosophie des Absoluten auf den Boden der kritischen Philosophie zu versetzen? Birgt sich in ihr nicht nur ein Problem der Metaphysik, sondern ein rein »transzendentales« Problem, das als solches einer kritisch-transzendentalen Lösung fähig ist?“ 140
Es ist nicht zu übersehen, dass hier ausgerechnet der in seiner Philosophie so wenig explizierte Naturbegriff von Cassirer noch einmal in der Rolle einer echten „Grenzscheide“ 141 zum Mythischen in Anspruch genommen wird: Der „dritte“ Weg, 142 den Cassirers Mythosphilosophie zwischen 138 139 140 141 142
PhsF 2, S. 11 f. Siehe § 13, S. 148. PhsF 2, S. 11 f. Kursivierung F. S.. Vgl. dazu weiter oben, S. 156. PhsF 2, S. 12.
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Schellings spekulativer Metaphysik und der seither vorherrschenden psychologischen Erklärungsart einschlägt, setzt dort, wo Schelling vom Ideal einer substanziellen Identität des Objekts der philosophischen Reflexion (also des mythischen Bewusstseins) mit ihrem Subjekt kraft einer vorweggenommenen Natureinheit ausgegangen war, die Betonung und kritische Wahrung der funktionalen Distanz zwischen den Weltperspektiven. Und der kurz darauf gegebene Hinweis auf Edmund Husserls „scharfe Trennung der psychischen »Akte« von den ihnen intendierten »Gegenständen«“ 143 zeigt uns sofort, worauf die Möglichkeit eines solchen Distanznehmens im „tautegorischen“ Sicheinlassen auf das mythische Bewusstsein methodisch beruht: Denn was Cassirer in diesen Termini der Husserlschen Phänomenologie ausgedrückt findet, ist der Sache nach nichts anderes als seine ‚alte‘ Unterscheidung zwischen ‚produktiver‘ (bzw. die Eigenproduktivität des Geistes nachvollziehender) und ‚reflektierender‘ Perspektive, die nun, dem Mythos gegenüber, gewissermaßen auf Schritt und Tritt vom philosophischen Denken erfordert wird. 144 Nicht in der unmittelbaren Identifikation mit, sondern nur aus einer angemessenen Distanz zu den jeweils reflektierten Bewusstseinsformen und in der Haltung einer (aus solcher Distanz erst legitimierten) theoretischen Toleranz, die selbst die Möglichkeit noch zulassen kann, dass innerhalb der betrachteten Formen selber (als Weisen des geistigen Produzierens) eine vergleichbar distanzierte Betrachtung ganz und gar unvollziehbar wäre, ist also das Projekt einer kritischen Phänomenologie des mythischen Denkens überhaupt überzeugend in Angriff zu nehmen. Nur wenn daher auch beim Lesen von Cassirers Texten zum mythischen Denken dauernd diese Distanz der Perspektiven mitgedacht wird, lässt sich verstehen, wie seine Rekonstruktion der „inneren Form“ dieses Denkens ganz ohne Selbstwiderspruch die Negation gerade derjenigen Kategorien noch in gewisser Hinsicht als ‚notwendig‘ einsehen kann, die der Analyse schon zugrundeliegen – und nur wenn man dabei die vorherige Ausdehnung der philosophischen Geltungstheorie auf den sprachlichen Unterbau der eigenen Reflexionsbemühungen in Anschlag bringt, wird absehbar, wie die geltungstheoretische Abweisung der inhaltlichen Zumutungen PhsF 2, S. 14, Anm. 12. – Husserl hat in einem Brief an Cassirer vom 3.4.1925 seine grundsätzliche Zustimmung zu dieser Inanspruchnahme wie überhaupt zu Cassirers transzendental-phänomenologischer Methodik geäußert und dabei die Mythosphilosophie – ganz im Sinne des Autors (wie Cassirers Antwortbrief bestätigt) – als Beitrag zu einer transzendentalen Anthropologie verstanden, nämlich als ersten Schritt in Richtung einer „konkreten Entwicklungstypik einer Menschheit überhaupt . . . der geltenden und doch nicht endgiltigen Weltanschauungen“ (ECN 18, S. 84 ff.: 85). 144 Siehe zu dieser Unterscheidung § 8. 143
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des mythischen Denkens mit der Anerkennung seiner genetischen Eigenbedeutung im Ganzen der Kultur nicht bloß kompatibel ist, sondern (im Sinne einer Selbsteinholung) zuletzt auch mit der eigenen wissenschaftlichen Denkleistung noch innerlich zusammenhängt. 145 § 20 Mythos und Substanzdenken Die sachliche Bedeutung dieser methodischen Zweiteilung in phänomenologischen Nachvollzug einerseits und formanalytische Metareflexionen andererseits wird nun besonders an derjenigen Begriffsopposition ersichtlich, die uns an früherer Stelle erst auf diesen Unterschied geführt hat: Cassirers Reflexion auf den Mythos will und muss natürlich wieder (wie bei allen symbolischen Formen) „rein von [seiner] Funktion als solcher“ ausgehen, weil für die philosophische Reflexionsperspektive nichts anderes als deren „relativ gleichbleibende »innere Form«“ das legitime Analogon zur nicht unterstellten „substantielle[n] Einheit des Geistes . . . konstituiert und bezeichnet“. 146 Das produktiv-mythische Bewusstsein selbst hingegen weiß von derartigen funktionalen Reflexionen nichts; ihm erscheinen nicht nur alle Dinge und Wesen seiner Welt ursprünglich wie von einer „zauberischen Kraftsubstanz“ 147 besessen und beherrscht, sondern es fasst auch ihre Eigenschaften und Kräfte, ja selbst ihr Werden in der Zeit „stets als ein Ding- und Substanzartiges“ auf. In In dieser Weise scheinen mir die Frage nach der „Ortlosigkeit“ der Philosophie in Cassirers Systematik der Kultur (vgl. Recki: Kultur als Praxis, S. 45) und nach der Möglichkeit einer Philosophie des Mythos trotz (dort) fehlender Reflexionsdistanz nur gemeinsam lösbar, indem – wie ich das hier mit dem bei Cassirer aufgegriffenen Begriffspaar von ‚Produktion‘ und ‚Reflexion‘ versuche – der Gedanke einer „zweistufigen Reflexion“, den Ullrich für die nachgelassene „Metaphysik des Symbolischen“ ins Spiel gebracht hat, auch schon eine Ebene tiefer in der Phänomenologie der Symbolformen selbst geltend gemacht wird: Vgl. Ullrich: Symbolischer Idealismus, S. 126 f. Siehe auch Anmerkung 38 auf Seite 168 weiter oben. 146 PhsF 2, S. 15 (Kursivierung F. S.). Vgl. auch PhsF 2, S. 16 f.: „Vom Standpunkt dieser Problemstellung kann auch die relative »Wahrheit«, die dem Mythos zuzusprechen ist, nicht länger fraglich sein. . . . Seine »Objektivität« ist – wie dies vom kritischen Standpunkt für jegliche Art geistiger Objektivität gilt – nicht dinglich, sondern funktionell zu bestimmen: Sie liegt weder in einem metaphysischen noch in einem empirisch-psychologischen Sein, das hinter ihm steht, sondern in dem, was er selbst ist und leistet, in der Art und Form der Objektivierung, die er vollzieht. Er ist »objektiv«, sofern auch er als einer der bestimmenden Faktoren erkannt wird, kraft deren das Bewußtsein sich von der passiven Befangenheit im sinnlichen Eindruck löst und zur Schaffung einer eigenen, nach einem geistigen Prinzip gestalteten »Welt« fortschreitet.“ 147 PhsF 2, S. 19. 145
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diesem Sinne „klebt“ das mythische Denken in der ganzen „Form seiner Begriff[e] verhaftet an den Körpern“ 148, und es deutet insbesondere auch das, was Cassirers Erkenntniskritik seit ihren Anfängen als kategoriale Formmomente unseres relationalen Denkens über die Welt herausgearbeitet hatte – die Gliederung unserer Welterfahrung in den Kategorien des räumlichen Neben- und des zeitlichen Nacheinander, in Ding-Eigenschafts-Verhältnissen oder Kausalrelationen – selbst wieder als eine Art von sinnlich-körperlichem „Kitt“, der sich ihm ganz so darstellt, als befinde er sich mit dem jeweils von ihm ‚Verbundenen‘ auf einer und derselben geistigen Ebene. 149 Wer nun aber von Cassirer gegenüber einer solchen ‚substanzbegrifflichen‘ Denkungsart, aus der sich ihm zufolge viele Merkwürdigkeiten des mythischen Weltverstehens vom Totemismus bis zum Analogiezauber erklären lassen, nur eine Distanzierung erwartet – den erinnert der Kulturphilosoph stattdessen einmal mehr daran, dass dieser Grundzug des Mythos in Wahrheit kein einfach zu korrigierender ‚Fehler‘ ist; dass ganz dieselbe Denkungsart vielmehr selbst noch die Anfänge der Wissenschaft in Astrologie und Metaphysik, Alchimie und Zahlenmystik dominiert hat und erst „ganz allmählich und unter dauernden gedanklichen Kämpfen“ in den (mathematisch-inspirierten) Funktionalismus der Moderne übergehen konnte. 150 Nach unseren Analysen von Cassirers früher Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und seiner darin integrierten differenzierten Kritik am ‚Substanzdenken‘ braucht uns eine solche Bemerkung allerdings inzwischen nicht mehr zu überraschen; lässt sie sich doch ohne Schwierigkeiten als Kontinuation einer Ansicht begreifen, die Cassirers wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen seit den ersten Bänden des Erkenntnisproblems wiederholt zum Ausdruck gebracht hatten: Cassirer aktualisiert und präzisiert hier im kulturphilosophischen Kontext seine frühere Verortung des Substanzbegriffs als „Grenzscheide zwischen Forschung und Mythos“, indem er Philosophie und Wissenschaft, die zwar in ihrem ganzen Geltungsanspruch auf der Abgrenzung gegen das mythische Denken beruhen, genetisch aus eben diesem Denken hervorgehen und qua ‚Substanzdenken‘ in ihm wurzeln lässt. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass in der hier zum ersten Mal detailliert nachempfundenen Perspektive der mythischen ‚Weltproduktion‘ selbst – also eigentlich von jenseits der ideellen ‚Grenzscheide‘ aus betrachtet – die „Substanz“ noch einen durchaus anderen Charakter trägt als das allgemeine „Schema“, das die „kritisch-wissenschaftliche Auffassung des 148 149 150
PhsF 2, S. 66–73: 70, 73. Vgl. PhsF 2, S. 75. PhsF 2, S. 73.
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Substanzbegriffs“ 151 später von ihr übrig lassen wird –: nämlich einen Charakter der durchgehenden Lebendigkeit. Nicht das abstrakte Merkmal einer „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“ 152 bildet hier das Kriterium, nach dem das mythische Bewusstsein einen Komplex von Sinneseindrücken zum Gegenstand umprägt, sondern die sinnlich-erlebte und unmittelbar gefühlte „Intensität seines Daseins“, die „unmittelbare Gewalt, mit der das mythische Objekt für das Bewußtsein da ist“, mit der es sich ihm „aufdrängt“ und es „überwältigt“ 153. All das hat offenbar nichts von jener ästhetisch-distanzierten, geschweige wissenschaftlich-kritischen Weise des Erlebens, mit Blick auf die wir gelegentlich von ‚intensiven‘ Eindrücken zu sprechen gewohnt sind. Was Cassirer hier anspricht, ist etwas ganz anderes und elementareres: Es ist, wie er prägnant formuliert, ganz eigentlich der „tierische Schrecken, [der] zum Staunen wird“ – und der deshalb auch zunächst nur zu einer Art des Staunens führen kann, die in sich ganz ambivalent, „aus Furcht und Hoffnung, aus Scheu und Bewunderung gemischt ist“ 154. So führt hier wiederum ein (in genetischer Hinsicht) durchaus stetiger Weg vom noch ganz ‚tierischen‘ (d.h. gewissen Phänomenen im Tierreich strukturanalogen) Affektleben des Menschen zur (nach Sache und Wert ebenfalls noch ganz undifferenzierten) Vorstellung eines „Ungemeinen“ überhaupt, eines Etwas mit „Mana“-Charakter, in dem sich nicht nur das Angestaunte selbst, sondern auch der distanzschaffende Übergang des Subjekts vom Erstaunen zum Bestaunen zu einem allerersten zusammenhängenden Ausdruck gestaltet. Weil es in diesem Sinne die unmittelbare leibhaft-emotionale Involviertheit des Menschen in die Geschehnisse seiner Welt ist, die mit der Notwendigkeit ihrer Beurteilung auch ihre „Ur-Teilung“ in die Bereiche des „Heiligen“ und „Profanen“ veranlasst, zeigt dieser mythische „Grundgegensatz“ nach Cassirer gewisse Parallelen zur Entstehung der einfachsten proto-sprachlichen „Erregungslaute“ und Interjektionen des Affektausdrucks. 155 Der ursprünglichen expressiven Funktion nach mit diesen PhsF 2, S. 70, Anm. 44 (Kursivierung F. S.). Ebd. Vgl. auch PhsF 2, S. 75: „[Im Mythos] gibt es weder Kern noch Schale; hier gibt es keine Dingsubstanz, die als beständiges und beharrendes Etwas den wechselnden und flüchtigen Erscheinungen, den bloßen »Akzidenzien« zugrunde liegt. Das mythische Bewußtsein schließt nicht von der Erscheinung auf das Wesen, sondern es besitzt, es hat in ihr das Wesen. Dieses tritt nicht hinter der Erscheinung zurück, sondern es tritt in ihr hervor; es verhüllt sich nicht in ihr, sondern es gibt sich in ihr zu eigen.“ 153 PhsF 2, S. 88. 154 PhsF 2, S. 93 (Kursivierung F. S.). 155 PhsF 2, S. 93 f.: „Als der »Grund« des Mythos und der Religion läßt sich daher die Tabu-Mana-Formel mit demselben Recht und Unrecht bezeichnen, als man etwa die Interjektion als den Grund der Sprache betrachten kann. In beiden Begriffen handelt 151 152
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ersten Gesten und Lautgebärden der Sprache artverwandt und doch von spezifisch anderem Typ, tritt nun die mythische Bildersprache zu ihnen als komplementäre Ausdrucksform hinzu. Dabei haben wir es allerdings nach Cassirer keineswegs mit Bildern im Sinne der Kunst oder unseres alltäglichen visuellen „Erfahrungsbewußtseins“ zu tun, in welchem nämlich implizit (und von uns in aller Regel vergessen) die wesentlichen „Geltungsunterschiede“, die historisch erst durch jahrtausendealte philosophisch-wissenschaftliche Theoriearbeit gemacht und festgestellt sind, überall „bereits vorhanden und wirksam sind“. 156 Die Bilder des Mythos, der Cassirer zufolge gerade durch das Fehlen aller solcher Geltungsunterschiede charakterisiert ist, bleiben von den derart immer schon mittelbar-‚symbolisch‘ aufgefassten ‚Bildern‘ in unserem Sinne spezifisch unterschieden; denn sie werden in Ermangelung jedes bestimmten Reflexionsbewusstseins, dass es sich bei ihnen um Bilder handelt, noch durchweg nicht als Repräsentationen einer „Sache“ gehandhabt, sondern „konkreszieren“ 157 für das mythische Bewusstsein stattdessen wiederum mit der Sache selbst zur Vorstellung „realer Identität“: „Dieses eigentümliche Ineinander, diese Indifferenz all der verschiedenen Objektivationsstufen, die durch das empirische Denken und den kritischen Verstand unterschieden werden, muß man sich ständig gegenwärtig halten, wenn man die Inhalte des mythischen Bewußtseins, statt von außen über sie zu reflektieren, von innen her verstehen will. Wir sind gewohnt, diese Inhalte insofern als »symbolisch« aufzufassen, als hinter ihnen ein anderer, verborgener Sinn gesucht wird, auf den sie mittelbar hindeuten. . . . Blickt man dagegen auf den Mythos selbst hin, auf das, was er ist und als was er selbst sich weiß, so erkennt man, daß gerade diese Trennung des Ideellen vom Reellen, diese Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung, dieser Gegensatz von »Bild« und »Sache«, ihm fremd ist. Erst wir, die Zuschauer, die in ihm nicht mehr leben und sind, sondern die ihm bloß reflektierend gegenüberstehen, legen sie in ihn hinein. Wo wir ein Verhältnis der bloßen »Repräsentation« sehen, da besteht für den Mythos, sofern er es sich in der Tat sozusagen um primäre Interjektionen des mythischen Bewußtseins. Sie haben noch keine selbständige Bedeutungs- und Darstellungsfunktion, sondern sie gleichen einfachen Erregungslauten des mythischen Affekts.“ Vgl. PhsF 1, S. 131 f. sowie im Ganzen „Sprache und Mythos“, a.a.O. 156 PhsF 2, S. 42 f. – Auf den hier von mir geltend gemachten Unterschied verweist auch Vliet: La forme selon Ernst Cassirer, S. 153 ff., in der entgegengesetzten Absicht, die Eigenart der Kunst(werke) gegenüber den mythischen Bildungen zu profilieren. 157 PhsF 2, S. 30.
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von seiner Grund- und Urform noch nicht abgewichen und von seiner Ursprünglichkeit noch nicht abgefallen ist, vielmehr ein Verhältnis realer Identität. Das »Bild« stellt die »Sache« nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt.“ 158
Aus dieser allgemeinsten Charakteristik des mythischen Bildbewusstseins ergibt sich nun, dass die Bilder, die aus einer gegen den Unterschied von „Bild“ und „Sache“ derart indifferenten Form des geistigen Produzierens heraus entstehen, eben auch in Bezug auf die in ihnen ausgedrückte Sache ganz und gar „in die Realität . . . eingewoben“ 159 erscheinen – allem voran in die Realität dieser Produktivität selbst. Was in den in aller Regel dynamisch-szenischen Bildern des Mythos zum Ausdruck kommt, sind in diesem Sinne tatsächlich keine „Erfindungen“ einer (je nach Geschmack ‚blühenden‘ oder ‚wuchernden‘) kulturellen Phantasie, sondern es ist „das . . . , was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist“ 160: Es ist mit anderen Worten das Leben des Menschen selbst unter den Bedingungen existenzieller Unsicherheit, dessen wesentliche Kategorien zwischen Hoffen und Bangen, Sieg und Niederlage, Glück und Schmerz sich im „mythischen Tun“, in Kulten und magischen Ritualen zuerst bekunden und von ihnen her allmählich zu bildhaften Ausdrücken verfestigen. Von hier aus können wir daher Cassirers spätere prägnante Formel, dass der Mythos „Gefühl in Bild gewandelt“ 161 sei, dahingehend präzisieren, dass die mythischen Bildwelten weniger mittelbare Gestaltungen von Gefühlsinhalten sind, die von uns zuvor bewusst ‚gehabt‘ und als solche erlebt, dann ästhetisch reflektiert und schließlich in die Form eines Bildes gegossen würden, sondern zunächst nichts anderes als der unmittelbare Ausdruck unserer subjektiven Betroffenheit und Befangenheit selbst, aus der sich uns nur dadurch, dass und nur soweit, wie sie sich im mythischen Bild „objektiviert“, ein erster kultureller „Ausweg“ eröffnet. 162 PhsF 2, S. 46 f. (Kursivierung F. S.). PhsF 2, S. 48. 160 PhsF 2, S. 47 (Kursivierung F. S.). Vgl. VM 123: „Die Welt des Mythos ist dramatisch – eine Welt des Handelns, der Kräfte, der widerstreitenden Mächte.“ [EM 95: „The world of myth is a dramatic world – a world of actions, of forces, of conflicting powers.“] 161 So die deutsche Übersetzung Vom Mythus des Staates, Meiner 2002, S. 60 („emotion turned into an image“, vgl. The Myth of the State, ECW 25, S. 45). 162 Vgl. PhsF 2, S. 93. Im Mythus des Staates spricht Cassirer ausdrücklich von der „mildernde[n] Wirkung“ („a soothing effect“), die „jeder Ausdruck eines Gefühls“ einschließlich des symbolischen in mythischen Bildern habe: ebd., S. 64 (vgl. ECW 25, S. 47). 158 159
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Was eine solche ‚Lebendigkeit‘ hingegen offenkundig nicht erfordert, ist, dass die mythischen Bilder auch mit Blick auf die in ihnen verkörperten Gegenstände (die ja ohnehin erst „wir, die Zuschauer“ begrifflich von ihnen zu unterscheiden wissen) in irgendeiner Weise auf den Bereich des ‚Biologischen‘ – also der Lebenserscheinungen in unserem Sinne – beschränkt wären. Das Gegenteil ist vielmehr nach Cassirer der Fall: Jeder beliebige, ‚belebte‘ oder ‚unbelebte‘, ‚reale‘ oder ‚irreale‘ Gegenstand wird, sofern er nur irgendwie das Interesse des mythischen Bewusstseins fesselt, von ihm in einer spezifischen Weise des ‚konkreten Denkens‘ realisiert, die Cassirer später insgesamt als „physiognomischen“ Weltumgang charakterisiert. 163 Auch diese Formulierung kann allerdings noch leicht in die Irre führen, sofern auch sie sich wieder im Sinne einer materialen Begrenztheit oder inhaltlichen Vorbestimmtheit der mythischen Bilder missverstehen lässt: so nämlich, als ob der mythische Mensch sich gewissermaßen immer nur solches vergegenwärtigen könnte, das seiner eigenen leiblichen Daseinsform oder denen anderer Organismen anschaulich ähnlich ist oder ihnen zumindest ähnlich gemacht werden kann. Wenngleich eine gewisse Tendenz zu derartigen Anthropomorphismen von Cassirer keineswegs bestritten (allerdings als unwillkürliches Anknüpfen am zufällig-Nächstliegenden gedeutet) wird, so hat doch seine Rede vom „Physiognomischen“ mit einer Beschränkung auf physiologisch-biologische Inhalte zunächst ausdrücklich nichts zu tun 164, sondern zielt vielmehr auf gewisse Formaspekte des mythischen Denkens, die sich als solche prinzipiell an jedem sinnlichen Material aufweisen lassen: Neben die schon erwähnte Tendenz zur ‚Substanzialisierung‘, d. h. zur sinnlich-konkreten Verstofflichung seiner Bildungen tritt dabei ihre schier grenzenlose Wandelbarkeit, die sie die Rigidität eigentlich-dinghafter Anschauungen zunächst noch gar nicht erreichen lässt, sondern sie vielmehr in einem Status permanenter „Flüssigkeit“ erhält, in dem sie jeden Augenblick in völlig andere Daseinsformen übergehen können. 165 Der Zusammenhang zwischen beiden wird durch das Ausdruckshafte der mythischen Bilder gestiftet, durch das sie – und so wäre das Prädikat „physiognomisch“ in diesem Kontext zu lesen – wie im leiblichen Ausdrucksverhalten gerade am Spannungsverhältnis zwischen handgreiflicher Formbestimmtheit und dynamischem Formwandel affektiv-emotionale Sinneinheiten prägnant vergegenwärtigen können. So sind es zwar immer auch phänomenale Wesensmomente lebendiger Physiognomie in unserem Sinne zwischen ihrer leibhaften Realeinheit und 163 164 165
Vgl. EM 84 f.; PhsF 2, S. 89; PhsF 3, S. 75. Vgl. PhsF 3, S. 124 f., Anm. 10. Vgl. PhsF 3, S. 67.
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ihrer plastischen Veränderlichkeit, die sich in der mythischen Form des Weltzugangs in elementarer Weise ‚reflektieren‘, ohne dass sie aber als solche in ihr überhaupt reflexiv verfügbar wären. Indem das mythische Bewusstsein alle Wesen seiner Welt ohne Unterschied an derselben Mutabilität und Dynamik teilhaben lässt, indem es ursprünglich zwischen Leben und Tod ebensowenig feste Grenzen kennt und anerkennt wie zwischen Wachen und Träumen, Sein und Schein, drückt sich in ihm ein existenzielles Urgefühl der Verbundenheit von allem mit allem aus, in dem wir, die wir mit Cassirer auf es reflektieren, zuletzt das spezifische „Gefühl . . . einer tiefen und unverbrüchlichen Solidarität des Lebens“ 166 (wieder)erkennen mögen. Und dennoch folgt daraus – eben weil es sich dabei in letzter Instanz um eine ihrer ganzen Absicht nach ‚unmythische‘ Reflexion der philosophischen Kulturtheorie handelt – nicht das Recht, das ‚Leben‘, wie es vom Mythos selbst verstanden wird, schon in unseren üblichen biologischen Kategorien auszudeuten (geschweige denn in Schellingscher Manier das biologische Leben zu re-mythifizieren). Nach einer Bemerkung Cassirers im Essay on Man bildet die Schrankenlosigkeit und sogar Unsterblichkeit des Lebens die selbstverständliche Hintergrundannahme des mythischen Bewusstseins, gegenüber welcher seine Endlichkeit und Sterblichkeit zuerst einmal „bewiesen“ werden mussten. 167 Mit Biologie im modernen und selbst im antiken Sinn des Wortes hat eine solche Haltung offensichtlich nichts gemein; es gilt aber zu sehen, wie sich gerade in diesem unerschütterlichen Glauben an die produktive Fülle und den Sinn des lebendigen Kosmos selbst wieder eine Form unserer Lebendigkeit ausspricht, die im Fortgang zum nüchtern-wissenschaftlichen Naturbegriff unweigerlich verblassen muss.
Versuch über den Menschen, Meiner 2007 ( im Folgenden zitiert als ‚VM‘), S. 131 („the deep conviction of a fundamental and indelible solidarity of life“, vgl. EM 91). 167 Vgl. VM 133 f.: „Die Vorstellung, daß der Mensch seiner Natur und seinem Wesen nach sterblich ist, scheint dem mythischen und dem primitiven religiösen Denken gänzlich fremd zu sein. . . . Wenn wir Platons Phaidon lesen, dann spüren wir, wie sehr sich das philosophische Denken bemühen muß, einen klaren und unwiderleglichen Beweis für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu erbringen. Im mythischen Denken . . . liegt die Beweislast bei der Gegenseite. Wenn hier irgendetwas eines Beweises bedarf, dann nicht die Unsterblichkeit, sondern der Tod.“ [Vgl. EM 92: „The conception that man is mortal, by his nature and essence, seems to be entirely alien to mythical and primitive religious thought. . . . If we read Plato’s »Phaedo« we feel the whole effort of philosophical thought to give clear and irrefutable proof of the immortality of the human soul. In mythical thought the case is quite different. Here the burden of proof always lies on the opposite side. If anything is in need of proof it is not the fact of immortality but the fact of death.“] 166
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§ 21 An den Grenzen der Reflexion: Ausdrucksverstehen und ‚Logik des Lebens‘ Die Versuchung, in den allgemeinsten Charakteren der mythischen Bildungen irgendeine Art ‚wahren Kern‘ zu sehen, an die sich womöglich auch Cassirers eigene Auffassung des Lebens doch irgendwie anknüpfen ließe, erhält noch einen letzten Auftrieb durch die Tatsache, dass er zu ihrer Erläuterung immer wieder ausgerechnet den Begriff der Metamorphose heranzieht, dessen Bedeutung nicht nur für Goethes Naturbetrachtung, sondern auch für die Erforschung des Lebendigen überhaupt Cassirer selbst bei verschiedenen Gelegenheiten betont. 168 Doch tatsächlich ist hier vor allem wieder größte Vorsicht geboten: Denn es ist ausdrücklich nicht Goethes, sondern Ovids Begriff der Metamorphose, auf den Cassirer sich in seiner Mythostheorie bezieht. 169 Von Goethes Idee der „[g]eprägte[n] Form, die lebend sich entwickelt“ 170 trennt dessen künstliche wie auch die eigentlich-mythischen ‚Metamorphosen‘ wesentlich das Fehlen einer Regel, die im Sinne „bestimmte[r] einschränkende[r] Formbedingungen des Werdens“ 171 die besonderen Einzelgestalten zugleich als Repräsentanten eines allgemeinen Typus verstehen ließe. Für Goethes Naturauffassung bestimmt eben erst dieses Zugleich von Besonderem und Allgemeinem, die Beziehung eines Einzelnen auf seine regulative ‚Typidee‘ auch die ‚innere Form‘ dieses Einzelnen selbst in einer Weise, die es zu einer nicht bloß vorstellbaren, sondern auch objektiv-daseinsmöglichen Lebensform qualifiziert. 172 Zu derartigen Synthesen des Besonderen und des Allgemeinen erweist sich aber das mythische Bewusstsein als weder in der Lage noch eigentlich an ihnen interessiert, wie Cassirer uns im Rahmen einer weiteren und höchst aufschlussreichen Gegenüberstellung mit der Naturauffassung der mathematischen Wissenschaft erläutert: „[Die] kausalen Gesetzesbegriffe [der Naturwissenschaft] lassen, sosehr sie auf Erfassung und Bestimmung des Besonderen gerichtet sind . . . , an diesem Besonderen doch immer noch gewissermaßen eine Sphäre der Unbestimmtheit zurück. Denn gerade als Begriffe vermögen sie das anschaulich-konkrete Dasein und Geschehen, vermögen sie die Fülle der jeweiligen »Modifikationen« des allgemeinen Falles nicht auszuschöpVgl. FF 54 und 206 ff.; EP 4, S. 159 ff.; »Die Begriffsform im mythischen Denken«, ECW 16, S. 3–73 ( im Folgenden zitiert als ‚BMD‘): 42 ff. etc. 169 Vgl. PhsF 2, 58. 170 Johann Wolfgang von Goethe, Urworte. Orphisch, in: Werke, 1. Abt., Bd. III, S. 95. 171 PhsF 2, S. 59. 172 Vgl. dazu § 11. 168
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fen. . . . Hier entsteht für das theoretische Denken und für die theoretische Naturwissenschaft das Problem des »Zufälligen« . . . [im Sinne] einer nicht weiter ableitbaren Modifikation dieser Form . . . . Will das theoretische Denken auch dieses vom Standpunkt des allgemeinen Kausalgesetzes »Zufällige« noch irgendwie fassen und bestimmen, so muß es – wie die »Kritik der teleologischen Urteilskraft« dies im einzelnen dargelegt hat – in eine andere Kategorie übertreten. An die Stelle des reinen Kausalprinzips tritt jetzt das Zweckprinzip: Denn die »Gesetzlichkeit des Zufälligen« ist das, was wir Zweckmäßigkeit nennen. Der Mythos aber geht hier den genau umgekehrten Weg. Er beginnt mit der Anschauung des zweckhaften Wirkens – denn alle »Kräfte« der Natur sind ihm nichts anderes als dämonische oder göttliche Willensäußerungen. . . . Für das wissenschaftliche Denken bedeutet das »Verstehen« eines Vorganges nichts anderes als eine Zurückführung auf bestimmte allgemeine Bedingungen, als seine Einordnung in jenen universellen Bedingungskomplex, den wir »Natur« nennen. . . . Aber ebendiese Notwendigkeit des allgemeinen »Naturlaufs« bliebe für den Mythos, auch wenn er sich zum Gedanken derselben zu erheben vermöchte, bloße Zufälligkeit, weil sie gerade das, was sein Interesse fesselt . . . , weil sie das Hier und Jetzt des Einzelfalles . . . unerklärt läßt.“ 173
Wir erfahren hier wie nebenbei zum ersten Mal den prinzipiellen Grund für das, was uns in früheren Texten lediglich allgemein versichert wurde: warum nämlich mythisches Denken als solches einen eigentlichen Begriff der ‚Natur‘ und der Fragestellungen, die mit ihm verbunden sind, gar nicht entwickeln kann, und warum daher in Cassirers früheren Konstruktionen der Geistesgeschichte gerade die Herausbildung dieses Begriffs (einschließlich seiner Rückwirkung auf den Substanzbegriff ) die „Grenzscheide“ bilden konnte, an der das Prinzip dieses Denkens notwendig an ein Ende kommen musste. 174 Die Umwertung der Werte von „Besonderem“ und „Allgemeinem“ im Vergleich mit den Normen wissenschaftlicher Erkenntnis, den Rollentausch des „Zufälligen“ mit dem „Notwendigen“ und schließlich die hinter beidem stehende Umkehrung der kategorialen Abfolge von kausalanalytischer und teleologischer Erklärungsart – all das kann Cassirer nun auf einen radikalen „Gegensatz der geistigen Welten“ 175 und der allgemeinsten Interessen und Ziele des Weltverstehens zurückführen: Der Tendenz des wissenschaftlichen Begreifens, 173 174 175
PhsF 2, 60 f. (Kursivierung F. S.). Siehe oben, S. 156. PhsF 2, 60.
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„auch alle Freiheit des Tuns noch als determiniert, weil durch eine eindeutige kausale Ordnung bestimmt zu denken“, steht die mythische Tendenz, „alle Bestimmtheit des Geschehens in die Freiheit des Tuns“ aufzulösen, diametral entgegen – und sie ist dabei ihrem ganzen Sinn nach überhaupt nur zu verstehen, wenn man sieht, dass „Freiheit“ hier bloß die allgemeine Willkür „persönliche[r] Willensakt[e]“ meint, die als solche „keiner weiteren Erklärung mehr fähig oder bedürftig“ scheinen. 176 So können wir uns hieran noch einmal im Einzelnen die Gründe ganz deutlich machen, aus denen Cassirer (im Gegensatz zu Schelling, aber etwa auch zu Ludwig Klages 177) die Kategorien des mythischen Bewusstseins als solche für völlig ungeeignet hält, uns einen theoretisch oder praktisch irgendwie ‚adäquaten‘ Zugang zur Natur zu eröffnen. Dem Menschen der Gegenwart, dessen Fragestellungen, ob er will oder nicht, immer schon durch die ganze naturphilosophische und naturwissenschaftliche Tradition mitgeprägt sind, kann die Natur (schon weil er eben über ihren Begriff verfügt 178) nicht mehr das Freifeld dämonischer Willensakte sein, zu dem ihn eine konsequente Reflexion auf seine geistig-kulturellen Ursprünge zwar zurückführt; und vor allem: er soll sich nach einer solchen Auffassung auch gar nicht wieder zurücksehnen, weil ihr im Ganzen eine Vorstellung von „Freiheit des Tuns“ zugrundeliegt, in der von dem ethisch-reflektierten Begriff von Freiheit als Autonomie weder die zweite Hälfte (die Bestimmtheit des Handelns nach Gesetzen) noch die erste (der Selbstbegriff eines individuellen Subjekts) eigentlich zur Geltung gebracht ist. Dies einmal vorausgesetzt, brauchen wir, so nötig eine kritische Distanzierung von der mythischen Weltauffassung aus den genannten Gründen ist, in der reflexhaften Abwehr derselben philosophisch nicht länger das PhsF 2, S. 61; vgl. auch S. 184 f. Vgl. ECN 1, S. 207 f.: „Wo Kl[ages] als reiner Künder von Ausdruckserlebnissen spricht, da schliesst er immer Tiefen auf, die der »rationalen« Metaphys[ik] unzugänglich bleiben müssen – / aber wo die Verkündigung zur Lehre, zum Dogma erstarrt, da treten die Schwächen dieser Lehre alsbald hervor. / Und dogmatisch ist auch seine Grundlehre: die Lehre von der “Wirklichkeit der Bilder” – / In ihr erkennt man, wie die Philos [ ophie ] von Klages selbst Mythos ist: denn die Indifferenz von ‘Bild’ u. ‘Wirklichkeit’ ist gerade der Grundzug des Mythos . . . Kl[ages] ist selbst viel zu sehr eine mythische Natur, als daß ihm der Mythos als Form aufgehen könnte – / Seine Lehre von der “Wirklichkeit der Bilder” bleibt daher naiv-objektivistisch – / Hierin besteht zugleich ihre Kraft und ihre immanente Schranke.“ – Zu Cassirers Verhältnis zu Klages und zur Lebensphilosophie insgesamt vgl. Christian Möckel: Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff (Cassirer-Forschungen 12). Hamburg 2005, S. 253–285, insbes. 269 ff. 178 Siehe dazu § 15. 176 177
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letzte Wort zu sehen. Dass Cassirer nicht wie der Mythos mit der Vorstellung willkürlichen Zweckhandelns „beginnen“ oder theoretisch auf sie bauen will, ist klar – aber gerade deshalb leistet seine Befassung mit dem Mythos (nämlich als kritische Befassung auf Distanz) einen wichtigen Beitrag auf jenem „umgekehrten“ Weg des Denkens, den schon die Kritik der Urteilskraft mit ihrem „Übertritt“ zur teleologischen Erklärungsart vorgezeichnet hatte. Man kann die Kant-Reverenz in der oben zitierten Textstelle deshalb durchaus ernst nehmen: Wie sich die Philosophie der symbolischen Formen insgesamt am „Stilgesetz“ des kantischen Denkens ein Vorbild nimmt, das nach Cassirer in der „allmähliche[n] Entfaltung“ 179 und Erweiterung der Transzendentalphilosophie auf immer weitere Kulturgebiete besteht, so zeigt insbesondere die Ausdehnung auf das Gebiet des Mythos, wie die dermaßen erweiterte reflexive Klärung immer auch im Dienste eines sozusagen naturphilosophischen Interesses steht: Eines Interesses nämlich an denjenigen ‚subjektiven‘ Aspekten unserer Lebensform, denen zwar im Mythos durch ihre kategoriale Hypostase zu einer ‚Wirklichkeit schlechthin‹ erheblich zuviel, aber wenigstens überhaupt Bedeutung beigemessen wird – während sie andererseits in der ganz und gar objektiven Natur der mathematischen Wissenschaften notwendig immer schon „untergegangen“ sein müssen. 180 Zu diesen Aspekten des ‚Subjektiven‘ zählen nun aber nicht nur die Erlebnisgestalten der ‚äußeren‘ Erfahrungswelt in ihrer sinnlich-expressiven Dimension (auf die Goethes Farbenlehre so großes Gewicht legt 181), sondern ebenso die Aspekte des ‚Inneren‘, die Bedürftigkeit, EmotionaVgl. PhsF 1, 8 f. Vgl. KLL, 306 f.: 307; siehe dazu auch § 12. – Die hier der Mythosphilosophie zugesprochene Funktion bestätigt Cassirer indirekt in PhsF 3, S. 99: „Mehr und mehr wird, im Fortgang der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, der reinen Ausdrucksfunktion an Boden abgewonnen – wird das reine »Bild« des Lebens in die Form des dinglichen Daseins und dinglich-kausaler Zusammenhänge umgesetzt. Aber ganz kann sie niemals in diese Form eingehen noch in ihr untergehen – denn täte sie es, so wäre damit nicht nur die mythische Dämonen- und Götterwelt versunken, sondern es wäre damit auch das Grundphänomen des »Lebendigen überhaupt« erloschen. . . . Daß wir diese Wirklichkeit als eine doppelte, als eine »äußere« und »innere«, als eine »physische« und »psychische« zu kennen und zu erfassen glauben, dies beruht nicht darauf, daß wir in den Bestand der Dingwelt seelisches Sein und Geschehen in irgendeiner Weise nachträglich »einlegen«. Es ist vielmehr die ursprünglich allein gegebene Sphäre des Lebens, die sich in sich selbst unterscheidet und die sich, vermöge dieser Unterscheidung, mehr und mehr einschränkt. Kraft dieses Prozesses ordnet sich die Welt der Gegenstände, die Welt der »Natur« und der »Naturgesetze«, den Lebenserscheinungen zu, ohne daß sie doch, in dieser Zuordnung, diese Erscheinungen jemals ganz in sich aufzusaugen und sie damit zu beseitigen vermöchte.“ 181 Siehe auch dazu § 11 und § 12. 179 180
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lität und Affektivität des Menschen selbst, die sich ursprünglich (d. h. ohne weitere hemmende Einflüsse) entsprechend ihrer jeweiligen Tendenz in ‚passenden‘ Formen zweckgerichteten Verhaltens ausdrücken. Ein Hungernder oder Frierender wird im Allgemeinen nach Wegen suchen, seine Not zu lindern (und sei es nur durch Kauern oder Zittern); der Zornige wird seine Aggression mit einiger Wahrscheinlichkeit an seiner Umgebung ‚auslassen‘, der Erleichterte tief ausatmen: Es sind solche typischen Verbindungen zwischen subjektiven Gefühlslagen und Formen des sichtbaren Tätigwerdens, die das mythische Bewusstsein zu bildhaften Pathosformeln von großer Komplexität und Dichte umgestaltet – und es ist die daraus resultierende emotionale Kraft solcher Bilderformeln, ihre unmittelbare sinnmäßige Verständlichkeit aus den universellsten Strata menschlicher Lebens- und Selbsterfahrung, die den mythischen Narrativen zu ungeheurer Beharrlichkeit und Dauer verhelfen. 182 Cassirer macht sich diesen Zusammenhang umgekehrt zunutze: Für ihn bekunden die teleologischen Weltdeutungen des Mythos in den Bildergeschichten vom Handeln der Götter und Dämonen, ungeachtet ihrer ‚objektiven‘ Unhaltbarkeit im Einzelnen, im Ganzen doch einen mittelbaren anthropologischen Wert darin, dass wir sie im Rahmen einer kritischen Reflexion als Projektionen einer ursprünglichen Selbst- und Sinnerfahrung des Menschen auf die Phänomene seiner Welt insgesamt begreifen können, von deren kulturellen Manifestationen aus sich auf die emotionalen Tiefenschichten hinter all unseren bewussten und unterbewussten Zweckhandlungen zurückschließen lässt. 183 So könnte man, wenn man wollte, hinter Cassirers bis zur Mythosphilosophie erweiterter Kulturphilosophie noch die Silhouette der kantischen Frage hinter der Kritik der Urteilskraft erkennen, wie sich ‚Natur‘ so denken lasse, dass der Mensch auch als Wesen der Freiheit, das nach selbstgesetzten Zwecken auf sie einwirkt, eben darin zugleich noch als ein in sie integriertes, aus ihr hervorgehendes, mit einem Wort als ein – natürliches Wesen begriffen wird 184. Dass einer kritischen Idee der Natur, die über Vgl. John Michael Krois: „Die Universalität der Pathosformeln. Der Leib als Symbolmedium“. In: Hans Belting u. a. (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation. München 2002. S. 295–307. 183 Vgl. EM 85: „[T]he data of our physiognomic experience . . . have lost all objective or cosmological value, but their anthropological value persists. In our human world we cannot deny them and we cannot miss them; they maintain their place and their significance.“ 184 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft 176: »[D]ie Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. – Also muß 182
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den physikalischen Begriff von ihr hinausgeht, ohne ihn überwinden oder gar inhaltlich spekulativ bestreiten zu wollen, im Horizont der Philosophie der symbolischen Formen sachlich nichts entgegengestanden hätte, zeigt sich immer wieder daran, dass Cassirer nicht zögert, bestimmten Zügen unseres mythischen Weltumgangs Analogien im Tierreich zur Seite zu stellen. 185 Als Grundlage für derartige Analogien erscheint ihm dabei wiederum die „wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion“ 186 des Ausdrucks, mit der gemäß der allgemeinen Prämisse der Philosophie der symbolischen Formen natürlich immer eine Funktionskorrelation von Äußerung im Eigenausdruck und Fremdverstehen im Ausdruckserlebnis gemeint ist. In der Ausdrucksfunktion kommen die beiden Grundaspekte lebendiger Subjektivität – die emotionale Fundierung allen ‚Sachgehalts‘ im konkreten Empfinden eines Lebewesens und die formale Verflechtung aller von demselben erfahrbaren Phänomene mit den Bedingungen seines sinnlichen Weltauffassens – in einer existentiellen Form der ‚Symbolisierung‘ zusammen, die für die transzendentale Kulturreflexion einerseits eine letzte methodische Grenze bildet und ihr andererseits – oder gerade deshalb – auch einen Blick über den Tellerrand der Gattung erlaubt: Hier geschieht es nämlich tatsächlich, dass der sonst gegenüber Berufungen auf die Natur so gründlich skeptische Cassirer einmal Ernst macht mit seiner prinzipiellen Kontinuitätsthese über die organische Welt und sich zu der Formulierung durchringt, dass sich „von der Anerkennung des nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakters der reinen Ausdruckserlebnisse“ des Menschen womöglich auch „eine Brücke zu den Phänomenen des tierischen Bewußtseins schlagen“ lasse. 187 Wir nähern uns hier einem der in anthropologischer Hinsicht vielleicht fruchtbarsten 188 Motive von Cassirers symbolphilosophisch reflekes doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigenthümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Principien der einen zu der nach Principien der anderen möglich macht.« 185 Vgl. PhsF 3, S. 69 ff. Im Essay on Man untersucht Cassirer konkreter die Parallelen, die nach seiner Einschätzung z. B. mit Blick auf den Umgang mit Raum und Zeit zwischen den „höheren Tieren“ und den Menschen der „primitiven Kultur“ bestehen: Beide gehen demnach zunächst vom „Handlungsraum“ und von den Begriffen des „organischen“ Zeitempfindens aus, die dann freilich im Falle des Menschen (und nur hier) anhand der symbolischen Entwicklungen der Kultur in allgemeine kosmologische Begriffe übergehen (vgl. VM 72 ff. / EM 48 ff.); siehe auch Anmerkung 197 weiter unten. 186 PhsF 3, 91. 187 PhsF 3, 71 f.
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tiertem Zugang zum Mythos, durch den das mythische Weltverstehen eben nicht lediglich als eine der verschiedenen Weisen kultureller ‚Objektivierung‘, sondern als der exemplarische Gestaltungsraum der ‚Ausdrucksfunktion‘ erscheint, die den „Mutterboden der Kultur“ erst bereitet. Die Prinzipien, aus denen das mythische Bewusstsein potentiell in allem Geschehen eine unmittelbare ‚Bedeutsamkeit‘ für das menschliche Leben erkennen und hinter ihm ein Wirken dämonischer Mächte vermuten kann, sind Cassirer nämlich bei aller objektiven ‚Falschheit‘ nicht etwa Indizien für eine ‚Verfälschung‘ der Welt auf der Grundlage ‚bloß kultureller‘ (im Sinne von: ‚vermeidbarer‘) Glaubensakte – sondern sie sind nach seiner Einsicht so tief in unserer Wahrnehmungsstruktur verankert, dass „die Wahrnehmung selber . . . der Weise und Richtung des Mythischen entspricht und gewissermaßen entgegenkommt“ 189. Mit Blick darauf stellt Cassirer nun ausdrücklich fest, dass seine Beschäftigung mit dem kulturellen ‚Faktum‘ des Mythos über die immer noch „künstliche Symbolik“ seiner Bilder hinaus auf die Idee einer sie tragenden „vormythische[n], vorlogische[n] und vorästhetische[n]“, nämlich rein ausdruckshaften und ganz und gar affektiv-eingefassten „Erlebniswelt“ 190 hinweise; eine Bemerkung, die den „einen Schritt weiter in der Richtung auf das »Unmittelbare«“, als welcher die Phänomenologie des mythischen Bewusstseins verstanden werden durfte, 191 gewissermaßen noch um einen ideellen zweiten verlängert, um so am Ende auch einen ‚Brückenschlag‘ des Verstehens über die Gattungsgrenzen hinweg in den philosophischen Horizont rücken zu lassen. Nun ist es freilich nicht so, dass Cassirer die damit in Aussicht gestellte Möglichkeit so systematisch verfolgen würde, wie man es von einer Anthropologie üblicherweise erwartet; eine Ausarbeitung der projizierten ‚vorkulturellen Erlebniswelt‘ im Sinne einer entwickelten Naturtheorie unserer Wahrnehmung, unseres Emotions- und Ausdruckslebens im detaillierten Abgleich mit anderen Spezies findet sich bei ihm jedenfalls nicht. Andererseits bleibt die Idee eines Abgleichs mit der Tierwelt auch nicht auf die bloße Nennung einer theoretischen Möglichkeit beschränkt, sondern wird von ihm an verschiedenen Stellen exemplarisch durchgeVgl. Norbert Meuter: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur. München 2006. 189 PhsF 2, 68. Ebd.: „Ohne eine solche Fundierung in einer originären Weise des Wahrnehmens selber würde der Mythos im Leeren schweben; würde er statt einer universellen Erscheinungsform des Geistes vielmehr nur eine Art geistiger Erkrankung, ein bei aller Verbreitung dennoch zufälliges und »pathologisches« Phänomen bedeuten.“ 190 PhsF 3, S. 91; vgl. auch ECN 1, S. 53 sowie meine Anmerkungen in § 10, S. 104. 191 Vgl. PhsF 2, 43. 188
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führt, etwa mit Blick auf die berühmten tierpsychologischen Primatenversuche Wolfgang Köhlers. Die Art und Weise, wie Cassirer immer wieder ganz umstandslos auf solche naturwissenschaftlichen Befunde rekurriert und zwischen ihnen und kulturwissenschaftlich-kulturgeschichtlichen Es hat also ganz den Anschein, dass Cassirer von den Untersuchungen zur „Begriffsform des mythischen Denkens“ bis zu seiner Ästhetik der Ausdruckswahrnehmung einer besonderen Logik des Lebens überhaupt auf der Spur ist, die er einerseits gegen die Logik der ›Natur‹ (nämlich der mathematisch-naturwissenschaftlichen) profiliert, und die doch ihrer ganzen Anlage nach auch die Möglichkeit einer ideellen Fortprojektion bis ins Tier- und Pflanzenreich mit einschließt. 192 Exemplarisch steht dafür etwa die Stelle aus „Sprache und Mythos“, an der Cassirer die „primäre Leistung“ 193 der Sprachbegriffe wie der mythischen Bilder in die auszeichnende Konzentration auf im Lebenszusammenhang als bedeutsam erfahrene Sinnganzheiten setzt – und offenbar keine Schwierigkeiten damit hat, „[d]ie Anfänge dieses Bemerkens . . . schon dem Tiere zu[zu]schreiben“ 194: „Was für das [menschliche, F. S.] Wünschen und Wollen, für das Hoffen und Sorgen, für das Tun und Treiben in irgendeinem Sinne bedeutsam erscheint: dem allein wird der Stempel der sprachlichen »Bedeutung« aufgedrückt. . . . [N]ur dasjenige, was sich irgendwie auf die Mittelpunkte, Vgl. PhsF 3, 69: „[Es gibt] eine Art von Wirklichkeits erfahrung, die sich noch ganz außerhalb [der] Form der naturwissenschaftlichen Erklärung und Deutung hält. Sie liegt überall dort vor, wo das »Sein«, das in der Wahrnehmung erfaßt wird, nicht sowohl ein Sein von Dingen als bloßen Objekten ist, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt. . . . Was die Versenkung in das reine Phänomen der Wahrnehmung uns zeigt, ist jedenfalls das eine: daß die Wahrnehmung des Lebens nicht in der bloßen Dingwahrnehmung aufgeht . . . Das »Verstehen von Ausdruck« ist wesentlich früher als das »Wissen von Dingen«.“ Ebd., S. 74: „Von [der Region des ›objektiven Geistes‹] aus suchen wir, durch eine rückschließende und »rekonstruktive« Betrachtung, den Zugang zum Bereich der »Subjektivität« zu gewinnen. Und es kann nach den Ergebnissen unserer früheren Untersuchung keinem Zweifel unterliegen, an welcher Stelle hier der Hebel anzusetzen ist. Wo es sich um die Problematik und um die Phänomenologie der reinen Ausdruckserlebnisse handelt, da können wir uns weder der Leitung und Orientierung durch die begriffliche Erkenntnis noch auch lediglich der Leitung der Sprache überlassen. Denn beide stehen in erster Linie im Dienste der rein theoretischen Objektivierung: Sie bauen die Welt des »Logos«, als gedachten und gesprochenen Logos, auf. So folgen sie, in bezug auf das Gebiet, das hier in Frage steht, einer nicht sowohl zentripetalen als vielmehr zentrifugalen Richtung. Der Mythos hingegen versetzt uns in den lebendigen Mittelpunkt dieses Gebiets.“ Vgl. auch „Die Begriffsform im mythischen Denken“, ECN 16, S. 3–73: 41 ff. 193 SM 260. 194 SM 261. 192
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auf die Zentren des Wollens und des Tuns bezieht, was für das Ganze des Tuns und des Lebens sich als fördernd oder hemmend, als wichtig und als notwendig erweist – nur das wird aus der fließend immer gleichen Reihe der Sinneseindrücke herausgehoben, wird innerhalb ihrer »bemerkt«, d. h. mit einem besonderen sprachlichen Akzent, mit einem Merkzeichen versehen. Die Anfänge dieses Bemerkens müssen wir ohne Zweifel schon dem Tiere zuschreiben, sofern auch in seiner Vorstellungswelt diejenigen Elemente herausgehoben sind, auf die es durch die Grundrichtung seiner Triebe, durch die spezifische Richtung seiner Instinkte hingewiesen ist. Nur was einen einzelnen Trieb, wie etwa den Nahrungs- oder Sexualtrieb erregt, was mit ihm, sei es mittelbar oder unmittelbar, im Zusammenhang steht – nur das »ist« für das Tier als ein objektiver Inhalt seines Empfindens und Vorstellens da.“ 195
An einer qualitativen Differenz zwischen solchen tierischen „Anfängen“ und den spezifisch menschlichen Kulturleistungen soll zwar auch in dieser Perspektive ausdrücklich festgehalten werden; aber es scheint mir wichtig, dass Cassirer eine solche Differenz in dem hier angesprochenen Grenzbereich, in dem es sich – gleichsam auf der elementarsten Stufe der ‚Ausdrucksfunktion‘ – auch bei uns noch um rein ‚organische‘ Leistungen unseres sinnlichen Bemerkens und unserer expressiven Leiblichkeit handelt, wo die ‚Fakta‘ kulturell-fixierter Entäußerungen noch gar nicht in relevantem Grad bestehen und daher auch kein Unterscheidungskriterium abgeben können, durch den teleologischen Verweis auf die Sprache und Mythos gemeinsame „Tendenz zur Beharrung“ 196 begründen muss: Spezifisch menschlich ist für Cassirer allein die Richtung auf ‚Objektivierung‘, auf werkhafte Verdichtung des Gemeinten in ‚Symbolen‘ (wozu eben für ihn auch schon alle kultisch-ritualisierten Handlungen zu zählen sind), die er denn auch im Gedanken der sprachlich-mythischen „radikalen Metaphern“ in aufschlussreicher Weise explizieren kann – kein Unterscheidungskriterium lässt sich für ihn hingegen aus irgendwelchen Differenzen in der lebendigen ‚Ausgangslage‘ der empfindend sich verhaltenden Wesen, ihrer psychophysischen Konstitution oder ihrem natürlichen Lebensumfeld gewinnen. Sieht man deshalb von dem eigentlich nur in der Reflexionsperspektive des Kulturphilosophen möglichen Vorblick auf den weiteren Entwicklungsgang der Kultur ab, so bleibt für die noch weitgehend unreflektierten Lebensvollzüge selbst – auch dort, wo die Funktionen ‚eigentlicher‘ Symbolisierung und poietischer Darstellung 195 196
Ebd. (Kursivierung F. S.). SM 259 (Kursivierung F. S.).
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grundsätzlich nicht (wie bei den Tieren) oder eben noch nicht verfügbar sind (wie bei unseren Vorfahren in den in evolutionärer Perspektive anzunehmenden „vor-mythischen“, d. h. eigentlich ‚tierischen‘ Phasen der Menschwerdung) – dennoch eine durch Ausdruck und Ausdrucksverstehen eröffnete primäre Art des Kommunikationsverhaltens über alle Gattungsgrenzen hinweg anzunehmen, auf der in letzter Instanz auch die elaborierteren Formen der Gemeinschaft im Sinn, die (unter dem Titel der Kultur) nur die Menschen unter ihresgleichen ausbilden, produktiv beruhen müssen, ohne deshalb irgendwie darauf reduzibel oder daraus ableitbar zu sein. 197 Beispiele dafür, wie Cassirer dieser „Kontinuität des Werdens“ als der einen Seite der genetisch-phänomenologischen „Doppelbestimmung“ (vgl. ECN 1, S. 38 f.) aller symbolischen Formung Rechnung trägt, lassen sich für jede der drei Grundkategorien Raum, Zeit und Zahl geben, an denen die Philosophie der symbolischen Formen wie an einem Leitfaden orientiert ist. Vgl. etwa für den Raum die Zuordnung des mythischen Raums zu einer „eigenartige[n] Mittelstellung zwischen dem sinnlichen Wahrnehmungsraum und dem . . . Raum der geometrischen Anschauung“ (PhsF 2, S. 98) – letzteres aufgrund der Universalisierungstendenz zu einem allgemeinen Schema der Welt, ersteres aufgrund der qualitativ-sinnlichen „Anisotropie“ der Richtungen, die an den Gefühlsqualitäten des Oben und Unten etc. ausgerichtet bleibt. Für die Zeit weist Cassirer analog auf ihren Ursprung aus dem rhythmischen „Phasengefühl“ für die „lebendige Dynamik“ des natürlichen Werdens hin (PhsF 2, 127 f.: 128); für die Zahlbegriffe vgl. bes. die Diskussion der Astrologie in BMD, 53 sowie den anspruchsvollen Erklärungsversuch aus der sprachlichen Doppelbeziehung von Raum und Zeit aufeinander im Ausdruck der komplexen Vorstellungen von „distributiver“ und „kollektiver“ Vielheit (vgl. PhsF 1, S. 197 ff.). – Dass solche Einsichten in die faktische Gewordenheit aller Formen symbolischer Vermittlung, die auch eine prinzipielle Kompatibilität mit evolutionären Perspektiven mit einschließt, die methodische Prämisse der Unhintergehbarkeit solcher Vermittlung für jede (und also auch jede evolutionsbiologische) Theorie nicht infrage stellt, verbürgt die Philosophie der symbolischen Formen eben durch ihre systematische Orientierung am ‚objektiven Geist‘ der Kultur, aufgrund derer alle Richtung auf das ‚Unmittelbare‘ des Lebens einschließlich seiner organischen Dimension immer nur im Rahmen einer philosophischen Reflexion statt hat, die sich selbst immer schon als symbolisch gebunden und vermittelt begreifen muss; vgl. für diesen ganzen Zusammenhang besonders ECN 1, S. 50 ff. sowie § 10 oben. Unzutreffend wäre es allerdings, in diesem beabsichtigten Charakter von ‚Reflexionsphilosophie‘ (der bloß ein angemessenes Selbstverständnis des Philosophen ausdrückt) auch schon den Grund für Cassirers in die Augen springende Vernachlässigung der leiblichen Komponente selbst noch des Ausdrucksverhaltens zugunsten der Konzentration auf psychologische und tierpsychologische Aspekte zu sehen: Denn nach dieser Deutung (die dem allgegenwärtigen mentalistischen Missverständnis eines am ‚Geist‘ orientierten Philosophierens entspricht) müsste sein im selben Kontext unterbreiteter Vorschlag eines „unmittelbar[en]“ Anschlusses seiner Philosophie der symbolischen Formen an „die Ergebnisse einer kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie“ (ECN 1, 60), wie er sie insbesondere in Plessners Stufen des Organischen erkennt, vollkommen sinnlos und unverständlich erscheinen. Tatsächlich scheint aber hinter Cassirers Verzicht auf 197
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Die ursprüngliche Verwandtschaft des Mythos mit einer solchen ›Ausdruckslogik‹ des Naturlebens verrät sich denn auch im Aspekt der einstweiligen Nichtkorrigierbarkeit von allem, was aus der Wahrscheinlichkeit des so-und-nicht-anders in seiner Präsenz Erlebten zum ‚substanziellen‘ mythischen Weltwissen gerinnt. 198 Bedeutsam ist dem lebendigen Empfinden des „mythischen Bewusstseins“ nach Cassirer einfach das, was mit Blick auf „das Ganze des Tuns und des Lebens“ – als bedeutsam erlebt wird; ob es dies dann ‚wirklich‘ ist oder sich ‚tatsächlich‘ so verhält, wie es sich der Wahrnehmung ursprünglich darbietet, darauf wird hier zunächst gar keine Rücksicht genommen und kann auch keine Rücksicht genommen werden, wo es sich erst einmal darum handelt, überhaupt eine eine eingehende Beschäftigung mit der Physiologie von Mensch und Tier etwas ganz anderes zu stehen, und zwar ein grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit, mit solchen Betrachtungen die Produktivform der spezifisch naturwissenschaftlichen Begriffsbildung unterlaufen zu können, die nach seiner Einschätzung per se über inadäquate, zumindest lückenhafte Konzeptionen des Lebens und des lebendigen Leibes nicht hinauskommen kann. Charakteristisch hierfür ist z. B. schon der Anlass, aus dem Cassirer im dritten Band auf die Kontinuität von menschlichem und tierischem Bewusstsein zu sprechen kommt, nämlich die Kritik an der sensualistischen Tendenz naturwissenschaftlicher Perspektiven auf die Wahrnehmung. Vgl. PhsF 3, 70 f.: „[D]as Verfahren der induktiven Beobachtung und Vergleichung . . . [ist], als Verfahren der objektivierenden Naturwissenschaft, an ganz bestimmte logische Voraussetzungen gebunden ist und die sich kraft ihrer als ein Werk des Intellekts, der denkenden Erfassung der Wirklichkeit, erweist. . . . [V]om Standpunkt dieses Erkenntnisideals bleibt in der Tat die Welt des tierischen Bewußtseins durchaus problematisch – bleibt sie unaufweisbar, weil sie unbeweisbar ist. Aber ein anderes Bild bietet sich uns dar, . . . sobald wir uns daran erinnern, daß auch für den Menschen diese intellektuell bedingte Welt keineswegs die einzige ist, in der er ist und lebt. Würden wir den Begriff des »Bewußtseins« für die Bezeichnung der reflexiven Akte des Wissens auf der einen Seite, für die gegenständliche Anschauung auf der anderen Seite vorbehalten, so gerieten wir damit in Gefahr, nicht nur die Möglichkeit des tierischen Bewußtseins anzuzweifeln, sondern auch ein großes Gebiet und sozusagen eine ganze Provinz des menschlichen Bewußtseins zu vergessen und zu verleugnen.“ 198 Vgl. PhsF 2, S. 44 f.: „Statt der dialektischen Bewegung des Denkens, für die jedes gegebene Besondere nur der Anlaß wird, es an ein anderes anzuknüpfen, es mit anderen zu Reihen zusammenzuschließen und es auf diese Weise zuletzt einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Geschehens einzuordnen, steht hier die bloße Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige »Präsenz«. Das Bewußtsein ist in ihm als einem einfach Daseienden befangen – es besitzt weder den Antrieb noch die Möglichkeit, das hier und jetzt Gegebene zu berichtigen, zu kritisieren, es in seiner Objektivität dadurch einzuschränken, daß es an einem Nichtgegebenen, an einem Vergangenen oder Zukünftigen gemessen wird.“ – Cassirers Anerkennung des Mythos und der expressiven Fundamente, aus denen seine Gestaltungen ursprünglich erwachsen, läuft hier systematisch auf die Einsicht hinaus, dass alles menschliche Wissen – nicht seiner Geltung nach, aber in seinen lebendigen Wurzeln – in letzter Instanz auf Glaubensakten beruht, die sich bei ihrem ‚Fürwahrhalten‘ eines jeweiligen „Eindrucks“ an keine anderen Kriterien halten können als die, die sich ihnen im eigenen Lebensumfeld unmittelbar darbieten.
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erste Ordnung in die Vielfalt der sinnlichen Eindrücke zu bekommen. Die naheliegende Antwort auf Cassirers später in der „Logik der Kulturwissenschaften“ rhetorisch aufgeworfene Frage, warum es „der Theorie so schwer“ falle, das „Faktum“ der Ausdruckswahrnehmung „zuzugeben“ 199, muss daher wohl lauten: Weil es gerade die Kritik an der vermeintlichen Selbstverständlichkeit dieser ursprünglichen Form der Welterfahrung ist, auf der aller wissenschaftliche Anspruch ganz wesentlich beruht, während es gerade das Fehlen, wenn nicht die völlige Unmöglichkeit aller Kritik ist, die jene Erfahrungsweise eben zur – selbstverständlichen Grundlage jeder weiteren disponiert. 3.4 Die Kultivierung unserer Wahrnehmung § 22 ‚Du‘-Begriff und ‚Es‘-Begriff der Natur Als einen zentralen Aspekt der genetisch und strukturell ursprünglichsten Form unserer „Wirklichkeitserfahrung“ im Ausdrucksleben hebt Cassirer die Tatsache hervor, dass in ihr „das »Sein«, das in der Wahrnehmung erfaßt wird, nicht sowohl ein Sein von Dingen als bloßen Objekten ist, sondern . . . uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt“ 200. Wir haben es hier nach Cassirer mit einem für alle menschliche Erfahrung grundlegenden ästhetischen Primat 201 des ‚Du‘ vor dem ‚Es‘ zu tun: grundlegend insofern, als der Bezug der Ausdruckswahrnehmung auf ihren Gegenstand eben noch weder der nüchtern-distanzierte des ‚theoretischen Bewusstseins‘ ist noch auch der ‚interesselose‘ des Kunstgeschmacks, sondern ein so grundlegend interessierter, dass er den ganzen Sinn des eigenen Verhaltens immer nur unmittelbar aus den qualitativen Charakteren des als Lebensäußerung Wahrgenommenen beziehen und deshalb auch nur an ihm je konkret erfahren kann. Aller Sinn und alle Bedeutung haften hier noch so sehr am je begegneten Dasein selbst, dass auch alle ‚Referenz‘ auf Sinnhaftes (wir bewegen uns nach wie vor im Rahmen einer Symboltheorie des Sinns!) unmittelbar mit dem leibhaftig-wirklichen Umgang mit dem Anderen zusammenfällt 202: Wenn ‚Intention‘ hier Vgl. LKW 396. PhsF 3, S. 69. 201 Natürlich geht es auch hier nicht um einen von der philosophischen Reflexion anzuerkennenden sachlichen Geltungsprimat, sondern ‚nur‘ um eine Priorität der Bewusstseinsgestalt in genetischer Hinsicht, die freilich aufgrund ihres universellen (und keineswegs ‚zufälligen‘) Charakters nicht minder bedeutsam ist. Siehe zu diesem Verhältnis von ‚Geltung‘ und ‚Genese‘ auch Kapitel 1.3. 199 200
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überhaupt noch eine brauchbare Kategorie ist, dann liegt gleichsam der Schwerpunkt des Meinens nie auf dem Meinenden, sondern immer auf dem Gemeinten. Dass wir mit dieser ursprünglichen Wahrnehmungsart die gesamte Erlebniswelt in Form solcher Du-Phänomene haben, ist nun aber nach Cassirer nicht damit gleichbedeutend, dass wir in sie die vom Pronomen suggerierte Personalität sich äußernder ‚Subjekte‘ hineinlegen würden. 203 Wo wie im Mythos, der ja der Charakteristik der Ausdruckswahrnehmung auf dem Gebiet des ‚objektiven Geistes‘ Pate steht, schon „die Grenze zwischen »Ich« und »Du« eine durchaus fließende“ ist – da besteht vielmehr, wie er feststellt, auch eine „merkwürdig[e] Indifferenz zwischen Persönlichem und Unpersönlichem, zwischen der Form des »Du« und der des bloßen »Es«“: 204 Der ‚Primat des Du‘ meint also nicht einen eigentlichen Vorrang des Anderen vor dem Selbst oder gar ein analogisierendes Verständnis angetroffener Phänomene aus einem schon voll entwickelten Selbstverständnis heraus (qua psychologischer Personifikation), sondern die alle solche Gegensätze erst potentiell in sich befassende Ungeschiedenheit von Welt- und Selbstbewusstsein in der halb-persönlichen, halb-unpersönlichen „Wirksamkeit“ 205 des Ausdruckslebens. Vgl. PhsF 3, S. 80: „Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden . . . haften . . . den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir [in bereits ‚theoretischer‘ Einstellung, F. S.] als hinter der Erscheinung stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen.“ 203 PhsF 3, S. 82: „[D]iese Manifestation knüpft die Erscheinung des Lebens keineswegs sogleich an einzelne Subjekte, an bestimmte Ichwelten, die sich in scharfer und klarer Differenzierung gegenüberstehen. Es ist weit mehr das Leben schlechthin als seine Sonderung in Einzelkreise und seine Bindung an bestimmte individuelle Zentren, was hier primär erfaßt wird; es ist ein universeller Charakter der Wirklichkeit, nicht das Dasein und Sosein bestimmter Einzelwesen, was in der Ausdruckswahrnehmung ursprünglich »erscheint«. Sie behält, in all ihrer Vielfältigkeit und Lebendigkeit, noch den Charakter des »Unpersönlichen«; sie ist immer und überall Kundgabe, aber sie bleibt ebendarum auch im Phänomen des Kundgebens als solchem stehn, ohne bestimmter Substrate für dasselbe zu bedürfen.“ 204 PhsF 3, S. 79 (Kursivierung F. S.). 205 Vgl. PhsF 3, S. 81 f.: „Keineswegs gesellt sich dem »objektiven« Inhalt der Empfindung nachträglich und wie zufällig ein bestimmter Ausdruckscharakter als subjektives Anhängsel hinzu, sondern ebendieser Charakter ist es, der zum wesentlichen Bestand der Wahrnehmung gehört. Er ist an sich so wenig »subjektiv«, daß er es vielmehr ist, der der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität gibt – die sie erst zu einer »Wahrnehmung von Wirklichkeit« macht. Denn alle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren.“ 202
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Weil nun aber diese Funktion des Ausdrucks, als „weltumspannende“ 206 Urfunktion unserer tätig-wahrnehmenden Wirklichkeitserfahrung überhaupt, von biologischen Gattungsgrenzen so wenig affiziert wird wie von der Frage nach dem ‚Ich‘, ‚Du‘ oder ‚Es‘, der ‚Lebendigkeit‘ oder ‚Totheit‘ ihrer Gegenstände, so erklärt sich von hier aus auch der Sinn und selbst das relative Recht der eben nicht nur „anthropomorphen“, sondern ebenso oft und zunächst ganz unterschiedslos auch „theriomorphen“ und „theomorphen“ Züge mythischer Symbolwelten. 207 Für das mythische Bewusstsein, dem ohnehin alles Sein und aller Schein in einer einzigen „Ebene“ 208 zusammenfällt, versteht es sich geradezu von selbst, dass der Mensch mit allen Tieren, Pflanzen und Dinge, wie andererseits auch mit seinen Göttern und Dämonen in einem durchgehenden lebendigen Daseinszusammenhang steht: So scheint in der Tat nichts den praktischen wie ‚theoretisch‘-spekulativen (Verstehens-)Interessen einer solchen Weltauffassung gleichgültiger zu sein als die für sie notwendig ganz ‚abstrakte‘ Unterscheidung einer ‚Welt der Natur‘ von der Welt des Menschen und der menschlichen Kultur. In der Konsequenz drückt der Mythos nach Cassirer mit derselben Selbstverständlichkeit „alles natürliche Sein in der Sprache des menschlich-sozialen Seins“ wie „alles menschlich-soziale in der Sprache des natürlichen aus“ 209 – und scheint damit ohne weiteres alle Schwierigkeiten zu unterlaufen, die die philosophische Reflexion später im Verhältnis von ‚Natürlichem‘ und ‚Kulturellem‘ finden kann.
PhsF 3, S. 91. PhsF 2, 228 f.: „[D]as primäre Gemeinschaftsgefühl [des Mythos, F. S.] [macht] an den Grenzen, die wir in unseren entwickelten biologischen Klassenbegriffen setzen, nirgends halt[], sondern [ist] über alle solche Grenzen hinaus auf die Totalität des Lebendigen gerichtet . . . Lange bevor der Mensch sich als eine bestimmt geschiedene Art und Gattung weiß, . . . weiß er sich als Glied in der Kette des Lebens überhaupt, innerhalb deren jedes einzelne Dasein mit dem Ganzen magisch verbunden ist . . . [I]n den Bildgestalten, in denen der Mythos ursprünglich lebt und ist, . . . [heben sich] die Züge von Gott, Mensch und Tier sich nirgends scharf voneinander [ab].“ 208 Nach PhsF 2, S. 44, geht dem mythischen Denken „alles Sein, alle »Wahrheit« und Wirklichkeit in die bloße Präsenz des Inhalts auf, . . . drängt sich damit notwendig alles überhaupt Erscheinende in eine einzige Ebene zusammen. Es gibt hier keine verschiedenen Realitäts stufen, keine gegeneinander abgegrenzten Grade objektiver Gewißheit. Dem Bilde der Realität, das auf diese Weise entsteht, fehlt somit gleichsam die Tiefendimension – die Trennung von Vordergrund und Hintergrund, wie sie sich im empirisch-wissenschaftlichen Begriff . . . vollzieht.“ 209 PhsF 2, 225: „Hier ist keine Reduktion des einen Moments auf das andere möglich, sondern beide bestimmen erst in ihrer durchgängigen Korrelation die eigentümliche Struktur und die eigentümliche Komplexion des mythischen Bewußtseins.“ 206 207
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Doch das ist natürlich wieder nur die halbe Wahrheit, indem diese Ureinheit des „mythischen Einheits- und Lebensgefühl[s]“ 210 nicht nur den positiven Aspekt einer gefühlten und erlebten „Solidarität des Lebens“ umfasst, sondern sich nach der negativen Seite als eine Einheit der Indifferenz zwischen Weltaspekten entpuppt, auf die es dem Menschen – wie auf den Unterschied zwischen Persönlichem und Unpersönlichem – für sein Leben allerdings ankommen muss. Dabei geht es weniger um die bloße Differenzierung der Wortausdrücke als um die dieser noch vorausgehenden Unterschiede der Haltung gegenüber ‚Natürlichem‘ und ‚Kulturellem‘ – Begriffe, deren kontrastive Bedeutung wir in diesem Zusammenhang noch einmal als ‚dem menschlichen Einfluss einstweilen Unverfügbares, eigentätig Werdendes‘ bzw. ‚unter menschlichem Einfluss Geformtes oder überhaupt erst Entstandenes‘ präzisieren können. 211 Wie nun dem Mythos ‚die Natur‘ in diesem Sinne alles andere als ein gesetzlich-bestimmter und interessenneutraler Wirkungszusammenhang ist, sondern vielmehr das Handlungsfeld eigensinniger und buchstäblich unberechenbarer Mächte 212, so gelten ihm auf der anderen Seite auch die Errungenschaften ‚der Kultur‘ nicht einfach als Menschenwerk, sondern als dankbar hinzunehmende, höchstens durch Gebet, Kult, Opfer herbeizuwünschende Gaben und Wirkungen jener Mächte, die folglich von keinem einzelnen je infrage zu stellen sind (siehe der Asebievorwurf gegen Sokrates). 213 Wenn sich das mythische Bewusstsein mit solchen Auffassungen vom Wesen der natürlichen und kulturellen Phänomene mithin nach beiden Richtungen als unfrei erweist, so haben wir nur ein weiteres Mal den Grund reformuliert, warum Cassirer schon in seiner Eigenschaft als Aufklärer eine solche Heteronomie nicht per se gutheißen oder gar eine Rückkehr zur vermeintlichen sancta simplicitas propagieren kann. Auf der anderen Seite ist seine Auseinandersetzung mit dem Mythos differenziert genug (und in gewissem Sinne sogar darauf angelegt), die ursprüngliche „Unmündigkeit“ des Menschen im ideell-rekonstruierten Frühstadium der Kultur von der „selbstverschuldeten“ zu unterscheiden, gegen die PhsF 2, 205. Vgl. meine allgemeineren Ausführungen dazu in der Einleitung, S. 21. 212 Siehe den vorangehenden § 21. 213 Nach Cassirers Darstellung in der Logik der Kulturwissenschaften ist der mythische Mensch zunächst „weit davon entfernt, wenn er seine eignen Werke betrachtet, sich selbst als deren Schöpfer zu ahnen. . . . [S]ie sind weit erhaben nicht nur über das, was der einzelne, sondern auch über all das, was die Gattung zu leisten vermag. . . . Ein Gott hat sie geschaffen; ein Heilsbringer hat sie vom Himmel auf die Erde herabgeholt und die Menschen ihren Gebrauch gelehrt.“ (LKW 358). 210 211
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sich nach Kants „Wahlspruch“ die spezifisch-moderne Vernunft erheben soll. 214 Wo in einer durchgehend nach mythischen Prinzipien organisierten Kultur das gesamte Lebensumfeld der Menschen in einem Zustand eben nicht des ‚Aberglaubens‘, sondern des noch durch keinen bestimmten Zweifel getrübten Glaubens an die dämonische Besessenheit von Welt und Mensch befangen ist, da erfordert ein „Ausgang“ aus ihm weit mehr als nur die Entschlossenheit des Einzelnen, nämlich einen höchst komplexen und langwierigen Prozess der produktiven Kulturentwicklung; und weil ein solcher Prozess natürlich nicht etwa mit der Kenntnis eines entwickelten Reflexionsbegriffs der ‚Kultur‘ schon anheben kann, läuft er vielmehr auf eine allmähliche Selbstdifferenzierung des menschlichen Tuns unter anfangs durchaus ‚heteronomen‘ Bedingungen hinaus. 215 § 23 Die Distanzierung der Natur und der Aufstieg des Selbst: Technik, Kunst und Sprache in produktiver Wechselwirkung Wie genau konzipiert Cassirer nun diesen Ausgang des Menschen aus dem mythischen Bewusstsein? Ein entscheidendes Moment erkennt er im Übergang vom magischen zum technischen Weltumgang, unter dem er nämlich nicht einfach den werkzeugartigen Gebrauch von Gegenständen als Mitteln zur Erreichung eines gegebenen Zwecks versteht, für den sich bereits im Tierreich vielfältige Belege finden lassen, sondern den gerichteten Bezug auf das verwendete Werkzeug selbst mit dem Ziel seiner bewussten kulturellen (Weiter-)Entwicklung. 216 In diesem Sinne verstanImmanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: ders.: Gesammelte Schriften. Akademie-Textausgabe. 29 Bde. Berlin 1900-? (Im Folgenden zit. als AA). Bd. VIII. S. 33–42 35: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ 215 Vgl. PhsF 3, S. 83 f. und 86. Siehe hierzu auch § 26. 216 Vgl. PhsF 2, S. 249 ff.; ferner „Form und Technik“, ECW 17, S. 139–183 ( im Folgenden zitiert als ‚FT‘). – In der Qualifizierung der Technik als symbolischer Form darf zugleich ein weiterer gewichtiger Beleg dafür gesehen werden, dass eine Interpretation der „symbolischen“ Verstehensakte des Geistes im Sinne eines bloß mentalen Verstehens ein grobes Missverständnis der Cassirer’schen Position darstellen würde: vgl. in diesem Sinne auch Volker Gerhardt: „Menschwerdung durch Technik. Ernst Cassirers Theorie des Geistes“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 601–621. 214
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den, ist die Technik nach Cassirers Auffassung keineswegs bloß ein Mittel der materiellen Weltbeherrschung durch den Menschen, sondern geeignet, eine echte „Weltwende der Erkenntnis“ 217 herbeizuführen: Indem in ihrer Entwicklung die bloße Intention auf einen angestrebten Zweck (der Wunsch) allmählich zugunsten einer geplanten Bereitstellung der notwendigen Mittel zu seiner tatsächlichen Erreichung überwunden und so im konkretesten Sinne durch immer neue Zwischenstufen ver-mittelt wird, bildet sich die magisch-mythische Vorstellung von ‚Wirksamkeit‘ im Sinne unmittelbarer und unerklärlicher Handlungsmacht nach und nach zum analytischen Begriff von Kausalität als einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Wirkens um. 218 Nach Cassirers Einsicht erfüllt hier das Werkzeug, sofern es in dieser Weise selbst zum möglichen Richtpunkt ‚symbolischer‘ Aufmerksamkeit wird, „die gleiche Funktion, die sich . . . in der Sphäre des Logischen darstellt, in der gegenständlichen Sphäre: Es ist gleichsam der in gegenständlicher Anschauung, nicht im bloßen Denken erfaßte »terminus medius«“ 219. Wenn die philosophische Reflexion, der naturgemäß die „Sphäre des Logischen“ näher liegt, scheinbar einen ‚logischen‘ Zug im technischen Handeln des Menschen wiederfindet, so scheint mir doch der tiefere Sinn dieser Parallele eher darin zu liegen, dass im Hinblick auf die produktive Kulturgenese mit ihr gerade das (der Zeit nach) umgekehrte Verhältnis behauptet werden soll: Zuerst war natürlich die Technik und die technisch-physische Bewältigung des Lebens durch den Menschen, auf deren Grundlage sich später (auf dem Wege gleichsam einer kulturellen Sublimierung) auch die „logische Technik“ 220 des methodisch-reflektierten Denkens erst entwickeln konnte. Denn genau das besagt ja die Rede von der „Weltwende der Erkenntnis“ durch die Technik: Der kontinuierliche natürlich-künstliche Bewusstseinsweg vom „Greifen“ zum „Begreifen“, den schon Cassirers Sprachphilosophie in den Vordergrund gerückt hatte 221, ist erst dann angemessen zu charakterisieren, wenn er im ZuFT 158 (Kursivierung F. S.). FT 155: „Der magische Mensch, der »homo divinans«, glaubt im gewissen Sinne an die Allmacht des Ich: Aber diese Allmacht stellt sich ihm lediglich in der Kraft des Wunsches dar. . . . Indem der Wille direkt auf sein Ziel überspringt, kommt es in solcher magischen Identifizierung von Ich und Welt zu keiner wahrhaften »Auseinandersetzung« zwischen beiden. Denn jede solche Auseinandersetzung fordert nicht nur Nähe, sondern Entfernung; nicht nur Bemächtigung, sondern auch Verzicht, nicht nur die Kraft des Erfassens, sondern auch die Kraft zur Distanzierung.“ 219 FT 158. 220 Vgl. LS 106; SuF 11; ECW 9, S. 66; BMD 4 etc. – Einmal mehr erweist sich hier bei Cassirer eine von früh an beibehaltene Formulierung als auch viel später erst explizierten Einsichten völlig angemessen. 217 218
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sammenhang mit jenem parallelen zweiten Weg gesehen wird, der vom „unmittelbare[n] leibliche[n] Fassen“ nach einem Ziel bis zum technischen „Erfassen“ der Bedingungen seiner Realisierung führt. 222 Dass es überhaupt soweit kommen kann, dazu ist freilich erforderlich, dass im Zuge dieser ebenso ‚praktischen‘ wie ‚geistigen‘ Entwicklung der Rahmen des rein mythischen Weltverstehens verlassen wird; bedarf sie doch, um überhaupt „Bedingungen“, „notwendige Verknüpfungen“ etc. ins Auge fassen zu können, einer allgemeinen Sicherheit des Umgangs mit den lebensweltlichen Verhältnissen, die dort, wo diese Verhältnisse noch überwiegend der Willkür dämonischer Kräfte unterliegen, nicht einmal als Wunsch vernünftig wäre. Eine solche Sicherheit wird denn auch nach Cassirer erst möglich durch den Wechsel von der mythischen „Wahrnehmungswelt“ zur „Anschauungswelt“ unseres empirischen (gelegentlich auch: „natürlichen“ 223) Bewusstseins; ein entscheidender Übergang, bei dem neben der Technik und der Sprache noch eine dritte Kraft mit einspielt: Die „Rekognition im Begriff “ 224, in der Cassirer zunächst vor allem eine Grundleistung des sprachlichen Bewusstseins gesehen hatte, bliebe nämlich ohne die „bildnerisch[e] Gestaltung“ der wechselnden Welteindrücke durch die Kunst gleichsam auf Sand gebaut: „Hier liegt die zweite starke und triebkräftige Wurzel für alle gegenständliche Anschauung überhaupt. . . . Der Mensch gelangt zur Anschauung der Form der Dinge nicht dadurch, dass er sie von diesen, als eine ihnen anhaftende Bestimmung, einfach abliest, sondern dadurch, daß er ihr Bild in sich entwirft und daß er diesen Entwurf bildend aus sich heraus stellt.
Siehe Kapitel 3.2. FT 159: „Solange der Mensch sich zur Erreichung seiner Zwecke lediglich seiner Gliedmaßen, seiner körperlichen »Organe« bedient, ist solche Distanzierung noch nicht erreicht. Er wirkt alsdann zwar auf seine Umwelt – aber von diesem Wirken selbst zum Wissen des Wirkens ist noch ein weiter Abstand. Wo alles Tun des Menschen darin aufgeht, die Welt zu ergreifen, da kann er sie noch nicht als solche begreifen – da kann er sie noch nicht als eine Welt von Gegenständen in objektiver Gestalt vor sich hinstellen. Das triebhafte In-Besitz-Nehmen, das unmittelbare leibliche Fassen läßt es nicht zu einem »Erfassen«, zu einem Aufbau in der Region des reinen Anschauens und in der Region des Denkens kommen. Im Werkzeug und seinem Gebrauch hingegen wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm »abzusehen« – und ebendieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. . . . Und diese Blickrichtung ist es auch, in der erst der Gedanke der kausalen Verknüpfung im eigentlichen Sinne ersteht.“ 223 Vgl. PhsF 3, S. 323. 224 PhsF 3, S. 120 u. ff. Vgl. die Kritik der reinen Vernunft, AA IV, S. 79 ff. 221 222
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In diesem Akt der bildenden Verkörperung gewinnt die Welt für ihn erst Gestalt und Körperlichkeit, gewinnt sie erst Grenze und Bestimmung.“ 225
Indem die Fülle der sinnlichen Welteindrücke an den bildlichen Darstellungen der Kunst einen bleibenden Gegenhalt gewinnt, den der ständige Wechsel der Eindrücke als solcher nirgends bieten kann, wachsen nun die ursprünglich „flüssigen“, in immer neuen Metamorphosen begriffenen Bildgestalten des mythischen Bewusstseins – für Cassirer bis dato der angemessenste Ausdruck unserer Wahrnehmungsform! – derart „über sich hinaus“ 226, dass sie schließlich in fixe Anschauungseinheiten übergehen. Der „Einheit des Namens“, die innerhalb der Sprache zu einem „Kristallisationspunkt für die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen“ 227 wird, stellt die Kunst damit sinnlich-greifbare Darstellungsbilder zur Seite, die mit ihrer physischen Materialität den sprachlichen Ding- und Klassenbegriffen erst ihren eigentlichen anschaulichen Sinn verleihen: Erst durch das parallele Wirken beider Kulturformen kommt es eigentlich zu den auf lange Sicht das Denken des Menschen beherrschenden ‚substantiellen‘ Weltbildern, die das Unbeständige und „Transitorische“ des mythischen Denkens überwindet, indem sie es – durch das „Typische“ 228 ersetzt. Eine Eigenart dieser sprachlich-ästhetischen „Konsolidierung“ unserer „Erlebniswelt“ zur Welt der „Anschauung“, in der sich der Ursprungszusammenhang von Sprache, Kunst und Mythos noch geltend macht (und die sich übrigens auch schon in unseren früheren Analysen des Substanzbegriffs gezeigt hat 229), besteht dabei in ihrem eigentümlichen „Doppelgesicht“ 230: Die substantiell-anschaulichen Objektivationen der sprachlichen Nenn- und künstlerischen Bildfunktion verfügen nämlich nach Cassirer zunächst immer über die Dimensionen von ‚sächlichem‘ und ‚personalem‘ Dasein, von ‚Du‘ und ‚Es‘ zugleich; sie bewirken eine ‚Verdinglichung‘ der Lebewesen, die die ursprünglich völlig schrankenlosen Metamorphosen des mythischen Bewusstseins auf die Anschauung identischer Körper und ihrer Entwicklungen beschränkt – aber sie stellen die Welt der ‚Dinge‘ darin zugleich als eine Welt der antwortfähigen Wesen vor, die mit dem Menschen in ursprünglicher „Sprachgemeinschaft“ und „Lebensgemeinschaft“ koexistieren. 231 Wie die Sprache sich in ihrer Ent225 226 227 228 229 230 231
ECN 1, S. 75 f. PhsF 3, S. 120. SAG 199 (= ECW 18, S. 119). Vgl. PhsF 3, S. 175. Siehe § 6, S. 63. SAG 212. SAG 213.
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wicklung zu immer ‚theoretischerer‘ Symbolik schließlich aus dieser Verflechtung löst (und dadurch das Feld des Lebens immer mehr der Kunst überlässt), hat Cassirer am Ende von „Sprache und Mythos“ angedeutet. 232 Zum eigentlichen Bruch zwischen den Bestimmungen des ‚Du‘ und des ‚Es‘, der auch diesen Entwicklungsgang der Sprache überhaupt erst in seiner Orientierung verständlich macht, kommt es aber eben erst durch die Herausbildung des technischen Bewusstseins, dessen Differenzierung von lebendigem Selbsthandeln und dinghaft-mechanischer Naturkausalität auch einer grundlegenden Auseinander-Setzung von ‚Mensch‘ und ‚Welt‘ parallel geht. Der Entwicklung des Werkzeuggebrauchs und seiner symbolischen Vermittlung entspricht daher einerseits die Transformation der menschlichen Lebenswelt von einem Aggregat situativer ‚Zuhandenheiten‘ in einen dinghaft-handhabbaren und kausal-beherrschbaren Kosmos ‚vorhandener Gegenstände‘, wie andererseits auch dem ihnen je wieder Gegenüberstehenden: dem Menschen selbst gerade an diesem neuen Weltverhältnis ein völlig neues Selbstverständnis sich ergibt, nämlich die Vorstellung seiner selbst als eines – zuerst nur in ganz bestimmten Hinsichten und Kontexten, aber dennoch – „freihandelnden“ 233 Wesens. So wird auch die ‚produktionstheoretische‘ Selbsteinholung des Wissens, die ja von Anfang an ein wesentliches Motiv der Philosophie der symbolischen Formen bildete 234, hier nach einer neuen Seite komplettiert, die es in sich hat. Denn was durch die Einbeziehung der Technik in die systematische Perspektive der ‚symbolischen Formung‘ konkret eingeholt wird, ist tatsächlich nichts geringeres als die Zentralkategorie aller Naturerkenntnis im eigentlichen (modernen) Sinne: Es ist geradezu „der Gedanke der kausalen Verknüpfung“ als solcher, der dem Bewusstsein im technischen Werkzeughandeln zum ersten Mal greifbar wird und zugleich die „Götterdämmerung der magisch-mythischen Welt“ 235 heraufführt. Der Mechanismus der Natur und die Möglichkeiten seiner Ausnützung durch den Menschen beginnt jetzt in dem Maße in Konkurrenz zum teleologischen Weltbild des Mythos zu treten, wie die gesetzmäßige Konstanz der technischen Wirkungszusammenhänge Eingang in das kollektive praktische Bewusstsein der Menschheit findet. Weil dieses Erwachen des technischen Bewusstseins, das Cassirer mit Blick auf den elementaren Werkzeuggebrauch des Menschen ausbuchstabiert, aber nur ein ganz allmähliches Erwachen sein, lässt sich auch diese 232 233 234 235
Vgl. SM 310 f.; siehe dazu auch Recki: „Lebendigkeit als ästhetische Kategorie“. ApH, S. 119. Siehe § 15. FT 159.
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kulturelle ‚Entstehung‘ des Kausalprinzips wieder auf die Einsicht zurückbeziehen, die wir an seiner früheren Begriffstheorie gewonnen haben: Auch wenn Cassirer im Vorblick auf den reflektierten Funktionsbegriff der Kausalität den ‚eigentlich‘ technischen Sinn eines jeden Werkzeugs und seinen ‚symbolischen‘ Charakter immer schon darin sehen kann, dass „[i]m Stoff . . . sein Gebrauch, in der »Materie« die Form der Wirksamkeit, die eigentümliche Funktion erschaut“ 236 werde, so muss er doch mit Blick auf die produktive Entwicklung der Technik als Kulturform einräumen, dass darin eine „Kluft zwischen den beiden Weltaspekten“, zwischen mythisch-magischem und funktional-modernem Kausalbegriff sichtbar wird, die „nicht mit einem Ansatz übersprungen werden“ 237 kann. Weil vielmehr auch die Technik (genau wie Sprache und Kunst) dem Menschen zunächst noch „wie eingehüllt in [den] magischmythischen Dunstkreis“ erscheint, können es sozusagen nicht von Anfang an die Hauptsätze der klassischen Mechanik sein, an denen die neue Form der Wirksamkeit festgemacht wird – sondern es ist für uns zunächst das einzelne Werkzeug, „die Anschauung der Axt, des Hammers usw.“, also ganz eigentlich das jeweilige ‚Zeug‘, das wirkt und darin selbst zum symbolisch-fixierten „Ausdruck einer bestimmten Verrichtung“ 238 wird. Die alles durchwaltende „Kraftsubstanz“ 239 der mythisch-magischen Weltsicht weicht auch hier nicht einfach plötzlich der rein ideellen Kraftfunktion Galileis, wie sie Cassirer als der bestimmteste Ausdruck des modernen Wissenschafts- und Weltbewusstseins gilt 240, sondern es ist dazu – auch wenn das Pathos der Cassirer’schen Darstellungen diesen entscheidenden Zwischenschritt oft genug in den Hintergrund treten lässt – zunächst eine immanente Differenzierung der substantiellen Weltvorstellung selbst in einerseits dinghafte, andererseits personale Anschauungseinheiten erforderlich, an der und in der auch der neue Sinn technisch-kausaler Verursachung sein kulturelles Selbstbewusstsein erst gewinnen muss. 241 FT 161. Ebd. 238 Ebd. 239 PhsF 2, S. 19. 240 Siehe dazu § 4 und § 5. 241 Deutlicher als in der Betrachtung der Technik stellt Cassirer diesen Punkt an der Form der Sprache heraus, wobei aber regelmäßig ein Seitenblick auf die Entwicklung des technischen Bewusstseins mit abfällt. Vgl. insbesondere SM 280: „Aber wieder gilt hier, daß diese schöpferische Leistung [der Sprache, F. S.], indem sie sich vollzieht, nicht auch als solche erfaßt wird, daß alle Energie des geistigen Tuns auf das Ergebnis dieses Tuns übergeht, daß sie in ihm wie gebunden bleibt und von ihm, nur wie im Reflex, zurückstrahlt. So wird auch hier wie beim Werkzeug alle Spontaneität als Rezeptivität, alle Schöpfung als Sein, alles, was Erzeugnis der Subjektivität ist, als Substantialität 236 237
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So ist für Cassirer die Technik gerade als „das Grundmittel, kraft dessen sich der Mensch mit dem Sein der Natur verbindet und kraft dessen er sich an dasselbe zu binden scheint, der eigentliche Anfang zur Selbstbefreiung des Geistes“ 242; oder auch: zur Selbstbefreiung unserer eigenen Natur gegenüber der Totalität der lebendigen Welt, die mit einer Selbstbewusstwerdung des menschlichen Leibes beginnt. Es ist nämlich nichts weniger als das „bestimmte und deutliche Bewusstsein der eigenen Leiblichkeit, das Bewusstsein seiner körperlichen Gestalt und seiner körperlichen Funktionen“, das der Mensch nach Cassirer, der hier an Ernst Kapps Theorie der „Organprojektion“ anknüpft, erst am „Reflex der [technisch vermittelten, F. S.] äußeren Welt zurückgewinnt“ 243. Ein Organ wie etwa die menschliche Hand ist nicht einfach als solches für uns da; wir müssen die Kenntnis von ihm erst erlangen, indem wir uns in der technischen Praxis und an den anhand von Werkzeugklassen systematisch darstellbaren Fertigkeiten des Schneidens, Schlagens, Bohrens etc. sukzessive das Spektrum seiner Funktionen und (in verstehenden ‚Rückprojektionen‘ vom Werkzeug her) seine anatomische Gestalt bewusst machen. Die These, die Cassirers „Anthropologie der Technik“ 244 hier vertritt, läuft damit in naturphilosophischer Perspektive auf die Bestätigung einer klassisch-kantischen Ansicht und Einsicht hinaus: Im selben Maße, in dem – und nur dadurch, dass – für uns die ‚äußere‘ Natur ihre Lebendigkeit im mythisch-magischen Sinne verliert, indem sie vom affektiv-ansprechenden und überall ansprechbaren ‚Du‘ immer mehr in die Ding form eines technisch beherrsch- und geistig kontrollierbaren ‚Es‘ übergeht, gewinnt die menschliche Selbsterkenntnis ihre grundlegenden Orientierungskategorien im Funktionsgegensatz von Freiheit und Naturgeschehen. Auch der ‚Funktionalismus‘ unserer rein theoretischen Naturerkenntnis, der ja für Cassirer letztlich nur auf der konsequenten Durchführung dieses Gegensatzes beruht (und deshalb bei historischer Gelegenheit den Pfad des Mathematischen einschlägt 245), erscheint hier gedeutet. Und doch ist ebendiese mythische Hypostase des Wortes in der Entwicklung des menschlichen Geistes von entscheidender Bedeutung. Denn sie bedeutet die erste Form, in der überhaupt die geistige Kraft, die dem Wort und der Sprache eigen, als solche erfaßt werden kann: Das Wort muß im mythischen Sinne als substantielles Sein und als substantielle Kraft verstanden werden, ehe es im ideellen Sinne als ein Organon des Geistes, als eine Grundfunktion für den Aufbau und die Gliederung der geistigen Wirklichkeit verstanden werden kann.“ (Kursivierung F. S.). 242 ECN 1, S. 39 f. 243 FT 167. 244 Vgl. Christian Bermes: „Technik als Provokation zur Freiheit. Cassirers Konzeption einer Anthropologie der Technik“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 583–599.
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in seinen technischen Wurzeln als Korrelat zum Selbstbegriff des praktisch oder vielmehr ‚pragmatisch‘ tätigen Menschen – und er bleibt darin immanent auf gerade solche ‚substantiellen‘ Auffassungen der Naturwirklichkeit bezogen, deren Gültigkeit dann in der theoretischen Reflexion (und zwar aus letztlich praktischen Rücksichten!) immer wieder kritisch hinterfragt und bestritten werden muss. Nur indem sich die Aktivität des Menschen im ständigen Austausch mit der Wirklichkeit der ‚äußeren‘ Natur erhält, die sich ihm in Name, Werkzeug und Bild zur Realität als einem System von Zentren der ‚substantiellen‘ Gegenständlichkeit verfestigt, vermag sie schließlich auch die ‚innere‘ Form unseres eigenen leiblichen Naturdaseins auf angemessene Begriffe zu bringen und zugleich mit einer Vorstellung des ‚Ich‘ zu verbinden, die wesentliche Aspekte der Lebendigkeit von der mythischen ‚Du‘-Anschauung bewahrt. Nirgends wird dieser Gedanke so prägnant vertreten wie an der Stelle des nachgelassenen ‚Schlusskapitels‘, wo Cassirer seinen anthropologischen Ansatz bezeichnenderweise zwischen Kant und Plessner zu verorten sucht: „[A]n diesem Punkt lassen sich nun die Ergebnisse einer kritisch gesinnten und kritisch fundierten Naturphilosophie [gemeint sind v.a. Plessners Stufen des Organischen, F. S.] unmittelbar an die Ergebnisse der Philosophie der symbolischen Formen anknüpfen und als mittelbare Bestätigung für deren Grundthese gebrauchen. Denn eben dies ist es, was diese Naturphilosophie uns lehrt, daß die Wendung zur “Gegenständlichkeit” die eigentliche Grenzscheide zwischen der Welt des Menschen und der aller anderen organischen Wesenheiten bildet. Die tierische Welt scheint auch dort, wo sie sich mit der unsern am nächsten zu berühren scheint, notwendig und immer eine Welt von “Zuständen” zu bleiben, die sich nicht zu einer Ordnung von Gegenständen, geschweige zu einer Ordnung von Bedeutungen und Sachverhalten, erheben lässt. . . . [D]iese Schranke [geht] nicht allein die Gegenstandswelt an, sondern sie betrifft nicht minder die reine Ich-Welt. Denn beides lässt sich voneinander nicht ablösen: die Einheit des Ich geht der des Gegenstandes nicht voraus, sondern konstituiert sich erst an ihr. Die “Kritik der reinen Vernunft” . . . zeigt, daß der Gedanke des Ich als des einheitlichen Subjekts der Vorstellungen nicht anders möglich ist als durch den Gegenhalt, den er an dem empirischen Begriff der Substanz gewinnt. Nur durch die Setzung eines Etwas, das im Raume beharrt, wird die Vorstellung eines dauernden, in all seinen successiven Zuständen mit sich selbst identischen Ich möglich. . . . Ohne das Bewusstsein einer im Raume ausgebreiteten Körperwelt, und 245
Siehe § 6.
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insbesondere ohne die Erfahrung von der relativen Konstanz jenes empirischen Objekts, das wir den eigenen Leib nennen, kann sich auch kein empirisches Selbstgefühl, keine Erfahrung vom eigenen Ich herausbilden. . . . Da [z. B. die niederen Tiere] ihre eigenen Bewegungen nicht als Reize zurück empfangen, so kann hier noch nicht jenes eigentümlich-reflexive Verhältnis bestehen, gemäß welchem jedes höhere Lebewesen Leib “ist” und zugleich einen Leib, als den seinigen, “hat”. Die Grenzen zwischen der Welt des ›Eigenen‹ und der des ›Fremden‹ fliessen hier noch ständig ineinander: der ›eigene‹ Körper ist aus seiner Umgebung noch in keiner Weise bestimmt abgehoben, noch nicht aus ihr herausgesondert. Ohne solche Ersonderung des Leibes, als des stofflichen Substrats, aber lässt sich auch keine nähere Bestimmung in der Art der “Bewusstheit”, in der Art des ›Für-Sich-Seins‹ denken.“ 246
Wir haben damit in unserer Rekonstruktion der Philosophie der symbolischen Formen den kritischen Punkt erreicht, an dem sich ihr Status als philosophische Anthropologie gewissermaßen entscheidet. Der Mensch als leiblich-existierendes Lebewesen betritt hier zum ersten Mal thematisch die transzendentale Bühne: Er ist nicht mehr das bloß gedachte Zentrum ‚hinter‘ seinen kulturellen Produktiväußerungen, das nach Plessners Lesart bei Cassirer „als ein faßbares Subjekt selbst nicht auftritt“ 247; sondern hier setzt die Philosophie dazu an, auch sein Sich-selber-thematischWerden und Sich-Haben selbst, das heißt seinen Daseins- und Selbstbegriff als solchen wieder einzuholen. – Was also ist der Mensch für Cassirer?
ECN 1, S. 60 und 62. Plessner: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“: S. 242 f. Siehe dazu S. 34 dieser Arbeit. 246 247
Kapitel 4 Die Bestimmung des Menschen
4.1 Cassirers Begriff des lebendigen Individuums § 24 Die Existenz des Einzelnen in der Kultur Man muss eine Nachlass-Stelle wie die zu Anfang und Ende des vorigen Kapitels zitierte 1, in der Cassirer die „Wendung zur “Gegenständlichkeit”“ als diejenige spezifische Grundleistung des Menschen hervorhebt, die überhaupt eine erste „Ersonderung“ des eigenen Leibes als des „stofflichen Substrats“ aller lebendigen Betätigung und damit Selbstbewusstsein ermöglicht, nicht über Gebühr belasten, um zu sehen: Es gibt bei Cassirer eine Vorstellung vom Menschen als Lebewesen, die ihn über seine Rolle als eines bloßen Funktionsträgers der Kulturprozesse hinaus auch in seiner individuellen ‚Gegenständlichkeit‘, in seinem existentiellen Verhältnis insbesondere zur eigenen Leiblichkeit ernst nimmt (und damit dem Denken des mit diesen Formulierungen zitierten ‚Naturphilosophen‘ Helmuth Plessner womöglich näher kommt, als dieser selbst es mit Blick auf Cassirers veröffentlichtes Werk noch meinte 2). Charakteristisch für Cassirers ‚kulturanthropologischen‘ Ansatz ist aber, dass er den Aspekt eines solchen ‚substantiellen‘ Selbstverhältnisses nirgends gegen die funktionale Deutung der Kultur ausspielt, sondern vielmehr in sein globales Funktionsmodell der Kultur auf eine Weise integriert, die freilich dem üblichen Verständnis des ‚Funktionalen‘ nicht unbedingt entspricht. Besonders deutlich wird das im Zusammenhang einer anderen Stelle des Nachlasses 3, an der Cassirer sich mit der Kulturkritik Ludwig Klages’ auseinandersetzt. Klages’ kulturpessimistische Diagnose einer Entfremdung des modernen ‚Geistes‘ vom ‚Leben‘ kann Cassirer nämlich in solcher Pauschalität nicht teilen, obwohl sie nach seiner Einschätzung einen richtigen Gedanken enthält:
1 2
ECN 1, S. 60–62; siehe dazu S. 151 und 232 weiter oben. Vgl. zu Plessners gegenteiliger Einschätzung des Verhältnisses beider Denker § 1,
S. 34. 3
ECN 1, S. 207 ff.
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„Der Punkt, an dem wir uns von Kl[ages] trennen, liegt darin, daß er den ‘Geist’ . . . nur als technisches Prinzip der Herrschaft, des Willens, des Machtbedürfnisses sieht, der [sic!] das Leben, die Erde fortschreitend unterjocht und entseelt[.] . . . er fasst also den Geist immer nur von der Seite des Wirkens –, aber nicht von der des Schauens – Die Technik als blosse Technik zerstört ebenso das reine ‘Schauen’, wie sie das reine »Leben« zerstört – der blosse Macht-Wille tötet den Geist, wie er das Leben tötet – Hier also liegt [für] uns die Grenze[;] wir verneinen mit Kl[ages] die Form einer bloss technischen Zivilisation –| aber diese ist uns nicht gleichbedeutend mit den reinen »Formen« des Geistes[.]“ 4
Die Art, wie Cassirer hier die Differenz im Grundsatz, die ihn in der Beurteilung der modernen Kultur von Klages trennt, mit einer konkreten Beipflichtung zur Kritik an „einer bloss technischen Zivilisation“ verbindet, ist aufschlussreich nicht nur für das Verständnis seines darin spezifizierten Begriffs des kulturellen „Geistes“. Indem er nämlich seinen Geistbegriff mit Blick auf die „Seite . . . des Schauens“ gegen Klages’ einseitige Betonung seines vermeintlich leblosen und lebensfeindlichen ‚bloß technischen‘ „Wirkens“ abgrenzt (ein Verständnis, das übrigens auch auf Cassirer Deutung der Technik selber als einer Form zur Erreichung und Steigerung geistiger Freiheit zurückstrahlt 5), weist er implizit auch das Modell eines bloß technisch verstandenen Funktionalismus der Kultur ECN 1, S. 213 f. Vgl. die gesellschaftskritischen Passagen im Anschluss an Walther Rathenau am Schluss von „Form und Technik“, mit denen Cassirer zugleich eine Apologie der Technik als solcher verbindet: „Völlige Entseelung und Mechanisierung der Arbeit, härtester Frondienst auf der einen Seite – unbeschränkter Macht- und Herrschaftswille, zügelloser Ehrgeiz und sinnloser Warenhunger auf der andern Seite: So stellt sich für Rathenau das Bild der Zeit, im Spiegel der Technik aufgefangen, dar. . . . Nur eine Frage | kann noch gestellt werden, ob diese Wirkungen notwendig mit ihrem Wesen gesetzt, ob sie in dem gestaltenden Prinzip der Technik selbst beschlossen und durch dasselbe gefordert sind. . . . Rathenau selbst läßt keinen Zweifel daran, daß all die Mängel und Schäden der modernen technischen Kultur, die er unerbittlich aufdeckt, nicht sowohl aus ihr selbst, als vielmehr aus ihrer Verbindung mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsordnung zu verstehen sind – und daß demnach jeder Versuch der Besserung an dieser Stelle den Hebel anzusetzen hat. Diese Verbindung stammt nicht aus dem Geiste der Technik – sie ist ihr vielmehr durch eine besondere Situation, durch eine konkrete geschichtliche Lage abgenötigt und aufgedrungen.“ (FT 181 f.). 4 5
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zurück; und gegen die Möglichkeit eines derartigen Missverständnisses seines Ansatzes bringt er nun – explizit wie selten – einen Substanzbegriff des Lebens ins Spiel: „Der Geist bekommt sich selbst nur in Sicht, sofern er ständig auf das Leben, auf den schöpferischen Urgrund “Rücksicht” nimmt . . . denn er will ja nicht sich selbst einfach tyrannisch an die Stelle [des] Lebens setzen, sondern er will nur “die Sehe” eben dieses Lebens erlangen – das Sehen aber zerstört keineswegs die Substantialität des Lebens – die Substanz hört nicht auf, indem sie Subjekt wird – denn das ist eben Sinn des Subjekt-Werdens[,] daß es die früheren Stufen des ‘Seins’ nicht gleich Schlangenhäuten einfach abwirft, sondern daß es sich in seinem Werden weiss – es bewahrt z. B. den Blick für die Ausdruckssphaere, (mythische Sphaere)[.]“ 6
Der Gedanke scheint Cassirer wichtig genug zu sein, dass er ihn gleich darauf noch einmal in derselben Ausdrücklichkeit reformuliert: „Für Kl[ages] steht es fest, daß die cogitatio, das Bewusstsein dem Leben schlechthin inadaequat bleibt – Aber diese Inadäquatheit kann etwas Doppeltes bedeuten – sie kann besagen, daß die cogit[atio] den “Lebensgrund” nicht erschöpfen kann – ein anderes Mal, daß die cogit[atio] das Leben vergewaltigt, verfälscht. Aber der reine Blickstrahl der cogitatio, der auf das Leben fällt, greift seine Substanz nicht an – er bekommt vielmehr eben diese Subst[anz] selbst “in den Blick” – das Leben wird »Sehe« (Fichte) aber es wird dadurch seiner Wesenheit nach nicht angegriffen.“ 7
Dass Cassirers Funktionalismus in seiner ersten und grundlegenden Bedeutung, an die auch die Rede von einer „Sehe“ des Lebens durch den Geist wieder anknüpft, auf ein epistemologisches Theorem über das Wesen begrifflicher Erkenntnis hinausläuft; dass die substanzkritische Ausbuchstabierung dieses Theorems ursprünglich nur einen geschichtlichen Gegensatz operativ oder symbolisch auf die Verhältnisse der Moderne fortprojiziert; dass Cassirer mit dieser Übertragung einen in der Sache berechtigten und vom Frühwerk an durchgehend festgehaltenen aufklärerischen 6 7
ECN 1, S. 213 (Kursivierung F. S.). ECN 1, S. 214 (Kursivierung F. S.).
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Anspruch verbindet und sich darin trotzdem ein Verhältnis zum Substantiellen bewahrt, das vielschichtiger ist, als es auch bei ihm selbst die Rede vom einfachen Übergang ‚von der Substanz zur Funktion‘ immer wieder suggeriert – dafür habe ich bereits in Kapitel Kapitel 1 argumentiert. In Kapitel 3.3 habe ich dann versucht, den Mythos als diejenige Kulturform zu erweisen, die Cassirer eine kritische Integration ‚substantieller‘ Momente in sein Gesamtmodell des kulturellen Weltverstehens erlaubt, und in der Tat ist es die „Rücksicht“ der Philosophie der symbolischen Formen auf das in sich durchaus ‚substantiell‘, ja sogar noch ‚vorsubstantiell‘ strukturierte mythische Ausdrucksverstehen, die er nun konkret gegen Klages, die Lebensphilosophie und überhaupt „die gesamte Romantik“ 8 geltend machen kann. So erweist sich die Frage nach dem eigenen Verhältnis zum Substantiellen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Positionen der philosophischen Anthropologie und Lebensphilosophie immer mehr als eine Frage von praktischer Relevanz, sofern sich an ihr gewissermaßen die Art der vom Philosophen behaupteten Beziehung zwischen Kultur und lebendigem Einzelnen entscheidet – und damit auch die Haltung zur in den Nach- und Zwischenkriegsjahren immer wieder aufgeworfenen Frage nach dem Wert der Kultur für das Individuum. Diese offenbar von Cassirer selbst identifizierte Problemlage macht es in meinen Augen hinreichend klar, dass seine Anthropologie, die so sehr einem „pragmatischen“ Selbstverständnis verpflichtet bleibt, dass sie über weite Strecken scheinbar ohne einen eigentlichen Begriff des existierenden Menschen auskommt, dessen „Tun“ sie doch nach seinen kulturellen Hauptlinien permanent untersucht, zumindest nach der erfolgreichen Durchführung ihres transzendentalphilosophischen Rahmenprogramms ein immanentes Interesse daran entwickeln musste, den kulturphilosophischen Aspekt nach dieser Seite durch einen echt-anthropologischen Daseinsbegriff zu vervollständigen. Pragmatisch gesehen bringt es nichts, so könnte man salopp formulieren, unter dem Titel der Kultur immer nur den pragmatischen Aspekt der anthropologischen Problemstellung zu betonen, wenn die Identifikation der Menschen mit den kulturellen Zwecken im Ganzen so brüchig geworden ist, dass sich niemand mehr Ebd., S. 211. Vgl. ebd., 212: „[D]er echte Geist »bewahrt« das Leben[,] auch wo er über dasselbe hinausschreitet / τὰ φαινόµενα διασώζειν / er erkennt auch die Ausdruckssphaere noch als solche an – / aber er sucht nicht die Bedeutungs-Sinnsphaere auf sie zurückzuschrauben – / In diesem Sinne hat die Philos[ophie] d. symbol[ischen] F[ormen] das Verhältnis gefasst – / sie giebt dem Mythos selbst (der Ausdruckssphaere) sein Eigenrecht[,] belässt ihn innerhalb dieser Sphaere – / aber sie benutzt andrerseits diese Sphaere nun als Gegenhalt u. Gegenbild, um ihr gegenüber den Charakter der ihr transzendenten, der reinen Bedeutungs-Sphaere herauszuarbeiten[.]“ 8
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angesprochen fühlt. Während Cassirer also weiterhin keinen Grund hat, an seiner generellen Einschätzung zu zweifeln, dass (sozusagen in der geistesgeschichtlichen Totale) nur das funktionale Selbstverständnis des Menschen im Hinblick auf den je eigenen Anteil an den Leistungen der Kultur das Dogma substanzieller Vorbestimmung überwinden konnte, so taucht nun im Kontext der spezifisch modernen Fragestellung das umgekehrte Problem auf, wie sich das so gewonnene Selbstverständnis durch einen in der konkreten Fassung des Funktionalismus selbst zu explizierenden Existenzbegriff des Menschen nach seinen ‚substantiellen‘ Daseinsaspekten balancieren lässt, um dem Missverständnis der Kultur (oder des ‚kulturellen Geistes‘) als eines über alle Lebensansprüche des Individuums völlig hinweggehenden Funktionsapparats der „bloßen Nutzbarkeit“ 9 zu begegnen, wie er nach Cassirer nicht einmal der Technik gerecht würde. Wenn wir einen solchen Begriff zunächst problematisch unter dem Titel eines kritischen Substanzbegriffs des Menschen fassen, dann müsste ein solcher Begriff offenbar mindestens den folgenden fünf Bedingungen genügen: Es müsste sich dabei (a) um einen Selbstbegriff des lebendigen Individuums handeln, der (b) dessen Existenz als Individuums in ihrer ‚substantiellen‘ Bedeutung für die Kultur verständlich macht, der es insbesondere (c) erlaubt, die Formen der Kultur konkret als Optionen der Produktivität des Einzelnen zu begreifen; der darin (d) den Horizont transzendentaler Kulturreflexion nicht verlässt, indem er die Entstehung und die wesentlichen Bestimmungsmomente dieses Selbstbegriffs wiederum in Termini unseres kulturellen Handelns einholt; und schließlich (e) geeignet ist, diesen Horizont insgesamt für eine naturphilosophische Interpretation des Menschen einschließlich der Möglichkeit vergleichender Gegenüberstellungen mit anderen Lebensformen zu öffnen. Ich meine nun zeigen zu können, dass Cassirer nicht nur in den nachgelassenen Texten zur „Metaphysik des Symbolischen“, auf die wir da, wo sie zur Klärung bestimmter Fragen beitragen können, im Folgenden noch wiederholt zurückkommen werden, sondern auch in seinen Veröffentlichungen zwischen dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen und dem Essay on Man kontinuierlich an einem solchen ‚substantiellen‘ (wenn auch von ihm letztlich anders titulierten) Begriff des Menschen gearbeitet hat. Der späte Essay geht zum einen von der Diagnose einer grundsätzlichen „Krise der menschlichen Selbsterkenntnis“ aus und muss zum anderen als dasjenige Werk Cassirers gelten, das einer naturphilosophischen oder quasi-naturphilosophischen Ausarbeitung seiner Anthropologie am nächsten kommt. Das produktive Wechselverhältnis von 9
Vgl. FT 180.
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Individuum und Gesamtkultur steht systematisch im Mittelpunkt seiner schon parallel zum dritten Band ausgearbeiteten Studie zu Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance 10. Sein daran anschließendes Buch über Die Philosophie der Aufklärung ist nicht ‚nur‘ bis heute ein Standardwerk der Philosophiegeschichte, sondern vor allem auch eine umfassende Würdigung der Epoche, die wie keine andere den Wert des Individuums herausgestellt und mit seiner produktiven Partizipation am geistigen und politischen Kulturleben verknüpft hat. Und schließlich gibt es, was den oben unter (d) genannten Punkt der Einholung des existentiellen Moments in den kulturphilosophischen Deutungsrahmen angeht, im dritten Band das m. E. überaus wichtige, aber in seinen systematischen Bezügen zum ‚Rest‘ der Philosophie der symbolischen Formen noch nicht abschließend geklärte Kapitel zum Leib-Seele-Problem, dem ich mich im Folgenden widmen will. § 25 Mit Leib und Seele: Das Dasein des Menschen im kulturellen Selbstbegriff Das Kapitel des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen über „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“ bildet innerhalb des Hauptwerks den locus classicus für Cassirers Auseinandersetzung mit der Daseinsform des Menschen. Hier heißt es: „Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sonErnst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance ( im Folgenden zitiert als ‚IK‘), in ECW 14 mit der kleineren Arbeit über Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge zusammengefasst. Die Signifikanz dieser Studie für Cassirers Sicht auf das Individuum hat beispielsweise Enno Rudolph schon früh herausgearbeitet, vgl. Enno Rudolph: Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems (Bibliothek Metzler 6). Stuttgart 1991, S. 106 ff. – Andreas Jürgens hebt mit Recht hervor, dass Cassirers Renaissancestudien immer auch als „Rückprojektionen der Moderne“ zu verstehen seien: „als historiographische Deutungen einer krisenhaften Zeit, in denen der Autor den Unsicherheiten seiner Gegenwart mit den geistigen Weltbewältigungen vergangener Denker begegnet.“ (Andreas Jürgens: Humanismus und Kulturkritik. Ernst Cassirers Werk im amerikanischen Exil. München 2012, S. 41.) 10
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dern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert – das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen »auszulegen«.“ 11
Mit dieser Deutung des Leib-Seele-Verhältnisses als einer „rein symbolische[n] Relation“ versucht Cassirer, den systematischen Grundgedanken seiner Symboltheorie, dem gemäß Sinnlichkeits- und Sinnaspekt uns „rein phänomenologisch immer nur als ungeschiedene Einheit gegeben sind“ 12, für die klassische Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele fruchtbar zu machen. Weil der Mensch seine Welt nicht nur (als eine von ihm konstituierte und deshalb im Kern kulturelle Welt) produktiv ‚trägt‘, sondern weil er in ihr zugleich existiert und sich in ihr unter anderem Seienden wiederfindet, weist sein Dasein im Selbstbegriff dieselbe transzendentale Grundstruktur auf, die nach Cassirer für alle Erfahrungsinhalte überhaupt anzusetzen ist. Der Mensch ist, als Existierender, selbst symbolisch, wie alles für ihn symbolisch ist, weil er (wie alles Seiende überhaupt) eine sinnlich-physische Komponente mit einer sinnhaft-bedeutsamen synthetisch vereint, ursprünglich also beides zu gleichen Teilen ist. Alle Bedeutungsmomente des Lebendigen wie Stimmung und Haltung, Empfindung und Intention, Temperament und Wille, Charakter und Persönlichkeit sind, wo sie konkret in Erscheinung treten, unmittelbar mit einem anschaulich-identischen Leib verwoben, der sie ausdrückt und repräsentiert – wie auch umgekehrt ein lebendiger Leib für uns nie einfach ‚sinnlos‘ vorhanden ist, sondern immer schon solche ‚seelischen‘ oder Bedeutungs-Momente umfasst. 13 Es ist diese im transzendentalphilosophischen Rahmen naheliegende Übertragung, ja ‚Anwendung‘ symbol- und zeichentheoretischer Überlegungen auf den ‚Spezialfall‘ des sich selbst erfahrungsmäßig begegnenden Menschen, für die sich Cassirer wieder auf eine Formulierung Ludwig PhsF 3, S. 113. Vgl. SSS 259; siehe dazu § 15. 13 V. a. Orth hat diesen Sachverhalt wiederholt benannt. Vgl. Ernst Wolfgang Orth: „Kultur und kein Ende oder: Das Ende der Kultur“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 323–336, S. 329: „Cassirer verbindet die beiden Gesichtspunkte, indem er den so genannten symbolischen Formen (als Inbegriff aller möglichen Thematisierungen) und der Wirklichkeit des Menschen (als Sinnagentur) eine gemeinsame Struktur zuweist. . . . [Der Mensch] ist – wie der Essay on Man sagt – „animal symbolicum“; aber er ist es nicht nur, weil er symbolisiert, Symbole bildet, sondern weil er selbst symbolisch ist. . . . Diese symbolische Relation [von Leib und Seele, F. S.] ist das kulturelle Urphänomen. Sie manifestiert sich in dem, was ich den bedeutsamen Organismus nennen möchte.“ Vgl. ders.: „Ist der Neukantianer Ernst Cassirer ein Nominalist?“, S. 160. 11 12
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Klages’ bezieht, nach der „[d]ie Seele . . . der Sinn des Leibes, und der Leib die Erscheinung der Seele“ sei, vergleichbar dem „analoge[n] Verhältnis des Zeichens zum Bezeichneten“. 14 Aus dieser ‚Analogie‘ wird nun allerdings bei Cassirer eher eine Form der Identität, sofern er „dem Symbolbegriff von Anfang an eine andere und weitere Bedeutung gegeben“ 15 hatte als die eines immer schon ausdifferenzierten Verhältnisses der ‚Bezeichnung‘: Durch die Erweiterung der Symboltheorie um das Gebiet der Ausdrucksphänomene hatte die Philosophie der symbolischen Formen ja die untersuchten Kulturformen genetisch an die lebendigen Elementarschichten unseres sinnlich-wahrnehmenden und sinnlich-antwortenden Weltumgangs zurückgebunden 16, in denen „[d]ie einfache Darlegung des Phänomens . . . zugleich seine Auslegung [ist], und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.“ 17 Weil Cassirers Theorie des Sinns die im bewussten (wissenschaftlichen, sprachlichen, künstlerischen. . . ) Zeichengebrauch erbrachten Leistungen unserer geistigen Spontaneität schließlich bruchlos an die unsere Welterfahrung fundierenden Wahrnehmungsleistungen unserer Sinnlichkeit anschließen lässt, die als Ausdruckswahrnehmung ursprünglich Wahrnehmung von Lebensäußerungen ist, ist es bei ihm tatsächlich streng dieselbe Korrelation der relativen Nichtunterschiedenheit von Zeichen und Bedeutung, Sinnlichkeit und Sinn in den ursprünglichsten (mythischen) Formen unserer symbolischen Weltgestaltung, die uns auch „in jedem schlichten Ausdrucksphänomen . . . eine unlösliche Korrelation, eine durchaus konkrete Synthese von Leiblichem und Seelischem“ 18 erleben lässt. Um hinter den Sinn dieser Behauptung einer strukturellen Identität von Mensch und Symbol 19 zu kommen, scheint es mir vor allem wichtig, PhsF 3, S. 112 f. Cassirer zitiert aus Klages’ Schrift Vom Wesen des Bewusstseins, Leipzig 1921, S. 26 f. 15 PhsF 3, S. 105. 16 Siehe dazu §§ 21ff. 17 PhsF 3, S. 105. 18 PhsF 3, S. 110. 19 Dass Cassirer, wie es Klaus Wiegerling: „Leib als symbolische Form und Ursprung von Medialität“. In: Fetz / Ullrich (Hg.): Lebendige Form. S. 77–92 behauptet hat, den leiblichen Menschen als eine symbolische Form verstanden habe, scheint mir allerdings an seiner Terminologie ebenso vorbei zu gehen wie Krois’ These, dass für Cassirer und Warburg „Gestik die erste kulturelle symbolische Form“ sei (Krois: „Die Universalität der Pathosformeln“, S. 296). Im Verhältnis von Leib und Seele ist das Symbolische als Urrelation von Sinn und Sinnlichkeit überhaupt nur in allgemeiner Form (gleichsam als Thema) angelegt, ohne am Dasein des Menschen als solchem jemals die Spezifik zu erreichen, die es erst mit seiner kulturellen Ausdifferenzierung in einzelne symbolische Formen (als Variationen des Themas) gewinnen kann. 14
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den Kontext zu beachten, in dem die Philosophie der symbolischen Formen das Leib-Seele-Problem aufgreift: Cassirer protokolliert an dieser Stelle den Übergang von der Ausdrucks- zur Darstellungsfunktion, vom mythischen Weltbild zum „natürlichen Weltbegriff “ 20 der Sprache – und er lässt mit seinen dem Kapitel unmittelbar vorangehenden Überlegungen zugleich keinen Zweifel daran, was hier unter der Chiffre eines traditionellen Problems der Metaphysik eigentlich verhandelt wird: „[N]ichts ist vielleicht so bezeichnend für das mythische Weltbild als der Umstand, daß innerhalb desselben das Wissen vom »eigenen Ich«, von einem streng individuellen »Selbst«, sofern es überhaupt vorhanden ist, nicht sowohl am Anfang als vielmehr am Ende steht. . . . Wir können verfolgen, wie sich aus dem Ganzen des Lebens, aus seiner undifferenzierten Gesamtheit, die mit der Menschenwelt auch die Tier- und Pflanzenwelt enthält, ein »eigenes« Sein und eine eigene Form des Menschlichen nur ganz langsam emporhebt und abhebt . . . [D]er Mensch reift zum Bewußtsein seines Ich erst in seinen geistigen Taten heran; er besitzt sein Selbst erst, indem er, statt in der fließend immer gleichen Reihe der Erlebnisse zu verharren, diese Reihe abteilt und sie gestaltet. Und nur in diesem Bilde der gestalteten Erlebniswirklichkeit findet er sodann sich selbst als »Subjekt«, als monadischen Mittelpunkt des vielgestaltigen Daseins wieder. . . . [W]as der Mythos in dieser Richtung beginnt, das wird durch die Sprache und durch die Kunst vollendet . . . So ist die Anschauung seiner selbst, als eines bestimmten, klar begrenzten Einzelwesens . . . die reife Frucht eines Schaffensprozesses, in dem all die verschiedenen Grundenergien des Geistes sich betätigen und in dem sie wechselseitig ineinander eingreifen.“ 21
Aus dem produktiven Zusammenwirken von Mythos, Religion, Sprache, Kunst und, wie wir in Cassirers Sinn wieder ergänzen dürfen, Technik geht hier, gleichsam an der Schwelle von der Ausdrucks- zur Darstellungsfunktion, zum ersten Mal ein echter Selbstbegriff des Menschen nach Gattung und Individuum hervor, für den mir Cassirers Ausdruck vom „Subjekt“ als dem „monadischen Mittelpunkt des . . . Daseins“ in doppeltem Sinne treffend gewählt scheint. Erstens erinnert er an denjenigen Denker, bei dem Cassirer schon Jahrzehnte zuvor eine Theorie des Leib-Seele-Zusammenhangs als einer „symbolischen“ Relation vorgefunden hatte: Schon in seiner frühen Auseinandersetzung mit Leibniz’ System – und zwar im Kontext von dessen Überlegungen zum „Problem des Individuums in der Biologie“ – konnte Cassirer die eigene Interpretation der „prästabilier20 21
Vgl. PhsF 3, S. 323. PhsF 3, 100–103.
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ten Harmonie“ zu der These erweitern, dass Leibniz’ Anwendung seines Monadenbegriffs auf die Phänomene des Organischen die „individuelle Denkeinheit“ des Geistes am lebendigen Leib „symbolisch darstellbar“ mache. 22 Und indem es Leibniz damit andererseits gelingt, den Substanzbegriff der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Tradition radikal von seinen dinghaften Assoziationen zu befreien, und stattdessen als Wechselbegriff subjektiver „Denkeinheit“ zu gebrauchen, erschließt sich ihm hier nach Cassirers Lesart ein origineller Zugang zur Spezifik der Lebenserscheinungen, für deren organische Individualität dann ein im „weiteren Sinne verstanden[er]“ 23 Substanzbegriff wieder eintreten darf. 24 Zweitens kann man sich an dieser Stelle (auch ohne diese assoziative Erinnerung an Leibniz’ idealistische und trotzdem noch ganz in traditionellen Substanzbegriffen artikulierte Metaphysik auf die Goldwaage zu legen) auch überhaupt fragen, ob nicht Cassirers klar artikulierte Vorstellung, dass der Mensch einen Selbstbegriff als Mensch, als Individuum erst sukzessive aus dem „undifferenzierten Ganzen“ des mythischen Denkens gewinnen muss – also aus einem Bewusstseinsmodus, den ich in § 20 als Mutterboden insbesondere auch alles Substanzdenkens herausgearbeitet habe –, ob diese Vorstellung nicht die Annahme rechtfertigt, dass in diesem Selbstbegriff von Anfang an ein echt ‚substantielles‘ Moment mitschwingt. Es kostet zwar etwas Mühe, diesen Punkt im Leib-Seele-Kapitel dingfest zu machen, weil Cassirers eigene Argumentation (wieder einmal) der gerade entgegengesetzten Tendenz folgt. So nimmt Cassirer hier das Substantielle, konkret vertreten durch die „Dingverknüpfungen und Kausalverknüpfungen“ 25, vor allem in der Rolle in den Blick, die es in den Vgl. LS, 365: „Die individuelle Denkeinheit verbindet sich nicht, was völlig unverständlich wäre, mit einem an sich bestehenden, heterogenen Etwas; sondern sie bezieht sich in distinkter und prägnanter Weise auf einen bestimmten inhaltlichen Komplex materieller Erscheinungen. . . . Die Einheit des Bewußtseins ist nicht selbst als Gegebenheit in Raum und Zeit zu denken; aber indem sie auf eine besondere organische Materie als ihren primären Inhalt geht, ist sie vorwiegend auf eine besondere Stelle in der Ordnung der Erscheinungen bezogen und wird in ihr symbolisch darstellbar.“ Zu dem Zusammenhang dieser Interpretation auch § 3, S. 50, Anmerkung 60 dieser Arbeit. 23 LS 365. 24 Siehe dazu insgesamt § 3. – Christa Hackenesch: Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer. Hamburg 2001, S. 5 u. ff., interpretiert Cassirers Deutung des Leib-Seele-Verhältnisses als Antwort auf einen „ererbten Anspruch“ der idealistischen Tradition und sieht einen Vorläufer für sie in Hegels Wissenschaft der Logik (mit konkretem Verweis auf den Zweiten Teil, Abschnitt 3, Kapitel 1 A: Das lebendige Individuum). Für die darin implizierte Behauptung, dass Cassirer seinen Gedanken der Leib-Seele-Relation als „symbolischer“ unmittelbar bei Hegel (und nicht bei Leibniz) rezipiert habe, habe ich jedoch keine stichhaltigen Belege finden können. 25 PhsF 3, S. 113. 22
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metaphysischen ‚Erklärungen‘ des Leib-Seele-Zusammenhangs traditionellerweise spielt, und weist diese Erklärungsarten als irreführende Schematismen zurück: „Das Verhältnis der »Erscheinung« zu dem seelischen Gehalt . . . hat in der Art, wie Dinge im Raume nebeneinanderstehen, wie Ereignisse in der Zeit aufeinanderfolgen oder wie reale Veränderungen auseinander hervorgehen, nicht seinesgleichen“ 26. Das metaphysische Leib-Seele-Problem wird von ihm aber genau genommen nicht auf die Substantialisierung des Selbst in der Vorstellung eines „monadischen Mittelpunkt[s] des . . . Daseins“ zurückgeführt, sondern auf die substantielle Interpretation des Dualismus, d. h. auf die Setzung zweier Substanzen, die dann durch erdachte Sonderformen von Kausalität oder andere theoretische Hilfskonstruktionen erst wieder zu einem Zusammenhang vermittelt werden müssen. Im Zuge dieser spezifischen Kritik an der traditionellen Behandlung der Leib-Seele-Frage in der ‚Substanzmetaphysik‘ wird nun aber auch der Substanzbegriff als solcher mit der zurückgewiesenen Position assoziiert, und steht deshalb zur Bezeichnung des positiven Selbstverständnisses, mit dem sich der Mensch zuerst als Gattung, dann als Individuum nach und nach im „undifferenzierten Ganzen“ der mythischen Welt wiederfindet, gewissermaßen nicht mehr zur Verfügung. Es scheint mir an dieser Stelle hilfreich, abermals an unsere frühere Unterscheidung zwischen produktivem Nachvollzug und reflexiver Deutung (siehe dazu Kapitel 1.3 und §§ 19 f.) anzuknüpfen, um mit Blick auf die verschiedenen Argumentationsstränge und -ebenen auch das, was Cassirer behauptet, von dem, was er eigentlich nicht behauptet, wirklich sauber unterscheiden zu können. Cassirers „Phänomenologie der Erkenntnis“ startet ihre Analysen zur Ausdrucksfunktion mit dem Nachvollzug des Mythos als einer Form der kulturellen Produktivität, wechselt dann aber, sobald sie das Thema des erwachenden „Individualbewusstseins“ erreicht, in einen Modus reflexiver Auseinandersetzung mit den traditionellen Deutungsmodellen der Metaphysik. Dieselbe substantielle Verfestigung des Welt- und Selbstbilds, die Cassirer aus der zunächst übernommenen Perspektive des mythischen Weltbewusstseins noch wie eine Errungenschaft präsentieren konnte, führt jedoch nach seiner Einschätzung in ihrer metaphysischen Interpretation auf einen Irrweg, indem die metaphysischen Reflexionen auf eine kulturell schon fixierte (und in diesem Sinne ‚vorgefundene‘) Differenz nicht vom tätigen Nachvollzug einer lebendigen Einheit ausgehen, wie sie sich im Zuge der produktiven Kulturentwicklung nach und nach „in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt“ 27, sondern gleichsam in Gegenrichtung zu den kulturel26
PhsF 3, S. 114.
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len „Schaffensprozesse[n]“ einen schon fertig ausdifferenzierten Substanzendualismus wieder zur Einheit zusammenzufügen versuchen, was nach Cassirer auf ein kategoriales „ὕστερον πρότερον“ 28 hinausläuft. Was Cassirer mit dieser Kritik hingegen an keiner Stelle behauptet, ist, dass der Mensch alles Substantielle überhaupt aus seinem Selbstbegriff zu streichen hätte. Seiner Kritik an der reflexiven Verabsolutierung der psychischen und physischen „Momente“ zu einer „substantiellen Trennung zweier Wesenheiten“ 29 steht eben die Rechenschaft über den produktiven Bewusstseinsweg gegenüber, zu dem die Selbstbewusstwerdung des Menschen als Existenz, als abgegrenzter und beharrlicher Teilbereich des Wirklichen ebenso notwendig gehört wie ein erstes Aufbrechen der „naive[n] und ungebrochene[n] Einheit . . . , die sich in jedem schlichten Ausdruckserlebnis darstellt“ 30 und selbst die Bewältigung dieser Differenz durch ihre schematische Aufteilung in räumlich unterschiedene Dingvorstellungen. Cassirer bezeichnet diese quasi-substanzielle, aber doch zwischen ‚Einheit‘ und ‚Zweiheit‘ gleichsam „noch nicht klar entschieden[e]“ 31 und deshalb nicht absolut-verfestigte Erscheinungsform mit Heraklits Begriff des „ἓν διαφερόµενον ἑαυτῷ“, des sich in sich selbst unterscheidenden Einen: „So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt, als ein ἓν διαφερόµενον ἑαυτῷ. Aber wenn diese Differenz besteht, so ist sie doch damit noch nicht als solche gesetzt; vielmehr erfolgt diese Setzung erst, sofern das Bewußtsein aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht. Erst dieser Übergang läßt alle jene Spannungen, die als solche schon dem einfachen Bestand des Bewußtseins angehören, zur Entfaltung kommen: Was zuvor, ungeachtet aller inneren Gegensätzlichkeit, eine konkrete Einheit war, das beginnt jetzt auseinanderzutreten und sich in analytischer Sonderung »auszulegen«.“ 32 PhsF 3, S. 113 (Kursivierung F. S.). PhsF 3, S. 114. 29 PhsF 3, S. 114. 30 PhsF 3, S. 114: „Schon das mythische Weltbild hat hier den Bruch vollzogen; schon in ihm setzt jener Dualismus ein, der die Doppelheit der Momente zu einer substantiellen Trennung zweier Wesenheiten verschärft.“ 31 PhsF 3, S. 114. 32 PhsF 3, S. 105. 27 28
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Was ist es aber, das sich „in sich selber trennt“ und schließlich „in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen »auszulegen«“ 33? Es ist das Leben, wie es sich – denken wir an Cassirers Rezeption der Kritik der Urteilskraft zurück 34 – schon als Naturleben in individuellen „Dingform[en]“ 35 organisiert und nun im Menschen den Übergang vom Ausdrucksleben und seiner „Unmittelbarkeit“ zum Kulturhandeln, zum „spontanen geistigen Schaffe[n]“ vollzieht. Dieser Zusammenhang scheint mir auch die Brücke zur nachgelassenen „Metaphysik des Symbolischen“ und zu den dort begegneten Reden von der zu bewahrenden „Substantialität“ 36 des Lebens zu schlagen: Cassirer begreift das Leben als ein „Urphänomen“, das an die Stelle des alten metaphysischen „Absoluten“ treten soll 37, indem es, als ein zunächst schlechthin Vorgefundenes, ein wesentliches Moment dieses Absoluten bewahrt, alle weitere Bestimmung aber nur vom „vollständige[n]“, vom „durchgeführte[n] u. systematisch überschaute[n] Relative[n]“ 38 seiner Äußerungen erhalten kann. Weil ‚Leben‘ für Cassirer immer diese schon von Ernst Wolfgang Orth identifizierte „›sozusagen‹ substantielle“ 39 Nuance behält, hängt eben auch die kritisch-funktionale Beschreibung, die Cassirer vom Prozess der Ausdifferenzierung in Leib und Seele, ‚Innen‘ und ‚Außen‘ etc. gibt, nicht gleichsam in der Luft: Er schließt vielmehr von Anfang an die Annahme einer Existenz von Individuen ein, die teils allein, teils in der Interaktion mit anderen diesen Prozess erst produktiv in Gang setzen und ständig durch ihre lebendige Tätigkeit am Laufen halten müssen. Was das mit Blick auf das Verhältnis von ‚Leiblichem‘ und ‚Seelischem‘ konkret bedeutet, hat Cassirer um 1931 in Form eines Vortrags zu explizieren versucht, wie aus zwei bislang unveröffentlichten Manuskripten hervorgeht, von denen ich das eine wieder in den Anhang dieser Arbeit aufgenommen habe. 40 Cassirer beruft sich dort für seine These PhsF 3, S. 113. Siehe § 12. 35 Vgl. KLL 324. 36 Siehe den vorigen § 24. 37 Vgl. ECN 1, S. 264: „Das »Absolute«, das »Sein«[,] soweit es für uns überhaupt fassbar ist, löst sich uns in das Urphaenomen des Lebens auf. Das Höchste[,] was wir begreifen, ist das Leben –die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst.“ 38 Vgl. ECN 1, S. 265: „Das ‘Absolute’ ist immer nur das vollständige, das durchgeführte u. systematisch überschaute Relative –u. besonders die Absolutheit des Geistes will u. kann nichts anderes sein.“ 39 Orth: „Ist der Neukantianer Ernst Cassirer ein Nominalist?“, S. 160. 40 Die beiden Manuskripte entstammen der Beinecke-Bibliothek (Signaturen GEN98, Box 45, Folder 894 und 895), waren offenbar zeitweilig zur Publikation in ECN 5 vorgesehen, haben aber am Ende doch keinen Eingang in den Band gefunden. Ein 33 34
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vom symbolischen Charakter des psychophysischen Verhältnisses neben seiner Interpretation des Ausdrucksverstehens auch auf die Denkpsychologie Richard Hönigswalds, in der (in radikaler Abkehr von den positivistischen Elementen- und Assoziationspsychologien) die Fähigkeit zur Intention auf Bedeutungen als „ konstitutiv für alles seelische Leben überhaupt“ 41 angesehen werde. Er greift also das Leib-Seele-Thema hier gewissermaßen vom entgegengesetzten Ende des Spektrums der Symbolfunktionen her an und verbindet das mit der These, dass ein ‚psychophysischer‘ Zusammenhang auch dort weiterhin besteht, wo der Mensch das Gebiet des einfachen Ausdruckslebens schon weit hinter sich gelassen, insbesondere ein völlig geändertes Verhältnis zum Leib und zur Materialität seiner Betätigungen entwickelt hat: „Wir, m[eine] D[amen] u[nd] H[erren]; – ich, der ich in diesem Augenblick zu Ihnen spreche[,] u[nd] Sie, die Sie mir zuhören, – . . . stehen in einem gemeinsamen Sinn- Vollzug – wir mühen uns um die gleichen Probleme – wir wollen miteinander einen bestimmten logischen u[nd] philosoph[ischen] Sachverhalt erfassen . . . Der Sprachlaut bildet die Brücke zwischen [uns]. Aber Ihr Hören, wie mein Sprechen, schreitet so frei und sicher über diese Brücke dahin, daß wir sie kaum gewahr werden – Ich bin mir nicht bewusst, Laute zu bilden, – Sie sind sich – wenigstens primär – nicht bewusst, Worte zu empfangen und Worte zu hören – Ohne auf die Brücke zu unseren Füssen zu achten, stehen wir vielmehr gleichsam im Strom . . . der gegenseitigen Mit-Teilung, des wechselseitigen Einander-Verstehens . . . An tausend Einzelheiten – an der Dynamik, am Tempo des Sprechens, am sprachlichen Accent, an feinen Nuancierungen und Schwebungen des Lautes erfassen Sie – neben dem reinen Sachgehalt, den ich Ihnen näher zu bringen suche – auch etwas von mir selbst und meiner inneren Stellung zu diesem Sachverhalt – mein Bemühen, mich Ihnen mitzuteilen –
Typoskript des zweiten, besser ausgearbeiteten Manuskripts Nr. 895, das alle wesentlichen Gedanken des ersten mit umfasst und mit der Angabe „Berlin, 22. I. 31“ beginnt, habe ich in Anhang Anhang B beigefügt. Die folgenden Verweise auf das Manuskript beziehen sich auf die Seitenzahlen dieses Anhangs unter der Sigle LuS. 41 LuS 350. – Vgl. zu Cassirers Auseinandersetzung mit der Denkpsychologie besonders „Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie“ in ECW 17, S. 26 ff.; siehe dazu auch Detlev Pätzold: „Ernst Cassirer und die Denkpsychologie seiner Zeit“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 233–254 sowie Ernst Wolfgang Orth: „Die anthropologische Wende im Neukantianismus. Ernst Cassirer und Richard Hönigswald“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 253–277.
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oder die innere Schwierigkeit, mit der ich nach dem rechten Ausdruck suchen muss – oder die innere Befreiung, wenn ich ihn gefunden zu haben glaube – Das alles erleben wir jetzt gemeinsam – u[nd] wir erleben es im allg[emeinen] ohne die geringste Spur der Reflexion[.]“ 42
Es ist interessant zu sehen, wie Cassirer hier unter den Bedingungen der unmittelbar-leiblichen Begegnung mit einem Publikum bewusst das Medium der persönlichen Ansprache nutzt, um seine Zuhörerschaft zur bewussten performativen Selbsterfahrung des „gemeinsamen Sinn-Vollzug[s]“ einzuladen und so die ganze Absurdität der metaphysischen Problemstellung deutlich zu machen: Die „Reflexion“ 43 auf einen als real unterstellten Dualismus zwischen ‚Psyche‘ und ‚Physis‘ übersieht nicht nur, dass es im ursprünglichen Ausdrucksleben des Menschen so etwas wie ein Leib-Seele-Problem gar nicht geben kann, weil hier (weit entfernt von der Setzung zweier Substanzen, die es theoretisch zu vermitteln gälte) das Verhältnis von ‚Leib‘ und ‚Seele‘ nicht einmal als ein Verhältnis anerkannt ist, sondern vielmehr als ein noch ganz undifferenzierter Zusammenhang, eben: als substantielle Einheit erfahren wird. Die Ausdrucksqualitäten, die als „tausend Einzelheiten“ in jeden kommunikativen Austausch der Menschen eingehen und – „[i]ch mag mich bemühen, noch so sachlich, noch so nüchtern und trocken zu Ihnen zu sprechen“ 44 – auch in seinen eher vergeistigten Modi erhalten bleiben, lassen sich deshalb vernünftigerweise nicht einmal der Frage unterwerfen, ob es sich bei ihnen um leibliche oder seelische ‚Inhalte‘ handele, weil sie ursprüngliche Sinneinheiten bilden, die, was die Ebene angeht, auf der sie allein verstanden werden können, ganz vor jeder derartigen Differenzierung liegen. Was durch die metaphysische Voraussetzung eines bestehenden ‚Dualismus‘ aber auch und vor allem verkannt wird, ist der Prozesscharakter der Dualisierung selbst, der erst im Spiegel der parallelen Entwicklung unseres Zeichengebrauchs ganz deutlich wird. Wie die symbolische Form LuS 350 f. Vgl. LuS 352: „Aber lassen wir jetzt die Reflexion einsetzen; fragen wir, was die Theorie uns über diesen uns so vertrauten Umgang zu sagen hat . . . Die Physik wird uns darüber belehren, daß der gesprochene Laut in nichts anderem als in einer Schwingung der Luft besteht – / die Laut physiologie u[nd] die Phonetik wird uns zeigen, wie jeder bestimmten Lautqualität eine gewisse Stellung und ein bestimmtes Verhalten der Organe, eine Öffnung der Lippen, eine Haltung der Zunge entspricht – / Aber suchen wir von hier aus die Brücke zum sprachl[ichen] Sinn und zum Sinn- Verständnis zu schlagen, – so . . . sehen [wir] uns . . . vor jenen ›hiatus irrationalis‹ gestellt, von dem Nik[olai] Hartmann sprach“. 44 LuS 351. 42 43
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der Sprache besonders anschaulich den allmählichen Übergang vom ganz im Leib verwurzelten, ja noch halb-biologischen Affektausdruck zum analogisch-darstellenden Zeichengebrauch exemplifizieren konnte 45, so geht nach Cassirer überhaupt die ursprüngliche Ausdruckseinheit des psychophysischen Daseinszusammenhangs auf dem Wege kontinuierlicher Vermittlung durch Symbolformen in die geschaffene Einheit eines kulturellen „Sinn-Vollzug[s]“ 46 über, die sich schließlich soweit von den Bedingungen des Ausdrucks und der Ausdruckswahrnehmung emanzipiert, dass sie es den zwar nach wie vor leiblich involvierten Teilnehmern sogar erlaubt, sich fast ausschließlich auf ‚Psychisches‘ zu konzentrieren, ohne dass aber mit dieser Emanzipation irgendein realer ‚Bruch‘, ein ‚Hiatus‘ zwischen Leib und Seele einhergehen müsste oder dürfte. 47 Die metaphysische Theorie macht hier also etwas zum Problem, das in der lebendigen Kulturpraxis, zumindest im Falle ihres Gelingens, gar keines ist. Ich sage ‚im Falle ihres Gelingens‘ – denn Cassirer sieht durchaus, dass mit jeder Erweiterung des materiellen ‚Korpus‘ der Symbolisierung über den expressiven Leib hinaus die strukturellen Anforderungen an den Sinnvollzug steigen, dessen Funktionalität nun durch widrige Umstände ganz unterschiedlicher Art gestört werden kann. In einem Gedankengang, der in seiner Tendenz dem der im dritten Band im Hinblick auf neurophysiologische Schädigungen entwickelten „Pathologie des Symbolbewusstseins“ vergleichbar ist, entwirft Cassirers Vortragsmanuskript dazu die Skizze einer Pathologie der Alltagskultur 48, indem es diverse „physikal[ische]“, „physiolog[ische]“ und „psychologische“ Gründe auflistet – von der stimmlichen „Indisposition“ des Redners bis hin zum „Riss in Siehe dazu § 16. LuS 350. 47 Wenn es deshalb aus einer bestimmten Perspektive so aussehen mag, als ob „der Tribut, den Cassirer dem Rationalismus zollt, der konsequenten Ausgestaltung einer Philosophie des Leibes wiederum die Spitze [bricht]“ (so Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung, S. 119 f., der hier eine Kritik von Maurice Merleau-Ponty referiert), so wäre immer noch sehr die Frage, ob es sich hierbei wirklich um einen Mangel oder nicht vielmehr eine der wesentlichen Tugenden der Cassirer’schen Anthropologie handelt, durch die es ihr gelingt, die umfängliche Eingebundenheit des Menschen in die Kultur von Anfang an schon in ihrer Konzeption seiner Existenzform mitzudenken und so freilich gar nicht erst in die Lage ihrer Kritiker zu kommen, das eine gegen das andere ausspielen zu müssen. 48 Auch in diesem Punkt kann ich mich der Lesart von Ernst Wolfgang Orth nur anschließen, der – auch wenn Cassirer „diese Frage systematisch nicht behandelt“ habe – vorschlägt, dessen „Pathologie des Symbolbewusstseins“ in diesem Sinne weiterzudenken. Vgl. Orth: „Goethe als Therapeutikum“, S. 330: „Man kann . . . die Frage verschärfen: ob das Pathologische nicht eine Größe ist, mit der man schlechthin in der Kultur zu rechnen hat.“ 45 46
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der Leinwand“ –, die zu einem „[A]useinanderfallen“ des Sinnvollzugs in seine psychischen und physischen „Momente“ führen können: 49 „gleichviel welches der Grund sein mag: jetzt ist Ihr Verhalten der Rede gegenüber ein völlig anderes geworden. Das Wort als »bloss«-Physisches – das Sinn- Substrat, nicht der reine Sinn, steht plötzlich vor Ihnen – es ist Ihnen bewusst u[nd] es ist Ihnen gewissermaßen aufdringlich geworden – . . . Aus der reinen Sinn-Region sind Sie wie mit Einem Schlage in eine andere Dimension, in die Dimension des blossen Geschehens versetzt – Und dieses Geschehen unterstellen Sie alsbald, und zwar mit vollem Recht und mit Notwendigkeit, den Gesetzen der Kausalität[.]“
Cassirer verbindet hier ein entschiedenes Bekenntnis zu den materiellen Voraussetzungen auch noch unseres ‚reinsten‘ Sinnverstehens mit der kritischen Einschränkung ihrer Bedeutsamkeit auf diejenigen Sonderfälle, in denen wegen der Nichterfüllung jener Voraussetzungen unserem Bewusstsein ein Umschlag ins – Technische abverlangt wird. Er bestreitet die metaphysische Existenz einer absoluten Urschicht der ‚bloßen‘, bedeutungslosen Materie – und kann deshalb die relative Angemessenheit derselben Grundkategorien unserer Naturerfahrung, von Substanz und Akzidenz, Ding- und Kausalverhältnissen, die zwar durch ihre metaphysische Überstrapazierung ein Leib-Seele-‚Problem‘ überhaupt erst hervorbringen, für diejenigen speziellen Situationen bestätigen, in denen die Elementarbedingungen unserer Symbolverwendung, die wir für gewöhnlich den etablierten Mechanismen des Kulturlebens überantworten, erst (wieder) unter unsere Kontrolle gebracht werden müssen. In diesem Kontext wird aus der Würdigung des materiell-leiblichen Aspekts wieder ein Argument für Cassirers funktionale Deutung des psychophysischen Verhältnisses insgesamt: Die Einheit des Sinnerlebens und Sinnverstehens über die Grenzen des persönlich-unpersönlichen Ausdruckslebens 50 hinaus überhaupt ‚verlängern‘ zu können, beschreibt schon für sich genommen – ganz unabhängig von den jeweils intendierten ‚Inhalten‘ – eine Leistung von unwahrscheinlicher Komplexität, die durch die Tatsache, dass wir uns über ihre vielfältigen Gelingensbedingungen gewöhnlich gar keine Gedanken zu machen brauchen, nur von der anderen Seite her belegt wird. 49 50
Vgl. LuS 352 f. Siehe dazu Kapitel 3.4, S. 222.
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In dieser Leistung, ihren arbeitsteilig besorgten und immer wieder neu zu besorgenden Voraussetzungen steckt aber auch immer schon ein Auseinander von physischem und psychischem Weltaspekt, wie man an Cassirers Beispiel eines akademischen Vortrags leicht nachvollziehen kann: Es muss sich schon einmal ein Architekt allein auf die physikalisch-akustischen Eigenschaften des Vortragsraums eingelassen, es müssen sich immer schon unzählige Schöpfer und Umbildner der Sprache am seelischen Sinn der Ausdrücke und Wendungen abgearbeitet haben, aus denen der Redner seine Ausführungen komponiert, damit zumindest diese Vorbedingungen seines Vortrags gesichert sind und deshalb im Normalfall (vom philosophischen Gedankenexperiment abgesehen) nicht mehr selbst thematisch werden müssen. Überall dort, wo die Synthesis des Sinnverstehens im leibseelischen Kulturerlebnis nicht mehr die ursprüngliche des bloßen Ausdrucksverstehens ist, setzt sie eine vorgängige ‚Analyse‘ desselben in seine physischen und psychischen Aspekte voraus, damit sich das sinnmäßig Unterschiedliche zu geordneten Formen ‚künstlicher‘ Symbolik überhaupt verdichten lässt. Schon in der Sprache, die uns doch so ‚natürlich‘ scheint, wird folglich ein eigentliches Verständnis erst dort möglich, wo 1. die Differenzierung zwischen ‚Physischem‘ und ‚Psychischem‘ (als Unterscheidung ihrer kontextuellen Bedeutsamkeit), 2. die separate praktisch-poietische Beherrschung beider Gebiete und 3. ihre kreative Neuverknüpfung zu neuen Sinneinheiten allen Beteiligten als sichere Kapazitäten zu Gebote stehen. Die Sinneinheit des ‚Leiblichen‘ und ‚Seelischen‘ im Symbol mag ihre lebendigen Wurzeln im natürlich-kulturellen Eigenausdruck des Organismus haben; aber sie ist überall dort, wo dieser Bereich intentional überschritten wird, nicht mehr durch den Ursprungszusammenhang mit diesem verbürgt, sondern wird selber zu einer Angelegenheit der Kultur, d. h.: unserer jedesmaligen individuellen und kollektiven Handlungsbemühung. § 26 Cassirers Philosophie der Renaissance: Das Aufbrechen der Freiheitsantinomie und ein Vorschlag zu ihrer Auflösung Die Unterscheidung der berechtigten Kritik Cassirers am substanzmetaphysischen Dualismus von seiner Würdigung des existentiellen Aspekts in seiner Bedeutung für die kulturelle Produktivität des Einzelnen erlaubt es uns nun auch, dem rätselhaften Zusatz einen Sinn abzugewinnen, der in der Formel vom Leib-Seele-Verhältnis als „symbolischer Relation“ begegnet. Denn Cassirer belässt es ja nicht dabei, in der Übertragung symboltheoretischer Grundsätze den Leib-Seele-Zusammenhang einfach
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wie irgendeinen Erfahrungsgegenstand neben anderen vorzustellen, der für den Menschen zwar (quasi eine empirische Zufälligkeit) von besonderer Relevanz sein mag, ansonsten aber keinerlei Sonderstatus verdienen würde. Ohne im Einzelnen auszuführen, was damit eigentlich gesagt sein soll, erklärt der Transzendentalphilosoph das Leib-Seele-Verhältnis vielmehr unvermittelt zum „erste[n] Vorbild und Musterbild“ symbolischer Relationen überhaupt. Cassirers schon in der kulturgeschichtlichen Rekonstruktion des mythischen Bewusstseins enthaltene und im Vortragsmanuskript noch einmal besonders anschaulich werdende Rücksicht auf die produktive Bedeutung der Leib-Seele-Differenzierung legt eine Interpretation dieser Redeweise nahe, die dem komplexen Doppelverhältnis, um das es sich handelt, vielleicht am besten gerecht wird: Es geht hier um die theoretische Balance zwischen der von Cassirer vermiedenen ontologischen ‚Fundierung‘ der Kultur in einem letzten Seinsbegriff des Individuums und der nie von ihm behaupteten These einer bloßen ‚Konstruiertheit‘ dieses letzteren durch den geschichtlichen Gang anonymer Kulturprozesse; um die Bezeichnung eines Wechselverhältnisses, das beide Abhängigkeiten – die des Einzelnen von der Kultur und die der Kultur von jedem Einzelnen – nach ihrem respektiven Sinn und Recht verständlich macht. 51 Der von mir ‚substanziell‘ genannte Daseins- und Selbstbegriff des Menschen als Je-Einzelnen, wie ihn die Philosophie der symbolischen Formen im Kapitel über das Leib-Seele-Problem nicht erst zu erfinden braucht, sondern fertig aus der Kulturgeschichte aufgreifen kann, wäre demnach als ein reiner Korrelativbegriff zum funktionalen Kulturbegriff anzusehen: als ein formaler Begriff unserer lebendigen Individualität, dessen inhaltliche Bestimmung ganz der Reflexion auf die kulturellen ‚Fakta‘ überlassen wird, der also zu unserem Selbstverständnis gewissermaßen ‚nichts beiträgt‘ (und vielleicht deshalb so gerne übersehen wird) – und der sich nichtsdestoweniger für eine Philosophie, die dem Menschen wirklich etwas sagen will, als unverzichtbar erweist, weil sich erst in ihm die Idee der Freiheit, die dem Oliver Müller hat in einem sehr interessanten Aufsatz herausgearbeitet, wie speziell die Davoser Disputation mit Martin Heidegger 1929 Cassirer zur weiteren Schärfung des explizit anthropologischen Profils der Philosophie der symbolischen Formen veranlasst haben dürfte, indem ihm daran die Notwendigkeit einer doppelten Abgrenzung des eigenen Ansatzes gegen eine ‚Fundamentalontologie‘ Heidegger’schen Typs und gegen die geläufige (und vom Davoser Kontrahenten mit Blick auf ihre vermeintliche ‚Seinsvergessenheit‘ noch einmal absichtlich zugespitzte) flach-konstruktivistische Lesart eines pauschalisierten ‚Neukantianismus‘ offenbar wurde: Vgl. Oliver Müller: „Eine Frage des Stils. Ernst Cassirers anthropologische Fundierung seiner Kulturphilosophie in Absetzung von Martin Heidegger“. In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. S. 675–700. 51
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Selbstbewusstsein alles kulturellen Tuns notwendig zugrunde liegt, mit ihrem eigentlich praktischen Gehalt erfüllen kann. 52 Dieser Gedanke zieht sich nicht nur durch das nachgelassene „Schlusskapitel“ zur Philosophie der symbolischen Formen, das eine ausführliche Auseinandersetzung mit den ganz um das Existenzproblem kreisenden zeitgenössischen Strömungen der Lebensphilosophie und der philosophischen Anthropologie unternimmt 53; sondern er steht auch im Zentrum seiner 1926 publizierten Studie zur Philosophie der Renaissance, in der er seine seit den ersten Bänden des Erkenntnisproblems gewonnenen Einsichten in die Bedeutung dieser Epoche für die wissenschaftliche Moderne im Hinblick auf das gewandelte Verhältnis von Individuum und Kosmos vertieft. 54 Gerade in dieser Funktion ist es ja die Renaissance, in der wir ‚Modernen‘ unseren Ausgang aus der in vieler Hinsicht mythischen Kultur des Mittelalters errungen haben, und so ist es nur konsequent, wenn Cassirer die deutlichere Orientierung am konkreten Einzelnen als eigentlichem Ansprechpartner der (praktischen) Philosophie mit einer Reflexion auf diese Epoche unterlegt. 55 In der Tat kann man sich kaum einen geeigneteren Rahmen denken, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung neuer Symbolsysteme auf allen Gebieten der Kultur – in Sprache und Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Technik – und dem Erwachen des individuellen Selbstbewusstseins des Menschen an der Kulturgeschichte anAuf dieses im Folgenden näher zu explizierende Verhältnis spielt vielleicht Orths lakonische Bemerkung an, „daß es sich bei Kultur und Anthropologie um zwei korrelative Begriffe handelt. Denn: wer Kultur sagt, sagt auch Mensch, und wer Mensch sagt, sagt auch Kultur.“ (Ernst Wolfgang Orth, „Ernst Cassirer und die Kulturbedeutung der Wissenschaften“, zit. von der Homepage der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle im WarburgHaus: http://www.warburg-haus.de/eca/orth.html, zuletzt abgerufen am 23.3.2016). 53 Vgl. ECN 1, S. 3–109; eine auch für sich allein interessante Skizze findet sich ab S. 229. Das längere Zeit geplante „Schlusskapitel“ hat Cassirer schließlich doch nicht veröffentlicht und sich stattdessen für die separate Herausgabe eines deutlich kürzeren Aufsatzes mit dem Titel „»Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart“ entschieden, in dem die Anthropologie Schelers im Mittelpunkt steht (in ECW 17, S. 185–206). 54 Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance ( im Folgenden zitiert als ‚IK‘), in ECW 14 mit der kleineren Arbeit über Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge zusammengefasst. Die Signifikanz dieser Studie für Cassirers Sicht auf das Individuum hat beispielsweise Enno Rudolph schon früh herausgearbeitet, vgl. Rudolph: Odyssee des Individuums, S. 106 ff. 55 Andreas Jürgens hebt mit Recht hervor, dass Cassirers Renaissancestudien in diesem Sinne immer auch als „Rückprojektionen der Moderne“ zu verstehen seien: „als historiographische Deutungen einer krisenhaften Zeit, in denen der Autor den Unsicherheiten seiner Gegenwart mit den geistigen Weltbewältigungen vergangener Denker begegnet.“ (Jürgens: Humanismus und Kulturkritik, S. 41.) 52
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schaulich zu machen. Erst dort, wo die Erfindung des Teleskops im Verein mit dem Willen zur unvoreingenommenen methodischen Beobachtung eine Kultur an ihrem ganzen Weltbild zweifeln lässt; wo der Mensch seinen Blick auf die Welt und auf Seinesgleichen nicht mehr einfach ‚hat‘, sondern im bewussten Umgang mit Proportion und Perspektive zur Schaffung ganz neuer künstlerischer Ausdrucksformen verwendet; wo in gelehrten Debatten das volgare an die Stelle des Latein tritt und wo die Philosophie, statt sich mit Autoritätsüberlieferungen zu begnügen, zu ihren wieder verfügbar gewordenen Quellen zurückschaut – erst unter solchen komplexen und wie durch glückliche Fügung miteinander verbundenen Umständen wird eine Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung des Einzelnen in dem universellen Sinn, den wir heute mit dem Begriff der Individualität verbinden, überhaupt möglich und vorstellbar 56. Und weil es zugleich immer schon Einzelne sind, die diese Bedingungen erst praktisch herbeiführen müssen, kommt es dabei durchaus nicht nur auf das allgemeine „Kulturbewusstsein“ der Zeit, sondern ebenso auf das je konkrete „Individualbewusstsein“ 57 des Menschen an, der sich auch gegen geschichtliche Widerstände in seinen selbständigen Potenzialen zu fühlen und zu wissen beginnt. Weil sich nun dieses sukzessive Zu-sich-kommen und Zu-sich-werden des Individuums in der Renaissance zunächst auf einen mythisch-religiösen „Kosmos“ (den mittelalterlichen) bezieht, der Natürliches und Kulturelles noch gleichermaßen umfasst, spielt nach Cassirers Einsicht in diesem Prozess die Entdeckung der Natur als eigenständigen Erkenntnisgebiets eine besonders wichtige Rolle – und zugleich eine so zwiespältige, dass das Renaissancedenken hier überall schon auf das ambivalente Naturverhältnis der Moderne vorauszuweisen scheint. Einerseits nämlich erschließt, während an den kirchlichen Dogmen über die himmlische und menschliche Ordnung noch kaum zu rütteln ist, die Überzeugung von einer davon völlig unabhängigen Erkennbarkeit der Natur durch jeden Menschen dem Einzelnen ein Gebiet freier wissenschaftlicher, künstlerischer oder technischer Betätigung auf eigene Rechnung, das im Kulturleben der Zeit ohne Parallele ist.
Darauf verweist schon Heinz Paetzold: „Die symbolische Ordnung der Kultur. Ernst Cassirers Beitrag zu einer Theorie der Kulturentwicklung“. In: S. 163–184, S. 166: „In der Optik Cassirers gebührt der Epoche der Renaissance eine Auszeichnung, weil hier nicht nur einzelne Symboliken, etwa das Paradigma des theoretischen Wissens, transformiert wurden, sondern die symbolische Ordnung der Kultur insgesamt auf eine neue Basis gestellt wurde.“ 57 Vgl. PhsF 3, S. 101. 56
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Wenn infolgedessen die Natur, die hier vor allem als ‚äußere‘ Natur gefasst wird, etwa bei Marsilio Ficino und Pico della Mirandola schon sehr deutlich auf ihre negative Bedeutung eingeschränkt zu werden scheint, als ‚Nicht-Ich‘ Komplement zur Freiheit des Menschen und Freifeld seiner schrankenlosen Selbstausübung zu sein, so kann Cassirer, der gerade hierin einen wesentlichen „Grundgedanken des philosophischen Idealismus“ und nicht zuletzt des eigenen Funktionalismus wiedererkennt, dasselbe Verhältnis mit guten Gründen im Sinne einer positiven Korrelation verstehen: „Der »Gegenstand« [der Natur, F. S.] ist [nicht] der bloße Gegensatz und gleichsam der Gegenwurf zum Ich – er ist das, worauf alle produktiven, alle eigentlich bildenden Kräfte des Ich gerichtet sind und worin sie erst ihre eigentliche konkrete Bewährung finden. In der Notwendigkeit des Gegenstands erkennt das Ich sich selbst, erkennt es die Kraft und Richtung seiner Spontaneität.“ 58 Zumindest ein Aspekt der Natur ist aber auch mit dieser Korrelation offenbar nicht abgedeckt: nämlich die Natürlichkeit unserer eigenen Existenz, sofern sie nicht bloß als objektiver Richtpunkt und äußeres Korrelat, sondern selbst als organischer Bedingungs- und Ermöglichungskomplex unserer Freiheit angesehen werden können muss – ein Aspekt, den die Renaissance am Bild des menschlichen Leibes, des anschaulichen „Prototyp[s] der »Individuation«“ 59, eben auch ständig im Blick hatte. So scheint es zunächst konsequent, wenn ein Denker wie Pietro Pomponazzi dieselbe Freiheit des Einzelnen, die Pico und Ficin noch ‚gegen‘ die Natur (oder gegenüber der Natur) behaupten zu müssen glaubten, seinerseits aus der Natur folgern und über eine Analyse unserer Leiblichkeit wieder in die Perspektive einer naturnotwendigen Daseinsordnung einholen will. 60 Cassirer, der in diesen historischen Kontroversen schon alle wesentlichen Züge der kantischen Freiheitsantinomie angelegt sieht, begegnet solchen frühen naturalistischen Versuchen jedoch mit differenzierter Skepsis: Es ist nämlich erkennbar nicht so, dass er das darin ausgedrückte Bedürfnis nach einem schließlichen Ausgleich von Naturnotwendigkeit und Freiheit in einer letzten Idee des ‚Ganzen‘ als solches für verfehlt halten oder seine Dringlichkeit nicht einsehen würde. Cassirer lenkt aber den Blick auf etwas anderes: auf das in konkreten Einzelbeispielen immer wieder von ihm herausgearbeitete Problem, dass das Renaissance-Denken dieses zwar mit Recht aufgestellte Programm noch in keiner Weise erfüllen 58 59 60
IK 165 (Kursivierung F. S.). IK 162. Vgl. IK 162.
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konnte, ohne den weitgehenden Mangel an wissenschaftlich begründeten Einsichten in die Prozesse und Funktionsweisen des menschlichen Organismus durch Rückfälle in naturphilosophisch-spekulative Erklärungsmuster kompensieren zu müssen und dadurch (wenn auch unwillentlich) das gerade erst erreichte Bewusstsein von der „Freiheit und Autonomie des Geistes“ 61 wieder zu gefährden. Anspruch und Wirklichkeit der naturtheoretischen Selbsterkenntnis klaffen hier in einer charakteristischen Weise auseinander, die auch Cassirers spätere Naturalismus-Kritik immer wieder herausstellen wird: „Ein verblüffender, höchst paradoxer Zug [naturalistischer] Theorien ist der eigentümliche Kontrast zwischen dem, was sie uns versprechen, und dem, was sie tatsächlich leisten.“ 62 So kann Cassirer dem Renaissance-Naturalismus mit gewissem Recht entgegenhalten, dass unter den gegebenen Bedingungen – sachliche Unkenntnis und permanente Konkurrenz mit etablierten mythisch-religiösen Deutungsmodellen – die Entgegensetzung von Natur und Freiheit einstweilen die vernünftigere Alternative war. Es ist im Rückblick leicht zu sehen, welcher grundlegende Kulturkonflikt hier eigentlich am Begriff der Natur ausgetragen wird: Indem die Renaissance das weitgehend geschlossene Weltbild des Mittelalters hinter sich lässt, worin zwar jedes Seiende, ob es wollte oder nicht, seinen gottgegebenen Platz einzunehmen hatte, den es aber immerhin sicher beanspruchen durfte, stellt es notwendig auch das Dogma von der Allgegenwart eines allmächtigen Gottes immer bewusster infrage und eröffnet dadurch wieder das ganze antike Feld von Deutungsoptionen zwischen der Selbstvergottung des leiblichen Menschen und seiner Eingliederung in eine Welt des Lebens, die im Ganzen ihrer eigenen, unabhängigen Dynamik folgt. In Individuum und Kosmos macht Cassirer aber auch erstmals deutlich, dass er in einer anderen Richtung des Renaissancedenkens auch schon einen Weg zur Überwindung der Antinomien angelegt sieht, die dieses sich (und uns) mit dieser Dualisierung insbesondere mit Blick auf den Status des Leibes eingehandelt hat: Der Schlüssel liegt für ihn in der Aufwertung des „Formproblems“ zu „eine[m] der Zentralprobleme der Renaissancekultur“ 63 überhaupt. Leonardo da Vinci, der als Künstler und Forscher in „Personalunion“ der tieferen „sachliche[n] Union“ 64 von Kunst, Technik und Naturwissenschaft nachgeht, spielt hier in Cassirers IK 163. VM 107. [EM 74: »The most surprising and paradoxical feature of the theories of [the naturalistic] type is the striking contrast between what they promise and what they actually give us.«] 63 IK 60 (Kursivierung F. S.), vgl. ebd., S. 184. 64 IK 186. 61 62
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Augen eine ganz analoge Rolle für das 15. und 16. Jahrhundert wie später Goethe für die deutsche Klassik 65, indem auch Leonardo schon jene „exakte sinnliche Fantasie“ als ein „lebendiges Vehikel der Wahrnehmung“ kultiviere, die ihn die „objektive Notwendigkeit“ der Natur nicht länger „unter oder über [der Anschauung]“ 66 vermuten, sondern im Anschaulichen selbst als immanente Formnotwendigkeit suchen und auch finden lasse. Cassirer geht es jedoch nicht allein um den Aspekt, dass es dieser von Leonardo teils mit inaugurierten, teils exemplarisch verkörperten Richtung ästhetisch-technisch-wissenschaftlicher – heute müsste man wohl sagen: ‚transdisziplinärer‘ – Naturforschung tatsächlich gelingt, die Kräfte von Mathematik, Kunst und Technik im Bemühen um das gemeinsame Ideal der präzisen Gestalt zu bündeln (man denke nur an die fruchtbare Koevolution von perspektivischen Darstellungstechniken und projektiver Geometrie). Vielmehr macht die neue Qualität in der Zusammenarbeit ganz verschiedener Bereiche unserer kulturellen Produktivität, so bemerkenswert sie ist, für Cassirer gewissermaßen erst die eine Hälfte des bleibenden Werts der Epoche aus: denn ausgehend von der kollektiven Erfahrung solcher Kooperationsmöglichkeiten wird nach seiner Einsicht schließlich auch eine synoptische „Reflexion auf die Freiheit des Menschen, auf seine ursprüngliche Schöpferkraft“ möglich, die „den Begriff der immanenten »Notwendigkeit« des Naturgegenstandes als ihre Ergänzung und als ihre Bestätigung [verlangt]“ 67. Was dem Naturforscher die gesetzliche Ordnung, die allgemeine Fasslichkeit der empirischen Welt ist, das ist dem Künstler-Techniker die sinnliche Verlässlichkeit seiner Materialien, seiner Instrumente und leiblichen Funktionen, ohne die die bloße Expressivität seiner Lebensvollzüge nie den Charakter eines schöpferischen Aktes annehmen könnte. Dem Philosophen wiederum, der auf beide ‚Wege‘ als gleichwertige und dem Menschen prinzipiell gleichmögliche Richtungen reflektiert, geht an ihrer funktionalen Schnittmenge erst das Wesen und gleichsam die allgemeinere Form der Freiheit auf, die sich ihm besonders deutlich am Individuum und dessen schöpferischer Kraft zur Formgebung symbolisiert. Man muss sich aber in diesem Zusammenhang fragen, welchen präzisen systematischen Sinn man mit diesem ‚Symbolisieren‘ verbinden will. Im Kontext der Renaissance-Schrift liegt es nahe, Cassirer so zu verstehen, dass er, indem er die bewusst gelebte Individualität als eine effektive Be65 66 67
Siehe § 11. IK 182 f. IK 176 (Kursivierung F. S.).
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dingung der Möglichkeit der Freiheit herausarbeitet, auch überhaupt das Individuum als den eigentlichen ‚Ort‘ derselben auszeichnen will. Gerade die Tatsache, dass Cassirer offenbar der Meinung ist, die Freiheit des Menschen über den Formbegriff mit den Anforderungen der Naturkontinuität vereinen zu können, scheint in diese Richtung zu weisen; denn welche andere ‚Form‘ könnte hier gemeint sein als die eines individuellen und sich selbst aus dem Bewusstsein der eigenen Individualität heraus gestaltenden Lebens? Einen entsprechenden Vorschlag hat vor kurzem Muriel van Vliet in ihrer ästhetisch-anthropologischen Studie zu Cassirers Formbegriff 68 unterbreitet: Sie deutet (mit besonderem Blick auf Cassirers Auseinandersetzung mit der Renaissancephilosophie) diesen Begriff so, dass Cassirers Analysen der Kulturformen des ‚objektiven Geistes‘ ihn schließlich auf die subjektive ‚Lebensform‘ des Menschen zurückführten, wie sie überhaupt nur am Leben des Einzelnen eigentlich zu erfassen sei. 69 Indem er eine Sinnverschiebung in der Konzeption der Freiheit konsequent zu Ende denke, die schon bei Kant im Übergang von der Kritik der praktischen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft auszumachen sei – weg von der „abstrakten“ Autonomie des Sittengesetzes und hin zur „Heautonomie“ 70 des konkret-individuellen Lebensvollzugs –, habe Cassirer eine Auffassung von Freiheit als Freiheit zur Form(gebung) entwickelt, die sich primär am Individuum orientiere. 71 Nun ist eine solche Lesart keineswegs die einzig mögliche. So kommt gleichsam am anderen Ende des Interpretationsspektrums eine ältere Untersuchung von Christa Hackenesch 72 zu dem Ergebnis, dass von einem einheitlichen Freiheitsbegriff bei Cassirer gar nicht die Rede sein könne, weil hier vielmehr zwei ganz verschiedene Freiheitsbegriffe weitgehend unvermittelt („aporetisch“) nebeneinander stünden. 73 Nach dieser anhand eines Abgleichs mit Martin Heidegger erreichten Auffassung wäre das vor dem Hintergrund eines ebenso unentschiedenen Begriffs des „Selbst“ zu sehen, das bei Cassirer manchmal im Sinne des empirischen Individuums in seiner historischen Kontingenz, manchmal aber auch im Sinne eines überzeitlich-generischen „transzendentalen Subjekts“ in der Tradition hegelscher Geschichtsphilosophie in Betracht komme. 74 Gegenüber dieser eher theoretischen Kritik hat die van Vliet’sche Perspektive 68 69 70 71 72 73 74
Vliet: La forme selon Ernst Cassirer. Vgl. ebd., S. 330 und 295 ff. Vgl. ebd., S. 234 f. ebd., S. 240 ff. und 275. Hackenesch: Selbst und Welt. Vgl. ebd., S. 115 ff. und 137 ff. Vgl. ebd., S. 155–182.
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wie viele der neueren Interpretationen den Vorzug, dass damit Cassirers Tendenz, individuelles und allgemein-kulturelles (transzendentales) Subjekt, zeitliches und überzeitliches „Selbst“ grundsätzlich zusammenzudenken, nicht wie ein systematischer Mangel angesehen, sondern in ihrem praktischen Sinngehalt ernstgenommen werden soll. Diesem Ansatz kann ich mich im Grunde nur anschließen; allerdings meine ich, dass wir es uns gerade dann, wenn wir die „praktische Appetenz“ 75 des Cassirer’schen Denkens überall zugrundelegen, mit den praktischen Grundbegriffen von ‚Selbst‘ und ‚Freiheit‘ theoretisch nicht zu leicht machen sollten – stellt uns doch seine Philosophie tatsächlich regelmäßig vor die Fragen, welches Selbst und wessen Freiheit eigentlich im konkreten Einzelfall gemeint sind. 76 Kommen wir dazu wieder auf das nachgelassene „Schlusskapitel“ zur Philosophie der symbolischen Formen zurück, in dem Cassirer von der Frage ausgeht, ob „am Ende des langen Weges“ seiner transzendentalphilosophischen Kulturanalysen noch so etwas wie eine synthetische Zusammenschau der zunächst vor allem nach ihren Differenzen profilierten Formbestimmungen zu einem „übergeordneten Ganzen“ möglich sei. 77 Daraufhin stellt er in der Tat fest, dass die thematischen Schwerpunkte des Hauptwerks (und paradigmatische Vertreter der drei „Symbolfunktionen“) Mythos, Sprache und Wissenschaft im faktischen Lebenszusammenhang unserer „schöpferischen Subjektivität“ „konkreszieren“, was auf den ersten Blick einen ‚natürlichen‘ Zusammenhang im sie produktiv hervorbringenden Dasein, also im letztlich individuellen Leben der Menschen, nahelege. 78 Doch wie sich gleich darauf zeigt, dient ihm diese Einräumung nur als eine Art rhetorisches Sprungbrett zur Distanzierung von diesem vor allem in der Lebensphilosophie beschrittenen Erklärungsweg: Selbst bei Simmel, wo der Einzelne scheinbar ganz im Sinne von Cassirers eigener Auffassung in der Figur eines ἓν διαφερόµενον ἑαυτῷ zum „Urbild und Prototyp des Geistes“ gemacht werde, bleibt das Ausgehen vom Individuum für Cassirer jederzeit problematisch, weil dadurch die „Dialektik“ der geistigen Formen mitsamt ihrer Differenzen und InterRecki: Kultur als Praxis, S. 170. Vgl. auch Martina Plümacher: „Der ethische Impuls in Ernst Cassirers Philosophie“. In: Fetz / Ullrich (Hg.): Lebendige Form. S. 93– 116. 76 In dieser Hinsicht scheint mir Hackenesch, auch wenn ihre allgemeineren Schlussfolgerungen wenig überzeugen können, doch auf einen wichtigen Punkt hingewiesen zu haben. 77 Vgl. ECN 1, S. 3–5. 78 Vgl. ECN 1, S. 6. Cassirer spricht an dieser Stelle doppeldeutig auch vom „natürliche[n] Weltbild“ des Einzelnen. 75
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ferenzen „nur in den Begriff des Lebens zurückverlegt“ 79, ihre theoretische Bewältigung auf diese Weise aber eher gehemmt als begünstigt werde. Ein derartiger Lebensbegriff mag zwar vordergründig mit Cassirers eigener funktionalen Auffassungsweise darin übereinstimmen, dass er „keine Substantialität kennt als diejenige, die in der reinen Aktualität besteht und aufgeht“ 80; aber indem dieser Begriff uno actu mit dem biologischen Begriff individueller Lebenseinheiten verknüpft wird, gerät das Denken hier nach Cassirer in eine Antinomie zwischen der behaupteten „Kontinuität des Lebensstromes“ und der „Individualität der geprägten Form“, die an dieser selbst (auch wenn sie grundsätzlich als ‚Funktionseinheit‘ intendiert ist) unauflöslich bleibe. 81 Was Cassirers kulturphilosophischer Funktionalismus dagegen unternimmt, ist der Versuch, die Gegensätze von „Kontinuität“ und „Individualität“, „Leben“ und „Geist“ (bzw. „Form“) auf die Hypostase zweier Reflexionsbegriffe, d. h. auf eine Schwierigkeit nicht sowohl ‚des‘ Geistes, sondern im geistigen Vollzug selbst zurückzuführen. 82 Der Unterschied ist erheblich, denn Cassirer macht hier in der Tat etwas ganz anderes, als bloß den Dualismus auf eine andere „Ebene“ zu verlegen 83: Er erweist ihn vielmehr als einen selbstgemachten, als Dualität „zweier Accente, die wir im Fluss des Werdens setzen“ 84, und entschärft ihn so an seiner performativen Wurzel, indem er gleichsam die reflektierende Subjektivität des Lesers sich selbst in flagranti bei seiner Erschaffung ertappen lässt –: wohlgemerkt ohne das ‚Dualisieren‘ von Welt und Selbst, das eben für ihn seinen ganz eigenen kulturellen Produktivwert hat, als solches unterbinden zu wollen. Über den mit Blick auf das lebendige Individuum konzipierten Begriff biologischer Lebensfunktionen geht Cassirers Funktionalismus der geistigen Kultur also tatsächlich schon im Ansatz hinaus – und in der philosophischen Reflexion auf den Zusammenhang von beidem beweist er seine ganze Leistungskraft darin, dass er dieselbe Dynamik, die eine moderne Natur- und Lebensauffassung zwar auf der Seite ihrer Objekte auch immer schon kennen und anerkennen muss, auch vom denkenden Subjekt, d.h. eben: vom Leser selber fordern kann, um diesen sich immer Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. ebd., S. 14; auch S. 32. 83 So die Lesart von Hartung: Das Maß des Menschen, S. 252: „Die Polarität von Leben und Geist verlegt Cassirer auf die Ebene des Geistes selbst; das heißt, das Leben tritt nur als Vermitteltes in den Gegensatz zum Geist; es ist immer schon geformt, sobald es aus seiner Unmittelbarkeit heraustritt.“ 84 ECN 1, S. 15 (Kursivierung F. S.). Vgl. ebd., S. 59. 79 80
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nur gerade so weit im Spiegel jener Objekte wiedererkennen zu lassen, wie er sich selbst als „freihandelndes Wesen“ begreift. Die überzeugendste Interpretation dieser komplexen Gemengelage, die die Nachlasstexte zur „Metaphysik des Symbolischen“ in den letzten Jahren zu einem der reizvollsten Gegenstände der Cassirer-Forschung gemacht hat, stammt in meinen Augen von Sebastian Ullrich. 85 Nicht nur lässt sich seine Deutung der von Cassirer behaupteten Korrelativität von ‚Leben‘ und ‚Geist‘ als Forderung eines permanenten Abgleichs zwischen einem „höchsten analytischen Prinzip“ und einer „höchsten synthetischen Einheit“ 86 unmittelbar an unsere diversen Erörterungen zur Unterscheidung von philosophischem (Re-)Produktions- und Reflexionsvollzug anknüpfen 87. Daneben erbringt Ullrich vor allem den Nachweis, dass diese Grundbegriffe wie überhaupt die Texte zur „Metaphysik des Symbolischen“ mit der Geltungsfrage des Philosophen an die symbolischen Äußerungsformen des Menschen untrennbar verbunden sind. Weil Cassirer insbesondere Leben wesentlich als kulturelle Praxis, mithin als Freiheitsvollzug begreife und darin immer einen „sokratischen“ Anspruch auf reflektierte Selbsterkenntnis im Handeln mitdenke, der die faktisch-normativen Partikularitäten jeder symbolischen Einzelform in einer „letzten höchsten Einsicht“ zu überwinden strebt (eine rein regulative Leitidee), komme auch die individuelle Existenz des Menschen bei Cassirer nur in Form einer kontinuierlichen Selbstsetzung des Subjekts in Betracht: einer Setzung, die einerseits schon die konkretesten Weisen des existenziellen „Sichbehauptens“ des Organismus und in diesem Sinne eine ‚vorbewusst‘-lebendige Dimension umfasst, die aber andererseits auch als individuelles Selbstbewusstsein noch keineswegs ‚am Ziel‘ ist, sondern im Hinblick auf die übergeordneten praktischen Ideen von Wert und Sinn, das dauernde und notwendige Gegengewicht zur ‚natürlichen‘ Vereinzelung des Menschen, immer nur relative Geltung beanspruchen kann. 88 Die Art und Weise, wie Cassirer am Ende des „Schlusskapitels“ den Kreis zu seiner Eingangsfrage nach dem „natürlichen Weltbild“ wieder schließt, bestätigt diese Analyse durchaus. Zunächst nur in Form einer „Frage“ und „Vermutung“ formuliert Cassirer hier seine aus der durchVgl. Ullrich: Symbolischer Idealismus. Ebd., S. 140. 87 Siehe § 8 u. ff. – Zu Ullrichs Variante dieser Differenz vgl. auch ders.: „Der Geist als Prinzip des Bildens bei Ernst Cassirer“. In: Fetz / Ullrich (Hg.): Lebendige Form. S. 35–56. 88 Vgl. ders.: Symbolischer Idealismus, S. 60: „Der Mensch als animal symbolicum . . . existiert im strengen Sinne nur in einer Kultur, die als Realisierung von Sinn begriffen werden muss und damit als Konkretisierung der Bedingungen der Freiheit.“ 85 86
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gängigen Entsprechung von ‚Objektivierung‘ und ‚Subjektivierung‘, wie sie die Philosophie der symbolischen Formen aufgewiesen hatte, geborene Intuition, dass analog zu den „äußeren“ Transformationen unserer symbolischen Weltrepräsentation (von der Ausdrucks- zur Ding- und schließlich zur Gesetzesvorstellung der Welt gemäß ihrer „reinen Bedeutung“) auch für die „innere“ Welt des Menschen eine Transzendenz der dominanten Kategorie, der Kategorie der persönlichen Existenz, möglich und geboten sein könnte. 89 Und es ist – nach der zuvor im selben Text geschehenen ungleich wohlwollenderen Positionierung gegenüber den Scheler’schen und Plessner’schen Ansätzen zur philosophischen Anthropologie – erneut die Abgrenzung von einem seinerzeit höchst einflussreichen ‚Lebensphilosophen‘, nämlich Oswald Spengler, die Cassirer zu der Klarstellung veranlasst, dass es für diesen Übergang keineswegs genügen könne, einfach „das Allgemeine im Bilde des Besonderen anzuschauen“ 90, also z. B. wie Spengler die Menschheitsgeschichte als Wirkfeld überindividueller Quasi-Organismen (Kulturen, Zeitalter) zu deuten: Nur dort, wo das Denken sich (an der ‚richtigen‘ Stelle) zur „Grenzüberschreitung . . . entschliesst“, wo es „in den Symbolen der Sprache, der Kunst, der Religion und der theoretischen Erkenntnis“ „nicht nur über die Kategorie der Dingheit und Dinghaftigkeit, sondern auch über alle Kategorien des »personalen« Seins hinweggreift“, obwohl es als Lebensvollzug natürlich nicht aus der Haut des jeweils denkenden Ichs, der Person, des organischen Individuums heraus kann – nur dort wird ihm nach Cassirer jener „»intelligibl[e]« Kosmos zu Teil“, der den Selbstbegriff des Menschen durch eine an seiner eigenen kulturellen Existenz gewonnene Bestimmung der Freiheitsidee komplettiert. 91 Die Paradoxie, dass der Mensch für diese „µέθεξις“ allen Ernstes „den festen Grund und Boden des spezifisch-menschlichen Daseins verlassen“ 92 muss und kann, wird hier natürlich nicht zufällig durch Cassirers Symboltheorie der Kultur gelöst: Seit ihren ersten Anfängen in Substanzbegriff und Funktionsbegriff hatte diese Theorie ja jederzeit das Problem des ‚Intelligiblen‘ im Sinne der später so genannten „reinen Bedeutung“ vor Augen, das sich ihr in einer (durch das klassische Beispiel der reinen Mathematik exemplifizierten) spezifischen Form des Ineinander von Vgl. ECN 1, S. 95: „Daß beide Welten, ihren reinen Aufbauprinzipien nach, einander methodisch entsprechen, – daß sie gewissermassen den gleichen architektonischen Rhythmus zeigen, hat sich uns im gesamten Verlauf unserer Untersuchung immer aufs neue bestätigt.“ 90 Ebd., S. 100. 91 Ebd., S. 108 f. 92 Ebd., S. 108. 89
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Freiheits- und Lebensvollzug, von ‚ideeller‘ und ‚faktischer‘ Praxis auflöst, wie sie nur auf der Basis eines entwickelten Bewusstseins von der Möglichkeit ihres Auseinander zu erreichen und aufrechtzuerhalten ist. 93 Man darf wohl so weit gehen, zu sagen, dass es überhaupt das Rätsel dieses „Zwei-in-Einem-Seins“ 94 ist, an dem sich Cassirer auf dem ganzen „langen Weg“ seiner Philosophie der symbolischen Formen abarbeitet – bis hin zu der unter dem Titel der ‚Ausdruckswahrnehmung‘ verhandelten Elementarschicht unseres Kulturbewusstseins, in der zwar das Ineinander und die Einheit einleuchten, aber dafür die Unterscheidung der Aspekte, an der Cassirer doch mit guten Gründen soviel liegt, noch nicht vorausgesetzt werden kann. Wenn Cassirer nun vom anderen Ende her, im Anschluss an seine (nunmehr von ihm selbst bestätigte) „Vermutung“ der Möglichkeit, zu einem Verständnis des Menschen in der „rein symbolischen“ Bedeutung des Begriffs vorzudringen, formulieren kann, dass „hier . . . das Gebiet der Freiheit erreicht“ 95 sei, so ist dieses „Hier“ deshalb gerade nicht im Sinne einer festen Stellenbezeichnung innerhalb der Systematik der symbolischen Formen zu verstehen. Die Rede ist vielmehr von dem für jede symbolische Form konstitutiven „Akt der Bewusst-Werdung und der Bewusst-Machung“ überhaupt, wie ihn der Mensch nach Cassirers Einsicht auch dort, wo er von dieser Tatsache selbst (noch) gar kein Reflexionsbewusstsein ausgeprägt hat, als Handelnder immer schon vollzieht. 96 So kann die „Metaphysik des Symbolischen“ schließlich „[d]ie eigentliche und höchste Leistung jeder »symbolischen Form«“ darin erkennen, „daß sie, mit ihren Mitteln und in der ihr gemässen und eigentümlichen Richtung, . . . an dem Übergang vom Reich der »Natur« in das der »Freiheit« mitarbeitet.“ 97 Mit dieser dynamisierten Version des Bildes der Kritik der reinen Vernunft von den zwei „Reichen“, deren Bürger wir seien, bekräftigt Cassirer nicht nur seine systematische Verbundenheit mit Kant; in der Sache greift er damit auch die bei ihm selbst schon ganz am Anfang, schon in der Einleitung des ersten Bandes im Gedanken der allmählichen Umbildung Siehe § 6. Ebd., S. 32. 95 Ebd., S. 109. 96 Vgl. ebd.: „[A]ll diese Ordnungen, so sehr wir sie als ein Absolutes, als ein AnSich-Bestehendes denken mögen, sind freilich “für” den Menschen nur, sofern er an ihrem Vollzug mitarbeitet. Sein Leben in ihnen kann nicht in einer tatlosen Anschauung bestehen, sondern es ist daran gebunden, daß er sie heraufführt und daß er sie kraft dieser Heraufführung in sein Bewusstsein, sein Wissen hinaufhebt.“ 97 Ebd. (Kursivierung F. S.). 93 94
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der Welt des Menschen von einer „passive[n] Welt der bloßen Eindrücke . . . zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks“ 98 eröffnete teleologische Perspektive auf das allgemeine Funktionsprinzip der symbolischen Formgebung überhaupt wieder auf. Es ist der Kreis, der sich in dieser Wiederanknüpfung schließt, der uns nun auch einen wichtigen Rückschluss in der Frage nach dem eigentlichen ‚Selbst‘ erlaubt, von dem alle diese Bestimmungen gelten sollen: Denn wenn wirklich jede symbolische Form am „Übergang“ zur Freiheit mitarbeiten können soll; wenn das ausdrücklich auch schon für den Mythos behauptet wird, in dem die ‚Freiheit‘ des Menschen ja in vielerlei Hinsicht noch nicht die Freiheit des Individuums ist, dann scheint das, was Cassirer hier unter dem Titel der Freiheit in den Blick nimmt, über die Thematik eines freien Willens des Einzelnen allerdings hinauszugehen. Andererseits kann damit aber natürlich auch nicht nicht die Freiheit des Individuums gemeint sein, wenn der Begriff überhaupt praktisch zu verstehen sein soll: und dass dem so ist, daran lassen gerade Cassirers Texte zur „Metaphysik des Symbolischen“, mit denen er ja nicht bloß eine synoptische Rekapitulation der Ergebnisse der Philosophie der symbolischen Formen, sondern vielmehr ihre konzentrierte Reexplikation in praktischer Orientierung und zugleich eine Rechtfertigung, ein „λόγον διδόναι“ seines kulturphilosophischen Theorieentwurfs im Ganzen bezweckt, gar keinen Zweifel zu. 99 Es scheint mir daher angezeigt, zur Kennzeichnung dieser komplexen Position von einer metaphysischen Erweiterung des in praktischer Rücksicht gewonnenen Freiheitsbegriffs zu sprechen – wobei der letztere im Kern als eine Variante des kantischen Begriffs von Freiheit als individueller Autonomie zu rekonstruieren wäre 100 –: einer Erweiterung nämlich, die die Anlage zur Freiheit und zur selbstbewussten Praxis im Sinne einer „anthropologischen Konstanten“ 101, d. h.: als Gattungsbestimmung des Menschen ins Auge fasst. 102 Die symbolischen Formen der Kultur gehören als Vgl. PhsF 1, S. 9 f.; siehe dazu § 15, S. 169. Siehe auch dazu wiederum Ullrichs fundierte Analysen zum Status der „Metaphysik des Symbolischen“ im Verhältnis zum Gesamtwerk: a.a.O., S. 130 ff.; Ullrich: „Der Status der ›philosophischen Erkenntnis‹ in Ernst Cassirers ›Metaphysik des Symbolischen‹“. 100 Vgl. Recki: Kultur als Praxis, S. 154 ff. 101 Vgl. Möckel: „Kulturelle Existenz und anthropologische Konstanten“. 102 Einen solchen anthropologischen Freiheitsbegriff, der jenseits der habituellen Unterscheidung zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit auf die Kulturalität als den grundlegenden Potentialraum unserer freien Selbsttätigkeit abhebt, hat bereits Birgit Recki mit Blick auf Cassirer herausgearbeitet, vgl. Birgit Recki: „Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus. Ernst Cassirers Begriff der Freiheit“. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2010), H. 1. S. 95–110. Die naturphilosophische Seite 98 99
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generische Handlungspotenziale der Sphäre des Überindividuellen, Überpersönlichen an und gewinnen erst im Zuge ihrer kontinuierlichen Aktualisierung durch existierende Menschen nach und nach den Charakter einer vom Einzelnen ausgehenden Handlung. Der Mensch erscheint in dieser Perspektive als ein Wesen, das schon in seinen einfachsten ‚symbolischen‘ Verhaltensweisen die jeweiligen Schranken seiner organischen Konstitution transzendiert, um sich sukzessive die Freiheit seines SeinKönnens und Anderssein-Könnens zu erobern und zu erarbeiten; das kraft derselben „Fähigkeit zur Form“ 103, die solches ermöglicht, lernen kann, diese Freiheit allmählich an immer bestimmtere Begriffe von Individualität und ethischer Personalität zu knüpfen und diese als Selbstbegriffe zu verstehen; und das doch in seiner Suche nach Sinnbestimmung über das bloße individuelle Selbstsein hinaus immer wieder auch auf eine Welt der universellen, d. h. überindividuellen, ja selbst übergenerischen Geltung hinsehen muss, die sich – eben weil es sich dabei um eine Welt der ‚künstlichen‘ Symbole und der durch sie gestifteten Sinngemeinschaft handelt – tierischem Leben nirgends erschließen kann. 104 Die „Autonomie“, von der hier die Rede ist, würde also ihrem allgemeinsten Sinn nach weniger als der (auf das Individuum bezogene) Gegenbegriff zur Heteronomie der Kultur in Gestalt der wechselnden Ansprüche anderer an mich zu verstehen sein, sondern wesentlich die dieser Einsicht Cassirers in das Wesen der menschlichen Freiheit als einen „nichtreduktionistischen Naturalismus der Freiheit“ (Recki: „Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus“, S. 107 u. ff.) zu charakterisieren, halte ich allerdings ‚nur‘ in der gemeinten Sache für richtig, terminologisch aber eher missverständlich angesichts der Tatsache, dass der ‚Naturalismus‘ für Cassirers eigenes Sprachempfinden effektiv gerade mit jenem Reduktionismus und Determinismus zusammenfällt, gegen den er zu Recht seinen Begriff der menschlichen Freiheit verteidigt. Siehe zu dieser Komplikation, die viel mit der auch von Recki konstatierten „unaufgelösten Spannung“ (ebd., S. 110) zu tun hat, den folgenden § 27. 103 Vgl. ECN 1, S. 44. 104 Es ist allerdings zu sehen, dass der teleologische Vorblick auf diese Geltungssphäre Cassirer auch schon im Begriff der ethischen Person ein Privileg des menschlichen Bewusstseins sehen lässt, das er sogar als Prädikat unserer spezifischen Differenz gegenüber anderen Gattungen verstanden wissen will: Vgl. dazu insbesondere seine differenzierte Auseinandersetzung mit Vignolis These einer Übereinstimmung von mythischen und tierischen Vorstellungsarten in ECN 1, S. 65 f. – Die offensichtlich aus einer Analogisierung von Person- und Dingbegriff, in dem er mit mehr Recht die „spezifisch-menschliche Kategorie“ erkennt (ebd., S. 230), motivierte Negation jeglicher Individualvorstellung im tierischen Bewusstsein, die der Rekurs auf das Ausdrucksverstehen weder kompensieren kann noch soll, trägt aber, wie wir bald (in ??) sehen werden, nicht unwesentlich dazu bei, den biologisch-naturphilosophischen ‚Unterbau‘, den später der Essay on Man der kulturphilosophischen Perspektive auf den Menschen voranschicken wird, in seiner Plausibilität zu schwächen.
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für den Menschen typische Emanzipation von der Heteronomie der Natur meinen, und zwar der äußeren und der inneren. In diesem Prozess anthropo-kultureller Koevolution, der schon mit der freien Beherrschung des Leibes und dem daran gewonnenen Selbstbewusstsein seiner Form, Funktionspotentiale, Lage im Raum etc. beginnt, bildet die tätige Selbstbehauptung des Individuums gegenüber der Macht kultureller Tradition eine relativ späte und dennoch ganz folgerichtige Etappe: Die vom biologischen „Mängelwesen“ (Herder) immer schon kollektiv zu erbringende pragmatische Überwindung seiner Abhängigkeit, Bedürftigkeit und allwärtigen Gefährdung im natürlichen Weltumfeld findet in der praktischen Selbstbefreiung des Individuums von der Bestimmbarkeit durch andere, wie auch durch seine eigenen Triebe und Affekte zur Selbstbestimmung aus Vernunftgründen nur ihre konsequente Fortsetzung. Eben deshalb entspricht aber paradoxerweise nur der zuerst genannte Schritt einer Anforderung an den natürlich-individuierten Menschen, die uns, wo sie nicht bewältigt wird, den Eindruck des Pathologischen aufnötigt, während der zweite, eigentlich-praktische Schritt immer schon auf entwickelten interindividuellen Symbolsystemen aufbaut, ohne deren Leistungen sich eine differenzierte Reflexion auf die möglichen Rollen des Einzelnen in der Welt gar nicht anstellen lässt. Dieser ganze doppelt verschränkte Anspruch scheint mir in der Tat hinter Cassirers Betonung des „Formproblems“ zu stehen, das sich nach seiner Auffassung gleichermaßen auf die „persönliche“, die „unter-“ und die „überpersönliche“ 105 Dimension des menschlichen Lebens erstreckt. ‚Form‘ und ‚Formbegriff ‘ scheinen mithin für Cassirer auch deshalb immer größere Bedeutung zu erlangen, weil sie gleichsam Kompromisskandidaten sind zwischen seinem ‚Funktionalismus‘, der allzu leicht als ‚bloßer‘ (technisch-unpersönlicher) Funktionalismus missverstanden werden kann, und einem ‚kritischen Substanzbegriff ‘ des Menschen in seiner Individualität (eine Redeweise, die Cassirer selbst ohnehin zu missverständlich ist, als dass er sich öffentlich zu ihr bekennen würde). Was schließlich in diesem Problemfeld die Natur angeht, so kommen wir mit Blick auf die in § 24 aufgeworfene Wertfrage der Kultur vorläufig zu dem Ergebnis, dass sich der Mensch für Cassirer sowohl aus individuell-pragmatischen als auch aus universell-praktischen Gründen als Kulturwesen bestimmen muss, weil er sich nur so, sozusagen im Scheler’schen Modus des „Neinsagens“ zu aller Naturvorgegebenheit 106, überhaupt selbst Vgl. ECN 1, S. 243. Vgl. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt 1928, S. 65: „Mit dem Tiere verglichen, das immer ‚ja‘ sagt zum Wirklichsein – auch da noch, wo 105 106
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bestimmen kann – und es wäre angesichts dieses Ergebnisses nicht verwunderlich, wenn auch Cassirers eigenes „Nein“ zu einer Verortung des Menschen als Naturwesen immer gerade dort besonders laut vernehmlich wäre, wo diese Verortung in – Bestimmung umzuschlagen droht. 107 4.2 Zur Naturstellung des Menschen § 27 Cassirer, die Natur und der Naturalismus Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie Cassirers Kulturphilosophie einen Existenzbegriff des Menschen in seiner lebendigen Individualität umfasst, der nicht als ontologisches Fundament, sondern als Reflexionsbegriff seines kulturellen Selbst- und Tätigkeitsbewusstseins intendiert ist; wie sich ihm in der systematisch-historischen Rekonstruktion dieses Bewusstseins bis zu seinen Ursprüngen in Antike und Renaissance die Zweiteilung unserer Selbst in ‚Leib‘ und ‚Seele‘ ebenso wie die dazu komplementäre der ‚äußeren Welt‘ in ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ als praktisch-notwendige und praktisch-sinnvolle Grenzziehungen erwiesen; und wie er sich schließlich zwar auch für die Problematik solcher Dichotomien keineswegs unempfindlich zeigte, aber seine theoretischen Bedenken gegen den Dualismus gewissermaßen hinter die praktische Wichtigkeit des durch ihn erst möglich gemachten Selbstverständnisses des Menschen als eines „der Form fähigen“ 108 und darin „freihandelnden“ Wesens zurückstellte. Tatsächlich erklärt sich m. E. erst aus dieser Gesamtkonstellation, in der sich theoretische Motive mit dem genuin praktischen Interesse an der Freiheit verschränken, Cassirers auffällig negative Besetzung des Natures verabscheut und flieht –, ist der Mensch der ‚ Neinsagenkönner‘, der ‚ Asket des Lebens‘, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.“ 107 Auch hierin zeigt Cassirer übrigens große Nähe zu Scheler; vgl. z. B. Max Scheler: „Die naturalistische Fehldeutung“. In: Schriften zur Anthropologie. Hg. v. Martin Arndt. Stuttgart 1994. S. 296–307. 108 Vgl. ECN 1, S. 44: „Die Wendung zur Form, wie sie sich nicht nur in der Kunst, sondern nicht minder in der Sprache, im Mythos, in der theoretischen Erkenntnis vollzieht, ist stets eine Art Umstimmung, die das Subjekt in sich selbst, in der Gesamtheit seiner Lebensstimmung und Lebenshaltung, erfährt. Diese Umkehr, dieses µετανοεῖν, bildet den Anfang und die Voraussetzung jeglicher “Noesis” überhaupt. Die einfachste und praegnanteste Definition, die eine philosophisch-gerichtete “Anthropologie” für den Menschen zu geben vermöchte, wäre daher vielleicht die Bestimmung, daß er “der Form fähig” ist. »Capaso formae«: so könnte man ihn, unter Abwandlung eines schoIastischen Terminus, knapp und scharf bezeichnen. Seine charakteristische Stellung zur Welt wie seine Stellung zu den Gegenständen ist hierin beschlossen.“
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begriffs, wo immer dieser (nicht erst in der ausdrücklichen Frage nach der menschlichen Natur) im Fokus auf Lebenserscheinungen das Gebiet unserer Selbstdeutung zu berühren beginnt. Bände spricht in dieser Hinsicht schon die Formulierung am Ende des ‚Schlusskapitels‘ zur „Metaphysik des Symbolischen“ (wo es ja gerade um eine solche Selbstdeutung ging), dass „im Reich des organischen Werdens“ eine „blosse Macht des Schicksals“ 109 walte: Kein Wunder, wenn sich die Freiheit des Menschen zu einer solchen Natur kaum noch positiv in Beziehung setzen lässt, sondern ihr nur noch scharf entgegengesetzt werden kann, wo sie nicht überhaupt geleugnet werden soll. Cassirer selbst scheint hier gar nicht zu bemerken, wie er der im selben Text zuvor unternommenen Ausweitung der kulturphilosophischen Perspektive und Methode bis hin zu der Möglichkeit, neben den symbolischen Formen der Kultur auch „die Mannigfaltigkeit der organischen Lebensformen . . . in den Blickpunkt des Geistes zu rücken“ 110, die ganze Pointe wieder nimmt. Wenn Cassirer dort die Natur als lebendige Natur, in der der Mensch eine Gattung unter unzähligen darstellt, nach ihrem weitesten Begriff fast schon so verstehen zu wollen schien, dass sie mit dem Leben individueller Organismen, die ihr je individuelles Weltwahrnehmen und -empfinden stets auch wieder mit individuell angemessenen Verhaltensreaktionen beantworten müssen, zumindest eine wesentliche Vorbedingung der Freiheit schon hervorbringt, die dann der Mensch auf dem Wege der Welt- und Selbstkultivierung aktualisieren kann – so stellt hier seine mechanistische Gleichsetzung des ‚organischen Lebens‘ mit einem bloßen Schicksalsgeschehen Natur und Freiheit, Tierheit und Menschheit einander wieder wie radikal verschiedene Sphären gegenüber. Mit dieser Ambivalenz bleibt der Cassirer’sche Naturbegriff in der Tat bis zum Schluss behaftet; und ausgerechnet die explizit anthropologisch orientierten Spätschriften wie der Essay on Man stehen durchaus in ihrem Zeichen. Gerade in den Texten der Zwischenperiode, vor allem der späten 1930er und frühen 40er Jahre, verdichten sich jedoch die Belege für meine Vermutung, das die Motive hinter Cassirers merkwürdigem Zurückschrecken vor einer echten Durchführung der naturphilosophischen Perspektive auf den Menschen letztlich im Praktischen zu suchen sind und theoretisch Optionen offen lassen, die seine Formulierungen auf den ersten Blick auszuschließen scheinen: Es ist nämlich, wie sich in dieser PeECN 1, S. 109: „In [dem spezifisch menschlichen, F. S.] Akt der Bewusst-Werdung und der Bewusst-Machung herrscht nicht mehr jene blosse Macht des Schicksals, die im Bereich des organischen Werdens waltet, sondern hier ist das Gebiet der Freiheit erreicht.“ 110 ECN 1, S. 50; siehe dazu § 21. 109
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riode noch einmal besonders deutlich zeigt, keineswegs eine ‚Abkehr‘ von den theoretischen Problemen unserer „Naturseite“, sondern eine immer entschiedenere Wendung gegen den Naturalismus und seine praktischen Konsequenzen, die Cassirer nun (nach Art einer zuweilen übertriebenen Vorsichtsmaßnahme) immer mehr überhaupt gegen die Möglichkeit, ja selbst die Wünschbarkeit einer vom Naturbegriff her entwickelten Anthropologie Partei ergreifen lässt. 111 Einschlägig ist hier zunächst vor allem Cassirers 1939 erschienener Aufsatz über die „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie“ 112. Schon ein oberflächlicher Blick auf diesen Text zeigt, dass der Terminus Naturalismus Cassirer darin als ein ziemlich pauschales Sammeletikett dient; unter ihn scheint er einfach alle Fälle subsumieren zu wollen, in denen ihm ein liberal-humanistisches Selbstverständnis des Menschen im Namen einer vermeintlich unverfügbaren ‚Natur des Menschen‘ bedroht erscheint. So meint er, die geistigen Wurzeln dieses Naturalismus bis in die philosophische Romantik zurückverfolgen zu können – ungeachtet der von ihm selbst eingeräumten Tatsache, dass die dort gesprochene „Sprache einer spiritualistischen Metaphysik“ 113 vordergründig im geraden Gegensatz zum offensiven Bekenntnis modernerer Naturalismus-Spielarten zum naturwissenschaftlichen Ansatz zu stehen scheint. Cassirers praktisches Argument hinter seiner Kontinuitätsthese bleibt aber von solchen Differenzen unberührt – und verweist uns darin auf das eigentliche Ziel seiner Naturalismus-Kritik: Im Vordergrund stehen für ihn die ethischen Folgen einer von ihm mit diesem Etikett verbundenen Geisteshaltung, die er mit Theodor Litt an einer Tendenz der Theorie zu einer „Auflösung des personalen Daseins“ 114, damit aber auch der kognitiven Grundlage „unsere[r] eigene[n], subjektive[n] Verantwortung“ 115, festmacht. Es ist in seinen Augen diese allgemeine Tendenz des Naturalismus, die sich – bei allen Differenzen der Naturkonzepte selbst – schon für die romantische ‚Organologie‘ nachweisen lässt, sofern diese ausgehend vom Spinozischen „Axiom des universellen DeAuch diese Entwicklung ist also wieder gut aus der Kontinuität mit Cassirers früherer Positionierung gegen den Substanzbegriff zu begreifen, sofern ja auch diese Positionierung sich uns als eine ‚eigentlich‘ oder primär gegen das dogmatische Substanzdenken gerichtete, historisch informierte und in letzter Instanz wissenschaftspraktische Stellungnahme dargestellt hatte (siehe dazu Kapitel Kapitel 1). 112 In: ECW 22, S. 140–166 ( im Folgenden zitiert als ‚NHBK‘). 113 NHBK 143. 114 NHBK 144. Cassirer zitiert hier aus der zweiten Ausgabe von Theodor Litt: Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie. 2. Aufl. Leipzig/Berlin 1924, S. 153. 115 NHBK 166. 111
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terminismus“ 116 zu der Auffassung gelangt sei, dass sich alles Naturleben, einschließlich des menschlichen, wie ein „ruhiges Werden und Wachsen [. . . ] gewissermaßen von selbst vollbringt.“ 117 Dass es Cassirer hier weniger auf die inhaltliche Extension des ›Natürlichen‹ ankommt als auf diese quietistische Konnotation des „von selbst“ (das ja mit dem Begriff der Natur, der φύσις, in der Tat immer auch verbunden ist) – dass er, anders gefasst, mit seiner Wendung gegen den Naturalismus viel eher diese halb mechanische, halb vegetative Gesamtauffassung des Lebens und die Haltung, die mit ihr verbunden ist, negiert als die Frage, ob bestimmte Lebensphänomene sich (auch) in Kategorien des Natürlichen ausbuchstabieren lassen oder nicht, wird noch klarer, wenn man sich daneben die von ihm nahegelegte Alternative ansieht: Es ist der Humanismus, und zwar weniger der der Renaissance als vielmehr der der deutschen Klassik, den er sich wegen dessen konsequenter Orientierung am „Prinzip der Individualität“ 118 in der Frage nach einer angemessenen Selbstdeutung von Mensch und Kultur zum Vorbild nimmt – und der ihm dabei auch deshalb so attraktiv erscheint, weil die Betonung des Individuellen bei seinen Vertretern gerade nicht an die theoretisch aussichtslose Bestreitung jeder Naturbestimmtheit des menschlichen Lebens überhaupt geknüpft, sondern stattdessen zum Anlass dafür geworden sei, den kausalen Determinismus der Natur in diesem Kontext durch den Gedanken allgemeiner Formbedingungen der Gattung abzulösen. Cassirers Punkt scheint mir folgender zu sein: Wo ein strenger Determinismus im Extremfall die vollständige Prädetermination aller Handlungen des Einzelnen und im Einzelnen voraussetzt, ohne zwar diese Prämisse jemals im Detail konkretisieren zu können – da lässt die liberale Denkungsart des Humanismus innerhalb der weiten Grenzen, die durch unsere konkrete Kenntnis wirklich unzweifelhafter KausalzusamNHBK 146. Vgl. NHBK 143: „Auch dies ist Naturalismus, wenngleich dieser Naturalismus die Sprache einer spiritualistischen Metaphysik spricht. Denn Geschichte und Kultur sind hier ganz in den Schoß des organischen Lebens zurückgenommen. Sie besitzen keine eigentliche »Autonomie«, keine Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit. Sie entstehen nicht auf Grund einer ursprünglichen Spontaneität des Ich, sondern sie sind ein ruhiges Werden und Wachsen, das sich gewissermaßen von selbst vollbringt.“ – Man kann hier mit Cassirer in der Tat eine strukturelle Übereinstimmung zwischen einem deterministischen Naturalismus und dem verengten Begriff des Kulturfunktionalismus erkennen, wie ihn die Romantik als ‚bloß technischen‘ Geist der Moderne ablehnt, indem letztlich beides auf übersteigerte Ansprüche an unser technisches Weltverständnis zurückgeht, dem sich eben auch eine gewisse Form der begrifflichen ‚Deduktion‘ des Weltgeschehens noch eingliedern lässt. 118 NHBK 166. 116 117
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menhänge gesetzt sind, bewusst Räume theoretischer Unbestimmtheit offen: und zwar derart, dass diese Räume nicht gleich dem stochastischen Indeterminismus der Quantenphysik ‚irgendwo‘ in der Natur, in einem uns gar nicht mehr unmittelbar erfahrbaren Sonderkosmos der Teilchen 119, sondern um das selbstbewusste Individuum herum lokalisiert sind und deshalb für dasselbe den Charakter praktisch-poietischer Handlungsspielräume annehmen können. Es ist dies – potentiell zumindest – eine durchaus vernünftige Position: Denn genau wie einerseits damit zu rechnen (und eigentlich nur zu begrüßen) ist, dass der Raum unseres Nichtwissens mit dem kontinuierlichen Fortschritt unserer naturwissenschaftlichen Welterkenntnis immer weiter schrumpft, so bleibt andererseits anzuerkennen, dass dieser Fortschritt, soviel er auch zu einer immer besseren Selbsterkenntnis der Gattung beitragen mag, an der Besonderheit und dem „personalen Dasein“ 120 des Einzelnen auf Dauer seine Schranken findet. Erst auf der Grundlage eines solchen Selbstverständnisses des Individuums als eines wesentlich-nichtfestgelegten hat aber nach Cassirer „[d]as Handeln [. . . ] wieder freie Bahn, sich aus eigener Kraft und aus eigener Verantwortung zu entscheiden, und es weiß, daß von der Art dieser Entscheidung die Richtung und die Zukunft der Kultur abhängen wird.“ 121 So setzt eben jedes eigentlich praktische Selbstverständnis des Menschen eine wirksame Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit von Individuum und natürlich-kulturellem Kosmos voraus, die je nach Urteilszusammenhang auch die Bereitschaft einschließen muss, Geltungsansprüche, die im Namen der ‚Individualität‘ oder der ‚Universalität‘ erhoben werden, durch den Verweis auf ihr jeweiliges Gegenstück einzuschränken 122 –: deshalb (und weniger wegen seines Rekurses auf Naturbegriffe des Menschen per se) erscheint ihm wohl auch der Naturalismus in seiner Tendenz so problematisch, infolge des theoretischen Ausgehens von der Natur (oder genauer dem, was je für natürlich gehalten wird) den Gedanken eines natürlicherweise So-und-nicht-anders-Seins an die Stelle jener Korrelation zu setzen. – Ist hingegen dieser Zusammenhang einmal genügend herausund sichergestellt, dann spricht offenbar auch für Cassirer nichts mehr Gegen den Versuch einer ‚Einschiebung‘ der menschlichen Freiheit in die „Lücken“ des quantentheoretischen Kausalbegriffs spricht sich Cassirer explizit aus in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, ECW 19, S. 237 ff. Vgl. dazu auch Recki: „Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus“, S. 108 ff. 120 NHBK 144 (siehe Anmerkung 114 oben). 121 NHBK 166. 122 Paetzold deutet diese Grundforderung Cassirers aus Ausdruck einer „Ethik der Authentizität“, die in Montaigne und Shaftesbury, Rousseau und Herder ihre Vorläufer habe: vgl. Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung, S. 136. 119
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gegen den Anspruch, umgekehrt, also im Ausgang von der humanistischen Idee einer Korrelation von Individualität und Universalität, am Ende auch die ‚Natürlichkeit‘ des Menschen wieder einzuholen: „Als der Grundzug alles menschlichen Daseins erscheint es, daß der Mensch in der Fülle der äußeren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern daß er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt. Dieser Wille zur Form und dieses Vermögen zur Form . . . wäre . . . als Ergebnis, als bloßes Produkt nicht möglich, wenn ihm nicht je eine eigentümliche Weise des Produzierens zugrunde läge. Daß er dieser Art der Produktivität fähig ist, das ist es, was als der eigentümliche und auszeichnende Charakter des Menschen erscheint. . . . Dabei schließt die Auszeichnung dieser spezifischen Sphäre keineswegs die Annahme und die Forderung in sich, daß wir, zu ihrer Begründung und Behauptung, den Kreis des natürlichen Daseins durchbrechen und prinzipiell aus ihm heraustreten müßten. Für die Kantische »Revolution der Denkart« bedurfte es in der Tat in gewissem Sinne einer solchen Sprengung und Durchbrechung des Naturbegriffs. Kants Lehre beruht auf dem Dualismus zwischen Natur und Freiheit, zwischen dem »Mundus sensibilis« und dem »Mundus intelligibilis«. Aber Herder und Goethe sind ihm auf diesem Wege nicht gefolgt. Sie sehen in dem, was sie unter der Idee der »humanitas« zusammenfassen, nicht sowohl ein spezifisches Sein als vielmehr eine spezifische Leistung. Dieser Leistung ist unter allen Naturwesen nur der Mensch fähig.“ 123
Wir sehen: Nicht nur „Herder und Goethe“, sondern auch Cassirer selbst argumentiert hier für einen Begriff der ‚menschlichen Natur‘, der als ‚humanistischer‘ (mit der Vorstellung freier Produktivität des Einzelnen kompatibler) Selbstbegriff zugleich gegen den Naturalismus und dessen „Axiom des universellen Determinismus“ gerichtet ist. Wohl schon mit Blick auf diese Möglichkeit stellt er heraus, dass sich weder der Sinn des klassischen Humanismus des 18. Jahrhunderts noch der von Cassirers eigener Anknüpfung und Weiterführung allein im unmittelbar-Ethischen erschöpft; vielmehr führt hier nach seiner Einsicht von der – zwar praktisch motivierten – Grundentscheidung für einen Selbstbegriff aus Freiheit ein gerader Weg zur Neukonzeption ästhetischer und theoretischer Fragestellungen, die schließlich auch auf die Fassung des Naturbegriffs zurückstrahlt. 124 123 124
NHBK 154 (Kursivierung F. S.). Vgl. ebd.
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Im Naturalismus-Aufsatz bleibt dieses Ziel freilich eher eine Andeutung, die kaum Rückschlüsse darauf erlaubt, wie sich Cassirer die Ausgestaltung eines solchen anti-naturalistischen Naturbegriffs des Menschen im Einzelnen vorgestellt haben mag. Allerdings hält Cassirer noch im selben Jahr, in dem der Naturalismus-Aufsatz erscheint, in Göteborg eine Vorlesung über „Probleme der Kulturphilosophie“ 125, die im Aufweis bestimmter methodologischer Analogien zwischen kulturphilosophischen und biologischen Formbegriffen erste Schritte in Richtung auf eine solche Konkretisierung unternimmt 126 – und uns zugleich noch einmal deutlich zeigt, dass seine Wendung gegen die naturalistische Herausforderung tatsächlich nicht mit einer Abwendung vom Problem der menschlichen Natürlichkeit einhergeht: Vielmehr scheint ihm die zuvor veröffentlichte Positionierung gegen den ‚Naturalismus‘ als Symptom eines „universellen Determinismus“ 127 hier fast wie eine Art Rückversicherung zu dienen, die ihm nun auch die Einbeziehung der lange vernachlässigten ‚lebenswissenschaftlichen‘ Perspektive in den transzendental-kulturphilosophischen Horizont erst eigentlich ermöglicht. 128 So kann Cassirers Vorlesung zunächst in theoretischer Hinsicht gerade diejenige Kontinuität im Zusammenhang aller wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche ausdrücklich bestätigen, auf die sich auch der Naturalismus der Kultur, dessen systematische Schlussfolgerungen Cassirer aus den eben genannten praktischen Rücksichten nicht teilen kann, immer wieder beruft: „[W]enn wir vom Objekt der Physik zu dem der Biologie – von der Biologie zur Psychologie (zur menschlichen [„]Seele“) und innerhalb des Gebiets des Seelischen von der einfach- vitalen Sphaere zur ideellen Sphaere (zur Sphaere der Kultur) übergehen – In: ECN 5, S. 29–104 ( im Folgenden zitiert als ‚PK‘). Vgl. z. B. PK 101 f.: „[D]ie Welt des Ausdrucks, und damit die der Kultur, wird durch den Formbegriff, nicht durch den Kausalbegriff aufgebaut . . . In dieser logischen Hinsicht ist die Welt der Kulturobjekte der der biologischen Begriffe parallel“. Auf diesen Punkt hat vor kurzem schon Christian Möckel hingewiesen: Möckel: „Das Formproblem in Kulturwissenschaft und Biologie“. 127 NHBK 146. 128 Konkret durchgeführt hat Cassirer diese Option freilich erst im Essay on Man; man kann aber die ab Ende der 1930er Jahre immer wiederkehrende Thematisierung des Verhältnisses von kulturwissenschaftlicher und biologischer Logik durchaus schon als Vorstudien in dieser Hinsicht ansehen. Vgl. dazu außer den beiden bisher genannten Texten auch „Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion“ in ECN 5, S. 105–199; die fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften in ECW 24, S. 355–486; das druckfertige Manuskript über Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis (=ECN 2) sowie den späten Aufsatz über „Structuralism in Modern Linguistics“ in ECW 24, S. 299–319. 125 126
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so vollzieht sich jeder dieser Übergänge ohne Bruch (die Gesetze des Physikalischen bleiben in Geltung und behaupten sich im Biologischen u. s. f.)“ 129
Und wenige Seiten später heißt es gar: „Ein Ding ist für uns ein Inbegriff bestimmter [Sinnes-] Qualitäten . . . Aus diesen Qualitäten baut sich für uns die »Natur« – als Gegenstand der »äusseren« Wahrnehmung auf[:] . . . nicht . . . einfach als » Summe«, Aggregat[, sondern aufgrund] bestimmte[r] logische [ r ] Funktionen, die ihn aufbauen . . . All dies bleibt unverändert, wenn wir zur Welt der Kulturobjekt fortschreiten – denn diese sind der Welt der Naturobjekte eingebettet, gehören ihr an, nehmen also an allen ihren Bestimmungen Teil . . . In diesem Sinne kann man mit Recht die These des strengen »Physikalismus« durchführen[.]“ 130
Mit Blick auf die Entgegensetzung „nomothetischer“ und „idiographischer“ Methodenideale, wie sie im südwestdeutschen Kantianismus für die Natur- respektive Geisteswissenschaften behauptet wurde, wiederholt Cassirer in diesem Zusammenhang ausdrücklich seine schon 1910 in Substanzbegriff und Funktionsbegriff vorgetragene Kritik 131 und stellt fest, dass eine solche „ Schematisierung . . . dem wirklichen Tatbestand des Denkens, wie er in der »lebendigen« Wissenschaft vorliegt, keineswegs gerecht“ 132 werde: „Wir teilen nicht in Gesetzeswissenschaften und idiographische Wissenschaften[,] Naturwissenschaften und historische Wissenschaften[,] sondern wir unterscheiden: Gesetzeswissenschaften und Formwissenschaften[.]“ 133
Interessant an dieser ‚alternativen‘ Einteilung, die Cassirer wenig später in der vierten Studie Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) wiederholt und weiter expliziert 134, scheint mir vor allem, an welcher Stelle hier PK 63. PK 66 f. – Im selben Sinne ist übrigens auch schon Cassirers frühere (mit Blick auf Charles Darwin und Wilhelm Wundt geäußerte) Bemerkung über das relative Recht eines „Monismus der Kontinuität“ in ECN 1, S. 37 ff. zu verstehen. 131 SuF 241–254. Siehe dazu auch oben § 11. 132 PK 91. 133 PK 92 (Kursivierung F. S.). Vgl. dazu auch ders.: „ ‚Lebendige Formen‘. Zu Ernst Cassirers Konzept der ‚Formwissenschaft‘ “. 129 130
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eigentlich ein Schnitt gemacht wird: Cassirer unterläuft mit seiner Unterscheidung von „Gesetzeswissenschaften“ und „Formwissenschaften“ bewusst die traditionelle Gliederung der Fakultäten, um stattdessen eine Grenzlinie mitten durch die Wissenschaften vom Lebendigen hindurch zu ziehen. In der Vorlesung, wo dieser Gedanke zum ersten Mal systematisch fruchtbar gemacht werden soll, erläutert Cassirer seine Dichotomie denn auch nicht etwa durch ein Beispiel für die unterschiedlichen Wissenschaftspraktiken, sagen wir: in der Physik und in der Kunstwissenschaft (eine Gegenüberstellung, an die später die Logik der Kulturwissenschaften appelliert) – sondern er wählt dazu ein Beispiel aus der zeitgenössischen Biologie, nämlich die unterschiedlichen Ausprägungen des ‚Vitalismus‘ bei Hans Driesch und Jakob von Uexküll. 135 Im Verhältnis dieser beiden Forscher, die vordergründig dasselbe Interesse verbindet, exemplifiziert sich für Cassirer der gemeinte Gegensatz der Erkenntnisarten darin, dass Driesch den Gedanken einer „Autonomie des Organischen“ zum Anlass für die Hypostase eines in allem Lebendigen wirksamen, prinzipiell übermechanischen Ursachentyps genommen habe, während Uexküll sich mit der Behauptung einer nicht im bloßen Mechanismus auflösbaren Form des Organischen begnügt habe, die ein eigenes methodisches Erkenntnisprinzip erforderlich mache. 136 Die Wahl dieses Beispiels kann uns, denken wir an Cassirers (in Kapitel Kapitel 2 dargestelltes) Ringen mit dem Lebensproblem seit Substanzbegriff und Funktionsbegriff , eigentlich nicht mehr überraschen, und auch wenn Cassirer seinen Punkt noch durch weitere Fälle aus anderen Wissensgebieten illustriert, so liegt doch die Vermutung nahe, dass gerade die Biologie, die Wissenschaft vom Leben, in ihrer Doppelrolle als methodisch besonders schwer zu reflektierende Naturwissenschaft und besonders ergiebige Quelle für alle möglichen Naturalismen das Problemfeld gewesen sein dürfte, das seine eigenwillige wissenschaftstheoretische Unterscheidung kausalanalytisch orientierter „Gesetzeswissenschaften“ und formanalytisch operierender „Formwissenschaften“ überhaupt erst motiviert hat. 137 Dahinter steht natürlich wieder jenes grundlegende Spannungsverhältnis, das zwar nicht erst für die Biologie des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern überhaupt für jeden Anspruch einer wissenschaftlichen Vgl. LKW 446–461. Vgl. PK 94. 136 Vgl. PK 94 f. 137 Vgl. auch Cassirers wiederholte Bemerkungen zur Relevanz des Formbegriffs in der Biologie im vierten Band des Erkenntnisproblems: EP 4, S. 159–173; siehe zu diesem Text insgesamt den nächsten Abschnitt. – Zu den generellen Schwierigkeiten einer philosophischen Reflexion auf die Biologie unter Cassirers methodischen Prämissen siehe § 10. 134 135
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Erkenntnis des Lebendigen, sei es in Natur- oder Kulturzusammenhängen, charakteristisch ist: Ich meine die Spannung zwischen der paradigmatischen Begreiflichkeit alles regelmäßig-‚Mechanischen‘ und der (relativen) Unvorhersehbarkeit alles eigentätig-‚Lebendigen‘, die – ganz wie diejenige zwischen „Gesetzes-“ und „Formwissenschaften“ – weder mit dem konventionellen Gegensatz von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ noch mit dem zwischen ‚anorganischer‘ und ‚organischer‘ Natur einfach kongruiert; es handelt sich um den Widerstreit zweier Arten der Beurteilung der natürlich-kulturellen Welt durch uns, die es in der Auseinandersetzung mit den Phänomenen je in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen gilt. Ebenso ist es nach den bisherigen Ergebnissen unserer Untersuchung nicht mehr wirklich erstaunlich, dass Cassirer auch in diesem Kontext mit dem Formbegriff genau auf denjenigen Begriff zurückkommt, den er schon 1910 im Rahmen seiner ersten Auseinandersetzung mit der Begriffspraxis der Chemie gewissermaßen als methodisch-reflektierte Läuterung des Substanzbegriffs stilisiert hatte: 138 Wo die rein funktionalen „Gesetzeswissenschaften“ mit ihrem Ideal der mathematischen oder zumindest quasi-mathematischen Deduzierbarkeit an die Grenze der empirischen Einzelerfahrungen stoßen; wo diese Erfahrungen unter Umständen auch noch gar nicht als „besondere Gesetze“ im Sinne der Kritik der Urteilskraft, sondern zunächst einmal nur als exemplarische Fälle zu fassen sind – da treten nun eben bei Cassirer die „Formwissenschaften“ auf den Plan, deren Aufgabe weder in der theoretischen Deduktion speziellerer Zusammenhänge aus allgemeineren, noch auch in der Induktion neuer Gesetze anhand einzelner Beobachtungen besteht, sondern zunächst nur in der adäquaten Deskription, Klassifikation und Organisation der aggregatischen Wissensbestände unserer empirischen Welterfahrung. 139 Im veröffentlichten Werk ist es dann vor allem die „Logik der Kulturwissenschaften“, in der Cassirer diese frühe Intuition systematisch verfolgt. Auf die vierte Studie zum „Formproblem und Kausalproblem“, die unmittelbar an Einsichten der Göteborger Vorlesung anknüpft, habe ich bereits hingewiesen; auch mit dem Inhalt der zweiten Studie über „Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung“ haben wir uns im systematisch-Wesentlichen schon befasst (in § 21). Dazwischen steht die uns notwendig besonders interessierende dritte Studie über „Naturbegriffe und Kulturbegriffe“, und es ist gewiss kein Zufall, dass auch dieser Text wieder Siehe dazu S. 93 oben. Siehe zu den Anfängen dieser Konzeption in Cassirers Kant-Interpretation im Ganzen § 12. 138 139
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das Problem des Naturalismus ins Zentrum rückt. Entsprechend der methodischen Vorgabe einer Logik der Kulturwissenschaften entzündet sich Cassirers Kritik diesmal allerdings weniger an der ethischen Problematik einer naturalistischen Reduktion der Kultur, sondern führt in der exemplarischen Auseinandersetzung mit dem französischen Positivisten und Comte-Schüler Hippolyte Taine den Nachweis, dass dem Naturalismus der Kultur auch schon ein logischer Zirkel zugrunde liege. Das (mehr oder weniger naive) Ausgehen vom augenscheinlich-‚Gegebenen‘, von der ‚Natürlichkeit‘ des Lebens im Sinne seiner vermeintlichen Fraglosigkeit führt nämlich hier nach Cassirers Auffassung dazu, dass unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit bloß ein kulturell-vorausbestimmtes „Bild von der Natur“ auseinandergelegt werde, dessen Voraussetzungen aber als solche unreflektiert bleiben: „Wenn Taine die holländische Natur schildert, so überläßt er sich unbefangen dem, was die holländische Landschaftsmalerei ihn über diese Natur gelehrt hat. Und wenn er von der griechischen Rasse spricht, so verläßt er sich für ihre Kennzeichnung nicht auf anthropologische Beobachtungen und Messungen, sondern auf das, was ihn die griechische Plastik, was Phidias und Praxiteles ihn gelehrt haben. Kein Wunder, daß sich diese Betrachtung umkehren läßt, daß man die Kunst aus der Natur »ableiten« kann, nachdem man sich ein Bild von der Natur geformt hat, das in bestimmten Grundzügen aus der Kunst selbst stammt und durch sie seine Beglaubigung empfängt.“ 140
Wenn Cassirer dieses eklatante Selbstmissverständnis, beim Versuch einer naturalistischen ‚Erklärung‘ der Kulturalität des Menschen unter der Hand Kulturleistungen von genau der Art zu beanspruchen, wie sie doch aus Naturprozessen erst erschlossen werden sollten, am Ende auf den Doppelfehler zurückführen kann, dass mit derartiger Theoriebildung im Grunde weder in produktiver Einzelarbeit ein wissenschaftlicher Begriff der Natur weiterentwickelt, noch reflexiv mit den Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Begriffs sich auseinandergesetzt, sondern bloß dem Irrglauben an die Möglichkeit aufgesessen wird, beides „zugleich miteinander“ haben zu können (was eben nach Cassirers ausdrücklicher Überzeugung nicht möglich ist 141) – dann wird erkennbar, dass Cassirer hier nach seinen eigenen Begriffen eigentlich Kritik an einer Mythologie der Natur 142 übt, in der die Philosophie, gerade indem sie sich zum Sprach140 141 142
LKW 444 (Kursivierung F. S.) – Vgl. in diesem Sinne auch ECN 1, S. 37. Siehe dazu § 9 und § 10. Vgl. § 13.
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rohr einer primär naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und ihrer spezifischen Form der Reflexion macht (womit sie zwar besonders verlässlich der Wahrheit zu dienen glaubt), ihrer eigentlichen Aufgabe im Sinne Cassirers, nämlich der „Kritik u[nd] Erfüllung der symbol[ischen] Formen“ 143 in ihrer Gesamtheit, nicht mehr nachkommen kann. Der ‚Natur‘ selbst im Sinne eines bestimmten Phänomengebiets oder der Beschäftigung mit den Fragen, die sich in ihm konkret ergeben, wird all das nun zwar von Cassirer mit gutem Grund nicht angelastet. Das ganze Problem entsteht ja vielmehr erst aus der Hypostase eines in bestimmter Weise gewonnenen (und zu bestimmten Zwecken übernommenen) Bilds von der Natur, dessen Gemachtheit als Kulturfaktum dadurch aus dem Blick gerät, und ist insofern selbst wiederum ein geistiges. Diese Feststellung ändert jedoch nichts daran, dass Cassirer in jeder Auseinandersetzung mit der Natur, in der sie als lebendige Natur gedacht wird, eine besondere Anfälligkeit für die Verwischung der kategorialen Unterschiede zwischen produktiver und reflexiver Perspektive zu sehen scheint – und so am Ende eben auch zwischen einem theoretisch-produzierten Selbstbegriff des Menschen, der (sofern darin die wissenschaftliche Orientierung an begrifflich-allgemeinen Einsichten dominiert) tendenziell eher unsere Vorbedingtheit durch die Gattungskontinuität in den Mittelpunkt stellen wird, und dem eigentlich in praktischer Rücksicht auf die Idee der Freiheit zu konstituierenden Reflexionsbegriff des Individuums. In der sachhaltigen Einheit des Lebensbegriffs, der einerseits auf die Eingebundenheit alles Lebendigen in die Natur verweist, andererseits aber auch als letzte Bedingung der Möglichkeit aller geistig-kulturellen Formung zu denken ist, liegt also der Grund und Anreiz für eine eigentümliche ‚Amphibolie‘ und eine Versuchung zu immer neuen Kategorienfehlern, die gerade dort, wo sie im Zeichen eines übergroßen Zutrauens zur Leistungskraft naturwissenschaftlicher Produktivität begangen werden, einem dann auch noch gegen jede philosophische Kritik sich gefährlich selbst immunisierenden Dogmatismus in die Hände spielen. Wenn Cassirer Strategie der maximalen Distanz oder, wenn man so will, des maximalen Respekts vor der unabsehbaren Pluralität der Lebenserscheinungen ihn daher schließlich in der „Logik der Kulturwissenschaften“ eine förmliche Entgegensetzung von „Naturbegriffen“ und „Kulturbegriffen“ vornehmen lässt, so haben wir gute Gründe, den Dualismus, der hier scheinbar von der Theorie befestigt werden soll, vor allem als Ausdruck der praktischen Maxime zu interpretieren, jeder Reduktion von Lebensphänomenen in ihrer individuellen Eigenbedeutsamkeit auf letztlich 143
ECN 1, 265.
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deterministische „Ding- und Kausalbegriffe“ im Ansatz vorzubeugen. Für die theoretische Perspektive bedeutet das aber im Umkehrschluss, dass es – trotz der überaus missverständlichen Unterscheidung von „Naturobjekten“ und „Kulturobjekten“ 144 – keineswegs eine zwingende Konsequenz dieser kategorialen Gegenüberstellung zweier Begriffstypen (mit der Cassirer eigentlich nur an unser reflexives Unterscheidungs- und Urteilsvermögen appelliert) ist, dass sie sich in die vollständige Disjunktion zweier Sachgebiete übersetzen lassen müsste. Im Gegenteil ist es gerade Cassirers verschiedentlich geäußerte Überzeugung von einer theoretischen Kontinuität der Welt im Ganzen, die es ihm nun erlaubt, gleichsam im Windschatten seiner Naturalismuskritik eine Reflexion auf jenes Zwischenund Übergangsfeld der natürlich-kulturellen Lebensphänomene anzubahnen – und in dieser Intention kommt er nun auf seine „Formbegriffe“ zurück, deren logische Eigenart ihm erst die Reflexion auf das Kulturleben am „Faktum“ der Geisteswissenschaften erschlossen hat. Denn, so stellt Cassirer offenbar mit Blick auf die Offenheit der Theorie für die Freiheit fest: Auch in den kulturwissenschaftlichen Formbegriffen „läßt sich das Besondere dem Allgemeinen in irgendeiner Weise einordnen; aber es läßt sich ihm nicht in derselben Weise unterordnen“ 145 wie die experimentelle Erfahrung dem naturwissenschaftlichen Gesetz; „[d]erartige Begriffe charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht“ 146 – sie belassen der Individualität des Einzelfalls mithin allen notwendigen Freiraum, lebendige Individualität zu sein, und können dennoch Anspruch auf – wissenschaftliche Geltung erheben. § 28 Zur Biologie des animal symbolicum Erst im zwischen 1935 und 1941 entstandenen vierten Band des Erkenntnisproblems unternimmt Cassirer zum ersten Mal eine systematische Auseinandersetzung mit der modernen Biologie. Mit der Wissenschaft vom Leben – dem, wie er an verschiedenen Stellen Goethe zitiert, „Höchste[n], was wir von Gott und der Natur erhalten haben“ 147 – hat es der Philosoph, der sich zu diesem Zeitpunkt schon seit zweieinhalb Jahrzehnten einen Ruf als Theoretiker der mathematischen Naturwissenschaft erarbeitet hatte, sich offenbar nicht leicht gemacht. Auch wenn man Cassirers 144 145 146 147
Vgl. LKW 444 f. LKW 428 f. LKW 431. Vgl. z. B. FF 188; ECW 18, S. 131; ECN 1, S. 264.
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unverbrüchliches Festhalten an der Transzendentalphilosophie in Rechnung stellt, sieht man zwar nicht sofort, was ihn an dieser lange fälligen Auseinandersetzung so lange gehindert haben könnte – lag doch, wie es scheint, in der seit den grundlegenden Arbeiten von Darwin und Lamarck konstituierten wissenschaftlichen Biologie ein kulturelles „Faktum“ vor, an das die transzendentale Frage sich längst schon einmal hätte wenden können. Ein Blick auf das erwähnte Kapitel im Erkenntnisproblem zeigt jedoch, dass diese im historischen Selbstverständnis der Disziplin gründende Voraussetzung im Hinblick auf das, was Cassirer auf der Basis seines Lebensbegriffs für die zentrale Aufgabe der Biologie hält, gar nicht zutrifft. Sein Abriss der neueren Biologiegeschichte von der Kritik der Urteilskraft bis zu Ludwig von Bertalanffy zeichnet vielmehr das Bild eines Forschungsgebiets, das bis in die (damals) jüngste Gegenwart sowohl über die in ihm zu befolgenden Methoden als auch über seinen eigentlichen Gegenstand andauernd mit sich selbst im Streit lag und insofern eben noch nicht jenen „sicheren Gang einer Wissenschaft“ 148 erreicht hatte, der seine Heranziehung im Sinne eines relativ-konsolidierten „Faktums“ der Kultur gerechtfertigt hätte. 149 In den anhaltenden Kontroversen zwischen statisch-klassifikatorischem und dynamisch-morphologischem Wissenschaftsverständnis (Cuvier / St. Hilaire), zwischen den widerstreitenden Primaten stammesgeschichtlicher Phylo- und individualorganismischer Ontogenetik (Evolutionstheorie versus „Entwicklungsmechanik“) und immer wieder zwischen kausalanalytischen und teleologischen Erklärungstendenzen, Mechanismus und Vitalismus orientiert sich Cassirer vor allem durch den Rückgriff auf seine zwei liebsten Klassiker der lebenswissenschaftlichen Methodologie: Vor dem Hintergrund von Kants grundlegender Einsicht, dass sowohl dem Gegensatz der Ausrichtung an den Problemen der „Spezifikation“ oder der „Homogenität“ als auch der „Antinomie der Urteilskraft“ zwischen Kausalforschung und Zweckbetrachtung nur jeweils unterschiedliche Interessen zu Grunde liegen, die als Maximen der Forschung durchaus nebeneinander Bestand und Geltung haben können, versucht er zu den „Extremisten“ 150 der verschiedenen Lager überall auf kritische Distanz zu gehen – und daneben dient ihm das „neu[e] Wissensideal“, das durch Goethes »idealistische Morphologie« in die Biologie Einzug gehalten habe, gewissermaßen als Leitstern auch für inhaltlich positive Bezugnahmen Vgl. KrV-B 7 ff. (Vorrede zur zweiten Auflage). Nicht ausgeschlossen, dass darin für Cassirer der entscheidende Vorsprung der Geistes- vor den Lebenswissenschaften liegt, der letztlich seine eigene Anknüpfung an jene statt diese in Fragen der Anthropologie erklärt (siehe dazu auch § 10). 150 EP 4, S. 238. 148 149
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auf einzelne Positionen. Die bleibende Einsicht, die Cassirer in der Auseinandersetzung mit beiden frühen Wegbereitern der modernen Biologie für sich herausdestilliert, ist dabei, dass die Wissenschaft vom Leben sich zum einen als Naturwissenschaft von allen spekulativen Tendenzen, insbesondere von jeder Unterschiebung vermeintlicher Zweckbestimmungen der Individuen und Arten freizuhalten – und dass sie zum anderen als eine Formwissenschaft in erster Linie das dynamische Ineinander von artspezifischer Regelmäßigkeit und lebendiger Individualität zu erforschen habe, wobei insbesondere vielfältige Möglichkeiten der Abweichung von der Regel zu berücksichtigen sind. 151 Nach dem Siegeszug des Darwinismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vom kritischeren Vorgehen Darwins selber ganz unbeeindruckt) das Programm einer Entwicklungsgeschichte des Lebens von einer Forschungsmaxime in ein Dogma verwandelt habe 152, findet Cassirer tatsächlich erst in der zeitgenössischen Biologie, in den Schulen des „Holismus“ und „Organizismus“ bei Ungerer, Haldane und Bertalanffy wieder Ansätze, das kantisch-goethesche Wissensideal, wie er es versteht, konkret in der empirischen Forschung fruchtbar zu machen. 153 Während jedoch für diese damals noch ganz neuen Entwicklungen eine erkenntniskritische Analyse noch kaum zu leisten sei – „denn wir betreten ein Gebiet, wo noch alles im Fluss ist“ 154 –, so gilt das nicht für denjenigen Forscher, den Cassirer als den eigentlichen Pionier dieser Richtung im 20. Jahrhundert vorstellt und der deshalb überhaupt zur Schlüsselfigur für seine eigene Philosophie der Biologie avanciert, nämlich Jakob von Uexküll 155. Ausdrücklich zeichnet Uexkülls „Umweltforschung“ in Cassirers Augen aus, dass sie mit ihrer Rede von einer struktuIm Erkenntnisproblem zitiert Cassirer dazu aus Goethes Schriften Zur Morphologie: „Sehen wir immerfort nur das Geregelte, so denken wir, es müsse so sein, von jeher sei es also bestimmt und deßwegen stationär. Sehen wir aber die Abweichungen, Mißbildungen, ungeheure Mißgestalten, so erkennen wir: daß die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei; daß die Wesen, zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich in’s Unförmliche umbilden können, jederzeit aber, wie mit Zügeln zurückgehalten, die unausweichliche Herrschaft des Gesetzes anerkennen müssen.“ (zit. nach EP 4, S. 162). Es geht ihm hier ersichtlich wieder um die (in diesem Kontext naturphilosophisch zu verstehende) Korrelation von (Lebens-)Form und Freiheit, die schon Cassirers Monographie von 1914 postuliert und zu deren Erörterung sie mehr als nur einen Seitenblick auf Goethes Naturbetrachtung gerichtet hatte (siehe § 11). 152 Vgl. EP 4, S. 182 ff. 153 Vgl. EP 4, S. 245 ff. Im Einzelnen bezieht Cassirer sich auf John Haldane: The causes of evolution. Ithaca 1966; Emil Ungerer: Die Wissenschaft vom Leben. Freiburg 1954; Ludwig von Bertalanffy: Theoretische Biologie. Berlin 1932. 154 EP 4, S. 246. 151
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rellen „Planmäßigkeit“ des Organischen zu einer Fassung des Zweck- bzw. Zweckmäßigkeitsproblems zurückgefunden habe, gegen die Kants „»Kritik der Urteilskraft« . . . nichts einzuwenden gehabt“ 156 hätte – und dass sie mit ihrem dynamischen und auf Innerlichkeit zielenden Lebensbegriff zugleich der goetheschen „Grundanschauung . . . in jedem Punkte gemäß ist.“ 157 Im noch bis in die zwanziger Jahre dominierenden Vitalismusstreit innerhalb der Biologie nimmt Uexküll damit nach Cassirers Auffassung eine Art fruchtbare Mittelposition ein, indem er „methodischer Vitalist [ist], ohne metaph[ysischer] Vitalist zu sein“. 158 Sieht man sich das Programm der Uexküllschen „Umweltforschung“, soweit sich Cassirer auf sie bezieht, etwas näher an, dann wird schnell klar, was mit dieser Differenzierung gemeint ist: Empirisch stützt sich Uexküll vor allem auf Methoden der vergleichenden Anatomie und der beschreibenden Verhaltensforschung und kommt damit einerseits den Forderungen der erklärten Gegner des Vitalismus, der Mechanisten und Behaviouristen entgegen. Andererseits bleibt er aber bei deren theoretischen Positionen nicht stehen, sondern begreift die Einsichten in Aufbau und Verhaltensweisen der Organismen eher als einen Ausgangspunkt, von dem aus er versucht, im Abgleich mit den uns reflexiv zugänglichen Grundmustern (menschlicher) Subjektivität die spezifischen Erlebniswelten und Erlebensmodi der Individuen einer Gattung, ihre eigentümliche „Innenwelt“ und „Umwelt“ zu rekonstruieren, um so schließlich zu einer Vorstellung vom eigentümlichen „Sinn“ ihrer Lebensäußerungen durchzudringen. Indem er die „Baupläne“ vor allem ‚niederer‘ (wirbelloser) Tierarten, ihre arttypischen „Rezeptoren“ und „Effektoren“, sprich: sensorischen und motorischen Organsysteme studiert, versucht Uexküll das physiologische Zusammenspiel dieser Systeme als komplementäre Seiten einer in sich geschlossenen „Kette von Wirkungen“, eines alles empirisch zugängliche Leben des Organismus total bestimmenden „Funktionskreises“ zu verstehen. 159 Indem er dabei jedoch zugleich am vitalistischen Grundgedanken festhält, dass Krois stellt mit Blick darauf allgemeiner fest, dass „Cassirers late work was deeply indebted to Jakob von Uexküll“ (vgl. John Michael Krois: „Ernst Cassirer’s philosophy of biology“. In: Sign Systems Studies (2004), H. 1-2. S. 277–295, S. 279). 156 EP 4, S. 235. 157 EP 4, S. 237 (Ergänzung und Hervorhebung F. S.). – Cassirer legitimiert durch diese Auskunft gewissermaßen ex post seine schon im „Schlusskapitel“ zur „Metaphysik des Symbolischen“ begegnende Bezugnahme auf den Hamburger Kollegen als eine solche, die nicht etwa bloß dem Zufall der persönlichen Bekanntschaft geschuldet ist, sondern auf eine tiefere systematische Übereinstimmung zurückgeht. 158 „Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion“, in: ECN 5, S. 105–199: 162. Auf diese Charakterisierung verweist auch ebd., S. 286. 155
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eine bloß empirische Analyse an der Eigenart der Lebensphänomene vorbeisehen müsse, beansprucht er, von dieser empirisch verlässlichen methodischen Basis aus weiter zu einem innerlichen Verständnis der Lebensform einer Gattung in ihrer ‚Subjektivität‘, ihrer Eigenperspektivik und dem fühlend-involvierten Motivgrund ihres Richtungsverhaltens vorzudringen. Zu diesem Zweck dehnt Uexküll nun den Begriff biologischer Forschung – zur damaligen Zeit durchaus ein Novum 160 – auf die autökologische Untersuchung des Verhaltens der Tiere im Umweltkontext aus, dessen regelmäßige Muster der Forscher dann gemäß dem vom „Bauplan“ des Organismus her erschlossenen „Merknetz“ und „Wirknetz“ des Tieres als spezifische Formen der Verfolgung elementarer Lebenszwecke wie Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Verteidigung gegen Fressfeinde usw. deuten kann. 161 Auch wenn Uexküll sich in der Durchführung dieses Programms – trotz ausdrücklicher Skepsis gegen jede Form der psychologischen „Ausmalung“ 162 tierischer Erlebnismodi – selber nicht immer genügend von Anthropomorphismen freizuhalten vermag (was Cassirer an dieser Stelle freundlich verschweigt 163), so ist er sich doch im Ganzen der epistemologischen Problematik solcher ‚immanenten‘ Deutungen des Tierlebens anhand der (dem ethologischen Anschein nach) ‚für es selbst relevanten‘ bzw. (aufgrund seines spezifischen „Merknetzes“) als für das Tier überhaupt einzig existent zu denkenden Umweltfaktoren bewusst, und macht daher ihre Möglichkeit konsequent von der Fähigkeit des ForVgl. Jakob Johann von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Kommentierter Nachdruck der 2. Auflage von 1921. Hg. v. Florian Mildenberger / Bernd Herrmann. Berlin/Heidelberg 2014, S. 44–49 [62–67 der Neuausgabe]; vgl. auch EP 4, S. 233. Das Uexküllsche Funktionskreis-Modell ist unten in Schema D (i) wiedergegeben. 160 Vgl. z. B. Ilse Jahn (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Jena. 1998, S. 587 f. 161 Vgl. Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 45 f. [64 f. der Neuausgabe]. 162 ebd., S. 5 [23 der Neuausgabe]; vgl. auch ECN 1, S. 50. 163 Eine populärwissenschaftliche Schrift wie die Streifzüge, für die sich Uexküll nicht zu schade war, seiner Leserschaft die spezifischen „Weltsichten“ von Tieren in ‚hineinversetzenden‘ Bildern zu illustrieren, belegt, wie weit Uexküll der Versuchung anthropomorph-psychologischer Ausmalung zum Teil doch selbst erlag: Vgl. Jakob von Uexküll / Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin 1934. Interessanterweise scheint sich aber der sonst für epistemologische Stolperfallen aller Art überaus feinfühlige Cassirer an dieser Seite des Uexküllschen Werks kaum zu stören: Für ihn steht vielmehr das produktive „Verdienst dieser Forschungsrichtung“ (ECN 1, S. 41) innerhalb der Biologie im Vordergrund, wegen der er an sie schließlich auch seine eigene (und, wie wir sehen werden, ganz anders geartete) reflexive Deutung noch anknüpfen kann, ohne von den philosophisch-metaphysischen Tendenzen bei Uexküll selbst weiter Notiz zu nehmen. 159
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schers zur „erkenntniskritischen“ 164 Reflexion auf die Abhängigkeit auch der eigenen Weltauffassung von den Prädispositionen des menschlichen Organismus abhängig: eine perspektivische Selbstrelativierung des biologischen Wissens, für die er sich im übrigen konkret auf die kantische Transzendentalphilosophie beruft. Es ist dieser ganze Forschungsansatz und insbesondere Uexkülls Lehre von einem dem Anspruch nach immer eine ‚Subjektperspektive‘ einschließenden „Funktionskreis“ des Lebens, auf den Cassirer schließlich im Essay on Man auch in eigener Sache wieder zurückkommt. 165 Nur der Status dieses Rekurses bleibt dabei einigermaßen rätselhaft: Denn einerseits bedient Cassirer sich hier der Uexküllschen Theorie, um damit seinen eigenen zentralen anthropologischen Vorschlag einer Definition des Menschen als animal symbolicum zu motivieren, und scheint ihr insofern eine ziemlich prominente Rolle zuteilen zu wollen. Andererseits ist dieser Rekurs des Essay auf die Biologie so selektiv und wird von Cassirer in einer solchen Hemdsärmeligkeit an die Bedürfnisse der eigenen kulturanthropologischen Position angepasst, dass nur zu leicht der Anschein entstehen kann, als handle es sich hier um einen bloßen Gelegenheitseinfall von begrenzter Tragkraft. Wenn man sich aber einmal klarmacht, dass Cassirer in Wahrheit schon seit den Texten zur „Metaphysik der symbolischen Formen“ immer wieder auf Uexküll als seinen zentralen und – abgesehen von den ebenfalls seit den späten zwanziger Jahren mehrfach erwähnten tierpsychologisch-ethologischen Beiträgen Wolfgang Köhlers und Hans Volkelts 166 – nahezu einzigen Bezugspunkt innerhalb der zeitgenössischen Biologie zurückkommt, deren Entwicklungen er zwar spät, dann aber durchaus gründlich rezipiert hat, dann zeigt sich: Cassirers UexküllAffinität hat System – wobei sich das, was systematisch dahintersteckt, natürlich erst daran ablesen lässt, was Cassirer letztlich für die eigene anthropologische Position daraus macht: eben im Essay on Man sowie am diesem sachlich und zeitlich vorausgehenden, schon in Yale gehaltenen „Seminar on Symbolism and Philosophy of Language“ 167. Halten wir uns zunächst wieder an das veröffentlichte Werk und das Kurzreferat, das der Essay von Uexkülls Lehre vom tierischen „Funktionskreis“ gibt. Cassirer lobt diese Theorie hier als „a very ingenious and Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 217 [235 der Neuausgabe]. Vgl. EM 28–31 /VM 47–51. 166 Vgl. Wolfgang Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Berlin 1973. Mit einem Anhang „Zur Psychologie des Schimpansen“; Hans Volkelt: Über die Vorstellungen der Tiere. Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie. Leipzig u. Berlin 1914. 167 In: ECN 6, S. 189–343 ( im Folgenden zitiert als ‚SSPL‘). 164 165
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original scheme of the biological world“ 168, um daran die Frage anzuschließen, ob sich auch die menschliche Stellung zur Welt in ähnlicher Weise schematisieren lasse. Seine Antwort ist ein qualifiziertes „Ja, aber“: „Obviously“, schreibt Cassirer im Essay, „[the human] world forms no exception to those biological rules which govern the life of all the other organisms. Yet in the human world we find a new characteristic which appears to be the distinctive mark of human life. The functional circle of man is not only quantitatively enlarged; it has also undergone a qualitative change. Man has, as it were, discovered a new method of adapting himself to his environment. Between the receptor system and the effector system, which are to be found in all animal species, we find in man a third link which we may describe as the symbolic system. This new acquisition transforms the whole of human life. As compared with the other animals man lives not merely in a broader reality; he lives, so to speak, in a new dimension of reality. There is an unmistakable difference between organic reactions and human responses. In the first case a direct and immediate answer is given to an outward stimulus; in the second case the answer is delayed. It is interrupted and retarded by a slow and complicated process of thought.“ 169
Man kann es kaum anders als irritierend nennen, wie Cassirer hier das komplexe Uexküllsche Funktionskreismodell des Organischen zunächst in der Sache unterschreibt, nur um es dann in seiner Adaption für den menschlichen ‚Lebenskreis‘ – noch dazu in Form knappster Andeutungen – durch die Einführung eines „dritten Glieds“ zwischen Merk- und Wirknetz völlig auf den Kopf zu stellen. Die ganze Pointe des Modells, wie Uexküll es aufgestellt hatte, bestand nämlich gerade in der Behauptung einer präzisen Entsprechung von Merk- und „Wirkmalen“, von der EM 28. EM 29. Das Seminar wird mit Blick auf die Integration des Menschen in die Biologie deutlicher, vgl. SSPL 256: »We may without difficulty subsume the life of man in all its various forms and in all its special activities under the general rules that hold good for all organic life. The law of continuity remains in full vigour. For what are all the works of man, what are language, art, religion, science except very complicated systems of responses, given to those questions that are incessantly put to men by their surroundings – by their individual and social life? . . . Life and spirit do not belong to different spheres of existence. We need not transcend the realm of nature in order to reach the realm of spirit. But the law of continuity cannot be interpreted in such a sense as to forbid and exclude fundamental changes between the various series of things and events.« Ebd., S. 259: »We may perfectly admit that when we pass from one sphere to the other we find no sudden breach of continuity. But ›evolution‹ itself . . . means a qualitative change, . . . a new movement and as it were a new direction of organic life.« 168 169
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je an spezifische Wahrnehmungskonditionen geknüpften „Innenwelt“ des Organismus und seiner „Umwelt“, verstanden als Gesamtheit der Ziele, die jedes Lebewesen durch seine Eigenbewegungen verfolgen kann. Gerade diese pragmatisch-funktionale Geschlossenheit des WahrnehmungsVerhaltens-Kreises, die (relative) Unmittelbarkeit der Antwortreaktionen auf äußere Stimuli und ihre (relative) Vorhersehbarkeit aus ihnen bei gegebenen anatomischen Bedingungen bestreitet Cassirer nun aber für den Menschen auf das Entschiedenste: So lässt, wie Cassirer schon 1929 für sich festgestellt hatte, das ganze Modell, das er zwar als biologisches fast ohne Abstriche begrüßt, „uns im Stich, sobald wir uns dem Grundproblem einer “ philosophischen Anthropologie” zuwenden.“ 170 Andererseits müssen wir auch nicht lange nach dem Anknüpfungspunkt suchen, von dem aus sich auch die positive Bedeutung gerade dieser biologischen Theorie für Cassirers Philosophie des Menschen erschließt: Womit sollte auch Cassirers funktionale Auffassung des Wissens, womit deren Ausweitung zu einer durchweg praktisch begriffenen Kulturphilosophie besser kompatibel sein als mit einer am Verhalten der Tiere orientierten, zugleich aber an den mathematisch-mechanischen Grundlagen unserer Naturerkenntnis festhaltenden Theorie des organischen Lebens? In der Tat lässt sich gerade dann, wenn man Cassirers im Essay begegnenden Gedanken eines im organischen Funktionskreis ‚zwischengeschalteECN 1, S. 41: „Denn für diese [die philosophische Anthropologie, F. S.] ist der Begriff des Menschen nicht durch bestimmte aufzeigbare Merkmale seiner Struktur, sondern durch den Inbegriff, durch die Totalität seiner Leistungen bestimmt. Und die Gesamtheit dieser Leistungen lässt sich keineswegs einfach am “Bauplan” des Menschen, etwa am Bauplan des Gehirns und des Nervensystems, ablesen.“ – Der durch Cassirers generelle These von der ausnahmslosen Kontinuität der organischen Lebensformen geforderte Gedanke, dass auch die geistigen Vermittlungsfunktionen des Menschen ihre Vorformen und Vorstufen haben, zu denen sich wenigstens Analoga bei anderen Spezies finden lassen müssten, wird hingegen nur sehr selten von ihm konkretisiert. Der Fortgang der zitierten Passage im „Schlusskapitel“ von 1929 enthält aber zumindest eine Andeutung in diese Richtung und legt zugleich nahe, dass dieses Versäumnis eigentlich eher mit Uexkülls Spezialisierung auf die Erforschung der Wirbellosen zusammenhängen könnte: „Uexküll hat seine Forschungen vor allem im Gebiet der niederen Tiere durchgeführt – und aus den Resultaten, die er hier gewonnen hat, ist jenes allgemeine Schema abgeleitet, durch welches er den “Funktionskreis” der Lebewesen bezeichnet. . . . Das Tier bemerkt . . . kein Objekt ausser einem solchen, das in irgend einer Weise in den Umkreis seines Wirkens hineinfällt, das als Auslösung für eine bestimmte Aktion in Betracht kommt. Die Richtung dieser Aktion und ihr spezifisches “Interesse” ist dasjenige, was die Art seiner Gegebenheiten, seiner “Gegenstände” bestimmt. Eben diese Geschlossenheit des “Funktionskreises” . . . scheint sich indess um so mehr zu lockern, je mehr wir uns der Welt des Menschen nähern, – bis zuletzt in dieser Welt selbst, das Band, das überall sonst die Einheit des Organismus ausmacht, geradezu gesprengt zu werden scheint.“ (ECN 1, S. 41 f., Kursivierung F. S.). 170
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Schema D: Der Funktionskreis des Lebens: (i) in der Uexküllschen Urfassung (nach „Umwelt und Innenwelt“, S. 45 [63], Abb. 3); (ii) von mir ergänzt um das elementare Ausdrucksverhalten ‚höherer‘ Tiere im organisierten Zusammenspiel aus Eigen- und Fremdausdruck. Beim Menschen (iii) kommt es auf dieser Grundlage zur poietischen Weiterverarbeitung der sinnlichen Welterfahrung in kulturellen Symbolen – im Schema des ‚Funktionskreises‘ in Form einer zusätzlichen Schleife, eines ‚Umwegs‘ abgebildet – und schließlich (iv) zur charakteristischen Fokalverschiebung des Lebens auf die symbolischen ‚Umwege‘ selbst, die sich intern gemäß Cassirers Stufenmodell der Symbolfunktionen immer weiter ausdifferenzieren und den Bezug auf Naturzwecke am Ende fast wie einen bloßen Appendix erscheinen lassen.
ten‘ „Symbolnetzes“ beim Menschen mit seiner Theorie der aufeinander aufbauenden „Symbolfunktionen“ Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung aus der Philosophie der symbolischen Formen in geeigneter Weise zu einer anthropologischen Gesamttheorie kombiniert, die im Essay allein schwer aufzulösende Doppelbehauptung einer Kontinuität und einer spezifischen Differenz des Menschen gegenüber der „Welt des Organischen“ begreifen (Schema D). Die Ausdrucksfähigkeit des lebenden Organismus erschiene in einer solchen Perspektive genau als das, was schon der dritte Band des Hauptwerks in Aussicht gestellt hatte: als diejenige „Brücke“ des Verstehens, die in der Funktion einer alle Gattungsgrenzen transzendierenden Artikulations- und Kommunikationsform zugleich auf eine fundamentale
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Sinngemeinschaft der Wesen in ihren elementarsten Lebensansprüchen verweist. 171 Auch unser Welterleben und Weltverhalten wurzelt schließlich bei Cassirer in einer sinnlich-wahrnehmenden, fühlend-involvierten und affektiv-responsiven Urschicht, die im Tierreich, besonders bei den höheren Säugetieren, ihre strukturellen Entsprechungen hat. Der Sinn tierischen Verhaltens ist uns infolgedessen weder, wie der strenge Behaviourismus behauptet, so radikal unverständlich, dass wir uns überhaupt jeder Deutung zu enthalten hätten, noch dürfen wir freilich alle unsere Kategorien unmittelbar auf dasselbe projizieren; verstehen können wir es dennoch, und zwar dank seiner strukturellen Analogien mit dem, was sich der transzendentalen Reflexion als expressiv-emotionales Fundament auch aller menschlichen Sinngebung offenbart hat. 172 Denn hinter dem „Urphänomen“ des Ausdrucks steckt eben nicht mehr und nichts anderes als die Leiblichkeit bzw., um in Cassirers Terminologie zu bleiben, die Leib-Seele-Einheit des Organismus selbst, dessen (unmittelbar zwar nur ihm selbst fühlbarer) ‚innerer Zustand‘ samt eventuellen Verhaltensneigungen an den lebendigen Äußerungen seiner Physiognomie unmittelbar anschaulich wird. Ein solches erwartendes Verstehen bloß anhand des jeweiligen Präsenzeindrucks, ganz fern jeder Eindeutigkeit, scheint freilich eher dem Raten als dem Wissen verwandt und muss deshalb mit der Wahrheit des Verstandenen (oder dem Eintreffen des Erwarteten) durchaus nichts zu tun haben; aber gerade weil es in dieser Weise immer ‚spekulativ‘ und also auch im negativen Sinne ‚mythisch‘ bleibt 173, lassen sich die Elementarleistungen dieses ‚intuitiven Verstandes‘ (der also gerade nicht, wie im Grenzbegriff eines intuitus originarius vorgesehen, automatisch richtig liegt) auch anderen Wesen zuschreiben, die weder über die komplexen Deutungsapparate der Kultur noch über die besondere Konstitution der menschlichen Sinnlichkeit verfügen. 174 Gehalt- und sinnvoll wird eine solche Zuschreibung dann, wenn man anerkennt, dass es hier nicht etwa nur um die allergrundlegendsten AusPhsF 3, S. 72. Siehe oben S. 214 ff. Vgl. dazu § 21. 173 Vgl. dazu noch einmal Cassirers Auseinandersetzung mit Vignolis Identitätsthese über tierische und mythische Vorstellungsarten in ECN 1, S. 65 f.: Aus der Tatsache, dass sich Cassirers Argument gegen diese Identifizierung nur gegen die Unterschätzung der positiven Leistungen des Mythos richtet, in denen er prinzipiell über alles tierische Weltverstehen hinausgehe, lässt sich umgekehrt auch der Schluss ziehen, dass er ihr im Negativen mehr abgewinnen kann, sofern die Mängel des mythischen Denkens ja auch ihm wesentlich als Symptome einer Verhaftung im ursprünglichen sinnlichen Erleben und in der Präsenz des darin jeweils als bedeutend Erlebten gelten, wie er es regelmäßig auch im tierischen Umweltverhalten erkennt. 174 Siehe Kapitel 4.6. 171 172
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drücke von Lust und Leid, Lockung und Drohung, Appetition und Flucht geht, an denen ja schon die Pflanzen mindestens einseitigen Anteil haben, und die schon den Tieren (zumindest solchen, deren „Merknetz“ ihre jeweilige Wahrnehmung vorsieht) so universell verständlich zu sein scheinen, dass ihre Wahrnehmung überall (von den mit hineinspielenden ‚Rollenunterschieden‘ der Individuen und Arten wie Raubtier/Beutetier, ranghöheres/rangniederes Sippenmitglied etc. einmal abgesehen) äquivalente Ausdrucks- und Verhaltensreaktionen freisetzt. Es macht einen viel zu wenig gewürdigten Vorzug von Cassirers transzendentalphilosophischer Strategie des Umgangs mit der lebendigen Natur aus, dass er sich von seiner begründeten Skepsis gegenüber Versuchen, tierische und mythische Verstehens- und Verhaltensweisen pauschal miteinander zu identifizieren, nicht daran hindern lässt, im Einzelnen überall auf Parallelen in den Befunden der ‚Völker-‘ und der ‚Tierpsychologie‘, der Ethnologie und der Ethologie hinzuweisen und damit den Mythos zugleich als den eigentlich natürlichen Mutterboden aller Kultur verständlich zu machen. 175 Das Faktum der mythischen ‚Pathosformeln‘, die sich über Generationen und ganze Kulturen hinweg in ihrem funktionalen Bestand erhalten, markiert so gesehen nicht nur einen Schritt zur Überwindung des hypothetischen ‚Naturstands‘ des Menschen; sondern auch umgekehrt beweist die emotionale Wucht, die diesen Elementarausdrücken kulturellen Sinnbewusstseins ihre Dauerhaftigkeit erst verleiht, dass in ihnen zum Ausdruck kommt, was für uns als Lebewesen ursprünglich sinnvoll ist – und zwar nicht ‚irgendwie‘ sinnvoll, sondern in einer solchen situativen Spezifik, dass das expressive Spektrum dieser Bildungen sich geradezu dazu anbietet, an ihrer Hand die Totalität der ‚natürlichen‘ Sinnrichtungen menschlichen Lebens zu rekonstruieren. 176 Aus dem ‚Pathos‘ eine ‚Formel‘ zu machen oder, wie Cassirer schreibt, „Gefühl in Bild [zu wandeln]“ 177, bleibt freilich eine Prärogative des Menschen; mit dem Pathos selbst aber und seiner Kommunizierbarkeit durch das Ur- und Leibphänomen des Ausdrucks stehen wir im Ganzen der natürlichen Welt ebenso wenig alleine da wie mit den dazugehörigen rezeptiven Potentialen, die bei den sogenannten ‚höheren‘ Tierarten immer wieder auf die Frage führen, ob hier nicht Anfänge echt symbolischen Verhaltens zu beobachten sind. 178 Das „Schlusskapitel“ spricht in diesem Sinne sogar ausdrücklich vom „mythischen Funktionskreis“: vgl. ECN 1, S. 73. 176 Vgl. dazu Krois: „Die Universalität der Pathosformeln“. 177 Ernst Cassirer, Vom Mythus des Staates, Meiner 2002, S. 60 (Kursivierung F. S.). 178 Angesichts neuerer Forschungen, die bei halb wilden Bonobo Leistungen im manipulierenden Umgang mit arbiträren Zeichen belegen, die in Geschwindigkeit und Sicherheit den menschlichen bei weitem überlegen sind, wird man diese Frage heute 175
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Allerdings wird bei aller Verfeinerung, der diese Art tierischer ‚Empfänglichkeit‘ mit zunehmender Differenzierung der Sinnesorganisation, auch mit entsprechender Konditionierung durch den Menschen fähig ist, die konstitutive Geschlossenheit des tierischen „Funktionskreises“ nach Cassirer durch solche Steigerung nirgends durchbrochen. 179 So eng bleibt hier der Eigenausdruck mit der vitalen Momentanverfassung des Organismus und seinen arttypischen Verhaltenszielen verknüpft; so sehr bleibt hier noch in allen „Umwegen“, die nach Cassirer auch schon die „praktische Intelligenz“ höherer Tierarten einschlagen kann 180, jedes Verständnis von Ausdruck am anderen Individuum von den Wahrnehmungs- und Bewegungsdispositionen der Gattung, von ihrem eigenen naturgewachsenen „Merknetz“ und „Wirknetz“ abhängig, dass die Einschaltung eines dritten Glieds in der Funktionskette für Cassirer (darin noch ganz auf Uexkülls Linie) an dieser Stelle noch durch nichts gerechtfertigt wäre. Es scheint mir letztlich dieser Punkt zu sein, auf den die terminologischen Unterscheidungen des Essay zwischen „animal reactions“ und „human responses“ sowie zwischen „signs“ und „symbols“ als den respektiven Medien beider Kommunikationsformen abheben: Auch wenn die Basis des kommunikativen Umgangs mit der Lebenswelt bei allen ‚höheren‘ Tierarten strukturell dieselbe ist – nämlich das Zusammenlaufen der Funktionen expressiver Präsenz und perspektivischer Sensibilität in ein und demselben Organismus –, so kommt es doch beim Menschen zu einem charakteristischen Funktionsumschlag, durch den das Leben im Ausdruck, das bloße ‚Haben‘ von Ausdrucksqualitäten am eigenen Leib (bzw. sein ausdruckshaftes ‚Sosein‘, wie es schon für das pflanzliche Leben zu konstatieren ist) und das spätestens im Tierreich komplementär hinzutretende physiognomische Verstehen von Ausdruck am Anderen in seine kaum noch verneinen können. (Tetsuro Matsuzawa (Hg.): Primate Origins of Human Cognition and Behavior. 2001; siehe auch die im Rahmen des Ai project veröffentlichten Videos, online zu finden unter http://langint.pri.kyoto-u.ac.jp/ai/en/gallery-publication.html.) Aber auch Cassirer findet im Essay on Man keine größere Schwierigkeit in der Bestätigung der Alltagserfahrung, »that some animals, especially domesticated animals, are extremely susceptible to signs [such as] the expressions of a human face or the modulations of a human voice« (EM 36, Kursivierung F. S.). 179 Vgl. EM 37: »The famous experiments of Pavlov prove only that animals can easily be trained to react . . . to all sorts of mediate or representative stimuli. . . . But from this we learn only that the experimenter . . . has succeeded in changing the . . . situation of the animal . . . by voluntarily introducing into it a new element. All the phenomena which are commonly described as conditioned reflexes are not merely very far from but even opposed to the essential character of human symbolic thought.« 180 EM 38; vgl. auch GL 197. – Die Rede von der praktischen Intelligenz übernimmt Cassirer von Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 29 ff.
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eigentlich aktive Gestaltung übergeht – in die Schaffung von ‚Symbolen‘, die sich schon dort, wo sie physisch noch ganz dem menschlichen Leib angehören, eben durch diesen schöpferischen Charakter radikal von aller Naturgewachsenheit abheben. Schon mit diesem einen Schritt in die Freiheit schlägt das Leben im Menschen eine ganz neuartige Richtung der „Produktivität“ ein, die – und hier behält wieder Cassirers Insistenz auf der Diskontinuität von menschlichen und tierischen Lebensformen ihr Recht – mit der biologischen Reproduktion der Organismen, aber auch mit den z. T. erstaunlichen Fähigkeiten verschiedener Arten zur Hervorbringung von Werkzeugen, Bauten, Fallen usw. nur noch die Gemeinsamkeit einer begrenzten (allerdings verführerischen) Analogie hat. 181 Denn weil es sich hier weder um die leibliche Expressivität des Individuuums als solche, noch um seine sei es generisch-ererbte, sei es spontan auftretende pragmatische Findigkeit in der Bewältigung konkret begegneter Lebensaufgaben handelt, sondern um den systematisch verfolgten poietischen Transfer von Ausdruck auf öffentliche Medien (unter die dann allerdings auch der sich selbst gegenständlich gewordene organische Leib wieder fallen kann), ist der Ausdruck als menschlicher Ausdruck immer schon auf dem Wege zur „Darstellung“ – und dient deshalb selbst nicht mehr primär der pragmatischen Erreichung eines vorab biologisch-gesetzten Lebenszwecks auf dem kürzestmöglichen Weg. In diesem Sinne genommen, verlieren Cassirers Reden von einer für die Welterfahrung des Menschen zu reservierenden „neuen Dimension der Wirklichkeit“ und von der „Umkehrung der natürlichen Ordnung“, die sich an ihr zeige, 182 viel von ihrer Paradoxie. Tatsächlich lässt sich das qualitativ Neue eines Verhaltens, das quer zu aller naturgewachsenen Prädetermination seine eigenen Zielsetzungen zu entwickeln beginnt, nur leugnen, wenn man bereit ist, dafür die offenkundigen, die gesamte Sinnordnung betreffenden Differenzen von tierischem und menschlichem Leben zu nivellieren. Die Anerkennung eines solchen ‚qualitativen Sprungs‘ Im Schlussabschnitt des Essay on Man findet sich eine Passage, in der Cassirer noch einmal diesen Punkt klarzustellen sucht: „[W]hen we arrive at the higher stages of animal life . . . we meet the first traces of a certain individualization. . . . One [animal] may be able to solve a task which for another remains insoluble. And here we may even speak of individual »inventions«. For the general structure of animal life, however, all this is irrelevant [because] acquired characters are not capable of hereditary transmission. Every perfection that an organism can gain in the course of its individual life is confined to its own existence and does not influence the life of the species [whereas human modes of expression] have a life of their own, a sort of eternity by which they survive man’s individual and ephemeral existence.“ (EM, S. 240, meine Hervorhebung.) 182 EM 29 f. 181
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läuft aber durchaus nicht auf die Annahme eines Dualismus zweier Welten hinaus, in denen Mensch und Tier grundsätzlich und überall völlig aneinander vorbei leben müssten (ein Gedanke, der angesichts der auch von Cassirer immer wieder mit Goethe betonten 183 anatomischen Konvergenzen ihrer ‚organischen Substanz‘ tatsächlich vollkommen abwegig wäre). Sie fordert vielmehr einen Wechsel der methodischen Perspektive und mit ihr – der Symbole, in denen die anthropologischen Erkenntnisse artikuliert werden. Weil wir es beim Menschen nicht länger mit bloß generischen Verhaltensmustern zu tun haben, sondern mit einem von Anfang an wirksamen und mit wachsendem Bewusstsein auch gegenüber den Artgenossen immer entschiedener eingeforderten Zug zum individuellen Handeln aus freien Stücken: deshalb kann die schematische Konstruktion eines bestimmten Ablaufs des Lebens und seiner Produktivität, und sei sie noch so komplex veranschlagt, hier nicht länger genügen und ist durch die Reflexion auf die prinzipiell unabgeschlossene Vielfalt seiner möglichen Realisierungen zu ersetzen. Wenn also Cassirer eine solche Reflexion mit dem generalisierenden Fokus auf die Kultur und den an ihr abzulesenden ‚Symbolismus‘, seine ‚Form‘ und seine ‚Strukturgesetze‘ entwickelt, so steht doch in ihrem sinnmäßigen Zentrum überall der freihandelnde Einzelne – insbesondere der durch jene Reflexion angesprochene, dessen Selbstbewusstsein als eines solchen, und zwar in seiner konstitutiven Bezogenheit auf die Gesamtheit seinesgleichen, Cassirer gerade durch die Orientierung an jenen ‚abstrakten‘ Kategorien gegenüber dem ‚So-ist-es‘ eines offenen oder verdeckten Essenzialismus zu sichern sucht. Ohne dass er diese Implikation eigens thematisieren würde, ist seine Generalreflexion auf die kulturellen Symbolsysteme und die in ihnen je zum Durchbruch gelangenden Bewusstseinsstufen in diesem Sinne mit Blick auf das Verhältnis von ‚Selbst‘ (Mensch) und ‚Gegenstand‘ (Welt) dazu angetan, mit der Wissenschaft auch die Biologie und mit der Biologie auch das Funktionskreis-Modell des Lebens als rein symbolische Ausdrücke unserer Natur- und Selbstdeutung wieder einzuholen (Schema E). Erst das Bewusstsein von der Selbstgemachtheit dieses wie aller anderen Selbstbegriffe schafft hier, zusammen mit dem Wissen um das Spektrum kultureller Ausdrucksoptionen, die nötige Distanz, aus der sich die naturalistischen Reduktionen des Individuums auf das Gattungsleben, der Gattung auf die als determinabel vorgestellten Individuen beide vermeiden lassen. In dieser Perspektive erscheint das vermeintliche ‚Naturfundament‘ alles tierischen und menschlichen Lebens (das biologisch in der Tat 183
Vgl. z. B. SSPS 252.
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Schema E: Entwicklung der menschlichen Selbstdeutung im Medium des kulturellen Symbolismus.
gerade als ein solches intendiert sein musste, wenn es nicht allen Erkenntnisanspruch aufgeben soll) freilich eher als eine ideelle Speerspitze der Forschung am „Höchste[n], was wir von Gott und der Natur erhalten haben“ – und Cassirer eigene anthropologische Fortschreibung des Modells als derjenige „first point of departure“ 184, als welcher sie von ihm selbst deklariert wird, m.a.W.: als eine bloße Hypothese zur weiteren Erforschung des Menschen, die dem Naturalismus im Gedanken vom animal symbolicum einen Formbegriff des Menschen entgegensetzt, der selber wieder nur – symbolisch zu verstehen ist. Weil nun ein solcher Form- und Symbolbegriff des Menschen systematisch gleichsam zwischen Individual- und Gattungsbestimmung angesiedelt ist und die natürlichen Anlagen der Gattung, die sich entwickelnden Selbstverständnisse der Person als je-einzelner und die Wiederanknüpfung des Individuums an einen Begriff des natürlich-kulturellen Handelns gleichermaßen repräsentiert, spricht vieles dafür, die funktionale Differenz von Handeln und Verhalten als eine inklusive zu begreifen, die sich (als nur reflexiv einzusehende) zuletzt auch am Menschen selbst wiederfinden muss: Dem Menschen, als dem einzigen „der Form fähigen“ Wesen 185, das sich aus demselben Grund als Person begreifen kann, steht es eben in einem sehr wesentlichen Sinne frei, ob, und wenn ja, auf welchen direkteren oder indirekteren Wegen er die von ‚seiner Natur‘, von 184 185
EM 32. Vgl. ECN 1, S. 44 und 66 f.
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Trieb und Neigung an ihn herangetragenen Zwecke verfolgen will, oder ob er sich vielmehr stattdessen (unter entsprechenden persönlichen wie arbeitsteilig-kulturellen Vorkehrungen zur Existenzsicherung) primär der kulturellen Sinnarbeit, der Entwicklung und Verfeinerung der Symbolsysteme verschreibt, auf deren differenzierter Vielfalt auch die Möglichkeit verschiedener Lebenswege jederzeit beruht. Die arttypische irreversible Wahlfreiheit des Menschen, die sein Verhalten erst zum Handeln macht, schlösse also in diesem weiten anthropologischen Sinn einerseits die Möglichkeit ein, inhaltlich trotzdem von dem auszugehen, was ihm durch seine psychophysische Konstitution im Einzelnen anempfohlen wird, und ist andererseits auch in ihren ganz davon unabhängigen ‚ideellen‘ Absichten nur möglich durch entsprechende Techniken des Umgangs mit natürlichen Dispositionen. Das Wesen, das nur allzu gern für seine Gattung ‚Sonderwege‘ reklamiert und doch unmöglich eine absolute „Ausnahme“ von den biologischen Grundsätzen bilden kann, kann also gar nicht anders, als sich mit seiner Natur wenigstens immer wieder auseinanderzusetzen, und zwar sowohl im Anfang (in dem, was durch Askese oder Aufschub, Verzicht oder Hemmung, Unterdrückung oder ‚sublimierende‘ Transformation erst kulturell fruchtbar zu machen ist) als auch am Ende aller seiner kulturellen ‚Umwege‘ (dort, wo sie auf gewisse nicht auf ewig negierbare Elementarbedürfnisse des existierenden Lebens treffen). Genau das scheint mir denn auch in der Tat die Botschaft zu sein, die uns der Kulturphilosoph Cassirer mit seinem Sicheinlassen auf ein erweitertes Funktionskreis-Schema des menschlichen Lebens vermittelt: Die symbolischen Formen, in die sich der Mensch aus freien Stücken „einspinnt“ 186, und an die er sich als Mängelwesen der Unmittelbarkeit zugleich im eigenen Vernunftinteresse halten muss, müssen sich bei aller Geistigkeit immer auch als pragmatische Mittel zur Bewältigung seines Lebens verstehen lassen, in das sie insofern genauso regelmäßig wieder eingehen, wie sie aus ihm faktisch hervorgehen. Für Cassirer aber liegt das Entscheidende und die wichtigere Botschaft, die es philosophisch zu verbreiten gilt, darin, dass unsere symbolischen Leistungen trotzdem nie als in dieser Dimension aufgehend gedacht werden dürfen: Denn nur sofern sie gerade nicht bloß als pragmatische Mittel, sondern (in ihrer Funktion als kulturelle Repräsentanten des Menschen selbst im Umgang mit seinesgleichen) als Zwecke sui generis in Betracht kommen, erschließen sie ihm jene immer neuen und von jedem Bezug auf seine biologische Bedürftigkeit prinzipiell unabhängigen Tätigkeitsfelder, in denen er anstelle der 186
Vgl. PhsF 3, S. 17; auch EM 30.
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Erfüllung eines biologisch-vorgeschriebenen Verhaltensprogramms sozusagen an der Freiheit der Menschheit selber weiterarbeiten kann, indem er – seine eigene, durch die Kulturgeschichte je schon in ihren Möglichkeiten vorbereitete Freiheit in Anspruch nimmt. § 29 Grenzen der Cassirer’schen Naturphilosophie Man muss sich diesen archimedischen Punkt der Cassirer’schen Anthropologie: die Auszeichnung der Freiheit als des wesentlichsten Gattungsmerkmals des Menschen immer wieder in allen Konsequenzen verdeutlichen, um auch in den drei großen Unzulänglichkeiten von Cassirers Philosophie der Biologie mehr als bloße Defizite, sondern vielmehr den Ausdruck echter sachlicher Schwierigkeiten zu erkennen. So sucht er etwa erstens im Bemühen, seine Behauptung einer scharfen qualitativen Differenz zwischen menschlichem und tierischem Leben mit der naturgeschichtlichen Perspektive einer kontinuierlichen Evolution der Lebensformen zu versöhnen, in den Schriften der vierziger Jahre vermehrt den Anschluss an Hugo de Vries, der in seiner Mutationstheorie die Auffassung einer spontanen oder »sprungweisen« Entstehung neuer Arten vertreten hatte. 187 Aus Cassirers Perspektive musste eine solche Theorie zweifellos etwas Verlockendes an sich haben, versprach sie doch sozusagen eine Naturgeschichte der Arten nicht im Gegensatz zu, sondern gerade aufgrund der Einsicht in die Einzigartigkeit der Individuen, und schien damit gerade die Lücke in Cassirers Naturkonzeption zu schließen, die sich schon in seiner Rezeption der Kritik der Urteilskraft offenbart und seither nicht verkleinert hatte. Aber wenn Cassirer infolgedessen in der Mutationstheorie die eigentlich »moderne« Fassung des Evolutionsgedankens sieht und sie der Darwin’schen Vorstellung einer allmählichen Akkumulation kleiner Veränderungen wie eine ganz unabhängige Theorie entgegenstellt 188; wenn er zudem in der ganzen Art seiner Auseinandersetzung deutlich macht, dass ihn am Evolutionsproblem insgesamt eigentlich nur die Alternative von ›stetigem‹ oder ›diskretem‹ Formwandel interessiert 189 – dann geht er damit an einer der wichtigsten EinHugo de Vries: „Grundlinien der Mutationstheorie“. In: Die Naturwissenschaften (40 1916). S. 593–598, S. 594.: „Die Vorstellung eines sprungweisen Entstehens der Arten hat die Auffassung einer ganz langsamen Entwicklung der Organisation, mittels unsichtbar kleiner Stufen und als Folge der Ansprüche der umgebenden Welt, zu ersetzen.“ ders.: Die Mutationstheorie. 2 Bde. Leipzig 1901, 1903 – Zu Cassirers Anknüpfungen an diese Theorie vgl. LKW 460 f. und SSPL 259. 188 Vgl. ebd. 187
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sichten Darwins vollkommen vorbei, an der auch die Mutationstheorie ausdrücklich festhalten wollte 190: nämlich an der Einsicht, dass als Gegenstand jeder Theorie der Evolution, die sich selbst in ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ernst nimmt, ohnehin gar nicht die zufälligen Metamorphosen des Lebens infrage kommen – seien sie nun ›klein‹ oder ›groß‹, ›graduell‹ oder ›sprunghaft‹ –, sondern immer nur diejenigen wesentlichen Totaländerungen seiner Gestaltungen und Funktionsweisen, die sich in der existenziellen Konkurrenz der Wesen gegenüber den Mechanismen »natürlicher Selektion« – d. h. aber ja nichts weiter als: unter den Bedingungen und Härten ihres materiellen Zusammenlebens in derselben Welt – als überlebenswichtig für die Gattung erweisen. 191 In ihrem vernünftigen Kern bietet diese Konzeption der lebendigen Natur also für die zwar immer wieder an sie gerichteten übertriebenen Erwartungen, die enorme Diversität der Erscheinungsformen des Lebens bis in die letzten Einzelheiten ‚erklären‘ zu können, eigentlich gar keine Grundlage: Schon im »Schlusskapitel« von 1929 hatte Cassirer in diesem Sinne, allerdings ohne de Vries namentlich zu erwähnen, festgestellt, dass »im Gebiet des geistigen Werdens . . . nicht sowohl das Gesetz der Evolution als vielmehr das Gesetz der Mutation« herrsche: ebd., S. 39. 190 ders.: „Grundlinien der Mutationstheorie“, S. 594.: „Neue Merkmale entstehen nach ihr [der Mutationstheorie, F. S.] nicht, weil sie später nützlich werden können, und werden nicht aus diesem Grunde zu allmählich steigender Vollkommenheit ausgebildet. Solches mag wohl von den Gruppen von Merkmalen gelten, welche die auffallend schönen Anpassungen im Pflanzen- und im Tierreich bilden. Hier züchtet der Kampf ums Dasein in der bekannten Weise, indem er das örtlich Günstige erhält und jene neu aufgetretene ungünstige Mutation ausmerzt. In dieser Weise leitet der Kampf allmählich zu jener stattlichen Anhäufung günstiger Eigenschaften, welche zusammen die prachtvollen Organisationen der Orchideen, der Schlingpflanzen, der insektenfressenden Pflanzen und so mancher anderen Gruppen bilden. Aber auf die Entstehung der einzelnen Faktoren dieser sehr zusammengesetzten Bildungen wirft diese Theorie kein Licht. Hier muß die Mutationstheorie eintreten. Tatsächlich liegt ihr wissenschaftlicher Wert, abgesehen von der experimentellen Seite der Frage, in der Aufhebung der zahlreichen Schwierigkeiten, welche der alten Vorstellung anklebten, und welche während so vieler Jahrzehnte als Waffen gegen diese und damit gegen die ganze Abstammungslehre gebraucht worden sind.“ 191 Noch der Essay on Man äußert die – ihrerseits allenfalls formal richtige – Ansicht, dass die moderne ›Entwicklungslehre‹ gegenüber der klassischen aristotelischen Kontinuitätsperspektive keine wesentliche Neuerung enthalte: EM 23 f.: »The theory of evolution in a general philosophical sense was by no means a recent achievement. It had received its classical expression in Aristotle’s psychology and in his general view of organic life. The characteristic and fundamental distinction between the Aristotelean and the modern version of evolution consisted in the fact that Aristotle gave a formal interpretation whereas the moderns attempted a material interpretation. . . . Modern thinkers have held that . . . they have definitely succeeded in accounting for organic life as a mere product of chance.« 189
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Denn auch wenn in der Tat keine Theorie der natürlichen Entwicklung denkbar ist, die nicht in irgendeiner Stelle auf teleologische Deutungen zurückkommen müsste, so ist doch die vom Empiriker Darwin zugrunde gelegte Teleologie eine primär negative Teleologie, die weit eher vom Begriff des unter jeweiligen Umweltbedingungen Unzweckmäßigen als von irgendwelchen untergeschobenen Zweckbestimmungen der Organismen ausgeht. Vor allem der Blick auf die freilich unschönen, aber allemal realen Grenzfälle des Aussterbens von Arten kann deshalb den potentiellen Erkenntnisgewinn verdeutlichen, den die (zeitweise) Übernahme einer evolutionären Perspektive selbst demjenigen verspricht, der gegenüber Darwins eigenen metaphorischen Formulierungen wie gegenüber denen seiner Nachfolger skeptisch bliebe und etwa geneigt wäre, den beteiligten Organismen vorsichtshalber jede Befähigung zum zweckhaften Streben, einschließlich dem nach dem eigenen Überleben, völlig abzusprechen: In diesen Fällen zumindest hat es (abgesehen von der Frage des angemessenen Ausdrucks) a priori nichts Dogmatisches, sich von einer Analyse des gesamtumweltlichen Kontexts der Untergänge bestimmter Bildungen, Verhaltensweisen und Arten (die als solche ganz ohne Zweckdeutungen auskommen kann) ein gewisses Verständnis des ‚Warum‘ zu versprechen – von dem aus dann wiederum (unter der Voraussetzung funktionierender Korrektive durch wissenschaftliche Kritik und Selbstkritik) auch echte differentielle Einsichten in die wesentlichen Unterschiede der übrigbleibenden Naturgestaltungen möglich werden können, die ihnen dieses Übrigbleiben erst ermöglichen. Einen solchen Begriff des wissenschaftlichevolutionären Denkens aber kennt Cassirer ebenso wenig, wie er die Verbindungen zwischen der Darwinschen und der Vriesschen Theorie wahrnimmt; stattdessen finden wir in einem seiner nachgelassenen Texte mit Blick auf den »Übergang von der Biologie zur Geschichte« die deutlich genug artikulierte Ansicht, dass das biologische „Geschehen, das sich wiederholt und das sich in dieser Wiederholung zu immer neuen und neuen Formen emporsteigert . . . ›Geschichte‹ nur für den menschl[ichen] Beobachter“ sei, der „sich selbst in dieses Geschehen versetzt, . . . sich als dessen Ende und ›Zweck‹ betrachtet – / Das ist im Grunde das Wesen aller Natur philosophie – und jede Lehre von der ›Evolution‹ ist nicht positivistisch-wissenschaftlich; sie ist natur philosophisch“ 192.
ECN 3, S. 4 (Kursivierung F. S.). Dass Cassirer mit dieser Charakterisierung in der Tat nichts anderes als eine pauschale Abwertung des evolutionären Denkens im Sinn hat, zeigt sich an seiner gleich darauf gegebenen Assoziation zur romantischen Spekulation: „Am reinsten ist dieser Typus bei Schelling vertreten“ (ebd.). 192
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Nun muss man Cassirer an dieser Stelle zugute halten, dass seine Neigung, hinter Rekursen auf die Grundbegriffe des evolutionären Denkens nach Darwin lieber einmal zu viel als einmal zu wenig einen Ausdruck dogmatischer Naturteleologie zu vermuten, mit Blick auf ihre allgegenwärtigen spekulativen Überdehnungen nicht ganz unverständlich ist. Auch die biologisch-philosophischen Debatten unserer Tage bezeugen ja in zahllosen Beispielen, wie gut sich über das Vorhandensein eines bestimmten »Selektionsdrucks« durch die Umweltbedingungen oder die Annahme »evolutionärer Vorteile«, die eine bestimmte Entwicklung geboten haben mochte, im Einzelfall streiten lässt – und dass dabei nicht selten den weniger reflektierten Argumenten die größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Aber gerade weil sich die Wechselwirkungen zwischen den empirisch aufweisbaren allgemeinen Existenzbedingungen des Lebens, dem Verhalten der Individuen und den langfristigen Effekten auf die physische Organisation der Art in Wahrheit nur sehr schwer beobachten lassen; gerade weil ferner aus Missachtung oder Verschweigen dieser Schwierigkeiten nur zu leicht falsche Schlussfolgerungen, Naturalismen und so am Ende immer auch Gefahren für unser Selbstverständnis als Menschen erwachsen können, hätte hier über die Zurückweisung eines in der Tat simplizistischen Leitbegriffs wie dem der »Anpassung« 193 hinaus ein differenzierteres Urteil des Wissenschaftskritikers kantischer Schule interessiert, das Cassirer in vielen – und leider den interessantesten – Hinsichten schuldig bleibt. 194 Vgl. EP 4, S. 192. Bei Cassirers später Inanspruchnahme der Mutationstheorie ist aber wohl vor allem der Goetheaner federführend, den sein Verständnis der »idealistischen Morphologie« schon im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft früh zu der Auffassung gebracht hatte, dass wir die Frage, »woher das Leben stammt«, in der Wissenschaft ohnehin »nicht zu fragen [brauchen]« (KLL 345; siehe oben S. 137) – und der nun in der Konsequenz für eine funktionale Version der Lehre vom Ersten Menschen (vgl. LKW 460 f. und SSPL 259) votieren zu wollen scheint, mit der er dem naturphilosophischen Profil seiner Anthropologie keinen Gefallen erweist. So drängt sich etwa mit Blick auf die im „Seminar on Symbolism“ begegnende Formulierung, dass sein Rekurs auf de Vries konkret die Möglichkeit einsichtig machen solle, wie »a species, which in its structure, in its anatomical, physiological, biological aspect is in the closest relation with all the other organic beings could, nevertheless, initiate a new series of functions that are the very conditions of all our cultural life« (SSPL 259) – eine Formulierung, in der unübersehbar Kants kosmologische Definition der Freiheit als einer »Causalität . . . , eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« aus der Kritik der reinen Vernunft (AA III, S. 363 ff.: 364) anklingt – der Verdacht auf, dass Cassirer hier einer biologischen Variante derjenigen petitio principii das Wort redet, die er an anderer Stelle mit Blick auf die Unbestimmtheitsrelation der Quantenmechanik mit gutem Grund von sich gewiesen hatte: „Es wäre von vornherein schlecht um die 193 194
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Dabei hängt die verpasste Auseinandersetzung mit den zentralen Gedanken der modernen Evolutionsbiologie zweitens auch mit einem allgemeineren Mangel zusammen, den Cassirers Philosophie der Biologie sich auch durch ihre exklusive Anlehnung an Uexküll einhandelt: In der methodisch gewollten Konzentration auf einzelne »Lebensformen« und das an ihnen jeweils zu beobachtende Zusammenspiel aus Verhaltensmustern und Physiologie kommt Cassirer nämlich das reiche Spektrum intraund interspezifischer Interaktionen, die heute nicht nur für die Evolutionsbiologie, sondern besonders für die Verhaltensökologie und die »Ökologie der Lebensgemeinschaften« das vordringliche Thema geworden sind, überhaupt nicht in den Blick. 195 Das ist nicht nur deshalb bedauerlich, Ethik . . . bestellt“, so schreibt Cassirer 1937 in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik (ECW 19, im Folgenden zitiert als ‚DI‘), „wenn sie ihre Autorität nicht anders aufrechterhalten . . . könnte als dadurch, daß sie nach Lücken in der wissenschaftlichen Naturerklärung Ausschau hält und sich in diese Lücken gewissermaßen einnistet. . . . Kein noch so weit getriebener physikalischer »Indeterminismus« kann uns den Sprung ersparen, der hier von uns erwartet und verlangt wird.“ (DI 237 f.) In ganz ähnlicher Weise wie der hier von ihm selbst kritisierten scheint der späte Cassirer aber gegenüber dem Problem der Gattungsdetermination die Freiheit des Menschen einem naturgeschichtlichen Zufall, einer spontanen „Mutation“ überantworten zu wollen, die als solche unerklärlich bleibt und vielleicht gerade bleiben soll. – Einen überzeugenderen Lösungsvorschlag für das Problem, die Forderungen nach evolutionärer Kontinuität und nach Wahrung einer spezifischen Differenz des Menschen als Wesen der Freiheit zu vereinbaren, unterbreitet neuerdings Thomas Suddendorf: Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht. Übers. v. Gabriele Gockel u. a. 2014. Suddendorf spekuliert mit Blick einerseits auf diverse im 20. Jahrhundert gemachte Fossilienfunde, die die Existenz einer ganzen Reihe von uns nahe verwandten Arten bis in unsere jüngste stammesgeschichtliche Vergangenheit hinein belegen, andererseits auf das erst in unserer Zeit endgültig auch in seiner ökologischen Dimension deutlich werdende destruktive Potential des Menschen dafür, dass unsere gegenwärtige Sonderstellung im Tierreich das kontingente Ergebnis eines sich sozusagen selbst verstärkenden naturhistorischen Prozesses bilden könnte, in dem wir aus immer schärferen Gebiets- und Ressourcenkonflikten zwischen ursprünglich mehreren „kulturbildenden“, insbesondere zu Technik und Sprache (und damit auch zu Waffengebrauch, strategischer Kooperation etc.) fähigen Spezies zuletzt als Sieger hervorgegangen wären: ebd., S. 25: „In jüngster Zeit waren die Menschen für die Auslöschung zahlreicher Spezies verantwortlich, und obwohl es dafür keinen direkten Beweis gibt, könnten sie sehr wohl auch zu dem Aussterben der Neandertaler und anderer naher Verwandter beigetragen haben. Nachdem es unseren Vorfahren gelungen war, einen Großteil der klassischen umweltbedingten Probleme des Überlebens zu meistern, wie die Bedrohung durch Großkatzen und Bären, wurden Mitglieder der Menschenfamilie selbst vermutlich zu ihren wichtigsten Feinden. Heute müssen wir eher befürchten, von einem Menschen bedroht, zu etwas gezwungen oder getötet zu werden als von einem Tier. Aggression und Konflikt könnten auf die Evolution der Homini einen erheblichen Effekt gehabt haben.“ 195 Mit Blick auf Uexkülls Rolle in dieser Frage merken die Herausgeber der Neuausgabe von Umwelt und Innenwelt an, dass schon seinen Zeitgenossen einerseits der
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weil es Cassirers Anthropologie der Freiheit gerade in Bezug auf die heute so wichtige Frage nach den direkteren und indirekteren Wechselwirkungen unserer Gattung mit anderen – also ausgerechnet die nach unserer funktionalen »Stellung im Kosmos« des Lebendigen – weitgehend unfruchtbar erscheinen lässt, sondern es führt auch dazu, dass seine Auffassung der Biologie als ›Formwissenschaft‹ schon innerhalb ihrer eigenen geschichtlichen Aufgabenstellung den ›formalistischen‹ Beigeschmack nicht los wird. Indem Cassirer nämlich, während er sich für seine eigenen Deutungen des tierischen Lebens in der Hauptsache auf Uexkülls Funktionskreis- und Umwelttheorie stützt, den Menschen zur Sicherung einer spezifischen Differenz gleichzeitig in Abgrenzung zu dieser Beschreibung verstehen will, gerät ihm der beim ‚methodischen Vitalisten‘ abgeschaute Begriff des Naturlebens letztlich doch wieder zu einem Automatenmodell tierischer ›Signalverarbeitung‹, das weder die pragmatisch-zielorientierte Dimension alles echt lebendigen Verhaltens angemessen reflektiert, noch die vielfältigen Verhältnisse von Individuum und Gattung, die es durchaus schon im Tierreich zu berücksichtigen gälte. So kann Cassirer zwar mit Uexküll noch recht überzeugend auf »den Seeigel« verweisen, in dessen Welt es nur »Seeigel-Dinge« gebe, 196 und der deshalb auch nur in durchaus vorhersehbarer Seeigelweise auf die Reize seiner Umwelt reagieren kann; aber die routinemäßige Extrapolation der an solchen vergleichsweise einfach strukturierten Lebensformen gewonnenen Einsichten auf komplexere Fälle lässt nur umso deutlicher den Grundmangel dieser Theorie der organischen Welt hervortreten, der im Fehlen jeder ernsthaft betriebenen Auseinandersetzung mit den ‚höher‘ entwickelten Lebensformen, insbesondere mit Blick auf die dort schon anzutreffenden Phänomene eigentlichen Sozial- und Individualverhaltens, besteht. 197
Umweltbegriff durch sein „eher harmloses Verständnis von ‚Bedeutung‘ für den Organismus“ als ein potentieller „Zentralbegriff der sich entfaltenden Ökologie“ erschienen sei, während sie andererseits aber auch nicht übersehen konnten, „dass sein Konstrukt in Konsequenz auf eine individualistische Biologie hinauslief.“ (Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 9, Kursivierung F. S..) 196 VM 48 / EM 28; vgl. ECN 1, S. 41 f. 197 Es ist zwar nicht so, dass diese Phänomene im Essay on Man und den zeitlich nahestehenden Texten überhaupt keine Berücksichtigung gefunden hätten: So finden sich etwa in den Abschnitten über »The human world of space and time« zahlreiche Hinweise auf die berühmten Primatenversuche Wolfgang Köhlers. Aber Cassirers auf die Abwehr des Naturalismus zurückgehende rhetorische Tendenz gibt diesen Hinweisen von vornherein keine Chance, die (zwar prinzipiell behauptete) Kontinuität von Menschen- und tierischer Welt mit Leben zu erfüllen, sondern wiederholt am Ende nur immer wieder die These einer radikalen Differenz zwischen den Lebensformen, die
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Weil es nun aber tatsächlich ganz richtig ist, was Cassirer im Essay einräumt, ohne große Konsequenzen daraus zu ziehen: weil der Mensch wirklich keine „Ausnahme“ von den Wesensgesetzen des biologischen Lebens bildet – obwohl es ihm gelingt, sich für sein Leben im Zuge der Kulturentwicklung Spielräume zu erarbeiten, die aus dem Blickwinkel jener Gesetze erstaunlich, ja ganz ungeheuerlich erscheinen müssen, indem sie nicht nur ein reflektiertes Wissen um sie, sondern selbst ihre darauf gründende praktische Beherrschbarkeit einschließen – weil es trotzdem stimmt, dass wir, was immer wir auch als Kulturwesen tun und wozu wir uns zukünftig noch in die Lage versetzen mögen, als Menschen dennoch sterbliche, bedürftige, endliche, gelegentlich auch schwache Wesen sind und bleiben: deshalb betrifft diese systematische Schwäche in Cassirers Konzeption des Naturlebens nicht nur seine Vorstellungen vom Leben der Pflanzen und der Tiere, sondern mittelbar auch seine Anthropologie, und zwar durchaus auch in ihrer rein „pragmatischen Hinsicht“. Um das zu zeigen, muss ich noch einmal ein wenig ausholen und auf den Zusammenhang zu sprechen kommen, in dem Cassirers Gedanke vom Menschen als dem »animal symbolicum« zum ersten Mal begegnet – nicht erst im Essay on Man, sondern schon im Yaler „Seminar on Symbolism“, wenn auch zunächst noch unter dem Titel »homo symbolicus« 198. Hier zeigt sich, dass Cassirer mit diesem Konzept ursprünglich nicht nur die auch im Essay wieder aufgegriffene Positionierung des eigenen kulturanthropologischen Projekts gegenüber der rationalistischen Deutungstradition des Menschen als »animal rationale« bezweckt 199, sondern eine doppelte Abgrenzung von dieser und zugleich von der Linie des Pragmatismus, den Menschen als »homo faber«, als »tool-making animal« zu begreifen. In dieser Gesamtkonstellation präsentiert Cassirer nun erstmals seinen aber mit der Anwendbarkeit und Angemessenheit des Uexküll-Modells für das gesamte tierische Leben steht und fällt. 198 Vgl. SSPL 247–262: 261. – In der rekonstruierten ersten Textfassung des Essay on Man lässt sich dann Cassirers Ringen um den angemessensten Ausdruck für seine These an den verschiedenen Streichungen einer Überschrift nachvollziehen: vgl. ECN 6, S. 660 f. 199 Vgl. EM 30 f.: »From the point of view at which we have just arrived we may correct and enlarge the classical definition of man . . . as an animal rationale . . . Rationality is indeed an inherent feature of all human activities. . . . [Yet r]eason is a very inadequate term with which to comprehend the forms of man’s cultural life in all their richness and variety. But all these forms are symbolic forms. Hence, instead of defining man as an animal rationale we should define him as an animal symbolicum.« – Ursula Renz hat jüngst einige Bedenken gegenüber dieser Textstelle geltend gemacht, die der hier gegebene Hinweis womöglich entschärfen kann: vgl. Ursula Renz: „Rationalität und Symbolizität. Alternative oder ergänzende Bestimmungen des Humanum?“ In: Recki (Hg.): Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens.
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Begriff des »homo symbolicus«, nämlich als »a connecting link between the seemingly opposed theories: between the rationalistic and the pragmatic conception of man« 200, und erläutert diesen Gedanken anschließend folgendermaßen: „Pragmatism has . . . very vigorously and with very good reasons attacked . . . the »copy-theory of knowledge«. . . . If pragmatism had contented itself with pointing out and emphasizing this teleological[,] this purposive character of human knowledge, we could perfectly subscribe to its principal view. But . . . [this] fundamental conception was spoiled . . . [by the fact that] pragmatism became dependent upon dogmatic Darwinism . . . In fact this theory never succeeded in proving in a really conclusive way its principal thesis: the thesis of the identity between theoretical and practical thought. Theoretical and practical thought . . . are devoted to different ends and . . . governed by different methods. . . . The term »utility« . . . proved in any case to be too vague and indistinct for giving us a satisfactory solution of the problem. But in spite of the distinction we have to make between . . . theoretical and practical thought we cannot deny that both . . . are inter-related . . . and . . . connected with each other by strong ties. . . . Since they have to cooperate in one and the same work – in building up the human universe, the universe of culture – there must at last be found an outstanding feature – a fundamental character in which they agree and harmonize. . . . [T]his harmony is based on the fact of symbolic thought. . . . If we accept this view we may say that the two definitions of man . . . as an animal rationale and as a tool-making animal, as »homo faber« include a common factor. In a certain sense they can be said to be different expressions of one and the same fact.“ 201
Wir kennen das Argumentationsmuster, das Cassirer hier für seine Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus heranzieht, inzwischen gut genug: Cassirer besteht auf der begrifflichen Unterscheidung zwischen »produktivem« »practical thought« und rational-reflektierendem »theoretical thought«, um ihren teleologischen Zusammenhang, ihre »Kooperation« im Aufbau der Kultur einsichtig zu machen, wofür er dann sein eigenes Konzept des »symbolic thought« in Stellung bringt. 202 Als Funktionstheorie des Wissens in pragmatischer Hinsicht, wie sie Cassirer ja auch selber von früh an der »copy-theory of knowledge« entgegengesetzt hatte, bleibt der Pragmatismus deshalb für die Philosophie der symbolischen 200 201 202
SSPL 251. SSPL 249–251 (Kursivierung F. S.). Vgl. Kapitel 1.3.
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Formen uneingeschränkt anschlussfähig – so sehr immerhin, dass er im späteren Essay von der klassischen Definition des Menschen als „animal rationale“ Abstand nimmt, um an ihrer statt seine sie zur pragmatischen Linie hin vermittelnde Alternativkonzeption des „animal symbolicum“ vorzuschlagen. Mit Blick auf den bei Uexküll rezipierten Funktionskreis-Gedanken des menschlichen Lebens könnten wir diesen partiellen Anschluss in etwa so reformulieren: Im Leben des Menschen wird das bloß pragmatische Umweltbewusstsein der Tiere unterbrochen durch zunächst kleine und dann immer komplexer aufeinander aufbauende reflexive Schleifen – im Essay spricht Cassirer ausdrücklich von einer „Unterbrechung“ und „Verzögerung“ durch „a slow and complicated process of thought“ 203 –, die schließlich als praktisches Weltbewusstsein auch entscheidend auf die Formen seines Verhaltens zurückwirken und es erst eigentlich zum Handeln werden lassen. Die Stelle aus dem „Seminar on Symbolism“ zeigt jedoch auch mehr als deutlich, wie Cassirer über allem, was am Pragmatismus über die Theorie des „human knowledge“ hinausgeht, schon die Gefahr eines Reduktionismus des Geistes schweben sieht, der das theoretische Moment aus dem praktischen ‚ableiten‘ oder es ihm als identisch gleich ganz einverleiben will. Weil er diesem Reduktionismus nun aber nicht nur dort, wo er tatsächlich konkret vertreten wird, kritisch begegnet (wofür er ja in der Tat gute Gründe auf seiner Seite hat), sondern ihm schon in seinen Anfängen wehren will, kommt es schließlich zu der paradoxen Situation, dass bei Cassirer die pragmatischen Kontinuitäten zwischen ‚biologischem‘ und ‚geistigem‘ Leben weitgehend im Dunkeln bleiben, weil er aus praktischen Gründen nur für die Deutung des Wissens (das natürlich paradigmatisch für das ‚geistige Leben‘ des Menschen steht) die Prämissen des Pragmatismus guten Gewissens glaubt akzeptieren zu können. Indem Cassirer die Tatsache, dass der Pragmatismus sich nicht damit »zufriedengegeben« habe, eine pragmatisch-reflektierte Theorie des Wissens zu bieten, von vornherein dem Einfluss des biologistischen Dogmatismus zurechnet, wird er allerdings nicht nur dem damit kritisierten Ansatz nicht gerecht; er wischt auch die naturphilosophischen Motive hinter dem Selbstverständnis des Menschen als »tool-making animal« etc. etwas zu einfach vom Tisch und offenbart so im Grunde nur wieder die eigenen Schwierigkeiten im Umgang mit den ‚tierischen‘ Aspekten des Lebens, die den Menschen allerdings betreffen, obwohl oder gerade weil sie über den Bereich des spezifisch-Menschlichen hinausgehen: Schwierigkeiten, die, wie wir jetzt sehen, ihren letzten Grund in der methodischen Anlage dieses Philosophierens 203
EM 29.
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selber haben. Wie die Stärke der Cassirer’schen Anthropologie in einem unübertroffenen Begriff der Reflexion am Zeichen liegt, der es erlaubt, die geistigen Sinnformen menschlicher Kulturtätigkeit bis ins Einzelne zu ihren fundamenta in re zurückzuverfolgen – bis hin zur ursprünglichen Lebendigkeit der Erfahrungswelt als einer letzten ›Gegebenheit‹, die aller werkhaften Ausgestaltung durch uns vorausliegt, bis hin zur ›Substantialität‹ unserer Selbsterfahrung im leibseelischen Weltumgang –, so besteht eine ihrer entscheidenden Schwächen darin, dass sie die existentielle Pragmatik des Lebens in denjenigen seiner Vollzüge, in denen es (wie bei allen nichtmenschlichen Lebewesen) nicht als ›produktives‹ im kulturbildenden Sinne in Erscheinung tritt, immer nur prinzipiell anerkennt, aber kaum jemals in concreto mitreflektiert. 204 Es ist deshalb kein Wunder, dass sich dieselbe Problematik, die im Kontext seiner Interpretation der Biologie nur besonders augenfällig wird, auch in einer gewissen handlungstheoretischen Unterbestimmtheit seiner Philosophie des Menschen widerspiegelt. Fragt man nämlich nach den konkreten Vollzugsbedingungen jenes menschlichen »Tuns« 205, das die Philosophie der symbolischen Formen ja gemäß ihrem Ansatz in allen seinen Dimensionen reflektieren will, dann erhält man bei Cassirer eigentlich nur eine einzige tragfähige Auskunft, nämlich die Explikation seiner Einsicht in dessen vermittelten Charakter in der triadischen Konstellation aus Ich, Du und Werk, die er in konstruktiver Auseinandersetzung mit Simmel in der Logik der Kulturwissenschaften entwickelt. 206 Für die Theorie der Menschheit ist dieses Modell, das ja dem ganzen ›rekonstruktiven‹ Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen von Anfang an zugrunde liegt, zweifellos von großem Nutzen und soll hier durchaus nicht bestritten werden. Dass ich daneben aber als Einzelner – die auch meiner je individuellen Existenz noch sachlich-vorgängigen allgemeinen Bedingungen des Gattungslebens schon vorausgesetzt – auch ganz ohne konkreten Werkbezug mit dem Anderen Formen des relativ-›unmittelbaren‹ leibhaft-persönlichen Umgangs pflegen; dass Eine ähnliche Kritik, allerdings mit eher geschichts- und kulturphilosophischem Fokus, hat Gideon Freudenthal artikuliert, vgl. Freudenthal: „The Missing Core of Cassirer’s Philosophy“. Er unterbreitet einen plausiblen Vorschlag für den „pragmatischen“ (ich würde eher sagen: den produktiven) Zusammenhang der symbolischen Formen untereinander (ebd., S. 206) und übt schließlich scharfe Kritik mit Blick auf dessen mangelnde Konkretisierung durch Cassirer: „Devoid of the dual material and spiritual nature, Cassirer’s idea of symbol cannot carry the burden of explaining development which would be different from the unfolding of an already existing implicit content.“ (ebd., S. 219). 205 PhsF 1, S. 9. 206 Vgl. LKW 468–470. 204
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ich mit ihm nicht nur in einer durch geistige Werke und Werte vermittelten, sondern auch in schlichter physischer Gemeinschaft stehen, mit ihm z. B. kämpfen, Blickkontakt halten oder anderweitig ›auf Tuchfühlung gehen‹ kann, und dass in solchem Umgang als dieser ›Andere‹ ein Mensch, ein Hund, ein Bär, ja in Grenzen selbst – ein Seeigel infrage kommt: diese Tatsache wird von Cassirer zwar implizit überall mitgedacht und in der Erweiterung seiner Kulturphilosophie um eine Theorie des kommunikativen Ausdrucksverhaltens sogar vorausgesetzt, sie wird aber nie eigens thematisiert oder auf ihre etwaigen Möglichkeitsbedingungen untersucht, und zwar, wie es scheint, weil er eine eigene geistig-kommunikative Signifikanz solcher relativ-unmittelbarer Begegnungen gar nicht anerkennt. 207 Das führt uns schließlich – drittens – zu dem großen ›blinden Fleck‹ in Cassirers Naturphilosophie, der mit seiner systematischen Berufung auf Uexküll in dem allermerkwürdigsten Kontrast steht, nämlich seinem totalen Verzicht auf jede differenzierte Auseinandersetzung mit der menschlichen Anatomie und Physiologie, die doch eine Einholung seines ›biologischen Aspekts‹ unter den methodischen Prämissen der »Umweltlehre« gerade erfordert hätte. Selbst die anatomischen Konstitutionsbedingungen unseres naturgewachsenen ›Merk-‹ und ›Wirknetzes‹, die physiologischen Anlagen unserer Sinnlichkeit und die Organe unserer materiellen Beeinflussung der Welt, deren Abgleich mit den Äußerungsformen unseres wahrnehmend-tätigen Weltumgangs eben unter jenen Prämissen überhaupt erst ›biologisch‹ hätte heißen dürfen, bleiben aber bei Cassirer fast durchgängig außer Betracht. Besonders auffällig ist das (wenig überraschend angesichts seiner quasi absichtlichen Unterbelichtung der reinpragmatischen Dimension des Lebens) im Falle unseres »Wirknetzes«, dem sich Cassirer ja, wie man meinen sollte, durch die Einbeziehung einer Philosophie der Technik schon bis auf Sichtweite genähert hatte. Aber auch wenn Cassirer noch 1939/40 in seiner Göteborger Vorlesung zur »Geschichte der philosophischen Anthropologie« sehr bestimmt feststellen kann, dass » Werkzeug und Sprache . . . die deutlichsten Kennzeichen« des Menschen seien und infolgedessen »die Antwort auf die Frage, was er [der Mensch, F. S.] ist, . . . nicht allein der Logik, Physik und Ethik[,] sondern der Philosophie der Technik u[nd] Besonders drastisch kommt diese Position an einer Stelle des Nachlasstextes „Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion“ zum Ausdruck: ECN 5, S. 130: „Kein »Einzelwesen« kann sich einem anderen mitteilen, verständlichmachen ausser durch das Medium bestimmter Kulturformen – nicht durch Vermittlung der “physischen” Welt, sondern der Welt der Kultur, der Welt der ‘symbolischen’ Formen kommt es zu einem ‘Kontakt’ der Einzelwesen“. 207
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der Sprachphilosophie entnehmen« 208 will, so geht er doch mit Blick auf unsere konkrete Wirksamkeit in der Welt nirgends über den Rahmen von »Form und Technik« von 1930 hinaus. Ausgerechnet der faszinierendste Aspekt dieser Philosophie der Technik, der informierte Anstoß zu einer allgemeinen Logik des technischen Selbstbewusstseins, verkehrt sich so im biologisch-naturphilosophischen Kontext in einen Mangel, indem Cassirer die Frage, was alle die Besonderheiten des menschlichen Organismus, von denen wir nach seiner von Ernst Kapp inspirierten Einsicht erst aus der Rückprojektion aus dem Werkzeuggebrauch Kenntnis erlangen – was die Greifhand, der aufrechte Gang, die außerordentliche Plastizität und anfängliche Unspezialisiertheit aller unserer Bewegungsabläufe, aber auch unsere organische Schutz- und Waffenarmut etc. – umgekehrt für die Differenzierungen der menschlichen ›Wirkweise‹ auf die Welt bedeuten, weniger auf diesen neuen Aspekt bezieht, als vielmehr zu seiner Profilierung – ignoriert. Vielleicht weil es dabei bleibt, schließt der Essay on Man am Ende weder ein Kapitel zur Technik als Kulturgebiet noch eine physiologische Untersuchung der »Technik der Natur« in uns ein, die etwa die staunenswerte Ausbreitung unseres »Wirknetzes« über den ganzen Planeten in vergleichender Perspektive hätte verständlich machen können. Beim »Merknetz« sieht es nur auf den ersten Blick etwas besser aus: Eine Stelle wie die im dritten Band des Hauptwerks, wo Cassirer den »Stufenbau« unserer verschiedenen »Sinneskreise« im Sinne einer natürlichen Vorbereitung unserer (zwar erst in der »künstlichen Symbolik« kultureller Sinnformen methodisch durchgreifenden) Objektivierung sinnlicher Eindrücke »zur Welt« untersucht 209, lässt sogar kurz die Hoffnung aufkeimen, dass sich die Philosophie der symbolischen Formen hier im Umfeld ihres Theorems von der »symbolischen Prägnanz« der Wahrnehmung doch auch einmal deren physiologischem Aspekt zuwenden könnte. Doch dem ist nicht so: Eine Auseinandersetzung mit unseren zu den einzelnen »Sinneskreisen« gehörenden Organsystemen in ihren respektiven Stellungen zu- und Wechselwirkungen miteinander unternimmt Cassirer hier so wenig wie sonst irgendwo; und so kommt sein knapp zweiseitiger Beitrag zur »Ästhesiologie« des Menschen am Ende in keinem Punkt über den platonischen Stand der Frage hinaus: Es ist auch für ihn der audiovisuelle Zugang zur »Anschauungswelt«, es sind Sehen und Hören als solche, in denen sich gegenüber den »primitiven« »Geschichte der philosophischen Anthropologie«, ECN 6, S. 3–187: 6. Vgl. in diesem Sinne auch schon PhsF 3, S. 321. 209 Vgl. PhsF 3, S. 144–146. 208
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Sinnen von Geschmack und Geruch, aber auch gegenüber dem Tastsinn, der »Subjektives« und »Objektives« immer zu einem gewissen Grade vermische, die distanzierende Haltung des Menschen und sein Weg der Darstellung »zur Welt« schon in Form einer Naturanlage ankündigt. 210 Nun muss man ja die tief in unserer Tradition verankerten, etymologisch und metaphorisch vielfach verarbeiteten Thesen über die Analogie von Sehen und Erkennen einerseits, Hören und Verstehen andererseits auch gar nicht unbedingt in Zweifel ziehen – aber ihre lakonische Inanspruchnahme durch Cassirer sollte trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass er, indem er sich an einer komparativen Aufreihung der einzelnen ›Sinneskreise‹ in ihren ›substantiellen‹ Vor- und Nachteilen versucht, die eigentlich interessanten Fragen nach dem funktionalen Zusammenhang dieser verschiedenen Leistungen in der menschlichen Physiologie gerade nicht stellt: z. B. die, ob (und gegebenenfalls wie) gerade das parallele Vorkommen unterschiedlicher Grade der Objektivität und Verlässlichkeit an situativ ›ein und demselben‹ Gegenstand im Zielgebiet mehrerer Sinneskanäle uns erst die Gelegenheit bietet, den positiven Sinn von Distanz und Distanznahme ursprünglich zu erfassen, wie ihn dann der sprachliche und schließlich wissenschaftliche Begriff bis über alle Grenzen der Wahrnehmung hinaus systematisch verfolgen kann. Es ist Helmuth Plessner, der dieses Problem in anthropologischer Orientierung thematisiert und systematisch aufgerollt hat 211, während Cassirer – offenbar aus dem Vgl. PhsF 3, S. 144 ff.: »Es ergibt sich in [den einzelnen Sinneskreisen] eine gewisse Abfolge, die vom relativ Unbestimmten zu immer höheren Graden der Bestimmtheit, der anschaulichen »Distinktion« hinführt. Die »primitiven« Sinne lassen uns erst die Anfänge einer solchen Bestimmtheit erkennen. Sie bewegen sich im wesentlichen im Umkreis gewisser, oft sehr intensiver Ausdruckswerte . . . So scheinen sich die einzelnen Data des Geruchssinnes für uns vor allem durch . . . [affektive] Charakter[e] . . . zu unterscheiden. Aber diese affektiven Unterschiede führen noch zu keinem wahrhaft »objektiven« Unterschied der einzelnen Qualitäten. . . . Schon einen wesentlichen Schritt weiter in der »Erhebung der Eindrücke zu Vorstellungen« werden wir geführt, sobald wir vom Gebiet der Geruchsempfindungen auf das der Tastempfindungen hinüberblicken. . . . Aber sosehr [dem Tastsinn ein] Zug zur Objektivierung eignet, so bleibt doch auch er hierin gleichsam auf halbem Wege stehen. Denn er macht zwischen bloß zuständlichen und rein gegenständlichen Bestimmungen noch keinen klaren und scharfen Schnitt, sondern gibt uns die letzteren nur in der Umhüllung der ersteren. Wir können hier die Objekte nicht anders denn durch das Medium der Wahrnehmung des eigenen Leibes erfassen und sie von dieser Grundlage nicht loslösen. Die Tastphänomene bleiben daher in dem Sinne »bipolar«, daß sich in ihnen unausweichlich eine »subjektive«, auf den Leib bezogene Komponente mit einer anderen, die auf Dinge und dingliche Eigenschaften geht, verbindet. . . . Der »objektive« Inhalt bleibt sozusagen an der Grenze des eigenen Leibes stehen, statt zum wahrhaften »Gegenüber« zu werden, statt in eine ideelle Ferne zu rücken. Solche Distanzierung wird erst in den höchsten »objektiven« Sinnen, im Gehör und im Gesicht, erreicht.« 210
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Missverständnis heraus, dass der menschliche Körper, nur weil er anschaulich als dinghaft-individueller ›Substanzbegriff‹ gelten muss, auch nur zum Gegenstand substanzbegrifflich-strukturierter Aussagen werden könne – den ganzen Themenkomplex unserer konkreten organischen Konstitution aus seinem kritischen Unternehmen ausklammert: So werden wir Plessner also tatsächlich in seiner späteren Kritik Recht geben müssen, dass ausgerechnet beim größten Verfechter des Funktionalismus in der Kulturphilosophie der »Funktionssinn« unserer eigenen organischen Konstitution »dunkel« bleibe. 212 Allerdings bringt Cassirer im Essay on Man noch ein Argument, das seinen – im quasi-naturphilosophischen ersten Teil des Essay natürlich besonders merkwürdig wirkenden – Verzicht auf jede weitergehende Beschäftigung mit der Physiologie des Menschen gewissermaßen rechtfertigen soll: Es ist wieder der exemplarische Verweis auf den Fall der Hellen Keller, an dem der Autor die relative Irrelevanz der physiologischen Perspektive für eine solche humanistische Selbstdeutung glaubt zeigen zu können, wie Cassirer sie jenseits der darwinistischen Herausforderung als die zentrale Aufgabe einer philosophischen Anthropologie ansieht. Dass ein blind und taubstumm geborenes Mädchen, das nach allen biologischen Kriterien nicht allein zum sicheren Tod, sondern schon davor zur vollkommenen Hoffnungslosigkeit verurteilt scheint, es dank der hochgradigen Adaptierbarkeit entwickelter kultureller Symbolsysteme, die ihre ‚Darstellungsfunktion‘ selbst noch im Rahmen eines beschränkten ‚Fingeralphabets‘ erfüllen können, schließlich zu einem »sehr hohen Grad geistiger Entwicklung und Bildung« bringen und so an den (in Cassirers Augen) höchsten Errungenschaften des menschlichen Kulturlebens partizipieren konnte, ist Cassirer Beleg genug dafür, »daß [es] nicht stimmt und warum [es] nicht stimmt«, „daß ein Mensch beim Aufbau seiner Welt . . . von der Beschaffenheit des Materials abhängig ist, das ihm seine Sinne liefern“ 213. Dieser Hinweis hat in der Tat etwas Bestechendes, das auch dann erhalten bleibt, wenn man ihn auf den Normalfall des gesunden homo sapiens im Vollbesitz seiner arttypischen Sinne und Kräfte überträgt: Es macht nichts, wenn wir nicht so schnell laufen können wie die Pferde oder so scharf sehen wie die Adler; wenn wir aufgrund unserer physischen Beschaffenheit manche Bewegungen (z. B. das Fliegen aus eigener Kraft) prinzipiell nicht ausführen und manche Erscheinungen nicht wahrnehmen können (wie Bienen ultraviolettes Licht, Rochen und Haie 211 212 213
Plessner: Die Einheit der Sinne. ders.: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“, S. 242; Zitat siehe oben S. 34. VM 63.
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elektromagnetische Felder etc.) – denn indem der kulturelle Symbolismus uns soweit vom »Gesetz der organischen Schranke« 214 emanzipiert, dass er unser naturgewachsenes Merk- und Wirknetz selbst in Bereiche hinein ›verlängert‹, die die anatomischen Anlagen des Menschen bei weitem übersteigen, »überkompensiert« 215 er unsere in mancher Hinsicht dürftige leibliche Ausstattung in einer Weise, die das Absehen von ihr wenn nicht zu fordern, so doch in gewisser Weise zu legitimieren scheint. Doch so richtig und wichtig dieser Punkt in der einen Hinsicht ist, so falsch ist er in der anderen: Dass die Kultur des Menschen als eine die ganze Gattung umspannende Lebens- und Sinngemeinschaft noch die krassesten organischen Ausfälle Einzelner so erfolgreich kompensiert, dass die Menschheit sogar noch von ihren Leistungen profitieren kann – heute liegt vielleicht der Gedanke an Stephen Hawking näher als der an Keller –, das ist in der Tat ein höchst bedeutsames Faktum und aller Betonung wert; und dennoch rechtfertigt es bei näherem Hinsehen keineswegs den Schluss, den die Rhetorik des Essay on Man insinuiert, die Frage nach der physiologischen Konstitution des Menschen überhaupt, d. h. ›aller‹ oder doch der allermeisten Individuen, könne für die Anthropologie gleich ganz außer Betracht bleiben. Man stelle sich nur einmal vor, wie anders unsere Welt wohl aussähe, wäre die Menschheit insgesamt seit jeher blind und taubstumm, dazu vielleicht noch vom Hals abseits gelähmt gewesen – oder man male sich die Folgen aus, wenn in unserer hochentwickelten Gegenwart, bei übrigens gleichem kulturellem Entwicklungsstand, eines Morgens alle Menschen in solcher Verfassung erwachen würden: Die phantasievollste science fiction käme in Verlegenheiten, das durch Fortschritte der Robotik, der computergesteuerten Interaktion von Mensch und Maschine, der Industrie, Land- und Energiewirtschaft usw. in einer im Ganzen glaubhaften Weise als technisch kompensabel vorzustellen. Und selbst wenn man unterstellen würde, das pragmatische Überleben der Gattung ließe sich tatsächlich jemals derart weitgehend von ihren natürlichen Leibfunktionen entkoppeln, so wäre doch immer noch sehr fraglich, wie Sinn, Würde und – Humanität eines solchen Lebens auf die lange Sicht zu garantieren wären. So werden wir Cassirer, dem es hier infolge seines »formwissenschaftlichen« Zugangs zur Biologie unterläuft, die Begriffe individueller und gattungsmäßiger Formbestimmtheit nicht klar genug auseinanderzuhalten, in seiner Argumentation kaum folgen Cassirer zitiert diesen marxschen Gedanken im »Form und Technik«: FT 169. Vgl. SSPL 260: „[W]e may call [man] the most unprotected animal. Nature seems to have denied him all the arms which it gave to other creatures. But this disadvantage and this loss is abundantly compensated by that new direction that man takes in the course of life.“ 214 215
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können, sondern zugeben müssen, dass sich eine philosophische Anthropologie der Gegenwart mit dem, was die Philosophie der symbolischen Formen in diesem Punkt geboten hat, nicht abschließend zufriedengeben kann. Ich habe alle diese Unzulänglichkeiten aus naturphilosophischer Sicht nicht thematisiert, um Cassirers Lehre vom Menschen damit insgesamt zu diskreditieren. Vielmehr kommt es hier m. E. darauf an, den systematischen Ansatz einer ‚kulturanthropologischen‘ Deutung des Menschen und seine Grundlegung in einer Kulturphilosophie der symbolischen Formen von den Schranken der konkreten Durchführung dieses Programms bei Cassirer klar zu unterscheiden. Gerade um des bleibenden Wertes dieses Ansatzes willen scheint es mir wichtig, die einzelnen Punkte klar zu benennen, in denen Cassirers Lösungen nicht zufriedenstellend sind. Dazu gehört, neben den bisher angesprochenen, auch die Frage, ob nicht ‚Kultur‘ selbst eine Kategorie darstellt, die heute entschiedener in naturphilosophische Termini rückzuübersetzen wäre, als es der Essay mit seinen immer nur unter Vorbehalten und im Stil des Unwillens gemachten Zugeständnissen an die Verhaltensbiologie unternimmt. Cassirers grundlegende methodische Einsicht, dass nur die Kultur auf der Stufe fortgeschrittener Differenzierung, wie sie faktisch nur von Menschen bisher erreicht wurde, die Muße und die Offenheit, die Artikulationsmittel und den Sinn für die Frage nach dem eigenen Wesen hervorbringen kann, bleibt jedoch davon ganz unberührt; an ihr gilt es deshalb auch dort festzuhalten, wo heute in der Anthropologie ‚mit Cassirer über Cassirer hinauszugehen‘ ist.
Rondo und Schluss: Kultur als Medium humaner Selbstbestimmung Rekapitulieren wir abschließend noch einmal die wichtigsten Etappen unserer Untersuchung, um zu sehen, welches Gesamtbild von Cassirers Philosophie des Menschen sich daraus ergibt. In meiner Analyse von Substanzbegriff und Funktionsbegriff habe ich zunächst dafür argumentiert, dass die verbreitete (und nicht zuletzt durch Cassirers eigene Formulierungen nahegelegte) Interpretation, nach der die substanzkritische Tendenz seines Funktionalismus im Sinne einer klaren Präferenz für die eine von zwei alternativen Denkoptionen zu verstehen ist (‚Funktion statt Substanz‘), Cassirers Intention eigentlich ‚nur‘ im perspektivischen Zusammenhang von Geltungsreflexionen ganz angemessen ist; dass ferner, so wichtig diese geltungstheoretische Dimension seines Denkens ohne Zweifel ist, von ihr überall noch eine andere, phänomenologisch-strukturgenetische Untersuchungshinsicht zu unterscheiden ist, und dass sich in dieser Hinsicht das Verhältnis von ‚Substanz‘ und ‚Funktion‘ eher als ein inklusives Verhältnis darstellt, derart, dass ohne den Ansatzpunkt eines ‚ersten Gegebenen‘, wie ihn historisch und psychologisch gerade das Denken in ‚Substanzbegriffen‘ darstellt, ein Funktionalismus, wie Cassirer ihn als Durchführung des hegelschen Ideals ‚konkreter Allgemeinheit‘ verfolgt, de facto gar nicht zu erreichen wäre. Freilich fordert Cassirer sehr bestimmt, vom ‚substantiellen‘ zum ‚funktionalen‘ Verständnis der Kultur und des Menschen überzugehen; aber diese Forderung zielt dort, wo sie erscheint, genau genommen nur auf das begriffliche Instrumentarium, mit dem die Phänomene verstehend beurteilt, auf die Denkart, in der sie philosophisch untersucht und interpretiert werden, und schließt dabei, wie ich hoffe plausibel gemacht zu haben, die Möglichkeit (wenn nicht sogar die Verpflichtung) ein, dass ein in diesem Sinne funktional operierendes Denken für die adäquate Erfassung seiner Gegenstände auch auf Beschreibungen zurückgreife, die unsere Welterfahrung in ihrem ursprünglichen Sinncharakter als Erfahrung einer uns substantiell interessierenden Lebenswelt kenntlich machen. Aktualisiert wird diese Möglichkeit, die ich zwar schon in den Perspektivendualismen von Substanzbegriff und Funktionsbegriff und des Erkenntnisproblems theoretisch angelegt sehe, vor allem in Cassirers reifer Kulturphilosophie, genauer gesagt in ihrer phänomenologischen Rekonstruktion der symbolischen Formen. Ich habe versucht zu zeigen, dass sich in der von Cassirer rekonstruierten Entwicklungsdynamik von Spra-
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che und Mythos, Kunst und Technik als ein überaus produktiver Schritt die Herausbildung gerade jenes ‚Substanzdenkens‘ erweist, das Cassirer zwar als Prinzip philosophisch-wissenschaftlicher Reflexion weiterhin aus guten Gründen von sich weist. Ich halte die Unterscheidung der Ebenen in diesem Zusammenhang für zentral, weil sie es ermöglicht, das, was Cassirers Kulturphilosophie als konkrete Formen unseres Weltbezugs reflektiert, von der vom Philosophen gleichsam im Nachgang angebrachten Einschränkung ihres Geltungsanspruchs zunächst frei zu halten: Indem die Produktivität der Kultur sich ‚substantiell‘ in immer neuen ‚Einzelprodukten‘ niederschlägt, kommt es erst zur dinghaften Gliederung der Welt in den Klassenbegriffen der Sprache, zur anschaulichen Ausdifferenzierung wirklicher und möglicher Gestalten in der bildenden Kunst, zum technischen Verständnis der Sachen und ihrer Wechselwirkungen; und so großen Wert Cassirer in seinen Reflexionen (!) immer wieder darauf legt, dass für die Erkenntnis alle diese Entitäten nie als solche, sondern immer nur im Hinblick auf ihre inneren und äußeren Funktionszusammenhänge relevant sind, so müssten doch ohne ihre Berücksichtigung seine Behauptungen einer „objektivierenden“ Leistung der symbolischen Formen, einer in ihnen vollzogenen Wendung zur „Gegenständlichkeit“ oder Gestaltung zur „Welt“ 1 letztlich leer bleiben, womit dann allerdings auch von einem eigentlichen Welt- oder Praxisbezug der Erkenntnis keine Rede mehr sein könnte. Dass Cassirer sich zu einem solchen ‚leeren‘, d. h. theoretisch-abstrakten Funktionalismus nicht versteigt – dafür sorgt eben, dass die geltungstheoretische Umkehrung, die Cassirer mit dem Übergang vom Substanz- zum Funktionsdenken intendiert, sich in der Tat (wie wir uns gerade im ‚erweiterten‘ Horizont der Philosophie der symbolischen Formen klarmachen konnten) auf die Deutung einer Welt bezieht, die, ‚damit‘ und bevor die Frage nach dem ‚Wie‘ dieser Deutung überhaupt aufkommen kann, genetisch immer schon in irgendeiner Form ‚substantiell‘, als ein so-und-so sich darstellendes ‚Etwas‘ vorhanden sein muss. Für die Frage nach der anthropologischen Position Cassirers ergeben sich daraus nun zwei wichtige Konsequenzen. Erstens dürfen wir nämlich mit Blick auf die allgemeine Frage nach der Rolle der Natur in seinem Werk festhalten, dass ihre Konzeption bei ihm von Anfang an über das rein objektive, vollständig disponible und (außer seiner eventuellen Brauchbarkeit für Interventionen des Menschen) jeder weiteren Eigenbedeutung bare Gegenstück zur Freiheit des Menschen hinausgeht. Nur dann, wenn wirklich in dem, wie Cassirer seine ‚symbolischen Formen‘ 1
Vgl. MS 46 f.; ECN 1, S. 60; PhsF 1, S. 9.
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konzipiert, schlechthin gar nichts ‚Substantielles‘ mehr zu finden wäre; wenn also nicht nur der allgemeine Standpunkt, von dem aus Cassirer diese Formen beurteilt, sondern auch die Beschreibung, mit der er ihre immanenten Ziele und Entwicklungen rekonstruiert, ohne alle Bezüge auf Einzeldinge und Einzelwesen auskäme: nur dann wäre eben bei ihm, noch abgesehen von der Frage, ob der solchermaßen zugrunde gelegte ‚rein-funktionale‘ Kulturbegriff nicht ein ganz unangemessen abstrakter und theoretischer wäre, auch die Natur vollständig auf ihren begrifflich konstruierbaren Anteil reduziert, während das ganze Spektrum ihrer konkreten anschaulichen Erfahrbarkeit durch uns (sei es in empirischer, sei es etwa in ästhetischer Einstellung) aus dem Rahmen seiner Reflexionen prinzipiell herausfallen müsste. Dass eine solche Lesart Cassirers Intention nicht trifft, hat er aber schon früh in seinen Auseinandersetzungen mit Goethe und mit Kants Kritik der Urteilskraft deutlich gemacht, und wir haben in diesem Sinne gesehen, wie die Entwicklung seiner Kulturphilosophie im Plural von Anfang an auch mit einer Pluralisierung seines Naturbegriffs einherging. Neben die Natur der mathematischen Naturwissenschaft, die ausgehend von den allgemeinen Maß- und Gesetzesbegriffen der theoretischen Physik als immer detaillierter zu entwickelndes Relationensystem von Wechselwirkungen, mithin als Funktionsbegriff konstruiert wird, tritt so – zunächst nur als eine neue theoretische Fragestellung – die ganz anders geartete Natur unserer natürlichen Welterfahrung, für die das in der physikalistischen Reduktion auf Quantitätsunterschiede niemals zu lösende Problem der qualitativen Differenzen ihrer sinnlichen Einzelformen den eigentlichen Ausgangspunkt bildet. Es ist dann, wie ich zu zeigen versucht habe, insbesondere Cassirers Philosophie des Mythos, die dieses neue Problem schließlich bis in die letzte systematische Konsequenz verfolgt – und darin eine Antwort auf die Fragen nach Ursprung und Verbleib der Lebendigkeit in den verschiedenen Kulturbegriffen der Natur nahelegt, die sowohl kulturgeschichtlich plausibel als auch mit den methodischen Prämissen einer Transzendentalphilosophie vereinbar ist. Die mythische Auffassung der Welt als einheitlicher Lebensraum dämonischen, göttlichen, tierischen und menschlichen Wollens und Wirkens ist für Cassirer, der in diesem Punkt Schelling folgt, durchaus kein Ergebnis nachträglicher ‚Anthropomorphisierung‘ der Realität, sondern umgekehrt der ursprünglichste Ausdruck der wirklichen Lebendigkeit des Menschen, der darin zunächst ebenso wenig nach ‚Natürlichem‘ und ‚Kulturellem‘ unterscheidet, wie er selbst ursprünglich einfach der einen oder anderen ‚Sphäre‘ angehört. In diesem Kontext ‚früher‘ Kulturentwicklung geben mithin weder die mythischen Ausdrucks-
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gestalten noch das Wesen, das sie hervorbringt und ‚sich‘ in ihnen ausdrückt (der Mensch) ein Kriterium für jene Unterscheidung ab, sodass sie sich hier nur noch auf den Akt des Ausdrückens selber, und zwar in seiner spezifischen Tendenz zur Loslösung vom expressiven Organismus sinnvoll anwenden lässt. So mündet Cassirers Funktionalismus des Geistes hier in einen Begriff des menschlichen Lebens als eines letzten Urphänomens natürlich-kultureller Aktivität ein, deren primäre Organisationsform auf im Vergleich zu jeder Form der Natur-Kultur-Dichotomie sehr viel tiefer liegenden, nämlich emotionalen Wertunterschieden beruht. Erst die allmähliche ‚Externalisierung‘ des menschlichen Gefühlslebens in objektiv-beständigen Gestalten schafft das Medium, in und an dem der Mensch auf ‚die Welt‘, auf ‚sich selbst‘ und schließlich auch auf die ‚Natur-Kultur-Differenz‘ reflektieren kann – und das eben deshalb, sobald diese funktionale Differenz einmal als objektiv gesetzt ist, selbst wiederum im Ganzen wie die eine ihrer Seiten erscheinen muss: fast so, als hätte sich der Mensch wirklich in seinen Symbolen eine ‚zweite‘, andere, der ‚ersten‘ wie etwas ontisch Verschiedenes gegenüberstehende Natur geschaffen. Im Zuge der immer wiederholten Erfahrung dieses ‚Als-ob‘ und der nicht zuletzt religiös fixierten Hypostase der darin ausgedrückten Differenz kommt es schließlich zu der für die abendländische Moderne, deren Anfang Cassirer in der Renaissance verordnet, charakteristischen Zweiteilung der Welt und in ihr des Menschen, die aber in Wahrheit bloß auf eine Differenz im Verhalten und in den tätigen Stellungnahmen des Menschen zur Gesamtheit seiner Selbst- und Welterfahrung zurückgeht. Diese allgemeine Reflexion auf die Gewordenheit der ganzen Naturfrage erlaubt Cassirer – zweitens – auch eine begründete Positionierung gegenüber der spezielleren Frage nach der (Natur-)Stellung des Menschen, die als Thema der philosophischen Anthropologie in den 1920er Jahren „in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik“ 2 rückt. Von einer „Wende“ Cassirers zur Anthropologie zu sprechen 3, scheint mir allerdings der Sachlage nicht angemessen zu sein: bewegt sich doch die Philosophie der symbolischen Formen, zu der man retrospektiv auch So Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 8: „Ich darf mit einiger Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik getreten sind und daß auch weit hinaus über die philosophischen Fachkreise Biologen, Mediziner, Psychologen und Soziologen an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten. Aber dessen ungeachtet hat die Selbstproblematik des Menschen in der Gegenwart ein Maximum in aller uns bekannten Geschichte erreicht.“ 3 Vgl. etwa Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung, S. 9 und 13 f. 2
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schon Substanzbegriff und Funktionsbegriff zählen kann, von Anfang an in den Bahnen jenes „anthropologischen Denkens“, als das Cassirer seinen Ansatz im Essay on Man konsequent ausweist 4, die Zentralstellung der Kultur darin sogar nur noch mit dem platonischen Bild von den „Großbuchstaben“ verständlich machend, an die der Mensch, da er sich selbst in der verwickelten Kleinheit seiner individuellen Existenz letztlich ein Rätsel bleibe, in seiner Selbsterkenntnis nun einmal halten müsse. 5 Zu den philosophisch-anthropologischen Theoremen der Philosophie der symbolischen Formen im engeren Sinne zählt dabei nicht nur Cassirers funktionale Umdeutung der für die Moderne „schlechthin grundlegende[n] Antithese“ 6 von Leben und Geist, wie er sie vor allem Schelers Antagonismus zweier metaphysischer „Seinspotenzen“ 7 entgegensetzt und damit prinzipiell zu einem Begriff des Lebens als eines von vornherein „geist-affinen“ 8, für Geist und Kultur nicht bloß (wie bei Scheler) ‚offenen‘, sondern beides potentiell schon in sich befassenden Prozesstypus durchdringt. Indem er an seine Einsicht in die kulturelle Gewordenheit auch dieser „Dualität der Sicht“ 9 als einer bloßen Aspektdivergenz außerdem noch eine ganz analoge Deutung des Dualismus von Cassirer spricht mit Blick auf den eigenen Ansatz im Spätwerk immer wieder von einer „anthropological philosophy“: Vgl. EM 75 u. ö. 5 Vgl. VM 103 / EM 71. – Wen auch dieser in eigener Sache gegebene Hinweis Cassirers nicht überzeugt, dem empfehle ich, die vermeintlich strikte Trennung zwischen Anthropologie und Kulturphilosophie einmal umgekehrt daran zu prüfen, ob nicht dann, wenn man von einem umfassenden Kulturbegriff wie Cassirer ausgeht, der alle menschliche Aktivität unter sich begreift, jeder einzelne der klassischen Entwürfe zur philosophischen Anthropologie von Scheler bis Gehlen sich als Beitrag zu einer bewusst auf die Existenzialität des Menschen zurückbezogenen Kulturphilosophie lesen lässt. 6 Vgl. ECN 1, S. 7 f. : „Der Gegensatz von ›Leben‹ und ›Geist‹ . . . erweist sich [in der Metaphysik des neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts] als so bestimmend und als so entscheidend, daß er allmählich alle anderen metaphysischen Begriffspaare, die im Verlauf der Geschichte der Metaphysik geprägt worden waren, in sich aufzunehmen und sie damit zum Verschwinden zu bringen scheint. Die Gegensätze von ›Sein‹ und ›Werden‹, von ›Einheit‹ und ›Vielheit‹, von ›Stoff‹ und ›Form‹[,] von ›Seele‹ und ›Leib‹ – sie alle erscheinen jetzt gewissermassen aufgelöst in jene Eine, schlechthin grundlegende Antithese.“ 7 GL 199. 8 Vgl. Recki: „Zwischen Kantischem Kompatibilismus und Naturalismus“, S. 110: „Wo Cassirer in grundsätzlicher Perspektive auf das Verhältnis von Geist und Leben reflektiert, ist ihm ein Zusammenhang, eine Kontinuität bewußt, die . . . auf die Behauptung der Freiheit bei Bestreitung des naturwissenschaftlich behaupteten Determinismus hinaus[läuft] – mit Blick nämlich auf einen Begriff des Lebens (und damit der Natur), in dessen geist-affiner Verfassung Freiheit immer schon angelegt wäre.“ 9 ECN 1, S. 59. 4
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Leib und Seele anschließen kann, kommt dem Kulturtheoretiker darüber hinaus der im Ausdrucksphänomen einheitlich erlebbare, aber im eigenen Selbstbegriff immer schon die Vielheit seiner Funktionspotentiale reflektierende individuelle Mensch in den Blick, dessen organisch „in sich unterschiedene Einheit“ sich dadurch immer mehr als quasi-ontisches Korrelat, existenzieller „Umschlagplatz“ 10, Reflexionsinstanz und Katalysator aller Kulturprozesse erweist. Bei aller Sympathie für Scheler, die sich an verschiedenen Stellen bekundet, scheint mir die darin implizierte Berücksichtigung des empirischen Individuums als geist-affinen Leibwesens eher eine konstruktive Anschlussfähigkeit Cassirers an die Anthropologie Helmuth Plessners nahezulegen; auch wenn man wohl im Rahmen eines direkten Vergleichs einräumen müsste, dass Cassirer in diesem Punkt bei der systematischen Anlage gewissermaßen stehen bleibt und es zur Durchführung einer eigentlichen Leibphilosophie bei ihm letztlich nicht mehr kommt. Wenn man aber die philosophische Anthropologie als ein Paradigma begreift, das gleich hohe Ansprüche an die sachliche Ausdifferenzierung des Themas Mensch wie an die dabei im Denken verfolgte Methode stellt, dann erscheint das Verhältnis der beiden Denker auch hier tatsächlich als ein Verhältnis komplementärer Ergänzung, insofern „Probleme, die in Cassirers Konzeption auftreten, . . . von Plessner beantwortet oder doch besser formuliert zu werden [scheinen] – und umgekehrt“ 11. Eine solche Feststellung müsste in die Irre führen, solange man sie nur auf die reine ‚Sachebene‘ beziehen wollte – etwa in der Art, dass Plessner mehr die ‚natürlichen‘, Cassirer mehr die ‚kulturellen‘ Aspekte der conditio humana artikuliert hätte (eine immer wieder begegnende, aber kaum weiterführende Verkürzung beider Ansätze). Vielmehr trifft es zu, dass von der sachund reflexionslogischen Doppelaufgabe des anthropologischen Projekts jeweils beim einen in aufschlussreicher Weise expliziert wird, was beim anderen eher implizit vorausgesetzt wird. Dazu gehört natürlich auf der einen Seite Plessners detaillierte „Fundierung“ 12 der kulturellen Betätigungen des Menschen in einer physiologisch informierten ‚Ästhesiologie des Geistes‘, die nach seiner eigenen Beschreibung „das innere Konditionssystem“ ergründet, „welches zwischen den symbolischen Formen [!] Vgl. Orth: „Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer“, S. 221: „[D]er Mensch . . . ist »Umschlagplatz« von Formaktivitäten und stofflichen Voraussetzungen.“ 11 ders.: „Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner“. In: ders.: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. S. 225–252, S. 230. 12 ebd., S. 237. 10
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und der physischen Organisation herrscht“ 13 – und damit eine der auffälligsten ‚Lücken‘ in Cassirers Naturphilosophie des Menschen schließen helfen kann. Auf der anderen Seite kann gerade Cassirers elaborierte Theorie der symbolischen Formung in ihrer Eigenschaft als Transzendentaltheorie der allmählichen „Wendung“ des Menschen zur „Gegenständlichkeit“ 14 über die Bedingungen aufklären, die auch Plessners „Phänomenologie des Organischen“ schon voraussetzen muss, wenn sie aus einer Analyse der Dingerscheinungen den Gedanken der „Positionalität“ alles lebendigen Daseins entwickelt. Es handelt sich hier um einen Punkt, der infolge der allgemeinen Konzentration auf Cassirers Kritik am ‚Substanzdenken‘ übersehen zu werden pflegt, obwohl Cassirer selbst bereits gerade an ihm die eigene Nähe zur philosophischen Anthropologie festmachen konnte 15: Nach seiner Einsicht sind es eben die ‚Symbolfunktionen‘ des menschlichen Bewusstseins, die als eine ihrer wesentlichen Gestaltungen auch die Dingwelt unserer empirischen Einstellung erst konstituieren, indem sie sie allmählich einer ursprünglicheren („mythischen“) Lebensund Bewusstseinsform des Menschen abringen, die anfänglich alle Phänomene in der Art belebter Gegenüber auffasst. Der leibseelische (oder auch Körper-Leib-) „Doppelaspekt“, den Plessner angesichts der „hauthaften“, selbstgesetzten und insofern „absoluten Begrenzung“ der Organismen als „Positionalität“ zu einem Definiens des Lebens erklärt, erweist sich in dieser Perspektive als eine von uns als Lebewesen ursprünglich der ganzen Welt gegenüber gemachte Voraussetzung, deren allmähliche Einschränkung auf immer kleinere Sphären des ‚wirklich‘ Lebendigen erst die eigentlich originelle Leistung des Menschen darstellt. Die organischen Phänomene bekommen nach dieser Theorie für uns erst dadurch den Charakter besonderer „Dingformen“ 16, dass sie sich den für die mathematische Wissenschaft typischen Reduktionen der Erscheinungswelt widersetzen und in dieser (tatsächlich erst in den Versuchen radikaler Mechanisierung, etwa bei Descartes und Pascal, ganz klar zutage tretende) Widerständigkeit den Rekurs auf andere, der mathematischen Naturwissenschaft vor- und eingelagerte Kulturformen notwendig machen; und wenn Plessner mit seinem Diktum über Cassirer in der Tat Recht behält, dass dieser die „körperliche Dimension“ der Lebewesen und insbesondere des Menschen zu sehr vernachlässigt habe 17 (und deshalb Vgl. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 33; ders.: Die Einheit der Sinne. 14 ECN 1, S. 60. 15 Vgl. wiederum ECN 1, S. 60. 16 KLL 324. 13
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auch keine Antwort auf den objektiven Grund jener Widerständigkeit mehr gibt), so muss man doch umgekehrt anerkennen, dass gerade Cassirers bis ins Einzelne durchgeführte Einsicht vom abgeleiteten Charakter jeder Vorstellung vom ‚bloß Körperlichen‘ geeignet ist, die psychische Kontinuität des Menschen mit den anderen Naturwesen in den Blick zu bekommen. Überhaupt kann man die Philosophie der symbolischen Formen – noch über die schon von Cassirer selber ins Spiel gebrachte Funktion einer transzendentalen Grundlegung, einer kritischen „Propädeutik“ und „Disziplin“ 18 der philosophischen Anthropologie hinaus – streckenweise wie eine Konkretisierung der drei „anthropologischen Grundgesetze“ lesen, in denen Plessners Stufen kulminieren: allen voran des Theorems der „vermittelten Unmittelbarkeit“, aber eben auch des bei Cassirer weniger exponierten von der „natürlichen Künstlichkeit“ des menschlichen Lebens. Dieselben Argumente, die m. E. dafür sprechen, die Auffassung zu revidieren, Cassirers Philosophie läge überhaupt die völlige Abkehr von jedem ‚substantiellen‘ Begriff des Lebens und Erlebens zu Grunde, sind deshalb zugleich Argumente dafür, mit der von Cassirer (anders als von Plessner) betonten Anschlussfähigkeit beider Ansätze auch in dieser Hinsicht einmal vollen Ernst zu machen und Plessners Stufentheorie der natürlichen Dingformen als ein unmittelbares substantiell-naturphilosophisches Spiegelbild zu Cassirers Kulturphilosophie der symbolischen Formen zu lesen, wobei sich beide Theorien in einem überaus nahe verwandten, nur gleichsam von verschiedenen Seiten aus explizierten funktionalen Formbegriff des Menschen treffen würden. Dabei könnte es am Ende Cassirers Theorem vom werdenden, nämlich in immer neuen Reflexionen an den eigenen kulturell-objektivierten Sinnurteilen von uns zu schaffenden Selbstbegriff des Menschen sein, das die Funktionsmechanismen hinter der Möglichkeit eines Lebens in „exzentrischer Positionalität“ anschaulicher zu fassen erlaubt, als es Plessner selbst mit seiner Tendenz zu paradoxen Formulierungen gelungen ist. Auf Plessner: „Immer noch Philosophische Anthropologie?“, S. 243; siehe das Zitat in § 1, S. 34. 18 Vgl. ECN 1, S. 53: „Und nun, nach diesen allgemeinen Vorerwägungen, lässt sich erst in wirklicher Schärfe der Dienst bezeichnen, den eine systematisch ausgebaute “Philosophie der symbolischen Formen” für die Grundlegung einer “philosophischen Anthropologie” zu leisten vermöchte. Sie könnte für sie in zwiefacher Hinsicht fruchtbar werden – sie würde ihr, Kantisch gesprochen, ebensowohl als “Propaedeutik” wie als “Disziplin” dienen. Sie würde ihr den Grund und Boden bereiten – und sie würde zugleich verhüten, daß sie diesen sicheren Grund verlässt, daß sie sich in Spekulationen verliert, die durch keine “mögliche Erfahrung” bestätigt oder widerlegt werden können.“ 17
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die Fragen etwa, ‚wo‘ sich ein Leben, das sich nach Plessner neben seiner faktischen Gebundenheit an einen Organismus in Raum und Zeit und parallel zu ihr noch durch eine besondere Art der „Ort- und Zeitlosigkeit“ auszeichnen soll, dann konkret abspielen könnte; ‚wo‘ also der „utopische Standort“ und das „Ex“ seines positionalen Zentrums liegen könnte, von dem aus der Mensch die ganze Welt einschließlich seiner selbst erblicken, erkennen und nach seinen Maßgaben gestalten können soll – auf diese und ähnliche Fragen wird man (durchaus in Plessners Sinn) mit Cassirer antworten können, „daß die prinzipielle Entscheidung über jenen »Wesensbegriff« vom Menschen, die hier gesucht wird, nirgend anders als von Seiten einer Philosophie der “symbolischen Formen” wird erfolgen können. Denn diese Formen eben sind es, die die Ebene des geistigen Tuns des Menschen vorzüglich bezeichnen und die gewissermassen die allgemeinen Bestimmungselemente dieser Ebene in sich schliessen. Im Medium der Sprache und der Kunst, des Mythos und der theoretischen Erkenntnis vollzieht sich jene Umkehr, jene geistige Revolution, deren Ertrag darin besteht, daß der Mensch sich die Welt beseitigt, um die Welt an sich zu ziehen. Kraft ihrer wird ihm eine Nähe zur Welt und eine Ferne von ihr zu Teil, wie sie kein anderes Wesen besitzt.“ 19 Es ist eben – darin sind sich letztlich beide Autoren völlig einig – die Kultur das Medium; oder vielmehr: wir schaffen uns selbst in den Akten unserer kulturellen Poiesis erst das Medium, in dem und an dem allein sich Reflexion konkret verwirklichen, an dem allein sich deshalb auch das für den Menschen so charakteristische Selbstbewusstsein als Gattung wie als Individuum herausbilden kann. So ist es letztlich kaum zu begreifen, dass von beiden Philosophen dem einen (Plessner) ganz selbstverständlich der Status eines Klassikers der philosophischen Anthropologie zuerkannt wird, während man beim anderen (Cassirer), der so gezielt und systematisch diese Funktion der Kultur für unsere Selbsterkenntnis, für alles Wissen des Menschen um die eigene Existenz herausgearbeitet hat, bis heute selbst um diese Zuordnung streiten muss. Es gilt freilich auch, dass, so vielversprechend eine konsequent von A bis Z durchgeführte Synthese von Cassirers und Plessners Anthropologien erscheinen mag, auch sie nicht alle naturtheoretischen Probleme lösen könnte, vor die Cassirer Philosophie uns heute stellt. Schon zu Cassirers Lebzeiten stand etwa die Verhaltensbiologie im Begriff, über die prinzipiellen Einsichten hinauszuschreiten, die er v. a. bei Jakob von Uexküll rezipieren und für den eigenen Ansatz systematisch fruchtbar machen konnte. Mehr als achtzig Jahre nach Konrad Lorenz’ ersten 19
ECN 1, S. 36.
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bahnbrechenden Publikationen zum Verhalten der Vögel 20, die Cassirer durchaus noch hätte zur Kenntnis nehmen können, stehen wir heute nicht nur der Annahme einer unser Leben mitprägenden Kontinuität zwischen tierischen und menschlichen Verhaltensweisen in vieler Hinsicht aufgeschlossener gegenüber als er (etwa mit Blick auf gewisse erbliche Universalien in unserem Kommunikations- und Sozialverhalten), sondern wir haben heute sogar gute Gründe, an der bislang selbstverständlichen Grundannahme der Rede von einer „Sonderstellung“ des Menschen in der Welt: an der evolutionsgeschichtlichen Einzigartigkeit des homo sapiens mit Blick auf seine charakteristischsten Kulturleistungen wie Sprache, Beherrschung des Feuers usw. zu zweifeln. 21 Will man angesichts solcher naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine theoretische ‚Renaturalisierung‘ des Menschen in gewissem Sinne unumgänglich machen, dennoch weiterhin am Gedanken einer aus prinzipiellen Gründen in keiner Naturtheorie adäquat wiederzugebenden Autonomie unseres natürlich-kulturellen Handelns festhalten, so wird man dafür heute einerseits stärkere Argumente benötigen, als Cassirer sie mit seinen von Uexküll übernommenen und in vergleichender Absicht vorgebrachten stereotypen Skizzen des Lebens von Spinnen, Fliegen oder Seeigeln liefern kann. Andererseits ist man bei einem solchen Unterfangen gut beraten, sich jederzeit klar vor Augen zu halten, gegen was hier eigentlich die Freiheit zu verteidigen ist; und hier wiederum kann die Besinnung auf den Denker helfen, der mit seiner Philosophie der symbolischen Formen die wohl umfassendste Theorie der Freiheit im 20. Jahrhundert entwickelt, und der sich zu ihrer Profilierung zuerst gegen den Substantialismus, später auch gegen den (in der Moderne i. d. R. dynamischer auftretenden) Naturalismus, dabei aber eigentlich nie gegen die Natur, sondern vielmehr: gegen den Determinismus im menschlichen Selbstverständnis gewandt hat. Schließlich sei noch auf einen letzten Punkt hingewiesen, den Cassirer noch überhaupt nicht im Blick hatte, zu seiner Zeit tatsächlich auch kaum im Blick haben konnte, obwohl er für uns heute einen der wichtigsten Aspekte des ganzen ‚Naturproblems‘ ausmacht. Ich meine die ökologischen Krisen der Gegenwart zwischen Artensterben und Klimawandel, die mit der bewussten und unbewussten Ausrichtung aller Naturprozesse des Planeten an den Zwecken der Menschheit einhergehen und sie überall vor Probleme stellen, von denen eine nüchterne Betrachtung heute beim besVgl. v. a. Konrad Lorenz: „Der Kumpan in der Umwelt des Vogels“. In: Journal of Ornithology 83 (1935), H. 3. S. 289–413. 21 Vgl. Suddendorf: Der Unterschied; siehe dazu auch Anmerkung 194 auf S. 299 dieser Arbeit. 20
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ten Willen nicht vorherzusagen vermag, ob sie sie am Ende lösen oder an ihnen zugrunde gehen wird. Maßgeblich dafür ist aber schon lange nicht mehr die Frage Rousseaus, die noch für Cassirer im Vordergrund des ganzen anthropologischen ‚Naturproblems‘ stand, ob der Mensch im Ganzen des Kosmos eher als Stellvertreter Gottes oder als animal dépravé zu gelten habe. 22 Es handelt sich heute für uns vielmehr um die unmittelbar praktische Frage, wie wir unser eigenes natürlich-künstliches Leben mit demjenigen anderer Spezies auf neue gemeinsame Nenner bringen können, indem wir deren je spezifische Lebensansprüche mit unseren eigenen Interessen abgleichen, anstatt (wie wir es aus unserer gesamten bisherigen Stammesgeschichte gewohnt sind) unseren totalen technischen Machtvorteil ausschließlich zu den eigenen Gunsten auszunutzen. Beim theoretischen Durchdenken dieses noch so jungen und schon so ernsten Problems, in dem hohe epistemische Komplexität mit höchsten moralischen Ansprüchen zusammentrifft, kann uns Cassirer, dem nicht nur die Ökologiefrage, wie wir sie heute verstehen, noch völlig unbekannt war, sondern der auch das Faktum der pragmatischen Interaktivität und funktionalen Interdependenz der Arten aus seinem auf die organischen Einzelformen fokussierenden Bild der Natur so weitgehend ausgeklammert hat, dass es schwer fiele, jene Frage überhaupt in seinen Begriffen zu reformulieren, allem Anschein nach keine große Hilfe sein. Dennoch kann es sich, wenn man sich einmal mit der ‚existenziellen‘ Seite seiner Philosophie angefreundet hat, lohnen, seine sokratische Bestimmung des Menschen als des „antwortfähigen“ und deshalb zwangsläufig verantwortlichen Wesens 23 mit neueren, (auch) die Ökologie betreffenden Ansätzen zur Verantwortungsethik abzugleichen. Ich denke dabei vor allem an zwei Aspekte, die sich von Hans Jonas bis hin zu Gerhardt Pretzmann und anderen durchziehen 24 und in denen sich nach meiner Einschätzung eine Art Kernbestand rational-ökologischen Denkens identifizieren lässt: Erstens können wir, sofern wir das Problem überhaupt als solches ernstnehmen, uns heute weder darauf verlassen, dass ein Gott mit schützender Hand, noch darauf, dass die Natur selbst am Ende ‚schon alles regeln wird‘ – jedenfalls nicht so, dass die Fortexistenz des Menschen durch geheimnisvolle, teleologisch auf ihn hingeordnete Ausgleichsmechanismen verbürgt würde. Wir haben uns durch unsere beispiellose evolutionäre ErVgl. VM 49 f. / EM 29 f. Vgl. VM 22 / EM 9 f. 24 Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 13. Aufl. Frankfurt am Main 1998; Gerhard Pretzmann (Hg.): Umweltethik. Manifest eines verantwortungsvollen Umgangs mit der Natur. Graz u. a. 2001, darin v. a. ders.: „Verantwortungsethik“ (ebd. S. 233–238). 22 23
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folgsgeschichte schließlich selber in die Rolle des Hauptverantwortlichen für den Fortbestand unserer Gattung wie auch aller anderen manövriert, der wie nun, ob wir wollen oder nicht, in unserem kulturellen Handeln gerecht werden müssen: Wir dürfen nicht nur, wir müssen heute geradezu ‚Gott spielen‘ und tun es auch – die Frage ist nur, auf welche Weise und mit welchem Ziel. Kaum etwas ist aber der damit dringend gebotenen Verantwortungsübernahme abträglicher als eine Vorstellung von Natur, die unsere eigene Natürlichkeit (z.B. mit Verweis auf ein vermeintliches Eigenleben der Gene oder psychologisch-statistische Häufungen) derart gegen die Autonomie des Einzelnen ausspielt, dass am Schluss nur die Vorstellung eines Ablaufs übrig bleibt, der sich „gewissermaßen von selbst vollbringt“ 25. ‚Natur‘ ist heute, im Großen wie im Kleinen, wie nie zuvor zu einer Aufgabe unserer kulturellen Selbstbestimmung geworden, sodass „von der Art [unserer] Entscheidung“ mit der „Richtung und [der] Zukunft der Kultur“ 26, auch unser Verhältnis zur Natur abhängt, von der wir selbst ein Teil sind. Diese neue Verantwortung verlangt uns viel ab, der Gattung wie dem Individuum: so viel, dass wir – so sicher es ist, dass das alte „Prinzip Hoffnung“ keine Option mehr ist – letztlich immer auch hoffen müssen, dass es am Ende nicht zu viel sein werde. Damit ist zweitens auch die Notwendigkeit verbunden, eine jahrhundertelange Tradition der Versachlichung der Natur durch eine neue Wertschätzung ihres Eigenlebens zu ergänzen, die ohne eine teilweise (!) Umorientierung von ihrer technisch-instrumentellen zur ästhetischen, vielleicht sogar (wie Jonas vermutet) zur religiösen Bewertung kaum zu verwirklichen sein dürfte. Dem Optimisten und Aufklärer Cassirer ist diese Problematik freilich unbekannt; aber er hat sich mit Rücksicht auf den Gefühlshaushalt seiner Zeitgenossen und das wachsende Unbehagen in der Kultur einen denkerischen Anspruch zu eigen gemacht und ihm entsprechend die Transzendentalphilosophie zu einer Methode der Kulturreflexion weiterentwickelt, die uns auch in der neuen Frage womöglich weiterhelfen kann. Das Bild, in dem sich ihm dieser Zug seines Ansatzes am deutlichsten symbolisiert hat, stammt aus Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ 27; es bringt, vordergründig in einer Frage der Ästhetik, diejenige mittlere Haltung zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschrittsglauben und romantischer Rückwärtsgewandtheit treffend auf den Punkt, die mir auch Vgl. NHBK 143: „Diese Ruhe und diese Sicherheit [des romantischen Naturalismus, F. S.] schließt ein quietistisches Gedankenexperiment in sich. Die Welt der Kultur wird nicht mehr als eine Welt der freien Tat gesehen; sie wird als ein Schicksal erlebt.“ 26 Vgl. NHBK 166. 27 Vgl. GL 185 f. und PhsF 3, S. 46 f. 25
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für unseren Umgang mit den ökologischen Problemen der Gegenwart die gesündeste zu sein scheint: „[D]as Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. . . . Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punktes, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet . . . : so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein . . . Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ 28
Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater“. In: Sämtliche Erzählungen und andere Prosa. Stuttgart 2011. S. 331–339, S. 335 u. 339. 28
Anhang A Naturphilosophie. – Philosophische Grundprobleme der Naturerkenntnis Typoskript eines Manuskripts aus der Beinecke Rare Books and Manuscripts Library, Yale (Signatur GEN MSS 98, Box 49, Folder 924). I) Begriff und Aufgabe der Naturphilosophie Der Gedanke und das Thema der Naturphilosophie ist so alt wie der Begriff der Philosophie selbst: ja man kann sagen, daß der Begriff und der Gedanke der ›Natur‹ es ist, aus welchem sich der Begriff der Philosophie erst entwickelt. Nicht unmittelbar gelangt die Philosophie zu dem Bewusstsein ihrer eigentümlichen Bedeutung und Aufgabe, sondern erst an der Erkenntnis ihres Objekts entwickelt sich ihre Selbsterkenntnis: die Erk[enntnis] dessen, was sie ist und will. In diesem Sinne besteht zwischen den beiden Elementen, die sich im Begriff der Naturphilosophie zusammenfassen, ein eigentümliches, auf den ersten Blick paradoxes und widerspruchsvolles Verhältnis. Der Begriff der Natur bildet auf der einen Seite die Grundlage u[nd] den Ursprung des Begriffs der Philosophie – und auf der anderen Seite ist schon in ihm, in seiner ersten Konzeption der Begriff der Philosophie u[nd] die ihr eigentümliche ›Form‹ des Denkens vorausgesetzt. Denn es ist ein dogmatisches Vorurteil –, auf dessen Überwindung dann die ›Naturphilosophie‹, wie wir sie hier als kritische Disziplin verstehen wollen, gerichtet ist – daß das, was wir ›Natur‹ nennen, sich gleichsam mit Händen greifen lässt – daß sie ein selbstverständliches, unmittelbar gewisses Datum ist, das all unserer begrifflichen Erkenntnis und aller begrifflichen Deutung der Erscheinungen vorausliegt. Schon die Anwendung des Naturbegriffs schliesst vielmehr eine solche Deutung in sich. Wenn Bacon als die Aufgabe aller Naturwissenschaft die ›interpretatio naturae‹ bezeichnet, so muss die philosoph[ische] Besinnung hier noch einen Schritt weiter zurückgehen: sie interpretiert nicht nur die Natur als etwas übrigens Feststehendes, als einen gegebenen Text, den es nur auszulegen gilt: sondern sie erkennt den Anteil der begrifflichen Auslegung, der schon in dem blossen Gedanken der Natur selbst enthalten ist. Das ist freilich erst ein Ziel, ein letztes Ergebnis, dem die N[atur]Ph[ilosophie] als kritische Disziplin zustrebt: während ihr Anfang nicht darin besteht, auf ihr eigenes Tun zu reflektieren, sondern es schlechthin auszuüben. Sie »setzt« einen bestimmten Begriff der Natur – ohne weiter
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nach der ›Möglichkeit‹ einer solchen Setzung zu fragen. In klassischer Klarheit und Einfachheit sehen wir dies Verfahren in den Anfängen der griech[ischen] Philosophie vor uns. Die Griechen gewinnen einen neuen Begriff der Natur, der φύσις, und in ihm scheidet sich nun erst die ›Wissenschaft‹, die ›philosophische‹ Erkenntnis vom Mythos. In dieser Gewinnung des Naturbegriffs wirkt daher auf der einen Seite das philosophische Denken als eigentlich zeugendes Motiv – und auf der anderen Seite gewinnt dies Motiv, in dieser seiner grundlegenden Leistung, erst seine erste, wahrhafte ›Wirklichkeit‹, gelangt es erst zum Bewusstsein seiner selbst. Man hat davon gesprochen, daß auch die griech[ische] Naturphilosophie »aus dem Geiste der Mystik« entstanden sei ( Joel) – und unverkennbar ist z. B. bei Anaximander, bei Heraklit, bei den Pythagoreern der mystisch-religiöse Einschlag ihrer Grundlehren. Aber nicht dies ist hier das Entscheidende u[nd] Bestimmende: nicht das, was, im eigentlichen Sinne, in der Geschichte der Weltanschauungen ›Epoche macht‹. Daß die Natur noch als ein einziger großer Lebenszusammenhang, daß sie als ein durchgängiges Analogon des seelischen Geschehens, als ein Schauplatz göttlichen Wirkens und göttlicher und dämonischer Kräfte gedacht nicht nur, sondern empfunden und gefühlt wird: das ist freilich der selbstverständliche Ausgangspunkt des griech[ischen] Denkens: aber es ist auch nicht mehr als ein Ausgangspunkt. Das Ziel dieses Denkens aber, der ›terminus ad quem‹ liegt in einer völlig anderen Richtung. Es ist bezeichnet durch zwei Grundbegriffe, die das griechische Denken zum ersten Mal in voller Bestimmtheit ausprägt und in denen es sich vom Mythos loslöst: durch die Begriffe der οὐσία und des κόσµος. Beide Begriffe dienen einem einheitlichen Zweck: sie entfernen den Schein der Willkür aus dem Gedanken des Naturgeschehens. Auch der Mythos ist belebte und beseelte, aber geistige Auffassung der Erscheinungen, der Wirklichkeit – aber diese eigentümliche ›Geistigkeit‹ erwächst aus der Grundfunktion der Phantasie. Wie diese Phantasie hier noch ungebunden spielt, – so verwandelt sie die ›Welt‹ in ein solches ungebundenes Spiel von Kräften. Hier stehen wir in einer Welt, in der gleichsam ›alles aus allem‹ werden kann: in einer Welt der blossen ›Metamorphosen‹, der beliebigen Wandlungen und Umwandlungen. Freilich tritt weiterhin, in den fortgeschrittenen und ausgebildeten Stufen des mythischen Denkens, bereits ein anderes Moment ein, das dazu bestimmt ist, über die Grenzen des Mythos selbst hinauszuführen. Hinter jener Welt der Willkür, in der das mythische Wirken sich bewegt, steht doch eine – zunächst gleichfalls rein mythisch gefasste Notwendigkeit, die diese Willkür einschränkt: über dem Willen des Homerischen Zeus
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steht noch die µοῖρα als beherrschende und einschränkende Gewalt. Sie ist der erste, mythisch-religiöse Ausdruck eines allwaltenden Gesetzes des Seins und Geschehens. Auch die indische religiöse Spekulation zeigt uns diesen Gedanken in reiner Ausprägung. Das Wort rita (etymologisch verwandt mit ordo und ratio[,] cf. Max Müller) – ursprünglich als Bezeichnung für den Lauf und die geordnete Bahn der Gestirne – dann umfassend für die »Ordnung« des Geschehens überhaupt. Beides: die mythische Quelle dieses Begriffs der ›Notwendigkeit‹ – und das Hinausgehen über sie, das Herauswachsen aus der mythischen Weltanschauung in die der griech[ischen] Wissenschaft zeigt sich uns sodann bei Heraklit – und diese eigentümliche Mischung der beiden Momente: – der Mythos, der zum Logos wird, der Logos, der noch Mythos bleibt – macht die eigentliche Signatur seines Geistes und seines Weltbildes aus. Auch ihm scheint auf den ersten Blick das All, das Weltgeschehen noch ein mythisches Spiel: »die Ewigkeit ist ein spielendes Kind, eines Kindes die Herrschaft« (fr[agmentum] 52) Aber dennoch zeigt sich dieses Spiel, für den der mit dem Gedanken, mit dem Logos tiefer in dasselbe eindringt, als gebunden an ewige eherne grosse Gesetze. Diese Gesetze sind es, die dem Sein und dem Geschehen die Maße vorschreiben, die sie nicht überschreiten können. Es gibt bei allem rastlosen Geschehen, bei aller Wandlung und Umwandlung, die nirgends einen Stillstand kennt, nirgends ein Dauerndes und Beharrliches aus sich hervorgehen lässt, doch keinen Rückfall in Chaos und Willkür – kein Herab- und Zurückgleiten ins bloss Unbestimmte, Gesetzlose: als dem Widerspiel und Gegensatz zu aller Vernunft. Die ›Vernunft‹ des Geschehens: sie ist nicht ein blosser Teil des Alls, sondern sie ist dieses All selbst; sie ist das was das Wissen, was der Gedanke an ihm nicht als einzelne, zufällige Bestimmung, sondern als sein durchgängiges Wesen erfasst: ἓν τὸ σοφόν ἐπίστασθαι γνάµην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ παντῶν. Dieser Sinn beherrscht auch alles Einzelgeschehen und ordnet sich ihm über: Der mythische Ausdruck des blossen Geschehens, des blossen Werdens ist damit überwunden: selbst bei Heraklit, dem eigentlichen Philosophen des Werdens, nimmt dieses nun einen Begriff und eine Bedeutung an, in der es nicht sowohl in seiner sinnlichen Vielgestaltigkeit, als viemehr in seiner vernunftgemässen 1 Einheit gefasst wird: in der es aber selbst zum Kosmos, und damit – zum Sein wird. ›Diesen Kosmos hier, der derselbe ist für alle Wesen, hat nicht einer der Götter noch einer der Menschen geschaffen: sondern er war immer und wird sein, ein ewig-lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen verlöschend.« Dieser Begriff 1
Eingefügt statt: kosmischen
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des »Maßes« gibt die eigentliche tiefere Einheit von Sein und Werden: denn er hält im Werden selbst das Sein, er hält im Moment des zeitlichen Entstehens und Vergehens das Moment der Dauer fest. Das ist der neue Sinn der Notwendigkeit, der δίκη, der ἁµαρµένη, durch den sie, noch halb im Mythischen stehend[,] sich nun ins Logische und zum Logischen umgestaltet. ›Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten: täte sie es, so würden die Erinyen, die Schergen der Dike, (δίκης ἐπίκουροι) sie ausfindig zu machen wissen.[‹] In diesen drei Grundbegriffen des griechischen Denkens, im Begriff der οὐσια, des κόσµος und des µέτρον, im Begriff des Seins, der Ordnung und des Maßes erwächst ihm nun auch sein charakteristischer Naturbegriff. Dieser Naturbegriff ist ein anderer bei den Ioniern, bei Heraklit, bei den Pythagoreern, bei Demokrit: aber immer gehen in den griechisch-wissenschaftlichen Begriff der ›Natur‹, der ›Physis‹, diese drei Grundmomente in irgend einer Form und in einer charakteristischen »Mischung« ein. Die Ionier finden das Sein, die οὐσια im Stoffe – und sie bleiben im allgemeinen bei dem Stoff als der erschöpfenden Bestimmung des Seins stehen. Die »Philosophie« der Natur, das Wissen von der Physis ist ihnen – den ersten ›Physiologen‹, wie Aristoteles sie genannt hat – das Wissen von den Stoffen, ihren Wandlungen, und ihren letzten, dauernden Elementen. Aber auch sie denken in der Stoffvorstellung bereits die Notwendigkeitsvorstellung: die Art, in der die Stoffe aus einander hervorgehen und 2 in bestimmter zeitlicher Folge einander ablösen, erfolgt ›nach der Notwendigkeit‹ (κατὰ τὸ χρέων [-] Anaximander). Näher noch sind beide Momente sodann bei Heraklit, bei den Pythagoreern, bei Demokrit mit einander verschmolzen. Bei Heraklit ist der Logos nicht nur das innere »Maß« des Seienden; sondern er ist das Sein selbst, weil das einzige Bestehende und Dauernde im allgemeinen Fluß der ›Dinge‹ (der gewöhnlichen »Substanzen«) – bei den Pythagoreern ist die Zahl, als universeller Ausdruck des Maßes und des Kosmos, zugleich die οὐσία, das ›Wesen‹ aller Dinge. Und für Demokrit, der den Begriff der ›Naturnotwendigkeit‹ zuerst rein ausprägt (οὐδὲν χρῆµα µάτην γίνεται, ἀλλὰ πάντα ἐκ λόγον τε καὶ ὑφἀνάγκης); bei ihm[,] der erklärt, für jede noch so geringfügige Aufweisung einer solchen Notwendigkeit, für jede ›Aitiologie‹ das gesamte Perserreich hingeben zu wollen: für ihn ist diese Notwendigkeit so sehr über den blossen Kreis des Seins hinausgewachsen, daß sie Sein und Nicht-Sein gleichmässig umspannt. Sie ist der Ausdruck der Natur wahrheit schlechthin – und zur Begründung, zur Aussprache dieser Naturwahrheit sind das ὄν und das µὴ ὄν (das ›Volle‹ und das ›Leere‹, 2
Dahinter gestrichen: sich
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die ›Masse‹ und der ›Raum‹) gleich unentbehrliche Bestandteile. Das Notwendige der Bewegung ist das eigentlich entscheidende Kriterium[,] und aus ihm wird alle Realität der Natur bestimmt: – also gehören zu dieser Realität sowohl das ›Ichts‹, wie das ›Nichts‹, sowohl die Elemente der körperlichen Substanz, wie die rein räumlichen Beziehungen: µὴ µᾶλλον τὸ δὲν ῁ τὸ µηδέν. Blicken wir sodann vom Denken der Griechen zur neueren Philosophie, zur Philosophie der Renaissance hinüber, so wiederholt sich hier der gleiche Prozess. Auch in der Renaissance – und darin eben bekundet sich vor allem ihre Originalität und ihre schöpferische Kraft – handelt es sich nicht um ein blosses tieferes Eindringen in die empirischen Einzelheiten der Natur, sondern es handelt sich um die Gewinnung, um die Entdeckung eines ganz neuen und allgemeinen Naturbegriffs – eine Entdeckung, die fast als eine logische Neuschöpfung zu bezeichnen ist; wenngleich sich hier, auf einer neuen höheren Stufe, fast all die entscheidenden Grundmotive wiederfinden, von denen das griechische Denken gelenkt war. Jetzt vereinen sich Platon und Demokrit: – und aus ihrer Synthese geht –, in Verbindung mit der geschärften Beobachtung der Natur u[nd] mit dem neuen mathematischen Instrument der Rechnung, mit der Analysis des Unendlichen – das neue Weltbild, das Weltbild Keplers und Galileis hervor. Und auch hier wurzelt der Naturbegriff zunächst noch in einem mythischen Urgrund und Untergrund, von dem er sich nur allmählich ablöst. Giordano Bruno wird zum Herold des Copernicus – er sucht die ›Natur‹ als mathematisches Ganze zu fassen und ihre Unendlichkeit, gleich seinem philosophischen Vorbild und Lehrer, Nikolaus Cusanus, in mathematischen Symbolen zu beschreiben: – aber die Symbole der Mathematik verwandeln sich ihm doch immer wieder in die der Magie. Die Schriften zur Magie nehmen in der Gesamtheit seiner Werke noch einen breiten Raum ein. Die Natur wird als mythische, als magische Lebenseinheit gefühlt, ehe sie sich im reinen mathematischen Begriff gestaltet. Aus der Magie selbst (vgl. Portas ›Magia naturalis‹) wächst der neue empirische Naturbegriff u[nd] die empirische Naturanschauung heraus. Der Mittelbegriff aber, durch welchen die mythisch-phantastische Naturansicht der Renaissance allmählich in die neue begriffliche, in die mathematische Auffassung der Natur übergeht, liegt auch hier im Begriff der Notwendigkeit. Für Giordano Bruno ist die ›Natur‹ das Ganze des Lebens – ist sie selbst innerlich belebtes und bewegtes und somit göttliches Sein. Aber diese immanente göttliche Kraft, die in allen Dingen wirkt, wird nun von ihm zugleich als das innere Gesetz gefasst, dem sie unterstehen u[nd] von dem sie in all ihren Wandlungen beherrscht sind. ›Natura estque nihil, nisi virtus
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insita rebus / Et lex qua peragunt proprium eunda entia cursum‹ (De immenso). Jedes Wesen folgt in seiner Entwicklung und Entfaltung dem eigenen Gesetz und vollendet seinen eigenen Lauf: und doch offenbart sich in dieser unendlichen, individuellen Lebensfülle ein übergreifendes allgemeines Gesetz: und dies meinen wir, wenn wir von ›der‹ Natur als Einheit, vom Universum, im Gegensatz zu dern Vielheit der »Naturen« der Einzeldinge sprechen. (Vgl. De l’infinito, universo e mondi). Wir verfolgen hier nicht, wie diese Begründung des Seins der Natur in ihrer Notwendigkeit und diese gedankliche Aufhebung der Natur in die Notwendigkeit ihrer Gesetze sich dann in der neueren Wissenschaft immer klarer und immer schärfer ausprägt. Wir heben nur ein Beispiel: die Schrift Robert Boyles, eines der Begründer der modernen ›mathematischen Naturauffassung‹, ›De ipsa Natura‹ vom Jahre 1682 heraus (De ipsa Natura sive . . . : London 1687). 3 Boyle bekennt, soweit von der gewohnten Heerstraße des Denkens abgewichen zu sein, daß er sich oft die Frage vorgelegt habe, ob überhaupt die Natur ein Gegenstand oder ob sie ein blosser Name sei: ob sie ein reales existierendes Etwas, oder nur ein Begriffswesen sei. Und er entscheidet sich für das Letztere. Der eigentlich- wissenschaftliche Sprachgebrauch darf das Wort »Natur« immer nur in dem Sinne nehmen, daß darunter keine geheimnisvolle mythische Kraft verstanden wird, die die Dinge aus ihrem Schoß hervorgehen lässt, sondern daß es lediglich als Ausdruck für die vorausgesetzte einheitliche und durchgängige Gesetzlichkeit der Erscheinungen gebraucht wird. »Wenn wir sagen, daß die Natur handelt, so meinen wir damit nicht, daß ein Vorgang kraft der Natur, sondern vielmehr, daß er gemäss der Natur von Statten geht. Die Natur ist also nicht als eine distinkte und abgesonderte Tätigkeit, sondern gleichsam als die Regel oder vielmehr als das System der Regeln zu betrachten, gemäss dessen die tätigen Kräfte und die Körper, auf welche sie wirken, von dem großen Urheber der Dinge zum Handeln und Leiden bestimmt werden.« Damit ist derjenige Begriff der ›Natur‹ ausgesprochen, der die exakte Wissenschaft als Ziel aufstellt. Erst in zweiter Linie ist für sie die Natur ein Ganzes von ›Dingen‹ oder ›Vorgängen‹: – in erster ist sie ein Inbegriff von ›Regeln‹. Diese Regeln bilden die Bedingung dafür, daß Dinge oder Vorgänge sich überhaupt zu einer Einheit zusammenschließen: und diese Einheit, diese Synthese der Erscheinungen zu Gesetzen ist es, die die Wissenschaft meint, wenn sie von Natur spricht. Zu deutlichem und entschiedenem philosophischem Bewusstsein ist dieser Naturbegriff der modernen Wissenschaft sodann bei Kant ge3
Am Rand: Erk[enntnis]probl[em] 2II, [S.] 432f.
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langt. Kant unterscheidet einen doppelten Begriff der Natur: ihren formalen und ihren materialen Begriff. ›Natur‹ – so definiert Kant [-] ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. (Proleg[omena] § 14) Hier sehen wir in einer kurzen u[nd] knappen Formel den Gedanken ausgesprochen, mit dem die Wissenschaft, seit ihren ersten Anfängen bei den Griechen, gerungen hatte. Um das Dasein handelt es sich im Problem der Natur – und dieser Begriff des An dieser Stelle folgt ein Seitenwechsel. Der hier begonnene Satz passt syntaktisch und semantisch nicht zum auf der folgenden Seite fortgesetzten; dazwischen scheinen im Manuskript eine oder mehrere Seiten zu fehlen. Danach fährt der Text fort: a priori und gäbe keine reine Naturwissenschaft; sondern wie die Bedingungen a priori von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Quellen sind, aus denen die allgemeinen Naturgesetze hergeleitet werden müssen.« (Proleg[omena] § 17) Und aus dieser Art der Fragestellung ergiebt sich sodann für Kant die Antwort auf die Grundfrage der Naturphilosophie, die er in eine Grundfrage der Transzendentalphilosophie verwandelt, die Antwort auf die Frage: wie ist Natur selbst möglich? ›Natur‹ ist möglich, weil und sofern durch allgemeine Verstandesgesetze die Form der Erfahrung bestimmt, d. h. die Verknüpfung aller besonderen Erscheinungen zu einem einheitlichen gesetzlichen Ganzen gesichert wird. »Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung wissen können, aber die Gesetzmässigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d.i. die Natur überhaupt können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori zum Grunde liegen. Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der ersteren sind selbst die Gesetze der letzteren. Wir müssen empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne daß besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, bloß die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden, und in Ansehung der letzteren ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei; und da in dieser die Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung . . . mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichtsdestoweniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letzteren sage: der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.« (§ 36 Prol[egomena])
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Mit dieser Wendung Kants ist die eigentliche Naturphilosophie in die kritische Erfahrungsphilosophie, in Transzendentalphilosophie aufgehoben. Es handelt sich nicht mehr darum, was die Natur als absoluter Gegenstand, was sie als ›Ding an sich‹ ist, sondern lediglich darum, was sie als Gegenstand der Erkenntnis ist. Die Möglichkeit der ›Natur‹ wird mit der Möglichkeit der Naturerkenntnis – und speziell mit der der Mathematik u[nd] der mathematischen Physik, gleichbedeutend. Die »metaphysischen« Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind vielmehr ihre logischen Anfangsgründe. Das ist der klassische ›transzendentale‹ Sinn 4, der von Kant dem Apriori – u[nd] damit der Natur – gegeben wird. Aber nun entwickelt sich aus dieser kritisch-transzendentalen Fragestellung ein anderes Problem – und dieses wird zum Grundproblem der philosophischen Romantik. Auch die Romantik sucht nach der Einheit der Natur: aber diese Einheit soll mehr als bloß gedachte, als blosse Begriffseinheit sein. Sie will im Gefühl erfasst und nachgelebt werden. Das ›subjektive‹ Leben der Natur, das sie durchdringt und durchflutet, ist in ihr selbst, in ihren einzelnen Gestaltungen, nicht gleichsam erstarrt und gebunden: es wird erst wahrhaft frei und damit erst wahrhaft 〈sichtlich〉 5, indem es sich durchringt und steigert zur Subjektivität des Ich, zur Subjektivität des Selbstbewusstseins. Die »Natur« nicht als ein Ganzes bloss gedachter, abstrakter, mathematischer Gesetze zu begreifen, sondern sie im Spiegel des Ich zu erkennen, d. h. ihr Thun innerlich zu erfassen und innerlich nachzuleben: das wird jetzt die große Aufgabe der romantischen Naturphilosophie, wie sie vor allem von Schelling erfasst und verkündet wird. In diesem seinem Naturbegriff, den er dem Naturbegriff der Wissenschaft, der mathematischen Physik entgegensetzt, geht Schelling nicht auf Kant, sondern auf Goethe zurück. Goethe ist ihm der Beweis und das lebendige Zeugnis für jene ideelle Einheit, auf deren Anschauung seine gesamte Philosophie beruht: in ihm findet er aufs reinste und vollkommenste ausgedrückt, wie in der aesthetischen Anschauung des Genies, im Schaffen und Schauen des großen Künstlers, auch erst die wahrhafte ›intellektuelle Anschauung‹ der Natur, d. h. das Bewusstsein ihres immanenten schöpferischen Prozesses, gewonnen wird. »Als getrennt muss sich darstellen« – so sagt Goethe einmal – [»]Physik von Mathematik. Jene muss in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und sich mit allen liebenden, verehrenden frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muss sich dagegen un4 5
Das Wort Sinn ist doppelt geschrieben Undeutlich geschrieben
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abhängig von allem Äussern erklären, ihren eigenen grossen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen.« Da haben wir den Trennungsstrich gegen das Ideal der ›mathematischen Naturphilosophie‹ klar bezeichnet – und dieser Trennungsstrich ergibt zugleich den Trennungsstrich zwischen Schelling und Kant. Die Natur nicht sowohl zu begreifen, d. h. sie auf ein Ganzes abstrakter Regeln zu bringen, als sie vielmehr zu verstehen, d. h. ihr Tun innerlich nachzuleben: das ist die Aufgabe, die Schelling sich stellt. Alles bloss wissenschaftliche Begreifen der Natur verwandelt sie bereits in ein blosses Produkt: wir müssen sie, um sie zu begreifen, zuvor ertöten[,] d. h. sie in starre Klassen und Gattungen (gleich den Speziesbegriffen der Linnéschen Botanik) abteilen, damit aber ihr »lebendiges Fliessen« in ein starres mechanisches Sein und in starre mechanische Gegensätze verwandeln. Die philosophische Betrachtung der Natur aber bleibt nicht, wie die empirisch-wissenschaftliche, beim blossen Produkt der Natur stehen, sondern sie geht auf das, was Quell und Voraussetzung aller Natur produkte ist: auf die unmittelbar-lebendige Anschauung ihres Produzierens. In dieser Anschauung erst wird die Natur als das, was sie ihrem eigentlichen und tiefsten Grund nach ist, als ein Geistiges erfasst: wird sie in ihrer Identität mit dem Geiste ergriffen und begriffen. »Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation verrät deutlich genug einen regen Trieb, der mit der rohen Materie gleichsam ringend, jetzt siegt, jetzt unterliegt, jetzt in freieren, jetzt in beschränkteren Formen sich durchbricht. Es ist der allgemeine Geist der Natur, der allmählich die rohe Materie sich selbst anbildet. Vom Moosgeflechte an, an dem kaum noch die Spur der Organisation sichtbar ist, bis zur veredelten Gestalt, die die Fesseln der Materie abgestreift zu haben scheint, herrscht ein und derselbe Trieb, der nach einem und demselben Ideal von Zweckmässigkeit zu arbeiten, ins Unendliche fort ein und dasselbe Urbild, die reine Form unseres Geistes auszudrücken bestrebt ist.‹ Diese letzte Identität des Geistigen und Natürlichen, die nach Schelling das eigentliche Thema aller Natur philosophie bildet, ganz zu erfassen, ist freilich nur der aesthetischen Anschauung, der Anschauung des Künstlers gegeben: ›es ist gleichsam, als ob in den seltenen Menschen, welche vor andern Künstler sind im höchsten Sinne des Wortes, jenes unveränderlich Identische, auf welches alles Dasein aufgetragen ist, seine Hülle, mit der es sich in anderen umgibt, abgelegt habe und so wie es unmittelbar von den Dingen affiziert wird, ebenso auch unmittelbar auf alles zurückwirkt.« »Die Ansicht, welche der Philosoph von der Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natürliche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das
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in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Doch könnte das Rätsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht; denn durch die Sinnenwelt blitzt nur wie durch Worte der Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel, das Land der Phantasie, nach dem wir trachten.« Hier ist die Grundtendenz der Schellingschen Naturphilosophie in aller Klarheit zu erfassen. Sie fragt nicht nach demjenigen Begriff der Natur, der sich in der Gesetzlichkeit der Erscheinungen vor uns darstellt: – sondern dieser Begriff, dem die empirisch-wissenschaftliche Ansicht nachgeht, bildet für sie, sofern er fassbar ist, immer nur die Hülle für etwas Anderes und Tieferes: für die Idee der Natur. Der Begriff ist immer nur die Art, wie der abstrakte Verstand die Natur stückweise und fragmentarisch, nach blossen äusseren Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten erfasst: – die Idee der Natur hätte uns den geistigen Sinn und das wahrhaft geistige Leben, das in ihr waltet, aufzuweisen. Dieser Sinn ist nicht zu ›begreifen‹, sondern er ist nur unmittelbar nachzuleben – wie alles Lebendige eben mit keinem anderen Organ, als eben dem Leben selbst, zu erfassen ist. Der Geist – so fordert Schelling – soll wieder »frei und froh in dem Buche der Natur selbst lesen, dessen Sprache ihm durch die Sprachenverwirrung der Abstraktion und der falschen Theorien längst unverständlich geworden ist.« Man muss auch hier, um Schelling ganz zu verstehen, auf Goethes Naturbetrachtung zurückblicken. In jenem berühmten Brief Schillers an Goethe, in dem dieser die ganze »Summe seiner Existenz« gezogen fand, hat Schiller diese Naturbetrachtung in klassischen Sätzen gezeichnet. »Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickelteste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahrhaft heldenmässige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusamnmenhält.« Diese »heldenmässige Idee«, die Schelling in dem Künstler Goethe ausgedrückt und dargestellt findet, sucht er als Philosoph zu verwirklichen. Auch das philosophische Wissen erscheint ihm – in der Form der »intellektuellen Anschauung« – als Organ, nicht nur die Natur zu erkennen, sondern die Natur zu schaffen: Das ist es, was den rein methodischen
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Sinn des Apriori bei Kant, nach dem es nur auf die Möglichkeit der Erfahrung als die Möglichkeit der exakten Wissenschaft geht, von dem spekulativen Sinn scheidet, den es bei Schelling enthält. »Nicht wir kennen die Natur a priori – so sagt Schelling ausdrücklich – sondern die Natur ist a priori, d. h. alles Einzelne in ihr ist zum Voraus bestimmt durch das Ganze oder durch die Idee einer Natur überhaupt«. Die Allgemeinheit, die die Natur philosophie sucht und durch die sie sich von aller bloss empirischen Kenntnis der Natur unterscheidet, ist nicht die einer blossen Regel, die von unserem abstrakten Verstand in das Geschehen hineinverlegt wird, – sondern sie ist die eines ursprünglich-wirksamen und tätigen geistigen Prinzips. Die Natur erkennen heisst die Natur schaffen – d. h. ihr Tun in der lebendigen Anschauung nacherzeugen. In dieser Nacherzeugung besteht das, was Schelling die Konstruktion der Natur nennt. Der Philosoph konstruiert das Einzelne aus seiner Intuition des Unendlichen heraus: er konstruiert, nicht die Pflanze, nicht das Tier, sondern das Universum in Gestalt der Pflanze, das Universum in Gestalt des Tieres. In dieser Konstruktion vollendet sich ihm erst der Gedanke der Natur, weil er hier alles Besondere im Zusammenhang des Ganzen erblickt – weil er nicht nur begreift, sondern schaut, wie alles sich ›zum Ganzen webt‹ und darin die Idee der Natur erst vollendet. Der dialektische Widerspruch in Schellings Begriff der ›Naturphilosophie‹ und das eigentlich Tragische in ihrer Grundkonzeption aber liegt nun darin, daß hier eine Aufgabe, die sich prinzipiell der Kompetenz des philosophischen Begriffs entzieht, doch mit den Mitteln eben dieses Begriffs in Angriff genommen u[nd] durch sie verwirklicht werden soll. Goethes Naturanschauung bildet eine innere Einheit: und als solche bedeutet sie auch methodologisch ein Ganzes, eine spezifische, unersetzliche Form der Naturbetrachtung überhaupt. Indem Goethe die Natur rein als Künstler fasst und empfindet, stellt er doch zugleich für ihre empirische Anschauung und ihre empirische Erforschung ein neues Ideal auf. Seine »Farbenlehre«, seine »Metamorphose der Pflanzen« vor allem, sind keineswegs bloss ›subjektive‹, aesthetische Betrachtungsweisen; sondern sie stellen einen neuen objektiven Typus des Naturbegriffs auf. Der biologische, der allgemein morphologische Formbegriff tritt hier bei Goethe dem mathematisch-philosophischen Gegenstandsbegriff gegenüber. Und es zeigt sich, wenn wir diesen Prozess geschichtlich u[nd] systematisch weiter verfolgen, daß hierbei in der Tat auch ein neuer Kreis von Tatsachen, von Phaenomenen sich der wissenschaftlichen Betrachtung erschliesst. Wie Goethe, Linnés starrem klassifizierenden System gegenüber, einen neuen Typus biologischer Erkenntnis aufstellt – so erschliesst seine Farbenlehre ein neues objektives Problemgebiet: das Ge-
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biet der ›physiologischen Optik‹, wie es weiterhin durch Joh. Müller, durch Helmholtz ausgebaut worden ist. Schellings Naturphilosophie aber blieb, wie sich immer mehr zeigte, diese Form der Beziehung versagt. Sie behauptete von der Anschauung auszugehen, sie drängte mit allen Kräften immer wieder auf sie hin – und sie verlor sich doch, je weiter sie schritt, immer tiefer und hoffnungsloser in ein dialektisches Spiel mit blossen Begriffen. Alle Naturerscheinungen wurden jetzt, statt in ihrer Fülle, ihrer Konkretion u[nd] Besonderheit ergriffen zu werden, vielmehr einem bestimmten apriorischen Schema (z. B. dem Schema des polaren Gegensatzes) angepasst u[nd] eingeordnet. So bleibt Schellings intellektuelle Anschauung u[nd] damit seine Konzeption der Naturphilosophie ein Zwitterling – ein Etwas, das gestaltlos und haltlos zwischen Begriff und Anschauung steht: – das sich weder dem einen, noch dem anderen gewachsen erwies. Vom Standpunkt des Begriffs sah sie sich den Angriffen Hegels ausgesetzt – und der Bruch zwischen Schelling und Hegel, nach den ersten Jahren des philosophischen Zusammenwirkens, bedeutet nach dieser Seite hin mehr als ein persönliches Schicksal; er weist auf einen Bruch in Schellings Grundkonzeption der Philosophie selbst hin. Das Ideal der ›aesthetischen Anschauung‹ der Welt- und Naturganzen, das Schelling aufgerichtet hat, wird von Hegel jetzt hart und erbarmungslos als aesthetische Illusion verspottet. Er findet in ihm keine Spur von Realität, von gedanklicher Objektivität mehr: er sieht in ihm nur noch die erbauliche Phrase. Mit diesem Urteil bricht Hegel in der Einleitung zur ›Phaenomenologie des Geistes‹ über Schelling den Stab. »Das Absolute soll – hier bei Schelling – nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut, nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen und ausgesprochen werden . . . Nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichtums der Substanz sein. Diese Genügsamkeit . . . ziemt jedoch der Wissenschaft nicht. Wer die Erbauung sucht, wer die irdische Mannigfaltigkeit seines Daseins und des Gedankens in Nebel einzuhüllen u[nd] nach dem unbestimmten Genusse dieser unbestimmten Göttlichkeit verlangt, mag zusehen, wo er dies findet: er wird leicht selbst sich etwas vorzuschwärmen u[nd] damit sich aufzuspreizen die Mittel finden. Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen.« Diese schonungslose Kritik deckt in der Tat einen innern Mangel in Schellings Ansatz der Naturphilosophie auf. Auf dem Schelling’schen Wege – so betont Hegel jetzt fort und fort – entstünden nur Gedanken, die ›weder Fisch noch Fleisch, weder Poesie noch Philosophie‹ sind
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Hier bricht der Text im ersten Drittel der Seite ab. Der Rest der Seite ist leer. Anstelle eines zweiten Abschnitts (vgl. die Überschrift am Anfang) folgt auf der nächsten Seite: Kant: »Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Natur gar nicht ein soviel bedeuten sollen als: wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind sie ganz unbillig u[nd] unvernünftig, denn sie wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloss dem Grade, sondern sogar der Anschauung u[nd] Art nach gänzlich unterschiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht angeben können, ob sie einmal möglich, viel weniger, wie sie beschaffen seien. Ins Innere der Natur dringt Beobachtung u[nd] Zergliederung der Erscheinungen u[nd] man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit gehen werde.« Das »schlechthin Innerliche« der Materie eine bloße Grille. vgl. H[einrich] Hertz vor[angehende] Seite »Man kann zwar auf die Frage, was ein transzendentaler Gegenstand für eine Beschaffenheit habe, keine Antwort geben, nämlich was er sei, aber wohl, daß die Frage selbst nichts sei, weil kein Gegenstand derselben gegeben worden . . . Also ist hier der Fall, daß der gemeine Ausdruck gilt, daß keine Antwort auch eine Antwort sei, nämlich daß eine Frage nach der Beschaffenheit desjenigen Etwas, was durch kein bestimmtes Prädikat gedacht werden kann, weil es gänzlich ausser der Sphäre der Gegenstände gesetzt wird, die uns gegeben werden können, gänzlich nichtig u[nd] leer sei.« ebda (505) [»]Ich behaupte nun, daß die Transsc.-Philosophie dieses Eigentümliche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei u[nd] daß kein Vorschützen einer unvermeidlichen Unwissenheit und unergründlichen Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frei machen könne, sie gründlich u[nd] vollständig zu beantworten; weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muss, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand ausser dem Begriffe gar nicht angetroffen wird.[«] ! (cf. P[aul] du Bois[-]R[eymond]!) Hier folgt erneut ein waagerechter Trennstrich. Die anschließenden Notizen sind mit Bleistift geschrieben.
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Naturphilosophie
Gegenstandsbegriff = Ordnungsbegriff ! Objektiv [ ität ] der Erfahr[ung] / Aktive u[nd] passive Grenze! Funktionsbegriff, Gesetzesbegriff, Zahlbegriff als a priori – Funktionaler[,] nicht physiolog[ischer] Sinn dieses Begriffs die Beding[ung] der Mögl[ichkeit] der Erfahr[ung] = Beding[ung] der Möglichk[eit] des Gegenstandes der Erfahr[un]g Gegenstand = Erfahrungsurteil !! Erfahrungsurteil u[nd] Wahrnehmungsurteil 6 Beschreibungsideal Es folgen zwei Seiten mit Bemerkungen zu anderen Themengebieten.
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Am Rand: Ich u[nd] Gegenstand bedingt!!
Anhang B Das Problem von Leib und Seele Typoskript eines Manuskripts aus der Beinecke Rare Books and Manuscripts Library, Yale (Signatur GEN MSS 98, Box 49, Folder 924). (Berlin, 22. I. 31) a) Das Problem von L[eib] u[nd] S[eele] gehört zu den ältesten u[nd] zu den schwierigsten und hartnäckigsten Problemen der Philos[ophie]. Jedes philosophische System hat diese Frage 1 nach dem Verh[ältnis] v[on] L[eib] u[nd] S[eele] aufs neue gestellt – und jedes von ihnen hat sie 2 in verschiedener Weise beantwortet 3. Und wenn man die Gesamtheit dieser Antworten 4 an sich vorbeiziehen lässt – so muss man erkennen und resigniert gestehen, daß durch keine von ihnen der gordische Knoten wirklich gelöst oder auch nur gelockert worden ist. Je weiter die Philosophie fortschreitet, um so fester scheint sich vielmehr dieser Knoten zu knüpfen – um so mehr schwindet die Hoffnung, die 5 unzählig-vielen Einzelfäden, die sich in diesem einen Problem zusammenknüpfen, zu entwirren. Die Metaphysik des Leib-Seele-Problems – sie wird nach u[nd] nach zu einem wahrhaften Leidensweg der Philosophie. Jeder folgende Denker verneint u[nd] verwirft die Lösung der früheren Denker – aber für jeden richtet sich die Frage nur um so gewaltiger und um so drohender auf[.] – Und am Schluß dieses ganzen Weges scheint für uns heute nicht mehr ein klares und bestimmtes Ziel zu stehen, eine einfache und eindeutige Erklärung des Verhältnisses von Leib und Seele, sondern vielmehr das Eingeständnis, daß eine solche Erklärung unmöglich ist. Je schärfer der Strahl der philosoph[ischen] Reflexion sich auf dieses Problem richtet, um so mehr zieht es sich in sich selbst zurück – bis es sich zuletzt in ein schier undurchdringliches Dunkel hüllt – bis es für uns zu etwas völlig Irrationalem wird.
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Statt gestrichen: dieses Problem Cassirer: es Statt gestrichen: gelöst Statt gestrichen: Lösungen Cassirer: der
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b) Betrachten wir nun den Gang der neueren Philosophie – Descartes: schärfster Dualismus 6 aber noch bleibt eine bedingte Verknüpfung Richtungsänderung – aber die Nachfolger erkennen diese Lösung als Halbheit – Gerlinck u[nd] der Okkasionalismus daß mein Wille meinen Arm bewegt – Nähe oder Ferne der Wirk[un]g tut nichts zur Sache – die Art der Wirk[un]g ist das schlechthin unverständliche – zwischen Leib u[nd] Seele besteht eine absolute metaphysische Wesensdifferenz – 7 Wie ist dieser Wesensdifferenz zum Trotz eine Gemeinsamkeit des Wirkens möglich? Die metaphys[ischen] Systeme des 17t[en] Jahrh[underts] beantworten diese Frage übereinstimmend dadurch[,] daß sie sie ins Transscendente verschieben – Die Vermittl[un]g, die wir brauchen, können wir im Gebiet der Erfahrung nicht finden – wir müssen sie »jenseits der Erfahrung« – in einem schlechthin Über-Seienden, im absoluten Sein u[nd] im absoluten Wollen Gottes suchen Okkasionalismus, – Spinoza – Leibniz’ praestabil[ierte] Harmonie 8 c) Allen diesen Lösungen wird der Boden entzogen durch Kants »kritische« Grenzbestimmg der Vernunft. Das Problem der Einheit u[nd] des Zusammenhangs von Leib u[nd] Seele entsteht auf dem Boden der Erfahrung – u[nd] es muß, wenn überh[aupt] eine Lösung möglich sein soll, auf diesem Boden gelöst werden. 9 Der ›Deus ex machina‹ ist, wie Kant sagt, der »elendeste Ausweg unter allen«. Die empir[ische] Erkenntnis hat das Problem gestellt – sie muss es auch mit ihren Methoden lösen: denn darin eben besteht nach Kant das Wesen der Vernunft, daß ebendieselbe Funktion, die die Vernunft dazu befähigt, eine bestimmte Frage zu stellen[,] ihr, mittelbar u[nd] 〈?〉, auch die Mittel zur Antwort in die Hand gibt. Wir unterlassen es aber hier, diese Lösung ins Auge zu fassen – sie würde uns zu weit führen – wir wenden uns statt dessen an die moderne, die kritische Metaphysik – Darüber eingefügt: Einheit der Methode / Notw[endigkeit] der geom[etrischen] Erkennt[nis] 7 Am Rand eingefügt: Geom[etrie] der Kraft 8 Dahinter eingefügt: die Seele lebt nicht im Körper – sie sieht dem Spiel des Körpers nur zu 9 Daneben eingefügt: 〈?〉 Feld fruchtb[ares] Bathos 6
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jene Metaphysik, die die krit[ische] Grenzbestimm[un]g der Vernunft, wie Kant sie gibt, ganz in sich aufgenommen zu haben glaubt u[nd] die somit das alte Problem methodisch in einem neuen Lichte erblickt. Was lehrt uns diese Metaphys[ik] über das Verh[ältnis] von Leib u[nd] Seele – Wir schlagen N. Hartmanns »Grundzüge einer Metaphys[ik] der Erk[enntnis]« auf Hartmanns System der Metaphysik ist ein System der Aporetik – Und in dieser Aporetik steht die Aporie des Verh[ältnis] von Leib u[nd] Seele an erster Stelle – Dieses ontische Verhältnis – so belehrt uns H[artmann] – ist rein logisch niemals zu fassen; es bleibt ein undurchdringliches Geheimnis, es spottet allen Bemühungen unserer ›Ratio‹[,] denn es ist ein durch u[nd] durch irrationales Verhältnis Leib u[nd] Seele gehören seins- u[nd] wesensmässig zwei ganz verschiedenen Welten, zwei grundsätzlich-getrennten Seins-Regionen an. Zwischen ihnen klafft ein Abgrund, ein › hiatus irrationalis‹ 10, wie Hartmann es ausdrücklich bezeichnet – Hartmann[, S.] 322: »Wie ein Prozess als Körpervorgang beginnen und als seelischer Vorgang endigen kann, ist schlechterdings unbegreifbar. Man versteht wohl in abstracto, daß dem so sein kann, aber nicht in concreto, wie es sein kann. Hier ist eine absolute Grenze der Erkennbarkeit, an der alle kategorialen Begriffe versagen, sowohl die physiologischen als psychologischen. Eine »psychophysische Kausalität‹ anzunehmen, welche direkt über die Problemscheide hinüber und herüber walten sollte, war eine naturalistische Naivität. Ja es ist sogar sehr fraglich, ob die beiden uns bekannten Gebiete, das Physiologische und das Psychologische überhaupt aneinander schliessen, ob sie sich wirklich in einer gemeinsamen, gleichsam linearen Grenze berühren, oder ob sie nicht vielmehr weit auseinanderklaffen und ein ganzes Gebiet zwischen sich haben, das dann eben ein drittes irrationales zwischen ihnen wäre. . . Denn da die 〈?〉 ontologisch nicht zu leugnen, aber weder physiologisch noch psychologisch zu erfassen ist, so wird sie wohl als eine rein ontische, von allem Erfasstwerden unabhängige aufzufassen sein, als eine solche, die zugleich metaphysisch u[nd] metapsychisch ist, kurz als eine irrationale Tiefenschicht des psychophysischen Wesens.« Als Antwort auf die Frage nach der wirklichen Beziehung, die zwischen Leib und Seele besteht, wird uns also gesagt, daß weder unsere psy-
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ein hiatus irrationalis wird auf der folgenden Seite wiederholt
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chologischen, noch unsere physikalischen und physiologischen Begriffe und diese Beziehung jemals verständlich machen können – Sofern sie besteht, bleibt sie doch mit Verlegenheiten, mit Aporien aller Art behaftet – sie ist; – aber sie ist etwas schlechthin Dunkles – Hartmann vermeidet sorgsam den ›Deus ex machina‹ er sucht das Probl[em] von L[eib] u[nd] Seele nicht in dem Urgrund und Abgrund des göttlichen Seins, gleich den Okkas[ionalisten], gleich Leibniz u[nd] Spinoza zurückzuverlegen – Aber ist jene »irrationale Tiefenschicht des psychophysischen Wesens«, auf die er uns zurückweist, nicht nur ein anderer Name für das, was die älteren Systeme mit dem Namen ›Gott‹ bezeichneten? Und wenn das der Weisheit letzter Schluss ist, warum sollten wir uns scheuen, das Problem mit seinem wahren Namen zu nennen – [Wenn wir uns in der Hoffnung auf eine wirkliche Antwort an die Metaphysik gewandt haben – so sehen wir uns enttäuscht – das Rätsel selbst erhalten wir nur verschärft zurück [»Magst Priester oder Weise fragen – und ihre Antwort scheint nur Spott über dein Fragen zu sein – Klingt es nicht fast wie solcher Spott, wenn die Metaphysik uns auf unsere Frage, was Leib und Seele sind u[nd] wie sie mit einander zusammenhängen [ , ] die Antwort gibt:] »Das einheitliche Wesen des psychophysischen Prozesses liegt in einer irrationalen ontologischen Tiefenschicht; es ist ein ontisch-realer, irrationaler Prozess, der an sich weder physisch noch psychisch ist, sondern in beiden nur seine dem Bewusstsein zugekehrten Oberflächenschichten hat.« 11 Hier folgt im Ms. ein waagerechter Strich. Danach ist das Folgende gestrichen: Suchen wir also, da die Metaphysik uns enttäuscht u[nd] im Stich gelassen hat, die Antwort an einer anderen Stelle – Fassen wir, wenigstens zunächst, lediglich die empirische Realität des Körpers u[nd] der Seele ins Auge und suchen wir von den empirischen Wissenschaften eine klare Antwort auf unsere Frage zu erhalten – Drei derartige Wissenschaften kommen für diese Antwort in Betracht: die Physik u[nd] die Physiologie auf der einen Seite die Psychologie auf der anderen Seite – Was haben uns beide als Antwort auf unsere Frage zu geben – Wir wenden uns absichtlich zunächst nicht der modernen Form der Physik u[nd] der Physiologie zu – Beide haben in den beiden letzten Jahrzehnten entscheidende methodische Wandlungen erfahren – u[nd] diese methodischen Wandlungen mussten auch die Entscheidung der inhaltlichen Frage, die hier vorliegt, wesentlich beeinflussen – Von diesen Modifikationen wollen wir zunächst absehen – 11
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d) Aber wenn die Metaphysik uns die Antwort auf unsere Frage auch heute noch schuldig bleibt – so müssen wir uns der Erfahrung und der Erfahrungs wissenschaft zuwenden – so müssen wir die Antwort bei der Psychologie suchen. Was lehrt uns die moderne Psychologie über das Verh[ältnis] von Leib u[nd] Seele? Wenn man die Entwicklung betrachtet, die die mod[erne] Psychologie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, so kann man in dieser Entwicklung deutlich eine methodische Wendung feststellen – Die Zeit[,] in der auch die Psychologie das Problem rein abstrakt stellte – in der, in der Grundlegung der Psychologie, über die Theorie des psycho-physischen Parallelismus u[nd] über die Theorie der Wechselwirkung heftig und zumeist unfruchtbar gestritten wurde – diese Zeit scheint heute dahin – 12 Diese alte Streitfrage scheinen die Psychologen endgültig den Metaphysikern überlassen zu haben – Dagegen sind, seit die moderne Psychologie den Schritt von der Elementen-Psychologie zur Gestalt-Psychologie, von der Assoziations-Psychologie zur Struktur-Psychologie vollzogen hat[,] eine Reihe ganz bestimmter konkreter Fragen in ihr gestellt worden: und Wie hat die ›klassische‹ Physik u[nd] Physiologie u[nd] wie hat die ›klassische‹ Psychologie die Frage beantwortet – Die klassische Physik war mechanistische Physik die klassische Psychologie war Assoziations-Psychologie Was hatten beide zu dem Problem des Verh[ältnis] von Leib u[nd] Seele zu sagen? In ersterer Hinsicht ist typisch Dubois-Reymonds berühmte Rede über die Grenzen des Naturerkennens – Idee des Laplace’schen Geistes – aber eines würde auch diesem allumfass[enden] Geist notwendig entgehen – die Entstehung des Seelischen, die Entsteh[ung] des Bewusstseins bleibt auch ihm völlig undurchdringlich – Hier gilt nicht nur das Ignoramus, sondern das Ignorabimus. – Klar und hell liegt die körperliche Welt, die Welt der Massen und der Massen bewegungen vor dem Auge des Physikers – sie ist in allen ihren Teilen vollkommen durchsichtig u[nd] vollkommen beherrschbar, sie untersteht einfachen Gesetzen, die einen lückenlosen Zusammenhang in ihr gewährleisten – Aber dieses helle u[nd] klare Bild trübt sich sofort, sobald der erste Strahl des Bewusstseins aufdämmert – Mit dem ersten noch so dumpfen u[nd] 〈?〉haften Bewusstsein wird die Welt völlig irrational – un-verständlich 12 Daneben eingefügt: weit mehr[,] als sie es selbst wussten, standen die einz[elnen] Forscher im Bann einer best[immten] Metaphys[ik]!
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diese konkreten Fragen gilt es zu verfolgen: denn sie eröffnen uns einen neuen prinzipiellen Zugang zum Leib-Seele-Problem. a) Das Ausdrucksproblem Unter dem Ausdrucksproblem verstehen wir hier die Tatsache, daß wir an einem bestimmten mimischen oder physiognomischen Phaenomen unmittelbar ein seelisches Phaenomen ›ablesen‹ ein Lächeln ist uns unmittelbar, u[nd] ohne jede bewusste Reflexion, ein Zeichen der Güte – ein Erröten ist uns ein Ausdruck der Scham ein Runzeln der Stirn ein Ausdruck des Ärgers, des Zorns u.s.f. 13 Für die ältere Psychologie, die Elementen- und Assoziationspsychologie, bedeuteten alle diese so unmittelbar- bekannten Phaenomene ein schwieriges Problem – Ein Netz von Theorien musste gesponnen werden, um dieses Phaenomen irgendwie begrifflich zu fassen u[nd] zu deuten – Die bekanntesten Theorien sind die Theorie des Analogieschlusses u[nd] die Lippsche Theorie der Einfühlung – Was geht in mir vor, wenn ich ein Lächeln als Ausdruck der Güte oder Teilnahme, ein Erröten als Ausdruck der Scham deute – Die Güte 14 als psychische Eigenschaft, die Scham als psych[ische] Regung sind ja etwas prinzipiell- Unsichtbares – was ich wirklich sehe, das ist ein so oder anders gespannter Muskel, ein plötzlich auftauchender Farbfleck im Gesicht eines Menschen – aber inwiefern bedeutet mir diese Spannung des Muskels einen bestimmten seelischen Charakter – - oder diese Farbe einen seelischen Affekt – In Wahrheit liegt hier keine Wahrnehmung, sondern ein sehr komplexes Schlussverfahren vor – ein lächelndes 15 oder ein errötendes Gesicht erfassen wir unmittelbar lediglich als ein physisches Phaenomen – aber durch ein kompliziertes Schlussverfahren legen wir diesem beobachteten physischen Phaenomen ein nicht beobachtetes und prinzipiell niemals beobacht bares psychisches Phaenomen unter – Ich will mich hier in die mannigfachen Formen der logischen Analogieschluss-Theorie und der aesthetischen Einfühlungs-Theorie nicht verlieren – Am Rand: schon das Kind – Wunder des ersten Ausdrucksverstehens 14 Dahinter gestrichen: , die Scham 15 Dahinter gestrichen: Gesicht 13
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Auf alle diese Theorien ist ein wahrhaft bewunderungswürdiger Scharfsinn verwandt worden – Aber dieser reflektierende Scharfsinn versagte, sobald man sich der Beobachtung des Phaenomens überliess – das Phaenomen als solches gab sich als ein ganz einfaches, unmittelbares Erlebnis es gibt ein Erleben des Seelischen im Körperlichen und mit dem Körperlichen, nicht aber folgt hier, in den elementaren Ausdruckserlebnissen, das Wissen von Seelischem auf ein zuvor bestehendes losgelöstes bloss Körperliches – Das Phaenomen des ›Ausdrucks‹ ist in der modernen Philosophie von den verschiedensten Seiten her aufs neue in Angriff genommen worden – von Seiten der Charakterologie ist das Problem von Klages gestellt worden – u[nd] wie immer man sich zu Klages’ metaphysischen Voraussetzungen und zu seinen metaphys[ischen] Folgerungen stellen mag – so muss man anerkennen, daß sein Werk › Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹ für die reine Phaenomenologie des Ausdrucks eine Fundgrube von Erkenntnissen bedeutet – vom Standpunkt der ethischen Grundfrage ist das Problem von Scheler in seiner Schrift › Wesen und Formen der Sympathie‹ gestellt worden – vom spezifisch-psychologischen u[nd] insbesondere vom entwicklungspsychologischen Standpunkt aus, hat die moderne Gestaltpsychologie die Frage gestellt – Aber alle stimmen in der Lösung ein – das Ausdrucksphaenomen ist kein abgeleitetes und künstlich vermitteltes, sondern ein ursprüngliches – es ist kein sekundäres und erschlossenes, sondern ein primäres Phaenomen – [Vom Standpunkt der Analogie-Theorie musste schon der Säugling, da er ja nachweislich Ausdruck ›versteht‹ und auf Ausdruck ›reagiert‹, an den einfachsten Schallerlebnissen u[nd] Form- u[nd] Farbenerlebnissen die kompliziertesten Schlussfolgerungen ausüben – Wollen wir dieser Paradoxie entgehen, so bleibt nur übrig, das Ausdruckserlebnis nicht aus Teilen aufzubauen, sondern es als ein ursprüngliches ungeschiedenes Ganze zu nehmen u[nd] es als dieses Ganze anzuerkennen.] 16 Bis hier ist das Ms. durchgängig paginiert; die aktuelle Seite trägt die Nummer 12. An dieser Stelle folgen in einer Zeile nebeneinander die beiden Hinweise: Koffka s[iehe] 16
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Aber an diesem so bestimmten psychologischen Einzelproblem geht uns nun eine neue ganz allgemeine philosophische Einsicht über das Verhältn[is] von Leib u[nd] Seele auf – Ich 17 kann, m[eine] D[amen] u[nd] H[erren], nicht versuchen, diese Einsicht im einzelnen vor Ihnen zu entwickeln u[nd] sie systematisch zu begründen – Diese Entwicklung u[nd] Begründung habe ich an anderer Stelle, im dritten Bande meiner Philos[ophie] der symbol[ischen] Formen versucht – (Berlin 1929) – An dieser Stelle möchte ich das dort gewonnene Resultat nur einfach aussprechen, nur als These hinstellen – Diese These lautet: Das Verhältnis von Leib u[nd] Seele wird verkannt, wenn man beide als Glieder eines Kausalverhältnisses nimmt – aber es wird klar und durchsichtig[,] sobald man beide als Elemente und Momente eines rein symbolischen Verhältnisses nimmt. – Nimmt man Leib und Seele als zwei Dinge, als getrennte Substanzen, die in einem Verhältnis der sei es unmittelbaren[,] sei es mittelbaren Einwirkung auf einander stehen, so häufen sich die psychologischen Schwierigkeiten u[nd] die metaphysischen Antinomien Der Ausweg aus diesen Schwierigkeiten u[nd] Antinomien ist nur zu finden, wenn man einsieht, daß durch Anwendung des Substanzbegriffs u[nd] des Kausalbegriffs das leib-seelische Verhältnis überhaupt nicht zu fassen und nicht adaequat zu begreifen ist 18 – Substantialität und Kausalität erweisen sich dem Leib-Seele-Problem gegenüber als inadaequate Erkenntnismittel – das adaequate Erkenntnismittel liefert der Symbolbegriff – Seele und Leib gehören zusammen – nicht wie ›Ursache‹ und ›Wirkung‹ oder wie verschiedene ›Eigenschaften‹ an einem ›Ding‹ wie ›Attribute‹ an Einer Substanz (Spinoza) sie gehören zusammen wie ein geistiger ›Sinn‹ zu dem, worin dieser Sinn ›erscheint‹ sichtbar wird wie ein Zeichen zu dem, was es bezeichnet. S[eite] 13/14 sowie Forts[etzung] s[iehe] S[eite] 15. Die Seiten mit den Nummern 13 und 14, auf die Cassirer verweist, fehlen im Ms., stattdessen folgt die »Fortsetzung« mit der Seitenzahl 15. 17 Danach gestrichen: will diese 18 Cassirer: sind
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Nicht von einer Metaphysik des ›Wirkens‹ aus, sondern nur von einer Philos[ophie] des Sinnes u[nd] der Bedeutung aus lässt sich das Verh[ältnis] vollst[ändig] verständlich machen Ich kann, wie gesagt, diese These hier nicht vor Ihnen entwickeln und sie nicht systematisch begründen – ich muss mich damit begnügen, sie an einzelnen herausgegriffenen Beispielen zu illustrieren Zum Zweck dieser Illustration wende ich mich vom Ausdrucksphaenomen zum Sprachphaenomen u[nd] zum Phaenomen des Sprachverständnisses – Es ist nicht willkürlich, daß ich dieses Phaenomen herausgreife – auch an ihm hat sich vielmehr jener charakteristische methodische Umschwung in der Psychologie vollzogen, von dem vorher in anderem Z[u]s[ammen]h[ang] die Rede war. Als vor etwa 3 Jahrzehnten das Problem des Sprachverständnisses zuerst von der Psychologie als solches ergriffen und in voller Schärfe gestellt wurde: da bedeutete dies eine entscheidende Wendung in der Methodik der Psychologie – Die experimentelle Psychol[ogie], wie sie um die Jahrhundertwende noch allgemein herrschte, war im wesentlichen Sinnespsychologie – eine Psychologie der einfachen sinnlichen Empfindungen oder eine Psychologie der Wahrnehmung gewesen – Von den einfachen Sinnesdaten und von der Analyse der räuml[ichen] u[nd] zeitl[ichen] Wahrnehmungen schritt man allenfalls zu den Phaenomenen der Erinnerung [und] des Gedächtnisses fort – Dabei diente als Fundament der Sinnespsychologie der Mach’sche Elementenbegriff – als Fundament der Psychologie des Gedächtnisses der Assoziationsbegriff (cf. Ebbinghaus!) Erst um die Jahrhundertwende tritt hier eine Wandlung ein – Die Psychologie bleibt zunächst ihrer Methodik noch durchaus treu: sie stützt sich auf das Experiment u[nd] auf die objektive Beobachtung, auf die Befragung von Versuchspersonen – Aber mit eben dieser Methode wendet sie sich nun an ein neues Phaenomen – Sie entdeckt, daß es so etwas wie ein ›Denken‹ gibt – und sie findet diese Erscheinung des Denkens am reinsten ausgeprägt in der Tatsache des Sprachverständnisses – Die neue ›Denkpsychologie‹ wie sie von Koffka u[nd] der ›Würzburger Schule‹ aufgebaut wird, setzt an diesem Phaenomen des Sprachverst [ ändnisses ] ein –
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Und es zeigt sich, daß diesem Phaen[omen] gegenüber die Reduktion des ›Psychischen‹ auf ›Elemente‹ und Assoziationen versagt – Das Phaen[omen], daß ein komplizierter sprachlicher Satz verstanden, – daß er in seinem Sinn erfasst wird, ist gewiss eines der nächstliegenden und aufdringlichsten, u[nd] zugleich eines der wichtigsten psych[ischen] Phaenomene – aber dieses Verständnis eines Sinnes, durch das Medium der Sprache, lässt sich nicht darauf zurückführen, daß etwa jedes gesprochene Wort eine einzelne anschauliche Vorstellung in dem Hörer weckt u[nd] daß alle diese Vorst[ellungen] durch ein Netz von Assoz[iationen] mit einander verbunden werden So sah sich die Denkpsychologie gezwungen, das Bedeutungs-Erlebnis einfach zu konstatieren, ohne es mit den Methoden der damaligen Psych[ologie] irgendwie weiter ›erklären‹ zu können – sie stellte es[,] als eine neue Klasse von Erlebnissen, neben die Empfindung u[nd] die anschaul [ iche ] Vorstellung – verzichtete aber darauf, es aus Empf[indungen] oder ansch[aulichen] V[orstellung]en aufzubauen. – Heute ist die Entwicklung so weit gediehen, daß man an diesem Punkte die ältere Fragestellung entschlossen in ihr Gegenteil verkehrt – Der Begriff der ›Bedeutung‹ erscheint nicht nur als ein Besonderes und Selbständiges, das neben anderem in der Psychol. vorkommt sondern er ist zum Zentrum der Psychologie geworden. – Nach Hönigswald’s Prinzipien der Denkpsychol[ogie] ist der Begriff ›Bedeutung‹ konstitutiv für alles seelische Leben überhaupt – In der Bedeutung besitzen wir ein Kennzeichen, das allem Psychischen als solchem zukommt – in ihr gewinnen wir einen festen Markstein, der uns dazu dient, das bloss physische Geschehen vom psychischen Sein und psychischen Verhalten zu unterscheiden Der Bedeutungsbegriff – nicht der Elementenbegriff u[nd] der Assoziationsbegriff ist zum Strukturbegriff des Psychischen geworden – Ich will[,] m[eine] D[amen] u[nd] H[erren,] diese Auffassung hier nicht weitläufig vor Ihnen entwickeln – aber lassen Sie uns gemeinsam eine konkrete Probe auf sie machen – Wir, m[eine] D[amen] u[nd] H[erren]; – ich, der ich in diesem Augenblick zu Ihnen spreche[,] u[nd] Sie, die Sie mir zuhören, – wir stehen zweifellos zu einander in diesem Augenblick in einer Art von Gemeinschaft – in einem psychischen und geistigen Konnex Wir stehen in einem gemeinsamen Sinn-Vollzug – wir mühen uns um
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die gleichen Probleme – wir wollen miteinander einen bestimmten logischen u[nd] philosoph[ischen] Sachverhalt erfassen – Wir zweifeln nicht daran, daß das, was diese Gemeinschaft zwischen uns knüpft, ein physisches Band ist – Ohne dieses physische Band, ohne den gesprochenen Laut, der von mir zu Ihnen 〈?〉, liesse sich die wechselseit[ige] Beziehung, in der wir in diesem Moment stehen, nicht herstellen – Der Sprachlaut bildet die Brücke zwischen mir[,] dem Sprechenden[,] u[nd] Ihnen[,] den »Hörenden«. Aber Ihr Hören, wie mein Sprechen, schreitet so frei und sicher über diese Brücke dahin, daß wir sie kaum gewahr werden – Ich bin mir nicht bewusst, Laute zu bilden, – Sie sind sich – wenigstens primär – nicht bewusst, Worte zu empfangen und Worte zu hören – Ohne auf die Brücke zu unseren Füssen zu achten, stehen wir vielmehr gleichsam im Strom selbst und tauchen ständig in diesen Strom ein – in den Strom der gegenseitigen Mit-Teilung, des wechselseitigen Einander-Verstehens – Ich spreche von einer gegenseitigen Mitteilung: – denn es ist keineswegs so, daß ich allein zu Ihnen spreche, sondern Sie sprechen zugleich zu mir und mit mir – Ich lese an Ihren Gesichtern, in einer Fülle reiner Ausdrucksphaenomene, den Übergang von mannigfaltigen Stimmungen ab – ich verfolge Ihre Zustimmung oder Ablehnung, Ihr abnehmendes oder Ihr aufs neue sich entfachendes Interesse; Ihr Einverständnis oder Ihre Bedenken und Zweifel – Und auch Sie sind nicht lediglich auf den abstrakten Gehalt der Rede gerichtet – sondern ungewollt und unwillkürlich geht auch etwas von dem Redenden in Sie ein Ich mag mich bemühen, noch so sachlich, noch so nüchtern und trocken zu Ihnen zu sprechen: – das persönliche Moment lässt sich nicht ausscheiden – An tausend Einzelheiten – an der Dynamik, am Tempo des Sprechens, am sprachlichen Accent, an feinen Nuancierungen und Schwebungen des Lautes erfassen Sie – neben dem reinen Sachgehalt, den ich Ihnen näher zu bringen suche – auch etwas von mir selbst und meiner inneren Stellung zu diesem Sachverhalt – mein Bemühen, mich Ihnen mitzuteilen – 19 Danach gestrichen: die Freude, wenn es mir gelingt, einen treffenden Ausdruck zu finden – 19
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oder die innere Schwierigkeit, mit der ich nach dem rechten Ausdruck suchen muss – oder die innere Befreiung, wenn ich ihn gefunden zu haben glaube – Das alles erleben wir jetzt gemeinsam – u[nd] wir erleben es im allg[emeinen] ohne die geringste Spur der Reflexion – Aber lassen wir jetzt die Reflexion einsetzen; fragen wir, was die Theorie uns über diesen uns so vertrauten Umgang zu sagen hat – Wir wenden uns erst an die Physik u[nd] Physiologie Die Physik wird uns darüber belehren, daß der gesprochene Laut in nichts anderem als in einer Schwingung der Luft besteht – die Laut physiologie u[nd] die Phonetik wird uns zeigen, wie jeder bestimmten Lautqualität eine gewisse Stellung und ein bestimmtes Verhalten der Organe, eine Öffnung der Lippen, eine Haltung der Zunge entspricht – Aber suchen wir von hier aus die Brücke zum sprachl[ichen] Sinn und zum Sinn- Verständnis zu schlagen, – so stocken wir plötzlich – Wir sehen uns vor einer Kluft, vor jenen ›hiatus irrationalis‹ gestellt, von dem Nik[olai] Hartmann sprach – Wir erinnern uns an E. Du-Bois Reymonds ›Ignorabimus‹ Aber überspringen wir einmal entschlossen diese Kluft – geben wir zu, daß aus den Bewegungen der Laute Vorstellungen in dem hörenden Subjekte werden können. Auch jetzt stehen wir nicht am Ende, sondern erst am Anfang – denn ein Strom und ein Strom von Bildern ist 〈?〉 u[nd] 〈?〉 ein einheitlicher Sinn – Wir müssen also das Sinnerlebnis als ein einheitliches untrennbares Ganzes [nehmen] u[nd] es als solches Ganze zu verstehen suchen, wenn wir es überhaupt 20 verstehen wollen – Die Frage lautet nicht: wie dieses Ganze sich aus Teilen zusammensetzt – denn es ist uns immer nur als Einheit, nicht als Aggregat, nicht als blosse ›Zusammensetzung‹ phaenomenal gegeben – die Frage lautet vielmehr, wie es sich trennen kann; wie es in die beiden Momente des Physischen u[nd] des Psychischen überhaupt auseinanderfallen kann – Und um diese Frage zu beantworten, lassen Sie uns abermals eine Art von Experiment machen – Nehmen wir an, daß unser gemeinsames Sich-Aussprechen plötzlich eine Störung erfährt – Die Störung kann in der mannigfaltigsten Weise verschuldet sein – 20
Danach gestrichen: erleben
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es kann sein, daß die Akustik des Raumes ungünstig ist, – daß die Stimme des Redenden nicht in allen Teilen des Saales klar erfasst werden kann – es kann, statt dieses physikal [ ischen ] Grundes ein physiolog [ ischer ] Grund vorliegen: der Redner hat etwa durch eine Indisposition seine Stimme nicht in der Gewalt: er spricht leise oder undeutlich es können schließlich auch rein psychologische Ursachen die Hemmung des Verständnisses verschulden – der Redner versteht es nicht, sich klar auszudrücken oder die Aufmerksamkeit des Zuhörers wird durch irgend einen Umstand geteilt u[nd] abgelenkt – gleichviel welches der Grund sein mag: jetzt ist Ihr Verhalten der Rede gegenüber ein völlig anderes geworden. 21 Das Wort als »bloss«-Physisches – das Sinn- Substrat, nicht der reine Sinn, steht plötzlich vor Ihnen – es ist Ihnen bewusst u[nd] es ist Ihnen gewissermaßen aufdringlich geworden – Sie leben nicht mehr schlechthin im reinen Sinn vollzug der Gedanken – noch stehen Sie 22 in unmittelbarem, in persönlichem Kontakt mit dem Redner – Sie hören – Worte und Sie bemühen sich, die Bedeutung dieser Worte zu interpretieren – Aus der reinen Sinn-Region sind Sie wie mit Einem Schlage in eine andere Dimension, in die Dimension des blossen Geschehens versetzt – Und dieses Geschehen unterstellen Sie alsbald, und zwar mit vollem Recht und mit Notwendigkeit, den Gesetzen der Kausalität – Sie ›erklären‹ den Sachverhalt entweder nach den Gesetzen der physikalischen Akustik oder nach den Gesetzen der Phonetik u[nd] Lautphysiologie oder nach den psycholog[ischen] Gesetzen der Assoziation u[nd] der Aufmerksamkeit Aber das alles ist zweifellos schon ein Bruch des ursprünglichen Verhältnisses 23 Danach eingefügt: Sie verstehen nicht mehr – Sie hören u[nd] Sie hören gleich Hamlet Worte, Worte, Worte 22 Cassirer: sie 23 Von der nächsten Seite ist die obere Hälfte gestrichen; die untere Hälfte ist mit einem Pfeil an das Vorhergehende (Ms.-Seite Nr. 26) angeschlossen. Die Seite ist mit der Nr. 24 überschrieben, der weitere Text läuft als S. 25 etc. fort. 21
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Das Wort ist jetzt nicht mehr ein sinnbeseelter, sinndurchdrungener Sprachleib, nicht die Erscheinung und Ausprägung des Sinns, 24 es ist zum isolierten Wort körper geworden – Das ist zweifellos ein Zerfall, eine Auflösung jenes σύνολον, jenes Ganzen von Leib und Seele, von Erscheinung und Sinn, den jeder gesprochene und jeder verstandene Satz ursprünglich darstellt Noch an einem anderen Beispiel lassen Sie mich dies Verhältnis erläutern Auch jedes Kunstwerk ist uns in der ursprünglichen und adaequaten Erfassung seines Gehalts keine Summe von Körperlichem + Geistigem – = es ist ein 25 Ganzes, ein Unteilbares, in dem sich Seelisches und Materielles, Stoffliches und Formales nicht von einander ablösen lassen. 26 eine Plastik Michelangelos ist uns nicht ein Stück Marmor, das durch die Arbeit des Künstlers in eine bestimmte Form gepresst, – dem von aussen her ein bestimmter stereometrischer Umriss aufgezwängt worden ist – Wenn Phidias den Zeus formt – so sagt Plotin – so bildet er ihn nicht nach einem körperlichen Vorbild – er gestaltet ihn οἷος ἂν γένοιτο der Marmor ist nicht Stoff, nicht toter Körper, – wir sehen ihn nun nicht als totes Stück der Dingwelt, sondern als die lebendige u[nd] lebens-volle Erscheinung des Gottes selbst – der Gott spricht durch den Marmor zu uns – er manifestiert sich an ihm; er beseelt den Marmor u[nd] er lebt in ihm Aber diese künstlerische Offenbarung, diese aesth[etische] Manifestation kann jäh unterbrochen werden – Ein Riss in der Leinwand ein Sprung im 27 Marmor macht uns die Materie als blosse Materie aufdringlich, macht die Bildsäule und das Gemälde zum » Ding unter Dingen« und unterstellt sie dem blossen Kausalgesetz. 28 Danach gestrichen: der ›Sinn träger‹ Danach gestrichen: beseeltes 26 Danach gestrichen: ein Gemälde ist uns nicht ein Inbegriff von Farbflecken, die auf einer Leinwand irgendwie räumlich angeordnet sind, 27 Danach gestrichen: der 28 Hiernach ist das Folgende gestrichen: Wir fassen noch einmal das Ganze unserer Betrachtungen zusammen – Seelisches u[nd] Körperliches gehören ursprünglich zusammen – aber sie gehören nicht zusammen wie Substanzen, wie verschiedene Dinge, die ungeachtet dieser ihrer dinglichen Verschiedenheit auf einander wirken – sondern sie gehören zusammen, wie ein sinnliches Zeichen zu dem Sinn gehört, den es in sich ausdrückt – Der Sinn stellt sich dar im Zeichen – 24 25
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Es gibt Denker, die in diesem Bruch den eigentlichen Sündenfall der Erkenntnis sehen – die sich nach der Einen ungeschiedenen ungebrochenen Einheit von Seel[ischem] u[nd] Körperlichem zurücksehnen – die es wie eine Schuld der Erkenntnis, wie eine Verfehlung des Denkens ansehen, daß es notwendig auf diesen Bruch hinstrebt So Bergson – Die Wirkl[ichkeit] ist schöpferische Entwicklung, évolution creatrice. Sie vollzieht sich in der Zeit – wir kennen, wir erfassen den einen ungebrochenen Lebensstrom, der in der Zeit dahinfliesst u[nd] in der Zeit pulsiert. Aber der Irrtum, die Verfehl[ung] des Denkens tritt ein, wenn wir dieses erlebte Sein in ein gedachtes Sein verwandeln – Jetzt transponieren wir die durée réelle[,] die durée récue in den Raum – u[nd] damit haben wir sie gebrochen u[nd] verfälscht –
das Zeichen fasst in sich den Sinn, richtet sich auf den Sinn, deutet auf ihn hin – Ein solches Verhältnis des Bedeutens und Hindeutens, nicht ein Verhältnis des Bewirkens – ein symbolisch-ideelles, nicht ein ursächlich-reales Verh[ältnis] besteht zwischen Leib und Seele Nicht von einer Philosophie des Wirkens und der kausalen Wirklichkeit aus, sondern nur von einer Philosophie des Sinnes u[nd] der Bedeutung aus lässt sich daher das Verh[ältnis] von »Seele« u[nd] »Leib« wahrhaft verständlich machen u[nd] adaequat zum Ausdruck bringen – Und darin liegt ein Zweites: das eigentl[iche] philos[ophische] Problem liegt nicht darin, in welcher Weise Leib und Seele zusammenkommen können – wie es möglich ist, daß beide, obwohl substantiell geschiedene Dinge, sich nichtsdestoweniger mit einander in Konnex setzen, auf einander »einwirken« können – sie brauchen nicht erst in dieser Weise »zusammenkommen« sie ›sind‹ zusammen; denn es gibt phaenomenologisch zunächst nur die Eine ungebrochene Wirklichkeit, die wir als zugleich seelisch u[nd] körperlich erfassen – in der beides, Seelisches u[nd] Leibliches, der Sinn und sein Zeichen, das Wesen u[nd] seine Erscheinung als ungeschiedene Momente enthalten sind – Wenn die Philos[ophie] noch die Frage stellt, wie Seele u[nd] Leib zusammenkommen u[nd] auf einander einwirken, so verflicht sie sich in ein Netz von Schwierigkeiten u[nd] Antinomien – Aber die andere Frage darf u[nd] muss sie sich stellen: wie es innerhalb der ursprünglichen Einheit, zu einem Bruch, zu einer Scheidung, zu einer Auseinandersetzung kommt – Ich konnte die Antwort auf diese Frage nur andeuten – ich kann nicht versuchen, sie ausführlich u[nd] systematisch zu entwickeln: für diese Entwickl[ung] muss ich wiederum auf die Philos[ophie] d[er] s[ymbolischen] F[ormen] verweisen – Zum Schluss aber lassen Sie mich wenigstens noch kurz auf eine Frage eingehen –
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Noch schärfer Klages: Das Denken, der Geist hat uns hinausgerissen aus der Einheit des kosmischen Geschehens, der eine leiblich-seelische Einheit ist – Wir treten dieser seelischen Ur-Einheit mit dem Hochmut des Wissens, mit der Hybris des ›Geistes‹ gegenüber Klages: 29 [»]Während jedes aussermenschliche Lebewesen im Rhythmus des kosmischen Lebens pulst, hat der Mensch aus diesem abgetrennt das Gesetz des Geistes. Was ihm als dem Träger des Ichbewusstseins im Lichte der Überlegenheit vorausberechnenden Denkens über die Welt erscheint, das erscheint dem Metaphysiker[,] wenn anders er tief genug eindringt, im Lichte einer Knechtung des Lebens unter das Joch der Begriffe.« – Wir wollen mit dem Metaphysiker über diese seine Bewertung des Geistes nicht streiten – Die kritische Philosophie unterscheidet sich von der Metaphysik aber dadurch, daß es ihr nicht angemessen und nicht sinnvoll erscheint, ein solches Werturteil und ein solches Verwerfungsurteil über das Ganze des Geistes zu fällen – Sie erhebt sich nicht als Richter über 30 den Geist, sondern sie stellt sich mitten in das Leben des Geistes selbst – nicht um es anzuerkennen oder zu verwerfen, nicht um es zu segnen oder um ihm zu fluchen, sondern um es zu verstehen – Non ridere non lugere neque detestari sed intelligere! Wir können uns nicht in die Urheit, in der Seele und Leib noch ungeschieden im seligen In-Einander ruhten, zurückträumen – wir dürfen das verlorene Paradies dieser Ureinheit nicht romantisch zurücksehnen – wir können nicht zurück, sondern wir müssen vorwärts – wir müssen den Bruch vollziehen u[nd] wir müssen ihm ins Auge sehen Versuchen wir dies, so finden wir, daß in den verschiedenen Gebieten je ein besonderer Brechungs index besteht – Die ›Auseinandersetzung‹ ist überall notwendig – 31 - der ›Bruch‹ ist für uns als geistige Wesen unvermeidlich – aber er vollzieht sich anders
Darunter: Vom kosmog[onischen] Eros über] ist doppelt unterstrichen 31 Danach gestrichen: aber sie ist verschieden im Gebiet des 〈?〉 unmittelbaren Verstehens u[nd] der 29 30
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a) im Gebiet des unmittelbaren Verstehens u[nd] der lebendigen Gemeinschaft b) im Gebiet der Wissenschaft, der Kunst, der Religion Wir können diesen Bruch nicht vermeiden, aber es gilt ihn selbst zu verstehen 32 Zum Schluß noch ein Wort über das Leib-Seele-Problem vom Standp[unkt] der Naturphilosophie Die Menschheit hat in ihrer Geschichte zwei Grundformen der Naturphilosophie ausgebildet – die eine in der Antike, bei Aristoteles, u[nd] diese Auffass[ung] hat bis zur Renaissance so gut wie unbeschränkt geherrscht – Sie nimmt die Natur als ungebrochene Einheit von Seele und Leib – es gibt keine schlechthin › tote‹ Materie, keinen blossen Stoff – sondern alles stoffliche Dasein ist von innen her beseelt u[nd] von innen her bewegt – Der Gang der Himmelskörper, der Umschwung der Gestirne – dies alles ist kein bloss mechanisches Geschehen – sondern es ist seelisches Geschehen – die Gestirne werden von führenden Intelligenzen bewegt u[nd] in ihren Bahnen erhalten – Am schönsten in den Worten eines grossen Dichters darzustellen Dante: Paradiso II, 2 Der Himmel ist in sich unbewegt – er ist die Stätte ewigen Friedens – aber innerhalb des Himmels dreht sich der grösste aller Körper, das primum mobile, die runde Sphaere, in der alles Sein der Welt beschlossen liegt Sie gibt der nächsten Sphaere, dem Fixsternhimmel die Kraft, jenes allgemeine Sein, jenen Inbegriff aller Schöpfungsideen, auf zahllose Einzelwesen zu verteilen und in ihnen individuell auszugestalten: »Beachte wohl den Weg, den ich betret Zur Wahrheit, die Dein Herz begehrt zu sehen, Damit Du selbst hernach erkennst den Pfad Der heil’gen Kreise Kraft und Drang und Dasein (Wie aus dem Schmied des Hammers Kunst entsteht) Muß aus des seligen Bewegers 〈?〉 Der Himmel, den Ihr schön von Lichtern seht 32
Hier beginnt eine neue Seite unter der gestrichenen Überschrift Naturerkenntnis.
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Strahlt nun das Bild des tiefen Grundes wieder Und wird zum Siegel dessen, der ihn dreht, Und wie die Seele, die zum Stande nieder Gestiegen ist, vielfältige Kräft’ erweist Durch angepasste und verschiedne Glieder, Also entfaltet sich des Lenkers Geist Vervielfacht durch die Stern in stillem Geben Indem er selbst auf einer Einheit kreist 33 Così l’intelligenza sua bontate Multiplicata per le stelle spiega Girando sé sovra sua unitate – Das ganze körperliche Universum nur ein Bild des leitenden und bewegenden Geistes – der Kosmos der Gestirne und die sinnliche Darstellung der göttlichen Schöpferkraft sind nur das Siegel der unendlichen schrankenlosen Schöpfer güte – das ist ein Bild von höchster religiöser und von höchster poetischer Kraft Aber diese poetisch-religiöse Grundanschauung des Universums scheint plötzlich zu versinken, sobald die Wissenschaft der Renaissance – sobald die moderne mathematische Naturwissenschaft auf den Plan tritt – Für sie werden die Weltkörper nicht mehr von himmlischen Intelligenzen in ihrer Bahn gelenkt – nicht mehr von den seligen Bewegungen den beati motori Dantes, im Kreis herumgeführt die Weltkörper sind zu materiellen Massen geworden, die einem allumfassenden mathematischen Gesetz der Massenbewegung, dem Gesetz der allgemeinen Massenanziehung unterstehen – Und doch liegt auch diesem von Grund aus umgestalteten Weltbild eine tiefe symbolische Auffassung zu Grunde Kepler verlässt den Weg der früheren Naturphilosophie, den Weg der All-Beseelung er selbst hat einmal gesagt, daß das was er suche, nicht eine Theologie und Metaphysik, sondern eine reine Mathematik der Kräfte sei – Aber diese Mathematik selbst wird auch ihm wieder zum Gleichnis – Auch er sieht in der Körperwelt nicht das Urbild, sondern ein Abbild –
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Danach gestrichen: Mit edlem Leib, den sie beseelen, weben Verschiedne Kräfte manch verschiednen Bund In ihm sich bindend wie in Euch das Leben.
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und das wahrhafte Urbild, der echte ›Archetypus‹ der Welt, liegt ihm nicht im Sein des Körpers – sondern in den ewigen Gesetzen der Zahl u[nd] der Harmonie – Auch er sucht hinter der Welt der sichtbaren Körper u[nd] der sichtbaren Bewegungen eine andere höhere unsichtbare Harmonie, eine Harmonie, die nur geistig erfasst u[nd] nur in den reinen Begriffen des Geistes, in den mathematischen Begriffen, ausgesprochen werden kann. Diese symbolische Auffassung der Mathematik ist auch der modernen Naturwissenschaft nicht fremd geworden – im 19ten Jahrh[undert] hat sich einer der Grössten[:] Heinrich Hertz in seinen ›Prinz[ipien] der Mechanik‹ ausdrücklich zu ihr bekannt – von den Naturforschern der Gegenwart hat [sie] z. B. Eddington in seinem Werk ›Space, Time, Gravitation‹ vertreten So bricht die Kette des symbolischen Denkens u[nd] Begreifens nicht ab, wenn wir vom Gedanken der Beseelung des Alls zum Gedanken seiner durchgehenden mathematischen Formung fortgehen – wenn wir von der Natur philosophie zur exakten Natur wissenschaft fortschreiten – es sind nur Symbole verschiedener Art u[nd] verschiedener Stufe, in denen wir in beiden Fällen die Eine leiblich-seelische Wirklichkeit beschreiben – Aber für beide Betrachtungen dürfen wir zuletzt das tiefe Wort Goethes in Anspruch nehmen: Goethe In der Einleitung zum »Versuch einer Witterungslehre« (1825) 34 »Das Wahre mit dem Göttlichen identisch, lässt sich niemals von uns direkt erkennen; wir schauen es nur im Abglanz; im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.« Auf diesen Versuch, das unbegreifliche Leben dennoch zu ›begreifen‹ und es in begriffliche Symbole zu fassen, kann der menschliche Geist nicht verzichten – und man soll diesen ursprünglichen Drang des Geistes nicht schelten – man soll nicht, wie unsere modernen Metaphysiker es wiederum tun, den Geist eine teuflische, eine seelenzerstörende Kraft nennen – weil er, in dem Versuch das Leben zu begreifen, es freilich trennen und zerlegen muss
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Danach eingefügt: gewiss ein ›physisches‹ Thema
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weil er aus seiner ursprünglichen, in sich geschlossenen und in sich seligen Einheit heraustreten muss – In die Einheit vor aller Vielheit können wir nicht zurück – wir müssen die Einheit in der Vielheit bewahren und anschauen – wir müssen die Mannigfaltigkeit der geistigen Symbole durchschreiten, um durch sie hindurch, im Abglanz und im Beispiel, die Einheit des Wesens zu erkennen[.]
Anhang C Der »Anthropomorphismus« in der Philosophie 1. Goethe zu Riemer (2. August 1803): 1 »Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, d. h. der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins . . . Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen u.s.w., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist. Das Maß könnte grösser oder kleiner sein, es liesse sich mehr oder weniger damit abmessen, aber das Stück, das Gewebe bleibt nach wie vor, was es ist, und nichts weiter als seine Ausdehnung in bezug auf den Menschen ist durch jene Operation ausgesprochen . . . Dies zur Verständigung und Vereinigung mit denen, welche noch von Dingen an sich sprechen . . . Der Mensch ist in dem Augenblick, als er das Objekt ausspricht, unter und über ihm, Mensch und Gott in einer Natur vermittelt. Wir sollten nicht von Dingen an sich reden, sondern von dem Einen an sich. Dinge sind nur nach menschlicher Ansicht, die ein Verschiedenes und Mehreres setzt. Es ist alles nur Eins; aber von diesem Einen an sich zu reden, wer vermag es?« In diesen Worten [ist] ein Grundproblem aller Welterkenntnis, aller »Metaphysik« bezeichnet. Der Mensch glaubt in der Metaphysik das Mittel entdeckt zu haben, das ›Wesen‹ der Dinge zu erkennen. Das ist es, was er von ihr erwartet und fordert. Sie soll ihm die hüllenlose, die nackte › Wahrheit‹ der Dinge geben. Er erkennt diese Wahrheit um so sicherer, je mehr es ihm gelingt, alle fremde Zutat von ihr abzustreifen. Und fremd ist ihr alles, was nicht aus dem Urgrund der Dinge, sondern nur von »ihm selbst« stammt. Er muss daher lernen, dieses Selbst, dieses eigene Sein mehr und mehr zu vergessen, um eben durch diesen negativen Akt um so tiefer die positive Erkenntnis des Seins, der ›absoluten‹ Wirklichkeit zu gewinnen. Je mehr er nun sich selbst aufgibt, um so mehr und um so reiner erschliesst sich ihm das Wesen der Dinge. 2. Versucht man sich diese Grundanschauung vom Wesen der Erkenntnis in all ihren Konsequenzen klar zu machen, so wird man auf die Folgerung geführt, daß der Mensch, um zu erkennen, d. h. um das Wesen der Dinge zu erfassen, sein eigenes Sein mehr und mehr aufgeben und Darunter der Nachweis: [Goethes] Gespräche, Gesamtausg[abe] von Flodoard Freih[err] von Biedermann, Leipz[ig] 1909, [Bd.] I, [S.] 505. 1
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einschränken müsste. Nur die Selbst vergessenheit des Subjekts könnte ihm das objektive Wissen, die Einsicht in das, was er nicht selbst ist, vermitteln. Er müsste sich zum Nicht-Ich machen, um die ›Welt‹, um das Nicht-Ich zu erfassen. Er müsste sein eigenes Sein auslöschen können, um eins zu werden mit dem Grund der Dinge und ihn in seiner absoluten Wesenheit zu erfassen. Aber das ist offenbar ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adjecto. Denn wie könnte er noch etwas erfassen, verstehen, erkennen[,] wenn er selbst nicht mehr wäre – wenn er sich zum Zweck dieses Erfassens zu nichte machen müsste[?] Um diesem Widersinn zu entgehen, greift diese Auffassung zu einem andern Mittel. Daß das denkende Subjekt sich selbst vergessen und vernichten soll – das ist eine unvollziehbare, unmögliche Forderung. Das »Subjekt« kann nicht ausgelöscht werden; es muss bei aller Erkenntnis immer »mit dabei sein« – es ist einer der beiden Pole der Erkenntnis. Ohne den ›Gegenpol‹ des erkennenden Subjekts lässt sich auch keine Erkenntnis vom ›Wesen‹ der Dinge gewinnen. Aber ein anderes können wir anstreben. Das Subjekt, der Mensch kann nicht aufhören zu sein; sein Dasein kann es nicht verleugnen. Aber seine besondere Beschaffenheit; sein ›So-Sein‹ muss es mehr und mehr einschränken lernen. Denn nur in dieser Einschränkung und kraft ihrer wird ihm das Sein der Dinge, die »objektive Wahrheit« zu Teil. Statt zu bleiben, was es ist, statt in sich selbst zu verharren, muss es auf etwas Anderes – auf das ›Nicht-Ich‹ – zielen und sich nach ihm richten. Diese Intention auf ein anderes, dieses sich- Richten nach einem Ziel, das außerhalb des Subjekts liegt, heisst objektive Erkenntnis. Sie wird in dem Maße erreicht, in dem das Ich lernt[,] von sich selbst abzusehen, um lediglich auf das Wesen der Dinge, das Absolute hinzusehen. Vom Ich wird jetzt nicht mehr schlechthin die Aufgabe seines Seins; aber es wird eine spezifisch-neue Blickrichtung verlangt. Es kann nicht aufhören zu sein; aber es soll mehr und mehr aufhören, eine eigene selbständige Beschaffenheit zu besitzen. Es muss sein eigenes Sein und sein eigenes Tun so weit einschränken, daß es zum reinen Spiegel der Dinge wird. Die Spiegelung gelingt um so vollkommener, je weniger von der Natur des Spiegels selbst in sie eingeht – je reiner der Spiegel das Bild der Dinge zurückwirft. Die »Empfänglichkeit«, die Rezeptivität wird damit zum eigentlichen Ideal der Erkenntnis. In höchster Klarheit ist dieses Ideal der Rezeptivität in der Erkenntnislehre und in der Metaphysik der empiristischen Systeme ausgesprochen. Besonders praegnant bei Bacon, der für diese ganze Auffassung bestimmend und tonangebend ist – (Das Ich der älteren Metaphysik war ein Zauberspiegel, der das Bild des Universums entstellte)
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Wir müssen lernen, nicht ›ex analogia hominis‹, sondern › ex analogia universi‹ zu urteilen – dann entsteht uns das echte Bild der Dinge, der Erfahrungswirklichkeit – Mehr und mehr muss das Ich lernen, von seiner eigenen Beschaffenheit, seiner ›Form‹ abzusehen – denn diese eigene Form ist eben das Vorurteil, das Idol, das überwunden werden soll – Statt dieses Systems der Idole die reine Erfahr[un]g – statt der Form des Ich – die »Tatsachen«, die Gegebenheiten, das ›matter of fact‹. 3. Aber diesem Ideal der »objektiven Erkenntnis«, wie es durch die Metaphysik auf der einen Seite, durch den modernen Empirismus auf der anderen Seite vertreten wird, steht eine andere Auffassung gegenüber. Wir nennen sie die kritische Auffassung – und wir berufen uns für sie auf Kants Kritik der reinen Vernunft. Aber das bedeutet nicht, daß wir die Resultate, zu denen Kant gelangt ist, in ihrer Gesamtheit annehmen. Es bedeutet nur, daß er uns als der Begründer einer neuen Methode gilt, der auch die moderne Erkenntniskritik folgen muss, wenn sie den »sicheren Weg einer Wissenschaft« finden soll. › Kritisch‹ heisst diese Methode – sofern sie ein neues Wissen der Erkenntnis von sich selbst einschliesst. Die Erkenntnis des »Gegenstands« muss das Wissen der Erkenntis von sich selbst zu Grunde liegen. Wir gelangen zur Einsicht über die »Natur der Dinge« nicht dadurch, daß wir uns in diese Natur schlechthin versenken, uns ganz ihr hingeben – so sehr, daß wir darüber uns selbst vergessen und gewissermaßen auslöschen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Das Wissen von uns selbst geht als notwendige Bedingung und als unentbehrliches Moment in alles gegenständliche Wissen ein. Je tiefer wir uns selbst erkennen, um so klarer und bestimmter wird unser Wissen von der Welt. Die vollkommenste Gegenstandserkenntnis, deren der Mensch fähig ist, kann ihm nur durch die höchste Stufe der Selbsterkenntnis gewährt werden. Die beiden Richtungen – die »nach aussen« und die »nach innen«, die Richtung aufs Subjekt und die auf das Objekt, oder wie alle diese metaphysischen Ausdrücke lauten mögen – sind einander nicht entgegengesetzt, sondern sie bedingen sich, sie schliessen einander ein. 4. Alle Selbsterkenntnis – alles Wissen von dem, was die Erkenntnis ›ist‹, von ihren Bedingungen und Voraussetzungen, ihrer Natur – ist nur auf dem Wege der fortschreitenden Selbstbesinnung zu gewinnen. Diese Besinnung wird uns durch den Akt der › Reflexion‹ zu Teil – und die stets fortschreitende Reflexion bildet daher das eigentliche ›Organon‹, das Werkzeug der menschlichen Erkenntnis – insbesondere der philosophischen Erkenntnis. Alle großen Wendepunkte dieser Er-
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kenntnis, die wir in der Geschichte der Philosophie aufweisen können, bedeuten nichts anderes als solche erneute und vertiefte Ansätze der Reflexion – der »Selbstbesinnung«. Es genügt, an die drei Namen: Sokrates, Descartes, Kant zu erinnern, um sich dies völlig deutlich zu machen. In allen drei Fällen handelt es sich um eine neue Gesamtorientierung. Immer wenn ein wahrhaft originaler, grosser Denker auftritt, nimmt damit das Bild der Welt eine neue Gestalt an. Man kann von den grossen philosophischen Denkern, wie von den grossen Religions stiftern und Propheten sagen, daß sie »einen neuen Himmel und eine neue Erde« schaffen. Aber das gelingt nur auf dem Wege, daß in ihnen die Selbsterkenntnis des Menschen sich erneuert und vertieft – daß sie ein Neues in Bezug auf das Sein des Menschen und auf die Bestimmung des Menschen lehren. Das ist jene » Revolution der Denkart«, die uns bei Sokrates, bei Descartes, bei Kant entgegentritt. Der Charakter dieser Selbstbesinnung, dieser philosophischen ›Reflexion‹, aber ist durchaus aktiv, nicht passiv. Dadurch unterscheidet sie sich von jeder blossen Abbildung – jedem ›Reflex‹, der sich von einem Gegenstand in einem andern bildet, von »Bilde« des Dings im Spiegel. Das Bild ist um so vollkommener, je mehr es dem Gegenstand gleicht – je mehr es sich als blosses Duplikat, als Kopie des Gegenstandes erweist. Aber aus einer solchen Summe von »Bildern« erwächst nicht dasjenige und in ihr besteht nicht dasjenige, was wir das Wissen von uns selbst nennen. Dieses Wissen wird nur im eigenen Tun und in eigener Selbstverantwortung erreicht. Es besteht nicht im passiven Zurückwerfen von Bildern, sondern im aktiven Gestalten – nicht im »Bild«, sondern im Prozess der Bildung. Wir können uns nur finden, indem wir aktiv diesen Prozess der Gestaltung und Umgestaltung vollziehen. In der echten Selbst besinnung handelt es sich also stets um solche Selbst gestaltung; um Funktion, nicht um Affektion; um Spontaneität, nicht um Rezeptivität; um Tun, nicht um Leiden. 5. Hält man an dieser Auffassung fest, so nimmt damit auch das Problem des › Anthropomorphismus‹ eine andere Gestalt an. Es gibt, wie man sich jetzt überzeugen muss, eine Form des ›Anthropomorphismus‹, die keine Gefahr und keine Einschränkung der objektiven Erkenntnis – sondern die vielmehr die inhaerente und notwendige Bedingung für diese letztere ist. Die Behauptung, die Darlegung und Klarlegung dieses Anthropomorphismus schliesst also keinerlei skeptische Folgerungen in sich. Sie enthält kein Bedauern darüber, daß der Mensch eben nur Mensch ist – und daher die Dinge nur von seinem beschränkten Standpunkt sehen und nur von ihm aus – nur ›ex analogia hominis‹ beurteilen könne. Nicht darum kann es sich handeln, ein Bild der Welt zu entwerfen, in dem das Bild des Menschen gewissermaßen verschwunden
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und ausgelöscht ist. Wir können die Welt immer nur so beschreiben, wie sie für den Menschen sich darstellt. Aber die Darstellungsformen sind unter sich verschieden und mannigfaltig. Jede von ihnen besitzt ihren eigenen ›Charakter‹, ihren bestimmten Modus des Erfassens und Erkennens. Und was wir »Objektivität«, »Wahrheit«, »gegenständliches« Wissen im Unterschied vom Phantasieren oder blossen Meinen und Vorstellen nennen – das bezeichnet einen Unterschied, der eben an diesen Modi der Erkenntnis selbst anzutreffen [ist] – nicht eine Bestimmung an einem ›absoluten‹ Gegenstand vor aller Erkenntnis und »ausserhalb« ihrer Bedingungen. In diesem Sinne bleibt Goethes Wort wahr, daß der Mensch, wenn er die Natur beobachtet, wenn er sie misst und wägt, immer sein eigenes Maß und Gewicht irgendwie einsetzen muss – daß er seine Maße und Gewichte anwenden muss. Er kann dieses sein ursprüngliches Maßsystem nicht vergessen oder wegwerfen; er kann nicht über seinen eigenen Schatten springen. Wohl aber kann er dieses System ständig erweitern – und er kann einen relativ vollkommenen Zustand desselben von einem relativ beschränkten und unvollkommenen unterscheiden. In dieser Unterscheidung besteht die Kritik, die die Wissenschaft und die die philosophische Selbstbesinnung zu vollziehen hat. Und diese Kritik gelangt niemals an ihr Ende; sie muss bereit sein, in jedem neuen Moment von neuem einzusetzen. Wir müssen immer bereit und immer gewärtig sein, den engeren Horizont mit einem weiteren zu vertauschen, indem wir einen neuen Standort des Sehens einnehmen. Aber ohne einen solchen Standort, ohne einen Archimedischen Punkt, in dem die Erkenntnis sich selbst fixiert, kann es für keine Wissenschaft und für keine Philosophie, ein Weltbild, ein objektives Universum, ein Wissen von der Wirklichkeit und ihren Bestimmungen geben. 6. Wir müssen daher zwischen zwei Formen des Anthropomorphismus unterscheiden. Die eine Form können wir den naiven Anthropomorphismus nennen. Sie besteht darin, daß der Mensch alles, was er ist – als was er sich selbst weiss und fühlt[,] unmittelbar auf die Welt überträgt. Er kennt die Welt nicht anders als im Medium seiner eigenen Existenz und seines eigenen Lebensgefühls. ›Wirklich‹ heisst, was irgend eine unmittelbare Beziehung zu diesem Lebensgefühl besitzt – und es gibt zunächst für den Menschen kein anderes Anzeichen, kein anderes Kriterium der Wirklichkeit. Hier, auf dieser ersten Stufe, gibt es auch keine Beschreibung der Welt in Begriffen. Und es gibt demgemäß auch nicht jene Entfernung, jene Distanzierung vom Ich, die erst durch das begriffliche Denken geschaffen wird. Die ›Wirklichkeit‹ ist nichts rein- Gedachtes, noch ist sie etwas bloss-› Vorgestelltes‹. Sie ist gesehen sub specie des menschlichen Trieblebens. In seinem Trieb-
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leben erfährt der Mensch das Wechselspiel, das Auf und Ab zwischen Erfüllung und Hemmung, zwischen Befriedigung und Unbefriedigung, zwischen Förderung und Beschränkung. Und diesen ursprünglich polaren Gegensatz in sich selbst sieht er in die Welt hinein. Das ist jener Anthropomorphismus, wie er die mythische Weltansicht kennzeichnet. Der Mythos kennt noch nicht eine Welt fester ›Objekte‹ – von ›Dingen‹ mit bestimmten ›Eigenschaften‹, von Ereignissen, die in einer unveränderlichen Ordnung auf einander folgen. Er kennt nur feindliche oder freundliche, schädliche oder wohltätige Kräfte. Alles Sein ist für ihn göttliches oder dämonisches Sein – auf Lebenserhaltung oder auf Zerstörung des Lebens gerichtet. Ein Übel, das den Menschen befällt, eine Krankheit, die ihn trifft, sind niemals das Ergebnis irgendwelcher ›natürlicher‹ Kräfte, – im Sinne von »unpersönlichen« Ursachen. Sie sind dem Menschen »angetan« durch andere Mächte, die ihm feindlich gegenüberstehen. 2 Der Mensch kennt sich selbst nicht anders als in der Form von Wille und Trieb – und Wille und Trieb begrenzen demgemäß auch den Umkreis seines Weltbildes. Sofern er › Gegen‹stände hat und von Gegenständen weiss, – können sie sich ihm nicht anders als in der Form von Gegen kräften darstellen. Die erste Aufgabe, die dem Menschen gestellt ist, besteht darin, sich mit diesen Gegenkräften, von denen er sich völlig abhängig fühlt, in irgend einer Weise »auseinanderzusetzen«, zu ihnen in eine bestimmte ›Gemeinschaft‹ zu treten, sie irgendwie nach seinem Willen zu lenken und seinen Bedürfnissen gefügig zu machen. Mythos und Magie sind die ersten Formen dieser ›Auseinandersetzung‹ des Menschen mit den Mächten der Natur. Sie sind zugleich die ersten Formen des dämmernden Weltverständnisses – denn der Mensch kann nur das verstehen, was ihm gleicht. Er schafft sich die Welt nach seinem Bilde – denn nur auf diese Weise kann er in ihr heimisch werden. Der Mythos mag auf den ersten Blick, wenn wir ihn rein seinem Inhalt nach betrachten, als nichts anderes erscheinen, als ein Gewebe von Widersprüchen, des ärgsten Unverstandes und des gröbsten Aberglaubens. Aber seiner Form nach, seiner Leistung und Funktion nach, ist er etwas ganz anderes. Er ist die erste Orientierung, die dem Menschen gelingt; der erste Schritt, um sich die Welt in irgend einer Weise ›verständlich‹ zu machen; sie sich innerlich nahe zu bringen. Die Geisterwelt, in die der Mensch sich mit dem Aufbau des Mythos einsperrt, ist nicht lediglich der Ausdruck des undurchdringlichen Dunkels, das ihn von allen Seiten umgibt. Sie ist zugleich der erste Versuch, dieses Dunkel zu lichten; es stellt sich in ihm der erste Ansatz zur Gestaltung des Chaos dar. Wille und Phantasie sind 2
Danach gestrichen: Die Krankheit ist das Werk eines Dämonen
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die treibenden Kräfte dieser Gestaltung – und sie müssen vorausgehen; sie müssen erst die unentbehrliche Grundlage schaffen für jedes künftige Weltbegreifen. 7. Aber der Gedanke einer festen, beständigen, unveränderlichen › Natur‹ der Dinge und eines Wissens von dieser Natur kann freilich auf diesem Wege nicht entstehen. Er verlangte einen neuen Ansatz – und dieser konnte nur in einem prinzipiellen Bruch mit der mythischen Weltauffassung gewonnen werden. Wie dieser Bruch sich vollzogen hat, – auf welchen Voraussetzungen er beruht, auf welchem Wege diese Voraussetzungen gewonnen, gefestigt, gesichert werden: 3 das können wir uns deutlich vergegenwärtigen. Dieser bestimmende und für die gesamte Zukunft entscheidende Prozess ist für uns nicht in Dunkel gehüllt; er hat sich vielmehr im hellen Licht der Geschichte abgespielt. Wir können ihn fast Schritt für Schritt, in allen seinen wesentlichen Phasen verfolgen. Denn es handelt sich hier um nichts anderes, als um eines der grössten Ereignisse in der Entwicklung der menschlichen Kultur: um das Werden der griechischen Philosophie und der griechischen Wissenschaft. Diese beiden Mächte sind es, die zuerst den Bann der mythischen Weltansicht gebrochen haben. Die griechische Mathematik, die griechische Medizin, die griechische Astronomie und die griechische beschreibende Naturwissenschaft: das sind die Kräfte, die hier am Werk war[en], und als die Zusammenfassung, als die lebendige Synthesis aller dieser Kräfte, als ihre Richtung auf einen Punkt und als ihre Lenkung auf ein Ziel stellt sich uns die griechische Philosophie dar. Das ist das Grosse und das wahrhaft-›Klassische‹ der griechischen Philosophie, daß sie uns nicht, wie spätere Epochen, mannigfache ›Theorien‹ über die Wirklichkeit gegeben, sondern daß sie uns zuerst den Begriff der Theorie geschaffen und mit diesem Begriff eine ganz neue Forderung aufgestellt hat. Nicht die Erfüllung dieser Forderung, sondern ihre Konzeption, ihr reiner Gedanke ist das Wesentliche und Neue. Denn damit war nicht einfach inhaltlich das Wissen um die Welt bezeichnet; sondern es war eine neue Wissens- Norm aufgestellt; es war ein neuer Maßstab aufgerichtet. Dieser Maßstab, diese Norm, an der künftig alles menschliche Erkennen zu messen ist, und vor dem sich seine Wahrheit oder Unwahrheit erweist: das ist es, was Platon mit dem Namen › Idee‹ bezeichnet – und das bleibt, durch alle künftigen Jahrhunderte hindurch, der Kern alles ›Idealismus‹. Platon selbst konnte weder in seiner Naturphilosophie, noch in seiner Ethik auf die Bildersprache des Mythos verzichten. Er greift , auf welchem Wege . . . werden: eingefügt statt und welche neue Entwicklung des menschlichen Geistes sie in sich schliesst: 3
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auf sie zurück, wenn er uns vom Entstehen der Welt, von ihrer Ordnung durch den Weltbaumeister oder von der Herkunft und dem Schicksal der menschlichen Seele erzählt. Aber der Mythos bindet ihn nicht mehr: denn er ist sich seiner Bedeutung, er ist sich dessen, was er ist und was er vermag und nicht vermag[,] bewusst geworden. Er misst ihn an jenem Neuen, für das die griechische Philosophie den Namen ›Logos‹ geschaffen hat. Und vor diesem Neuen vergeht die Kraft, die der Mythos bisher über das menschliche Denken geübt hat. Sie kann freilich nicht mit einem Schlage gebrochen werden. Die Geschichte des Platonismus zeigt deutlich und eindringlich, wie sich an den Gedanken der reinen ›Theorie‹ in der Art, wie Platon ihn zuerst erfasst hatte, immer wieder andere mythisch-mystische Elemente herandrängen und wie sie die ursprüngliche Konzeption mehr und mehr verhüllen und verdunkeln. 4 Der Kampf setzt sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende fort – und er ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Das ist nicht zu verwundern. Es konnte nicht anders sein – denn welche gewaltige Anforderung war hier an das menschliche Denken gestellt! Was hier von ihm verlangt wird, ist, daß es sich von der Leistung des Trieblebens, vom blossen Wünschen und Wähnen frei macht. Eine der tiefsten psychologischen Wurzeln des Mythos ist, wie man mit Recht gesagt hat, der Glaube an die »Allmacht des Wunsches«. Die Kraft des Wunsches ist eine magische Kraft – sie bezwingt zuletzt Götter und Menschen. All dem soll nun entsagt werden. Zum ersten Mal tritt vor den Menschen eine feste Ordnung der Dinge, ein in sich bestimmtes, unabänderliches, notwendiges Sein hin, an dem sich sein Wille bricht und über das er keine Gewalt hat. Für Platon ist es die Mathematik, für Demokrit ist es das Naturgeschehen und seine Erkenntnis, die ihnen den Weg zu dieser Notwendigkeit weist. Die mythische Auffassung der Tyche, des Zufalls vergeht vor dieser Notwendigkeit. Die Menschen – so sagt Demokrit – haben sich ein Trugbild, ein Idol des Zufalls gebildet – als Vorwand für ihre eigene Unwissenheit. Es gibt keinen Zufall – sondern alles Geschehen stammt aus dem Logos und beruht auf Notwendigkeit. 8. Mit der Anerkennung dieser Notwendigkeit scheint der Mensch ein für alle Mal der Gewalt des Anthropomorphismus entronnen zu sein. Nun sieht er die Dinge in ihrer eigenen Gestalt, in ihrem reinen An-Sich. Er misst sie mit ihren Maßen; nicht mit den seinen. Aber hier entsteht ein schweres Problem. Denn die Einheit des Seins, die für die mythische Vorstellungsart bestand, ist jetzt gestört. Eine Kluft, ein Schisma tut sich auf. Auf der einen Seite steht die menschliche Welt – mit ihrem Wünschen und Wähnen. Auf der anderen Seite steht das »objektive« Sein – die 4
Cf. Ernst Hoffmann, Platonismus und Mystik im Altertum, Heidelberg 1935.
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harte Notwendigkeit der Dinge. Beide sind durch kein Band mehr mit einander vereint. Wie ist dieser Riss zu 〈?〉 5. Der mythische Mensch lebte in steter Furcht vor den dämonisch-göttlichen Kräften, die ihn von allen Seiten umgaben. Sie sind ihm unendlich überlegen – sie können ihn in jedem Augenblick zerschmettern. Aber er hatte in der Magie, im Gebet und Opfer ein Mittel gefunden, sie seinem Willen gefügig zu machen – er fand einen Zugang zu diesen übermenschlichen Mächten. Jetzt aber ist diese Vermittlung gestört. Die objektive Notwendigkeit der Dinge lässt sich durch keine Bitte und keinen Wunsch des Menschen 〈?〉. 6 Sie ist dem Menschen nicht feindlich – aber sie ist ihm unzugänglich. Und diese Unzugänglichkeit – diese prinzipielle Fremdheit, in die der Mensch nun zu seinen Göttern tritt, ist schlimmer als alle Gefahr, die ihn von Seiten dieser Götter bedrohte. Denn die Götter hören ihn jetzt nicht mehr – das Universum ist stumm für ihn geworden – es ist seinem Dasein und seinem Flehen und Wünschen undurchdringlich[.] – Die Welt ist zu totem Mechanismus erstarrt. Wie ist diese Fremdheit zu überwinden? Wie lässt sich die Einheit zwischen Mensch und Universum wiederherstellen, ohne die der Mensch heimatlos in der Welt ist[?] Ein doppelter Weg eröffnet sich hier: der Weg der Religion und der Weg der Philosophie. a) Der Weg der Religion – [dieser] wurde im Christentum[,] aber auch in allen anderen grossen Erlösungsreligionen des Orients beschritten – ›Erlösung‹ – das bedeutet, daß der Mensch selbst die Einheit zwischen sich und der Welt, zwischen sich und Gott nicht finden – u[nd] daß er sie aus eigener Kraft nicht herstellen kann Nur Gott selbst leistet dieses Wunder – er neigt sich zu dem Menschen herab – und er hebt ihn damit zu sich herauf – Indem der Gott Mensch wird, wird der Mensch Gott – die Apotheose des Menschen ist das letzte und höchste Ziel der Menschwerdung, die Inkarnation Gottes – Dieses Erlösungsmotiv hat tief auf die Entwicklung und Weiterbildung der griechischen Philosophie eingewirkt – und in der Spätzeit dieser Philosophie, im Zeitalter des Hellenismus, insbesondere in der Neuplatonischen 〈?〉 7 scheint es die ganze Gestalt der griech[ischen] Philos[ophie] zu verändern – 5 6 7
Undeutlich geschrieben. Undeutlich geschrieben. Undeutlich geschrieben.
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Aber als Ganzes ist das griech[ische] Denken einen andern Weg gegangen, um den Riss, der hier vorlag – den Bruch zwischen dem Menschen u[nd] dem Universum zu heilen. – Die ›Notwendigkeit‹, die objektive Ordnung der Dinge, darf nicht angetastet werden – Sie besteht unverbrüchlich – Aber der Mensch hat die Gabe, diese Notwendigkeit zu erkennen – und ihm Akt dieser Erkenntnis hört sie auf, für ihn etwas Fremdes, Undurchdringliches zu sein – er durchdringt sich mit dem Gedanken der Notwendigkeit – und sobald ihm das gelungen, hat er sie sich einverleibt – er sieht in ihr sein eigenes Wesen aufgeschlossen – Und nun hat er keine Furcht vor der Notwendigkeit mehr – An Stelle dieser Furcht ist die Liebe getreten – Dieser Gedanke des › amor fati‹ ist die philosophische Lösung des Konflikts Seine erste klassische Ausprägung hat dieser Gedanke im Stoizismus gefunden – Aber in der neueren Philosophie, in der Philosophie des 17ten Jahrhunderts gelangt er noch einmal zu seiner vollen Kraft – Spinozas ›amor Dei intellectualis‹ ist in dieser Hinsicht nichts als die Renaissance des Stoizismus – Von der Erlösungsreligion unterscheidet sich diese Lösung nicht graduell, sondern prinzipiell – Denn sie beruht auf dem Gedanken der Autonomie des Menschen – Die menschliche Vernunft, nicht eine übernatürliche göttliche Kraft, stellt die gefährdete Einheit wieder her. Nicht Gott hat sich in den Menschen verwandelt [und] transformiert – sondern der Mensch ist ursprünglich Gott – weil er Vernunft, weil er Logos ist – Indem der Mensch sich als Vernunft, Logos erkennt, hat er damit die Einheit mit dem Universum wiederhergestellt – Denn der Logos ist das Urprinzip, das ursprüngliche Sein, von dem sowohl der Mensch wie das Weltall nichts als blosse Folgen sind – Ein und dieselbe Urkraft ist es – die als Notwendigkeit im Naturgeschehen – und als »Vernunft«, als Erkenntnis, als Güte und Sittlichkeit im Menschen erscheint – Damit hat sich der Ring geschlossen – diese › stoische Anthropologie‹ ist uns die tiefste Antwort, die der
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Mensch auf die Frage nach seinem Wesen und seinem Zusammenhang mit dem Weltall gefunden hat – Es gibt hier keine Fremdheit mehr – In der Erlösungsreligion gilt der Satz, daß der Mensch seine ursprüngliche Einheit mit dem Göttlichen durch eine Verfehlung, eine Schuld verloren hat u[nd] daß er sie aus eigener Kraft nicht wieder herzustellen vermag – es bedarf eines transzendenten, übernatürlichen Akts der göttl[ichen] Gnade, um sie wiederherzustellen – daher trennt sich hier › Natur‹ und › Sittlichkeit‹, denn die Natur im Menschen ist durch den Fall entstellt und verdorben – sie ist ›pervers‹ geworden – Dem ›regnum naturae‹ steht das ›regnum gratiae‹ gegenüber. Nicht so in der Stoa – es gibt keine Tren[nun]g zwischen Sittlichkeit und Natur – denn das ὁµολογουµένως τῇ φύσει ζῆν ist oberstes sittliches Gebot. Der ›Weise‹, der die Notwendigkeit der Natur begreift, hat damit die höchste Stufe der Sittlichkeit erstiegen – Das ist freilich keine menschliche Universalreligion – sondern es ist eine Philosophie und eine Religion für die Auserwählten, die Weisen – denn nicht der Mensch als solcher, sondern der wissende und erkennende Mensch, der »Weise« ist die eigentliche Verkörperung des Logos – desselben Logos, der auf der anderen Seite als λόγος προφορικός auch die Naturordnung, das Universum hervorgebracht hat u[nd] es in seinem Sein erhält – Am schönsten spiegelt sich diese Grundanschauung vielleicht bei Marc Aurel wieder – und deshalb gehören Marc Aurels Selbstbetrachtungen zu den ewigen Menschheitsbüchern – Das oberste Moralgebot bei Marc Aurel ist, daß der Mensch in sich selbst einen festen Mittelpunkt finden soll – er soll sich aus der Zerstreuung befreien; er soll sich in sich selbst sammeln – Mit dieser Sammlung, mit dieser Konzentration gelangt er zur Selbsterkenntnis – aber damit hat sich ihm unmittelbar auch der Kern der Welt, das Wesen des Universums aufgeschlossen – denn der »Kern der Natur« ist »Menschen im Herzen« Das ideell-Göttliche (Logos) hat sich selbst aus Einheit zur Vielfalt umgestaltet, indem es sich ausgesandt hat – und zwar in zweifacher Hinsicht
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einerseits ist es als 〈?〉 8 Weltprinzip[,] d. h. als Inbegriff der Naturgesetzlichkeit, als Plan und Sinn durchgehender Regelmäss[igkeit] alles Geschehens, in den materiellen Weltleib selber eingegangen u[nd] durchwaltet ihn ständig, so daß er dieser Ordn[un]g auf Grund unverbrüchlicher Kausalität unterliegt – u[nd] andererseits hat das Göttl[iche] sich keimhaft, samenhaft bei der Weltschöpfung in die menschl[iche] Seele herabgesenkt, um hier zu warten, um in der Seele zu persönl[icher], aktiver, subjektiver Vernunft entwickelt zu werden und um so die Menschen dahin zu führen, daß sie in ihrem Gemeinschaftsleben einen zweiten Kosmos, einen Kosmos der Kultur erschaffen Dieser Logos ist durch unsern Unverstand trübe geworden (– dieses Motiv also auch in der Stoa) aber es gilt die Flamme wieder zu läutern – »Wer es vermag, erneuert das Göttliche in sich, wird Eins mit diesem Logos, ja er bewährt und bringt an den Tag, daß die Seele des Weisen von Haus aus gotthaft ist« (E[rnst] H[offmann], a.a.O., S. 34) das ergiebt die Rundung des Ganzen (das συνδεσµός-Motiv der Stoa / cf. ibid. 36[)] Marc Aurel – vgl. ibid. S. 54 Anm. XIII,3[:] ἔνδον βλέπε, ἔνδον ἡ πηγὴ τοῦ ἀγαθοῦ, καὶ ἀεὶ ἀναβλέπειν δυναµένη, ἐὰν ἀεὶ σκάπτην IV,3[:] ἅπλωσον σεαυτόν 9 Diese ›Sammlung in sich selbst‹ ergibt die Einheit von Mensch und Universum – den συνδεσµός beider – u[nd] damit die Einheit von Natur und Sittlichkeit, von Freiheit und Notwendigkeit – eine großartige, in sich geschlossene Lösung des Menschheitsproblems. 10
8 9 10
Undeutlich geschrieben. Hier folgt ein waagerechter Trennstrich. Hier folgt erneut ein waagerechter Trennstrich, hinter dem der Text abbricht.
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